Prudentiana: Band I Critica [Reprint 2012 ed.] 9783110954517, 9783598774362


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German Pages 762 [792] Year 2000

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Table of contents :
Vorwort
I. Zwei Textprobleme bei Prudentius
II. Beobachtungen zum Claudiantext
III. Kritische Bemerkungen zu Prudentius ' Hamartigenie
IV. Eine interpolatorische Ehrenrettung Davids
V. Theologie und Textgeschichte. Zwei Doppelfassungen bei Prudentius, psychom. praef. 38ff
VI. Zwei Binnenintepolamente und ihre Bedeutung für die Geschichte des Prudentiustexts
VII. Zur Praefatio des Prudentius
VIII. Eine Spur altlateinischer Bibelversion bei Prudentius
IX. Palestra bei Prudentius
X. Das Templum Romae und die Statuengruppe bei Prudentius c. Symm. 1,215/237
XI. Ein mißglücktes Intepretament im Prudentiustext
XII. Antike Götter beim echten und beim unechten Prudentius
XIII. Doppelter Gedichtschluß
XIV. Falscher Marcion
XV. Flickverse
XVI. Eine gefälschte Strophe im Romanushymnus
XVII. Erweiterte Kataloge
XVIII. Zu Paulinus Nolanus
XIX. Unechtes in der Apotheosis
Die sogenannte erste Praefatio
Die sogenannte zweite Praefatio
Das Hauptgedicht
XX. Addenda
Verzeichnis der Abkürzungen
Register
I. Stellen
II. Wörter
III. Interpolationswesen
Zu den Abbildungen
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Prudentiana: Band I Critica [Reprint 2012 ed.]
 9783110954517, 9783598774362

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Christian Gnilka Prudentiana I

Christian Gnilka

Prudentiana I Critica

K G · Saur München · Leipzig 2000

Titelvignette dieses Bandes ist der Anker: frühchristliches Symbol und kritisches Zeichen der antiken Philologie (nach einer Darstellung in den Katakomben Roms).

Die Deutsche Bibliothek - C I P - E i n h e i t s a u f n a h m e Gnilka, Christian: Prudentiana / von Christian Gnilka. M ü n c h e n ; Leipzig : Saur I. Critica. - 2000 ISBN 3 - 5 9 8 - 7 7 4 3 6 - 2 © 2 0 0 0 by Κ. G . Saur Verlag G m b H & Co. KG. M ü n c h e n Part of Reed Elsevier Printed in G e r m a n y Alle Rechte vorbehalten. All Rights Strictly Reserved. Jede Art der Vervielfältigung o h n e Erlaubnis des Verlages ist unzulässig. Druck und Bindung: Druckhaus „ T h o m a s M ü n t z e r " G m b H , Bad Langensalza

VORWORT Die ersten zwölf Kapitel dieses Bandes bieten leicht verbesserte Abdrucke früherer Arbeiten, ergänzt durch die Addenda am Schluß, die folgenden Untersuchungen (S. 291/647) werden hier erstmals vorgelegt. Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, daß das Buch Jugend und Alter des Verfassers umspannt: der erste Aufsatz wurde vor mehr als fünfunddreißig Jahren geschrieben, die neuen Sachen entstanden im vergangenen Jahrfünft. Innerlich zusammengehalten wird das Ganze durch die gleichbleibende Grunderkenntnis, daß der Text des großen religiösen Dichters trotz des ehrfurchtgebietenden Alters seiner reichen Überlieferung durch schwere Eingriffe von fremder Hand entstellt ist, deren Spuren in den Handschriften fast alle längst verweht sind. Allerdings hat sich mir diese Überzeugung im Laufe der Jahre immer fester und deutlicher eingeprägt, und ich halte es für einen Vorteil, daß die Abfolge der Kapitel erkennen läßt, wie das echtheitskritische Urteil gewachsen ist. Die grundlegenden Einsichten sind an verschiedenen Stellen des Buchs ausgesprochen, so daß ich sie hier nicht zu wiederholen brauche (vgl. S. 747 s.v. Echtheitskritik). Die Scheidung der Critica von den Exegetica des zweiten Bandes ist im übrigen keine scharfe, da auch die Ergebnisse der Kritik meistenteils auf interpretatorischem Wege erzielt werden. Ja, in manchen Partien überwiegt die Exegese stark das kritische Moment. Auch der Begriff der Prudentiana muß in weiterem Sinne aufgefaßt werden, weil je ein Kapitel Claudian und Paulinus Nolanus in den Mittelpunkt rückt und auch sonst gelegentlich ähnliche Phänomene in der Überlieferung anderer Autoren, etwa des Juvencus, zum Vergleich herangezogen werden. Das Register soll äußerlich ein einigendes Band um die Teile des Buches schlingen; diesem Zweck dient besonders das systematische Register zum Interpolationswesen der Antike. Ein Verzeichnis der N a m e n u n d S a c h e n für beide Bände zusammen wird am Schluß des zweiten stehen. Ich danke den Bibliotheken, Instituten und Museen, die das Material für die Tafeln zur Verfügung stellten. Neu hinzugekommen sind die Abbildungen einiger Seiten aus den Handschriften. Besonderen Dank schulde ich meinen Schülern Thomas Janssen und Markus Mülke, die das Manuskript zum Druck vorbereiteten. Mülke fertigte auch das Stellenregister an und steuerte wertvolle Hinweise zum Apotheosis-Kapitel bei. Münster i.W. März 2000

Christian Gnilka

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort I.

Zwei Textprobleme bei Prudentius

1

II.

Beobachtungen zum Claudiantext

16

III.

Kritische Bemerkungen zu Prudentius' Hamartigenie

68

IV.

Eine interpolatorische Ehrenrettung Davids

90

V.

Theologie und Textgeschichte. Zwei Doppelfassungen bei Prudentius, psychom. praef. 38ff

VI.

Zwei Binneninterpolamente und ihre Bedeutung für die Geschichte des Prudentiustexts

VII.

102

Zur Praefatio des Prudentius

126 138

VIII. Eine Spur altlateinischer Bibelversion bei Prudentius

158

IX.

Palestra bei Prudentius

167

X.

Das Templum Romae und die Statuengruppe bei Prudentius c. Symm. 1,215/237

187

XI.

Ein mißglücktes Interpretament im Prudentiustext

219

XII.

Antike Götter beim echten und beim unechten Prudentius

228

XIII. Doppelter Gedichtschluß

291

XIV. Falscher Marcion

357

XV. Flickverse

364

XVI.

Eine gefälschte Strophe im Romanushymnus

373

XVII. Erweiterte Kataloge

385

XVIII. Zu Paulinus Nolanus

434

XIX.

Unechtes in der Apotheosis Die sogenannte erste Praefatio Die sogenannte zweite Praefatio Das Hauptgedicht

459 461 488 496

XX.

Addenda

648

Verzeichnis der Abkürzungen

691

Register I.

Stellen 1. Bibel 2. Prudentius 3. Andere Autoren II. Wörter III. Interpolationswesen

697 697 702 723 738 745

Zu den Abbildungen

757

Tafel I-XX

I.

ZWEI TEXTPROBLEME BEI PRUDENTIUS *

Die Frage, inwieweit der Prudentiustext Interpolationen aufweist, ist bis heute umstritten. Bergman hatte eine recht ansehnliche 'Tabula interpolationum' zusammengebracht1, was angesichts seiner entschieden konservativen Textbehandlung besondere Beachtung verdient. Aber in den letzten Jahrzehnten gewann namentlich durch Klingners weithin wirkende Rezension der Ausgabe Bergmans die These der Autorvariante immer mehr an Boden2. Klingner selbst handhabte zwar das Prinzip mit Feingefühl und Zurückhaltung, in jüngster Zeit jedoch ist eine gewisse Überspitzung der Theorie von der doppelten Redaktion nicht mehr zu verkennen3. Demgegenüber hat W. Schmid in zwei Fällen nicht nur die Existenz einer interpolierten Ersatzfassung im Prudentiustext, sondern auch deren verschiedene Motive klargestellt4; er konnte dabei darauf hinweisen, daß bereits Waszink in einem wichtigen Fall die These der Autorvariante zugunsten der Annahme einer Interpolation aufgegeben hatte5. Dadurch ist deutlich geworden, daß hier die Entscheidung durchaus noch nicht im Sinne der zweiten Auflage gefallen sein kann6. |

Philologus 109, 1965, 246/258. ι [246 1 ] J . Bergman, De codicum Prudentianorum generibus et virtute, Sitzungsber. Wien, philos.-hist. Kl., 157,5 (1908), 30/32, dazu die weiteren Fälle ebd. 40/56. 2 [246 2 ] F . Klingner, Gnomon 6, 1 9 3 0 , 4 2 f . = Studien zur griech. und röm. Lit., Zürich/ Stuttgart 1964, 677f. Weitere Literaturangaben s. bei A. Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o . J . , 119ff. und bei H. Emonds, Zweite Auflage im Altertum, Leipzig 1941, 370. 3 [246 3 ] Salvatore (a.a.O. 175ff.) hält nun sogar den sechs Verse füllenden Zusatz, den der Berner Codex nach Ham. 858 bietet, für echt pmdentianisch, während noch Klingner (a.a.O. 683) darin ein sehr beachtenswertes Zeugnis interpolatorischer Leistung erblickte (Salvatore a.a.O. 175 gibt Klingners Urteil unvollständig wieder). Formale Anklänge an die Diktion des Dichters, wie sie Salvatore (a.O. 189ff.) zusammenstellt, beweisen so gut wie gar nichts für die Autorschaft des Prudentius, da antike Diaskeuasten die sprachlichen Mittel des betreffenden Dichters mitunter recht gut kennen; vgl. darüber W. Schmid, Vig. Chr. 7, 1953, 184 Anm. 21. 4 [246 4 ] W. Schmid, a.a.O. 171ff. [Vgl. aber in diesem Bande S. 171/76 und S. 251f.]. 5 [246 s ] Vgl. dessen Beurteilung von cath. 3,100/100a im Kommentar zu Tert. De anima, Amsterdam 1947, 308 und die frühere Behandlung desselben Falles Mnemos. III ser. 11, 1943, 75/77. 6 [246 6 ] E. Löfstedt hat in einem Brief vom 5.10.1953 an W. Schmid im Hinblick auf dessen Behandlung der beiden Interpolationen Contra Symm. II 326/327 und 143a/b (s. oben Anm. 3) ausgesprochen, er begrüße solche Versuche einer Neubehandlung der Doppel- bzw. Zusatzfassungen im Prudentiustext, da nach seiner Meinung die bisherigen Arbeiten zu diesem Thema dringend einer Weiterfiihrung bedürften (Hinweis von W. Schmid).

2

Prudentiana I. Critica

[247]

Einer umfassenden Behandlung des Problems der Interpolationen im Prudentiustext stellt sich freilich ein ernstes Hindernis entgegen: es fehlt an guten, den Text wirklich durchdringenden Kommentaren. Zu den beiden Büchern Contra Symmachum besitzen wir z.B. überhaupt keine moderne erklärende Ausgabe; unsere Übersetzungen stecken zudem voller Irrtümer und Flüchtigkeiten, die geeignet sind, vorhandene Schwierigkeiten eher zu verdecken als sichtbar zu machen. Daran mag es liegen, daß bislang durchweg nur solche Zeugnisse redigierender Gestaltung des Textes Beachtung fanden, die durch die Handschriften von vornherein unleugbar als solche gekennzeichnet werden. Und doch gibt es im Prudentiustext handschriftlich nicht oder nicht eindeutig bezeugte Unstimmigkeiten, die, stünden sie in einem klassischen Dichter, längst Gegenstand philologischer Diskussion geworden wären, die jedoch bei Prudentius teilweise gänzlich unbemerkt blieben. Wenn wir uns bei der folgenden Behandlung zweier problematischer Passagen des Prudentiustextes für die Annahme einer fremden Zudichtung entscheiden, so soll damit gewiß nicht das Signal für eine unbesonnene "Interpolationsjagd" gegeben sein. Es kommt uns vielmehr darauf an zu zeigen, daß die Frage, in welchem Umfang bei Prudentius mit Interpolationen gerechnet werden darf, erst dann hinreichend wird geklärt werden können, wenn jener Vorsprung, den die gewissenhafte Erforschung der handschriftlichen Überlieferung gegenüber der Interpretation der Gedichte selbst bisher gewinnen konnte, aufgeholt ist.

I. Das Decemvirat in Rom (Zu Contra Symm. 2, 423/27) Im zweiten Buch gegen Symmachus gibt Prudentius einen kurzen Überblick über die römische Verfassungsgeschichte von der Königszeit bis auf Augustus. Im Prinzipat des Augustus, der die höchsten Ämter der voraufgehenden ruhelosen Epochen in seiner Person vereinigte (V. 432/35), sieht Prudentius die verfassungsgeschichtliche Parallele zur Herrschaft Christi, dessen Verehrung die cultuspriores in Rom endlich abgelöst hat. Es sei gestattet, die entscheidenden Verse der historischen Skizze hier zunächst vorzuführen: regius exortam iam tunc habuit status urbem non sine grandaevis curarum in parte locatis;

[247/248]

420

425

I. Zwei Textprobleme bei Prudentius

3

mox proceres de Stirpe senum tractasse videmus clavum consilii; plebeias inde catervas conlatas patribus mixtim dicionibus aequis imperitasse diu belloque et pace regendis, consule nobilitas viguit, plebsfisa tribuno est. \ [displicet hic subito status et bis quina creantur summorum procerum fastigia, quos duodeni circumstant fasces simul et sua quemque securis. rursus se geminis reddit ductoribus omnis publica res et consulibus dat condere fastos.] ultima sanguineus turbavit saecla triumvir.

Zur Erleichterung der folgenden Untersuchung wollen wir uns die hier dargestellte Abfolge der einzelnen Verfassungen durch eine Übersicht klarmachen: 1. Königtum V. 416/417 2. Herrschaft des Patriziats V. 418/419 3. Gemeinsame Regierung von Patriziern und Plebejern: V. 419/422 Konsulat und Tribunat V. 423/425 3a. Decemvirat V. 426/427 3b. Wiederhergestelltes Konsulat V. 428 4. Triumvirat (Bürgerkriege) In dieser Übersicht entsprechen die Punkte 3a und 3b den oben in Klammern gesetzten Versen 423/427. Diese Verse fehlten ursprünglich im Codex Dunelmensis ( = D bei Bergman) und sind erst von späterer Hand am Rande hinzugefügt worden. Der Dunelmensis zählt zu den wichtigsten Handschriften7 und verdient hier schon deswegen Beachtung, weil uns der codex vetustissimus, Bergmans Puteanus (saec. VI), für die Gedichte contra Symmachum im Stich läßt; andererseits wird der Wert des Zeugnisses von D im vorliegenden Fall insofern gemindert, als in diesem Codex manchmal zweifelsfreie Verse auf mechanischem Wege ausgefallen sind8. Ferner sei die Aufmerksamkeit noch auf einen weiteren Tatbestand der Überlieferung gelenkt: die Hand7 [248'] Vgl. Bergman, a.a.O. 42f.; Klingner, a.a.O. 678f. 8 [248 2 ] So vor allem die fiir den Zusammenhang unentbehrlichen Verse Symm. II 340 und 448/449. Umgekehrt ist aber D frei von dem interpolierten Vers 327, den wieder erst der Schreiber der Marginalien nachgetragen hat.

4

Prudentiana I. Critica

[248/249]

Schriften schwanken hinsichtlich der Placierung von V. 422. Die Codices C Ρ Ε Ο sowie die Marginalien des Dunelmensis lassen diesen Vers erst nach V. 427 folgen, während die übrigen Handschriften die oben ausgeschriebene Versanordnung bieten, die in alle unsere Ausgaben eingegangen ist9. Dazu wird gleich mehr zu sagen sein. Wenden wir uns nun der Interpretation zu! Wer den Passus in Ruhe liest, wird vielleicht ein wenig verwirrt innehalten und sich dann veranlaßt sehen, die einzelnen Etappen des verfassungsgeschichtlichen Auf und Ab "nachzurechnen". Der Grund dafür liegt, sieht man näher zu, ohne Zweifel zunächst in den Versen 419/422 ( = Nr. 3 in unserer Übersicht). Sie | müßten sich, legt man den Text, wie ihn unsere Ausgaben drucken, zugrunde, auf die Zeit zwischen der uneingeschränkten Herrschaft der proceres und der Einsetzung der decemviri legibus scribundis, also, grob gesagt, auf die erste Hälfte des fünften Jahrhunderts beziehen. Doch regen sich sogleich Zweifel, ob das, was wir hier von der römischen Verfassung erfahren, überhaupt auf diese Zeit paßt. Zunächst fällt die starke Betonung der Regierungsgleichheit zwischen nobilitas und plebs auf, die zu der Epoche lebhafter Ständekämpfe zwischen 494 und 451 keinesfalls stimmt. Es kommt viel darauf an, sich zu vergegenwärtigen, mit welchem Wortaufwand Prudentius gerade diesen Gedanken herausarbeitet: plebeias... catervas Conlatas patribus mixt im dicionibus a e qui s Imperitasse ... eqs. Zwar hatte sich das Bestreben, die Macht der Konsuln durch schriftliche Fixierung und Publikation des Rechts einzuschränken, schon ein Jahrzehnt vor dem Decemvirat in der lex Terentilia niedergeschlagen, doch ist diese Zeit weit mehr durch den heißen Kampf um dieses Gesetz als etwa durch seine konstante Wirkung gekennzeichnet10. Vor allem aber könnte der Zeitraum von nur einem Jahrzehnt innerhalb einer 9 [2483] Sämtliche Angaben sind Bergmans Apparat entnommen, Lavarenne teilt hierzu gar nichts mit. 10 [2491] Es versteht sich, daß man bei der kritischen Musterung der geschichtlichen Skizze bei Prudentius von der Darstellung der römischen Historiker selbst auszugehen hat. Die entsprechenden Kapitel bei Livius zeigen denn auch deutlich, wie wenig in diesem Jahrzehnt von einer Gleichstellung der Plebejer, und noch dazu in der Regierungsgewalt (vgl. dicionibus aequis Imperitasse ... regendis), die Rede sein kann (Liv. III 9ff.). Die Formulierung: se (sc. decemviros)... omnibus, summis infimisque, iura aequasse begegnet innerhalb der Iivianischen Darstellung erst im Zusammenhang mit dem Zwölftafelgesetz (Liv. III 34). Wenn Tacitus einmal (ann. III 27) das Zwölftafelgesetz als finis aequi iuris bezeichnet, so ist das aus dem besonderen Gedankengang dieser Stelle zu erklären: Tacitus sieht in den Zwölftafeln das Ende einer bei Numa, Servius Tullius u.a. beginnenden gerechten Gesetzgebung, die durch die großenteils aus ungerechten Motiven entstandenen Gesetze der Folgezeit nicht mehr fortgeführt wurde.

[249/250]

I. Zwei Textprobleme bei Prudentius

5

geschichtlichen Entwicklung, die nach Prudentius' eigenen Angaben 700 Jahre umfaßt (vgl. V. 413), nie und nimmer als langdauernd bezeichnet werden, was gleichermaßen von den rund vier Dekaden zwischen der secessio plebis und den decemviri insgesamt gilt. An dem Wörtchen diu muß jeder Harmonisierungsversuch endgültig scheitern11. Das wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß keine andere Epoche der voraugusteischen Verfassungsgeschichte als langdauernd hervorgehoben, sondern im Gegenteil der längste Abschnitt innerhalb der skizzierten Entwicklung mit dem unvermittelten Übergang von der Erneuerung des Konsulats (449 v.Chr.) zum Triumvirat (60 v.Chr.) wortlos übersprungen wird. Soll man nun glauben, der junge Prudentius | habe bei seinen gestrengen Lehrern (vgl. prf. 7/9) so wenig römische Geschichte gelernt, daß er eine lange Epoche völliger Regierungsgleichheit der Stände vor dem Decemvirat annehmen konnte? Und wenn ja, wer möchte das dem belesenen Dichter und hohen kaiserlichen Beamten zutrauen? Ein so kapitaler Irrtum wäre kaum jemandem, der nur einmal ein geschichtliches Handbuch gelesen hatte, unterlaufen12. Man wird nicht zweifeln dürfen, daß die Epoche Nr. 3 die gesamte Zeit der Republik vom Ende der Patrizierherrschaft bis zum ersten Triumvirat bedeutet. Dabei bleibt offen, wann das Ende der Herrschaft der proceres, also der Übergang von Stufe 2 zu Stufe 3, historisch genau zu fixieren ist. Auf das Patriziat folgt bei Prudentius sofort die gemeinschaftliche Regierung von nobilitas und plebs; die fertigen Staatsformen, nicht ihre geschichtliche Genesis führt der Dichter vor. Hat man den Sinn der Verse 419/422 einmal richtig erfaßt, dann ist für die Stufen 3a und 3b kein Platz mehr; denn erst durch die Erwähnung des Decemvirats wird ja die voraufgehende Epoche in höchst unpassender Weise historisch eingeengt. Je länger man die Interpretation der Verse 419/422 überdenkt, desto unvermeidbarer erscheint die Ausscheidung des Versblocks 423/42713. Läßt man ihn fort, dann kommt sogleich alles in die rechte Ordnung: die totale Regierungsgleichheit π [2A92] Es ist bezeichnend, daß in der Übersetzung von G. Stramondo, Catania 1956, ebenso wie in der Paraphrase des Passus bei M. Manitius, Mären und Satiren aus dem Lateinischen, Bücher der Weisheit und Schönheit, Stuttgart o.J., 80, gerade das Wort diu unberücksichtigt blieb. 12 [250 1 ] Muß man hier noch darauf hinweisen, daß bei Prudentius Spuren direkter Benutzung der Livius-Epitome des Floras anzutreffen sind? Darüber s. W. Schmid, a.a.O. 176. 13 [2502] Die Stufen 3a und 3b als Unterabschnitte innerhalb einer durch Stufe 3 ausgedrückten übergeordneten Gesamtepoche anzusehen, geht nicht an. Das hätte deutlicher gemacht werden müssen; denn sonst ist immer an eine sukzessive Folge selbständiger Epochen gedacht (vgl. 418 mox - 419 inde - 428 ultima saecla), und auch die Überleitung displicet hic subito status kann nicht anders aufgefaßt werden. Im übrigen wäre damit der Anstoß auch keineswegs beseitigt.

6

Prudentiana I. Critica

[250/251]

von Plebs und Patriziat, die den ständischen Gegensatz geradezu aufhebt (vgl. mixtiml), wird historisch richtig eingeordnet, diu erhält seinen guten Sinn, zwanglos schließt sich die Erwähnung der ultima saecla an; die ganze Passage gewinnt den Charakter eines raschen Überblicks zurück. Man muß sich wundern, daß die Schwierigkeit des behandelten Stücks noch niemals gesehen, geschweige denn ihre Lösung versucht wurde. Dabei hätten - um noch einmal auf den handschriftlichen Befund zurückzukommen - die Codices C Ρ Ε Ο D marg. mit ihrer abweichenden Anordnung der problematischen Verse selbst demjenigen einen Hinweis geben können, der auf das Zeugnis von D allein nicht bauen mochte; denn die Annahme einer bloß mechanischen Verschiebung wäre hier gewiß ein unbefriedigender Ausweg14. | Bergman hat das erkannt und die Versumstellung auf einen bewußten Eingriff zurückgeführt, dessen Grund er freilich nicht ganz zutreffend darstellt. Er gibt folgende Erklärung (a.a.O. 51): "Sciolus quidam consulto locum huius versus mutavit, tribuniciam potestatem satis clare demonstratam existimans vv. 420-421, sed non commemoratam post ν. 427 observans, quare versum, suo loco motum, alieno inculcavit". Man wird Bergman hier zwar grundsätzlich zustimmen dürfen, aber die Möglichkeit, daß der von ihm so abschätzig beurteilte Redaktor nicht doch etwas Richtiges gefühlt hat, und daß somit seine Versumstellung als Zeichen einer tieferreichenden Verderbnis des Textes anzusehen ist, läßt sich keinesfalls ausschließen. Eine gewisse Unklarheit hinsichtlich des Tribunats ist ja sehr wohl vorhanden. Bei Bergman kommt das punctum saliens allerdings nicht deutlich genug heraus; es liegt darin, daß nach der ausdrücklichen Gegenüberstellung von Konsul und Tribun, wie sie V. 422 gibt, die kurz darauf folgende Erwähnung der consules als gemini ductores des G e s a m t staats nach der Restauration stutzig machen konnte. Von dieser Voraussetzung aus ließe sich das Zustandekommen der Transposition folgendermaßen rekonstruieren: nachdem der interpolierte Zusatz, auf welche Weise auch immer - vielleicht durch Wegfall eines kritischen Zeichens, das die Unechtheit des Stücks markiert hatte15 - mit dem Text ver14 [250 3 ] Unsicherheit in der Einordnung eines Interpolaments zeigen die Prudentiushandschriften auch in anderen Fällen; vgl. Bergmans Apparat zu Symm. I 366; II 143; Ham. 191. 15 [251'] Ob bei Prudentius eine kritische Ausgabe von der Art, wie sie sich für uns im Fall des Lukrez, Vergil, Horaz u.a. mit dem Namen des Valerius Probus verbindet, denkbar ist, soll freilich hier nicht entschieden werden.

[251/252]

I. Zwei Textprobleme bei Prudentius

7

wachsen war, las sich die Passage nicht mehr glatt; ein späterer Redaktor nahm an der dargestellten Unklarheit Anstoß und versuchte sie durch Transposition von V. 422 zu beseitigen, ohne daß sich jedoch diese Reihenfolge, die ihrerseits den Text keineswegs bessert, überall durchgesetzt hätte16. Das Motiv der Eindichtung selbst läßt sich mit seltener Klarheit fassen. Die Einteilung der römischen Verfassungsgeschichte, wie sie Prudentius gab, beruhte gewiß nicht auf dem einzigen Schema dieser Art; andere mögen sogar verbreiteter gewesen sein. In der Tat findet sich gerade bei Livius eine von der prudentianischen Darstellung abweichende Gliederung der Verfassungsgeschichte. Livius schreibt zu Beginn seines Berichts über das Decemvirat (Liv. III 33): anno trecentesimo altero quam condita Roma erat iterum mutatur forma civitatis, ab consulibus ad decemviros, quemadmodum ab regibus ante ad consules venerat, translato imperio. Hier erscheint das Decemvirat also als dritte Stufe nach Königtum und (patrizischem) Konsulat; in der ursprünglichen Fassung des Prudentiustextes war dagegen | diese Stufe übersprungen, so daß auf das Patriziat sogleich die gemeinsame Regierung von plebs und nobilitas als dritte Stufe folgte. Der Textbearbeiter wird, als er die Eindichtung vornahm, die livianische oder eine ihr ähnliche Einteilung, die das Decemvirat als eigene Stufe berücksichtigte, vor Augen gehabt haben; dabei verdient die Tatsache Beachtung, daß sich auch die Angabe, jeder der decemviri habe seine eigenen lictores und fasces gehabt, in einem eindrucksvollen Bilde bei Livius findet (Liv. III 36,3/4): nam cum ita priores decemviri servassent, ut unusfasces haberet... subito omnes cum duodenis fascibusprodiere. centum viginti lictores forum impleverant et cum fascibus secures inligatas praeferebant. Freilich war die Eindichtung als Zusatz, nicht etwa als Ersatz der von Prudentius gegebenen dritten Verfassungsstufe gedacht17. Ohne Zweifel stört

16 [2512] Wenn das Interpolament selbst keine Anstöße bietet, so braucht das hier nicht entscheidend ins Gewicht zu fallen; sprachlich und metrisch glatte Interpolamente gibt es im Prudentius auch sonst (vgl. Bergman, a.a.O. 28 zu Symm. II 143a/b und Klingner, a.a.O. 683 zu Apoth. 938a; Ham. prf. 43a; Ham. 69; 191a; 858a-f). Daß die Entstehung der Eindichtung recht früh anzusetzen ist, zeigt der handschriftliche Befund; denn die Verse stehen ja nicht nur in Handschriften der von Bergman so bezeichneten Klasse Aa und B, sondern auch in den davon unabhängigen Codices Ν V von der Seite des Ambrosianus (Klasse Ab nach Bergman), der selbst fur den größten Teil des zweiten Buches c. Symmachum ausfällt. Das Stemma codicum bei Bergman (Ausgabe p. XXIV) bedarf freilich, wie Klingner gezeigt hat, in entscheidenden Punkten der Korrektur. 17 [252 1 ] Diese Möglichkeit scheidet schon deswegen aus, weil der Übergang von der zweiten zur dritten Stufe bei Prudentius innerhalb eines Verses erfolgt (in V. 419), das Interpolament jedoch aus Ganzversen besteht.

8

Prudentiana I. Critica

[252/253]

sie den organischen Zusammenhalt der Passage und läßt sich als Texterweiterung erkennen und herauslösen: wer immer den Zusatz dichtete, es ging ihm nur darum, ein geläufiges Motiv verfassungsgeschichtlichen Wechsels, das er bei Prudentius vermißte, nachzutragen, um die Einfügung seines Stücks in den logischen Gedankengang des Prudentiustextes war er offenbar nicht bemüht. Denn bildete das Decemvirat bei Livius sinnvoll die dritte Stufe nach Königtum und patrizischer Konsulargewalt, so rückte diese Verfassungsstufe in dem interpolierten Prudentiustext an die vierte Stelle ( = 3a in unserer Übersicht) und schloß sich historisch unrichtig an eine Epoche an, die deutlich als die gesamte republikanische Periode zwischen Patrizierherrschaft und Triumvirat gekennzeichnet ist.

II. Hell und dunkel als Qualitäten der Seele (Zu Ham. 887/91) Gegen Ende der Hamartigenie zeichnet Prudentius ein eindrucksvolles Bild des Schicksals der reinen und der sündigen Seelen nach dem Tode. Die göttliche Gerechtigkeit findet für ihn darin ihre Vollendung, daß die Seligen und Verdammten einander sehen können und so fortwährend das entgegengesetzte Geschick vor Augen haben. Dem hier durchaus zu erwartenden Einwand, wie das denn bei der ungeheuren räumlichen Entfernung von Himmel und Hölle überhaupt möglich sei, versucht Prudentius durch eine ausführliche Darlegung der uneingeschränkten Sehkraft des Seelenauges zuvorzukommen (863ff. nec mirere ... eqs.). Die Seelen, so führt er aus, dürfen nicht nach dem begrenzten Sehvermögen des leiblichen | Auges beurteilt werden; ihnen eignet vielmehr ein alldurchdringendes Feuer, das weder von Nebel und Wolken noch von festen Körpern gehemmt wird, so daß es selbst die äußersten Grenzen der Welt zu erreichen vermag. Während ferner für das körperliche Auge die Dinge bei Nacht Farben und Formen verlieren, beeinträchtigt die Dunkelheit die Sehkraft der Seelen nicht. Den Beweis für diese wunderbare Fähigkeit des Seelenauges findet Prudentius im Traumerlebnis (892ff.), das durch die Vision des Johannes (Apc. 1,9/10) eine biblische Fundierung erfährt; denn wenn das Auge der Seele sogar während des irdischen Daseins bisweilen größte Entfernungen durchmessen und stärkste Hindernisse durchdringen kann, wie wird es dann erst nach der Befreiung von den Fesseln des

[253/254]

I. Zwei Textprobleme bei Prudentius

9

Leibes sein? So kehrt die Erörterung wieder zum Ausgangspunkt zurück: die paradisicolae und die Verdammten, folgert der Dichter, schauen einander also tatsächlich, wie das auch durch die biblische Erzählung vom Reichen und dem armen Lazarus bestätigt wird (925 pauperis greift auf 852/62 zurück). Mitten in dieser Schilderung der visuellen Seelenkräfte, die wir kurz zu skizzieren versuchten, haben die fünf Verse 887/91 ihren Platz gefunden, die sowohl hinsichtlich der Einzelinterpretation als auch hinsichtlich ihres gedanklichen Anschlusses zum Voraufgehenden und Folgenden große Schwierigkeiten bereiten. Es erscheint zweckmäßig, die Verse hier im Zusammenhang mit dem Versbestand der nächsten Umgebung vorzuführen:

885

890

nostris nempe omnes pereunt sub nocte colores visibus et caeco delentur tempore formae. numquid et exuti membris ac viscere perdunt agnitione notas rerum vel gressibus errant? [una animas semper facies habet et color unus aeris, ut cuique est meritorum summa, sinistri seu dextri; alternas nec commutabile tempus convertit variatque vices: longum atque perenne est, quidquid id est, unus volvit sua saecula cursus.] expertus dubitas animas percurrere visu abdita corporeis oculis, ... eqs.

Die oben in Klammern gesetzten Verse 887/91 sind von M. Lavarenne (Prudence, 2, Paris 1945) hier herausgelöst und nach V. 930 eingefügt worden. Die französische Prudentiusausgabe - zur Zeit wohl der meistgebrauchte Text dieses Dichters - druckt die Verse also in einer von der überlieferten Versordnung weit abweichenden Reihenfolge. Lavarenne begründete diese Transposition in einem kurzen Aufsatz18. Seiner Ansicht | nach unterbrechen die fünf Verse an der überlieferten Stelle den Zusammenhang "d'une maniere absolument saugrenue", während sie nach V. 930 durchaus am Platze seien. Wir halten Lavarennes Anstoß in gewisser Beziehung für berechtigt, sehen in der Transposition jedoch kein geeignetes Mittel, die vorhandenen Schwierigkeiten zu beseitigen. 18 [253'] M. Lavarenne, Note sur un passage de l'Hamartigönie de Prudence, Rev.Et.Lat. 19, 1941, 76/78.

10

Prudentiana I. Critica

[254]

Zunächst muß Lavarennes Erklärung des Zustandekommens dieser Zeilenverschiebung äußerst kritisch beurteilt werden. Er erklärt die Genesis der Versverstellung folgendermaßen: Ohne die fraglichen fünf Verse bleiben zwischen V. 886 und V. 930 insgesamt 39 Verse übrig. Unsere älteste Prudentius-Handschrift, der Codex Puteanus (cod. Α bei Bergman, saec. VI), hat auf jeder Seite zwanzig Verse. Der Schreiber, der das Exemplar herstellte, das dem Archetypus unserer Handschriften zugrunde lag, fand in seiner Vorlage V. 886 als letzten Vers unten auf einer Seite vor. Aus Versehen blätterte er zwei Seiten auf einmal um; er ließ also zunächst 2 χ 20 Verse aus und geriet auf diese Weise in die Versgruppe 931/936 (die Rechnung geht nicht ganz auf: ein Vers fehlt! Lavarenne erklärt das durch Freilassung einer Zeile, z.B. vor V. 910). Nachdem er bereits fünf Verse geschrieben hatte, bemerkte er seinen Irrtum. Das Zeichen, das die richtige Anordnung kenntlich machen sollte, wurde von dem Schreiber des Archetypus nicht beachtet. Man erkennt sofort, auf welcher stillschweigenden Voraussetzung Lavarennes Rechnung basiert: daß die Vorlage des Archetypus dieselbe Zeilenzahl pro Seite aufgewiesen habe wie unser Puteanus. Diese Voraussetzung ist unbeweisbar und gewinnt durch die neuere Handschriftenforschung, derzufolge cod. Α durch Abschreiben und Zusammenbinden verschiedener Einzelausgaben der Gedichte entstanden ist, nicht gerade an Wahrscheinlichkeit19. Freilich könnte man auf den Nachweis, in welcher Weise die Versumstellung erfolgte, unter Umständen verzichten, wenn wenigstens einwandfrei feststünde, daß die Verse nach V. 930 ihren richtigen Platz gefunden haben. Um in dieser Frage zu einem klaren Ergebnis zu gelangen, ist es unerläßlich, zunächst einmal den Sinn der fraglichen Verse selbst so weit wie möglich zu klären und gewisse Mißverständnisse der herkömmlichen Interpretation auszuräumen. Der besseren Übersicht halber wollen wir die Untersuchung in drei Abschnitte gliedern. 1. V. 887. In Prosa hieße der Satz: animae una sunt semper facie, uno colore. Facies und color bezeichnen Qualitäten der Seele selbst! Zu diesem Gebrauch von habere vgl. etwa Sen., Oed. 460: et nova demersos (sc. nautas) facies habet; Prud., Symm. 2, 416: regius ... habuit status urbem. Irrefüh-

19 [2541] Vgl. M.P. Cunningham, Some Facts about the Puteanus of Prudentius, Transactions of the Am. Phil. Ass. 89, 1958, 32/37.

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rend ist also die Übersetzung Lavarennes: "(Les ämes) se trouvent toujours dans un air de la meme couleur"20. | 2. V. 888f. Wie der mit ut cuique eingeleitete Nebensatz beweist, wird hier hinsichtlich der Farbqualität der Seelen ein Unterschied gemacht, je nachdem, ob sie rein oder sündig sind. Der disjunktive Ausdruck sinistri seu dextri kann also nicht als Ergänzung zu meritorum summa gezogen werden21, sondern gehört zu aeris; andernfalls würde für alle Seelen unterschiedslos eine einzige Farbe (color aerisl) angenommen. Was ist nun damit gemeint: color aeris dextri - color aeris sinistri? Stam22 befand sich mit dem Hinweis auf den Gegensatz "hell - dunkel" wohl auf dem richtigen Weg. Das Verständnis der freilich sehr kühnen Metaphern aer sinister = aer ater und aer dexter = aer lucidus23 mag immerhin für den spätantiken Menschen leichter gewesen sein als für uns; denn die geläufige Vorstellung rechts = günstig, gut - links = ungünstig, schlecht24 erweiterte sich damals mitunter zur Gleichung rechts = hell - links = dunkel, wie sie vor allem in der frühchristlichen Gleichsetzung von Links und Westen, Rechts und Osten zum Ausdruck kommt25. In der Wertetabelle, die Hippolytos von Rom ägyptischen Pythagoreern zuschreibt, hat diese Anschauung ihre bündigste Formulierung gefunden26: την γαρ φύσιν έξ εναντίων συνισταμένην λέγουσιν (sc. οί Αιγύπτιοι) έκ τε καλοΰ και κακοΰ, ώσπερ δεξιόν και άριστερόν, φως και σκότος, νύξ και ήμέρα,

20 [254 2 ] Auch H J . Thomson (Prudentius, 1, London 1949) mißversteht die Konstruktion: "Ever the same in look, the same in hue, is the atmosphere about souls ..." eqs. Besser trifft J. Stam (Prudentius, Hamartigenia, Amsterdam 1940) den Sinn. 21 [2551] So J. Bergman im Index verborum seiner Prudentiusausgabe (CSEL 61,1926,563). 22 [255 2 ] Stam, a.a.O. 249 z.St. 23 [255 3 ] Aer steht hier gewissermaßen als vox media und wird erst durch die Adjektive dexter - sinister näher qualifiziert; sonst würde man das Attribut dexter im Sinne von lucidus lieber mit aether verbinden, obgleich die lateinischen Dichter zwischen aer und aether nicht streng unterschieden haben (vgl. Kiessling-Heinze zu Hör. c. 1,28,5 und Kroll zu Cat. 66,6). 24 [255 4 ] Vgl. dazu O. Nussbaum, Die Bewertung von Rechts und Links in der röm. Liturgie, JbAC 5, 1962, 158/171 und die dort angeführte Literatur. 25 [255 5 ] Darüber handelt ausführlich F.J. Dölger, Die Sonne der Gerechtigkeit und der Schwarze, Münster 1918 = Liturgiegeschichtl. Forschungen 2, 37/48; vgl. dens., Sol Salutis, Münster 19252 = Liturgiegeschichtl. Forschungen 4/5, Reg. s.v. Rechts. Aufschlußreich ist auch die Erörterung der weißen und schwarzen Farbe der Opfertiere bei Arnobius 7,19: ... superis diis ... atque omnium dexteritatepollentibus color laetus acceptus est acfelix hilaritate candoris, at vero diis laevis sedesque habitantibus inferos color furvus est gratior et tristibus suffectus e fucis. 26 [255 6 ] Hippolyt., Elench. 4,44,1 (GCS 26,67); s. dazu Dölger, Die Sonne der Gerechtigkeit 42.

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ζωή και θάνατος. Daß die guten Seelen nach dem Tode hell, die sündigen dagegen dunkel sind, lesen wir auch sonst27. | 3. V. 889/91. Diese Verse enthalten den breit ausgeführten Gedanken, die "verändernde Zeit"28 bringe keinen Wechsel, d.h.: keinen Wechsel von Form und Farbe der Seele; denn nur das kann dem Zusammenhang nach gemeint sein. Daß die Zeit keine Änderung des Schicksals schlechthin der Seelen bewirke29, brauchte nicht besonders hervorgehoben zu werden. Die anderthalb Verse von longum bis cursus (890/91) sind freilich von einer seltsamen Unbestimmtheit. Namentlich der Relativsatz quidquid id est erscheint rätselhaft. Worauf bezieht sich das Pronomen idl Auf tempus doch sicher nicht. Aber auch ein Rückverweis auf die gesamte vorausgehende Aussage wäre wohl kaum verständlich. Man hat den Eindruck, daß die bequeme epische Floskel30 hier unpassend angewandt ist. Schon diese knappe Interpretation verhilft uns zu einem besseren Urteil über die Stellung der Versgruppe im Gesamtzusammenhang. Lavarenne ließ sich zu der Behauptung verleiten, den fraglichen Versen fehle jegliche Beziehung zum Kontext31. Dem ist nun freilich nicht so. Die Verse 887/91 enthalten vielmehr einen recht detaillierten, wenn auch völlig überraschenden Bezug zum Voraufgehenden. In den beiden Versen 883/84, die oben noch mit

27 [2557] Z.B. Trans. Mariae VII (VIII): Apocal. apocryph. p. 129 Tischendorf (notiert von Waszink zu der hier gleichfalls wichtigen Stelle Tert., Anim. 9,4); Sulp. Sev., Vita Mart. 11,4 (s. dazu Dölger, Die Sonne der Gerechtigkeit 61s); Stam verweist mit Recht auf die Petrusapokalypse (17 und 21, p. 4 Dieterich), wo die Seligen ein helles, die Verdammten ein dunkles Gewand tragen κατά τον άέρα του τόπου. Bei Prudentius findet sich sonst nichts, was wirklich vergleichbar wäre. In stark bildlicher Sprache heißt einmal die Seele der hl. Eulalia, die den Mund der Märtyrerin in Gestalt einer weißen Taube verläßt, "milchweiß" (Per. 3,165; vgl. auch Ham. 804/805 mit 818), und Symm. 1, 424 ist im Zusammenhang mit dem heidnischen Totenkult von caeruleae animae die Rede, die das Haupt der personifizierten Roma umflattern. Die zahlreichen Stellen, an denen nur etwas über die Lichtfülle des Paradieses bzw. die Finsternis des τόπος κολάσεως gesagt wird (z.B. Per. 10,473), gehören nicht eigentlich hierher, wo es um die Farbe der Seele selbst geht. Umgekehrt verdient die Tatsache Beachtung, daß Prudentius der Seele zur Bezeichnung ihrer Unkörperlichkeit häufig das Prädikat liquidus (liquor) zuerkennt, und zwar auch der sündigen Seele (Symm. 2, 187f.; vgl. Arevalo, PL 59, 693/97; Klingner, Gnomon 6, 1930, 42 = Studien zur griech. und röm. Lit., Zürich/Stuttgart 1964, 677f.)! 28 [2561] Commutabilis dürfte hier zu den im späteren Latein häufigen aktiven Adjektiva auf -bilis gehören (s. M. Leumann, Die latein. Adjektiva auf -Iis, Straßburg 1917, 116f.). 29 [2562] So fassen alle modernen Übersetzer die Verse auf. Vgl. z.B. Lavarenne: "II ne survient pas d'heure de changement oü les röles seraient renverses, oü les sorts seraient alternes. Le sort de chacun ..." eqs. 30 [2563] Die Nachweise gibt Ch. Schwen, Vergil bei Prudentius, Diss. Leipzig 1937, 121. 31 [2564] Lavarenne, Rev.Et.Lat. 19, 1941, 77.

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ausgeschrieben sind, wird die Wirkung der Dunkelheit auf die Wahrnehmungsfähigkeit des leiblichen Auges erörtert: für unsere Augen, heißt es, verlieren die Dinge bei Nacht alle Farben, und ihre Gestalten werden zur Zeit der Dunkelheit ausgelöscht32. Die besprochenen fünf Verse setzen dem | entgegen: die Seelen haben immer eine (bestimmte) Gestalt und eine (bestimmte) Farbe; sie sind ihren Verdiensten entsprechend hell oder dunkel, die Zeit bringt keinen Wechsel (wie Tag und Nacht für die sichtbaren Gegenstände!). Die Begriffe colores und formae in V. 883f. werden wieder aufgenommen durch facies und color in V. 88733. Ein gewisser Bezug der Verse 887/91 zum Voraufgehenden ist demnach durchaus vorhanden, womit das Urteil über die Transposition gesprochen sein dürfte, ohne daß man noch viele Worte machen müßte34; freilich ist mit dem Nachweis dieses gedanklichen Berührungspunktes zwischen der fraglichen Versgruppe und dem Vorhergehenden längst nicht alles in Ordnung gebracht. Denn ein in sich schlüssiger Gedankengang läßt sich nur auf Kosten der Verse 885/86 konstruieren: nur wenn man dieses Verspaar unberücksichtigt läßt - so wie wir das eben in unserer kurzen Paraphrase getan haben - , erscheint der Bezug des Versblocks 887/91 zu den Versen 883/84 sinnvoll. Die mit numquid eingeleitete rhetorische Frage zieht aus der in V. 883/4 getroffenen Feststellung die gegenteiligen Folgerungen für die Seelen: das

32 [2565] Den Gedanken von der Farblosigkeit aller Dinge bei Nacht hat Vergil in die klassische Form gebracht: rebus nox abstulit atra colorem (Aen. 6,272); in dieser Prägung hat er auf Tertullian (Anim. 43,7) und Prudentius (Cath. 2,7) gewirkt. Doch da wir uns hier in einem Lehrgedicht befinden, das oft genug, und gerade auch in diesem Passus, lukrezisches Kolorit aufweist (vgl. Ham. 905 mit Lucr. 3,26; s. Heinze z. St.), darf wohl auch an die Behandlung des Themas durch Lukrez erinnert werden (2,795 nequeunt sine luce colores Esse). Innerhalb der christl.-lat. Poesie wäre besonders Hilarius Arelat., In gen. 57/61 (CSEL 23,233) zu nennen: Insequitur nox atra diem densaeque tenebrae, Corporibus somnos quae ferrent, otia fessis, Et cunctis unamfaciem similemquefiguram. Namque dies varie rerum discriminat ora Et dat cuique suum disiecta nocte colorem ... eqs. Vgl. schließlich noch Orig., In Cant. 1 (350 Lomm.). 33 [2571] Facies, gesagt von den Seelen, ist vorsichtiger und unbestimmter als forma. Der Gedanke an die "Gestalt" der Seelen wird auch sogleich fallengelassen und nur der zweite Begriff color näherhin qualifiziert; eine bestimmte Angabe über die facies animarum wäre ja in der Tat kaum möglich gewesen. Facies steht eigentlich nur um der äußeren Korrespondenz zu V. 883f. willen neben color. 34 [2572] Nach V. 930 stünden die Verse ganz zusammenhanglos. Überdies hat die Beschreibung der Verdammten und Seligen dort bereits eine solche Bildhaftigkeit erreicht (vgl. 925f. aurea dona Iustorum ... rutilasque coronas\), daß die recht theoretische Erörterung der Seelenfarbe auch unter diesem Gesichtspunkt wenig passend erscheinen müßte. Lavarenne gelingt es nur durch eine unscharfe Wiedergabe des lateinischen Textes, einen scheinbaren Zusammenhang mit den voraufgehenden Versen herzustellen (s. oben S.9f. [254] und S. 12 Anm. 29 [S. 256 Anm. 2]).

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leibliche Auge verliert die Erkenntnis von Farbe und Form bei Nacht, für die vom Leibe Befreiten gilt das aber eben gerade nicht. Wenn auf diese Aussage eine sinnvolle Weiterführung, bzw. auf die mit numquid eingeleitete Frage eine sinnvolle Antwort hätte folgen sollen, dann hätte eine Begründung dafür gegeben werden müssen, warum die Seelen eben nicht irren, sondern auch bei Dunkelheit Farbe und Form erkennen können (etwa in der Art der Verse 875/878). Stattdessen folgt jedoch völlig unerwartet eine Aussage über Farbe und Form der Seele selbst, ohne daß dieses Thema einen Anschluß wenigstens nach vorne fände: ab V. 892 bildet wieder die Aktivität des Seelenauges den Gegenstand der Erörterung. Trotz aller hier gebotenen Vorsicht wird man daher sagen dürfen, daß der Anstoß, den der französische Editor an der Stellung dieser Versgruppe nahm, in folgender Modifikation durchaus aufrechtzuerhalten ist: die fraglichen Verse hängen zwar in der dargestellten Art mit dem | Voraufgehenden zusammen, stören aber auf der anderen Seite den Gedankengang empfindlich, insofern sie die Erörterung der Färb- und Formlosigkeit der Dinge bei Nacht in unpassender Weise durch eine Behandlung der Seelenqualitäten fortführen35. Lavarenne selbst war es, der auch die Möglichkeit einer Interpolation als erster erwog. Freilich ließ er den Gedanken gleich wieder fallen, da er die Verbindung des problematischen Stücks mit dem Kontext nicht erkannte; die Annahme einer Interpolation ohne irgendeinen Bezug zum benachbarten Versgut erschien ihm mit Recht unbefriedigend. Nachdem nun aber die von Lavarenne vermißte gedankliche Berührung mit dem Kontext nachgewiesen ist, wird man die Annahme einer Interpolation nicht mehr mit der gleichen Entschiedenheit abtun dürfen, zumal ja das fragliche Stück an sich Anlaß zu Bedenken gibt (s. oben S. 12 [256]). Beachtung verdient ferner, daß sich das Motiv für die Texterweiterung innerhalb unserer Betrachtungsweise noch näher bestimmen ließe. Der Ausdruckperdunt... notas rerum (sc. exuti membris) in V. 885/86 kann nämlich verschieden aufgefaßt werden, einmal im Sinne von: notas rerum non vident, zum anderen im Sinne von: notas rerum ipsi non

35 [2581] Mancher mag vielleicht annehmen, die Konstanz der Seele in Farbe und Form werde deswegen betont, damit die Erkenntnismöglichkeit der Verdammten in der subtema nox (vgl. 922) des Tartarus gewährleistet werde. Für die Seligen im ewigen Lichte hätte das aber keinen Sinn, und außerdem stünde eine solche Annahme im Widerspruch zu der Unbegrenztheit des Seelenauges, die Prudentius ja gerade so nachdrücklich hervorhebt.

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habentl Ersteres meinte zweifelsohne Prudentius, letzteres wäre die Auffassung des Diaskeuasten. Faßt man nun die Frage in V. 885f. im Sinne des Diaskeuasten, dann ist die mit V. 887ff. gegebene Weiterführung des Gedankens nicht nur passend, sondern bis zu einem gewissen Grade sogar notwendig, denn auf eine nähere Bestimmung der Färb- und Formqualitäten der Seele konnte in diesem Falle kaum verzichtet werden; so erklärte sich auch die emphatische Wiederholung des den Vers 887 einrahmenden Wortes unus, die sonst recht unmotiviert erscheinen müßte. An ein handfestes Mißverständnis seitens des Textbearbeiters brauchte man dabei nicht einmal zu denken - davor hätte wenn schon nicht der Ablativ agnitione, so doch der Zusatz vel gressibus errant bewahren müssen - : die Ambivalenz des Ausdrucks notas rerum perdere mochte genügen, um im Zusammenhang mit dem Thema "Farben bei Nacht" zu einer Feststellung der unwandelbaren Farben der Seelen anzuregen36.

36 [2582] Über die exegetische Ambivalenz eines Ausdrucks als Motiv für die Entstehung einer Interpolation s. W. Schmid, Symbola Coloniensia Iosepho Kroll ... oblata, Köln 1949, 107f. Dort handelt es sich um eine Ersatz-, hier dagegen um eine Zusatzinterpolation.

II. BEOBACHTUNGEN ZUM CLAUDIANTEXT * Die in den letzten Jahren neuerblühte Claudianforschung hat das Glück, sich auf die bedeutende Edition von Theodor Birt, erschienen vor über achtzig Jahren in den Monumenta Germaniae Historica (auct. antiqu. tom. 10, 1892), stützen zu können. Freilich ist Birts 'monumentale' Ausgabe eben gerade kein unbewegtes, totes Denkmal, sondern steckt voller Leben, Anregungen, ja auch bewußter Unfertigkeiten. Sie bildet eine stete Aufforderung an die Philologie, sich mit dem dort in der reichhaltigen Praefatio und in dem ausführlichen Apparat vorgelegten Material auseinanderzusetzen. Gewiß hat sie diese ihr zugedachte Aufgabe nicht in jedem Punkte erfüllt, woran jedoch der Editor selbst keinerlei Schuld trägt. Wenn daher unlängst ein belgischer Gelehrter im Hinblick auf die neue Ausgabe des Gedichts De raptu Proserpinae von J.B. Hall (Cambridge 1969) feststellte: "... il etait necessaire de faire descendre Jeep et Birt du piedestal oü ils s'etaient indüment places" 1 , so mag dieses Urteil einen Teil der späteren Claudianforschung treffen, Birt jedenfalls nicht, der auf solches Podest gerade nicht gesetzt werden wollte2. Ein Problem der Claudiankritik, das der Neubearbeitung besonders dringend bedarf, und zwar sowohl aufgrund seiner tiefreichenden Bedeutung als auch wegen der gerade hier in manchem unausgeglichenen Haltung Birts, betrifft die Frage nach der Existenz von Groß- oder Versinterpolamenten im Claudiantext. Die Frage ist allerdings ebenso dringlich wie heikel. Denn schon der bloße Versuch, interpolatorische Entstellungen, zumal solche größeren Umfangs, ernsthaft in Erwägung zu ziehen, begegnet heutzutage weithin ei-

* Studien zur Literatur der Spätantike, gewidmet Wolfgang Schmid zum 25. Jahrestag seiner Lehre in Bonn, hrsg. von Christian Gnilka und Willy Schetter, Bonn 1975 = Antiquitas, Reihe 1, Band 23, 45/90. ι R. Verdiere: Gnomon 43 (1971) 467. Ob es die Ausgabe von Ludwig Jeep (2 Bde, Leipzig 1876. 1879) verdient, mit der Birts in einem Atemzuge genannt zu werden, bleibe dahingestellt. Hinsichtlich ihrer allgemeinen Wirkung kann sie mit der Birtschen Edition keinesfalls verglichen werden. 2 Das Geleitwort, das Birt seiner Ausgabe mit auf den Weg gab: "Sic itaque tardo gradu mihi prodeat Claudianus, nondum emendatissimus, si quid video, nec omnimodo sibi redditus, at potiorum emendationi apparatus" (praef. CCIII), bedeutet weit mehr als eines der bei solcher Gelegenheit üblichen Lippenbekenntnisse. Denn die Ausgabe selbst zeugt allenthalben von dem Bemühen, ungelöste Fragen wo nur möglich dem Benutzer kenntlich zu machen.

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nem festwurzelnden | Mißtrauen. Nun ist eine gesunde Skepsis gegenüber der Athetese als einem Mittel zur Bereinigung unserer Texte vollauf berechtigt, wie sie denn auch ihren Grund in der Sache selbst hat (vgl. Maas, Textkritik4 S. 12 §16). Doch schon früh entwickelte sich daraus die Neigung, die Spuren bewußter Textbearbeitung von fremder Hand nahezu um jeden Preis zu leugnen, nötigenfalls lieber alles andere zuzulassen, Autorvarianten etwa oder versehentlich eingedrungene Glossen, nur keine Interpolamente. Diese einseitige Tendenz hat sich heute in manchen Bezirken gerade der lateinischen Philologie bedrohlich verstärkt. Die Ursachen sind vielfältig und hier nicht näher zu erörtern. Allerdings bietet gerade die moderne Claudiankritik ein weniger bewegtes Bild als etwa die Arbeit am Prudentiustext, deren Gang hinsichtlich des Problems, das uns beschäftigt, als typisch gelten darf. Ein kurzer Ausblick auf Prudentius sei daher an den Schluß gestellt (S. 63ff. [86ff.]), auch deswegen, um zu beleuchten, wie sehr die Verhältnisse bei diesen beiden und bei anderen Autoren einer vergleichenden Betrachtung bedürfen. Was Claudian angeht, so entsprach die Textgestalt der großen Ausgabe Birts viel zu sehr der herrschenden Anschauung, als daß sich etwa die moderne Kritik durch sie hätte herausgefordert fühlen können. In schärfstem Gegensatz zu seinem Vorgänger Jeep, der das Instrument der Athetese mitunter allzu sorglos handhabte, gebrauchte Birt es fast gar nicht (die wenigen Ausnahmen: Manl. Theod. 279; Stil. 1,304; rapt. 1,140/41; 2,118). Daß er dagegen unter dem Text eine ganze Anzahl eigener wie fremder Bedenken, Beanstandungen, Transpositionsvorschläge u.a. mitteilt, tat keine Wirkung. Im Gegenteil: da durch die späteren Handausgaben eine oder sogar zwei Tilgungen Birts wieder rückgängig gemacht waren, schien die Ruhe auf diesem Felde der Kritik nahezu vollständig wiederhergestellt. Wenn diese Ruhe hier gestört wird, so wird man das hoffentlich als der Sache dienlich empfinden. Im folgenden behandle ich (unter I, III, IV, V) vier Fälle redaktioneller Bearbeitung des Claudiantextes, wobei ich diese Beispiele sämtlich dem sog. 'Claudianus maiof entnehme (vgl. dazu unten S. 61 [84]). Eine vielumstrittene Stelle aus dem Panegyricus Prob, et Olybr. wird nur einschubsweise kurz berührt (II), das Ganze durch einen Rückblick (VI) abgerundet. Der schon erwähnte Exkurs zu Prudentius bildet den Schluß. Der Jubilar, dem diese Blätter gewidmet sind, hat niemals die Überzeugung aufgegeben, daß bewußte μεταγραφή einen ernst zu nehmenden Faktor in der Textgeschichte antiker Autoren darstellt. Darum wird er die ihm hier gebotene Gabe gewiß

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gerne annehmen, zumal er selbst gerade auch dem Dichter Claudian seine Aufmerksamkeit zugewandt und das Verständnis des claudianischen Werks durch eigene wissenschaftliche Arbeit, darunter auch zur Textkritik, gefördert hat. |

I. Eine der vier Tilgungen im Claudiantext, die Birt bis zum Abschluß seiner Arbeiten an der großen Ausgabe unbeirrt aufrechterhielt, gilt dem Vers Stil. 1,304. Selbst die Autorität Büchelers (vgl. Birts Apparat zu v. 109) vermochte ihn in diesem Fall nicht umzustimmen. Nun war Birt sonst ganz und gar nicht der Mann, der an einmal getroffenen Entscheidungen hartnäckig festhielt. Eher möchte, jedenfalls was die Beanstandung problematischer Verse angeht, das Gegenteil zutreffen: allzu leicht löste er sich, zum Teil offenbar unter fremdem Einfluß, von eigenen Bedenken3. Um so bemerkenswerter seine Entschiedenheit bezüglich dieses Verses! Aber Birts Maßnahme blieb nahezu ohne alle Wirkung. Seine monumentale Ausgabe war kaum an die Öffentlichkeit gelangt (1892), als auch schon die Editio minor seines Schülers und Mitarbeiters Julius Koch erschien (bei Teubner 1893) und mit ihr zugleich eine ausdrückliche Verteidigung des von Birt getilgten Verses (Adnotationes criticae p. XXXVIII). Auf einen vollen kritischen Apparat hatte Koch verzichtet, weshalb im Textteil seiner Ausgabe nichts mehr auf Birts Athetese hindeutete. Um so leichter konnte sie fortan vergessen oder ignoriert werden. Jedenfalls hat sie in den modernen Leseausgaben von M. Platnauer (Loeb Library 19221. 19562) und V. Crepin (Paris: Garnier o. J. [1933]) keinerlei Spuren mehr hinterlassen. Volle Zustimmung fand Birt, soweit ich sehe, nur in der ungedruckten Dissertation von Emil Schuster4. In einer neueren Claudianarbeit, der von Ursula Keudel5, wird der fragliche Vers zwar als "ungeschickt" bezeichnet und die Möglichkeit der 3 Dies ist im Hinblick auf Kochs beratende Mitarbeit am Claudian gesagt, vgl. dazu unten S. 34 [61] und S. 61" [8452]. Über Büchelers Mitwirkung an der Birtschen Ausgabe s. S. 22® [50®] und S. 28 [56], 4 Emil Schuster, Historischer und sprachlicher Kommentar zu Claudians Festgedicht auf das Konsulat Stilichos Buch I, Diss. München 1944 (maschinenschriftl.), 110. 5 Ursula Keudel, Poetische Vorläufer und Vorbilder in Claudians De consulatu Stilichonis (Göttingen 1970) = Hypomnemata 26, 55.

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Interpolation erwogen. Doch verzichtet die Verfasserin nach knapper Erwähnung vermeintlicher Gegengründe auf eine Entscheidung. Diese wenigen Bemerkungen sollen zur Darstellung des gegenwärtigen Stands der Kritik genügen. Wer nun die Lage überdenkt, insbesondere Birts ungewöhnliche Entschlossenheit in der Athetese dieses Verses erwägt, der mag gar leicht das Bedürfnis empfinden, sich selbst ein eigenes Urteil über den Fall zu bilden. Denn offenbar handelt es sich doch hier um einen Paradefall der Claudiankritik, der ganz dazu angetan ist, in der Meinung des philologischen Publikums eine Art Praejudiz für oder wider die Existenz von Großinterpolamenten im Claudiantext zu erzeugen. Der Eindruck muß sich notwendig noch verstärken, sobald man | die auffallende Divergenz in der handschriftlichen Bezeugung des umstrittenen Verses gewahr wird. Man fragt sich unwillkürlich, welche Gründe Koch zu seiner von Birt abweichenden Einschätzung des Verses veranlaßten und somit eine in dieser Form sonst unerhörte Diskrepanz des Urteils zwischen den beiden eng verbundenen Editoren hervorriefen. Daß der Wunsch nach neuerlicher Behandlung des Falls nicht unberechtigt wäre, wird hoffentlich das Folgende dartun. Es erscheint zweckmäßig, zunächst den Text nach Birt hier auszuschreiben, und zwar in etwas weiterem Umfang, als es dem unmittelbaren Erfordernis entspricht. Claudian preist die unermüdliche Einsatzbereitschaft Stilichos, der in bedrängter Lage des Reichs gewissermaßen an allen Ecken und Enden zu finden ist: 300

305

310

dividis in gentes curas teque omnibus unum obicis, inveniens animo quae mente gerenda, efficiens patranda manu, dictare paratus quae scriptis peragenda forent. non bracchia centum [quis Briareus aliis numero crescente lacertis] tot simul obiectis possent confligere rebus: evitare dolos; veteres firmare cohortes, explorare novas; duplices disponere classes, quae fruges aut bella ferant; aulaeque tumultum et Romae lenire famem. quot nube soporis inmunes oculi per tot discurrere partes, tot loca sufficerent et tarn longinqua tueri? Argum fama canit centeno lumine cinctum corporis excubiis unam servasse iuvencam!

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Birts Textgestaltung in v. 303/05 folgt dem Zeugnis der 'Excerpta Florentina', die von einem Gelehrten des 15. Jahrhunderts dem heute in der Nationalbibliothek Florenz aufbewahrten Exemplar der Editio princeps (Vicenza 1482) beigeschrieben wurden und, je nach ihrer Stellung am Rande oder im Text der Ausgabe, mit den Sigla Em bzw. Ε bezeichnet werden. Die Florentiner Exzerpte entstammen ihrerseits einem heute verschollenen 'codex vetustissimus', der größte Bedeutung für die Claudianüberlieferung beansprucht6. Zu v. 304 notiert nun Em: 'in antiquo non est', und denselben Bescheid erteilen die sog. 'Excerpta Gyraldina' ( = ε bei Birt). Sie tragen ihren Namen nach dem italienischen Gelehrten Gregorio Giraldi, der sie in das jetzt in Leiden befindliche Exemplar der Aldina (1523) eintrug. Auch diese Exzerpte | fußen nach eigener Angabe des Giraldi auf einem 'exemplar vetustissimum', wahrscheinlich einer Schwesterhandschrift jener anderen, eben als Quelle von E, Em erwähnten (Birt praef. p. XCI). Zu dem Zeugnis yon Em und ε gesellt sich als drittes dasjenige des Codex Ambrosianus S 66 sup., einer Handschrift des 15. Jahrhunderts ( = Α bei Birt). In Α fehlt der Vers. Em und ε einerseits, Α andrerseits gehören zu den Repräsentanten zweier verschiedener Zweige einunddesselben Hauptasts der handschriftlichen Überlieferung (y) - Birt hat p. CHI ein Stemma vorgelegt. Dem Zeugnis von Em, ε und Α steht das der übrigen fünf Haupthandschriften Birts und der 'deteriores' gegenüber. Sie enthalten den Vers 304, bieten darüber hinaus aber je eine bedeutsame Variante im unmittelbar voraufgehenden und folgenden Vers. Statt non in v. 303 schreiben sie: quae, statt possent in v. 305: posset7. Umgekehrt sind die Lesarten non und possent sowohl durch den Ambrosianus, als auch durch Ε für mindestens einen der beiden verschollenen alten Codices ausdrücklich gesichert. Wir haben hier also nicht nur mit Ergänzung bzw. Auslassung eines Verses, nicht mit einem bloßen Plus oder Minus zu rechnen, sondern müssen zwei verschiedene Textfassungen, eine Kurz- und eine Langfassung, annehmen. Zum Zweck der bequemeren Übersicht seien hier die beiden Fassungen der Stelle 303/05 6 Birt hat die Verhältnisse so eingehend dargelegt (praef. p. LXXXII sqq.), daß man lieber wird auf ihn selbst verweisen wollen, statt seine Ermittlungen zu resümieren. Über den Wert jenes nur noch aus Exzerpten kenntlichen Textzeugen handelt Birt p. CIX sqq. Er beginnt mit der Feststellung: "Iam libri Ε gloria quidem inde ab Nicoiao Heinsio adhuc infracta duravit ...; ego si ab ea aliquid detraxero, tarnen hie fons carminum inter principales etiamnunc manebit ..." eqs. 7 Letzteres trifft nach Birts Angabe für vier der fünf verbleibenden Haupthandschriften zu; offenbar nicht für den Bruxellensis.

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nebeneinandergesetzt, wobei, im Hinblick auf späteren Gebrauch, die kürzere mit dem Buchstaben a, die längere mit b bezeichnet wird: a.

302 303 305

efficiens patranda manu, dictare paratus quae scriptis peragenda forent. non bracchia centum tot simul obiectis possent confligere rebus:

b.

302 303 304 305

efficiens patranda manu, dictare paratus quae scriptis peragenda forent. quae bracchia centum, quis Briareus aliis numero crescente lacertis tot simul obiectis posset confligere rebus?

Wer es unternimmt, zwischen diesen beiden urkundlich gut bezeugten Fassungen eine begründete Wahl zu treffen, das heißt: eine davon als die authentische zu erweisen8, hat eine doppelte Aufgabe zu erfüllen: er muß zuerst die Qualität der Kurz- und der Langfassung gegeneinander abwägen und über die Vorzüglichkeit der einen oder Minderwertigkeit der anderen Rechenschaft ablegen; er muß dann aber auch das Zustandekommen der abweichenden, nichtauthentischen Fassung zu erklären suchen. Auf Erfüllung des zweiten Erfordernisses | würde man im vorliegenden Fall nur sehr ungern verzichten, weil sich die Textänderung hier eben nicht allein durch einen einfachen Vorgang, Weglassen oder Hinzufügen, ergab, sondern eine Überarbeitung der Versgruppe voraussetzt. Koch, der - wie erwähnt - für die Authentizität der b-Fassung eintritt, hat sich dieser doppelten Aufgabe unterzogen, und es ist daher nur natürlich, wenn wir uns zunächst seiner Lösung zuwenden. Um einen möglichst deutlichen Eindruck von der Art seiner Argumentation zu vermitteln, seien die betreffenden Sätze seiner Adnotationes criticae hier ausgeschrieben: "Quae veram esse lectionem nec vero non, id est interrogativam esse amplam hanc sententiam persuadetur mihi intuenti v. 309 sqq. ubi est quot... oculi... sufficerent? itemque iudicasse videtur Buechelerus (cf. apud Bi.). quae cum ita sint, improbatur libri Ε auctoritas neque iam speciem veri habet versum 304 foetum esse interpolatoris. ita enim concluditur: si Ε illud non falso scripsit, ne in versu 304 quidem omittendo fides ei haberi potest, immo librarius vetustus, quia hic versus interciderat, negationem non inepte inculcavit". 8 Vorbeugend sei schon an dieser Stelle bemerkt, daß die Möglichkeit einer von Claudian selbst herrührenden Zweitfassung ausscheidet. Die Begründung ist durch das mitgegeben, was unten S. 23f. [51f.] über die Qualität der Langfassung ausgeführt wird.

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Die Haltlosigkeit dieser Conclusio offenbart sich sogleich im Ansatz, und auch die Berufung auf Bücheler ändert daran nichts. Im übrigen erscheint es fraglich, ob Bücheler, dessen Urteil bei Birt nur knapp mitgeteilt wird, Kochs Begründung in dieser Form gebilligt hätte9. Man bedenke: weil in v. 309 ein Fragesatz beginnt, soll auch die voraufgehende Periode ein Fragesatz sein! Als ob nicht dem umstrittenen Stück Aussagesätze vorausgingen, ein Aussagesatz v. 312 folgte! Und man bedenke weiter: allein aufgrund dieses Scheinarguments wähnte Koch den ganzen Fall entschieden, glaubte er in b das vermeintlich Bessere, echt Claudianische erkennen zu müssen! Als ob nicht die stilistische und inhaltliche Qualität der Langfassung dringend eines Worts der Erklärung bedürfte10! Doch Koch baute auf dem brüchigen Fundament unbeirrt weiter und folgerte: v. 304 war in der Vorlage von | Ε ausgefallen; der 'librarius vetustus' änderte daraufhin quae in v. 303 zu non. Womit denn, nach Koch, die Genese von a erklärt, die Annahme einer Versinterpolation in b endgültig widerlegt wäre. Aber selbst wenn man den früheren Schluß, die angebliche Vorzüglichkeit der b-Fassung betreffend, hinnähme, dieser zweite überzeugte trotzdem nicht. Denn warum sollte der bloße Ausfall von v. 304 zur Abänderung des Frageworts veranlaßt haben? Ich sehe nicht den Schatten eines Grundes hierfür. In Wahrheit bleibt nach Kochs Auffassung die Existenz der durch Ε und Α bezeugten Lesart non in v. 303 schlechterdings unerklärt, und wenn aus Kochs Darlegung überhaupt etwas zu lernen ist, dann eben dies, daß ein Schlüssel zur Lösung des Problems offenbar in der Erklärung des Vorhandenseins der Varianten non / quae liegt. Angesichts so sorgloser Behandlung dieses Textproblems durch Koch wird man sich des Urteils zu erinnern haben, das Wolfgang Schmid über den Wert seiner Ausgabe im allgemeinen gefällt hat": Kochs Teubneriana könne nicht als kritische Editio minor gelten, "und wo Koch wirklich einmal gegen9 Allerdings ging der große Gelehrte in der Anerkennung des Überlieferten mitunter selbst recht weit, was einst Housman, Juvenalausgabe 51 mit gewohntem Sarkasmus zum Ausdruck brachte, als er Bücheler und Friedländer die Juvenaleditoren 'huius aetatis celeberrimos eosdemque interpolationum patientissimos' nannte. Bücheler las die Druckfahnen der Birtschen Ausgabe und versah sie mit Randbemerkungen (Birt praef. p. CCIII), Koch arbeitete während der zwei Jahre dauernden Drucklegung der Ausgabe eng mit Birt zusammen: es läßt sich denken, daß der Editor von zwei sehr verschiedenen Seiten einem ähnlichen Einfluß ausgesetzt war! Mommsen übrigens, der die Fahnen ebenfalls durchsah, verhielt sich gelegentlich kritischer als Birt, vgl. unten S. 61 [84], 10 Mit vollem Recht vermiete schon Schuster a.O. (oben S. 184 [474] eine solche Stellungnahme bei Koch, wie überhaupt Schuster die "bei den Haaren herbeigezogene Formulierung" in v. 304 treffend beurteilte. π W. Schmid: Studi Ital. 27/28 (1956) 499 2 .

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über seinem Lehrer Birt selbständig ist, liegt nicht selten eine Fehlentscheidung vor". Der Verdacht, dies könne auch auf unseren Fall zutreffen, erscheint nach dem Vorstehenden durchaus nicht unbegründet. Jedenfalls erweist es sich als notwendig, noch einmal neu in die Beweisaufnahme einzutreten. Sehen wir uns den fraglichen Vers näher an! Als "ungeschickt" charakterisiert ihn Ursula Keudel, 'dunkel' oder 'schwerverständlich' wäre besser gewesen. Denn was ist eigentlich gemeint? Keudel übersetzt so: "Auch wenn er noch weitere Arme [als hundert] in wachsender Zahl hätte". Offenbar hat sie sich bemüht, dem Ausdruck: aliis numero crescente lacertis einen halbwegs vernünftigen Sinn abzugewinnen. Daß die Formulierung auch bei solchem Verständnis des Gedankens vertrackt genug wäre, lasse ich aus dem Spiel. Aber ich zweifle stark, ob Keudels Wiedergabe die beabsichtigte Aussage überhaupt trifft. Die Wendung aliis lacertis, verbunden mit dem Hinweis auf wachsende Zahl der Arme, deutet auf eine ganz andere Vorstellung, wie sie sich denn auch prompt bei dem Übersetzer Platnauer bildete: "What hundred-handed monster, what Briareus, whose arms ever grew more numerous as they were lopped off [!], could cope with all these things at once?" Natürlich: die Formulierung, so verschwommen sie auch ist12, muß geradezu unausweichlich den Gedanken an ein wohlbekanntes Mythologem evozieren. Das greuliche Bild der lernäischen Hydra stellt sich ein, deren abgeschlagene Häupter jeweils 'durch andere in wachsender Zahl' ersetzt werden. Wo aber wird derlei von Briareos-Aigaion berichtet? Nirgends sonst in der Antike, weder bei Claudian | noch anderswo13. Dieses Argument muß schwerstens zuungunsten des Verses ins Gewicht fallen. Denn was sollte Claudian veranlaßt haben, solch blutig-abstruse Mythenkontamination ausgerechnet hier anzubringen? Die 12 Für obscuritas als Merkmal interpolatorischer Eindichtungen ist unten S. 38/40 [65/67] ein weiteres Beispiel aus Claudian beigebracht. 13 Vgl. Tümpel, Art. Briareos: RE 3/1 (1897) 833/35; Malten, Art. Hekatoncheiren: RE 7/2 (1912) 2797/99 sowie die Artikel 'Aigaion' und 'Briareos' von Bernhard in Roschers Lexikon: 1, 140/143 bzw. 818f. Centum Briarea turba lacertis sagt Claudian selbst einmal, mit gewohnter Kühnheit, aber deutlich und in Übereinstimmung mit den üblichen Nachrichten: rapt. 3,188. Claudian bildet mit der Wendung eine vergilische Formulierung nach, und zwar gerade eine, die der Hydra gilt! Vgl. Aen. 8,300 Lernaeus turba capitum circumstetit anguis. Durch die Vergilreminiszenz in rapt. 3,188, die man übrigens bisher nicht bemerkt zu haben scheint, werden wir in die Lage versetzt, die echte Art Claudians von dem, was uns der Vers Stil. 1,304 zumutet, besonders scharf abgrenzen zu können: der Dichter selbst setzt jenes vergilische Bild der Schlange korrekt und treffend auf die Beschreibung des Riesen um, während der fragliche Vers eine in sich dunkle und sachlich verfehlte Mischung der beiden Mythologeme hervorbringt. Vgl. dazu S. 27 [55] über die mutmaßliche Ursache solcher Mixtur.

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Vorstellung eines Monstrums, dem Arme abgehauen werden und immer mehr Gliedmaßen nachwachsen: soll sie eigens für Stilicho ad hoc geschaffen sein? Das wäre absurd. Schlecht ist nicht nur der Vers 304 in sich, auch die Fassung b als ganze zeigt deutliche Mängel. Auf das unschöne Zusammentreffen der äußerlich gleichen Pronominalformen quae (relativum) ... quae (interrogativum) innerhalb ein und derselben Zeile (303) wird mancher nicht viel Wert legen wollen, obschon derlei claudianischer Virtuosität seltsam widerspricht. Aber das Nebeneinander der genauen Zahlenangabe centum (303) und der vagen Bezeichnung numero crescente (304) bleibt störend, der Interpret mag sich drehen und wenden, wie er will. Nimmt man alles zusammen und wägt daraufhin die beiden Fassungen gegeneinander ab, so zeigt sich sogleich ein deutliches Resultat: die Schale von b steigt, die Schale von a sinkt. Denn nach Gehalt wie Ausdruck rein und klar tritt die kürzere Fassung dem bizarren Gebilde der längeren gegenüber, welche in beiderlei Hinsicht zu a einen unvorteilhaften Kontrast liefert14. Man wird nicht zögern dürfen, die Fassung a - sie und nur sie - als die authentische anzuerkennen. Wie erklärt sich nun das Zustandekommen der Langfassung? Daß der Plusvers als Interpolament anzusehen ist, folgt zwangsläufig aus den | vorangehenden Beobachtungen. Auch das Motiv der Interpolation ist unschwer zu erraten. Schon Birt hat es im großen und ganzen richtig erfaßt, als er über v. 304 urteilte: "illatus ab interpolatore propter bracchia centum" (Index p. 431 s.v. Briareus). Genauer gesagt: die vielfach nachweisbare Tendenz der Redaktoren zur Vereinfachung des Textes konnte sich nicht bloß g e g e n Eigennamen, vor allem seltene, richten, sondern sich bisweilen auch umgekehrt z u g u n s t e n bestimmter Namensnennungen auswirken, dann nämlich, wenn eine Anspielung auf gewisse Personen das Verständnis zu erschweren, dem Leser unzumutbare Denkarbeit abzuverlangen schien15. In dieser Weise hat 14 Keudel a.O. glaubt, zugunsten des Verses 304 den Umstand anfuhren zu müssen, daß Claudian "häufig auf Metaphern oder sprichwörtliche Wendungen ein entsprechendes exemplum oder Gleichnis" folgen lasse; so habe er später an das Motiv der immer wachen Augen Argus als exemplum angeschlossen (v. 312f.). Aber: selbst wenn Claudian öfters so verfahrt, so ergibt sich doch daraus nicht, daß er immer und überall so verfahren müsse! Das Exempel liegt für den Kenner hier schon in der Anspielung. Wer stets die volle Ausführung solcher Andeutungen verlangt, macht sich die simplifizierenden Tendenzen der Interpolatoren zu eigen. Ja, vielleicht hat es sogar seinen guten Grund, daß Claudian im Vergleich mit Stilicho wohl den Panoptes namentlich erwähnt, nicht aber die Unholde Briareos oder Typhoeus. 15 Dieses Motiv ist vielleicht auch bei dem unten S. 30ff. [58ff.] behandelten Fall mit in Rechnung zu stellen.

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offenbar die interpolatorische Simplifizierungstendenz in unserem Falle gewirkt: die Andeutung provozierte die Ausführung. Überdies mochte sich der Textbearbeiter durch den Umstand angespornt fühlen, daß es mehrere έκατόγχειρες in der Mythologie gibt, deren zwei auch bei Claudian selbst vorkommen: Briareus (rapt. 3,188) und Typhoeus (Get. 63f., mit demselben Versschluß: bracchia centuml). Um so dringlicher empfand er vermutlich hier sein Geschäft, das Mehrdeutige festzulegen. Schließlich konnte auch die wenige Verse später folgende namentliche Erwähnung des hundertäugigen Argus, die in demselben Zusammenhang steht, dazu herausfordern, dem centimanus gewissermaßen gleiches Recht widerfahren zu lassen. Das Ziel, das sich der Redaktor setzte, ließ sich nun auf zweifache Weise erreichen: durch Ergänzung oder durch Ersatz des originalen Wortlauts. Die Möglichkeit, daß ein Interpolament E r s a t z , nicht Zusatz, bilden soll, bleibt immer zu bedenken. In diesem konkreten Fall jedoch liegt sie aus doppeltem Grunde nahe. Denn einmal scheint der interpolierte Ganzvers bei aller Dunkelheit doch gegenüber dem vorausgehenden Vers 303 alternativen Charakter anzudeuten16, zum anderen erklärte sich auf solche Weise einleuchtend die Existenz der Variante quae (statt non) in v. 303. Und zwar folgendermaßen. War v. 304 dazu ausersehen, an die Stelle von v. 303 zu treten, so haben wir neben der authentischen Fassung (a) folgende interpolatorische Ersatzfassung (α) anzunehmen: α.

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efficiens patranda manu, dictare paratus. quis Briareus aliis numero crescente lacertis tot simul obiectis posset confligere rebus?

Durch Ausscheiden des Verses 303 büßt das Glied dictare paratus sein Objekt ein - gewiß ein empfindlicher Verlust, da so die Conzinnität der drei Satzglieder in v. 301/04 zerstört wird. Aber die Aussage bleibt immerhin noch verständlich, und wir dürfen den Diaskeuasten nicht | nach denselben Maßstäben beurteilen wie den Dichter selbst. Rücksichtnahme auf den Wortbestand des Originals wird man schon gar nicht zu erwarten haben. Der Verfasser des Verses 304 hatte in erster Linie die Einfügung eben dieser seiner Zeile im Auge. Der Satz: quae ... forent mochte ihm entbehrlich scheinen, was er ja 16 Wofern man berechtigt ist, aus der Unverträglichkeit der beiden verschiedenartigen Zahlenangaben in v. 303 und v. 304 solchen Schluß zu ziehen.

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syntaktisch auch ist17. Wie gesagt: a und α sind Alternativfassungen. Sie schließen sich gegenseitig aus. Wurden sie aber beide ohne entsprechende Kennzeichnung hintereinander in den Text gesetzt18, so mußte sich eine grobe, jedermann auffällige syntaktische Störung ergeben, wie sie heute noch die Textgestaltung Birts deutlich erkennen läßt: man braucht sich nur die Klammern des modernen Editors fortzudenken. Ein Ausgleich der Konstruktionen war unvermeidlich, und eine naheliegende Möglichkeit, solche Anpassung herbeizufuhren, bot eben die Änderung quae statt non in v. 303. Trifft die hier zuletzt vorgetragene Hypothese - denn anders dürfen wir sie nicht bezeichnen - ins Schwarze, dann bildet die Langfassung b, die Koch, Platnauer und Crepin in den Text nahmen, nichts anderes als eine nachträgliche Kontamination aus a und α. Die andere Möglichkeit wäre die, daß der nämliche Interpolator, welcher v. 304 verfaßte, außerdem gleich z w e i m a l in den Wortbestand der umgebenden Claudianverse 303 und 305 eingegriffen hat, um den originalen Text seiner als Zusatz konzipierten Eindichtung gefügig zu machen19. Undenkbar ist das nicht, aber doch unwahrscheinlich. Gemeinhin erschwerten sich die Redaktoren ihre Arbeit nicht unnötig. Wenn v. 304 tatsächlich dazu bestimmt war, den in v. 303 begonnenen Satz fortzuführen, warum wurde er diesem Zweck nicht von vornherein angepaßt? Wiederaufnahme der Negation: non bracchia centum, Non Briareus ... eqs. wäre doch dann das Nächstliegende gewesen. Warum hätte der | Diaskeuast dieser bequemen Methode ausweichen und einen Umweg wählen sollen? Kurzum: die Annahme, Fassung b sei in einem einzigen Arbeitsgang entstanden, kann 17 Zum absoluten Gebrauch von dictare vgl. etwa Ov. trist. 3,3,86; Mart. 8,73,8; Juv. 14,29. Weitere Belege gibt der ThLL 5/l,1011,19ff. 18 Solcher Vorgang ließe sich am besten bei Annahme einer kritischen Claudianausgabe in der Antike erklären (dazu unten S. 60ff. [83ff.]). Dem bekannten konservativen Prinzip der antiken Philologie hätte es vollauf entsprochen, beide Verse, und zwar den unechten nach dem echten, in den Text zu nehmen. Nach Wegfall des kritischen σημεΐον, das den interpolierten Vers als solchen kenntlich machte, wäre das oben dargestellte Dilemma die Folge gewesen. Vgl. W. Schmid: Symbola Coloniensia Iosepho Kroll... oblata (Köln 1949) 108f. über entsprechende Vorgänge in der Lukrezüberlieferung, wo die Existenz einer kritischen Ausgabe von Probus' Hand durch Suet. de notis p. 138 Reiff, gesichert ist. Im allgemeinen darüber Jachmann: Rhein. Mus. 84 (1935) 210/14. Die Grunderkenntnis ist alt. Scharf und knapp hatte bereits Ribbeck bei Besprechung der Probus-Ausgabe Vergils die Folgen umrissen, welche sich durch allmähliches Schwinden der Randsemeiose, bedingt durch fortdauerndes Vervielfältigen der Gelehrtenausgabe, einstellen mußten: Otto Ribbeck, Prolegomena critica ad P. Vergili Maronis opera maiora (Leipzig 1866) 153. 19 Bei Annahme ursprünglicher Ersatzfunktion des Versinterpolaments war solcher Eingriff nur im Falle von possent (v. 305) notwendig, das zu posset verändert werden mußte. Gerade das ist aber die leichtere, selbstverständlichere der beiden durch b bezeugten Abänderungen.

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nur einen geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit beanspruchen. Nachträgliches Ausgleichen der zusammengerückten Alternativfassungen erklärt die Verhältnisse besser. Bleibt noch die Frage, wie der Textbearbeiter sich seine seltsame Vorstellung von dem Ungeheuer mit den stets nachwachsenden Armen bildete. Es dürfte sich um eine verschwommene Erinnerung an frühere Vergillektüre handeln. Zu den berühmtesten, vielfach nachgeahmten Stellen des vergilischen Epos gehörte der Monstrakatalog im sechsten Buch der Aeneis. Hier, in dem Vers Aen. 6,287: et centumgeminus Briareus ac belua Lernae, war der Riese mit der Hydra zusammengestellt. Den Vergil las man schon als Schuljunge, und zwar natürlich mit einem Kommentar, etwa dem des Asper oder Donat, wie dies Hieronymus bei Rufinus als selbstverständlich voraussetzen darf (Hier. c. Ruf. 1,16: PL 23, 428f.). Auf welche Weise darin jener Vers erklärt war, davon zeugen die Vergilkommentare, die uns im erweiterten Kommentar des Donatschülers Servius ineinandergearbeitet vorliegen. Nach der Erläuterung: centumgeminus Briareus: centies duplex und weiteren Angaben über seine Rolle im Gigantenkampf sowie bei der geplanten Fesselung des Zeus heißt es dann dort über die Hydra20: serpentem inmanis magnitudinis, quae fuit in Lerna Argivorum palude; sed latine excetra dicitur, quod uno c a e s ο t r i a capita excrescebant. cum s a e ρ e amputata triplarentur, admoto ab Hercule incendio consumpta narratur ... eqs. Mythologisches Wissen, wie es die Vergilkommentare aus Anlaß von Aen. 6,287 nebeneinanderstellten oder gar häuften, mochte bei manchem falsche Assoziationen der Art erzeugen, wie sie der interpolierte Vers Stil. 1,304 wiedergibt - freilich nicht bei einem Claudian, einem Kenner griechischer Sprache, Literatur und Mythologie. II. Die soeben behandelte Stelle ist nicht die einzige im Claudian, die durch die Art des handschriftlichen Befunds zur Echtheitskritik an einer größeren Sinneinheit - am Vers, nicht nur am Wort - zwingt. Einen locus conclamatus 20 Serv. Aen. 6,287 (2, 50f. Thilo). Ich verzichte darauf, durch den Druck zu bezeichnen, welche Notizen dem Servius oder dem Servius auctus angehören. Für uns ist das hier ohne Belang. Die Sperrungen stammen von mir.

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enthält das Gedicht auf Probinus und Olybrius: die vier Verse 201/204, welche den Lobpreis der Eltern des Brüderpaars ergänzen, sind in keiner einzigen der erhaltenen Handschriften bezeugt. Erstmals brachte sie, durch Korruptelen entstellt, die Editio Isengriniana (Basel 1534), dann, in geglätteter Form, die Ausgabe des Claverius | (Paris 1602), der die Textverbesserungen nach eigener Angabe einer nicht näher bezeichneten Handschrift verdankt. Die Kritik an diesen Versen setzte bald nach ihrem Bekanntwerden ein. Bereits Martin Anton Delrio bestritt ihre Echtheit (in der Antwerpener Ausgabe 1571). Dagegen fanden sie einen prominenten Verteidiger in Nicolaus Heinsius (Ausgabe Leiden 16501; Amsterdam 16652). Bei den Editoren des 19. Jahrhunderts überwog zunächst die Kritik, so bei König (Bd. 1, Göttingen 1808), der sich nur zur Anerkennung des Stücks ceu ... torum (201 f.) entschließen konnte, und bei Jeep (Bd. 1, Leipzig 1876), der die vier Verse insgesamt tilgte. Birt schwankte. Im Apparat z.St. gab er zögernd zu erkennen, daß er geneigt sei, Delrios Athetese zu folgen, doch ließ er die Verse im Text stehen. Vielleicht zeigt sich darin auch Büchelers Einfluß, der die Verse für echt hielt und ihr Fehlen in den Handschriften durch ein Schreiberversehen erklärte (bei Birt im Apparat). Birts Praefatio p. CLXII bringt eine gesonderte Besprechung des Problems, welche in die Feststellung mündet: "frustra agitata quaestione obelum destrictum recondere praeplacuit". Koch schließlich begrub die leidige Frage stillschweigend. Aber darf sich philologische Kritik einem so herausfordernden Tatbestand gegenüber, wie es die Existenz dieser vier merkwürdigen Verse nun einmal ist, für immer auf eine abwartende Position zurückziehen? Die besondere Schwierigkeit der Aufgabe, die hier zu lösen ist, liegt darin, daß die fraglichen Verse einerseits eine beachtliche formale Qualität zeigen, was etwa Heinsius' Haltung erklärt, andererseits die Absicht der claudianischen Aussage in einem wesentlichen Punkte verfehlen. Damit dürfte schon zur Genüge ausgedrückt sein, welches Urteil ich mir über diesen Fall gebildet habe. Von Proba, der Mutter des Consulpaares, heißt es v. 194ff.: 195

credas ex aethere lapsam stare Pudicitiam, vel sacro ture vocatam Iunonem Inachiis oculos advertere templis. talem nulla refert antiquis pagina libris nec Latiae cecinere tubae nec Graia vetustas. coniuge digna Probo: nam tantum coetibus extat

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femineis, quantum supereminet ille maritos. ceu sibi certantes, sexus quid possit uterque, hunc legere forum, taceat Nereida nuptam Pelion. ο duplici fecundam consule matrem felicemque uterum, qui nomina parturit annis!

Claudian vergleicht die Erscheinung der Proba mit der Epiphanie der Pudicitia und der argivischen Juno (194/96). Proba übertrifft die Vorbilder fraulicher Tugend aus alter Zeit, deren Lob lateinische und griechische Schriftsteller künden (197f.). Sie ist coniuge digna Probo, überragt sie doch alle Frauen ebenso sehr wie der Gatte alle Männer (199f.). | Damit scheint der Gedanke abgeschlossen, der Gipfel denkbarer Lobeserhebung der Mutter ist erreicht, denn nichts läßt sich passenderweise vorbringen, was über die Gleichstellung mit dem Vater noch hinausginge. In dem fraglichen Stück wird das Motiv der Ebenbürtigkeit beider Eheleute zunächst weiter ausgeführt und zum Gedanken eines Konkurrenzkampfes der Geschlechter zugespitzt (201 f.). Dann aber kehrt die Aussage, recht unvermittelt, wieder zur Frau zurück (202f.): taceat Nereida nuptam Pelion! Hierzu bemerkt Birt im Apparat: "molesta praecipue in his (sc. versibus 201/04) Thetidis comparatio satis invalida, cum modo Pudicitiae et ipsi Iunoni par esse Proba dicta sit". Aber Birt sagt noch viel zu wenig. Denn der Vergleich mit Thetis fällt nicht nur gegenüber dem früheren ab, sondern ist schief, ja geschmacklos: die bräutliche (!) Nereide und die ehrwürdige Matrone haben nichts miteinander gemein. Der Gedanke an die berühmte Hochzeit am Pelion gehört in ein Epithalamium (vgl. Claud, nupt. Hon. praef. Iff.) und ist von daher in die Synkrisis des verehrungswürdigen Elternpaares unpassenderweise übertragen worden. Dabei hat es den Anschein, als ob die Wendung: hunc legere tor um (202) so etwas wie das auslösende Moment für den folgenden Gedanken war: gemeint sind natürlich Ehebett und Ehe im allgemeineren Sinne (torus 'pro coniugio': Birt, Index p. 592 s.v.), aber der torus genialis ließ den Verfasser der Verse offenbar zum Gedanken an den hochzeitlichen Pfühl, an Hochzeit und Bräutlichkeit abgleiten. So zwängte er auch noch diese - hier unpassende - Vorstellung hinein, wobei die andeutungshafte Kürze der Aussage und ihre nach dem Vorhergehenden befremdliche Beschränkung auf die Frau weitere störende Faktoren bilden. Jedenfalls erzeugen die fraglichen Verse den Eindruck unsicheren Schwankens zwischen verschiedenen Vorstellungen, und eben darin verrät sich hier die fremde Hand: der echte Claudian entwirft mit sicheren Strichen ein einheitliches Bild der reifen, achtungsgebietenden Dame.

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Die Entscheidung über Echtheit oder Unechtheit hängt im vorliegenden Falle freilich auch davon ab, wie man die Möglichkeiten interpolatorischer Leistung im Ganzen einschätzt: nur wer sich bewußt gemacht hat, daß eine gewisse formale Qualität allein durchaus noch kein untrügliches Indiz für die Authentizität eines Textstücks, zumal eines durch den urkundlichen Befund so schwer diskreditierten, darstellt, wird hier das richtige Urteil fällen21. Doch wir wollen innehalten. Das Problem dieser einst vielumstrittenen Verse sei nur im Vorübergehen berührt, da unsere Betrachtung einem Ergebnis zustrebt, das der | Überlieferung des 'Claudianus maiof gelten soll, von der das Preisgedicht auf die Consuln des Jahres 395 zu trennen ist. Immerhin lohnt der Seitenblick. Birts Entschlossenheit in der Tilgung des vorhin behandelten Verses Stil. 1,304 ist ebenso bemerkenswert wie untypisch: die zögernde, ja schwankende Haltung, die er hier anläßlich von Prob. 201/204 an den Tag legt, kennzeichnet seine Beurteilung vergleichbarer Tatbestände weitaus besser. Mit ihr werden wir auch fortan zu rechnen haben, und zwar um so mehr, als in den nun zu besprechenden Fällen der Anstoß nicht durch das Zeugnis der Handschriften gestützt wird. Fälle solcher Art erregen ja auch heute das besondere Mißtrauen mancher Kritiker. Freilich sehr zu Unrecht. Denn die Forderung, fremde Eingriffe in den Text müßten sich immer durch den äußeren Befund zu erkennen geben, beruht auf einer verkürzten, unlebendigen Anschauung der Textgeschichte, wie dies Paolo Fedeli kürzlich (Gnomon 45, 1973, 658f.) aus aktuellem Anlaß sehr einleuchtend vor Augen gestellt hat.

III. Durch die Schlacht bei Pollentia am Ostertage 402 waren die Goten Alarichs nur zurückgeschlagen, nicht aber vernichtet worden. Claudian schreibt diesen Ausgang des Kampfs der klugen Strategie seines Helden zu, der, um Rom nicht zu gefährden, den Feind nicht habe zum Äußersten treiben wollen (Get. 95ff.). Auch die großen Heerführer in der republikanischen Vergangen21 Die Vorstellung des 'interpolator balbutiens' trifft nicht immer zu. Vgl. etwa Klingner: Gnomon 6 (1930) 48 = Studien zur griech. und röm. Lit. (Zürich/Stuttgart 1964) 683 über ein qualitätvolles Großinterpolament im Prudentius. Ferner: Philol. 109 (1965) 251 2 [in diesem Bande S. 7 16 ]. Im übrigen enthält ja das Stück doch einen Verstoß gegen Claudians Sprachgebrauch, den Birt mit gewohnter Umsicht selbst aufdeckte (im Apparat): die Verbindung der Interjektion ο mit dem Akkusativ.

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heit verfuhren doch ebenso, wann immer der Gegner auf italischem Boden stand! Drei historische Exempla sollen das beweisen: Roms Kriege gegen Pyrrhus, Hannibal und Spartacus (124/165). Sie dienen zugleich dem Zweck der Überbietung glanzvoller Taten aus der Geschichte. Uns hat hier nur die Darstellung des ersten zu beschäftigen 22 : 125

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sublimi certe Curium canit ore vetustas Aeaciden Italo pepulit qui litore Pyrrhum, nec magis insignis Pauli Mariique triumphus, qui captos niveis reges egere quadrigis; | [plus fuga laudatur Pyrrhi quam vincla Iugurthae;] et quamvis gemina fessum iam clade fugavit, post Decii lituos et nulli pervia culpae pectora Fabricii, donis invicta vel armis, plena datur Curio pulsi victoria Pyrrhi. quanto maius opus solo Stilichone peractum cernimus! ... eqs.

Die ganze Passage erhält über Claudian hinaus weitere Bedeutung für die römische Literaturgeschichte: als eines der interessantesten Zeugnisse für die Kenntnis des archaischen Dichters Ennius in der Spätantike. Denn daran, daß v. 124f. auf das Epos des Ennius zielt, halte ich mit Birt, Zwei politische Satiren (Marburg 1888) 68 weiter fest. Es müßte doch schon seltsam zugehen, wenn die Wendung: sublimi... canit ore vetustas in Verbindung mit der sicher ennianischen Junktur Aeaciden ... Pyrrhum (vgl. ann. 275) nicht auf ein altertümliches Gedicht in erhabenem Stil, also eben das archaische Epos des Ennius, sondern, wie Vahlen will (Ennianae poesis rell. 2 p. CXXII), allgemein auf die Fama aus alter Zeit sollte gemünzt sein. Hinzutritt eine zweite Enniusreminiszenz in dem an das obige Textstück anschließenden Exemplum des hannibalischen Kriegs (vv. 142/44): fregit... cunctando, gesagt von Fabius, sowie das betont 22 Auf den reizvollen Vergleich der claudianischen Gesamtdarstellung mit den entsprechenden Versen bei Prudentius c. Symm. 2,696/768 muß hier, wie auf so manches andere, verzichtet werden. Es wäre vor allem zu zeigen, wie Prudentius bei ähnlicher panegyrischer Absicht und trotz Anwendung ähnlicher Mittel (auch er läßt historische Befreiungstaten überboten sein, die des Camillus und die des Fabius, welche bei Claudian beide erscheinen, die des Camillus erst später v. 431/34) doch einem ganz anderen Ziel zustrebt: dem der Werbung für das Christentum und der Paränese an Honorius, und es wäre weiter zu zeigen, wie durch dieses Ziel wiederum die Art der Darstellung bestimmt wird, etwa dann, wenn Roms Zerstörung durch die Gallier des Brennus in tiefdunklen Farben gemalt wird - wie passend für den christlichen Panegyriker, wie unpassend für Claudian!

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an die Versspitze gestellte unus sc. Stilicho bilden klärlich zusammen eine Anspielung auf den berühmten Vers: unus homo nobis cunctando restituit rem (ann. 370; vgl. jetzt auch Alan Cameron, Claudian, Oxford 1970, 282f.). Wenn in dem Textstück 124/32 auch Ereignisse erwähnt werden, die Ennius natürlich nicht behandelt haben kann (Vahlen p. CXXI), so ist dies durch die besondere Art der weiträumigen historischen Synkrisis bedingt, die Curius zunächst einmal über Paulus und Marius stellt, nur um Stilicho dann desto wirkungsvoller über Curius erheben zu können. Man wird die Einzelheiten nicht pressen und die Fakten nicht näher zusammenrücken dürfen, als Claudian selbst dies tat, der mit der Wendung: nec magis insignis ... eqs. (126) einen unverfänglichen Übergang suchte. Ich verstehe das Ganze so: 'in dem alten Epos wird Curius, der den Feind nur vertrieb, hochgepriesen, so sehr, daß sein Ruhm nicht geringer ist als der des Paulus oder Marius, welche die besiegten Könige im Triumphzug aufführten'. Ob freilich Claudian selbst noch ein Exemplar der Annalen in die Hand genommen hat, ist eine andere Frage. Die beiden wörtlichen Enniusanklänge hier beweisen das jedenfalls nicht; denn sie können auch aus zweiter Hand stammen23. Andererseits scheint gerade die | Bemerkung über das hohe Lob, das dem Curius von Ennius gespendet werde, eine allgemeinere Kenntnis des ennianischen Werks, in diesem Fall des sechsten Annalenbuchs, anzudeuten. Auch ist anzunehmen, daß Claudian, der in einer programmatischen Selbstaussage sein Verhältnis zu Stilicho mit dem des Ennius zu Scipio verglich (Stil. 3 praef.), jenem alten Dichter nicht bloß ein philologisches Interesse entgegenbrachte, wie dies etwa bei Ausonius der Fall gewesen sein dürfte. Die Möglichkeit endlich, ein Enniusexemplar damals noch in den Bibliotheken Roms aufzustöbern, bestand für Claudian nicht minder als für jenen Anonymus, der um die Mitte des fünften Jahrhunderts Zitate aus Ennius' Annalen seiner Orosiushandschrift beischrieb (vgl. E. Norden, Ennius und Vergilius, Berlin 1915, 83/86). Doch die aufgeworfene Frage wird sich wohl niemals mit Gewißheit beantworten lassen24, und Birt, Zwei polit. Satiren 68 nannte selbst 23 Der Enniusvers über den Cunctator war in aller Munde (vgl. Vahlen2 p. 66 z.St.), und das Patronymikon Aeacidas sc. Pyrrhus hätte Claudian ebensogut aus dem gleichfalls berühmten Orakelvers ann. 179 haben können, den z.B. auch Ammian 23,5,9 zitiert: aio te Aeacida Romanos vincereposse; s. Vahlen p. CXXI sq. Daß sich im übrigen die Liste vermeintlicher Enniusreminiszenzen bei Claudian, die Birt (Zwei polit. Satiren 6 9 \ vgl. praef. der Ausgabe p. CCI1) zusammenstellt, erhebliche Abstriche gefallen lassen muß, unterliegt keinem Zweifel. Vgl. außer Vahlen auch Skutsch: RE 5/2 (1905) 2618. 24 Cameron in dem Claudianbuch 315. 2831 wendet sich gegen Birts Annahme, Claudian habe Ennius gelesen, aber er tut es zögernd und schwankend. Man darf gespannt sein, was die

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den Grund hierfür: Claudians Sprachton ist allzusehr auf Vergil und die Dichter der silbernen Latinität gestimmt, als daß wörtliche Entlehnungen aus der archaischen Poesie zu erwarten wären 25 . Das fein gearbeitete, feierliche Stück über Curius wird häßlich zerschnitten durch den Vers 128. Die banale Sentenz sticht förmlich aus ihrer Umgebung heraus. Was sollte Claudian bewogen haben, das eindrucksvolle Bild der gefangenen Könige vor dem weißspännigen Triumphwagen nachträglich auf so linkische Weise zu glossieren? Die Wirkung des Bildes durch Pedanterie zu zerstören? Und selbst wenn er dergleichen im Sinne gehabt hätte: warum sollte er nur Jugurtha namentlich nennen, nur den einen der beiden Könige, nicht auch den anderen? Weshalb Jugurtha, nicht Perseus? Die beiden Triumphe des Aemilius Paulus und des Marius werden doch in v. 126f. gleichwertig behandelt und gemeinsam der Tat des Curius gegenübergestellt. Die Dinge liegen hier allzusehr an der Oberfläche, als daß man viele Worte machen müßte. Womit freilich nicht gesagt sein soll, daß es nicht noch manche Einzelheit zu bemerken gäbe. Hier nur noch diese: Nec magis insignis sc. triumphus formulierte Claudian, zurückhaltend, abwägend; plus fuga laudatur fällt v. 128 dem Dichter grobschlächtig ins Wort. Nein: der feierliche Triumph, bei dem der gefangene Gegner durch die Straßen Roms geführt wurde, bedeutete einst den unbestrittenen Gipfel des Ruhms; darin, daß die Vertreibung des Pyrrhus einem vollen Sieg solcher Art gleichgeachtet | wurde und infolgedessen dem Befreier für alle Zeiten das gleiche Maß kriegerischen Ruhms eintrug, eben darin liegt die besondere Auszeichnung für Curius, die er dem dichterischen Preis des Ennius verdankt. Dies will Claudian sagen, nichts anderes. Der Vers 128 vergröbert den Gedanken, indem er gleichsam seine eigene Rechnung aufmacht. Wie stellt sich nun die Claudiankritik zu diesem Vers? "Paene suspiciosus" urteilt Birt - allzu zaghaft, aber immerhin weit treffender als der Kommentator H. Schroff (Claudians Gedicht vom Gotenkrieg, Berlin 1927, 29), der die beiden vorausgehenden Verse (126/127) verdächtigt. Es gehört schon allerlei dazu, gerade in diesem Punkte zu irren. Die unglücklichste Figur aber angekündigte Erörterung des Problems in seinem Kommentar zum Bellum Gildonicum Neues erbringen wird (vgl. Cameron 315 3 ). 25 D.h.: neue, selbständige, welche über jene längst in die traditionelle Dichtersprache abgesunkenen hinausgingen und somit fiir das direkte Verhältnis zu Ennius beweiskräftig wären.

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macht Koch, der den von Birt aufgedeckten Anstoß wieder zu bemänteln bemüht ist, was ihn zu folgender Erklärung veranlaßt: "Supple enim\ nam quod Curii triumphum magis insignem dixit, pro argumento hoc addit Cl., i n ρ ο e s i maxime Romana magis laudatam esse Pyrrhi cladem quam Iugurthae" (bei Birt im Apparat z.St.). Also 'enim' sollen wir in dem fraglichen Vers ergänzen, außerdem zu laudator in Gedanken hinzufügen: 'in der echtrömischen Dichtung', und gemeint sei: 'Pyrrhus' Niederlage wird in der urrömischen Poesie mehr gepriesen als die des Jugurtha'! Eine ausführliche Widerlegung solcher Künstelei wird man mir hoffentlich erlassen. Von allem anderen einmal abgesehen: auf die altrömische Dichtung war vorher hingedeutet (124f.), wie soll jetzt in v. 128, nachdem Paulus und Marius erwähnt wurden (126f.), der Leser zu der von Koch geforderten gedanklichen Ergänzung hinfinden? Und selbst wenn sie möglich wäre: ist sie denn überhaupt sinnvoll? Wo gibt oder gab es denn urrömische Dichtung, welche den Sieg über Jugurtha feiert, so daß eine gegenseitige Aufrechnung der dichterischen Lobpreisungen, dort für Curius, hier für Marius, angebracht oder auch nur denkbar wäre? Sollen wir etwa glauben, hier werde irgendwelche obscure Annalenpoesie republikanischer Zeit zum Vergleich gestellt, wo doch schon Enniuskenntnis problematisch erscheint? Nein: Claudian hat es, wie soeben dargestellt (S. 32 [59]), durch seine kluge, taktvolle Formulierung gerade vermieden, den Ruhm aller drei Männer, also etwa auch den des Paulus und des Marius, in der Poesie gründen zu lassen. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß jenes 'paene' (sc. suspiciosus), wodurch Birt sein Urteil über den v. 128 milderte, den Einfluß Kochs widerspiegelt, dessen Erklärung Birt der wörtlichen Mitteilung im Apparat für wert hielt. Damit bestätigt sich in einem konkreten Fall, was oben S. 18 [47] mehr im allgemeinen über Kochs Einflußnahme auf die endgültige Gestaltung der Birtschen Ausgabe vermutet wurde. Daß Birts dergestalt abgeschwächter Anstoß weder in Kochs eigener Ausgabe noch in den Handausgaben von Platnauer und Crepin irgendwelche Spuren hinterließ, versteht sich demnach fast von selbst. Wie so manches Mal war Birt auf halbem Wege stehengeblieben und hatte es den Späteren nur allzu leicht gemacht, seine Beobachtung beiseite zu schieben. | Doch genug davon! V. 128 offenbart seinen interpolatorischen Charakter deutlich, und dies nicht nur im allgemeinen: auch der besondere Interpolationstyp, dem dieser Fall zuzurechnen ist, tritt hier klar zutage. Der

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Vers gehört in den weiten Bereich der ανοίκειος γνωμολογία (vgl. Σ Soph. OT 1523). Wie gerne sich Interpolatoren in törichten Sentenzen und Verallgemeinerungen ergehen, haben einst Bentley zu Horaz, Bekker zu Homer, v. Wilamowitz zur griechischen Tragödie, Ribbeck und dann vor allem Jachmann zu Juvenal festgestellt26. Als eingefälschter γνωμικός στίχος ist ν. 128 bestens gekennzeichnet. Was Bentley (zu Hör. ars 337) anläßlich der beiden, seither auch von Housman u.a. getilgten, Verse Juv. sat. 12,50f. aussprach, könnte man mit ganz leichter Abwandlung des Wortlauts ebenso auf diesen Vers beziehen: "Vides hic in mediam narrationem sententiolam hanc intrudi, putide prorsus et perquam inscite." Aus dem umfassenderen und zugleich differenzierteren Vergleich Claudians schmiedete der Diaskeuast eine verallgemeinernde, vergröbernde Sentenz, die, obwohl wie eine selbständige Größe gefaßt und wie zu unabhängiger Wirkung bestimmt, dennoch rücksichtslos in das claudianische Gedankengefuge eingesetzt wurde und sich gerade darum leicht ablösen läßt. Formal ist sie durch die plumpe Nachahmung des echten Verses Stil. 1,371 geprägt: 371

... an quisquam Tigranen armaque Ponti vel Pyrrhum Antiochique fugam vel vincla Iugurthae conferat aut Persen debellatumque Philippum?

Anleihen beim Originaltext gehören zur üblichen Praxis der Diaskeuasten. Daß die Anleihe hier zudem durch den Charakter der ausgebeuteten Stelle begünstigt wurde, braucht wohl kaum ausgeführt zu werden.

IV. Die Textstörung bei Horaz epist. 1,18,91f. hat zuerst Meineke auf folgende Weise bereinigt: potores [bibuli media de nocte Falerni oderunt] porrecta negantem pocula ... eqs. In jüngerer Zeit lenkte zunächst Wolfgang Schmid wieder die Aufmerksamkeit auf Meinekes Lösung, später ist sie dann von Jachmann eingehend 26 G. Jachmann, Studien zu Juvenal: Nachrichten Akad. Göttingen, Philol.-Hist. Kl., Jahrg. 1943, Nr. 6, 239 2 . Ebd. die weiteren Angaben.

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behandelt und erneut begründet worden27. Allerdings | werden Nachweise solcher 'Binneninterpolamente' erfahrungsgemäß besonders skeptisch aufgenommen, wie es denn auch Klingner im Falle des Horaz vorzog, statt Meineke zu folgen, lieber den Ganzvers 91 zu tilgen. Die Skepsis gegenüber dem Phänomen der Binneninterpolation mag einen ihrer Gründe darin besitzen, daß der moderne Betrachter sich allzusehr daran gewöhnt hat, Ganzverse als feste Elemente, als unteilbare Einheiten zu betrachten. Aber die Dinge haben ihre Logik, und so konnte es vorkommen, daß ein Gelehrter wie Birt, der sich seinem Dichter voll hingab, keiner Schwierigkeit des Textes auswich und obendrein offen genug war, solche Schwierigkeiten gegebenenfalls deutlich auszusprechen, gewissermaßen ohne Reflexion über die Erscheinung im allgemeinen und ohne theoretische Durchdringung des Tatbestandes zur Annahme von 'Binneninterpolationen' gelangte. Denn nichts anderes bedeutet es, wenn er im Apparat zu Get. 607 feststellt: "Verba pretiosior... passim [= 607 ex /608 in ] pro spuriis expunxerim; nam et sententia ipsa abundat et offendit erat." Desgleichen beargwöhnte er das mehrzellige Binnenstück Eutr. l,281 ex 7284 in - (geminam ... decet), obwohl er hier gleich hinzufügte, das fragliche Versgut sehe nicht nach einer Interpolation aus. Wenn Birt auch die erstere Beanstandung später, bei Abfassung der Praefatio zur Ausgabe (p. CV), widerrief 8 , so erklärt sich das wohl nicht nur daraus, daß die Herauslösung des fraglichen Stücks aus dem metrischen Gesamtgefüge der betreffenden Verse nicht ohne Riß gelingen kann. Vielmehr ist Birts Meinungsänderung in diesem Einzelfall vor einem allgemeineren Hintergrund zu betrachten, worüber unten S. 60 [84] einiges gesagt ist. Die Vorstellung, man habe allenfalls nur mit Eindichtungen in Form von Ganzversen zu rechnen, ist zu einfach. In lateinischen wie griechischen Dichtertexten begegnen auch solche Störungen, die sich nur durch Ansatz eines 'Binneninterpolaments' befriedigend bereinigen lassen29; denn die Text27 W. Schmid: Vig. Chr. 7 (1953) 17915; G. Jachmann, Zur Frage der Verswiederholung in der augusteischen Dichtung: Studi in onore di U.E. Paoli, Firenze 1955, 403ff. 28 Er glaubte jetzt, mit einer 'Parenthese' auskommen zu können. Was von diesem beliebten Allheilmittel zu halten ist, hat Jachmann des öfteren ausgesprochen, kurz und prägnant zum Beispiel in den "Studien zu Juvenal" 244 2 . 29 Ein entsprechender Fall aus Calpurnius ist aufgedeckt Wien. Stud. 87 (1974) 147/53. Die umfassendste Darstellung der Gesamterscheinung bietet Jachmanns bekannte Abhandlung: Binneninterpolation: Nachr. Gotting. Ges. d. Wiss., N. F. Bd. 1 (1934/36) 123/44; 185/215. Aber bemerkt und praktisch berücksichtigt wurden Fälle solcher Art, wie gesagt, längst vor Jachmann. Als besonders schlagende Beispiele nenne ich noch die Tilgung von Manil. 1,350 ex./351 in. (quam ... cui) durch Bentley, dem Housman folgt, und die von Verg. Aen. 5,858

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bearbeiter hielten sich nicht immer an die äußeren Versgrenzen. Es sei gestattet, diesen an sich ja naheliegenden Umstand durch einen bekannten, doch kritisch kaum genutzten Beleg zu dokumentieren. Gerade für Claudian ist aus der Spätantike eine | beabsichtigte, auch in ihrem Motiv klar faßliche Abänderung des authentischen Wortlauts bezeugt, die sich in einem wesentlichen Punkt mit dem hier erörterten Phänomen berührt, mag sie auch auf den ersten Blick gänzlich andersgeartet erscheinen. Ich meine das berühmte Claudianzitat bei Augustinus civ. 5,26. Um eine Erwähnung des Windgotts Aeolus auszuschalten, zieht Augustin die Verse III cons. 96ff. folgendermaßen zusammen: ο nimium dilecte deo, cui militat aether et coniurati veniunt ad classica venti. Gewiß: dies ist die einer Interpolation genau entgegengesetzte Maßnahme, eine voll bewußte Auslassung echten - und zweifellos auch als echt betrachteten! - Versguts des poeta α Christi nomine alienus. Aber sie zeigt doch, wie wenig Ganzverse für einen spätantiken Redaktor, und sei es auch ein Augustinus, feste, unantastbare Einheiten bildeten30. Ähnliche Verfahrensweise läßt sich im übrigen auch sonst nachweisen31. ex./85? in. (cum ... gubemaclo) durch Peerlkamp (in der Aeneisausgabe Bd. 1, Leiden 1843, 358). Über diese für die Aeneiskritik höchst lehrreiche Stelle wäre mehr zu sagen, als ich hier vorbringen kann. 30 Über Abweichungen beim Zitieren, die nicht lediglich durch einen Gedächtnisfehler verursacht sind, vgl. etwa W. Schmid: Wort und Text (Festschrift Schalk: Frankfurt 1963) 28. Im vorliegenden Fall erhellt das Motiv der Verkürzung deutlich aus dem besonderen Zusammenhang der augustinischen Darlegung. Dieser tritt auch bei Orosius (adv. pagan. 7,35,21) klar hervor, der das Zitat in der verkürzten Form übernimmt, doch statt cui in v. 97 tibi schreibt (vgl. dazu Birt praef. p. LXXVIII) - sicherlich eine harmlose Modifikation, die aber zeigt, wie sich solcher Eingriff zusätzlich auch an der Nahtstelle der Versatzstücke auswirken kann. Denn Orosius' slip of memory war wohl erst nach Fortfall der Anaphora cui... cui möglich. Durch Orosius schlich sich tibi (v. 97) dann auch in die Claudianüberlieferung ein. 31 Lehrreich etwa das Calpurniuszitat bei Nemesian ecl. 2,37/39, das Willy Schetter oben [in dem eingangs S. 16'genannten Band] S. 31 in anderem Zusammenhang behandelt. Nemesian kürzt eine dreizeilige Versreihe des Calpurnius (ecl. 3,55/58) um einen Vers, doch ebenfalls so, daß er ein Binnenstück herausschneidet: ille ego sum,

Lycidas _ < q U 0 t e cantante solebas Donace dicere felicem, > cui dulcia saepe dedisti oscula nec medios dubitasti rumpere cantus. Auch der imitierende Dichter will 'bessern': der Unterschied zum Eingriff eines Redaktors liegt vor allem darin, daß der Imitator seine Verbesserung gerade durch den Vergleich mit dem überbotenen Vorbild gewürdigt wissen will. Jedenfalls zeigt sich auch hier, daß Hexameter für einen antiken Bearbeiter keineswegs harte Blöcke waren, die sich etwa nur als Ganzes ausräumen oder hinzusetzen ließen: denn was für die Maßnahme des circumcidere gilt, muß auch - um mit Quintilian (inst. 10,2,28) zu reden - für die des supplere gelten.

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Durch Herauslösen einer 'Binneninterpolation' ist eine empfindliche Textstörung bei Claudian zu heilen, der wir uns nun zuwenden wollen. Wie beim vorigen Fall (III) handelt es sich um eine Stelle aus dem Gedicht über den Gotenkrieg, und auch hier ging der Anstoß von Birt aus. Der Zusammenhang ist folgender: Alarich ist in Oberitalien | eingefallen. Das Land liegt ungeschützt da; denn die italischen Legionen stehen in Raetien gegen Aufständische. Doch Stilicho eilt über die Alpen, bringt den Aufruhr rasch zur Ruhe und führt die Truppen zurück. Ein Stimmungsumschwung auf beiden Seiten ist die Folge: die Bedrohten atmen auf, die Goten verlieren die Siegeszuversicht. Insbesondere Alarich selbst erkennt, daß das Blatt sich zu wenden beginnt, will es freilich nicht wahrhaben: 470

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... qui vertice proximus astris post Alpes iam cuncta sibi promisit apertas nil superesse ratus, postquam tot lumina pubis, tot subitos pedites, equitum tot conspicit alas cinctaque fluminibus crebris ac moenibus arva seque velut clausum laqueis: sub pectore furtim aestuat et nimium prono fervore petitae iam piget Italiae, [sperataque Roma teneri visa procul. magni] subeunt iam taedia coepti. occultat tarnen ore metum ... eqs.

Zu v. 477 bemerkt Birt: "sperataque eqs.] male cohaerent sensus; desiderabam: Iam piget Italiae, sperataque Roma priusquam Visa procul, magni subeunt iam taedia coepti." Birts Anstoß, obschon nur allgemein ausgedrückt, dürfte unmittelbar einleuchten. Sein Heilungsvorschlag - falls die Bemerkung ernsthaft in solcher Absicht abgegeben sein sollte - befriedigt nicht. Hätte er denselben Weg beschritten wie an späterer Stelle desselben Gedichts bei ähnlichem Anstoß, so wäre ihm in diesem Fall eine glatte Lösung gelungen. Aber wir wollen der Reihe nach vorgehen. Claudians eleganter, bildhafter Stil ist von der Art, daß sich fremde Zutaten besonders sinnfällig abheben. So auch hier. Wenn der Satz: Roma sperata teneri visa procul Latein ist, dann jedenfalls nicht Claudians Latein. Wer Begründungen verlangt, dem sei das Einzelne in gebotener Kürze vor Augen geführt. "Auffallend ist das perfekt zwischen den präsensformen", urteilte der Kommentator Schroff (S. 68 z.St.) - sachlich richtig, doch zu milde. Denn das

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Perfekt ist nicht nur 'auffallend', sondern sinnverdunkelnd und -verunklärend. Alles in dieser Passage wird ja auf den Gegensatz von einst und jetzt hin abgestimmt: ehedem war der Gotenkönig von übermütiger Siegesgewißheit erfüllt, jetzt resigniert er, fürchtet sich sogar. Diesen Kontrast hervorzuheben, ist iam zweimal gesetzt (477. 478). Höchst störend tritt daher das Perfekt visa (sc. est) zwischen die beiden Sätze, welche sich durch die präsentischen Formen und durch jenes Zeitadverb nachdrücklich als Darstellung des augenblicklichen, veränderten Gemütszustands Alarichs zu erkennen geben. Doch damit nicht genug: nicht bloß im Verhältnis zu seiner Umgebung, sondern auch an sich selbst zeigt der Einschub solchen Mangel, insofern die Zeitenfolge zwischen den beiden in sperata und visa liegenden | Vorgängen undeutlich bleibt. 'Die bisherige Hoffnung ist jetzt zerstört': das bloße Partizip sperata neben visa sc. est drückt dieses für das Verständnis der Aussage wesentliche Zeitverhältnis nur unvollkommen aus32. Bezeichnenderweise fügt Gesner (Ausgabe 1759 z.St.) in seiner Paraphrase das im Text vermißte 'Jetzt' hinzu: "... nunc [!] visa est procul abesse", sc. Roma. Die Konstruktion von sperari mit folgendem N.c.I. enthält, für sich genommen, nichts Befremdliches. Man verweist gewöhnlich auf Tac. hist. 2,74: legiones secuturae (sc. esse) sperabantur sowie auf einige Ammianstellen. Doch Claudian bietet einmal selbst andernorts diese Konstruktion, was gemeinhin übersehen wird33: prospera Romuleis sperantur tempora rebus In nomen Ventura tuum (IV cons. 619f.). Auch sonst begegnet sperari mit dem N. c. I. gerade in der Spätzeit häufiger, als dies unsere Hilfsmittel erkennen lassen: so in der Itala, bei Augustin, im lateinischen Hermas, in der Regel Benedikts: vgl. etwa Herrn. Pal. mand. 10,2,4 tristitia speratur salutem habere-, RB 51,1 frater, qui ... ea die speratur revertP4. 32 Zumal das Perfektpartizip von Passiva wie speratus nicht selten in präsentische oder adjektivische Bedeutung übergeht. Vgl. etwa Cie. Brat. 314: quodvispotiuspericulumadeundum quam α sperata dicendi gloria discedendum putavi; fam. 2,9,1; Liv. 30,30,19: melior tutiorque est certa pax quam sperata victoria; Claud. Ruf. 2,98: vel solus, sperate, veni. An der oben behandelten Stelle erfordert es aber eben der Sinn, daß die Zeitenfolge eindeutig und prägnant hervortritt. 33 So von Schroff z.St. und desgleichen von seinem Gewährsmann F. Trump, Observat i o n s ad genus dicendi Claudiani ..., Diss. Breslau 1887, 35. Daß beide die Parallele bei Claudian übersahen, mag daran liegen, daß diese auch in Birts Index p. 589 s. v. sperare nicht als solche kenntlich gemacht ist. Aus Ammian notieren Kühner-Stegmann, Lat. Gramm. 2/1, 706 zwei Belege: Amm. 17,3,1; 30,10,1; hinzukommen 14,7,5; 17,4,15; 29,1,34. 34 Die Kenntnis dieses Materials, soweit es über Claudian und Ammian hinausreicht, verdanke ich einer freundlichen Mitteilung von Herrn Generalredaktor Dr. Wilhelm Ehlers, Thesaurus Linguae Latinae (München). Außer den oben angegebenen Belegen sind noch zu nennen: Itala II

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Nicht also in der Konstruktion von sperari als solcher liegt ein Anstoß, wohl aber in der gedrängten Folge zweier gleichartiger Konstruktionen und überhaupt in der starken Verknappung des Ausdrucks, die, weit entfernt davon, ein Vorzug zu sein, vielmehr verwirrend wirkt. Im allgemeinen ergänzt man den Satz so: sperataque Roma teneri visa (sc. est) procul (sc. esse). Aber Birts Bemerkung zeigt ja, daß sich die Aussage 'visa procul' auch anders fassen läßt, nämlich nicht wie: 'longe abesse visa est', sondern wie: 'e longinquo visa est'. Der Vorwurf: "in ambigui Vitium incidit" - einst von Bentley gegenüber Hör. serm. 2, | 2,38 erhoben (zu ars 337) - trifft hier voll zu. Im übrigen ist ersteres einfältig, letzteres unmöglich - denn natürlich kann Alarich während dieses Feldzugs Rom nicht gesehen haben; ja nicht einmal als übertreibende Ungenauigkeit wäre derlei sinnvoll, hatte doch der Dichter zuvor (lOOff.), den Sieg feiernd, gebetet: procul arceat altus Iuppiter, ut delubra Numae ... Barbaries ο cu lis saltern temerareprofanis Possit... eqs. Aber es lohnt nicht, die eine Version gegen die andere auszuspielen: das Ganze ist - so oder so - im Ausdruck unbeholfen, dunkel, eines Claudian unwürdig. Umgekehrt wird man sich hier daran erinnern müssen, daß gerade obscuritas ein typisches Merkmal nachträglicher Zudichtungen in antiken Dichtertexten darstellt35. Schlecht ist an dem Einschiebsel einfach alles, bis hin zum letzten Wort, dem nur scheinbar harmlosen, in Wahrheit äußerst störenden Adjektiv magni sc. coepti. Alarichs Überfall auf Italien war - im Sinne Claudians - alles andere als eine Großtat. Der unmittelbar voraufgehende Ausdruck: nimium prono fervore petitae sc. Italiae macht deutlich, wie er urteilte. Man kann Heinsius nicht genug bewundern, der - obschon zu seiner Zeit die Heilung des ganzen Schadens nicht gelingen konnte - dennoch gerade den Anstoß in magni mit feinem Empfinden herausfühlte und vani sc. coepti konjizierte. Wenn Burman nach Erwähnung dieser Konjektur fortfährt: "magnum coeptum non mutem, ut Ovid. II. Met. 328: magnis tarnen excidit ausis" (Ausgabe, Amsterdam 1760, z.St.), so ist dem entgegenzuhalten, daß das Unpassende des Ausdrucks bei Claudian durch nichts besser beleuchtet wird als durch eben die von Macc. 1,13 (rec. B); Herrn. Pal. sim. 9,9,7; Aug. civ. 16,24 (CCL 48,528, Z. 107f.); 17,10 (574, Z. 20f.); 20,29(752, Z. l l f . ) ; Cod. Iust. 4,21,21,4. Der Anwendungsbereich des Ν. c. I. nach den Verba sentiendi et declarandi im Passiv weitet sich ja seit klassischer Zeit überhaupt immer mehr aus (vgl. Leumann-Hofmann-Szantyr, Lat. Gramm. 2, 364f.). In dieser Hinsicht folgte also der Verfasser des fraglichen Textstücks durchaus einem Zug der Zeit. 35 Das dem Umfange nach bedeutendste Beispiel dafür liefert das große Oxforder Juvenalfragment, dessen Echtheit zu erweisen man allerdings heute wieder keinerlei Mühe scheut; vgl. den Forschungsbericht bei M. Coffey: Lustrum 8 (1963) 179ff.

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Burman herangezogene Ovidstelle. Die Nymphen schreiben dem Phaethon auf das Grab (met. 2,327f.): Hie situs est Phaethon, currus auriga paterni, quem si non tenuit, magnis tarnen excidit ausis. Was George Lafaye (Ovide. Les Metamorphoses, tome 1, Paris 1957, 48) treffend so übersetzt: "Ci-git Phaethon, conducteur du char de son pere; s'il ne reussit pas ä le gouverner, du moins il est tombe victime d'une noble [!] audace." Gerade das hätte Claudian dem Barbarenführer niemals zugestanden, ebensowenig wie einem anderen Widersacher Stilichos36. Claudians Alarich ist nicht der Held, der ein großes, allzu | großes Unternehmen kühn beginnt und, da es seine Kräfte übersteigt, scheitert. Er ist vielmehr ein von gegensätzlichen Leidenschaften, von Furcht, Hochmut und Jähzorn beherrschter, eitler Prahler. Durch seine Schuld überträgt sich die Verblendung auf das ganze Volk (vgl. 550f.: sic ait... attollunt vanos oracula fastus). Von Anfang an eignete seinem Unterfangen nichts Großes. Denn nur durch Verrat gelang den Goten der Einbruch in das wehrlose Land (278f.). Groß ist allein Stilicho (vgl. Get. 512: α magno Stilichone cave!), kühn, was immer er unternimmt (s. etwa Ruf. 2,200fortia coepta), wie denn gerade in dem Gedicht über den Gotenkrieg alles daraufhin angelegt ist, Stilicho in strahlender Größe vor uns erstehen zu lassen, zu der Alarichs Person nur den dunklen Kontrast bildet (vgl. hierüber: Antike und Abendland 18, 1972, 144ff., bes. 152/55). Wer Alarichs Unterfangen ein magnum coeptum nannte, urteilte nicht wie Claudian, dem solches Urteil bis ins Innerste widerstrebt hätte, ganz gleich, ob man nun dies Widerstreben in der eigenen Überzeugung des Dichters oder in der Absicht des Preisgedichts oder in beidem gründen läßt. Nur ein Späterer kann so gedacht haben - falls er überhaupt sich dabei etwas dachte und nicht vielmehr das erste beste Beiwort griff, um seinen Einschub aufzufüllen. Den Birtschen Einfall, teneri durch priusquam zu ersetzen, wird nur derjenige ernsthaft in Erwägung ziehen, der immer und überall die Devise befolgt, kleinräumige Änderungen verdienten den Vorzug vor umfassenderen, 36 Bezeichnend in dieser Hinsicht das beißend ironische Urteil eines ausgelassenen Spötters bei Claudian Eutr. l,359f.: miraris? nihil est, quod non in pectore magnum Concipit Eutropius. So verschieden auch die Bilder sind, die Claudian von Eutropius, Rufin, Gildo und Alarich entwirft, sie sind doch alle in dunklen Farben gemalt, dazu bestimmt, das leuchtende Bildnis Stilichos heller hervortreten zu lassen. Darin gleicht Claudians Portrait des Gotenkönigs durchaus dem der anderen Feinde seines Stilicho.

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während es doch in Wahrheit auf die Logik einer Textänderung ankommt. Im übrigen rechtfertigt der Wortlaut des Einschiebsels keinerlei derartige Zurückhaltung. Das Ganze würde durch solchen punktuellen Eingriff kaum gebessert. Plump und schwerfällig schöbe sich der priusquam-Satz zwischen die lebhaften Aussagen iam piget... subeunt iam ... eqs., die ja nicht mehr die äußere Situation schildern - das ist zuvor (472/75) abgemacht sondern deren psychische Wirkungen auf Alarich. Nein: die Schlacke muß ausgeräumt werden. Dann tritt die echt claudianische Eleganz des Ausdrucks wieder rein zutage: 477/8

iam piget Italiae, subeunt iam taedia coepti.

Was war das Motiv dieser Eindichtung? Die Frage läßt sich ohne Schwierigkeit beantworten. Den Gedanken an Rom, an Gefährdung und Rettung der Stadt, hat Claudian von Anfang bis Ende dieses Festgedichts, das er in Rom vortrug (praef. 2), stark betont. Ja, die Schlacht bei Pollentia erscheint in seiner Darstellung als Kampf um Rom: auf die urbs richtet sich die Begehrlichkeit der Barbaren hauptsächlich (vgl. bes. 77/89. 505f. 533), ihr gilt aber auch die Hauptsorge Stilichos (95/103. 362. 450ff. 578 u.ö.). Im Zentrum des Geschehens steht das für die Goten verhängnisvolle Urbs-Orakel, durch das Alarich sich täuschen läßt (546ff.). Wie Claudian zu Beginn des Gedichts die Aufforderung an die Göttin Roma richtet, ob ihrer Rettung stolz zu frohlocken (50/60. | 77ff.), so schließt er das Werk mit dem abgewandelten Vergilvers: discite vesanae Romain non temnere gentes! (647, vgl. Aen. 6,620). Natürlich unterwarf sich der Dichter mit solcher Darstellung keinem kleinlichen Zwang, nicht überall, wo er 'Italien' sagte, mußte er auch 'Rom' sagen. Aber man begreift, daß für den Interpolator Italiae in v. 477 gleichsam das Stichwort liefern konnte, um just an dieser Stelle auch Rom wieder ins Spiel zu bringen. Dabei hat vermutlich die Erinnerung an eine bestimmte, eindrucksvolle Partie des Gedichts mitgewirkt; denn unserer Passage (470ff.) nach Aussage und Empfindungsgehalt sehr ähnlich ist das Stück 77/89, und dort geht es um Rom. Alarich zieht geschlagen ab - er, der die Rüstung nur auf den Rostren abzulegen geschworen hatte, der römische Frauen schänden wollte, der Roms Schätze im Geiste schon verschlungen hatte! Hier ist alles auf Rom abgestellt, auf Rom richteten sich Alarichs Wünsche, ja er wähnte es schon in seinem Besitz. Wie leicht nun diese Stelle an jene spätere - oder umgekehrt - erinnern

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konnte, lehrt die bloße Gegenüberstellung der Textstücke. Neben das oben ausgeschriebene (S. 38 [65]) halte man dieses:

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aspice (sc. Roma), quam rarum referens inglorius agmen I t a l i a detrusus eat quantumque priori dissimilis, qui cuncta sibi cessura ruenti pollicitus patrii numen iuraverat Histri non nisi calcatis loricam ponere r ο s t r i s. ο rerum fatique vices! qui foeda parabat R o m a n a s ad stupra nurus, sua pignora vidit coniugibus permixta trahi; qui mente profundas hauserat u r b i s opes ... eqs.

Vor allem vergleiche man v. 80f. mit v. 470f.: qui ... iam cuncta sibi promisit. Wer von dieser nicht nur dem Wortlaut nach ähnlichen Stelle hinüberblickte zu jener anderen, der mochte gar wohl eine Erwähnung Roms vermissen, war es doch, der früheren Aussage zufolge, gerade die Stadt Rom, die der Gote schon in seiner Gewalt glaubte, auf deren Besitz er aber schmählich verzichten mußte. Das andere Mal nur Italien als Ganzes, nicht auch Rom genannt zu finden, mochte dem Redaktor auffällig vorkommen, und er fügte dort den vermieten Gedanken, so gut er eben konnte, nach Italiae in den Vers. |

V. carm. min. 23: Deprecatio in Alethium quaestorem

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Sic non Aethiopum campos aestate pererrem nec Scythico brumam sub love nudus agam, sie non imbriferam noctem ducentibus Haedis Ionio credam turgida vela mari, sie non Tartareo Furiarum verbere pulsus irati relegam carmina grammatici: nulla meos traxit petulans audacia sensus, liberior iusto nec mihi lingua fuit.

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versiculos, fateor, non cauta voce notavi, heu miser! ignorans, quam grave crimen erat. Orpheos alii libros impune lacessunt nec tua securum te, Maro, fama vehit: ipse parens vatum, princeps Heliconis, Homerus iudicis excepit tela severa notae. [sed non Vergilius, sed non accusat Homerus: neuter enim quaestor, pauper uterque fuit.] en moveo plausus! en pallidus omnia laudo et darum repeto terque quaterque 'sophos'! ignoscat placidus tandem flatusque remittat et tuto recitet quod libet ore: placet.

Da uns dieses Gedicht über breiteren Raum hinweg beschäftigen wird, sei das Folgende zum Zwecke der leichteren Übersicht in einzelne Abschnitte gegliedert, ohne daß doch damit eine scharfe Trennung der Punkte angestrebt sein soll: 1. Zur Person des Adressaten: Quaestor, Grammatiker und Dichter, S. 44/47 [70/73], - 2. Jeeps Athetese, S. 47 [73/74]. - 3. Zweisilbiges neuter, S. 48/50 [74/76], - 4. Weitere Anstöße im Ganzen, S. 50/51 [76/77], - 5. Sachliche Bedenken: das Klischee des 'armen Poeten', S. 52/53 [77/78], - 6. Quelle und Motiv der Interpolation, S. 53/55 [78/80], - 7. Wirkung des gereinigten Stücks, S. 55/56 [80/81], - 8. Die Gedichtüberschrift, S. 56/58 [81/82], - 9. Der Versausfall v. 14/15, S. 58/60 [82/84],

1. Die Person des Adressaten dieser köstlichen ironischen Deprecatio bleibt für uns im Dunkeln. Wir wissen nichts weiter über Alethius, als was das Gedicht sagt. Er war also Quaestor (sacripalatii), wie es in der Überschrift heißt, außerdem Dichter und Grammatiker. Denn v. 6 ist natürlich auf Alethius selbst zu beziehen, wie dies Birt p. LXI u.a. ohne weiteres richtig annahmen. Cameron (Claudian 308f.) hatte den | unglücklichen Einfall, diesen Vers als Anspielung auf den zeitgenössischen Epigrammatiker Palladas zu beziehen.

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Aber in diesem Gedicht, in dem der Poet dem Poetaster Abbitte zu leisten vorgibt, hätte niemand die Anspielung auf einen dritten, ungenannten, ebenfalls - wie der Adressat Alethius - 'erzürnten' Verseschmied verstehen können. Camerons Interpretation trägt das Gepräge des Gekünstelten. Zur Sache bemerkt er weiter: "But though Alethius was clearly a poet, he was a quaestor, not a grammaticus." Offenbar faßt Cameron die Bezeichnung grammaticus zu eng. Wer sich als Philologe einen Namen gemacht hatte, der konnte auch noch nach seiner Beförderung in ein hohes Staatsamt so genannt werden. Unser Sprachgebrauch verfährt ja hierin ganz ähnlich. Wer noch zweifelt, den mag das Beispiel des Ausonius eines Besseren belehren. In ihm besitzt die lateinische Grammatikerzunft ihren namhaftesten Poeten. Dreißig Jahre lang lehrte er in seiner Heimatstadt Bordeaux Grammatik, worauf er als Prinzenerzieher am Hof zu Trier mit dem gleichen Geschäft fortfuhr. Noch der alte Ausonius vermerkt nicht ohne gewissen Stolz, daß er es als Grammatiker zwar nicht mit Koryphäen wie Aemilius Asper, Scaurus und Probus habe aufnehmen können, wohl aber mit den Vertretern dieses Fachs in seiner Heimat Aquitanien (Auson. lectori sal. vv. 17/22, p. 2 Schenkl). Unter seinem ehemaligen Schüler Gratian bekleidete nun Ausonius auch das Amt des quaestor sacri palatii (375/78). Die Mosella hatte er damals schon verfaßt und so manches andere. Kurzum: in dem Quaestor Ausonius, poeta und grammaticus wie rhetor zugleich, ersteht uns, äußerlich betrachtet, ein vollkommenes Gegenbild zu Alethius. Wenn nun Ausonius von sich selbst sagt: nomen grammatici merui (I.e. v. 18), sollte es dann einem anderen nicht verstattet gewesen sein, ihn bei eben diesem Namen zu nennen? Gewiß doch. Was aber Ausonius recht ist, ist Alethius billig. Die Verbindung von Poesie und Philologie hat ja überhaupt für antike Verhältnisse nichts Auffälliges, geschweige denn Außergewöhnliches. Der Typos des κριτικός αμα και ποιητής findet sich seit den Tagen der jungrömischen Dichterschule, die in P. Valerius Cato, dem summus grammaticus, optimus poeta (Bibaculus bei Suet. gramm. 11 = frg. 2 v. 4, p. 81 Morel), ihr preiswürdiges Vorbild erkannte, durchaus auch unter den Repräsentanten römischen Geisteslebens. So tat sich der führende Grammatiker tiberischclaudischer Zeit, Palaemon, sowohl als Stegreifdichter als auch als Verfasser von Gedichten in entlegenen Maßen hervor (Suet. gramm. 23,3), und - um wieder in die Spätantike hinabzugehen - einen stattlichen Rest einer hexametrischen Vergilvita samt einer Vorrede dazu in sapphischem Maß besitzen wir

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von der Hand des 'grammaticus urbis Romae' Phocas aus dem fünften Jahrhundert. Es wäre ja auch seltsam, wenn sich mitten in einem literarischen Leben, da jeder gerne Verse und Verslein machte, ausgerechnet diejenigen, die sich ex professo mit der Dichtung zu beschäftigen hatten, solcher Liebhaberei sollten entschlagen haben. Wie wenig davon die Rede sein | kann, vermag allein des Ausonius Commemoratio professorum Burdigalensium darzutun, wo Rhetoren und Grammatiker als gewandte Poeten gepriesen werden. Wenn nun einige aus der Reihe dieser Männer zur Quaestur emporstiegen, so war das nur natürlich. Denn vom Inhaber dieses kaiserlichen Ressortministeriums wurden neben juristischen Kenntnissen vor allem sprachlich-stilistische Fähigkeiten verlangt. Der Quaestor galt als 'Stimme' des Kaisers: ihm oblag die schriftliche Ausarbeitung der kaiserlichen Gesetze und Antwortbescheide37. Er mußte also "homme de lettres" sein, und als solcher mochte sich durchaus ein bewährter Philologe und Dichter oder Rhetor empfehlen. Das Beispiel des Ausonius ist lehrreich, ebenso das der beiden Consentii, Vater und Sohn aus Narbonne. Über sie erteilen die Briefe und Gedichte des Sidonius Apollinaris einigen Aufschluß. Beide zeichneten sich als Dichter aus. Der Vater ist vielleicht mit dem gleichnamigen Grammatiker, dem Verfasser zweier erhaltener grammatischer Abhandlungen (5,338ff. Keil), identisch, der als vir clarissimus dem senatorischen Adel Galliens angehörte; der Sohn bekleidete nicht nur das Amt des tribunus et notarius wie Claudian, sondern wohl auch die Quaestur wie Alethius38. Wie gesagt: der Grammatiker, Dichter und Quaestor Alethius paßt durchaus in das Bild, das wir uns von dem geistigen und kulturellen Leben des vierten und fünften Jahrhunderts machen müssen. Unbegreiflich bleibt, was Cameron an dem Gedanken wiederholten Lesens der Alethiusverse als einer Unterweltsstrafe (v. 6) störend findet. Derlei widerspricht nicht dem sarkastischen Ton des Gedichts (so Cameron, a.Ο. 308), sondern ist ihm vielmehr vollkommen gemäß. Zugrunde liegt die Vorstellung talionsähnlicher Bestrafung der Hadesbüßer - eine verbreitete Vorstellung, die hier auf einen speziellen Fall höchst amüsant zugeschnitten wird. 37 Den wohl vollständigsten Eindruck von Pflicht und Würde dieses Amts vermittelt Cassiodor var. 6,5 (formula quaesturae). Hier auch der bezeichnende Satz: (quaestur am) nostrae linguae vocem esse censemus (6,5,1; vgl. 8,13,7). Zur Sache s. ferner G. Wesener, Art. quaestor: RE 24 (1963) 821f. 38 Über die beiden Consentii vgl. die "Prosopographie" Nr. 95. 96 bei K.F. Stroheker, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948, 161f. mit der dort angeführten Literatur.

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Das Prinzip der Wiedervergeltung beherrschte ja überhaupt das Denken des spätantiken Menschen und hatte vielfältige Ausformungen, ja raffinierte Variationen erfahren. Die Strafart im vorliegenden Fall ist natürlich, abgesehen von den μάστιγες der Furien, ad hoc erfunden, aber diese Erfindung variiert den allgemeineren Gedanken, daß die Büßer drunten auf ewig in abbildhafter Weise wiederholen müssen, was sie im Leben sündigten39. | Camerons Deutung nimmt dem Verbum relegere diesen Sinn und zerstört damit eine der schönsten Pointen des Gedichts. Daß Claudians 'Vergehen' in einem Schmäh g e d i e h t auf Alethius' poetische Produktion bestand, wie Cameron glaubt40, erscheint demzufolge wenigstens unsicher, ja wohl sogar unwahrscheinlich. Die Wendungen: relegam, liberior lingua, non cauta voce notavi deuten eher auf Lesen und Glossieren der schlechten Verse im Literatenkreis. Claudian wird sich dem Alethius gegenüber die gleiche Freiheit der Kritik gestattet haben wie jener gichtbrüchige Kritikaster carm. min. 13,3 unserem Dichter gegenüber: 'Claudicat hic versus; haec', inquit, 'syllaba nutat'.

2. Wenden wir uns nach diesen notwendigen Vorbemerkungen nunmehr dem Verspaar 15/16 zu! Jeep setzte das Distichon in Klammern und gab im Apparat folgende Begründung: "v. 15 et 16 interpolates puto certissime, cum propter tempus praesens 'accusaf tum quod in toto disticho sententia maxime inanis inest, ut paene risum moveat." Keine seiner Tilgungen im Claudiantext hat Jeep mit solchem Nachdruck vertreten wie diese. Aber sie setzte sich trotzdem nicht durch. Etliche willkürliche Eingriffe Jeeps hatten ihren Urheber ein 39 Ein berühmtes Beispiel: Kaiser Claudius, der zu Lebzeiten dem Laster des Würfelspiels frönte, soll drunten auf ewig mit einem durchlöcherten Becher würfeln: Seneca apocol. 14,5. Vgl. ferner A. Dieterich, Nekyia, Leipzig und Berlin 19132, 209 über die Bestrafung der Zornigen nach Plut. de sera num. vindicta 567 Β und R. Hirzel, Die Talion: Philol. Suppl. 11 (1910) 474 über die Deutung der Strafe des Sisyphos durch den Scholiasten zu Stat. Theb. 2,380. Das sind nur einzelne Fälle. Für die weite Verbreitung des Vergeltungsgedankens, gerade auch zu Claudians Zeit, kann ich auf meine "Studien zur Psychomachie des Prudentius" ( = KlassischPhilologische Studien 27, Wiesbaden 1963)51/81 verweisen. Ebd. 76f. auch einiges zurtalionsähnlichen Ausgestaltung der Höllenpein bei Christen und Nichtchristen, worüber z.B. Hirzel a.O. weiteres Material beibringt. 40 Vgl. Cameron 400: "There can be no doubt that his crimen had been a lampoon on Alethius' own poetry."

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für allemal des Kredits auf diesem Felde der Claudiankritik beraubt - mitunter sehr zum Schaden der Sache, wie man im Hinblick auf den vorliegenden Fall wird sagen dürfen. Um so bemerkenswerter, daß einer der schärfsten Kritiker Jeeps, nämlich Emil Baehrens, den Anstoß in v. 15/16 durchaus anerkannte, wenngleich sein Heilverfahren ein gänzlich anderes war. Er lokalisierte die Störung in einem einzigen Punkt: das "absurde accusat" hielt er wie Jeep für unerträglich, wähnte freilich mit der Konjektur curaret alle Unebenheiten begradigt (Bursians Jahresberichte Bd. 18, 1879, 147). Den Bedenken Jeeps, die sich auf das Ganze dieses Verspaars richteten, ist er mit diesem begrenzten Eingriff nicht gerecht geworden. Er beseitigte nur, was sich auf den ersten Blick als plumpe Störung, ja Widersinnigkeit zu erkennen gibt. Aber so wollte Jeep nicht verstanden werden: ihm erschien die Aussage insgesamt leer, ja lächerlich. Und dies mit Recht, wie noch zu zeigen sein wird. Man kann nicht umhin festzustellen, daß Baehrens, der die Lauge seiner ätzenden Kritik | über den Jeepschen Claudian ergoß, in diesem Fall weit weniger Feingefühl bewies als der hart gerügte Editor.

3. Birt blieb es vorbehalten, einen weiteren Anstoß in dem von Jeep beanstandeten Verspaar zu entdecken. In seinem Aufsatz "Ueber die Vokalverbindung eu im Lateinischen" (Rhein. Mus. 34, 1879, 2/10) wies er nach, daß ne-uter stets dreisilbig gesprochen wurde. Noch Lactanz im Phoenixgedicht v. 163 maß das Wort dreisilbig41, und Consentius, der Grammatiker aus der Zeit Claudians, den wir bereits in anderem Zusammenhang erwähnten, verurteilt zweisilbige Aussprache als Barbarismus: si aliquis dicat neutrum disyllabum, quod trisyllabum enuntiamus, barbarismum faciei (5,389 Keil). Mochten auch die Dichter in den obliquen Casus beiderlei Messungen zulassen42, so gestatteten sie doch im Nominativ keine Ausnahme. Die erste Regel41 Birts Herstellung des Verses (Rhein. Mus. 34, 6/8) ist in dem hier wesentlichen Punkt von dem Herausgeber Brandt (CSEL 27, 146) befolgt worden. 42 Sicher feststellbar ist zweisilbige Messung zuerst in der Ciris v. 68, sie mag aber auch anderswo vorliegen, vgl. Birt: Rhein. Mus. 34, 3f. Doch wurde in solchen Fällen die Vokalfolge eu nicht diphthongisch gesprochen, sondern kontrahiert (also nütnfur neütri). Darin stimmt Birt mit L. Müller, De re metrica (Leipzig und St. Petersburg 18942) 315 vollkommen überein. Gegen Müller macht Birt aber geltend, daß solche Kontraktion aufgrund des Wortakzents ηέ-

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Verletzung entdeckte Birt eben hier bei Claudian carm. min. 23,16: neuter enim quaestor... eqs. Also hier, an unserer Stelle, wurde der Nominativ neuter erstmals in der lateinischen Dichtung zweisilbig gemessen, ist erstmals - Birts Ermittlungen zufolge - die unlateinische, diphthongische Aussprache der Vokalfolge eu in diesem Wort nachweisbar! Es ist nicht ohne gewissen Reiz zu beobachten, wie Birt sich bemühte, den Konsequenzen auszuweichen, die sich bei nüchterner Prüfung der Lage aus seinem eigenen Forschungsresultat eigentlich hätten ergeben müssen. In jenem Aufsatz von 1879 bereitete ihm die Tatsache, daß Claudian der erste lateinische Dichter gewesen sein soll, der neuter zweisilbig sprach, zwar noch keinerlei Bedenken. "Claudian, aus Alexandria, kann kein Garant für jargonfreies Römisch sein", urteilte er damals noch leichthin (S. 10). Als er aber im Vorwort seiner großen Claudianausgabe (1892) daranging, ein leuchtendes Bild der hohen Sprach- und Verskunst Claudians zu entwerfen (p. VIII sq.), insbesondere die Reinheit seines Ausdrucks, die Freiheit von Gräzismen, durch die Claudian sich von anderen lateinschreibenden Griechen der Zeit wie Ammianus Marcellinus wohltuend unterscheidet, rühmend hervorzuheben, da schien ihm jene Entgleisung in carm. min. 23,16 immerhin schon bemerkenswerter (vgl. p. VIII Anm. 4: "notandum maxime video illud | neuter ..." eqs.), wie sich denn auch alles, was Birt sonst noch dort an vermeintlichen oder tatsächlichen Gräzismen bei Claudian zusammenstellt, als diesem Fall nicht vergleichbar erweist. Im Apparat zu dem betreffenden Vers schließlich gibt er seinen Bedenken so weit Raum, daß er, um auch hier dem Wort die Dreisilbigkeit zu sichern, eine Umstellung erwägt: "ceterum possis transponere Quaestor enim neuter ...". Doch diese Bedenken mögen bei ihm nur vorübergehender Natur gewesen sein. Denn im Supplementband zum Rhein. Mus. 1897 , 232 stellt er wieder bündig fest: "Dagegen neuter als Trochäus zuerst bei Claudian". Mancher wird sich vielleicht verwundert fragen, wie es zu erklären sei, daß Birt, der doch Jeeps Athetese und Baehrens' Anstoß an accusat kannte und verzeichnete und der auch ansonsten interpolatorischen Entstellungen gegenüber nicht etwa gänzlich blind war, hier sich nicht wenigstens aufgrund des neu hinzukommenden Makels eines Besseren besann. Doch dazu später! Birts uter für den Nominativ ausgeschlossen und eben lediglich für die obliquen Casus anzunehmen sei, welche nicht nur als Anapäst, sondern auch als Baccheus gemessen werden konnten (wie volucres u.a.).

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Ergebnisse bezüglich der Aussprache und Messung von neuter sind, soweit ich sehe, unwidersprochen geblieben. Sommer etwa verweist bei Behandlung der Vokalkontraktion in neuter nur knapp auf die Arbeiten Birts (Handbuch der lat. Laut- und Formenlehre 115). Für uns ergibt sich so viel: die dreisilbige Aussprache von neuter galt nach dem ausdrücklichen Zeugnis des Consentius als die korrekte. Mag auch Claudian einmal in einem seiner grösseren Gedichte nach dem Vorgange anderer in der Poesie zweisilbiges neutri zulassen (IV cons. Hon. 81) - es ist dies das einzige Vorkommen des Worts bei ihm außerhalb unseres Gedichts43 so besagt das selbst dann nicht viel, wenn man Birts Scheidung des Gebrauchs des Nominativs neuter einerseits und der obliquen Formen andrerseits bezweifelt oder für unerheblich erklärt. Denn man muß die Belege wägen, nicht bloß zählen. Unser Gedicht ist an einen grammaticus gerichtet, an einen Kollegen jenes Consentius, noch dazu an einen, von dem Claudian gewiß sein konnte, daß er jede Silbe des Stücks genauestens würde unter die Lupe | nehmen. Ausgerechnet in diesem Gedicht, in dem Claudian scheinbar reumütig, in Wahrheit voll beißender Ironie bekennt: versiculos, fateor, non cauta voce notavi, sollte sich der überlegene Sprachmeister mit einem von der zeitgenössischen Grammatik als Barbarismus getadelten Schnitzer eine wahrhaft kompromittierende Blöße gegeben haben? Wie hätte Alethius gejubelt, derlei in der ja eigentlich gegen ihn, nicht an ihn gerichteten 'Abbitte' aufweisen zu können44! Die Wirkung des brillanten kleinen Spottgedichts wäre mit einem Schlage zunichte geworden. 43 Auch hinsichtlich der Zurückhaltung des Gebrauchs von neuter steht Claudian ganz in der Tradition der lateinischen Dichtersprache. Niemals haben es Lukrez, Vergil, Catull, Tibull, Properz, Valerius Flaccus, Persius, Juvenal, Prudentius; einmal gebraucht es Horaz; Ovid und Lucan haben es je viermal, Statius und Silius je zweimal; dreimal findet es sich bei Martial (wofern man 5,20,11 mit Birt und Giarratano neuter liest), zweimal bei Ausonius. Außerdem notierte ich mir noch sechs gelegentliche Vorkommen in der Poesie seit den Augusteern bis auf Claudian. Offenbar wurde das Wort bewußt gemieden. Es gehörte wohl zu jenen Wörtern, welche den Dichtern ein gewisses prosodisches Unsicherheitsgefiihl einflößten, vgl. dazu Axelson, Unpoetische Wörter 21/24. Eben daher dürfte sich ja auch die sehr auffallende Seltenheit des Genitivs und Dativs rei, das partielle Zurücktreten von dein(de), die nahezu allgemeine Vermeidung von quoad und prout erklären. Auch neuter war bestens geeignet, prosodische Bedenken zu erregen. Die Notiz des Consentius beweist ja, daß der Punkt heikel war. Deswegen braucht allerdings die Prosodie an sich nicht geradezu zweifelhaft gewesen zu sein; vgl. Axelson a.O. 22 unten. 44 Vgl. Birt praef. p. LXI: "... ille odiosus, in quem, non ad quem Claudianus his versibus deprecatus est..." eqs. Die grundverschiedene Intention der beiden Deprecationes, der ad Hadrianum (carm. min. 22) und der in Alethium, kennzeichnen die Überschriften treffend. Wenn übrigens Claudian in dem oben S. 47 [73] zitierten Vers des Spottgedichts carm. min. 13 (v. 3) absichtlich eine metrische Unregelmäßigkeit zuläßt, so ist das eine Sache für sich: denn dort

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4. Was aber ist von dem Ganzen der Verse 15. 16 zu halten? Wie es wirken muß, wenn nach auch äußerlich schön gestufter Nennung dreier Dichtergrößen, die von Orpheus (v. 11) und Vergil (ν. 12) zumprinceps Heliconis, zu Homer führt (vv. 13/14), nun auf einmal nur noch von zweien die Rede ist, und zwar in so aufdringlicher Form, wie dies in v. 16 {neuter ... uterque) geschieht, mag jeder für sich selbst beurteilen. Hier nur soviel: Claudian hätte gar keinen Grund gehabt, Orpheus einfach 'unter den Tisch' fallen zu lassen, im Gegenteil. Eine ähnliche Dreiergruppe begegnet nupt. Hon. 234f.: Maria, die Tochter Stilichos und Serenas, liest nicht nur lateinische Literatur, sondern auch griechische, nämlich Homer, Orpheus und Sappho. Sie studierte also offenbar ihren Orpheus' wie einen klassischen Autor, und daran ist nichts Verwunderliches, brachte doch der Neuplatonismus gerade in Claudians Tagen die gesamte orphische Dichtung erneut zu bedeutender Geltung45. Auch daß die Antithese: quaestor - pauper in sich wenig glücklich, die Erwähnung des Titels in diesem Zusammenhang von Claudians Standpunkt aus höchst fragwürdig erscheint, sei nur nebenbei bemerkt. Gewiß darf man annehmen, daß ein hoher kaiserlicher Beamter nicht gerade Not leidet, aber deshalb wird die Quaestur noch nicht zum Inbegriff des Reichtums. Bezeichnenderweise folgert Birt (praef. p. LXI), Alethius sei "quaestor dives" (!) gewesen: gerade diese zum Verständnis einer etwaigen Pointe notwendige Ergänzung vermißt man im Text. Und weiter: daß Claudian, selbst tribunus et notarius, getreuer Hofmann und ob seiner stets loyalen Gesinnung mit einer Statue geehrt, ausgerechnet die Quaestur des Alethius zum Zielpunkt seines Spotts | machte, kann ich wenigstens nicht glauben. Solch hämische Seitenhiebe auf die Stellung eines amtierenden Würdenträgers am Hofe des Honorius sind nicht Claudians Sache - auch nicht in den opuscula. Es sind durchaus private Händel, die Claudian mit Männern wie Iacobus, Hadrian und Alethius abmacht.

wird ihr Gebrauch dem Widersacher selbst u n t e r s t e l l t , der in direkter Rede spricht! Vgl. dazu Cameron 287f. 45 R. Keydell - K. Ziegler, Art. Orph. Dichtung: RE 18 (1942) 1333f., 1345 u.ö.; Cameron 309f.; vgl. auch Dieterich, Nekyia^ 1591.

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5. Doch handfestere Bedenken drängen sich hier in den Vordergrund. Wie steht es denn eigentlich mit der sachlichen Richtigkeit der Aussage? Noch niemand scheint bedacht zu haben, wie wenig die Angabe: pauper uterque fuit der Sache nach zutrifft. Zwar war die Armut Homers geradezu sprichwörtlich (vgl. etwa Ov. trist. 4,10,22; weiteres: RE 8, 2201f.). Aber über Vergils Vermögensverhältnisse gab es doch das ganze Altertum hindurch eine völlig andere, sehr lebendige Tradition. Denn daß Vergil durch wahrhaft fürstliche Geschenke seiner hochgestellten Gönner, des Augustus namentlich und des Maecenas, reich wurde, weiß nicht nur die Vita des Sueton-Donat (13) zu berichten. Horaz epist. 2,l,246f. erwähnt die Geschenke des Augustus an die Dichter Vergil und Varius, eine Angabe, die für einen Einzelfall durch die Notiz des Servius zu Aen. 6,861 (2,121 Thilo) bestätigt wird. Das eindrucksvollste Zeugnis bietet wohl das berühmte Martialgedicht 8,55, aus dem ich hier nur die besonders prägnanten Verse 9/12 anführe: risit Tuscus eques p a u p e r t a t e m q u e malignam r e ρ ρ u 1 i t et celeri iussit abire fuga. ' A c c i p e d i v i t i a s et vatum maximus esto; tu licet et nostrum', dixit, 'Alexin ames'. Vergils Barvermögen wird in der Vita I.e. auf rund zehn Millionen Sesterzen beziffert - das ist fünfundzwanzigmal so viel, wie für die Aufnahme in den Ritterstand erforderlich gewesen wäre. Natürlich wußte man auch von den Landgütern in Campanien und Sizilien, die der Dichter so liebte (vgl. E. Diehl, Die Vitae Vergilianae und ihre antiken Quellen, Bonn 1911, 13 oben, zur Stelle in der Donatvita). In Rom besaß er neben den Gärten des Maecenas auf dem Esquilin ein Haus. Sein Testament wird in der Vita eingehend behandelt (37), wie denn seine Existenz auch sonst im Altertum bezeugt wird (Diehl a.O. 11 unten). Aber was vielleicht mehr als alles dies wiegt: notorisch war doch die enge Bindung Vergils an Augustus, seine höchst angesehene Stellung im Freundeskreise des Princeps. Man kannte die Korrespondenz des Augustus mit Vergil. Macrobius (sat. 1,24,11) zitiert daraus, und Claudian erwähnt sie carm. min. 40,23f. in charakteristischer Weise - auf diese Stelle werden wir gleich zurückkommen müssen. Was aber mußte das einer Zeit bedeuten, der

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die Epoche des Augustus in | strahlendem Glanz erschien (vgl. etwa Auson. 262; Theod. epist. ad Auson.)! Konnte man angesichts dieser wohlbekannten Verhältnisse vom Vergilius pauper sprechen? Ihn, wenn auch nur äußerlich, unter den Quaestor Alethius stellen? Nein, unmöglich: das Bild des 'armen Poeten' paßt nicht auf Vergil!

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Wenn man aber nun so schiefe Anwendung eines Klischees Claudian selbst keinesfalls wird zutrauen dürfen - die intime Vergilkenntnis und überhaupt die ausgebreitete Kenntnis römischer Literatur bei Claudian verbieten solche Annahme - , so wird man sich fragen, wie denn ein fremder Zudichter auf jenen Gedanken verfallen sein könnte. Nun wäre es gewiß verfehlt, wollte man alles an einer Interpolation erklärbar finden. Vielfach haben sich eben die Textbearbeiter herzlich wenig Gedanken gemacht. Motiv und Quelle einer Interpolation sind nicht immer aufspürbar. So könnte man auch hier durchaus unterstellen, der Redaktor habe einfach irgendeinen Gegensatz zu dem in der Überschrift vorgegebenen Titel quaestor ergriffen, ohne viel zu überlegen, ob das gewählte Praedikat pauper auf die beiden Dichter, insonderheit auf Vergil, überhaupt zutreffe. Dennoch scheinen mir weiterführende Überlegungen im vorliegenden Fall durchaus angebracht, und damit komme ich auf jene eben erwähnte Stelle aus carm. min. 40 zurück. Die einzige namentliche Erwähnung Vergils bei Claudian außerhalb der Deprecatio inAlethium geschieht in ebendiesem Gedicht, einer elegischen Epistel an seinen Freund und Gönner Olybrius, den Consul des Jahres 395. Vorausgegangen war wohl eine gewisse Entfremdung der beiden, jedenfalls klagt Claudian über die Unterbrechung ihrer Korrespondenz, verursacht durch anhaltendes Schweigen seitens des anderen. Er prüft alle eventuellen Gründe, die das Ausbleiben eines Briefs erklären könnten, und verwirft sie als nicht zutreffend. Schließlich äußert er die Befürchtung, Olybrius verachte seinen Dichter (v. 11), sei der ihm entgegengebrachten warmen Zuneigung überdrüssig (v. 17). Ganz wahrhaben möchte er das alles aber doch nicht, und so mündet die Klage in die Aufforderung, rasch und oft zu schreiben. Ein Exempel tritt mahnend an den Schluß (v. 23f.):

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Dignatus tenui Caesar scripsisse Maroni nec tibi dedecori Musa fiitura. Vale! T e n u i s also heißt hier Vergil, was natürlich nicht auf Armut oder Reichtum zielt, sondern auf die niedere Herkunft: vgl. Sueton-Donat vita Verg. 1 parentibus modicis fuit ac praecipue patre, quem quidam opificem figulum, plures Magi cuiusdam viatoris ... mercennarium ... tradiderunt. Die gleiche soziale Kluft, wie sie zwischen Caesar und dem Sohn des Töpfers oder Tagelöhners sich auftat, sieht der Grieche aus | Alexandrien auch zwischen sich und dem Freunde aus der Familie der Anicii; er hofft, daraus werde sich für sie beide nichts Trennendes ergeben, und deutet nicht ohne Selbstgewißheit an, Olybrius werde sich seines Dichters nicht zu schämen brauchen. Es geht hier also nicht um arm und reich, Claudian führt die Auseinandersetzung mit dem Freunde auf einer anderen Ebene. Aber tenuis heißt nun einmal nicht nur 'gering' ( = tenui loco natus), sondern auch 'ärmlich' (opp. pecuniosus), und da obendrein in der Epistel an Olybrius - wenn auch in anderem Zusammenhang (v. 5f.) - vom Reichtum des Freundes die Rede ist, mochte es für einen unaufmerksamen, die Nuancen vergröbernden Betrachter immerhin möglich sein, entgegen der sonstigen Tradition der Antike aus den Schlußversen dieses Claudiangedichts auf angebliche Armut Vergils zu schließen. Das Verfahren lag ja im Grunde nahe. Der Textbearbeiter sah sich nicht lange um. In der gleichen Gedichtsammlung war noch einmal von Vergil die Rede: tenuis Maro in carm. min. 40 evozierte die Vorstellung des pauper Vergilius. Das überaus verbreitete Thema der Armut geistig Schaffender - ich erinnere nur an Juvenals siebte Satire - hat darüber hinaus gewiß im Allgemeinen unterschwellig mitgewirkt. Doch wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Er führt uns zugleich hin zum eigentlichen Motiv dieser Eindichtung. Es besteht, mit einem Wort gesagt, in der Angleichung dieser - vom Dichter ironisch gemeinten - Deprecatio in Alethium an Sinn und Aussagegehalt der vorausgehenden wirklichen Deprecatio ad Hadrianum. Diese ist ganz darauf abgestimmt, das Mitgefühl des mächtigen Mannes zu erregen, an seine Großmut zu appellieren. Zu diesem Zweck zeichnet Claudian stark den Unterschied ihrer beider Stellung: er der Klient, jener der übermächtige Mann von erdrückendem Einfluß. Bitter empfindet Claudian die Folgen des Zwists: seine Anziehungskraft ist dahin,

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Armut, ja Not (egestas) stellt sich ein46, sein Haus ist leer, fort sind die Freunde (v. 23f.). Schließlich ruft er aus (carm. min. 22,53): scilicet insignes de p a u p e r e v a t e triumphos! Hier haben wir den 'armen Poeten': es ist Claudian selbst. Der Gegensatz zu dem mächtigen magister officiorum Hadrian hat hier seinen guten Sinn (vgl. Birt praef. p. XI sq. über Hadrian und die vermutliche Abfassungszeit des Gedichts). Etwas von diesem Gegensatz ist unpassenderweise in unser Gedicht eingeflossen: die Nennung der drei Dichter in dieser 'Deprecatio' an einen Quaestor genügte, um besagten Gegensatz aus jener anderen gewissermaßen zu aktualisieren. Hinzukam, daß Claudian ein andermal, wie wir sahen, sein Verhältnis zu dem Gönner Olybrius mit dem des einfachen (nicht armen!) Mannes | Vergil zu Augustus verglich. Der Maro tenuis aus carm. min. 40 und der vates pauper Claudian aus carm. min. 22 haben sozusagen beide Pate gestanden, als der Redaktor seinen "armen Homer und Vergil" in carm. min. 23 bildete. Dabei verkannte er - um dies nochmals hervorzuheben - gründlich den Sinn der beiden Wendungen, die durchaus nicht etwa gleichbedeutend sind: Claudian, er und nur er, ist von paupertas, ja egestas bedroht, Maro tenuis meint etwas anderes. Aber die Kombination beider Stellen machte auch aus Vergil einen armen Mann - ganz im Widerspruch zu den bekannten Tatsachen. 7. Das Distichon v. 15/16 ist als Interpolament zu tilgen, wie Jeep als einziger vollkommen richtig erkannte. Machen wir nun die Probe! Wie gibt sich das Gedicht nach Ausscheiden der beiden Verse? Claudian beginnt mit einer umständlichen, feierlichen Beteuerung, durch dreifaches: sie non gegliedert. Sie mündet schließlich, nachdem die Erwartung aufs Höchste gespannt ist, in ein witziges άπροσδόκητον (6), das zugleich auf den Anlaß dieser deprecatio und die Schuld Claudians hinweist: sie bestand nicht in frechem Übermut und ungebührlichem Spott, beteuert der Dichter (7/8). Allerdings bekennt er, freimütig Kritik geübt zu haben, ohne doch zu wissen, was 46 Das heißt: er lief Gefahr, selbst das zu verlieren, was er besaß, und das war - wenn wir carm. min. 31,46 wörtlich nehmen - nicht eben viel: texit pauperiem nominis umbra tui (sc. Serenae).

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er damit Schlimmes tat (9/10). Eben diesen letzten Gedanken, der wesentlich ist für das Verständnis des Ganzen, begründen die beiden folgenden Distichen (11/14): Orpheus und Vergil, ja selbst Homer werden kritisiert - und niemand findet etwas dabei! Unausgesprochen, doch deutlich genug, liegt darin der Vorwurf, daß Alethius sich selbst als Dichter über jene drei stelle. Der empfindliche, eitle Poetaster ist damit der Lächerlichkeit preisgegeben, der Gedanke abgeschlossen. Scheinheilig gelobt ihm nun Claudian Wohlverhalten für die Zukunft: schon klatscht er Beifall, blaß vor Ergriffenheit ruft er immer wieder Bravo (17/18). So möge ihm denn der Erzürnte endlich verzeihen: er werde ja alles für gut befinden, was immer Alethius vortrage (19/20). Man sieht: das Gedichtchen verliert nichts durch die Streichung der beiden schlechten Verse. Im Gegenteil, der Charakter des Ganzen tritt reiner, klarer hervor. Wird doch dies Stück durch das feine Spiel zwischen Ernst und Heiterkeit, Reue und Spott gekennzeichnet. Claudian vermeidet einen Frontalangriff und erreicht so sein Ziel nur desto sicherer. Das Gedicht bleibt stets hintergründig, wenngleich die Ironie gegen Schluß hin deutlicher zutage tritt. Dieses feine Gewebe zerreißt die Eindichtung auf plumpe und grobe Weise. Was Claudians Hinweis auf die Kritik an jenen drei Dichterfürsten unausgesprochen ließ: die eingefügten Verse suchen es auszuführen, breitzutreten, ohne doch den Sinn tatsächlich zu treffen47. Denn sie schieben Claudians | Auseinandersetzung mit Alethius auf ein anderes, falsches Gleis: nicht dem kaiserlichen Beamten gilt sein Spott, sondern dem eingebildeten Dichter. Nach Tilgung des störenden Verspaares gewinnt das Stück seine ursprüngliche Einheitlichkeit wieder zurück.

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Abschließend gilt es noch zwei Aufgaben zu lösen. Die eine betrifft Birts Einwand gegen Jeeps Athetese, den wir bisher übergingen. Birt bemerkt im Apparat z.St.: " V. 15 et 16 spurios putabat Jeepius; sed quod in inscriptione Alethius quaestor dictus est, explicatur hoc v. 16". Also darin gründeten seine Bedenken (vgl. oben S. 49 [75]), deswegen glaubte er, die Anstöße in accusat und neuter sowie die schlechte Qualität des Ganzen, die ihm kaum völlig ver47 Solche Absicht hat gewiß das Zustandekommen der Zudichtung befördert und ist neben dem oben dargestellten Motiv mit in Anschlag zu bringen.

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borgen geblieben sein dürfte, in Kauf nehmen zu müssen: auf die Erwähnung des Titels quaestor im Gedicht selbst wollte er nicht verzichten. Prüfen wir, was von diesem Einwand zu halten ist! Außer carm. min. 23 bieten die Inscriptiones der kleinen Gedichte noch in drei Fällen Titelangaben zum Personennamen: carm. min. 19. 25. 50. Innerhalb dieser drei Stücke wird der betreffende Titel nie genannt, was ja auch wegen der prosaischen Wirkung oder metrischen Unbequemlichkeit kaum wäre zu erwarten gewesen48. Und selbst wenn Claudian in diesen drei Gedichten auf die Würde der Adressaten in verschiedener Weise lockeren Bezug nimmt, so folgt doch daraus nicht, daß das immer und überall geschehen, oder gar, daß in unserem Gedicht die Titelangabe der Überschrift sich im Gedichttext wiederholen müsse. Umgekehrt fehlt der Titel etwa bei der Deprecatio ad Hadrianum, wo er aufgrund des Gedichtinhalts sehr wohl angebracht gewesen wäre (vgl. bes. v. 34. v. 55). In diesem Punkte läßt sich eben keine Regel, geschweige denn eine zwingende, konstruieren. Die Überschriften der kleinen Gedichte geben ja ebenso wie die Sammlung als Ganzes mancherlei Rätsel auf. Einzelne Überschriften stammen sicher nicht von Claudian selbst. So möchte etwa Birt (praef. p. LXXVII) die Inscriptiones zu carm. min. 12 und 14 dem ersten Veranstalter der Sammlung zuschreiben. Andrerseits verrät zum Beispiel gerade die Titelangabe der Überschrift zu carm. min. 25 zumindest solides Wissen49. Man stünde auf festerem Boden, wenn sich über Art und Zustandekommen | der Sammlung unserer sog. 'carmina minora' Sicheres ausmachen ließe. Aber hier bleibt das meiste ungewiß. Birt (praef. p. LXXVI sq.) glaubt, die Sammlung, so wie sie heute vorliege, könne keinesfalls vom Dichter selbst stammen. Er neigt der Annahme zu, es habe in der ersten Zeit viel mehr solcher Gelegenheitsgedichte von der Hand Claudians gegeben, die nach Gattungen geordnet publiziert worden seien - etwa Briefe und Deprecationes zusammen. Jedenfalls sei unsere Sammlung zu einer späteren Zeit (Mitte des 7. Jh.?) an die bereits seit dem fünften Jahrhundert bestehende, wohl noch von

48 Weder der proconsul (bzw. exproconsule) Gennadius heißt so im Gedicht, noch der tribunus et notarius Palladius, noch der magister equitum Iacobus. Dux Iacobe redet Claudian den letzteren an (50,2. 14), und darin erschöpft sich der Bezug zwischen der Titulatur der Überschrift und dem Text des Gedichts. 49 Vgl. Birt praef. p. XLV mit Anm. 1. Den jungen Palladius nennt Claudian im Gedicht (carm. min. 25 praef. 3f.) nostriqueper aulam Ordinis... consors, und in der Überschrift wird er v. c. tribunus et notarius tituliert. Wenn diese Titulatur tatsächlich, wie Jeep glaubte (Bd. 2 p. XI), durch Kombination mit Claudians Ehreninschrift erschlossen ist, dann doch jedenfalls in früher Zeit, als Basis und Statue noch auf dem Trajansforum zu sehen waren.

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Stilicho selbst angeregte Sammlung der großen politischen Gedichte angeschlossen worden. Es leuchtet ein: angesichts so ungewissen Überlieferungsschicksals der 'carmina minora' in der Frühphase wird man Folgerungen für die Textgestaltung, die sich auf die Gedichtüberschriften stützen, tunlichst zu vermeiden streben. Wir haben keinen Grund, im Falle von carm. min. 23 an der Titulatur quaestor zu zweifeln, aber daß sie auch im Gedichttext selbst erscheinen müsse, ist eine unberechtigte Forderung. Man wird, wie gesagt, gut daran tun, bei der Entscheidung exegetischer und textkritischer Probleme die Überschriften zunächst fernzuhalten. Erheben sich nun aufgrund der immanenten Betrachtung des Stücks so ernste sprachliche, stilistische und sachliche Bedenken gegen die Authentizität des Wortlauts wie hier in unserem Falle gegenüber v. 15. 16, dann ist es unzulässig, die Gedichtüberschrift zur Stütze des Unhaltbaren heranzuziehen. Die Verhältnisse führen vielmehr zu einem anderen Schluß: die Überschrift ist gegenüber dem interpolierten Verspaar das zeitlich Frühere, Ursprüngliche; sie 'inspirierte' den Redaktor. Der inepte Gegensatz: quaestor - pauper erklärt sich auf zwanglose Weise, wenn der Titel bereits vorgegeben war.

9. Schließlich haben wir uns noch mit einer Kombination Jeeps auseinanderzusetzen. Dies ist schon deswegen unerläßlich, weil sie, recht betrachtet, bedeutende Folgerungen für die Claudianüberlieferung nahelegen könnte. Jeep nutzte den Ausfall der Verse 14. 15 in zwei Handschriften, um die Athetese des Distichons 15/16 zu stützen. Er erklärte den Vorgang folgendermaßen (im Apparat z.St.): "Quin etiam in Α et L codicum fonte aliquando id notatum fuerit (sc. versus interpolates esse) signo aliquo in margine posito non dubito; signum autem interpolationis non accurate exaratum videtur fuisse, ut v. 14 et 15 errore omitterent pro v. 15 et 16". Mit den Sigla Α und L bezeichnet Jeep den Codex Ambrosianus Μ 9 sup. (saec. XIII), die eine der beiden Claudianhandschriften des französischen Philologen und Juristen Cuias ( = Μ bei Birt)50, und | den Codex Laurentianus n. 250 (saec. XII - XIII), einen der 50 Die andere ist verschollen, ihre Lesarten lassen sich zum Teil aus der Edition des Claverius (1602) wiedergewinnen. Über den Wert dieses Variantenmaterials handelte der Jubilar, dem diese Untersuchung gewidmet ist [s. in diesem Bande S. 16*], ausgehend von einer bedeut-

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'deteriores', den Birt nicht durchgängig nutzte (vgl. seine Praefatio p. CXX). In diesen beiden Handschriften also ist der Hexameter des fraglichen Distichons sowie der Pentameter des voraufgehenden ausgelassen. Hinzutritt noch, wie aus Birts Apparat ersichtlich, das Zeugnis einer der Haupthandschriften, des Parisinus lat. 18,552 saec. XII - XIII (=P): hier fehlen die Verse zwar nicht, aber v. 16 ist vor v. 14 gestellt, was erst eine spätere Hand berichtigt hat. Gegen die Auswertung des Befunds, wie sie Jeep vornahm, schritt Baehrens in seiner Besprechung ein (s. oben S. 48 [73]). Seines Erachtens erklärt sich der Versausfall in den beiden Handschriften dadurch, "dass der Schreiber ihrer Vorlage von 'Homerus' in v. 13 auf dasselbe Wort in v. 15 abirrte".

Beide Erklärungsversuche besitzen für die Lösung des Problems der Verse 15/16 keinerlei Eigengewicht, weshalb wir jene handschriftlichen Divergenzen bei unserer Behandlung der Stelle absichtlich zunächst unbeachtet ließen. Prinzipiell sind wohl beide Vorgänge möglich. Schreibversehen der von Baehrens hier angenommenen Art gehören zu den bekannten Fehlerquellen. Aber auch Jeeps Einfall könnte unter gewissen Voraussetzungen durchaus zutreffen. Die Entscheidung darüber, welche der beiden Erklärungen den Vorzug verdiene, hängt wenigstens teilweise davon ab, wie man eben über die Authentizität des fraglichen Distichons urteilt. Zwar bleibt Baehrens' Lösung trotz der - unumgänglichen - Athetese der vv. 15/16 immer noch diskutabel, andrerseits jedoch erscheint nun die Kombination Jeeps nicht mehr gänzlich aus der Luft gegriffen. Sie müßte freilich auf eine andere Basis gestellt werden. Eine Semeiose der von Jeep erschlossenen Art wird man sich kaum erstmalig in irgendeiner Zwischenquelle der Überlieferung, vereinzelt und gewissermaßen zufällig angebracht, vorstellen dürfen. Zumindest müßte sie einen älteren urkundlichen Befund widerspiegeln. Woher sollten sonst die Maßstäbe solcher Echtheitskritik genommen sein? Nein: Jeeps Erklärung fügte sich am besten zur Annahme einer wissenschaftlichen Claudianausgabe in der Antike. Denn das in einer solchen Edition vereinigte, kritisch adnotierte Versgut war einer fortschreitenden Auflösung ausgesetzt, und innerhalb dieses oft regellosen Zerfallsprozesses dürften ungenaue Athetesenbezeichnungen populärer Ausgaben eine beachtliche Rolle gespielt haben (vgl. Jachmann, samen Wortinterpolation im carmen De Salvatore: W. Schmid, Ein verschollener Kodex des Cuias und seine Bedeutung für die Claudiankritik: Studi Italiani di Filologia Classica 27/28 (1956)498/518.

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Studien zu Juvenal 252 mit Anm. 2). Die Existenz einer antiken Gelehrtenausgabe scheint im Falle Claudians - ganz unabhängig von Jeeps Kombination und unabhängig überhaupt von diesem Spezialfall - durchaus erwägenswert. Es empfiehlt sich, hier rückschauend einige | allgemeine Überlegungen zur Frühphase der Textgeschichte Claudians anzuschließen.

VI. Das rosige Bild, das Birt (praef. p. CV) von der Beschaffenheit des spätantiken Archetypos unserer Handschriften des sog. 'Claudianus maiof d.h. der großen Gedichte einschließlich der opuscula, aber unter Ausschluß der Bücher De raptu Proserp. und des Paneg. Probini et Olybrii - gemalt hat, bedarf einer gründlichen Korrektur, wie hoffentlich die vorstehenden Blätter gezeigt haben. "Interpolationis ... paene nullum vestigium", verkündete er dort, aber die Art und Weise, wie dieses Ergebnis gewonnen wird, mutet höchst merkwürdig an. Eine ganze Reihe von Versen, die Birt zum Teil selbst im Apparat der Ausgabe beanstandet oder gar schwer beargwöhnt hatte, wird hier auf einmal ohne ersichtlichen Grund rehabilitiert51, in einem Fall wird der früher geäußerte Verdacht ausdrücklich widerrufen (vgl. oben S. 36 [63]), von den beiden Versen, die er auch jetzt noch als Interpolationen gelten läßt (Theod. 279; Stil. 1,304), glaubt er aufgrund der handschriftlichen Divergenz den Archetypos befreien zu dürfen. Der Eindruck drängt sich geradezu auf, daß der hochverdiente Editor auf diesem Gebiete der Claudiankritik noch nicht mit sich selbst ins Reine gekommen war. Denkbar auch, daß sich hier fremde Einflüsse niedergeschlagen haben, denen Birt gerade in der Schlußphase seiner Arbeit am Claudian ausgesetzt war52. Eine Anzahl lohnender, in scharfsinniger Detailarbeit gewonnener Beobachtungen wischte Birt hier gleichsam mit einer einzigen Handbewegung wieder aus (das gilt besonders für Ruf. 1,243; 2,168; Gild. 280; IV cons. 156), Beanstandungen anderer, die er im 51 So ist seine ein wenig mißverständliche Formulierung gemeint: "immo vix ullus certo adulterinus versus in Ω fuisse dici potest; vix enim fuerunt [sc. adulterini!] Eutr. I 281-284. Ruf. 1243. 321. II 168. 486. Gild. 63. 160. 280. IV cons. 616. IV cons. 156". Denn daß alle diese Verse im Archetypos überhaupt nicht gestanden hätten, kann natürlich nicht gemeint sein. Das wäre widersinnig, da in diesen Fällen gar keine urkundliche Divergenz vorliegt. Auch die anschließenden Bemerkungen Birts über Theod. 279 und Stil. 1,304 wären sonst nicht stimmig. 52 Vgl. dazu oben S. 22 9 [50']. Bestätigt wird die Vermutung durch den hier zu IV cons. 156 beigefugten Hinweis auf die Erklärung des Verses durch Koch (Rhein. Mus. 44, 1889, 588).

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Apparat noch ohne Tadel vermerkt hatte (so etwa die Mommsens zu IV cons. 616; Ruf. 2,168), werden hier nachträglich in Acht getan. Es konnte kaum ausbleiben, daß Birt bei solcher Sicht der Dinge dazu geführt wurde, zugleich mit der μεταγραφή durch spätantike Redaktoren auch die philologische Arbeit a m ' Claudianus maior', dem weitaus größten Teil des Gesamtwerks, für die Antike so gut wie ganz in Abrede zu stellen. Claudian sei nicht Schulautor gewesen und habe weder grammatische noch antiquarisch-erklärende Behandlung erfahren: | "hinc illa abstinentia interpolatorum", folgerte er - überdies in eigentümlicher Vermischung der unterschiedlichen Tendenzen antiker Textbehandlung (praef. p. CV). Dabei hatte er selbst durch Darstellung der bedeutenden Wirkung Claudians im fünften und sechsten Jahrhundert (p. LXXVII sqq.) gezeigt, daß der Boden für beiderlei Tätigkeit am Claudian, die wissenschaftliche und die unwissenschaftliche, die erhaltende und die zerstörende, in dieser Zeit bestens vorbereitet war. Claudian, dessen politische Gedichte noch im ersten Jahrzehnt des fünften Jahrhunderts in Form einer Gesamtpublikation an die Öffentlichkeit traten, wurde von Christen wie Nichtchristen, Dichtern wie Prosaikern in allen Teilen des westlichen Reichs gelesen, zitiert, bekämpft (auch aus dem vorhin behandelten Gedicht begegnet übrigens ein Zitat bei Ennodius epist. 2,6: carm. min. 23,13/14). Daß sich einzig die zeitgenössische Grammatik mit dem hochgeschätzten Autor gar nicht sollte abgegeben haben, mutet wenig plausibel an, mögen auch direkte Zeugnisse fehlen: vgl. Birt p. LXXVIII. Angesichts solcher Einstellung Birts zu grundlegenden Fragen der frühen Textgeschichte Claudians wird mancher ungläubig den Kopf schütteln, wenn er vernimmt, daß derselbe Gelehrte seinerseits für einen kleineren Teil des claudianischen Werks spätantike Redaktorentätigkeit zu erweisen suchte. Und doch ist es so. Die Textgestalt der Bücher De raptu Proserpinae, wie sie die zweite Klasse der handschriftlichen Überlieferung dieses Werks bietet, wird nach Ansicht Birts der Arbeit eines "diorthota" verdankt, der "in ipsius antiquitatis exitu" tätig gewesen sei (p. CXLVIII). Wenige, wenn auch auffällige Fakten der handschriftlichen Tradition - wie die Auslassung dreier Versblöcke, die Streichung der in Klasse I fälschlich vor das dritte Buch gesetzten Praefatio zu VI cons, und anderes - genügten Birt, um zu solcher Hypothese zu gelangen. Es erübrigt sich, seine Argumente einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen, da dies bereits von J.B. Hall (Introduction 42/48), auf der Basis selbständiger Sichtung des handschriftlichen Materials, besorgt wurde. Hall

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zeigt, daß die äußeren Daten, die Birt zugrundelegte, entweder korrekturbedürftig sind oder doch eine andere Deutung zulassen, und wenn auch nicht alle Einwände Halls gleichermaßen zu überzeugen vermögen53, so ist doch jedenfalls durch ihn die Schwäche der Birtschen Argumentation sichtbar dargetan. Übrigens bestreitet auch der neue Editor die Möglichkeit redaktioneller Bearbeitung des Textes nicht kategorisch, wenn er auch | glaubt, eine solche allenfalls in mittelalterliche Zeit verlegen zu dürfen. Birts These, allein aufgrund einiger äußerer Fakten der urkundlichen Bezeugung gewonnen, ist von Hall auf derselben Ebene entkräftet worden. Was folgt daraus für das Ziel unserer Untersuchung? Doch nur dies: äußerliche Gegebenheiten der mittelalterlichen Überlieferung, zumal so fragwürdige, wie es die von Birt herangezogenen zum Teil sind, reichen keinesfalls aus, antike Textdiaskeuase glaubhaft zu machen. Eindringende, kritische Interpretation der Dichterverse selbst wird stets die Beurteilung etwaigen äußeren Befunds zu stützen haben, ohne daß sie sich doch auf Fälle dieser Art beschränken dürfte! Gerade da, wo Birt solche Interpretation unbedingt hätte bieten müssen, etwa um das seines Erachtens Lästige, Unbequeme der vom "diorthota" ausgeschiedenen und durch einen eigenen Vers ersetzten Passage rapt. 3,280/360 einsichtig zu machen, hat er es mit einem lakonischen "plane patet" bewenden lassen und damit den Widerspruch geradezu herausgefordert54. Doch kehren wir zum 'Claudianus maior' zurück! Die Spuren spätantiker Bearbeitung trägt der Text noch deutlich an sich, denn es besteht, von anderem einmal abgesehen, kein zwingender Grund, Birts Archetypos von der unter I aufgewiesenen Eindichtung, gar kein Anlaß, ihn von den unter III, IV und V erörterten Texterweiterungen frei zu sprechen. Darüber hinaus scheint die Existenz einer kritischen Ausgabe in der Antike zumindest möglich, ja im Hinblick auf den oben S. 18ff. [47ff.] behandelten Fall Stil. 1,304, der uns auf 53 Die Forderung, sämtliche Textzeugen der kürzeren Rezension müßten die betreffenden Merkmale vollständig und gleichmäßig enthalten, wenn diese selbst für die Tätigkeit eines Redaktors beweiskräftig sein sollten (Hall 44f.), erscheint bedenklich, jedenfalls wofern man, wie Birt, an eine a n t i k e Textbearbeitung denkt. Zwar schafft ein bewußter Akt solche 'Rezension' , doch ist diese damit nicht etwa ein für allemal vor allen Zufälligkeiten eines langen Überlieferungsschicksals geschützt. 54 Doch sehr interessant, die Randbemerkung jenes 'Martinus de Vicomercato* im Leidensis 386 saec. XIV., die Birt aus diesem Anlaß mitteilt (p. CXLVIII Anm. 4)! Hier wird die Authentizität der Verse angezweifelt, ihre Claudians Kunst unwürdige Qualität festgestellt. Hall glaubt, die Notiz biete nichts weiter als eine nachträgliche Erklärung für das Fehlen der Verse in Klasse II, die im Leidensis erst am Schluß hinzugefügt sind. Immerhin enthält die Randnotiz ein sehr entschiedenes Urteil, und der bloße Versausfall mußte nicht notwendig zu solcher Kritik führen.

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die Annahme einer nichtauthentischen Doppelfassung führte, vielleicht gar wahrscheinlich. Die Verhältnisse liegen hier ähnlich wie bei Prudentius55 womit sich denn der Kreis unserer Betrachtungen geschlossen hätte.

Beilage: Das Interpolationenproblem bei Prudentius Das Paradigma, anhand dessen sich die Entwicklung auf dem behandelten Gebiet philologischer Kritik beispielhaft nachzeichnen ließe, liefert, wie eingangs S. 17 [46] erwähnt, der Text des Prudentius. Dies | sicherlich auch deswegen, weil die Philologie früher den christlichen Autoren geringere Aufmerksamkeit schenkte als anderen: so ist in der Prudentiusforschung alles noch frisch und deutlich, eine sonst weitläufige Entwicklung hat sich hier auf wenige Jahrzehnte zusammengezogen und musterhaft abgebildet. Für Bergman, den - übrigens durch und durch konservativen - Editor des Prudentius im Corpus Vindobonense (1926), bedeutete die Existenz von Versinterpolamenten im Prudentiustext noch eine selbstverständliche Tatsache, wie sie ja auch durch die Art des handschriftlichen Befunds vielfach unleugbar bezeugt wird. Dasselbe gilt noch für Klingner, den Rezensenten Bergmans im Gnomon. Doch mit Klingners weithinwirkender Besprechung gewann bereits die These von den authentischen Doppelfassungen an Boden56, die allerdings ihren ansehnlichen Aufschwung auch Pasquali verdankt. Pasquali griff die These in beiden Auflagen seiner berühmten Storia della Tradizione (19341. 19522, 435/7) auf und suchte sie - freilich sehr behutsam und taktvoll - zur Geltung zu bringen. Sein Vorgehen löste namentlich in der italienischen Philologie eine heftige Kontroverse aus57. Aber auch außerhalb Italiens meldeten sich kritische Stimmen zu Wort: Jachmann zweifelte 55 Die Möglichkeit antiker Semeiose im Prudentiustext ist erwogen Philol. 109 (1965) 251 [in diesem Bande S. 6f.]. 56 Vgl. F. Klingner: Gnomon 6 (1930) 48 = Studien zur griech. und röm. Lit. (Zürich/ Stuttgart 1964) 683. Zugunsten einer authentischen Doppellesung ebd. 42f. (bzw. 677f.). 57 Sie ist im einzelnen nachgezeichnet in der gleich zu nennenden Arbeit von Pianezzola 269 (s. unten Anm. 61). Dieser antwortet seinerseits auf die Darstellung von Antonio Salvatore, Studi Prudenziani (Napoli o.J. [1958]) 119ff., der neuerlich wieder für die Existenz authentischer Doppelfassungen im Prudentius eingetreten war.

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entschieden, daß die Annahme authentischer Doppellesungen im Prudentiustext die bestehenden Probleme werde lösen helfen58, Waszink rückte in einem bedeutsamen Fall von dieser These ab59, Wolfgang Schmid wies zwei interpolierte Ersatzfassungen im Prudentiustext nach60 - ich habe diese Entwicklung bereits Philol. 109 (1965) 246 [in diesem Bande S. 1] kurz skizziert, wo zwei bis dahin nicht aufgedeckte Großinterpolamente im Prudentius behandelt sind. Etwa gleichzeitig erschien damals ein wichtiger Aufsatz von Emilio Pianezzola61. Er beschäftigt sich noch einmal mit dem wohl berühmtesten Fall | angeblicher Autorvarianten im Prudentius: mit der handschriftlich bezeugten Doppelfassung der beiden Strophen cath. 10, 9/16. Von diesem Fall waren Klingner und Pasquali ausgegangen, er spielt auch bei den Späteren eine hervorragende Rolle. Pianezzola gelingt der überzeugende Nachweis, daß die überarbeitete Fassung der beiden Strophen nicht vom Autor selbst stammen kann, sondern auf das Konto eines 'rifacitore' zu setzen ist62. Damit ist das wichtigste Bollwerk der Urvariantenlehre bei Prudentius zerstört. Aber längst ist es nicht mehr jene Lieblingstheorie früherer Jahrzehnte, die den Fortschritt der Prudentiuskritik ernstlich bedroht. Eine neue Gefahr tat sich auf. Denn inzwischen erschien die große Prudentiusausgabe von M. Cunningham (1966), welche auf dem ganzen Felde eine nie dagewesene Verwirrung stiftet. "Locus similis" lautet nun das neue Rezept: fast alles63, was bisher 58 G. Jachmann, Das Problem der Urvariante in der Antike und die Grundlagen der Ausoniuskritik: Concordia decennalis, Festschrift Petrarcahaus Köln 1941, 67. 59 Vgl. seine verschiedene Beurteilung von cath. 3,100, zunächst in der Mnemosyne III. ser. 11 (1943) 75/77, dann im Kommentar zu Tert. de anima (Amsterdam 1947) 308. 60 Wolfgang Schmid, Die Darstellung der Menschheitsstufen bei Prudentius und das Problem seiner doppelten Redaktion: Vigiliae Christianae 7 (1953) 171/186. 61 Emilio Pianezzola, Sulla doppia Redazione in Prud. Cath. X 9-16: Miscellanea critica, Teil 2. Aus Anlaß des 150jährigen Bestehens der Verlagsges. u. d. Graphischen Betriebes Β. B. Teubner, Leipzig, hrsg. von Joh. Irmscher (u.a.), Leipzig 1965, 269/286. 62 Die Motive für die Überarbeitung des Textes, die bereits Klingner und Pasquali im ganzen recht erkannt hatten, faßt Pianezzola noch klarer. Aber im Unterschied zu seinen Vorgängern weist er nach, daß diese Motive der Abänderung des ursprünglichen Textes, die übrigens auch qualitativ manche Verschlechterung bringt, nicht für den Dichter selbst irgendwie maßgebend gewesen sein können, weil die erste, die authentische Fassung in allen Punkten den sonstigen Vorstellungen des Prudentius völlig entspricht. Sie lassen sich in seinen Werken vielfach auch außerhalb dieser beiden Strophen aufweisen. Pianezzolas Argumentation ist so erschöpfend, daß dieses Textproblem ein für allemal erledigt sein sollte. In allgemeinerer, methodischer Hinsicht behält sie freilich ihre Gültigkeit, die weit über diesen Einzelfall hinausreicht. 63 Gerade für cath. 10,9/16 neigt Cunningham allerdings der Annahme authentischer Doppelfassung zu, doch erwägt er immerhin auch hier die Möglichkeit eines "locus similis", der vom Rande her 'eingedrungen' sei. Cunningham kannte anscheinend den Aufsatz von Pianezzola noch nicht. Aber im Hinblick auf die Art seiner Behandlung des Problems (S. 53 der Ausgabe, im krit. Apparat) darf fuglich bezweifelt werden, ob er sich durch ihn hätte eines Besseren belehren lassen. Auch in seinem Aufsatz von 1968 (s. unten Anm. 65) erwähnt er Pianezzola nicht, obwohl dort durchaus Gelegenheit dazu gewesen wäre (s. ebd. 119')·

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entweder für Interpolation oder für authentische Doppelfassung galt, soll sich auf das Einwirken von 'Parallelstellen', die am Rande notiert gewesen seien, oder von Randglossen zurückführen lassen. Etliche Ganzverse, ja ein sechs Hexameter füllender Zusatz, den der Berner Prudentiuscodex nach harn. 858 bietet, all das sollen solche vom Rande her 'eingedrungene' loci similes sein! Von wem wurden sie verfaßt, und vor allem: zu welchem Zweck? Soll der sechs Verse umfassende Block dazu bestimmt gewesen sein, als riesige Marginalie sein Dasein zu fristen? Viele Fragen möchte man stellen, zumal Cunninghams Darlegung der Verhältnisse in der Praefatio seiner Ausgabe und in einem späteren Aufsatz (s. unten Anm. 65) gar manche Ungereimtheiten enthält. Es läßt sich denken, wie sehr sich ein solcher Herausgeber gegen die Annahme redaktioneller Bearbeitung des Textes in allen jenen Fällen sträuben wird, wo ihn das Zeugnis der Handschriften nicht zu einer Stellungnahme zwingt. Damit jedoch schließlich auch das paradoxe Gegenbeispiel nicht fehle, wird die | ganze Schlußstrophe des fünften Cathemerinon-Gedichts gestrichen - "re perpensa", wie der Editor im Apparat versichert, aber ohne Angabe triftiger Gründe. Natürlich ist solches Verfahren überhaupt nur bei einem Forscher denkbar, der sich von der Sache selbst, nämlich der Interpolation, kein klares Urteil gebildet hat64. Wenn Klaus Thraede im Gnomon (40, 1968, 689f.) feststellt, Cunningham leugne Interpolationen im Prudentius, "ohne von Begriff und Tatbestand auch nur die leiseste Ahnung zu haben", ja an diesem Punkt erreiche er "die höchste Stufe der Unwissenschaftlichkeit", so sind dies zwar harte, aber leider nicht zu harte Urteile. Am Beispiel Cunninghams zeigt sich, bis zu welchem Grad der Verirrung jener verbreitete Hang, alles andere, nur nicht Interpolationen zuzugestehen, führen kann. Leider besteht trotzdem Grund zu der Befürchtung, daß Cunninghams Behandlung des Interpolationenproblems Schule macht, denn sie hat, wie gesagt, die Zeitmeinung auf ihrer Seite65. Der Schade, der daraus 64 Seine Definition (praef. §75) beweist es: "Interpolationum genera duo sunt, nam textus aut ex humana fragilitate aut dolo malo mutator". Von dem köstlichen "dolo malo" einmal abgesehen: unbewußte, durch menschliches Versagen verursachte Interpolationen sind ein Widerspruch in sich. Cunningham hätte sich jedenfalls bei solcher Anschauung der Dinge nicht auf die Definition von Paul Maas berufen dürfen (in seinem unten Anm. 65 genannten Aufsatz 119')· 65 In der bedeutendsten Bibliographie, über die unsere Wissenschaft verfügt, in der Annee Philologique (Bd. 40, 237), wird ein Prudentiusaufsatz Cunninghams (Transactions and Proceedings 99, 1968,119/141) folgendermaßen resümiert: "Against the theory of deliberate interpolation as suggested by Chr. Gnilka ... and W. Schmid ... Detailed examination of Contra Symmachum II, 4 2 3 - 4 2 7 , Hamartigenia 887-891, and Contra Symmachum II, 143 and 142a-b s h o w s c l e a r l y that these passages are not deliberate interpolations ..." [Sperrung von mir]. Diese naive und einer objektiven Berichterstattung, wie sie allein für jene internationale

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entstünde, ist unübersehbar. Nicht nur für die antiken Autoren selbst, was keiner weiteren Ausführung bedarf66. Noch schwereren Schaden muß auf die Dauer die Wissenschaft | selber davon nehmen. Jachmann hat dies bereits vor vielen Jahren ausgesprochen, als er sich gegen die damals herrschende Urvarianten-Lehre wandte. Er erkannte in ihr ein ebenso gefährliches wie bequemes Mittel. Denn erfahrungsgemäß werde sie wahllos auf alle beliebigen Textvarianten angewandt: "Das führt zu bequemem Geltenlassen des Unwürdigen, es erstickt den Mut zur Entscheidung zwischen gut und schlecht, wahr und falsch, echt und unecht, es untergräbt Sprachkenntnis, Stilempfinden, Wertgefühl" (Urvariante 47). Dem ist nichts hinzuzufügen, höchstens dies, daß die bezeichnete Gefahr heute noch ungleich größer geworden ist. Denn was auf dem Gebiet der Prudentiuskritik zu beobachten ist, zeichnet sich eben auch anderswo ab, zum Beispiel in der Textbehandlung von Ciceros Büchern De officiis 67 . Bibliographie angemessen sein kann, kaum dienliche Parteinahme in einem gelehrten Streit, der noch längst nicht entschieden ist - am allerwenigsten im Sinne Cunninghams (vgl. außer Thraede a.O. auch P. Antin: Revue beige 45, 1967, 990) könnte fast zu der Vermutung reizen, das Resume entstamme der Feder Cunninghams selbst. Doch scheint es gar zu unglaubhaft, daß sich die Mitarbeiter des amerikanischen Büros, das seit einigen Jahren für die Bearbeitung der Publikationen aus den englischsprachigen Ländern verantwortlich ist, ihre gewiß mühevolle Aufgabe auf solche Weise sollten erleichtert haben. Cunningham äußert übrigens in dem genannten Beitrag die Hoffnung, mich von dem Nichtvorhandensein der behandelten Interpolamente zu überzeugen (120). Ich bedaure, diese Hoffnung auf das kräftigste enttäuschen zu müssen. Um nur einen der Gründe zu nennen: zur Lösung der durch das Großinterpolament c. Symm. 2,423/27 bedingten schweren Störung des Kontexts verfallt Cunningham 124 auf eine Ausflucht, die ich voraussah und in dem betreffenden Philologus-Aufsatz (Bd. 109, 2502 [in diesem Band S. 513]) für immer glaubte versperrt zu haben. 66 Unter fortgesetzter interpolatorischer Störung kann, wofern sie nicht aufgedeckt wird, die Wertschätzung eines ganzen Autors leiden, wie das Beispiel Juvenals beweist, den erst Jachmanns "Studien zu Juvenal" endgültig von den abfälligen Urteilen Friedländers und anderer befreit haben. 67 Auch hier gab lange Zeit die Urvarianten-Lehre den Ton an. Sie wurde von dem Jachmannschüler W.J. Brüser in seiner Kölner Dissertation (1948) bekämpft, der eine tiefgreifende interpolatorische Überarbeitung dieses vielgelesenen Textes in der Antike annahm. Seine Ergebnisse fanden volle Berücksichtigung in der Teubneriana von Atzert (19634). Doch unlängst erhob K.B. Thomas Einspruch (Textkrit. Untersuchungen zu Ciceros Schrift De Officiis, Münster 1971 = Orbis Antiquus 26). Thomas glaubt, die schweren Ungereimtheiten des Textes, welche die philologische Kritik besonders seit den Tagen Jacopo Facciolatis (Ausgabe von De off., Venedig 1747) immer wieder beschäftigten, fast alle aus der Arbeitsweise Ciceros erklären zu können. Seine Darstellung ist von Paolo Fedeli (Gnomon 45, 1973, 654/59) sehr kritisch besprochen worden. Das Urteil Fedelis erheischt um so größere Beachtung, als er, was den konkreten Fall von De officiis angeht, gar nicht die Position von Jachmann und Brüser unbedingt teilt. Aber Fedeli weiß den Wert der Forschungen Jachmanns im Ganzen gerecht zu würdigen, und es ist ein unbestreitbares Verdienst des italienischen Philologen, die scharfe 'Abrechnung' mit Jachmanns Leistung, die Thomas seiner Arbeit vorausschickt (7ff.), eindrucksvoll zurückgewiesen zu haben.

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II. Beobachtungen zum Claudiantext

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Doch um zum Positiven zurückzulenken: Jachmann war es auch, der den Weg wies, wie die Prudentiusforschung in diesem Punkte zu fördern, insbesondere jene zweifelhafte These der Autorvarianten bei Prudentius zu überwinden sei (Urvariante 67): durch vergleichende Untersuchung der entsprechenden Erscheinungen bei Prudentius, Ausonius, Paulinus und - so möchte man ergänzen - bei C l a u d i a n ! Denn daß auch aus dem Claudiantext mancherlei zu lernen wäre, darf als sicher gelten. Man dürfte sich freilich nicht ausschließlich an die in Birts Apparat vermerkten Beanstandungen halten, sondern müßte über den gesamten Textbestand von neuem Rechenschaft abzulegen suchen, wobei voraussichtlich noch mancher Anstoß einer angemessenen Lösung harrte68. Die Weitung des Blickfelds, die Befreiung der Kritik aus ihrer jeweiligen Enge könnten Fortschritte gerade für Claudian und Prudentius erbringen.

68 So waren Birt die beiden Verse Get. 265/66 offenbar gar nicht aufgefallen. Hierzu findet sich im Apparat nichts bemerkt. Und doch nahm der Kommentator Schroff völlig zu Recht Anstoß: vgl. Antike und Abendland 18 (1972) 15228.

III. KRITISCHE BEMERKUNGEN ZU PRUDENTIUS' 'HAMARTIGENIE' * Einige der erklärenden Notizen zu Prudentius' 'Hamartigenie', die ich (Hermes 111, 1983, 338ff.) im Anschluß an den Kommentar R. Pallas, Pisa 1981, beisteuerte, betrafen jene Partie des Gedichts, in der Prudentius Lots Flucht aus Sodoma, den Ungehorsam seiner Frau und ihre Verwandlung in eine Salzstatue beschreibt (nach Gen. 19). Anhand dieses Stücks läßt sich besonders gut dartun, daß die Kommentierung von der kritischen Durchdringung des Texts begleitet sein muß. Denn der Passus enthält Anstöße, die sich mit exegetischen Mitteln nicht beheben lassen und die dem Dichter selbst nicht angelastet werden können. Vielmehr führt eindringende Betrachtung zu dem Ergebnis, daß der Abschnitt von größeren Interpolationen förmlich durchsetzt ist, mag auch der handschriftliche Befund hierfür keinerlei äußere Stütze bieten. Solche "Interpolationshäufungen" sind freilich für den Zustand des Prudentiustexts insgesamt nicht charakteristisch, sie stellen überhaupt innerhalb des antiken Interpolationswesens durchaus Sonderfälle dar1. Aber daß sich diese Erscheinung gerade hier zeigt, ist wiederum gar so unerklärlich nicht. Memores estote uxoris Loth! heißt es im Lukasevangelium (17,32), und schon wegen dieses Herrenwortes mußten sich Schuld und Strafe der Frau dem christlichen Bewußtsein scharf einprägen. Philons allegorische Auslegung: das schuldhafte Rückblicken nach Sodoma bedeute die Hinwendung zu den eitlen, bösen Weltdingen, zieht sich in mancherlei Variation durch die Väterliteratur2. Zu dem moralischen und exegetischen Interesse des biblischen | Hermes 112, 1984, 333/352. 1 Hierzu G. Jachmann, Textgeschichtliche Studien (Beiträge zur Klassischen Philologie 143), Königstein/Ts. 1982, 562. 787. 824. Diesen Sammelband zitiere ich im folgenden abgekürzt, desgleichen den anderen: G. Jachmann, Ausgewählte Schriften (Beiträge zur Klassischen Philologie 128), Königstein/Ts. 1981. 2 Philo somn. l,247f. (vgl. leg. alleg. 3,213). Weitere Stellen bei R. Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius (Zetemata 42) München 1966, 143. Ergänzungen sind möglich. Für Prudentius ist Ambrosius (fug. saec. 1,2 [CSEL 32/2,164]; vgl. expos, ev. I x . 8,45 [CSEL 32/4,412]) von besonderer Bedeutung; wegen der Thematik des Lehrgedichts wird man auch an Tert. adv. Marc. 4,23,11 erinnern dürfen. Auch die Kunst behandelt den Gegenstand. Zu nennen sind zwei stadtrömische Sarkophage (Hinweis H. Brandenburg): der große Lotsarkophag aus der Mitte des 4. Jh. (F.W. Deichmann/G. Bovini/H. Brandenburg, Repertorium der christlich-antiken Sarkophage 1, Wiesbaden 1967, Nr. 188, Taf. 45) und ein weiterer, etwas späterer (ebd. Nr. 244, Taf. 55 [im Text S. 142 irrtümlich "Job" statt "Lot"]).

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Berichts gesellte sich die Legende von der wunderbaren Erhaltung der Statue. Bereits Philon kennt sie, und Josephus stützt sie durch die Versicherung, jene Salzsäule selbst gesehen zu haben3. Endlich eröffnete sich dem gebildeten Christen der reizvolle Vergleich mit der Versteinerung Niobes, den Clemens v. Alexandrien auszieht (protr. 103,4) und den Prudentius durch einzelne Anklänge an Ovid met. 6,301/12 wenigstens andeutet4. Das alles trug dazu bei, die Verwandlung der Frau Lots zu einem anziehenden Sujet dichterischer Gestaltung zu machen. Prudentius, Avitus (carm. 2,375/99), das ps.-cyprianische 'Carmen de Sodoma' (V. 115/26) und - in geringerem Maße - Sedulius (carm. paschal. 1,121/25) und Marius Victorius (aleth. 3,755/60) zeugen davon. Daraus folgt aber auch, daß solche Thematik innerhalb eines Werks, das nachweislich interpolatorischer Diaskeuase ausgesetzt war5, in erhöhtem Maße zu allerlei Zudichtungen herausfordern konnte. Zu dem Interpolationenproblem bei Prudentius ist in jüngerer Zeit mehrfach Stellung genommen worden, so daß ich mir allgemeine, einführende Hinweise ersparen kann6. Ich gebe zunächst den Text im nötigen Umfang, wobei ich die beanstandeten Verse gleich in Klammern schließe, und lasse dann der Reihe nach die Begründungen der vier Athetesen folgen: 723 725

accipe gestarum monumenta insignia rerum, praelusit quibus historia spectabile signum! Loth fugiens Sodomis ardentibus omnia secum pignera cara domus properabat sede relicta nubibus urbicremis subducere, sulpure cum iam

3 Philo I.e.; Joseph, antiqu. 1,203. Unter den Christen setzt zuerst Iren. adv. haer. 4,31,3 (SC 100/2,794f.) die Legende voraus. Außer Prudentius tradieren sie auch Avitus und der Verfasser des 'Carmen de Sodoma' an den oben im Text genannten Stellen. Eine interessante Notiz zur Sache macht Thomson in der Prudentiusausgabe der Loeb Library vol. l,256f. 4 Vgl. A. Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o.J. (1958), 48/52. Dazu s. unten Anm. 18. 5 Das beweist die Existenz handschriftlich bezeugter Zusatz- und Ersatzfassungen im Prudentiustext. Einige dieser Fälle wie etwa die binneninterpolatorische Erweiterung des Verses ham. 488 durch eine unechte Alternativfassung, die uns gewisse Handschriften des neunten und zehnten Jahrhunderts, darunter der Berner Codex U, bewahrt haben - neben dem originalen Versgut und dazu in doppelter Ausfertigung bedürfen erneuter Durchleuchtung, weil sie die Annahme einer antiken wissenschaftlichen Prudentiusausgabe nahelegen, deren regelloser Zerfall das Bild der Überlieferung, wie es sich uns darbietet, wesentlich bestimmt hat. In diese Gesamtentwicklung ist auch der Codex vetustissimus (Puteanus, saec. VI) einzuordnen. Die Vorstellung, er biete einen reinen, von Interpolationen freien Text, erweist sich immer mehr als haltlos. 6 Vgl. Palla in der Einleitung des Kommentars p. 24/29. Auch auf meinen unten Anm. 25 genannten Aufsatz kann ich hier verweisen.

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nimboso ignitus caelum subtexeret aer \ flagrantemque diem crepitans incenderet imber. 730 angelus hanc hospes legem praescripserat ollis emissus uirtute dei sub imagine dupla, omnis ut e portis iret domus utque in apertum dirigeret constans oculos nec pone reflexo lumine regnantes per moenia cerneret ignes: 735 'nemo, memor Sodomae, quae mundi forma cremandi est, ut semel e muris gressum promouerit, ore post tergum uerso respectet funera rerum!' Loth monitis sapiens obtemperat, at leuis uxor mobilitate animi torsit muliebre retrorsus 740 ingenium Sodomisque suis reuocabilis haesit. traxerat Eua uirum dirae ad consortia culpae, haec peccans sibi sola perit: solidata metallo diriguit fragili saxumque liquabile facta stat mulier, sicut steterat prius, omnia seruans, 745 [caute sigillati longum salis effigiata,]

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et decus et cultum frontemque oculosque comamque [et flexam in tergum faciem paulumque relata menta retro, antiquae monumenta rigentia noxae.] liquitur ilia quidem salsis sudoribus uda, sed nulla ex fluido plenae dispendia formae sentit deliquio, quantumque armenta saporum attenuant saxum, tantum lambentibus umor sufficit attritamque cutem per damna reformat, hoc meruit titulo peccatrix femina sisti infirmum fluidumque animum per lubrica soluens consilia et fragilis iussa ad caelestia. uoti propositum contra non conmutabile seruat Loth ingressus iter nec moenia respicit alto in cinerem conlapsa rogo populumque perustum et mores populi, tabularia, iura forumque, balnea, propolas, meritoria, templa, theatra et circum cum plebe sua madidasque popinas. quidquid agunt homines, Sodomorum incendia iustis

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ignibus inuoluunt et Christo iudice damnant. [haec fugisse semel satis est, non respicit ultra Loth noster, fragilis sed coniunx respicit et, quae fugerat, inuerso mutabilis ore reuisit atque inter patrias perstat durata fauillas.] en tibi signatum libertatis documentum, quo uoluit nos scire deus, quodcumque sequendum est, \ sub nostra dicione situm passimque remissum alterutram calcare uiam. duo cedere iussi de Sodomis: alter se proripit, altera mussat, ille gradum celerat fugiens, contra illa renutat; liber utrique animus, sed dispar utrique uoluntas. [diuidit hue illuc rapiens sua quemque libido, talem multa sacris speciem notat orbita libris:] Aspice Ruth gentis Moabitidis et simul Orfan! illa socrum Noomin fido comitatur amore, deserit haec ... eqs.

V. 745 Hier bleibt man zunächst an dem Wort sigillati sc. salis hängen. Was bedeutet es? "Imaginati, simulati" erklären die alten Glossen des Iso von St. Gallen (bei Arevalo unter dem Text abgedruckt), und Bergman gibt an: "sigillatus = in signum formatus" (im Index der Ausgabe p. 563). Stam und Palla wiederholen diese Erklärung, und in der Tat: ein Wort solchen Sinnes müßte man hier erwarten. Aber sigillatus heißt: "mit Figuren verziert". Die plagae sigillatae bei Varro Men. frg. 434 sind Bettdecken mit Figurenmustern7, die putealia sigillata bei Cicero ad Att. 1,10,3 reliefgeschmückte Brunneneinfassungen, die scyphi sigillati Verr. 4,32 Becher mit figürlichem Schmuck. Doch wo eine Parallele fehlt, wird sie leicht erfunden. Stam erklärt kurzerhand: "See for this meaning (sigillatus = in signum formatus) Apul. met. 2,19 vitrum fabre sigillatum", und Palla, wie so oft, folgt dem Vorgänger 7 Über die "Malereien der Webekunst" s. Marquardt-Mau, Privatleben2 533 mit Anm. 4, wo auch die serica sigillata (erwähnt Cod. Theodos. 15,7,11 - s. oben im Text) richtig eingeordnet werden. Vgl. ferner Friedländer, Sittengeschichte9 3 , 4 2 , und Hug: PW 2 A, 1923, 2279, 22ff. zum opus sigillarium aus verschiedenem Material (Stuck, Ton, Marmor etc.).

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bedenkenlos. Apulejus zählt an jener Stelle kostbares Speisegerät auf, darunter wertvolle Trinkgefäße: ampli calices, vitrum fabre sigillatum, crustallum inpunctum und anderes mehr. Warum soll sigillatus hier etwas anderes heißen als bei Cicero? Etwa weil das Material Glas ist? Als ob es nicht die Portlandvase gäbe! Oder den großen Krug aus Pompeji im Neapler Museum (abgebildet ζ. B. bei F. Neuburg, Antikes Glas, Darmstadt 1962, Taf. 74.75) und andere Prachtstücke der antiken Glasindustrie! Als ob nicht Martial von den toreumata vitri (14,94; vgl. 12,74,5; 11,11,1) spräche, nämlich reliefverzierten gläsernen Trinkgefäßen! Das vitrum fabre sigillatum ist ja auch längst von dem Fachmann Anton Kisa (Das Glas im Altertume, Bd. 2, Leipzig 1908, 590f.) als Beispiel reliefierten Glases besprochen worden, und nur die Art des Reliefs - Überfangrelief, geformtes, geschnittenes - kann der Diskussion unterliegen. Zur Sache ist ferner Blümner, Technologie 4,404 zu vergleichen sowie Mary Luella Trowbridge, Philological Studies in Ancient Glass, | Urbana 1928 ( = University of Illinois Studies in Language and Literature, vol. 13), 109f. Das Vorgehen der beiden Prudentiuskommentatoren ist mir umso unbegreiflicher, als sie beide einhellig auf Forcellinis Lexicon totius Latinitatis verweisen, wo die Verhältnisse s. v. sigillo vollkommen richtig wiedergegeben werden: sigillatus "sigillis seu imaginibus ornatus, ornato di figure, di rilievi, istoriato", wozu auch die Apulejus-Stelle angeführt ist; sigillatum sal für statua [!] salis steht auch bei Forcellini völlig isoliert. Nun bildet dieser Befund allein gewiß keinen ausreichenden Grund für die Athetese des Verses. Es wäre ja denkbar, daß sich die Bedeutung des Worts in der Sprache erweitert hatte und nur zufällig kein sonstiger Beleg für sigillatus = in signum formatus auf uns gekommen ist; oder daß der Dichter selbst für den Zweck der vorliegenden Stelle schöpferisch tätig wurde. Ganz ausschließen läßt sich zunächst weder das eine noch das andere; aber beides ist doch auch von vornherein unwahrscheinlich, weil sigillatus als technischer Begriff festgelegt war, und zwar zu Ciceros oder Apulejus' Zeit ebenso wie zu Zeiten des Prudentius und später8: tentoria sigillata sind figürlich verzierte Lustzelte (Treb. trig. tyr. 16,1), serica sigillata ebensolche Seidenkleider (Cod. Theodos. 15,7,11), und nicht anders vorzustellen hat man sich ein cilicium sigillatum (Ven. Fort, vita Radeg. 6,16). Auf das Material kommt es natürlich nicht an. Ob Marmor, Metall, Glas oder Textilien, gleichviel: sigillatus heißt stets dasselbe: "mit 8 Für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in das Zettelmaterial des Thesaurus Linguae Latinae, München, danke ich Herrn Direktor Dr. P. Flury.

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sigilla verziert". Der moderne Fachausdruck "terra sigillata" ist also ganz korrekt gebildet; er bezeichnet figürlich oder ornamental verziertes Tongeschirr9. Doch gehen wir weiter! Was heißt longum! Als Zeitadverb oder inneres Objekt im Sinne von diu begegnet das Wort seit Plautus (Pseudol. 687 nimis diu et longum loquor), Lukrez (6,519) und der augusteischen Dichtung (Brink zu Hör. ars 459 longum Ciamet; Börner zu Ov. met. 5,65 longum... laetabere\ ferner ThLL 7,1643, Z. 30/61). Prudentius gebraucht es so per. 10,393 longum silet und per. 4,129: Cruda te longum tenuit cicatrix Et diu venis dolor haesit ardens. Aber wie das Neutrum hier - ham. 745 - im Vers steht, kann es nur zu sigillati, allenfalls noch zu effigiata, gehören. Rückbezug auf servans, wie ihn Pallas Übersetzung anzudeuten scheint ("e conserva per lungo tempo tutte le sue caratteristiche effigiate in una statua di sale"), ist pure Gewalt. J. von Kamptz ordnet die Stelle im Thesaurus s. v. longus (7,1643, Z. 58f.) richtig ein und schreibt nur V. 745 aus, gibt also zu erkennen, daß er das Wort ebenfalls richtig - auf sigillati (effigiata?) bezieht; über den Sinn, oder besser: Unsinn, der so entsteht, legte er sich offenbar keine Rechenschaft ab. Denn die Verwandlung der Frau in die Salzsäule war Sache eines | Augenblicks, des Moments, da sie sich umwandte, und nichts Törichteres ließe sich hier vorstellen als der langsame Prozeß bildnerischer Arbeit, wie von Menschenhand (sal longum, i.e. diu, sigillatum, effigiatum). Was man hier erwartet, im Text aber eben gerade nicht vorfindet, schreibt Stam (p. 231) in den Kommentar: "longum ... adv.: for a long time". Als ob in longum dastünde! Stams Hinweise auf die vermeintlichen Parallelen per. 10,393 und 4,129 (s. oben) verraten, daß er die beiden Ausdrücke longum und in longum (wie longum in aevum, in aeternum: ThLL 1. c. 1642,81ff.) einfach für austauschbar hält. Das ist falsch, und zwar nicht nur unter rein grammatischem Aspekt (HofmannSzantyr p. 40 und p. 276), sondern auch unter semasiologischem. Es mag Fälle geben, in denen vom Sinn her sowohl das eine wie das andere - longum und in longum - passend wäre, doch deswegen ist es noch längst nicht erlaubt, beiderlei Redeweisen schlechterdings gleichzusetzen, so daß etwa das eine überall an die Stelle des anderen treten könnte10. Hier, neben sigillati - dieses 9 Daß der moderne Begriff im weiteren Sinne auch für die sogenannte "einfache" terra sigillata verwandt wird, tut nichts zur Sache. Vgl. H. Comfort: PW Suppl. 7, 1940, 1295/97. 10 Der Vers Verg. ecl. 3,79: et longum 'formose, vale, vale', inquit, 'Iollastellt insofern einen gewissen Sonderfall dar, als die antike Erklärung (Serv. ad loc., p. 39 Thilo) den Bezug von longum auf vale vertrat (statt auf inquit, wie von den moderneren Herausgebern - Sabbadini/

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verstanden im üblicherweise unterstellten Sinne (= in signum formati) - oder effigiata, ergäbe nur in longum einen vernünftigen Gedanken. Wie denn auch Lavarenne mit kosmetischer Geschicklichkeit übersetzt: "(la femme) metamorphosee p o u r l o n g t e m p s " . Hierzu könnte man Prud. Symm. 1,153 longum ... processit in aevum\ 2,167 longum servatur in aevum vergleichen (in longum hat Prudentius nie), aber nur um zu verdeutlichen, was im Text stehen müßte, damit man reden kann, wie Lavarenne redet. Wo solche Dinge zusammentreffen, begründen sie den Verdacht auf Fälschung des ganzen Verses. Und der Gesamteindruck der Zeile sowie die Unklarheit ihres syntaktischen Zusammenhangs mit dem originalen Wortbestand erhärten diesen Verdacht. Fragen wir uns: wozu gehört effigiata? Da die Einrahmung des Verses durch Attribut und Substantiv - freilich regelmäßig in dieser Reihenfolge, nicht in der umgekehrten (Norden, Aen. VI, p. 391f.) - zu den beliebten Wortsymmetrien des lateinischen Hexameters gehört, könnte man gefühlshaft dazu neigen, caute ... effigiata (Ablativ) zu verbinden. Aber | das hieße, daß nicht die Gestalt der Frau, sondern die Gestalt eines Felsens gebildet ward", ist also unsinnig. Andrerseits: daß man jenem Pseudo-Prudentius, der das monstruose Wortgefüge sigillati longum salis schuf, die vom Sinn her ebenbürtige Junktur caute ... effigiata keinesfalls zutrauen dürfe, steht mir durchaus nicht fest. Doch versuchen wir, Besseres herzustellen! Dann bleibt nur, effigiata entweder mit Bergman (Index der Ausgabe p. 514 s. v. effigiare), Lavarenne, Stam als Nominativ Sing, auf die Frau zu beziehen (haec, V. 742; mulier, V. 744) oder mit Thomson, Cunningham, Palla (p. 280) als Akkusativ Plur. auf omnia (V. 744), wobei im ersteren Fall nach servans, im letzteren nach prius interpungiert wird12. Ich bekenne jedoch, daß ich die Verse weder so noch so Castiglioni etwa oder Mynors - angenommen), was dazu führte, daß Claudian rapt. 2,234 sis memor ο longumque vale ... eqs. bildete und ebenso Ennod. epist. 2,24 vale ergo longum. Aber dieses longum vale ist ein Stück Gelehrsamkeit, wie Härtel im Index der Ennodius-Ausgabe (CSEL 6,682 s. v. longus) richtig vermerkt: "ad exemplum Vergil. Ecl. III 79 ... " (Ennodius hat sonst oft - sechzehnmal - in longum). Im übrigen bemerkt Servius 1. c.: sane 'longum vale' ita ait, ut 'torvum clamat' [Aen. 7,399f.]: pro adverbio nomen posuit. Also selbst longum vale verstand man in Analogie zu torvum clamare (longum clamare, dulce ridere etc.). Nicht einmal von hieraus ergibt sich eine Legitimation für longum sigillare im Sinne von in longum sigillare, sondern wieder nur für longum = diu. 11 Prudentius' Gebrauch des Verbums effigiare läßt diesbezüglich keinen Zweifel zu, vgl. per. 11,126 innerhalb einer Bildbeschreibung: (picta species) effigians tracti membra cruenta viri, i.e. Hippolyti martyris. So mehrmals effigiare von der Formung des Leibes und der Seele durch die Hand des Schöpfers, z.B. ham. 117f. condidit ipse hominem, lutulenta et membra coegit Effigians, quodmorbus edat... eqs. 12 Ich ergreife die Gelegenheit, in Erinnerung zu bringen, was Jachmann einst über Properz schrieb: daß der Dichter keine Kommata setzte und auch nicht zu setzen brauchte, weil er seine Worte recht zu setzen wußte (Schriften 465). Für Prudentius - den echten, versteht sich - gilt dasselbe.

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ohne Anstoß zu lesen vermag. Faßt man V. 745 effigiata als Nom. Fem. Sing., wird die Reihe der Akkusative in V. 746 von ihrem Bezugswort omnia (Akk.) in V. 744, das sie inhaltlich entfalten, auf mißliche Weise abgetrennt, der Fluß der Worte künstlich gestaut, indem effigiata noch einmal auf servans (744), facta (743), solidata (742) zurücklenkt, bevor omnia seine notwendige Spezifizierung erhält. Umgekehrt: folgt man der Gedankenbewegung ab V. 742: haecpeccans sibi solaperit... eqs. Zug um Zug, wie es sich gehört, wird man durch die ganze Art der Hervorhebung der Person des Weibes, insonderheit durch die Reihe der partizipialen Nominative solidata, facta, servans darauf geführt, auch effigiata so zu nehmen. Aber wie dem auch sei: schon die Unsicherheit der grammatischen Beziehung, die unbestreitbar ist und durch die divergierende Haltung der Herausgeber bezeugt wird, ist keineswegs eine Kleinigkeit und stellt ein weiteres Verdachtsmoment dar. Über den Erfolg der Operation entscheidet freilich im Letzten die Wiederherstellung des gesunden Zustands. Der beanstandete Vers liegt wie ein totes, überflüssiges Stück im lebendigen Gewebe der prudentianischen Poesie. Wird es entfernt, gewinnt die Passage Kraft und Klarheit zurück, ohne auch nur das Geringste zu verlieren: 744 746

stat mulier sicut steterat prius omnia servans et decus et cultum frontemque oculosque comamque. |

V. 745 ist also von fremder und grober Hand eingeschoben worden. Aber warum? Des S a l z e s wegen, wie ich glaube. Prudentius bezeichnet das Material der Statue zunächst kühn durch die Begriffe metallum (fragile) und saxum (liquabile), indem er nach Art eines doppelten Oxymoron zugleich Härte wie Brüchigkeit bzw. Löslichkeit des Bildnisses und somit das Wunderbare seiner dauernden Erhaltung zum Ausdruck bringt. Er durfte das, nicht nur weil die biblische Erzählung überaus bekannt war, sondern weil das Material kurz darauf in V. 749 - das heißt, streicht man den gleichfalls interpolierten Zusatz V. 747/48: in der auf V. 746 unmittelbar folgenden Zeile - durch salsis sudoribus eindeutig genannt, dazu der Stein in V. 751/53 als Salzlecke des Viehs (saporum ... saxum) beschrieben war. Aber die absichtsvolle Kühnheit jener dichterischen Umschreibungen in V. 742f. schien dem Interpolator erklärungsbedürftig: er vermißte das Wort s a l , das er in der Bibel gelesen hatte (Gen. 19,26 respiciensque uxor post se versa est in statuam s α Iis), und deswegen flickte er seine Zeile ein, die den Begriff enthielt: sigillati ... salisl Der Vers fiel

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freilich schlecht aus, ließ sich auch schlecht der Umgebung einpassen. Aber es ist eben nicht jeder ein Prudentius, und vollends bei so schwierigem Gegenstande, dessen künstlerische Bewältigung einiges Raffinement erfordert, mußten die Schwächen eines Poetasters fast notwendig offen hervortreten. Wie der Fälscher auf das Wort sigillati verfiel, vermag ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Es ist auch unbillig, Aufschluß darüber zu fordern, da an ein Interpolament nicht derselbe exegetische Maßstab angelegt werden darf wie an echtes Dichterwort. Aber ich vermute, daß der eindrucksvolle, wuchtige Vers 769: En tibi signatum libertatis documentum ... hierbei eine gewisse Rolle 13 gespielt hat .

V. 747/48 Kaum ist die eine Barriere fortgeräumt, erhebt sich schon die nächste. Sie zu sehen und die Störung zu empfinden, ist allerdings eher Sache des Geschmacks als der Beobachtung grammatischer Tatsachen oder gedanklicher Zusammenhänge. Schwerer als sonst fällt hier die allgemeine Vorstellung ins Gewicht, die sich der Kritiker von der künstlerischen Physiognomie des Dichters gebildet hat. Ich fasse mich möglichst kurz. Prudentius will die genaue, porträthafte Bewahrung der Einzelzüge des Weibes in dem versteinerten Bilde hervorheben. Darum läßt er den Begriff der Vollständigkeit (744 omnia servans) in eine Reihe verschiedener Details auslaufen: | 746

et decus et cultum frontemque oculosque comamque.

Damit ist ein Abschluß erreicht, die Häufung der Konjunktionen wirkungsvoll eingesetzt. Gewiß wird man nicht eine Regel konstruieren wollen, als ob eine durch das beliebte Hexameterende -que -que geschlossene Reihe nicht noch durch ein oder mehrere Glieder fortgeführt werden dürfe14. Aber jedermann sollte eigentlich sehen, daß es hier nach: frontemque oculosque comamque 13 Sigillo in der Bedeutung "zu einem Bilde (einer Statue usw.) formen" mag weiterhin in den Lexika unter der Angabe ham. 745 ein einsames Dasein fuhren wie bisher (außer Forcellini vgl. etwa Souter, Glossary und Blaise s.v.). Aber den Namen des illustren Dichters muß man sich in Klammern geschlossen denken: [Prud.]. Denn auf sein Konto geht derlei nicht. 14 Beiwege: durch gekünstelte Interpunktion pflegen die Verse psych. 707 und 708 vereint zu werden: 705 circumstat propere strictis mucronibus omnis

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nicht gut weitergehen kann: et... f a c i e m . Das fügt sich nicht, wirkt nach den Details wie ein Rückfall ins Allgemeine. Dazu die seltsame Verrenkung: paulumque relata Metita retro. Eine Wendung des Antlitzes in tergum sollen wir uns vorstellen und zugleich eine geringe (paulum\) Rückwärtsbewegung des Kinns15. Was der Verfasser erreichen wollte, ist klar: das zweite Glied paulumque ... retro sollte das erste et... faciem variieren, wie das ja in der Tat eine aus der Poesie seit Vergil wohlvertraute Manier ist (s. unten S. 82f. [346]). Aber die Variation mißlang. Durchpaulum wird die Aussage des ersten Glieds teilweise zurückgenommen, Unsicherheit und Unanschaulichkeit verbreitet - alles so recht nach Interpolatorenart. Überhaupt das Kinn des Weibes! Der echte Dichter läßt auch noch der Versteinerten ihre Reize ( d e c u s , cultum), und schön paßt dazu die Erwähnung der Stirn, der Augen, des Haars. Aber was sollen hier die Kinnladen? Gut steht menta z.B. per. 10,908 in der Passionsschilderung: dem Romanus schnitt man die Zunge heraus, und | nun fließt das Blut über das Kinn des Märtyrers herab: perfusa pulcher menta russo stemmate Fert... eqs. Auch sonst macht die Erwähnung des Kinns bei Prudentius überall guten Sinn, vgl. ham. 410 (Bart); psych. 592 (Würgeszene); per. 2,283 (speicheltriefendes Kinn als ekles Motiv); 10,560 (Detail der Folter). Aber in der Beschreibung des Frauenantlitzes können die Kinnbacken nur stören. Man hat den Eindruck, daß sie wegen des albernen Wortspiels menta ... monumenta in den Vers gebracht wurden. Der Anklang ist schlechterdings unüberhörbar, so wenig auch die Kommentatoren davon Notiz nehmen. Allein virtutum legio exquirens fervente tumultu et genus et nomen, patriam sectamque, deumque quem colat et missu cuiatis venerit. illa exsanguis turbante metu: 'Discordia dicor, 710 cognomento Heresis, deus est mihi discolor', inquit, ... eqs. Die gewaltsame Trennung der durch -que -que verknüpften Glieder am Versende 707 (Bergman, Lavarenne, Thomson, Guillen, Cunningham: also alle neueren Editoren) und damit die Störung des beliebten Hexameter-Ausgangs (Norden, Komm, zu Aen. VI p. 228. 197) wird durch V. 708, der zudem durch das seltene, archaische cuiatis (in der Dichtung nur bei Plautus und Accius) hervorsticht, beinahe erzwungen. V. 708 dürfte Alternativfassung zu V. 707 sein, natürlich interpolierte. Auch das Pronomen illa paßt ins Gesamtbild; s. Jachmann, Schriften 374f. über die Vorliebe der Interpolatoren für Pronomina. Man könnte sich denken, daß hier gerade das Fehlen eines deiktischen Fürworts den Anlaß der Interpolation bildete. Jedenfalls schloß der Dichter die Reihe mit den durch -que -que verbundenen Gliedern, ganz wie ham. 746 und apoth. 147f.: haec ait et varios iubet obmutescere cantus, Organa, sambucas, citharas calamosque tubasque. 15 Wo von einer Bewegung des Kinns die Rede ist, ist es ein Herabsinken auf die Brust (Klepl: ThLL 8, 783, Z. 72ff.: "de motu menti"). Mentum intorquere (Cie. de orat. 2,266) gilt als abnorme, lächerliche Angewohnheit eines Redners. 707 708

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schon solche törichte Spielerei drückt dem Einschub das Brandzeichen der Fälschung auf 6 . Im übrigen nimmt die Aussage: antiquae monumenta ... noxae ungeschickt die Deutung der versteinerten Gestalt vorweg, die erst mit V. 754 beginnt: hoc meruit titulopeccatrix femina sisti... eqs.17. Wir befinden uns ja hier (742 solidata / 753) noch innerhalb des schildernden Teils. Auch diesmal läßt sich das Motiv der Einfälschung mit einiger Sicherheit erfassen. Das Gebot Gottes, nicht zurückzublicken (Gen. 19,17 noli respicere post tergum), hatte Prudentius zweimal ausgedrückt, in indirekter Rede: 733f. nec pone reflexo Lumine ... cerneret ignes, und in direkter: 736f. (nemo) ore Post tergum ν er so respectetfunera rerumn. Namentlich die zweite Formulierung drückt in voller Anschaulichkeit eine Rückwendung des Antlitzes aus. Es ist nun ein psychologisch feiner Zug, daß der Dichter bei Darstellung der Gebotsübertretung durch die Frau (739f.) nicht platterdings wiederholt, was sie nicht tun durfte und doch tat, sondern stattdessen die geistige Ursache ihres Ungehorsams bildlich faßt: "sie wandte ihren weiblich-schwachen Sinn zurück". Was sie äußerlich tat, ist nach alledem sonnenklar, und es brauchte nicht gesagt zu werden, daß sie, erstarrt im gleichen Augenblick und in gleicher Haltung (744), mit rückgewandtem Gesicht dastand. Aber dem Interpolator war das nicht klar genug. Jene schöne, psychologisch motivierende Bemerkung: torsit muliebre retrorsus Ingenium (739f.) vermochte sein gröberes Empfinden nicht zu befriedigen. Da der Dichter so nachdrücklich erklärte, daß die Statue bis ins Einzelne der Lebenden glich, schien ihm die Rückwendung des Haupts nicht genügend betont. Daher sein plumper Zusatz. |

16 Salvatore freilich a.O. 51 scheint in der Erwähnung der Kinnladen eine besondere Feinheit zu entdecken. Dabei lehrt gerade der Vergleich mit Ovids Niobe den Unterschied zwischen Dichter und Dichterling in der Behandlung solcher Details: met. 6,304f. in vultu color est sine sanguine, lumina maestis Stant inmota geni s ... eqs. Die Augen stehen starr in den Höhlen (Wangen): schöner Ausdruck des versteinernden Schmerzes. 17 Zur Bedeutung des Ausdrucks: hoc ... titulo s. Hermes 111, 1983, 353f. 18 In Anlehnung an diese Wendungen aus der nächsten Umgebung hat der Fälscher seinen Versbeginn: et flexam in tergum faciem (747) gebildet, so daß aus Ov. met. 6,308 nec flecti cervix... potest (sc. Niobe) nichts für Ovid-Benutzung seitens des Diaskeuasten oder gar für die Echtheit folgt. Dies gegen Salvatore a.O. 50, der das interpolatorische Versgut des PseudoPrudentius bei seinem Vergleich mit Ovid einsetzt.

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V. 765/68 Die Verse stören den klaren Aufbau der Passage. Sie machen aus der geraden, folgerichtigen Gedankenführung des Dichters eine krumme Linie und belasten die Darstellung mit unerträglichen Wiederholungen. Schauen wir zurück! Nachdem Prudentius die Situation entworfen und Gottes Befehl an Lot in wörtlicher Rede mitgeteilt hat (725/37), bringt er sogleich die unterschiedliche Haltung der beiden Eheleute zum Ausdruck (738/40): Lot gehorcht, aber nicht die Frau. At in V. 738 bezeichnet den Gegensatz, der nun V. 741ff. nach beiden Seiten hin ausgeführt wird: die Verse 741/56 (bis caelestia) behandeln Schuld und Bestrafung des Weibs; das Stück 756 (ab voti)/62 schildert Lots Gehorsam. Contra (757) bringt wieder den Gegensatz heraus, aber so, daß eine Schilderung jener Katastrophe, die Lot selbst nicht sah, darin enthalten ist. Infolgedessen schließt das Verspaar 763f. quidquid agunt homines, ... eqs. zwanglos an: es faßt den Ausgang des Strafgerichts über Sodoma zusammen und gibt zugleich seine allegorische Deutung, auf die schon in V. 735 (Sodoma) quae mundi forma cremandi est hingewiesen war. Alles törichte und lasterhafte Treiben der Menschen, wie es die Aufzählung der zusammenstürzenden Gebäude 760/62 ausdrückt, ward mit Sodoma beispielhaft gerichtet (Sinn, Sprache und Gliederung des Verses 763 erfordern die Interpunktion nach homines, s. hierüber Hermes 111, 1983, 355f.). Überspringen wir zunächst den fraglichen Versblock! V. 769 En tibi... eqs. setzt durch die emphatische Hinwendung zum Leser gleichsam neu ein, führt aber dennoch die geistliche Deutung des Geschehens fort, insofern er zur Lehre überleitet, die der einzelne Christ aus dem konträren Verhalten des biblischen Paares zu ziehen hat (769/72 viam). Wenn der Dichter abschließend noch einmal - zum dritten Mal, die soeben übergangenen Verse 765/68 nicht gerechnet - die gegensätzliche Entscheidung der beiden durch scharfe Antithesen (alter ... altera, ille ... contra illa) hervorkehrt, so geschieht das im Dienst der gesamten Schlußparänese (769/75), wobei das Moment der Freiwilligkeit in Schuld und Bewährung besonders betont wird. An höchst empfindlicher Stelle nun dieser wohldurchdachten Composition, nämlich dort, wo der Dichter den Übergang von der Darstellung des einmaligen historischen Geschehens zu dessen allgemeinerer, höherer Bedeutung schafft, ja ihn mit V. 763f. quidquid agunt homines ... eqs. schon geschaffen hat, fährt der Interpolator plump darein, indem er wieder auf die Ebene des Historischen zurückfällt, längst Gesagtes und Be-

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kanntes wiederkäut. Nicht ein einziger neuer Gedanke wird in den vier Hexametern hervorgebracht, der Gegensatz von Mann und Frau in einer kleinlichen Weise wiederholt, die Überdruß erregt. Und dieser Eindruck muß sich auf das Ganze der Schilderung ausbreiten, wofern der unechte Einschub 765/ 68 nicht als solcher erkannt und ausgeräumt wird. Von den stilistischen Qualitäten der eingefälschten Verse wird gleich noch zu reden sein. Wenden | wir uns zunächst einer Einzelheit zu, die - weil weniger auffällig - nicht einen entscheidenden Anstoß bildet, aber gerade darum zu schärferer Beobachtung zwingt. Daß die Frau Sodomiterin war, ist aus V. 740: ... Sodomisque suis revocabilis haeret (sc. uxor) richtig gefolgert19. Aber was bedeutet die Ortsangabe inter patrias ... favillas (768)? Stam übersetzt: "in the middle of her native town, burnt to ashes". In der Tat, daran muß man denken; denn Prudentius konzentriert seine Darstellung des Brandes auf die Stadt und ihre zusammenstürzenden Gebäudemassen (V. 758/62). Nun ist aber die Vorstellung, Lots Weib sei innerhalb der Stadt zur Salzsäule erstarrt, unsinnig. Lot erhielt die Weisung, Sodoma mit den Seinen zu verlassen (V. 732 omnis ut e portis iret domus) und nicht zurückzublicken, ut semel e muris gressum promoverit (V. 736 - vgl. das Ganze der Verse 725/40). Die Schuld seiner Frau bestand nicht darin, daß sie nicht mit ihm die Stadt verließ, sondern darin, daß sie auf die Stadt zurückblickte. Prudentius ist in diesem Punkt ganz klar (vgl. noch V. 758 Loth ingressus iter nec moenia respicit... eqs.), die Bibel nicht minder (Gen. 19, 15/26). Ja, strenggenommen ist es sogar so, daß die beiden Engel Lot selbst, seine Frau und seine Töchter bei der Hand fassen und hinausbringen: adprehenderunt manum eius et manum uxoris ac duarum filiarum eius ...et eduxerunt eum posueruntque extra civitatem (ibid. 16); erst von der nahegelegenen Ortschaft Segor aus, wohin Lot sich retten durfte, 19 Das Possessivum zeigt an, daß Lots Weib aus Sodoma stammte. Vgl. Hor. carm. 1,7,19/ 21: seu te (sc. Plance) ... densa tenebit Tiburis umbra tui (Porphyrio: Plancus enim inde fuit oriundus); Juv. 3,318f.: et quotiens te Roma tuo reficiproperantem reddet Aquino (Umbricius den Dichter anredend, der aus Aquinum kam); Mart. 1,61,1 If.: nostra ... Bilbilis·, 12,18,8f.: mea ... Bilbilis; 10,104,6 (in Anrede an sein Buch): altam Bilbilin et tuum Salonem·, Prud. per. 4,31: nostra ... Calagurris; 141f.: nostrae ... Caesaraugustae; per. 6,143 (über Tarraco): nostrae... urbis (natürlich kann der Dichter nur in einer dieser drei Städte geboren sein, aber sie gehören alle zur Hispania Tarraconensis im engeren Sinn). Die Wendung Sodomisque suis kann nicht anders verstanden werden, und der Dichter der Verse ham. 765/68 hat sie so verstanden (V. 768 inter patrias ... favillas). Der Umstand verdient Beachtung, da in der Bibel nicht ausdrücklich festgestellt wird, daß Lot eine Sodomiterin zur Frau hatte. Das Detail dürfte der Genesisexegese entnommen sein (vgl. Gen. 14,12 Loth, qui habitabat in Sodomis; Prud. psych, praef. 15/18).

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schaute die Frau zurück: respiciensque uxor eius post se versa est in statuam salis (ibid. 23/26). Diese Sachlage bildet im übrigen auch stets das Fundament der spiritualisierenden Exegese, die Prudentius selbst harn. 735/38 und 842/ 44 im Auge hat. Das Textstück 765/68 erzeugt also das Paradoxon, daß das wichtige Moment des Zurückschauens zunächst extrem betont (765. 766. 767), dann aber geschwächt, ja zerstört wird (768); denn V. 768 interpatrias ... favillas löst die Situation auf, innerhalb derer ein Rückschauen überhaupt möglich und sinnvoll ist. Weshalb sollte die Frau zurückblicken, wenn sie sich inmitten der Katastrophe: "in the middle of her native town" (Stam) befindet?! Nun gibt es aber doch eine andere Erklärung jenes fraglichen Ausdrucks, die jene eben erwähnte Paradoxie wenigstens mildert. Aber diese Erklärung ist nur statthaft, wofern man den Bezug der Verse 765/68 zur voraufgehenden Schilderung des Brandes der Stadt lockert. Dann wird es vielleicht möglich, die patriae favillae im weiteren Sinne zu fassen und an die Verwüstung der ganzen Gegend um Sodoma zu denken. Davon ist ζ. B. im Gedicht 'De Sodoma' (CSEL 3/3,295) die Rede: 127

Iamque urbes nusquam Sodomum, gens impia nusquam, tota rogus regio est: hinc atro horrore favillae hincque situ cano cineres incendia signant.

Vgl. Aug. civ. 16,30: tota illa regio impiae civitatis in cinerem versa est. Solches Bild hat wohl auch Prud. per. 5,193ff. vor Augen:

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Vides favillas indices Gomorreorum criminum, Sodomita nec latet cinis testis perennis funeris.

Wie gesagt: faßt man den weiteren Schauplatz ins Auge, hat die Angabe über den Standort der Salzsäule in V. 768 vielleicht ihre Berechtigung, nicht aber dann, wenn man, wie selbstverständlich und notwendig, den Prudentiustext Vers für Vers liest und auf sich wirken läßt. Dann stellt sich jene Paradoxie ein, von der Stams Übersetzung offenkundiges Zeugnis gibt. Es liegt eben eine Mischung der Bilder vor, die dadurch zustande kommt, daß ein bekannter, aber hier unpassender Gedanke in den originalen Prudentiustext gezwängt wird. Vielleicht trug der Vers ham. 769 (signatum ... documentum) dazu bei, die Erinnerung an die favillae indices aus per. 5 wachzurufen, ob-

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wohl der Hamartigenievers, wie das Folgende beweist (ham. 770/75), auf das Ganze des Geschehens zielt. Nicht die Asche der Stadt, sondern Lots Flucht insgesamt bildet ja hier das documentum, zu dessen Betrachtung der Dichter abschließend aufruft. Noch ein Letztes hierzu! Das Beispiel Lots und seiner Frau unterscheidet sich von den beiden folgenden - Rut/Orpha und die beiden Brüder am Scheidewege - dadurch, daß die Schuld des einen Partners mit der Schwäche weiblichen Charakters zusammenhängt (vgl. V. 738f. 754/56). Es durfte nicht noch eine weitere tiefreichende Andersartigkeit der Partner untereinander hervortreten, sonst wurde der Hauptgedanke, den Prudentius von V. 720 an herausarbeitet, gestört: Lot und seine Frau verkörpern ebenso wie die beiden anderen Paare jene zwei Möglichkeiten, zwischen denen jeder Christ zu wählen hat: V. 771 sub nostra dicione situm ... Alterutram calcare viam. Es mußte daher gerade anhand der Exempla klar werden, daß die jeweilige Entscheidung pro und contra von denselben Voraussetzungen aus erfolgt. Indem nun | der Diaskeuast den dezenten Hinweis des Dichters auf die sodomitische Herkunft der Frau (V. 740) aufgreift und betont (inter patrias ... favillasl), vertieft er den Gegensatz: Lot tritt als Loth noster, d.h. als Ahnherr der Christenheit, des 'wahren Israel' (vgl. cath. 6,57 patriarcha noster über Joseph), der sodomitischen Frau in der Weise entgegen, daß man ihre Sünde auch mit ihrer Herkunft in ursächlichen Zusammenhang bringt - und zugleich entschuldigt. Der Eindruck läßt sich umso weniger abweisen, als beide Gesichtspunkte: Schwäche des weiblichen Geschlechts und fremdstämmige Herkunft in den vier Versen zusammengedrängt und wiederholt werden. Wie sehr dagegen dem Dichter an der Allgemeingültigkeit auch dieses Beispiels gelegen war, beweist der Fortgang ab V. 772: duo cedere iussi... eqs. Und nun erst der Stil! Die Wiederholung: respicit (765) - respicit (766: gleiche Versstelle) - revisit (767: Versschluß) kann ich nicht mit Stam einfach als Beweis rhetorischer Durcharbeitung des Stücks gelten lassen ("The repetition of the same words and the same ideas ... betrays the rhetorician", p. 233). Ganz im Gegenteil! Gewiß liebt Prudentius doppelte oder sogar mehrfache Bezeichnungen derselben Sache - das ist ein Merkmal lateinischer Dichtersprache seit Vergil (s. Norden zu Aen. 6,268f. 638ff.) aber nicht derart stumpfsinnige Wiederholungen eines Begriffs: nach respicit in dem echten Vers 758 (fünfter Fuß) ist respicit in V. 765 (fünfter Fuß) und in V. 766 (fünfter Fuß) schlechthin unerträglich, selbst wenn man revisit im darauffol-

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genden Vers außer Acht läßt. Hier ist das Gesetz kunstgemäßer repetitio gröblich verletzt, das der auctor ad Herennium 4,54 formuliert: eandem rem dicemus, non eodem modo - nam id quidem optundere auditorem est, non rem expolire - sed commutate. Recht angewandt erzielt diese Art rhetorischer expolitio höchste Wirkung (vgl. Serv. georg. 2,227), aber der PrudentiusInterpolator demonstriert gerade jenes fehlerhafte obtundere. Zudem offenbart sich daran die Arbeitsweise des Fälschers. Er beutet den originalen Wortbestand aus, und zwar vor allem den der näheren Umgebung. Fragiiis (766) stammt aus V. 756 (fragilis iussa ad caelestiä), wo der Begriff bereits eine deutende Wiederaufnahme von V. 742f. metallo diriguit fragili darstellt. Erst recht lästig die abermalige unmotivierte Wiederholung! Zu mutabilis (767) vgl. V. 757 propositum ... non conmutabile·, zuperstat (768) vgl. V. 744 stat mulier sicut steteratprius. Der Satz: haecfugisse semel satis est (765) verarbeitet bekanntes vergilisches Versgut (Aen. 6,487 nec vidisse semel satis est\ 9,140 sed periisse semel satis est·, vgl. Palla p. 283 zum Cento Probae), ist aber trotzdem mißglückt. Denn satis est sc. semel fugisse trifft schlecht, weil an Rückkehr und Wiederholung der Flucht gar nicht zu denken ist (der Kontext bei Vergil lehrt den Unterschied!). Anders gebraucht Prudentius kurz zuvor (736) semel·. nemo ... Ut semel e muris gressum promoverit, ... eqs. Hier bezeichnet semel sinnvoll die Unwiderruflichkeit wie etwa bei Horaz carm. 4,7,21 cum semel occideris (vgl. Kiessling-Heinze zu Hör. epod. | 5,39). Das prudentianische semel in V. 736 dürfte für den Interpolator gleichsam das auslösende Moment bei seiner verfehlten Nachahmung des bequemen vergilischen Versanfangs gewesen sein.

V. 776/77 Interpolierte Pseudognomen heben sich meist von dem sie umgebenden echten Versgut scharf ab, so auch hier V. 776. "Einen jeden reißt die eigene Leidenschaft in verschiedener Richtung fort: den einen hierhin, den anderen dorthin" - dies etwa scheint der Sinn der Zeile zu sein. Ich sage: scheint, weil der Vers, genau besehen, zwei verschiedene Vorstellungen vermengt, nämlich die eines Hin und Her der Gefühle beim einzelnen (in ungefährer Parallele zu der unten herangezogenen Vergilstelle: atque animum nunc hue celerem nunc dividit illuc, Aen. 4,285 = 8,20) und die der Unterschiedlichkeit aller Menschen in bezug auf ihre Neigungen (wie Verg. ecl. 2,65 trahit sua quemque

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voluptas). Schon in solcher Unsicherheit verrät sich die Hand des Fälschers20. Die Störung des Texts gibt sich hier allerdings auch anderwärts zu erkennen, und zwar so deutlich, daß wir auf Feinheiten nicht angewiesen sind. Zunächst libido. Nicht eigener Lust und Laune folgend verließ Lot die Stadt, ohne sich umzuschauen. Ursache der Flucht war ein B e f e h l Gottes (vgl. V. 730: angelus hanc hospes legem praescripserat ollis\ ferner 738 monitis; 756 iussa ad caelestia·, 772 duo cedere iussi), und Lots Verdienst bestand darin, daß er diesem Befehl, den zu mißachten er die Freiheit hatte, gehorchte (V. 738 obtemperat), ja mehr noch: daß er den in freier Entscheidung gefaßten Entschluß zum Gehorsam unerschüttert durchsetzte. Eben dies ist mit den Worten V. 757ff. gemeint: voti Propositum ... non conmutabile servat Loth ingressus iter ... eqs. Voti ist Genitivus explicativus zu propositum, bezeichnet aber natürlich keinerlei lustvolle Wunschvorstellung des Patriarchen oder sonst irgendetwas, das sich in die Nähe des Begriffs libido rücken ließe. Vielmehr stärkt voti den Ausdruck propositum im Sinne des | persönlichen Willensakts21. Auch die Ausflucht, Zeile 776 gehe nur auf das Verhalten der Frau, ist unmöglich; sie wird durch das unmittelbar Voraufgehende versperrt. Noch V. 775 nimmt mit utrique ... utrique nachdrücklich auf beide Ehegatten Bezug und stellt sie nochmals in dem entscheidenden Punkt der Freiwilligkeit des Handelns einander gleich: ... dispar utrique voluntas. Aber wer immer den Vers 776 hinzudichtete, er wollte die libido zum Gesetz des Handelns erheben - für Lot selbst, für seine Frau, für alle Menschen schlechthin. Läßt sich etwas Unpassenderes an dieser Stelle denken? Doch nicht nur in dem einzelnen Wort liegt der Anstoß. Auch der Gedanke, daß die Menschen durch ihre Neigungen hue illuc in verschiedener Richtung auseinandergetrieben werden (die Junktur hue illuc beim echten 20 Das verschwommene Bild spiegelt sich in den modernen Übersetzungen wider. Während Stam die erstere Möglichkeit zu favorisieren scheint ("each is dragged left and right by his own conflicting desires"), neigt Palla offenbar der letzteren zu ("il proprio desiderio Ii divide trascinandoli in direzioni diverse"), ohne daß die eine oder die andere Version jeweils den Eindruck vollen Verständnisses vermittelte. Das ist ja eben auch gar nicht möglich, weil sich etwas Verschieftes durch Übersetzung nur gewaltsam begradigen läßt. Bei Palla (wie schon bei Lavarenne) zeigt sich im übrigen das Bestreben, den gnomischen Charakter des Verses durch Schaffung eines bestimmten Bezugs auf Lot und die Frau ("Ii divide") zu vertuschen. Das mag Ausdruck einer halbbewußten Verlegenheit des Übersetzers sein, ist aber eben als solcher bezeichnend. Die Worte sua quemque bedeuten notwendig eine Verallgemeinerung, wie etwa beim echten Prudentius cath. 8,67f. sua quemque cogit Wellepotestas (voraus geht hier cunctis). 21 Dieser Sinn des Begriffs kommt gut heraus in der zugespitzten Formulierung Symm. 2,465f., wo die Sache freilich gerade umgekehrt und ins Negative gewandt ist: Quin

et velle adiguntpravuminsinuantia votum,

Neliceatmiserisvetitumcommittere nolle.

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Prudentius apoth. 541; psych. 192), paßt zum Ganzen wie die Faust aufs Auge. Die interpolatorische Sentenz wirkt offenbar noch in V. 777 multa ... orbita nach und drückt auch diesem Vers den eigentümlich verwischten, unscharfen Stempel der Interpolatorenarbeit auf (s. unten S. 86 [349]). Im Grunde genügt ein Blick zurück auf V. 771 f.: passimque remissum Alterutram calcare vi am, um sofort zu erfassen, welche Lehre der Dichter mit dem Beispiel verband. Ein großer Gedanke, ein Hauptgedanke des gesamten Lehrgedichts, prägt die Darstellung besonders seit V. 673. Er steht im Zusammenhang der Antworten des Dichters auf das Problem der Theodizee: der Mensch besitzt die Fähigkeit freier Entscheidung zwischen Gut und Böse, also zwischen z w e i Möglichkeiten, z w e i Wegen (vgl. V. 688f. quae laus ... sine certo Inter utramque vi am discrimine vivere iuste?). Adam und Eva sündigten freiwillig (V. 697/719), und seitdem ist der Mensch in die Mitte zwischen Gott und Teufel gestellt (V. 720/22). Dies veranschaulichen die folgenden Beispiele, zu denen Prudentius mit V. 723f. überleitet. Nebenbei bemerkt: es ist irreführend, die Reihe der Exempla schon mit Adam und Eva beginnen zu lassen, wie die Kommentatoren Stam (p. 226: "a number of pictures") und Palla (p. 271) dies tun, wodurch man auf eine fünfgliedrige Beispielkette kommt. In Wahrheit ist der Sündenfall der Stammeltern den folgenden Beispielen sachlich, theologisch nicht voll kommensurabel, denn durch ihn wurde ja erst die Lage geschaffen, in welcher sich jetzt (V. 720 nunc) der Mensch befindet. Prudentius hat denn auch die Darstellung des Sündenfalls von der nachfolgenden Reihe der Beispiele schon äußerlich durch die Verse 720/24 klar abgetrennt. Inhaltlich geschieden sind die Exempla dadurch, daß hier jeweils von zweien e i n e r schuldig wird, während die Stammeltern b e i d e dem Versucher erlagen (vom Dichter selbst V. 741f. betont). Damit lenke ich zu unserem Problem zurück: alle Beispiele sind so angelegt, daß sie durch die gegensätzliche | Haltung eines Paares das große Für oder Wider beleuchten, dem der Mensch sich nicht entziehen kann. Die Beispiele zeigen in jeweils verschiedener Situation dieselbe, stets gleichbleibende Alternative: Lot und sein Weib, Rut und Orpha, die beiden Brüder am Scheideweg. Der V. 804ff. anschließende Vergleich mit der Vogelstellerei bleibt zwar auf der Linie, ist aber eben Vergleich (eingeleitet durch haud secus ac si... eqs.) - oder tiefer genommen: objektives άνάλογον des geistigen Geschehens in der Natur jedenfalls nicht mehr historisches Beispiel (vgl. 724 historia), als welches dem Dichter wohl auch das Beispiel der Brüder galt (V. 789: saepe egomet memini

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... eqs.)· Prudentius hat also drei Exempla, nicht fünf, wie Palla rechnet. Aber davon einmal abgesehen: die gesamte Darstellung, angefangen vom Sündenfall über die drei Beispiele bis hin zum Vergleich des Vogelfangs, beruht, wie gesagt, auf dem Grundgedanken der Entscheidung zwischen z w e i Möglichkeiten, nicht zwischen vielen. Diese wesentliche gedankliche Linie stört der eingefälschte Zusatz, indem er statt des moralischen Entweder-Oder die Vorstellung eines von Affekten diktierten Hierhin und Dorthin suggeriert; die Anschauung vieler, auseinanderführender Wege, nicht die einer Weggabelung; die Idee eines geistig-sittlichen Durcheinanders, nicht die einer notwendigen Entscheidung. Noch ein Wort zu V. 777. Man wundert sich, mit welcher Leichtigkeit beide Kommentatoren über die merkwürdige Wendung multa orbita hinweggleiten. Daß orbita hier so viel wie "Beispiel" bedeute, hält Palla offenbar für ausgemacht ("molti esempi"), als ob dies das Allernatürlichste von der Welt wäre. Nur zu dem Sprachgebrauch: Singular statt Plural scheint ihm ein knapper Verweis auf eine frühere Stelle des Gedichts notwendig. Stam wiederum läßt seiner Phantasie die Zügel schießen: "The poet has in his mind examples from the Bible, of paths of life which lead to God and which do not." So erklärt er im Kommentar (p. 233), die Übersetzung lautet: "In the Holy Scriptures many paths of life show a picture of such conflict." Doch läßt man den Versbestand, wie er ist, muß V. 777 tα lern ... speciem zunächst das aufnehmen, was unmittelbar voraufgeht, also eben jenes unpassende Bild eines Hin und Her individueller Neigungen ( = V. 776). D i e s e s Bild soll uns in der Hl. Schrift vielfach entgegentreten! Hier erübrigt sich jedes weitere Wort. Stams harmonisierende Paraphrasen schweben frei über dem Text. Man könnte auf den Gedanken verfallen, die eigentliche Gnome ( = V. 776) alleine auszuscheiden, um wenigstens V. 777 zu retten. Aber wie soll man überhaupt multa orbita im Sinne Stams entschlüsseln: "paths of life"? Die Stelle ist freilich schwierig und dunkel, aber man muß dies erkennen und offen aussprechen. Das eine ist Erfordernis der Gründlichkeit, das andere Gebot der Aufrichtigkeit. Offenbar wurde der Interpolator von seiner eigenen Gnome in V. 776 irgendwie zur Vorstellung vieler Wege geführt, die sich angeblich in der Hl. Schrift abzeichneten. Jenes hue illuc mußte ja in Verbindung mit quemque den Eindruck einer Vielheit möglicher Wege der Menschen erzeugen. Wie sehr dies | Geist und Buchstaben der gesamten Darstellung unseres Dichters widerspricht, ist schon zur Genüge betont worden. In welchen Zusammen-

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hang der Gedanke einer Vielzahl von Wegen für Prudentius gehört, beweisen die Verse Symm. 2, 843/46, wo der Christ die Ansichten seines heidnischen Opponenten folgendermaßen wiedergibt: 843 secretum sed grande nequit rationis opertae quaeri aliter, quam si sparsis via multiplicetur 845 tramitibus et centenos terat orbita calles quaesitura deum variata indage latentem. Die freidenkerische, skeptische Lehre von den vielen Wegen, die zur Wahrheit führen, wird dann eingehend widerlegt (847/909), wobei die Bildlichkeit - die vielen, mannigfach sich teilenden und windenden Wege des Irrtums auf der einen Seite, der eine, gerade Weg der Wahrheit auf der anderen - zu reicher Entfaltung gelangt. Auch in dogmatischer Hinsicht bedeutet Wegegewirr schlimmes Unheil, vgl. apoth. praef. 5/16, bes. V. 9f.: Obliqua sese conserunt divortia Hinc inde textis orbitis. Von außen ließen sich gleichfalls entsprechende Belege beiziehen (vgl. etwa Lactanz zu Beginn der Institutionen 1,1,18 oder schon Philo special, legg. 4,109). Doch das Gesagte mag ausreichen zum Erweis dafür, daß es dem Dichter hätte zutiefst widerstreben müssen, an einer Stelle, wo es um die Entscheidung zwischen zwei Wegen geht, plötzlich das Bild vieler Wege auftauchen zu lassen, welche noch dazu durch die Hl. Schrift gewiesen würden. Was veranlaßte den Interpolator zu seiner amplifikatorischen Fälschung - denn um eine solche handelt es sich auch hier? Daß man eine Antwort auf diese Frage namentlich in jenen Fällen, wo es sich um diaskeuastische Texterweiterungen, nicht um Alternativfassungen handelt, billigerweise nicht stets fordern darf, hat Jachmann wiederholt klargestellt. Der Interpolator mag hier eine Überleitung zum zweiten Exempel vermißt haben, wie sie der Dichter dem ersten - und damit auch den folgenden - vorausschickte: 723

Accipe gestarum monumenta insignia rerum praelusit quibus historia spectabile signum!

Im Vergleich dazu mochte der Übergang mit bloßem aspice in V. 778 als zu flott erscheinen. Aber vielleicht hat noch etwas anderes mitgespielt. Es ist bekannt, daß Fälscher gerne nach berühmten Mustern arbeiten (Jachmann, Schriften 372). Die Gnome V. 776 scheint nun aus vergilischem Versgut fabriziert. Palla notiert als Parallelen dazu: Aen. 4,285f. ( = 8,20f.) Atque animum nunc hue celerem, nunc dividit illuc In partisque rapit varias perque omnia

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versat, und eel. 2,65: ... trahit sua quemque voluptas. Insbesondere die zweite Stelle ist beachtenswert. Bedenkt man nämlich, daß der Textbearbeiter bei Prudentius folgenden originalen Wortbestand antraf: | 775

liber utrique animus, sed dispar utrique voluntas.

778

Aspice

... eqs.

und vergleicht man hiermit die Stelle in der zweiten Ecloge: 65 66

Aspice

... trahit sua quemque voluptas. ... eqs.,

so erscheint es, meine ich, recht plausibel, daß der Interpolator sich durch die Formulierung bei Prudentius an die vergilische erinnert fühlte und diese dazu benutzte, um jene in seinem Sinne zu vervollständigen. Die vorstehenden kritischen Beobachtungen ruhen auf der Grundlage der Forschungen G. Jachmanns. Daher erscheint mir eine kurze abschließende Bemerkung zu dieser Forschungsrichtung im Ganzen angebracht. "Wenn man das Facit aus Ihren Abhandlungen zieht, hat man das Gefühl, ein Erdbeben miterlebt zu haben. Denn Sie fordern ja nichts Geringeres als die kritische Revision sämtlicher antiker Texte. Wir haben lauter interpolierte Texte gelesen! Ein unheimliches Gefühl...": so schrieb einst E.R. Curtius an Jachmann. Die Zeilen drücken Anerkennung aus, freilich eben auch jenes "unheimliche Gefühl", das seither gar manchen befallen haben mag, der mit dem Erforscher des antiken Interpolationswesens in die Abgründe der frühen Textgeschichte unserer Autoren blickte22. Aber weder gefühlshafte Abwehr noch helle Einsicht in die Gefahren der Echtheitsanalyse hätten dazu führen dürfen, daß sich die philologische Kritik den Ergebnissen der Forschungen Jachmanns in dem Maße verschloß, wie sie es weithin tat und noch immer tut. "Selbst Hyperkritik ist besser als Stumpfheit", urteilte E. Löfstedt23, und das hätten sich auch 22 E.R. Curtius brieflich am 4.2.1936. Curtius bezog sich vor allem auf Jachmanns Properzaufsatz Rhein. Mus. 84, 1935, 193/240, den er nicht nur in seinen allgemeinen, methodisch bedeutsamen Teilen schätzte - in dieser Hinsicht läßt sich sein Wert gerechterweise kaum bestreiten sondern auch in seinen konkreten, Properz betreffenden Resultaten (Curtius: "Die Argumentation über die Elegie ist für mich zwingend"). Das Original des Briefes liegt zusammen mit anderen Hinterlassenschaften Jachmanns in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Ich verdanke seine Kenntnis Frau Gertraude Jachmann. Die Publikation eines Teils der Korrespondenz bedeutender Gelehrter mit Jachmann hat jetzt S. Prete vorgelegt: Tra filologi e studiosi della nostra Epoca. Dalla corrispondenza di Günther Jachmann (Didascaliae 1), Pesaro 1984. Curtius' Brief vom 4.2.1936 und die unten (Anm. 23 und 24) erwähnten Zuschriften Löfstedts sind in dieser Sammlung nicht enthalten. 23 E. Löfstedt am 30.7.1935 brieflich an Jachmann.

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III. Kritische Bemerkungen zu Prudentius' Hamartigenie

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die Gegner der Jachmannschen Forschung sagen sollen - zu denen übrigens der große schwedische Gelehrte nicht gehörte24. Daß es | auf dem Felde der Prudentius-Philologie nicht die Hyperkritik ist, vor der man die Wissenschaft schützen muß, liegt auf der Hand. Zwar hat Palla (24/29) die Verhältnisse im allgemeinen recht beurteilt, aber es ist für den gegenwärtigen Stand der Kritik bezeichnend, daß sein einziger, zaghafter Versuch, einen Anstoß des Textes zu bezeichnen und damit über längst Bekanntes hinaus selbständig vorwärts zu schreiten, sogleich auf pauschale Ablehnung stieß25. Es wäre viel erreicht, wenn es gelänge, den Blick für eine freiere Betrachtung der Dinge zu öffnen.

24 So traf er sich mit Jachmann in der Beurteilung der umstrittenen Caesarstelle bell. Gall. I 2,3.4 (una ex parte ... adficiebantur), deren Unechtheit beide unabhängig von einander unter Hinweis auf die uncaesarianische Verwendung von qua ex parte (im Sinne von qua ex causa) vertreten hatten. Vgl. E. Löfstedt, Zur Sprache Tertullians (Lund/Leipzig 1920) 1032; G. Jachmann, Pars gleich causa: Wien. Stud. 60, 1942, 71/78 = Schriften 225/32. Hierüber existiert ein längerer Brief Löfstedts vom 9.1.1944 samt Jachmanns Antwort (10.3.1944). 25 Vgl. Palla 251f. über die Verse ham. 569/73 im Verhältnis zu ihrer Umgebung ham. 562/80 und dazu J.-L. Charlet: JbAC 25 (1982) 192. Der Fall ist jetzt eingehend behandelt: "Eine interpolatorische Ehrenrettung Davids": Vivarium. Festschrift Th. Klauser = JbAC Erg.Bd. 11,1984, S. 136/143 [in diesem Bande S. 90/101],

IV. EINE INTERPOLATORISCHE EHRENRETTUNG DAVIDS* Die Texte antiker Autoren von den schweren Entstellungen zu befreien, die sie in der Frühphase ihrer Geschichte durch Fälscherhand erfahren haben, bleibt eine Hauptaufgabe philologischer Kritik, mag sie auch heute weniger denn je als solche erkannt werden1. Im weiten Rahmen dieser Aufgabe kommt einigen spätantiken Schriftstellern deswegen besondere Bedeutung zu, weil ihr Text die entstandenen Schäden wenigstens zum Teil auch äußerlich durch urkundliche Divergenzen bezeugt2. Zu ihnen gehört Prudentius, und infolgedessen hat sich die Echtheitskritik innerhalb der Prudentius-Philologie stärker entfaltet als anderswo, wenn auch längst nicht in dem nötigen Maße. Die Irrlehre der authentischen Doppelfassungen, die auch hier vorübergehend triumphierte, scheint vorerst zurückgedrängt. R. Palla hat die Verhältnisse in der Einleitung seines neuen Kommentars zur Hamartigenie im wesentlichen treffend beurteilt3. Die Hauptfrage, an der sich heute die Geister scheiden, bleibt aber die, ob und in welchem Umfange auch mit solchen Interpolationen gerechnet werden muß, die von der Gesamtüberlieferung aufgesogen wurden und deren Aufdeckung daher allein aufgrund innerer, interpretatorischer Kriterien gelingen kann. Palla hat auch diese Hauptfrage im Prinzip richtig beantwortet, indem er das Großinterpolament ham. 887/91, das der Editor M. Lavarenne durch bloße Versumstellung wähnte entschärfen zu können4, als * Vivarium. Festschrift Th. Klauser = JbAC Erg.-Bd. 11, 1984, 136/143. ι Wie sich diese Aufgabe ihrer Bedeutung nach zu der fast allein geschätzten und gepflegten Emendation des einzelnen Worts verhält, hat der Jachmann-Schüler S. Mendner, Der Text der Metamorphosen Ovids (Bochum 1939) 75/9 für dieses Hauptwerk der klassischen lateinischen Literatur, doch zugleich unter allgemeinerem Blickwinkel, einleuchtend dargetan. Für das Oeuvre des poeta christianus gilt Entsprechendes. 2 Über den Grund dieser Erscheinung s. G. Jachmann, Ausgewählte Schriften, hrsg. von Ch. Gnilka = Beiträge zur Klassischen Philologie 128 (Königstein/Ts. 1981) 391: "In derlei Fällen [hat] die an- und ausgleichende Tendenz, welche an sich jeder Überlieferung innewohnt, nicht die zeitliche Möglichkeit gefunden, sich voll auszuwirken". 3 Prudenzio, Hamartigenia. Introduzione, traduzione e commento a cura di R. Palla (Pisa 1981) 24/9. 4 M. Lavarenne, Prudence,2 2 (Paris 1961) 72; vgl. dens., Note sur un passage de 1'Hamartigenie de Prudence: Rev.Et.Lat. 19 (1941) 76/8. Dazu Ch. Gnilka, Zwei Textprobleme bei Prudentius: Philologus 109 (1965) 246/58, ebd. 252/8 [S. 8/15 in diesem Band] und jetzt Palla a.O. 302/4.

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solches anerkannte und im Text seiner Ausgabe in Klammern Schloß. Man kann es dem jungen italienischen Philologen nicht hoch genug anrechnen, daß er sich der herrschenden Lehrmeinung, die von derlei Textstörungen am liebsten nichts wissen will, nicht beugt. Erneute Durcharbeitung der Hamartigenie hat mich nun freilich in der Überzeugung bestärkt, daß der Text dieses christlichen Lehrgedichts stärker durchinterpoliert ist, als irgendwer, Palla eingeschlossen, ahnte. Nur in einem einzigen, allerdings bedeutsamen, Fall hat Palla von sich aus erstmals Anstoß genommen und Interpolation erwogen auch das ein unbestreitbares Verdienst. Der Stein, den Palla damit ins Rollen brachte, läßt sich nicht wieder zurückbewegen, es muß vielmehr dafür gesorgt werden, daß er nicht die falsche Richtung nimmt. Ich beschränke mich im folgenden auf diese eine Textstörung, werde aber auf das Problem der Hamartigenie-Interpolationen andernorts zurückkommen. Zunächst der Zusammenhang. Prudentius erklärt: Nicht der Teufel allein ist Urheber des Bösen, der Mensch bringt die Sünde, die seinen geistlichen Tod bewirkt, aus sich selbst hervor (ham. 553ff.). Dieser Tatbestand wird durch ein biblisches (563/8 bzw. 574/80) und ein naturkundliches (581/ 620) Exemplum bestätigt: durch Absalom, der das Schwert | gegen den eigenen Vater, David, führte (2 Reg. 15/8), und durch die jungen Schlangen, die bei der Geburt die Mutter zerfleischen 5 . Um den Blick gleich für einen wesentlichen Punkt zu schärfen, sei schon hier darauf aufmerksam gemacht, welch schwierige, ja delikate Aufgabe der Dichter selbst sich stellte, indem er zur symbolischen Vertiefung ein und desselben Tatbestands zwei Exempla wählte, die in mehrfacher Hinsicht dermaßen weit von einander abliegen und die gerade im tertium comparationis die Gefahr schlimmer Entgleisung in sachlicher wie geschmacklicher Hinsicht in sich bargen. Schließlich lief doch solche Paarung der Symbole darauf hinaus, David als Vater und die Viper als Mutter gleichzusetzen - gewiß nur in einer bestimmten Beziehung und nur für einen bestimmten Zweck. Aber die Kühnheit solcher Syzygie ist offensichtlich, und man ahnt, wie geschickt der Dichter hier seine Worte setzen mußte. 5 Dieses Paradoxon antiker Naturwissenschaft geht seit Herodot (3,109) durch die Literatur (vgl. Plin. n.h. 10,82,169f.). Prudentius mag durch St. Ambrosius angeregt sein (in Ps. 35,6,1 [CSEL 64,54]; Tob. 12,41 [CSEL 32,2, 541]), obschon die Darstellung des Dichters ausführlicher ist als die des Bischofs. Zur Sache vgl. außer den Kommentaren (J. Stam, Prudentius, Hamartigenia [Amsterdam 1940] 213; Palla a . 0 . 2 5 4 / 6 ) auch K. Smolak, Die Geburtsschmerzen Evas bei Claudius Marius Victorius: Grazer Beiträge 9 (1980) 181/8; F. Zambon, Vipereus liquor: Cultura Neolatina 40 (1980) 1/15.

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Weit größeren Raum als das erste, das biblische Analogon beansprucht das zweite, da hier die Analogie auch auf den Akt des Schlangen-Coitus ausgedehnt und überhaupt viel detaillierter durchgeführt wird. Ich schreibe davon nur wenige Zeilen aus und verweise für das Ganze auf die Ausgaben. Unser Augenmerk richtet sich vor allem auf das erste Paradigma und auf den Übergang vom einen zum anderen: 562

565

570

575 Β

580

gignimus omne malum proprio de corpore nostrum, ut genuit Dauid, alias pater optimus, unum crimen Abessalon; taetrum pater ille, sed unum, innocuas inter süboles genuit patricidam, ausus in auctorem generis qui stringere ferrum a pietas! - signis contraria signa paternis egit et unius commisit sanguinis arma. nostra itidem diros urente propagine natos pectora parturiunt, uersis qui protinus in nos morsibus insuescunt gignentum uiuere poenis; depopulantur enim nimium fecunda parentum uiscera et interitu genitalis stirpis aluntur. progeniem uerum ille suam rex utpote summus atque dei uates pariturae et uirginis auctor tristibus atque piis uariauerat, ut Solomonis frater Abessalon sereret sua crimina iustis pigneribus dulcemque domum turbaret amaris. nos dignum Solomone nihil, nos degener inplet solus Abessalon lacerans pia uiscera ferro, si licet ex ethicis6 quidquam praesumere uel si de physicis exempli aliquid, sie uipera, ut aiunt, dentibus emoritur flisae per uiscera prolis, mater morte sua, non sexufertilis ... eqs.

Die beiden Textstücke 569/73 und 574/80 bezeichne ich im folgenden durch Α und B. Palla (a.O. 251 f.) erkennt richtig, daß die Verse so nicht stehen bleiben können. Die | biblische Erzählung über David und seine Nach6 Ich folge dieser Lesart (v.l. ethnicis), vgl. die Besprechung bei Palla a.O. 256f. Zur Kürzung des e in griechischen Wörtern vgl. psychom. 855 beryllum; ebd. 371 eremi etc.: Lavarenne, Etude (s.u. Anm. 14) §§ 144/9, bes. 148.

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kommenschaft, also V. 563/8 + B, werde durch A "bruscamente" unterbrochen. In der Tat: Α ist nach Wahl der Worte und Bilder bereits ganz auf das Beispiel von Schlangenmutter und Schlangenbrut zugeschnitten (urente propagine, parturiunt, morsibus, vivere, fecunda ... viscera, aluntur). Die Rückkehr zu David und Absalom in Β ist unerträglich. Es ist, als ob der Dichter, der in A mit aller Energie den Übergang vom einen zum anderen Beispiel anstrebte, das Ergebnis zunächst wieder verdunkeln wolle, um dann mit den beiden letzten Versen von Β (579/80) erneut einen Anlauf zur Überleitung zu machen, ohne jedoch diesmal die in Α bereits entfaltete Bildhaftigkeit ganz zu erreichen: V. 580 lacerans pia viscera ferro lenkt über Α hinaus unpassend bis auf fer rum (566) zurück, nachdem der Dichter mit V. 571 morsibus auch in diesem Detail schon entschieden das exemplum physicorum ins Visier genommen hatte. Dabei war die poetische Aufgabe, wie gesagt, heikel genug, galt es doch vom Vater David zur Schlangenmutter, vom Davidsohn Absalom zur Schlangenbrut überzuleiten und zugleich die Gemeinsamkeit beider Exempla im Hinblick auf ihren geistigen Sinn gegenwärtig zu halten. Nichts schadet der Erfüllung solcher Aufgabe mehr, als jenes peinliche Hin und Her der Vorstellungen, das der überlieferte Text bietet. Pallas kritischer Argwohn richtet sich auf A: "II sospetto, se non di un' interpolazione, almeno di un cambiamento di posto, e quindi legittimo" (a.O. 252). Er erwägt eine Transposition von Α hinter B, ohne sie allerdings im Text durchzufuhren. Sein Vorschlag hat insofern etwas Treffendes, als er eben der Tatsache Rechnung trägt, daß Α eng zum exemplum physicorum in V. 58Iff. gehört, das seinerseits durch sie (582) passend an A anschließt. Dennoch bringt die Umstellung keine Lösung, weil Α sich nicht nach rückwärts an Β fügen läßt. Wenn in V. 579/80 scharf betont wurde: nos ... inplet Solus Abessalon, kann es unmöglich mit V. 569/70 weitergehen: nostra itidem diros ... natos Pectora parturiunt. Überhaupt hätte indem so keine Daseinsberechtigung mehr, weil die Verse 579/80 bereits eine Anwendung des biblischen Beispiels enthalten. Den Weg zur Lösung des Problems hat sich Palla dadurch versperrt, daß er das falsche Textstück beargwöhnt: B, nicht A, muß beanstandet werden, und das rechte Mittel, die Dinge in Ordnung zu bringen, ist allein die Athetese. Schon die inhaltliche Aussage des Texts Β: David als größter König, Prophet Gottes und Ahnherr der jungfräulichen Mutter habe sowohl einen guten wie einen bösen Sohn gehabt, wir dagegen seien nur vom bösen Absalom erfüllt, ist schlecht, und zwar nach beiden Richtungen hin. Weder leuchtet es

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ein, weshalb man rex summus7, Dei vates* usw. sein muß, um außer einem mißratenen Sohn auch gute Kinder zu haben, noch ist es erlaubt, dem Bösen rundweg die totale Herrschaft über den Menschen einzuräumen, ja dies wäre geradezu 'contra producentem', wie denn auch Prudentius selbst derlei nie behauptet. Was vielleicht als demütiges Bekenntnis eines einzelnen möglich wäre, ist als Urteil des | christlichen Dichters über den Menschen schlechthin - und nur dies kann hier nos ... nos (579f.) bedeuten - undenkbar. Das käme einer geistlich-religiösen Resignation, einer völligen Selbstaufgabe gleich. Gerade in der Hamartigenie setzt Prudentius alles daran, die Möglichkeit freier Entscheidung zwischen Gut und Böse und die sich dem Menschen hieraus ergebende Verantwortung einzuprägen. Daß im Christen nichts sei nach dem Bilde Salomons, alles nach dem Bilde Absaloms, wäre überdies ein Vorwurf gegen den Erlöser. Beinahe überflüssig, an den salomonischen Tempel zu erinnern, den die siegreichen Tugenden psych. 804ff. im Innern des Menschen errichten! Das Interpolament gibt sich also durch eine unstatthafte Mischung zu erkennen: vermischt sind reuige Selbstaussage und generelles Urteil. Β trägt überdies unverkennbar dublettenhaften Charakter - und zwar sowohl in bezug auf Α (durch V. 579/80) als auch hinsichtlich der Α voraufgehenden Verse 562/8 (durch V. 574/8). Pallas Feststellung, die Erzählung der biblischen "Episode" werde durch Α auf roheste Art unterbrochen, trifft daher nicht ganz: Β setzt nicht etwa einen zuvor, in V. 563/8, begonnenen, unvollständigen Bericht fort, so daß etwas vermißt würde, wenn der Versblock (B) fehlte. Vielmehr bietet Β nur einen zweiten Aufguß des bereits Gesagten. Dabei bedingt die Doppelung hier zugleich ein Ablenken vom Wesentlichen. Dem Umstand, daß sich unter Davids Kindern nur ein (potentieller) Vatermörder fand, hatte Prudentius V. 563/4 durch unum I ... unum / ausrei7 Hohler, also interpolatorischer Superlativ, vgl. Jachmann, Schriften 202. Der ähnliche Versschluß tituli 108 regem quoque summum geht auf Christus, und auch sacricola summus für Aaron (psychom. 548) hat wegen Num. 3,6/10, worauf deutlich angespielt wird, seine gute Berechtigung. 8 Vates heißt bei Prudentius "Prophet" (siebenmal, dazu einmal citharoedus vates für Apollo). Reges undprofetae stellt er per. 10,626 nebeneinander, nachdem in der vorhergehenden Zeile vates gebraucht war. Ob sich der Interpolator mehr bei dem Worte dachte und darunter den "Sänger", "Dichter" der Psalmen verstand, bleibe dahingestellt. W. Erdt, Christentum und heidnisch-antike Bildung bei Paulin von Nola = Beiträge zur Klassischen Philologie 82 (Meisenheim 1976) 177 nimmt, ausgehend von Paul. Nol. ep. 16,6, wo dieselbe Junktur für den Adressaten Jovius gebraucht wird (Dei philosophus et Dei vates), auch in ham. 575 unbedenklich die Bedeutung "Dichter" an. Vorsichtiger Palla a.O. 253.

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chend Rechnung getragen. Die Tatsache durfte freilich auch nicht übergangen werden. Andrerseits liegt sie streng genommen nicht auf der Linie des Gedankens, weil das Exemplum eben Absalom ist. Infolgedessen hat Prudentius in V. 563/8 andere Namen nicht genannt, vor allem den Salomons unterdrückt. Β zerstört diese Ökonomie, wiederholt einen untergeordneten Gedanken und walzt ihn breit aus. Besonders der Mi-Satz (576/8) lenkt auf ein totes Gleis: es geht nirgendwo um die Beziehung der Kinder (!) zueinander oder die Trübung des Hausfriedens schlechthin (vgl. Hör. epod. 2,40 domum atque dulces liberos), sondern stets - in dem Exemplum aus der Bibel wie in dem aus der Natur um den Mord an Vater und Mutter. Denn das Verhältnis von Seele und Sünde ist das von Erzeuger und Erzeugtem. Der wr-Satz soll ausführen, was Prudentius mit V. 565 innocuas inter suboles andeutete, und gerade darum stört er empfindlich. Hierzu noch eine weitere Überlegung! Prudentius kannte die Bibel, und er wußte, daß der Unfrieden im Hause Davids zunächst nicht von Absalom ausging, sondern von seinem Halbbruder Amnon, der Absaloms schöne Schwester Tamar schändete. Die Umstände der Tat werden in der Bibel (2 Reg. 13,1/19) genau geschildert: Amnon stellte sich krank, ließ sich von Tamar bedienen, lockte sie in ein Zimmer und vergewaltigte sie; dann ließ er sie, ihre Bitten nicht achtend, von einem Diener auf die Straße setzen und die Haustür hinter ihr verriegeln. David wurde sehr unwillig, als er davon erfuhr (ebd. 21), Absalom sprach fortan kein Wort mehr mit Amnon (ebd. 22), und Tamar lebte einsam und grämlich (contabescens, ebd. 20 Vulg.) im Hause Absaloms. Das ist die Situation, die den Missetaten Absaloms zeitlich voraufliegt und aus der sie sich teilweise auch ursächlich herleiten. Wer wollte es einem Prudentius zutrauen, daß er solche Verhältnisse unter dem Begriff 'dulcis domus' (578) zusammenfaßte? Aber der echte Prudentius tat das ja auch gar nicht! "Unschuldig" (565) sind für ihn die Kinder Davids, Absalom ausgenommen, hinsichtlich ihrer Beziehung zum Vater, vgl. V. 564f.... sedunum Innocuas inter suboles genuitpatricidam{\). Nur diese Beziehung faßt er ins Auge, und insofern besteht seine Wertung (vgl. V. 563 aliaspater optimus) zu Recht. Nur Absalom zog gegen den Vater, nur er wollte den Vatermord (2 Reg. 17,11/4). Und | nur das zählt hier. Aber indem der Interpolator die wohlbedachten Angaben des Dichters zum Bilde der "dolce casa" (Palla) emporzustilisieren versuchte und Absalom zum Störenfried innerhalb eines bis dahin ungetrübten häuslichen Glücks machte (vgl. 578 dulcemque domum turbaret amaris), überhaupt die Aussagen ins Allge-

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meine zog (577f. sereret sua crimina iustis Pigneribus), verschiefte er das Ganze, so daß der Widerspruch zu den Tatsachen offenkundig wird. Denn nunmehr rückt unweigerlich Amnon ins Blickfeld und mit ihm die Vorgeschichte der Empörung Absaloms. Prompt bemerkt denn auch Palla (a.O. 254) zu V. 577 {sereret)·. "Prima di muovere guerra al padre, Assalonne aveva fatto uccidere anche il fratello" (2 Reg. 13,23/33). Aber wie kann man hier solchen Gedanken fassen, ohne zugleich den lebhaftesten Widerspruch der Wendung iustis (!) pigneribus gegenüber zu empfinden? Der Bruder, den Absalom erschlug, war nicht iustus. Man höre nur Tamars flehentliche Bitte (2 Reg. 13,12 Vulg.): Noli, frater mi, noli opprimere me, neque enim hoc fas (!) est in Israel ... eqs. (vgl. ebd. 16)! Also: die Interpolation zieht durch ihre vergröbernde Übertreibung und Verallgemeinerung das echte Dichterwort (563/8) auch hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit und sachlichen Richtigkeit in Mitleidenschaft, gefährdet folglich den Vergleich als Ganzes. Mancher wird vielleicht an interpolatorische Machwerke solchen Umfangs nicht recht glauben wollen, zumal Β auf den ersten Blick durch eine gewisse formale Glätte und allerlei rhetorischen Putz besticht. Aber wie auf daß wir gegen derlei Blendwerk gefeit seien, hat uns der Berner PrudentiusCodex U nach ham. 858 einen sechszeiligen Zusatz bewahrt, der ein beachtliches Zeugnis interpolatorischer Anstrengung darstellt. Und auch die Großinterpolation ham. 887/91 [s. oben S. 8] nimmt sich in stilistischer Hinsicht gar nicht übel aus. Auch aus anderen Werken ließen sich Stücke gleicher Länge und Qualität beibringen, deren Charakter als Fälschung dennoch zweifelsfrei feststeht9. Um bei unserem Stück zu bleiben, so wird man allerdings bald gewahr, daß seine Eleganzen - Antithesen wie dulcem ... amaris (578) oder die pathetische Anaphora des Pronomens in V. 579 (dazu unten) - recht gewöhnlicher Art sind. Palla (a.O. 254 zu V. 576/80) hätte sich von ihnen nicht berücken lassen sollen. Anderes verdankt der Verfasser dem Dichter selbst, etwa gleich der Versanfang 574 Progeniem, der im folgenden bei Prudentius 9 Über das Additamentum in U jetzt zusammenfassend Palla a.O. 297f., der den richtigen Grundsatz vertritt, daß stilistische Nähe zu dem originalen Werk keinen Beweis für die Echtheit liefert. Die Problematik der - verhältnismäßig! - qualitätvollen Großinterpolamente ist auch in dem oben (Anm. 4) genannten Philologus-Aufsatz berührt (716 [2512]); vgl. ferner: Beobachtungen zum Claudiantext: Studien zur Literatur der Spätantike, hrsg. von Ch. Gnilka und W. Schetter (Bonn 1975) 45/90, ebd. 56f. [in diesem Bande S. 28f.]. Ein berühmtes Beispiel bietet der prudentianische Grabhymnus mit seiner zwei Strophen füllenden Alternativfassung (zu cath. 10,9/16), die E. Pianezzola endgültig als interpoliert erwiesen hat, s. Beobachtungen S. 64 [87f.] und Palla a.O. 27.

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zweimal wiederkehrt (599. 636). Für V. 577 sereret sua crimina griff der Redaktor auf Vergil zurück: Aen. 7,339 sere crimina belli10. Auch das darf bei einem antiken Textbearbeiter | nicht überraschen - denn noch in der Antike ist Β entstanden, woran das Zeugnis des Codex Puteanus (6. Jh.) keinen Zweifel läßt. Entlehnungen aus großen Vorbildern, aus Vergil zumal, gehören zum Wesen antiker Poesie, und nicht nur Dichter, sondern auch solche, die es sein wollten, haben sich derlei gestattet - letztere sogar mitunter besonders großzügig". Vom vierten und fünften Jahrhundert haben wir uns die Vorstellung einer geistig und literarisch bewegten Epoche zu machen, die Poeten wie Poetaster, Kritiker und Kritikaster hervorbrachte12. Aber eben längst nicht jeder, der seinen Vergil beim grammaticus traktiert hatte, konnte dem "Christianorum Maro" das Wasser reichen. Für Β beweisen das die trüben Flecken, die das Stück an sich trägt und die seinen Scheineleganzen, einschließlich der Vergil-Reminiszenz, die Wirkung nehmen. Der Interpolator will dem bösen Absalom den guten Salomon zur Seite stellen, um in der Moral der Davidkinder gleichsam eine ausgeglichene Bilanz zu schaffen (daß ihnen damit im Grunde weniger zugestanden wird als beim echten Prudentius, lasse ich jetzt aus dem Spiel). Doch der Satz: progeniem ... tristibus atque piis variaverat verdunkelt die intendierte Aussage auf seltsame Weise. Stam, Thomson und Palla sehen in den Ablativen tristibus und piis offenbar Pluralformen des Masculinums. Darauf führen jedenfalls ihre Übersetzungen13. Palla schreibt: "(David) aveva reso varia la sua prole con figli (!) malvagi e con figli (!) pii". So gerät der Verfasser in Widerspruch zu sich selbst. Denn wie könnte er nach solcher Feststellung fortfahren: ut ... 10 Ch. Schwen, Vergil bei Prudentius (Leipzig 1937) 75 notiert den Anklang unter "Sicher Vergilisches", schreibt jedoch, ebenso wie Palla a.O. 254 (zu V. 577 sereret), nur die drei Worte aus. Das genügt nicht. Erst der Zusammenhang bei Vergil rechtfertigt Schwens Urteil ganz. Juno stachelt die Furie Allecto auf (Aen. 7,335f.): Tu potes unanimos armare in proelia fratres (!) Atque odiis versare domos (!) ... eqs. Und weiter (338f.): ... fecundum concute pectus, Dissice compositam pacem, sere crimina belli. Die Wendung fecunda... viscera beim echten Prudentius (572f.), hier vom sündenträchtigen Menschenherzen gesagt, wird die Assoziation des "unheilschwangeren Busens" der Furie (Servius: plenum pectus malitiae efficacia) befördert haben, und so stand dem Interpolator dann auch das Weitere vor Augen. Diese Rede mag schon den Schülern ebenso eingetrichtert worden sein wie Junos Zornrede Aen. 1,37/49, vgl. Aug. conf. 1,17,27. Solche lumina des vergilischen Epos waren geistiger Allgemeinbesitz der Gebildeten und Halbgebildeten. 11 Jachmann, Schriften 372. 12 Vgl. Beobachtungen zum Claudiantext S. 70/3. 85 [in diesem Bande S. 43/47. 61]. 13 Stam a.O. (oben Anm. 5) 93: "But he ... had pious as well as impious children among his descendants..." etc.; ähnlich H.J. Thomson, Prudentius 1 = Loeb Class. Libr. (Cambridge, Mass./London 1949) 245.

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Abessalon sereret sua crimina iustis Pigneribusl Bleibt noch die andere Möglichkeit, nämlich tristibus undpiis als Neutra zu fassen. So versteht anscheinend Lavarenne14, und hier das Ergebnis: "(David) avait procree une descendance oü les elements (!) pieux se melangeaient aux mechants". Welch mittelmäßiges Zeugnis für Davids Nachkommenschaft! Und welch abstruse Wiedergabe des einfachen Tatbestands! Der Interpolator erreicht die Absicht, Davids Bild aufzuhellen, trotz der hochtönenden Prädikationen, mit denen er die ersten beiden Verse (574f.) füllt, weit weniger als der echte Dichter (562/ 5) bei größerer Schlichtheit und Sachlichkeit. Von großen Worten gleitet er ab in verschwommene Allgemeinheit. Ähnlich vage ist amaris (Neutrum) in V. 578, ja - nach pigneribus im selben Vers - sogar verwirrend. Da David ein Mann war, konnte er auch nicht mit Absalom schwanger gehen: nos... inplet (!)... Abessalon (579f.) ist also ein Mißgriff, den sich der echte Prudentius (in A) nicht leistete. Zwar hat auch er mit der geistlichen Deutung des biblischen Musters die Überleitung zum Exempel der Natur, also von Vater und Sohn auf (Schlangen-) Mutter und (Schlangen-) Embryo, eng verwoben, aber er besaß Geschmack genug, bei dieser schwierigen Operation wenigstens den Namen des Davidsohns fernzuhalten: vgl. V. 569f. nostra itidem ... natos Pectora parturiunt. Der falsche Prudentius stolpert täppisch auf diesem Weg, der nur mit Takt und Vorsicht zu meistern war. Dabei ist inplet aus V. 612 übernommen, wo das Verbum innerhalb der spirituellen Deutung von Empfängnis, Mutterschaft und Tod des Schlangen Weibchens (!) vollkommen passend steht: (mens \ nostra) inpletur vitiis perituro mixta marito15. Und wieder jene seltsame Unschärfe im Ausdruck! Welches Prädikat hat der elliptische Satz: nos dignum Solomone nihil (579)? Eine Ergänzung wie: habemus wäre sinngemäß, aber gewaltsam, zumal bei gleichzeitigem Wechsel von Nom. 14 In seiner Etude sur la langue du podte Prudence (Paris 1933) verzeichnet Lavarenne die substantivierten Adjektiva ham. 576 tristibus - piis überhaupt nicht, weder unter den Neutra §§ 913/49 noch unter den Masculina §§ 884/7. Die oben mitgeteilte Übersetzung entnehme ich der Ausgabe (s. Anm. 4) 61. 15 Anleihen bei der unmittelbaren Umgebung sind typisch für das Verfahren der Textfalscher, s. Jachmann, Schriften 215. Hier noch diese: David heißt auctor generis (566) in bezug auf Absalom. Der Interpolator, beherrscht von dem einen Gedanken, David gleichsam um jeden Preis zu heben, spitzt diese Angabe in seinem Sinne zu: pariturae ... virginis auctor (575), zwängt also das Mysterium der jungfräulichen Mutter in diesen Context aus Sünden- und Natterngeburt (vgl. 570 parturiunt; 599 partus), wobei man jetzt dem Begriff auctor gegenüber eine gewisse, bei solcher Sache höchst mißliche, Unsicherheit empfindet. Nicht aus Gründen der Genealogie (hierüber Palla a.O. 253f.), sondern wegen der Mehrdeutigkeit des Worts. Christi Geburt aus der Jungfrau bringt Prudentius selbst später in V. 635f. (hier auch der Versanfang progeniem\).

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nos zu Akk. nos im selben Vers16. Bleibt also nur übrig, inplet auch zum ersten Glied zu ziehen, nach Art eines semantischen Zeugmas: nos dignum Solomone nihil, sc. inplet. Dabei ergibt sich jedoch eine Sinnstörung, die man hätte fühlen müssen17. Denn was der Verfasser sagen will, ist ja dies: wir sind nicht einmal teilweise (!) gut. Die Feststellung: uns "füllt" (inpletl) nichts Gutes, trifft daher nicht. Die Syllepse bewirkt eine merkwürdige Verschiebung des Gedankens. So erweist sich ein vermeintliches Glanzlicht des interpolierten Passus in Wahrheit als dunkler Punkt. Überhaupt zeigen die beiden Schlußverse des Interpolaments (579/80) den Stempel der Falsifikation am deutlichsten, ohne daß sie sich etwa aus dem Zusammenhang mit Β ablösen ließen. Man begreift auch leicht, warum das so sein muß. In den ersten vier Versen seines Stückes brauchte der Fälscher nur an allbekannten biblischen Gegebenheiten weiterzuspinnen - wie ihm selbst das mißraten ist, sahen wir - , in den Schlußversen jedoch wagte er sich an die heikle Aufgabe, das Historische geistlich zu deuten und zugleich wieder irgendwie den Anschluß zum originalen Text herzustellen. Und daran scheiterte er kläglichst. Er glaubte, in zwei Versen leisten zu können, was der Dichter in fünf Versen ( = A) geleistet hatte, und so brachte er statt der feinen, geschickten Überleitung Α nur eine grobe Mischung der Exempla zustande. Denn 16 Palla übersetzt: "Noi non abbiamo niente che sia degno di Salomone, ci riempie solo il degenere Assalonne ...". Im Kommentar nichts. Ebenso Stam. Lavarenne, Etude §§ 1384/92 verzeichnet unter den Ellipsen keinen vergleichbaren Fall - allerdings auch nicht diesen. Interessant die Notiz des Iso von St. Gallen (abgedruckt unter den Glossae veteres bei Arevalo: PL 59, 1052): Nihil, scilicet agimus vel habemus, quia nos vitiisplus (!) implemus quam Salomone, qui significat virtutes. Hier wird gleich mehr als eine Verlegenheit periphrastisch verhüllt: neben der sprachlichen auch die sachliche, die sich aus solus Abessalon ergibt (s. oben S.93f. [138f.]). 17 Von ähnlicher Unempfindlichkeit profitiert der unechte, handschriftlich nicht überlieferte Titulus "Sepulcrum Christi", den die Ausgaben des Fabricius und Giselinus (1564, letztere in der zweiten Auflage) nach dem 42. Tetrastichon (Passio Salvatoris) abdrucken. R. Pillinger, Die Tituli Historiarum des Prudentius = Denkschr.Wien 142 (Wien 1980) 105 erklärt, daß sich dieser Titulus "weder metrisch noch stilistisch von den übrigen unterscheidet" (vgl. ebd. 106: "solche metrisch unanfechtbare, den übrigen Tituli stilistisch adäquate Verse"). Sie kann sich dabei auf das Urteil von P.R. Garrucci, Storia della arte cristiana 1 (Prato 1873) 483 berufen. Der Vierzeiler beginnt mit folgenden Versen: Christum non tenuit saxum, non claustra sepulcri, mors illi devicta iacet, calcavit abyssum ... eqs. Ich sehe im ersten Vers eine pathetische, aber inhaltsleere Wiederholung, dazu die Ellipse des Verbums tenuerunt mit Wechsel des Numerus gegenüber tenuit und im zweiten Vers einen Subjektswechsel, der durch das Pronomen illi nur teilweise überspielt wird - Dinge, die an und für sich nicht viel Gewicht haben mögen, die aber, wofern sie so zusammentreten wie hier und noch dazu in einem Epigramm, das stilistische Werturteil Pillingers widerlegen. Die Epigramme des Prudentius sind feingeschliffene Gedichte, wie es das Genos erfordert.

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wer sieht nicht, daß in V. 579f. nos ...ferro die beiden Beispiele des Dichters auf groteske Weise ineinander geschoben werden? Das Beispiel Absaloms, der dem Vater mit dem Schwert in der Hand | gegenübertritt (vgl. V. 566: ausus in auctorem generis... stringere ferrum) und das der jungen Nattern, die bei der Geburt den Mutterleib zerfleischen (vgl. V. 602: [alvus] viam lacerata per ilia pandit). Als Resultat solch kontaminierenden Verfahrens ergibt sich die monstruose Vorstellung eines Absalom, der den Menschen "füllt" wie ein Foetus und die viscera von innen heraus (!) mit dem Schwert (!) zerfetzt. Dazu noch eine Einzelheit: lacerans pia viscera ferro (580)! "Espressione stereotipata" urteilt Palla (a.O. 254 zu lacerans ... ferro), aber er hat keinen Blick für die Hand des Fälschers. Sie verrät sich durch das Attribut pia (sc. viscera). Es ist fehl am Platze. Die Verse 579/80 wollen ja eine Deutung bieten, wir befinden uns auf der Ebene des Spirituellen: Subjekt ist Abessalon, der für die Sünde steht, die viscera können nur den Nährboden der Sünde

bedeuten (vgl. V. 562 gignimus omne malum proprio de corpore nostrum). Pius ist daher in diesem Zusammenhang sinnwidrig, keinerlei ethische Pflicht obwaltet hier. Der Begriff ist aus der historischen Erzählung (V. 567: apietas!) gedankenlos in die geistliche Interpretation des Geschehens übertragen worden. Die beiden Wendungen: nimiumfecunda... viscera (572f.) und: pia viscera (580) kennzeichnen den Unterschied zwischen Α und B, Echt und Unecht, Dichter und Interpolator. Der Vers über die Schlangenmutter: aestuat interno pietatis crimine mater (597) widerspricht dieser Feststellung nicht, bekräftigt sie vielmehr. Denn der Vers gehört in die Schilderung des exemplum physicorum, steht also auf der Ebene des natürlichen Vorgangs, der dem geschichtlichen entspricht. In der detaillierten geistlichen Ausdeutung von Schlangen-Coitus und Schlangen-Geburt (608/20) fehlen die Begriffe pius, pietas selbstverständlich ebenfalls. Die Tendenz des Fälschers liegt auf der Hand. Das auslösende Moment dürfte itidem (569) gewesen sein. Prudentius bezog die Gleichsetzung allein auf das Verhältnis David-Absalom und ließ es keineswegs an der nötigen Klarheit fehlen: Davids Vaterschaft rechtfertigt einzig Absaloms wegen das Gleichnis mit der Zeugung des Bösen im Menschen. Aber dem Interpolator erschien David trotzdem zu stark der allgemeinen Sündhaftigkeit angeglichen. Dem wollte er durch seine Version abhelfen: Β dürfte als Ersatz für Α konzipiert sein. Denn ebenso wie Α trägt das unechte Stück Β durch V. 579/80 den Charakter einer Überleitung. Trat Β an die Stelle von A, schwand die offen-

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sichtliche Unordnung, die Palla jetzt zu Recht bemängelt. Der Eindruck störender Wiederholung, den der erste Teil des Interpolaments (574/8) im Verhältnis zu den originalen Zeilen 563/8 erweckt, blieb freilich nach Ersatz von Α durch Β bestehen. Doch da auf diese Weise zweimal gesagt ward, was dem Textbearbeiter das Wichtigste war, dürfte ihn das am allerwenigsten beschwert haben. Jedenfalls bringt die Ausscheidung der interpolierten Versreihe alles ins Reine. Das feine Gebilde der prudentianischen Poesie wird befreit von einer ebenso breiten wie lästigen Barriere, zugleich geschützt gegen die nachteiligen Wirkungen, die von dem eingefälschten Stück in gedanklicher Hinsicht auf die Umgebung ausgehen. Erst jetzt zeigt sich, wie zielbewußt und sicher der Dichter den schwierigen Übergang von dem einen Exempel zum anderen erstrebt.

V.

THEOLOGIE UND TEXTGESCHICHTE* Zwei Doppelfassungen bei Prudentius, psychom. praef. 38ff. 1. Prudentius hat seinen großen hexametrischen Gedichten selbständige Stücke, die sog. 'Praefationes', vorangestellt, die sich durch das verschiedene Metrum deutlich von dem Hauptgedicht abheben. Als Literaturform sind sie eine Neuschöpfung; das Werk des heidnischen Zeitgenossen Claudian bietet Vergleichbares, aber nichts Gleiches. Die Stücke bereiten auf das folgende lange Gedicht vor, jedoch nicht durch ein bloßes Resume des Inhalts, sondern in der Weise einer abstrahierenden Skizze, die das geistige Profil des Themas herausarbeitet. Zugleich werden die Gegenstände jeweils in einen weiteren geschichtlichen und spirituellen Zusammenhang eingeordnet, der ihren Zeitbezug nicht mindert, sondern vertieft. Dies geschieht dadurch, daß die großen Themen der prudentianischen Poesie - der Kampf gegen Häresie, Sünde und aufflackerndes Heidentum - als in der Heiligen Schrift vorausgesagt oder vorgebildet erwiesen werden. Untereinander sind die Praefationes allerdings wiederum recht verschieden. Die Praefatio zur Psychomachie1 läßt einen dreiteiligen Aufbau erkennen. Sie beginnt mit einem Preis der Glaubenskraft Abrahams, der uns in doppelter Hinsicht zum Vorbild wurde: durch seine Bereitschaft, den eigenen Sohn zu opfern (Gen. 22), lehrt er uns, Gott das Liebste und Teuerste willig darzubringen; durch den Krieg, den er zur Befreiung Lots gegen Fremdvölker führte (Gen. 14), mahnt er zum Kampf gegen die Sünde im Herzen, die erst besiegt sein muß, bevor wir eine gottgefällige Frucht der Tugend zeugen können: Verse 1/14. Dieser zweite Gedanke, der Grundgedanke der | Psychomachie, wird dann durch eine kraftvolle Schilderung der kriegerischen Unternehmung Abrahams und der nachfolgenden Ereignisse, der Begegnung mit Melchisedech (Gen. 14,18/20), des Besuchs der drei "Engel" unter den Eichen von Mamre (Gen. 18) und Saras später Mutterschaft (Gen. 18,9/15; 2 1 , l f . ) , fortgeführt: Verse 15/49. Bei aller Bildhaftigkeit bietet die sorgfältig gearbeitete Erzählung nicht nur ein Stück Bibelpoesie, son* Teile der nachfolgenden Studie habe ich am 27.11.1984 einem Hörerkreis der Universität Augsburg vorgetragen. In ihrer vorliegenden Form widme ich sie Martin S i c h e r 1 aus Anlaß seines 70. Geburtstags am 14.12.1984 - Wiener Studien 98, N.F.19 (1985) 179/203. l Über sie vgl. P.F. Beatrice, L'allegoria nella Psychomachia di Prudenzio, Studia Patavina 18 (1971), 25/73 (53/63).

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dem ist schon im Ganzen wie in vielen Einzelzügen auf die allgemeine, überzeitliche Bedeutung des Geschehens hin berechnet, die dann in einem exegetischen Schlußteil entfaltet wird: Verse 50/68. Die hier ausgehobenen Verse umfassen den erzählenden Teil vom Auftritt Melchisedechs ab Vers 38 und den interpretierenden bis Vers 62:

41 42 43 44

60 60a

adhuc recentem caede de tanta virum donat sacerdos ferculis caelestibus, Dei sacerdos rex et idem praepotens, origo cuius fonte inenarrabili secreta nullum prodit auctorem sui, Melchisedec, qua Stirpe, quis maioribus ignotus, uni cognitus tantum Deo. mox et triformis angelorum trinitas senis revisit hospitis mapalia, et iam vietam Sarra in alvum fertilis munus iuventae mater exsanguis stupet herede gaudens et cachinni paenitens. haec ad figuram praenotata est linea, quam nostra recto vita resculpat pede: vigilandum in armis pectorum fidelium omnemque nostri portionem corporis, quae captafoedae serviat libidini, domi coactis liberandam viribus; nos esse large vernularum divites, si, quid trecenti bis novenis additis possint, figura noverimus mystica. mox ipse Christus, qui sacerdos verus est, parente natus alto et ineffabili parente inenarrabili atque uno satus cibum beatis offerens victoribus parvam pudici cordis intrabit casam ... |

2. Die ausgeschriebene Versreihe birgt Textprobleme an zwei inhaltlich entsprechenden Stellen: dort, wo (nach Hebr. 7,3) die geheimnisvolle Her-

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kunft Melchisedechs dargestellt wird (41/44), und bei Deutung dieser Tatsache auf Christus (60). Die Verse 41/42 fehlen im Puteanus A (saec. VI in.) und sind zuerst von N. Heinsius, dann von J. Bergman und M. Lavarenne getilgt worden2 - in der heute noch maßgebenden Edition und in der verbreitetsten Leseausgabe stehen die Verse also in Klammern. Statt Vers 60 bieten Handschriften des 9./10. Jh. aus den von Bergman so benannten Klassen Ab (doch mit Ausnahme des Ambrosianus B, saec. VI) und Ba die oben als Vers 60a hinzugesetzte Alternativfassung3. Für sie entschieden sich u. a. die Editoren V. Gislain (Giselinus; Antwerpen 15642), F. Arevalo (Rom 1788/89, wiederabgedruckt bei Migne PL 59 und 60), Th. Obbarius (Tübingen 1845), A. Dressel (Leipzig 1860), von den neueren einzig H.J. Thomson (Loeb Class. Libr., 1, 1949). Doch fand sie einen ernstzunehmenden Verteidiger in G. Meyer; der Vers hält sich - wohl durch Thomsons Ausgabe - gelegentlich auch in der Sekundärliteratur4. Beide Textprobleme bedürfen weiterer Klärung, zumal in der neuesten Prudentiusausgabe von M.P. Cunningham (CC lat. 126, 1966) die schweren metrischen Bedenken gegen Vers 60, die Meyer zwar nicht als erster erhob, aber doch erstmals begründete, keine Wirkung getan haben, der Vers also unverändert im Text stehen bleibt, und die Athetese der Verse 41/42 - immerhin eine der ältesten der Prudentiusphilologie5 - wieder rückgängig gemacht wurde. | Es erhebt sich auch die Frage, ob zwischen den beiden Textproblemen an den inhaltlich korrespondierenden Stellen des Gedichts eine Beziehung be2 N. Heinsius, Leiden 1667, 2Köln 1701; J. Bergman, Psychomachie, Spezialausgabe, Diss. Upsala 1897, und Gesamtausgabe, CSEL 61, Wien 1926; M. Lavarenne, Sonderausgabe der Psychomachie, Paris 1933, und Prudence, 3, Paris J 1963. 3 Vgl. Bergmans Apparat. Im Cantabrigiensis Corp. Chr. 223 ( = C), im Leidensis Burm. Q 3 ( = E) und im Parisinus lat. 8305 ( = N) ist zu Vers 60a (im Text) am Rande Vers 60 nachgetragen; im Sangallensis 136 ( = S) stand nach Vers 60 auch Vers 60a (als letzter der Seite) im Text, wurde aber durch Rasur getilgt (vgl. Cunningham im Apparat z. St.). W. Schetter stellte mir freundlicherweise Fotokopie bzw. Film der Handschriften C und S sowie des Puteanus Α zur Verfugung; Ε und S kontrollierte ich im Original. 4 G. Meyer, Prudentiana, Philol. 87 (1932), 249ff. (252 Anm. 11); M. Smith, Prudentius' Psychomachia, Princeton 1976, 115. 5 Ν. Heinsius schließt in seiner Ausgabe (ich benützte die spätere Auflage, Aurelii Prudentii Clementis v.c. opera cum notis Nicolai Heinsii, Dan. filii..., Köln 1701, 657) die Verse unter Hinweis auf ihr Fehlen im Puteanus in runde Klammern, was bei ihm Athetese bedeutet (ebenso wird etwa 574 der allgemein als unecht anerkannte Vers ham. 69 gekennzeichnet). Obbarius und Dressel vermerken Heinsius' Tilgung, wobei man erfährt, daß sich auch Chamillard (Paris 1687) und Cellarius (Halle 2 1739) seinem Urteil anschlossen: Dressel 171 im Apparat zu psych, praef. 41. 42. Bergmans und Cunninghams Angaben lassen das Alter der Athetese nicht erkennen. Beibehalten wird sie übrigens auch noch von E. Rapisarda (Sonderausgabe der Psychomachie, Catania 1962).

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steht. Diese Frage wurde bejaht von P. Pelosi, der die Verse 41/42 und 43/ 44 bzw. 60 und 60a als verschiedene Fassungen von des Dichters eigener Hand ansah6. Dabei vertauschte Pelosi gegenüber Bergmans Ausgabe gleichsam die Vorzeichen. Die von Bergman getilgten Verse 41/42 hielt er für eine Verbesserung ("miglioramento") des Autors, die bestimmt gewesen sei, die frühere Version 43/44 zu ersetzen; desgleichen nahm er den von Bergman verworfenen Vers 60a für eine spätere Verbesserung des Verses 60, hierin Meyers Argumentation zugunsten des Verses 60a aufgreifend7. Auch im Zusammenhang mit der These der Autorvarianten bei Prudentius kommt folglich beiden Problemen erhebliche Bedeutung zu. Beginnen wir mit den Versen 60/ 60a. 3. Daß Bergman Vers 60 von jeglichem Makel reinzuwaschen suchte, erklärt sich sowohl aus seinem schier grenzenlosen Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der spätantiken Textzeugen Α und B, besonders des Puteanus, wie aus der Nachlässigkeit, mit der er metrische Fragen behandelte. Beide Schwächen sind ihm von | Meyer mit Recht vorgehalten worden8, der auch knapp und treffend die metrischen Mängel des Verses 60 bloßlegte (252 Anm. 11). In der Zeile parente natus alto \ έί ineffabili sollen wir nach Bergman Hiat ertragen und Auflösung der vierten Hebung9. Vielleicht könnte man das noch hinnehmen, so auffällig jede einzelne dieser Erscheinungen, erst recht ihr Zusammentreffen, bei Prudentius auch wäre. Denn Hiat findet sich im ganzen Prudentius selten10, und mancher dieser Fälle 6 P. Pelosi, La doppia redazione delle opere di Prudenzio, Studi Ital. N . S . 17 (1940), 137/180 (159/162). 7 Widerspruch fand Pelosi sogleich bei G. Lazzati, Osservazioni intorno alia doppia redazione delle opere di Prudenzio, Atti del Reale Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti 101,2 (1941/42), 219/233. Lazzati läßt Annahme einer Autorvariante an keiner der von Pelosi behandelten Stellen zu, anerkennt nur Interpolationen. Gerade im Fall der Verse psych, praef. 41/44 glaubt allerdings auch er, ohne das eine wie das andere auskommen zu können (229). Er verteidigt alle vier Verse, wobei ihm ein Hinweis auf Prudentius' Vorliebe für "ripetizioni di un concetto in forma leggermente variata" genügt, um alle exegetisch-stilistischen Probleme der Verse zu erledigen. Zu seiner Beurteilung von 60/60a s. u. S. 112 Anm. 27 [S. 189 Anm.27], 8 Meyer, Prudentiana, bes. 250 Anm. 6; zu Bergmans Metrik s. auch E. Löfstedt, Deutsche Literaturzeitung 5 (1928), 31. 9 J. Bergman, De codicum Prudentianorum generibus et virtute, SB Akad. Wien, phil.hist. Kl., 157,5 (1908), 46. 10 Hiat steht in arsi unter üblichen Bedingungen (Mueller 375f.), z.B. c. Symm. 2 , 1 5 9 . 2 2 7 . Einiges andere bei F. Krenkel, De Aurelii Prudentii Clementis re metrica, Diss. Königsberg

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mag nach der heilenden Hand des Textkritikers verlangen; drei davon, alle im Romanushymnus (per. 10, 833. 925. 1078), suchte L. Mueller, De re metrica 2 171, konjektural zu beseitigen, freilich ohne daß sein Anstoß an diesen "hiatuum vastitate deformia" in den Prudentiusausgaben irgendwelche Spuren hinterlassen hätte". Aufgelöste Hebungen gibt es bei Prudentius fast nur im Romanushymnus, der ob seiner geringeren Strenge in metrisch-prosodischer Hinsicht unter | den iambischen Gedichten des Prudentius (mit insgesamt 3.498 Versen) eine Sonderstellung einnimmt. Hier wird auch zwölfmal die vierte Hebung aufgelöst, nie dagegen in den anderen Gedichten, die überhaupt nur ganze vier (!) Auflösungen - immer der zweiten Hebung - bieten (s. Meyers Tabelle, 254). Aber wie gesagt: mit beiderlei könnte man sich in Vers 60 vielleicht noch abfinden. Doch durch das regelwidrige longum altö in der vierten Senkung des iambischen Trimeters wird die Sache endgültig entschieden. Wir besitzen genügend Trimeter von Prudentius' Hand, um zu sehen, daß er die Senkung gerader Zahl jeweils rein bildet, also eben Trimeter baut, nicht Senare (wenn Lavarenne in den Einleitungen zu den betreffenden Stükken bald von Trimetern, bald von Senaren, bald von beidem redet, darf das nicht verwirren): Zu dem Romanushymnus, der mit seinen 1.140 Versen etwa den Umfang einer Senecatragödie erreicht, kommen noch der Fastenhymnus (cath. 7) mit 220 Trimetern, die Praefationes zur Hamartigenie (63 Verse) und zur Psychomachie (68, nach üblicher Zählung) sowie die beiden Stücke per. 9 und apoth. praef., in denen der Trimeter im Wechsel mit dem Hexameter (53 von 106) bzw. dem iambischen Dimeter (28 von 56) erscheint. In allen diesen Versen also nirgends ein irreguläres longum in der Senkung, nur hier! Denn

(Rudolstadt 1884), 26f. Besonders erwähnt sei hier der Vers, den Heinsius zur Stütze für psych, praef. 60 anführte: cath. 12,131 aram ante \ ipsam simplices. Der Vers scheint für Heinsius' Einschätzung der Möglichkeit des Hiats bei Prudentius bedeutsam gewesen zu sein: unter Berufung auf ihn und einige aus Anlaß dieses Verses vorgelegte Fälle - darunter wieder psych, praef. 60 - widerrief er 2155 eine Konjektur zu psych. 494, durch die er früher hatte Hiat beseitigen wollen (ebd. 734f.). Daß die Textkritik oft ein Wort mitzureden hat, zeigt apoth. 249 (von Krenkel gar nicht behandelt, weil er Dresseis Text, v.l. sive ipse [statt sibi ipse], zugrundelegte; von S.T. Collins, Sacris Erudiri 9 (1957), 46, durch Konjektur sic ipse angetastet), π Auf den Vers per. 10,925, permitto, vocem libere ut exerceas (ut tu exerceas, coni. Mueller), beruft sich Lavarenne in der Einleitung der Sonderausgabe 110 wie auf einen Kronzeugen, um psych, praef. 60 als metrisch tadellos zu erweisen. Er schreibt: "Le vers Pe X 925 offre un cas absolument analogue ä celui qui nous occupe: libere ut exerceas, tribraque quatrieme avec hiatus et abrfegement de longue ...". Aber der Fall wäre, selbst wenn man Lavarennes Messungen beider Verse mitmachte (Tribrachys in psych, praef. 60, vgl. dazu unten S. 107 mit Anm. 14 [185 Anm. 14]), keineswegs analog, da in libere | ut das gekürzte longum nicht in der Senkung stünde und Hiat die beiden brevia der Hebung trennte.

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cath. 7,93, dextram perarmat romfeali (romphaeali) incendio, stellt wegen der prosodischen Freiheit, die sich Prudentius bei griechischen Wörtern gestattet (s. etwa Mueller 445), keine Ausnahme dar, und den Vers ebd. 81, referre prisci stemma nunc ieiunii (statt referre stemmaprisci), hat zuerst Meyer 25 Iff. durch Verteidigung dieser rechten Wortfolge in Ordnung gebracht12. Bei aller Achtung, die dem großen Heinsius gebührt, hätte doch der jüngste Editor dessen lapidaren Hinweis "Ut pes quartus sit dactylicus, elisione exclusa" nicht einfach als Rechtfertigung der abnormen Metrik in Vers 60 gelten lassen dürfen (Cunningham im App.). Auch Endsilbenkürzung in alto kommt nicht in Frage. Kürzung langer Endsilben in thesi bei Hiat, die Vergil nach griechischem Vorbild gelegentlich zugelassen hat (Aen. 3,211 insülas Ionio in magno) - unter Bedingungen übrigens, die hier nicht erfüllt sind (s. Mueller 371) - , ist sehr bald aufgegeben worden (Ovids Werk zeigt den | Wandel) und war bei christlichen Dichtern verpönt13. Darum ist auch Lavarennes Einwand gegen Meyer (in der Spezialausgabe, 110 Anm. 1) nichtig, seine Verteidigung des Verses schon deswegen mißglückt14. Die correptio finalis außerhalb des Hiats ist für eine Form wie alto erst recht ausgeschlossen, wie Meyer mit vollem Recht betonte. Prudentius kürzt Endsilben auf -o in Substantiven wie libido, virgo, origo, compago,formido,fuligo, in Adverbien (praesto, postremo, idcirco), in nemo, bei Verben in der 1. Person (confido, credo, ignosco, opto, clamo, emitto, pendo, perdo, iuro, permitto, agnosco und ibo, probabo), dazu in adesto, memento und im Ablativ des Gerundiums (flendo, quassando, stando) - alles in Übereinstimmung mit der Tradition der lateinischen Dichtersprache, wie Prudentius sie zu seiner Zeit vorfand15. Ich würde das alles nicht wiederholen, wären nicht Lavarenne wie Cunningham gegenüber Meyers Kritik an Bergman taub geblieben. Wir haben auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß 12 Nach der Angabe Cunninghams im App. zu cath. 7,81, "referre prisci stemma, sie omnes codd. quos vidi", handelte es sich freilich um ein Scheinproblem, Bergmans Angabe, "prisci stemma CDVEOU", wäre irreführend, Meyers Argumentation zumindest hinsichtlich des Ergebnisses eine ματαιοπονία. 13 Mueller 373: "Igitur timuerunt longas breviare in thesi Avianus, Sidonius, Avienus, Sedulius, Arator, Maximianus, Luxorius, Boethius, Prudentius. nam in huius libris normam modo propositam quotiens evertit Obbarius [der Prudentiuseditor], totiens errore labitur". 14 Über sie vgl. im übrigen oben Anm. 11. Man beachte auch, daß weder Heinsius noch Bergman den Versuch wagten, den vierten Fuß in psych, praef. 60 als Tribrachys zu messen. 15 Mueller 413/418. Meine Beispiele sind den Trimetern entnommen, mehr bei Krenkel 16/18. Daß vermeintliches suö in c. Symm. 1,369 (Krenkel 16) auf einfachem Druckfehler der älteren Ausgaben beruht (suo nomine statt - richtig - sub nomine), sei vorsorglich noch einmal in Erinnerung gebracht: s. Meyer 253 Anm. 11.

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es einmal im künstlerischen Werdegang unseres Dichters eine Stufe gegeben habe, auf der er einen Vers wie diesen hätte für gut und recht befunden. Die Urvariantenlehre Pelosis entbehrt schon in diesem Punkte der Grundlage. Vers 60 darf nicht stehen bleiben, ohne daß zumindest crux gesetzt wird, wie das Bergman selbst in der Psychomachie-Ausgabe 1897 getan hatte, offenbar zu einer Zeit, da sich sein Vertrauen auf das Zeugnis des Puteanus noch nicht so gefestigt hatte wie schon zehn Jahre später bei Abfassung der zitierten Wiener Akademieschrift. Einen Emendationsversuch wagte bereits in der Humanistenzeit G. Fabricius16, parente natus alto_et1nenarrabili, wobei er allerdings | nicht nur Anapäst im vierten Fuß hinnehmen muß, den Prudentius niemals hat (apoth. praef. 51 bereinigte Meyer 258f. durch Aufnahme der v. 1. dolosa statt vitiosa), sondern auch durch seine Kontamination der beiden Alternativfassungen in stilistischer Hinsicht das Beste an Vers 60 opfert17. Änderung der Wortstellung18 würde immerhin Hiat und irreguläres longum beseitigen: alto parente natus et ineffabili. In diesem Fall erklärte sich die Verderbnis durch das Streben nach Glättung der Wortstellung, zu der die auffällige Sperrung alto ...et ineffabili herausfordern konnte19. Jeglichen Anstoß, auch die Auflösung der Hebung, beseitigt haud effabili (Hinweis R. Henke): parente natus alto et haud effabili. Hierzu vergleiche man etwa c. Symm. 2,229f.: lux immensa mihi (sc. Deo) est et non resolubilis aetas Sensibus et vestris haud 16 Ich zitiere ihn nach Arevalo. Fabricius' Ausgabe christlicher Dichter erschien Basel 1564; in der Sylloge annotationum, die M.J. Weitz seiner Prudentiusausgabe (Hanau 1613) beigegeben hat, sind Fabricius' Noten nur teilweise abgedruckt. 17 S. u. S. l l l f . [189] über inenarrabilis / (in)effabilis. 18 Wort-Verstellungen in den Handschriften: Meyer 253 Anm. 13. Vgl. auch Gislains Umstellung per. 10,911 ergo ratus praefectus elinguem virum (statt praefectus ergo rätus .... codd.), die Bergman und Cunningham verzeichnen, ohne sich jedoch für sie zu entscheiden (Cunningham: "fortasse recte. Haereo"). Rätus, nach Mueller 591 einmal bei Porfyrius Optatianus, wäre für Prudentius trotz der prosodischen Freiheiten, die Krenkel 12f. zusammenstellt, recht merkwürdig. Krenkels Kritik an Versuchen, metrisch-prosodische Mängel durch Wortumstellungen zu beheben (21), hängt mit seiner Geringschätzung der Verskunst des Dichters zusammen ("versuum elegantium fingendorum haud magnopere sciens peritusque", ebd.). Wie anders lauteten Bentleys Urteile über den "magnus Flacci imitator" (ad Hör. carm. 1,34,5)! 19 G. Jachmann, Ausgewählte Schriften, Königstein/Ts. 1981 (Beiträge zur Klass. Philol. 128), 499: "Auf nichts waren die antiken Recensoren... eifriger bedacht als auf Glättung der Wortstellung, ein Großteil aller ihrer Metathesen dient diesem Ziel". Vgl. dens., Textgeschichtliche Studien, Königstein/Ts. 1982 (Beiträge zur Klass. Philol. 143), 613. 621. 647. Daß Vers 60 im Ganzen, wie noch zu zeigen sein wird, der Großinterpolation (durch die gefälschte Ersatzfassung 60a) ausgesetzt war, verträgt sich durchaus mit der Annahme einer Kleininterpolation, die über diesen Vers hinwegging; s. wiederum Jachmann, Textgeschichtliche Studien 755f. Zur Trennung der Attribute nach dem Typ alto parente ... et ineffabili vgl. etwa Prud. per. 10,656 da septueimem circiter puerum aut minus (i.e. minorem); apoth. 501 dum tremefacta cohors dominique oblita; ham. 398 informes horrent facies habituque minaces.

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intellecta (i. e. inintellegibilis) vetustas. Vers 60 ineffabili ist dann nichts weiter als Angleichung an Vers 41 inenarrabili. 4. Meyer begünstigte, wie eingangs bemerkt, die Alternativfassung Vers 60a, die er für "metrisch wie sachlich einwandfrei" erklärte (253 Anm. 11). Bei Pelosi gelangte sie dann sogar zu der besonderen Würde einer von Prudentius selbst - "per miglioramento" | - verfertigten Zweitfassung. Im Gegensatz zu Bergman, dessen Urteil über diese Zeile lautete: " . . . falsarius versum effinxit caesura omnino carentem" (46, s. o. Anm. 9), nahm Meyer, gefolgt von Pelosi, durch Synaloephe verdunkelte Hephthemimeres an: parente_inenarrabiliJ^

atque_uno satus.

Dazu ist folgendes zu bemerken: Prudentius hat zwar die Hephthemimeres - allein, ohne Penthemimeres - einige Male im Romanushymnus zugelassen20, aber außerhalb dieses Gedichts findet sich die Caesur, wie Meyer selbst feststellt, nur psych, praef. 43 und 60a; nur also in den zwei höchst problematischen Zeilen unseres Stückes21, nirgends etwa in den 220 Trimetern des Fastenhymnus cath. 7 oder sonst in einem der anderen iambischen Gedichte. Schon dies ist eine Tatsache, die bedacht sein will, muß man doch bei Beobachtung des prudentianischen Trimeters immer den Unterschied machen "Prudentius extra epyllion" - "Prudentius in epyllio"22. Vor allem aber beschönigt Meyer das Verhältnis des Verses 60a zu den anderen. In keinem Falle ist die Hephthemimeres bei Prudentius durch Synaloephe geschwächt. Den Vers per. 10,146 cum consulatum_initis, | ut vernae solent hätten Meyer (Anm. 11) und Pelosi (162) nicht anführen dürfen, da hier gar nicht die Hauptcaesur verdunkelt wird23, sondern nur das Wortende nach der 20 Zu den bei Meyer 252 Anm. 11 genannten Versen per. 10, 67. 146. 191. 308. 459. 562. 815. 906. 1006 ist noch Vers 688 hinzuzurechnen. 21 Über die Verse 43/44 s. u. S. 113ff. [191ff.]. 22 Mueller 230. Als "Epyllion" bezeichnet er den Romanushymnus (per. 10). Wenn Mueller gerade hier feststellt, Prudentius habe "extra epyllion" Penthemimeres u n d Hephthemimeres gebraucht, so mag er das im Hinblick auf psych, praef. 43 und 60a (bei Dressel im Text) tun, doch sind Irrtümer in Einzelheiten auch bei diesem Kenner der Materie nicht ausgeschlossen (seine Angabe, Prudentius gehöre zu den Dichtern, die Hiat in arsi nicht zulassen [378], bedarf der Korrektur: s. oben Anm. 10; den Irrtum moniert schon Krenkel 26). 23 Wenn es darum geht, Caesur in Synaloephe zu belegen, mag man auf per. 10,845 verweisen, wo die Penthemimeres verdunkelt ist.

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zweiten Hebung, durch das Prudentius der Regel gemäß (s. Mueller 229) die Hephthemimeres stets stützt, es sei denn, er hat Wortschluß nach der zweiten Senkung gewählt (zweiten und dritten Trochaeus durch ein Wort gefüllt) wie per. 10,67: solusque ut incitator \ et fax omnium·, ebd. 191: mox flevit imp u rat us \ occisum gravi \ \ disco ... Auch diese Möglichkeit entspricht durchaus der Regel. Gerade die Verse also, in denen Prudentius die Hephthemimeres tatsächlich zuläßt, enthüllen die metrischen Mängel des Verses 60a: nicht nur die Semiseptenaria ist geschwächt, der Vers zeigt auch keinen der beiden Nebeneinschnitte, stellt überhaupt mit seinen drei Synaloephen ein metrisches Monstrum, jedenfalls innerhalb der prudentianischen Trimeter ein seltsames Unicum dar. Das gilt selbst dann noch, wenn man gewisse abnorme Verse des Romanushymnus in den Vergleich miteinbezieht24: ungegliederte Gebilde wie Vers 60a gibt es bei Prudentius nicht. Auch malerischer Zweck (etwa wegen inenarrabili) ist ausgeschlossen, da - anders als im Falle des Verses per. 10,12 (s. Anm. 24) - hier die Unsagbarkeit nicht in einer mangelhaften Beherrschung der Sprache seitens des Dichters, sondern nur in der a l l e s , auch das höchste, Sprach- und Fassungsvermögen des Menschen übersteigenden Größe Gottes gründen kann. Der regelwidrige Vers lenkt von dieser Aussage eher ab, als daß er sie untermalte, und Prudentius hätte sich auch durch das lange Wort inenarrabilis nicht zu einem solchen Fehlgriff bei Wahl seiner Ausdrucksmittel nötigen lassen müssen, wie Vers 41 beweist (s. u. S. 113f. [192f.]). "Metrisch einwandfrei" (Meyer) ist der Vers folglich nicht, "sachlich" ist er es, aber gedanklich ist er es wiederum nicht. Denn was für einen Sinn hat hier der Zusatz parente inenarrabili at que uno satusl Niemand besitzt mehr als einen Vater, auch der Gottmensch Christus nicht. Die Einheit und Einzigkeit Gottes zu betonen, hat Sinn im Gegensatz zum heidnischen Polytheismus und häretischen Dualismus oder im Zusammenhang mit der Lehre der Hl. Dreifaltigkeit, aber hier nur zu dem Zweck, die Einheit der verschiedenen Personen in der Wesenheit zu verteidigen. Es macht keinen Sinn zu sagen, daß der Vater des Sohnes ein einziger ist, sondern nur, daß der Vater u n d der Sohn ein einziger ist. Unus, gesagt von den beiden ersten Personen 24 Über die ungewöhnlichen Caesuren in per. 10, 12. 17. 809. 842 und 108. 921 s. Meyer 253 (Ende der langen Anm. 11), und Müller 230. In per. 10,12 liegt vielleicht malerische Absicht vor; vgl. J. Bergman, Aurelius Prudentius Clemens. Der größte christliche Dichter des Altertums 1, Dorpat 1921, 77.

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der Hl. Dreifaltigkeit, findet sich in sinnvollem dogmatischen Kontext etwa zu Beginn gerade der Psychomachie (1/4) oder per. 10,316ff.: |

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Ititemporalis, antequam primus dies, esse et fuisse semper un us obtinet. Lux ipse vera, veri et auctor Luminis, cum Lumen esset, Lumen effud.it suum: ex Luce fulgor natus, hic est Filius.

Vis una Patris, vis et una est Filii; un us que ab un ο Lumine Splendor satus pleno refulsit Claritatis numine; natura simplexpollet unius Dei, 325 et, quidquid usquam est, una Virtus condidit. Die Hand eines Fälschers verrät sich eben nicht immer und nicht nur durch sprachliche oder metrische Abweichungen, sondern öfter noch durch eine gewisse Ungeschicklichkeit und Unschärfe des gedanklichen Ductus. Man könnte sich vorstellen, daß der oben ausgeschriebene Vers 322 des Romanushymnus (vgl. psych, praef. 60aparente ... uno satus ~ per. 10,322 ab uno Lumine ... satus) dem Interpolator - denn einem solchen psych, praef. 60a zuzuschreiben, werden wir jetzt nicht mehr zögern dürfen - vorgeschwebt hat, ohne daß er doch Kraft und Kühnheit des echten Dichterworts hätte zu meistern vermocht25. Und noch ein Letztes zu seinem leidigen Vers. Inenarrabilis ist ein Ausdruck, der in engster Anlehnung an die heiligen Texte gewählt ist, die Prudentius vor Augen hatte (sine generationis enarratione, Hebr. 7,3 VL26; vgl. Is. 53,8; Act. 8,33 generationemeiusquisenarrabit...?), und man würde daher wohl auch an seiner wiederholten Verwendung (nach 41 in 60a) keinen Anstoß nehmen, böte nicht Vers 60 die schöne Variation (in-)effabilis. Für mein Empfinden liegt ein wesentlicher Vorzug des Verses 60 gegenüber 60a gerade darin. Die Variation erinnert uns, daß ein Stilkünstler wie Prudentius das lange Wort nicht einfach wiederholt hätte, daß der Wech25 Wie gerne sich die Fälscher ihre Arbeit durch Anleihen beim Autor erleichtern, hat Jachmann immer wieder dargetan; vgl. Ausgewählte Schriften 208 mit Anm. 15. 405. 426/428; Textgeschichtliche Studien 534f. 541. 544f. 561. 564 u.ö. 26 Diese Version für άγενεαλόγητος (sine genealogia, Vulg.) bietet Ambros. de fide 3,11,88. Die Beuroner Ausgabe der Vetus Latina lag für Hebr. (Bd. 25,2) bis Abschluß dieses Aufsatzes noch nicht vor. Sabatier verzeichnet sine generationis ordine, sine generationis enumeratione aus Ambrosius.

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sei in der Wortwahl jedenfalls kaum Sache eines Fälschers, sondern weit eher Siegel der Echtheit ist27. Die Begriffe mysterium und ineffabile | gebraucht Hieronymus zur Bezeichnung desselben Tatbestands in dem unten S. 117/9 [196f.] erwähnten Brief über die Melchisedech-Frage, wobei er ebenfalls eine von ihm zuvor zitierte Wendung des Hebräerbriefs (5,11 VL super quo multus nobis sermo est et ininterpretabilis) variiert28. Grundlage aller Emendationsversuche muß also Zeile 60 bilden, während 60a in toto als Fälschung anzusehen ist. 5. Mit Pelosis Vorstellung, beide Verse rührten von Prudentius' Hand, der fehlerhaft überlieferte Vers 60 wie der metrisch und gedanklich mißglückte Vers 60a, ja letzterer sei sogar das Ergebnis wiederholter Feile des Dichters, hatte die Urvariantenlehre bei Prudentius einen ihrer Tiefpunkte erreicht. Freilich nicht zum ersten Mal. "At unde haec tanta ... utriusque lectionis diversitas?", fragte der Arzt Giselinus in einer temperamentvollen Note seiner Prudentiusausgabe zu Psych, praef. 60 und beantwortete die Frage unter Hinweis auf die Gewohnheit antiker Literaten, vor der Publikation das eigene Werk Freunden zur Kritik vorzulegen. Schon er rechnete also mit authentischer Doppelfassung, wie übrigens - aus anderem Anlaß - gelegentlich auch N. Heinsius 29 . Das mag das Alter eines Lieblingsirrtums der modernen Prudentiusphilologie beleuchten, dem Pelosi zum Durchbruch verhelfen wollte. Bergman sah den Hiat in Vers 60 als auslösendes Moment für die Einfälschung der Zeile 60a an30: der Interpolator habe den Hiat irrtümlich für einen prosodischen Fehler gehalten und ihn daher - zu Unrecht - beseitigen wollen. Diese Erklärung hat, allerdings mit der nötigen Abwandlung, manches für sich: Korruptel im echten Vers als Motiv der interpolierten Ersatzfassung31. Auch | ein Verseschmied, der selbst kein sicheres Gefühl für die

27 Richtig bemerkt von Lazzati (s. o. Anm. 7) 230. 28 Hier, epist. 73,4,3 (CSEL 55,17): Si vas electionis (i.e. Paulus apostolus) stupet ad mysterium et, de quo disputat, i η e f f a bile confitetur, quanto magis nos vermiculi et pulices solam debemus scientiam inscientiae confiteri. Ineffabilis geht in die offizielle Sprache der Kirche ein, vgl. das Symbolum des Konzils von Toledo (675): Ipse quoque Pater est essentiae suae, qui de ineffabili substantia Filium ineffabiliter genuit... (Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum 175, Nr. 525; ferner: 259, Nr. 800; 261f., Nr. 804; 587, Nr. 3001). 29 Giselinus zu Psych, praef. 60, abgedruckt bei Weitz, Sylloge (o. Anm. 16) 477f.; Heinsius, Ausgabe 2 1701, 121. 763. 30 SB Wien 1908 (o. Anm. 9), 46; Dorpat 1921 (o. Anm. 24), 77 Anm. 2. 31 Daß kleine Textverderbnisse die antiken Redaktoren zu schlimmbessernden Emendationsversuchen, auch zu Zudichtungen im Umfang ganzer Verse herausforderten, hat Jachmann,

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Gliederung des Trimeters spüren läßt, mag einem Hiat gegenüber empfindlich reagieren. Aber es erhebt sich jetzt die Frage nach dem Verhältnis dieser Doppelfassung zu der von Heinsius, Bergman, Lavarenne und Pelosi in den Versen 41/44 angenommenen Textstörung, und damit stellt sich die weitere Frage, ob es nicht doch in diesem besonderen Fall einen anderen, stärkeren Beweggrund für die Einfälschung des Verses (60a) gab. Wenden wir uns also dem Problem der Verse 41/44 zu. 6. Bergman versah seine Athetese der Verse 41/42 mit einem leichten Fragezeichen: "Desunt in Α et, ni fallor, interpolati sunt"32. Ausschlaggebend dürfte für ihn das Zeugnis des Puteanus gewesen sein, daneben hat er aber gewiß auch den Dublettencharakter der beiden Verspaare 41/42 und 43/44 im Auge gehabt. Ähnlich ist die Haltung Lavarennes. Zu 41/42 bemerkt er: "Ces deux vers ... disent en effet la meme chose que les deux suivants", setzt jedoch gleich hinzu, daß darin kein zwingender Beweis ihrer Unechtheit zu sehen sei, da Prudentius eine Vorliebe für Pleonasmen besitze. Trotzdem behielt er Bergmans Athetese der Verse 41/42 bei, und zwar auch in der zweiten Auflage seiner Gesamtausgabe33. Auch für ihn bildete also der Ausfall der Verse in Α das entscheidende Moment, ohne daß er doch Bergmans Zweifel jemals hätte überwinden können: im Apparat gibt er das Urteil seines Vorgängers wörtlich weiter. Eine Lösung des Problems ist allerdings auch unmöglich, solange man sich die Blickrichtung durch das Zeugnis der spätantiken Handschrift aufzwingen läßt und das kritische Augenmerk allein dem Verspaar 41/ 42 zuwendet. Befreit man sich von diesem Zwang, öffnet sich der Blick für eine ganz andere Betrachtungsweise. Es wird dann möglich, die beiden Verspaare 41/42 und 43/44 nach ihrer inhaltlichen Aussage und stilistischen Qualität vorurteilsfrei gegeneinander abzuwägen, und läßt man sich erst einmal darauf ein, kann das Ergebnis kaum zweifelhaft sein. Auf eine erhabene, mystische Aussage 41 42

... rex et idem praepotens, origo cuius fonte inenarrabili secreta nullum prodit auctorem sui, |

Textgeschichtliche Studien 552/557, vgl. 762 Aran. 1, anhand verschiedener Beispiele sowohl aus griechischen wie lateinischen Autoren dargestellt. 32 CSEL 61,169 App. 33 Prudence, 3, Ί948, 2 1963, 49; das wörtliche Zitat aus der Psychomachie-Ausgabe, Paris 1933, 212.

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folgt eine ernüchternde, alltägliche Feststellung, welche alle Erhabenheit auflöst, zerstört, ja fast bis zur Anstößigkeit trivialisiert: 43 44

Melchisedec, qua Stirpe, quis maioribus ignotus, uni cognitus tantum deo.

Melchisedech ist άπάτωρ, άμήτωρ, άγενεαλόγητος, ja noch mehr: μήτε άρχήν ήμερων μήτε ζωής τέλος εχων (Hebr. 7,3). An diese Formulierungen reichen die Verse 41/42, was den allgemeinen Tenor der Aussage angeht, durchaus heran, während die beiden Verse 43/44 den Gedankenflug jäh beenden. Denn was bedeutet es schon, wenn Menschen Herkunft und Vorfahren eines Mannes nicht kennen? Gott weiß das alles natürlich immer, das brauchte nicht gesagt zu werden. Melchisedech etwa gar ein terrae filiusl Und in diesem Sinne sine gente (Hör. serm. 2,5,15)? Der Priesterkönig ignota matre inhonestus (ebd. 1,6,36)? Man vergleiche hierzu den Vorwurf, den die Melchisedekianer (s. S. 117/9 [196f.]) von ihrem Standpunkt aus erhoben: dicunt ergo (sc. quidam) non ad generositatempertinere Melchisedech, sed ad humilitatem generis eiusdem, quia sine patre et matre legitur fiiisse34. Dieser Ansicht kommen die Verse 43/44 ziemlich nahe, weniger aufgrund einer klaren Intention denn durch die Trivialisierung der Aussage, als deren Folge sich eben leicht jener Eindruck bilden kann. Darum geht es auch nicht an, die Verse als sinnvolle Variation der vorhergehenden anzusehen, ja nicht einmal Lavarennes Feststellung: "ils disent ... la meme chose" oder Pelosis Urteil, sie drückten dasselbe aus "con una piccola variazione" (160), treffen die Sachlage genau, weil die Verse 43/44 nach 41/42 eine so starke Minderung, Verflachung, Entleerung des Vorausgehenden bewirken, daß auch inhaltlich viel von dem zurückgenommen wird, was zuvor gesagt ward. 7. Der stilistische Eindruck bestätigt vollkommen das Ergebnis des inhaltlichen Vergleichs: auf der einen Seite eine volle, dichterisch kühne Formulierung mit weitem, aber deutlich gestellten Hyperbaton origo ... secreta (jeweils an der Versspitze), mit metrisch tadelloser Einpassung des zugleich poetischen wie | biblischen Ausdrucks fonte inenarrabili35 und einem echt 34 Ps. Aug. quaest. 109,15 (CSEL 50,264). Tatsächlich gab es die jüdische Lehre, Melchisedech sei Sohn einer Hure gewesen. Vgl. Epiphan. panar. 55,7, lf. und Holls Parallelen im Apparat hierzu, GCS 31,333. 35 Vgl. cath. 10,130:

(anima) cui nobilis ex patre fons est

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prudentianischen sui am Schluß36; auf der anderen Seite eine prosaisch dünne, teils abundante, teils seltsam verkürzte Redeweise mit pathetischer, aber nichtssagender Wiederholung qua Stirpe, quis maioribus, mit ausgefallener persönlicher Konstruktion von ignotus, cognitus und folgendem indirekten Fragesatz37, ungewöhnlicher Ellipse des Prädikats (ortus sit?)™ und zwielichtiger Redundanz bei uni (= soli? = unicol) ... tantum39. Die überlegene Qualität der Verse 41/42 sah bereits Pelosi (161); wenn er auch von seinem Standpunkt aus das stilistische Gefalle zwischen den zwei Versionen nicht mit ganzer Schärfe erfassen konnte, suchte er doch | eben b e i d e als authentische Alternativfassungen zu erweisen. Immerhin bedeutete es gegenüber Bergmans verkehrter Entscheidung einen beträchtlichen Fortschritt, daß Pelosi die Verse 41/42 als "un vero miglioramento stilistico" einstufte und damit erstmals die Waagschale zugunsten dieses Verspaares sinken ließ. Dabei gründete er sein Urteil beachtlicherweise auf die Namensnennung in Vers 43. Beachtlicherweise: denn mancher wird vielleicht in der Nennung des Eigennamens Melchisedec gerade einen besonderen Vorzug dieser Verse erblicken, ja sie deswegen etwa gar für und dazu die interpolierte Ersatzfassung: factoris ab ore creatae. Wieviel schöner ist das Echte! - s. Lazzati (o. Anm. 7) 225f. und R. Henke, Studien zum Romanushymnus des Prudentius (Frankfurt a.M./Bern/New York 1983) 161f. Anm. 323. Zum Adjektiv inenarrabilis s. o. S. l l l f . [189f.]. 36 Origo ... nullumprodit auctorem sui, i.e. originis·. vgl. c. Symm. 2,885f. Prima viae f a d e s inculta, subhorrida, tristis, Difflcilis, sedfine sui pulcherrima...; mit Bezug auf ein Neutrum PI. ebd. 113 {omnia) vilia sunt brevitate sui·, per. 3,68 et male prodiga corda sui. 37 O. Prinz, ThLL 7,1, Sp. 322, Z. 14/19 s.v. ignosco, ordnet die Prudentiusstelle folgenden Belegen zu: Paul. dig. 23,2,10postquam apertissime fueritpater ignotus, ubi degit et an superstes sit; Amm. 19,11,11 ignotus, ... dux esset an miles ... evasit; Comm. instr. 2,1,2 populus... ignotus a nobis, ubi moretur. Aus dem Artikel cognosce (ThLL 3,1517, Z. 83) kann man noch Lucil. 1235 Marx hinzunehmen: ο lapathe, ut iactare, nec es satis cognitu qui sis. Das sind immerhin vier Parallelen für die persönliche Konstruktion von ignotus (cognitus) mit folgendem indirektem Fragesatz. Auch ein spätantiker Interpolator schreibt ja Latein, und so mag [Prud.] psych, praef. 43/44 den anderen Belegen zugeschlagen werden. Aber der echte Prudentius befände sich mit solcher Konstruktion in ungewohnter Gesellschaft, besonders wenn man noch die auffallende Brachylogie (s. die folgende Anmerkung) berücksichtigt. Ich zweifle, ob sich dieses Gesamtbild durch weitere Parallelen wesentlich ändern würde. 38 M. Lavarenne, Etude sur la langue du pofcte Prudence, Paris 1933,474, § 1386, ergänzt in diesem Vers den Konjunktiv fueri t. Der Fall steht bei ihm isoliert, sonst bringt er nur Beispiele fur die Ellipse des Infinitivs esse und des Indikativs est. Man muß wohl auch fragen, ob die Brachylogie nicht noch stärker zu nehmen ist, eben qua Stirpe, quis maioribus... ortus sit ο. dgl. 39 Sinnvoll und klar dagegen ham. 36f., unus enim princeps numeri est nec dinumerari Tantum unuspotis est, d.h. nur die Zahl Eins allein kann man nicht zählen! Über Flickwörter bei Interpolatoren s. Jachmann, Ausgewählte Schriften 500 (iam); Textgeschichtliche Studien 822 Anm. 1 (ergo) u.ö.

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unentbehrlich halten. Pelosi dagegen fand die Tatsache der geheimnisvollen Herkunft durch die Auslassung des Namens noch gesteigert. Mag man ihm darin beipflichten oder nicht, richtig ist jedenfalls, daß Prudentius in diesem Zusammenhang den Namen dieses Priesterkönigs ebensowenig zu erwähnen brauchte wie in anderem Zusammenhang den eines anderen 'Priesterkönigs' (cath. 9): 5

Christus est, quem rex sacerdos adjuturum protinus infulatus concinebat voce, corda et tympano, spiritum caelo influentem per medullas hauriens.

Prudentius war sich offenbar sicher, daß hier niemand David verkennen könne, und erachtete es daher für überflüssig, den Namen des Psalmensängers in den Vers zu setzen. Gewiß durfte er auch damit rechnen, kein Rätsel aufzugeben, wenn er von dem Priester sprach, der Abraham die "himmlischen Speisen" reichte. Daß die Verse 43/44 also wegen des Namens Melchisedech zu halten seien, wird man nicht behaupten dürfen. Das Bestreben, den Eigennamen nachzutragen, läßt sich umgekehrt sehr wohl mit der simplifizierenden und trivialisierenden Tendenz in Einklang bringen, welche diese Verse im Ganzen zu erkennen geben40. 8. Daß die vier Verse 41/44 nicht dazu ausersehen waren, nebeneinander zu stehen, zeigt im übrigen auch der Gesamteindruck der Passage. Denn die von 43/44 ausgehende Störung des Textes erstreckt sich nicht bloß auf das unmittelbare Verhältnis der beiden Verspaare 41/42 - 43/44 untereinander. Vielmehr ergibt | sich als Folge des Zusammentretens der beiden Zeilenpaare eine Schwerfälligkeit im Bau des ganzen Satzes41: nach der Epanalepse sacerdos ... Dei sacerdos (39/40) und dem anschließenden Relativsatz (41/42) ist nicht nur der Gedanke passend beendet, sondern auch der Satz. Die Fortführung mit

40 Über Textumwandlungen, die der Absicht entspringen, zwecks Verdeutlichung Personen mit Namen zu nennen, s. Jachmann, Textgeschichtliche Studien 559/562 (mit Beispielen vorzüglich aus der griechischen Tragödie). Ein ähnlicher Fall bei Claudian: Ch. Gnilka, Beobachtungen zum Claudiantext, Studien zur Literatur der Spätantike, hrsg. von Ch. Gnilka und W. Schetter, Bonn 1975, = Antiquitas, Reihe 1, Bd. 23,45/90 (53) [in diesem Band S. 16/67 (24)]. 41 Sie mag U. Engelmann gefühlt haben, als er in seiner Psychomachie-Ausgabe (BaselFreiburg-Wien 1959) die Verse 41/42 in runde Klammern Schloß, den Satz also durch Kennzeichnung einer Parenthese zu entlasten suchte.

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der Apposition des Namens und den fragenden Fürwörtern wirkt wie eine schleppende Verlängerung. Sie bildet mißlichen Kontrast zur Dichte der prudentianischen Schilderung, die mit sicherer, aber flotter Hand entworfen ist. Eine weitere Störung des Kontexts deckte Lavarenne auf42, ohne freilich daran Anstoß zu nehmen. Sie betrifft den Bezug der Verse 41/44 auf 60 und umgekehrt. Lavarenne schreibt: " I n e f f a b i l i (ou inenarrabili) repond ä inenarrabili du vers 41 (si toutefois ce dernier n'est pas interpole)" - nebenbei bemerkt: hier offenbart sich ein hohes, ja im Grunde unüberwindliches Hindernis für die Athetese der Verse 41/42 - und fährt dann fort: "Mais le sens n'est pas tout ä fait le meme aux deux places. On ne peut nommer le pere de Melchisedech parce qu'on ignore son nom. Dieu est qualifie d'ineffable parce qu'on ne saurait en parier d'une maniere adequate ...". Und wirklich: in bezug auf die Verse 43/44 oder auf die vier Verse 41/44 insgesamt wirkt die in Vers 60 (und 60a) gegebene typologische Deutung schief, ja mißglückt, da das Moment der Unsagbarkeit hier und dort o f f e n s i c h t l i c h nicht mehr in einem vergleichbaren Tatbestand gründet, die allegorische Parallelität m e r k l i c h gestört wird. Aber das bewirken eben die beiden Verse 43/ 44, die Lavarenne im Auge hat. "On ne peut nommer le pere de Melchisedech" - das ist ja gerade die trivialisierende Aussage dieser Verse. Die beiden anderen (41/42) sagen zwar nicht eigentlich mehr, lassen jedoch die Sache so klug in der Schwebe, daß die von Lavarenne gefühlte Diskrepanz allein zwischen 41/42 und 60 kaum oder gar nicht hervortritt. Das Geheimnis jenes/o/w inenarrabilis, dem Melchisedech entstammte, wird hier mit solcher αυξησις in Stil und Gedankengang vorgetragen, daß der Tatbestand durchaus vorbildhaften Sinn im Hinblick auf die Zeugung des Sohnes parente ineffabili annimmt, der Leser keinen Riß im allegorischen Gefiige spürt. Diese Analogie, an der Prudentius, wie | die Verse 41/42 zeigen, mit Bedacht gefeilt hat, die hervorstrahlen zu lassen er seine Wortkunst aufgeboten hat, wird durch die Verse 43/44 getrübt, geschwächt, verschieft. Bedenkt man das alles recht, spitzt sich der Verdacht gegen die Verse 43/44 zu fast unabweisbarer Schärfe zu, wird jedoch noch durch eine weitere Überlegung erhärtet. 9. Wie bereits angedeutet, läßt sich die Fassung 43/44 dem wohlbekannten interpolatorischen Streben nach Vereinfachung der Texte zuordnen. 42

Psychomachie-Ausgabe, 214, zu praef. 60.

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Aber in unserem Fall dürfte noch ein spezieller Grund mitgespielt haben, der theologischer, besser sogar dogmatischer Natur ist. Über die Person Melchisedechs waren in altchristlicher Zeit kühne Spekulationen im Schwange: er sei ein Engel gewesen oder größer als Christus oder der Hl. Geist. Erstere Ansicht wird sogar Origenes und Didymus dem Blinden zugeschrieben43. Nach dem Referat in Epiphanius' 'Arzneikasten' (verfaßt 374-377) und anderen Väterzeugnissen sollen die "Melchisedekianer" eine eigene Sekte gebildet haben, die durch Abspaltung von den Theodotianern entstanden sei44. Außer Epiphanius schrieben gegen sie Hippolytus v. Rom, Filastrius und Ps.-Tertullian in ihren Ketzerwerken, aber auch Johannes Chrysostomus und Markus Eremita predigten gegen sie, wie denn die Irrlehre überhaupt öfters erwähnt und abgewiesen wird, zum Beispiel bei Ambrosius45 - das Material findet man leicht im Testimonienapparat der Epiphaniusausgabe K. Holls (GCS 31,324/337). Von besonderem Interesse ist Brief 73 des Hieronymus, der sich mit der Melchisedech-Frage befaßt. Hieronymus hatte von dem Adressaten, dem Priester Euangelus, ein Buch ohne Verfassernamen zugeschickt bekommen, in dem mit großer Entschiedenheit die Ansicht verfochten wurde, Melchisedech sei der Hl. Geist. Nur widerstrebend willfahrt der gelehrte Theologe den Bitten des Euangelus | und äußert sich zur famosissima quaestio super pontifice Melchisedech (ep. 73,1,1). Das Problem war also berühmt-berüchtigt, seine Erörterung galt als ausgesprochen schwierig46. Sie wurde dadurch noch schwieriger, daß es auch innerhalb der Kirche Männer gab, welche der Auffassung zuneigten, Melchisedech sei tatsächlich (φύσει) der Sohn Gottes, der dem Abraham in menschlicher Gestalt erschien47.

43 Hier, epist. 73,2,1 (CSEL 55,14). Zum Ganzen s. G. Bardy, Melchisedech dans la tradition patristique, Revue biblique 35 (1926), 496/509; 36(1927), 25/45; G. Wuttke, Melchisedech der Priesterkönig von Salem (Gießen 1927), = ZNW, Beih. 5. 44 Epiphan. panar. 55 (GCS 31,324/337); über die Theodotianer ebd. 55,1,1 (324), vgl. Ps.-Tert. adv. haer. 5,8 (CSEL 47,225). Die Frage, ob es berechtigt ist, die Melchisedekianer als eigene Sekte zu bezeichnen, braucht hier nicht erörtert zu werden. Harnack (Lehrbuch der Dogmengesch. 4 , 713/715) verneinte sie. 45 Ambros. de fide 3,11,88 (CSEL 78,140). Hier wird die Ansicht, Melchisedech sei ein Engel gewesen, den Judaica ludibria zugewiesen. 46 Hier, epist. 73,1,2. 4,2/3; Joh. Chrys. hom. de Melch. If., PG 56,257/260. 47 Epiphan. panar. 55,7,3 (GCS 31,333f.); vgl. Ambros. de Abr. 1,3,16 (CSEL 32/1,514); de mysteriis 8,45f. (CSEL 73,108f.) - seine Anschauung scheint allerdings nicht leicht greifbar, s. oben Anm. 45; Wuttke (o. Anm. 43) 58 - und die in Holls Apparat angeführten Belege aus Clemens Alexandrinus. Dagegen polemisiert Marcus Erem. de Melch. passim, e. g. 1 (PG 65,1120 A). Über die ganze Problematik aus der Sicht moderner Theologie s. O. Michel, Kommentar zum Hebräerbrief, Göttingen l3 1975, 261/263.

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Die 'Melchisedekianer' stützten sich vor allem auf den Hebräerbrief, und da wiederum griffen sie gerade die Worte άπάτωρ, άμήτωρ, άγενεαλόγητος ... κτλ. (s. ο. S. 114 [192]) heraus48. Die Mehrheit der Väter legte demgegenüber allen Nachdruck darauf, daß Melchisedech nur Mensch und als solcher nur τύπος Christi sei, und daß alles, was über ihn gesagt wird, erst in bezug auf den Hohen Priester Christus vollen Sinn ergebe. So auch jene vielzitierten Worte aus dem Hebräerbrief: Christus sei als Mensch wahrhaft ohne Vater und als Gott wahrhaft ohne Mutter und als der Ewige Gott wahrhaft άγενεαλόγητος, Melchisedech dagegen heiße so nur έκ παρασιωπήσεως Γραφικής 49 : weil die Hl. Schrift nichts über seine Herkunft verlauten lasse, insonderheit nicht bei seinem plötzlichen Auftreten Gen. 14. Es versteht sich, daß die Bemerkungen der Väter in diesem Punkte notwendig recht nüchtern wirken müssen und auch ernüchternd wirken wollen. Denn wie Epiphanius beobachtet, ließen sich die 'Melchisedekianer' gerade | durch die "überaus volltönende Ausdrucksweise" des Apostels zu ihrem Irrtum verleiten: άπό του γαρ τον άπόστολον λέγειν άπάτορα και άμήτορα Μελχισεδέκ και άγενεαλόγητον, δια τό ύπέρογκον της φράσεως πλανηθέντες τη έννοια οί τοιούτοι... άνετύπωσαν βλασφημίας πλάνην (Epiphan. 55,9,12, ρ. 336 Holl). So betont etwa Chrysostomus, daß jene Prädikate nur insofern auf Melchisedech zutreffen, als wir wegen des Schweigens der Schrift "nicht wissen", wer Vater und Mutter waren - die Melchisedech aber gleichwohl hatte50. 10. Kehren wir von hier aus zu Prudentius zurück, dann ist klar, daß die Sache für die Beurteilung der Verse 41/44 nicht ohne Belang sein kann. Man erkennt jetzt den dogmatischen Hintergrund, vor dem die beiden ver-

48 Epiphan. panar. 55 passim (GCS 31,324/337), bes. 55,l,4f. (324); 55,9,11/15 (336f.); s. ferner etwa Joh. Chrys. hom. de Melch. 2f. (PG 56,258/260); in Hebr. 7 hom. 12,If. (PG 63,97f.); Marcus Erem. de Melch. 2 (PG 65,1120 A/B); Ambras, de fide 3,11,88 (CSEL 78,140); Hier, epist. 73,4, im Zusammenhang des ganzen Briefes (CSEL 55,16); Ps. Damas. epist. ad Hier., PL Suppl. 2,283f. Als Zeuge der Gegenseite (Melchisedech = Hl. Geist) ist Ps. Aug. quaest. 109 (de Melchisedech), bes. 14/16, CSEL 50,264f., von Interesse; hierzu Bardy, Revue biblique 36 (1927), 26/28. Nach Bardy (28 Anm. 2) ist der Traktat Ps. Augustins mit dem volumert άδέσποτον identisch, das Euangelus dem Hieronymus sandte. 49 Marcus Erem., De Melch. 1 (PG 65,1117 B/C). 50 Joh. Chrys. in Hebr. hom. 12,1/2 (PG 63,97): der Exeget erklärt, daß die Aussage ούκ ϊσμεν im Falle Melchisedechs auf dem Fehlen einer Mitteilung in der Hl. Schrift, im Falle Christi auf der Realität beruhe: Christus hat tatsächlich keinen Anfang und kein Ende des Lebens usw.

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schiedenen Formulierungen betrachtet werden müssen. Dem dichterischen ογκος der Verse 41/42 tritt eine nach Stil und Gehalt trockene, prosaischnüchterne Aussage zur Seite (43/44), die vollkommen zu dem Ton paßt, den die Väter in ihren dogmatischen und exegetischen Werken anschlagen, so oft es darum geht, das scheinbare Geheimnis der Herkunft Melchisedechs gegenüber dem wirklichen μυστήριον der Zeugung des Sohnes aus dem Vater und seiner Geburt aus der Jungfrau herabzustimmen51. Mußte etwa Prudentius selbst, um den Verdacht zu zerstreuen, er sympathisiere mit den Melchisedekianern, jener hochtönenden Formulierung eine triviale folgen lassen? Durchaus nicht. Denn er hatte an dem typologischen Sinn des gesamten biblischen Geschehens, auch der Person Melchisedechs, nicht den geringsten Zweifel gelassen: haec ad f i g u ram praenotata est linea ... (50), leitet er den interpretierenden Abschnitt ein, und 59 wird Christus als sacerdos ν er us deutlich von dem Typos des Alten Bundes (vgl. 40 Dei sacerdos) abgehoben52. Da er nun aber im Großen Klarheit geschaffen hatte, erwarb er sich | die Freiheit, bei der Stilisierung des vielerörterten Details kühner, dichterischer und dem Original getreuer zu bleiben. Aber das half ihm nichts. Er hatte in ein theologisches Wespennest gestochen, und sein Gedicht wenigstens mußte dafür büßen. Ein 'interpolator theologus' machte sich daran, die authentische Formulierung des Dichters, die bei isolierter Betrachtung vielleicht unerwünschte Erinnerungen an die μΰθοι der Melchisedekianer wachrufen konnte53, durch eine zweifelsfrei orthodoxe zu ersetzen. Wohlgemerkt: zu ersetzen! Denn die von Lavarenne und Pelosi festgestellte, sicher aber auch von Heinsius und Bergman erkannte Dublette, welche die Verse 41/42 und 43/44 bilden, rührt eben daher, daß im Zuge der handschriftlichen Überlieferung - wie, werden wir noch sehen - zwei Fassungen nebeneinander zu stehen kamen, die niemals dazu ausersehen waren, gleichberechtigt zusammenzutreten. Der Redaktor gab sich nicht mit halber Arbeit zufrieden: die gefälschten Verse 43/44 sollten an die Stelle der echten Verse 41/42 treten, ebenso wie Vers 60a Ersatz für Vers 60 bilden sollte. Fälschungen glei-

51 Μυστήριον in diesem Zusammenhang: Marc. Erem. de Melch. 7 (PG 65,1128 C), vgl. (γέννησις Χριστού) μυστικότατη: Joh. Chrys. hom. de Melch. 2 (PG 56,259). 52 Auch dort, wo Prudentius die auf die Inkarnation vorausdeutenden Erscheinungen Christi in der Zeit des Alten Bundes behandelt (apoth. 22/54), rechnet er, anders als Ambrosius, Melchisedech nicht dazu. 53 Epiphan. panar. 55,1,11 (GCS 31,325): μύθους έαυτοΐς πλασάμενοι; vgl. 55,4,1; 5,1; 6,1: φαντάζονται.

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chen Typs und gleicher (theologischer) Motivation sind durch die Prudentiusüberlieferung auch sonst bezeugt und längst erkannt54. 11. Wer der Beweisführung bis zu diesem Punkte gefolgt ist, steht vor der mehrfach berührten Frage, ob zwischen den beiden Textstörungen innerhalb unseres Stückes eine gewisse ratio obwaltet. Zwar ist Konsequenz nicht Sache der Textfälscher, doch muß es andrerseits zu denken geben, daß an den beiden inhaltlich entsprechenden Stellen des Gedichts Textstörung gleicher Art, Doppelfassung nämlich, vorliegt, daß also beide Male die Formulierungen des Dichters, die sich auf jenen dogmatisch heiklen Punkt beziehen, rezensorischer Umformung unterworfen wurden. Theologischen Zündstoff enthalten allerdings nur die Verse 41/42. Wenn | der Redaktor schon glaubte, die Verse 41/42 aufgrund dogmatischer Bedenken durch eine Neufassung ersetzen zu müssen, konnte es für ihn irgendeinen ersichtlichen Grund geben, zugleich auch Vers 60 gegen eine selbstverfaßte alternative Version auszutauschen? In der Tat läßt sich ein solcher Zusammenhang der Interpolationen 43/ 44 und 60a erkennen. Jeder, selbst der flüchtigste Leser, muß bemerken, daß der erzählende Teil der Praefatio und der deutende (ab 50) aufeinander zugeschnitten sind, wie es eben bei dem Verhältnis von Bibel und Bibelallegorese auch gar nicht anders sein kann. Den Bezug des interpretierenden Verses 60 auf die vorhergehende Darstellung der unerklärlichen Herkunft Melchisedechs in 41/42 hatte nun Prudentius durch variierende Aufnahme eines Hauptbegriffs, (fonte) inenarrabili - (parente) in-{haucP.)effabili, deutlich hervorgekehrt und dadurch gesichert: 40 41 42

Dei sacerdos rex et idem praepotens, origo cuius fonte inenarrabili secreta nullum prodit auctorem sui

54 Vgl. W. Schmid, Die Darstellung der Menschheitsstufen bei Prudentius und das Problem der doppelten Redaktion, Vigiliae Chr. 7 (1953), 171/186, = Ausgewählte philologische Schriften, hrsg. von H. Erbse und J. Küppers, Berlin-New York 1984, 365/377, bes. auch die Schlußbetrachtungen 185f. (377) [vgl. aber in diesem Bande S. 250/53]. Einen Paradefall theologischer Interpolation stellt die zu cath. 10,9/16 überlieferte Doppelfassung dar; über sie vgl. E. Pianezzola, Miscellanea critica 2, hrsg. von J. Irmscher u.a., Leipzig 1965, 269/286. Auch der oben Anm. 35 genannte Fall gehört hierher - trotz Lazzati (s. o. Anm. 7), der theologische Motive der Textfälscher nicht recht wahrhaben wollte.

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mox ipse Christus, qui sacerdos verus est, t parente natus alto et in e f f ab Hi

Dies war der originale Textzustand, den der 'interpolator theologus' antraf, wobei die Frage, wie die authentische, metrisch einwandfreie Form des Verses 60 ausgesehen hat, hier offenbleiben mag. Aber unbedingt war der Bezug inenarrabili / (in-)effabili Teil des kunstvollen allegorischen Sinngefüges, das der Dichter selbst geschaffen hatte. Als nun der Diaskeuast die Verse 41/ 42 durch seine Fassung ersetzte, ging dieser auffällige Bezug verloren, und solcher Mangel konnte ihm kaum verborgen bleiben. Dem suchte er abzuhelfen, indem er auch für Vers 60 eine neue Version fabrizierte, und zwar, so recht nach Interpolatorenart, unter Ausbeutung des originalen Wortbestandes (iinenarrabili entnahm er dem echten Vers 41). Was er vorlegte, sah demnach so aus: 40 43 44

Dei sacerdos rex et idem praepotens, Melchisedec, qua Stirpe, quis maioribus ignotus, u η i cognitus tantum Deo.

59 60a

mox ipse Christus, qui sacerdos verus est, parente inenarrabili atque u no satus

Jetzt blieb das kühne Wort inenarrabilis, dessen Anwendung auf einen Menschen dem besorgten Redaktor gewiß besonders ins Auge gestochen hatte, allein Gott vorbehalten, und die Wiederholung uni Deo /parente uno schien zudem für den Verlust jener anderen Wort-Klammer zwischen beiden Stellen zu entschädigen. Man mag einwenden, daß diese Verklammerung ungleich schwächer ist als die, welche Prudentius geliefert hatte, ja im Vergleich zum Authentischen geradezu kümmerlich anmutet. Aber solchem Einwand stattgeben, hieße den Interpolator am Maßstab des Dichters messen. Vielmehr erkennt man jetzt, daß die seltsame Abundanz bzw. Ambivalenz in Vers 44 uni... tantum sowie der gedanklich schiefe Zusatz in Vers 60a atque uno (s. o. S. 114f. [193] bzw. l l l f . [189f.]) nicht bloß mangelhafter Formkraft des

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Fälschers entspringen, sondern auch seiner Absicht, es dem großen Dichter in einem kompositorischen Kunstmittel gleichzutun55. 12. Der Ausfall der echten Verse 41/42 im Codex Puteanus ist bei den vorstehenden Überlegungen absichtlich beiseite gerückt worden. Muß der Befund in Α als zufällig gelten und somit endgültig außer Betracht bleiben? Nicht unbedingt. Dieses handschriftliche Zeugnis gewinnt Aussagewert freilich erst innerhalb einer Gesamtschau des antiken Interpolationswesens und seiner weiteren Folgen 56 . In dem Brief an die beiden Goten Sunnia und Fretela über Probleme des Psalmentexts erläutert Hieronymus die | Bedeutung zweier kritischer Zeichen - des Asteriscus und des Obelus - , die Origenes im Dienst der Bibelkritik gebraucht hatte: den Stern, um ein Minus des griechischen Septuaginta-Texts gegenüber der Hebraica Veritas, Notwendigkeit der Ergänzung also, anzuzeigen, den Spieß, um ein falsches Plus und die Tilgung zu adnotieren. Er beschließt seine Bemerkung mit dem Satz: quae signa et in Graecorum Latinorumquepoematibus inveniuntur (epist. 106,7,2). Hieronymus denkt bei diesem Hinweis natürlich an die Anlage kritischer Dichterausgaben, und mag die knappe Äußerung auch wie beiläufig getan werden, so ist sie doch gerade in ihrer Kürze und Beiläufigkeit ein beredtes Zeugnis für die Verbreitung der Sache: der Randsemeiose antiker Ausgaben, aber auch der Fälscherarbeit an den Dichtertexten, ohne die das System der kritischen Zeichen zu erheblichem Teil überflüssig würde. Denn das editorische Geschäft des όβελίζειν verliert an Sinn, wenn es keine Interpolatoren gibt und wenn niemand mit Interpolationen rechnet. Welch tiefgreifende Folgen nun das konservative Prinzip der

55 Noch ein Wort zu Pelosi. Er, der bezüglich der Verse 41/42 und 43/44 der Wahrheit auf der Spur war, weil er einerseits - anders als etwa Lazzati und Cunningham - sah, daß die Verspaare Alternativfassungen sind und daher beide unmöglich zusammenstehen können, und andrerseits - im Gegensatz zu Heinsius, Bergman und Lavarenne - in den Versen 41/42 richtig die vorzüglichere Fassung erkannte, schoß bei Beurteilung der Verse 60/60a gänzlich am Ziel vorbei, indem er sich Meyer anschloß und 60a fur das Bessere hielt (s. o. S. 105. 109 [182. 186f.]). So ordnete er den echten Versen 41/42 den gefälschten Vers 60a zu und die gefälschten Verse 43/44 dem echten Vers 60 - jeweils als Elemente verschiedener Rezensionen des Dichters selbst. Schon allein wegen dieser verkehrten Überkreuzung der zusammengehörigen Fassungen mußte auch ihm der wahre Zusammenhang beider Textstörungen verborgen bleiben. 56 Wer daher etwa mit Lazzati 230 hier nur Kopistenfehler anzunehmen geneigt ist, wird sich aufgrund dieses Einzelfalls kaum bereit finden, eine andere Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, die eben erst in einem größeren Zusammenhang plausibel wirkt. Für Prudentius kann ich auf zwei jüngere Aufsätze im JbAC, Erg.-Bd. 11 (1984), 136/143, und im Hermes 112 (1984), 333/352 [in diesem Band S. 68/89 und S. 90/101], verweisen.

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antiken Philologie und die Beschaffenheit ihrer wissenschaftlichen Editionen im Verlauf fortdauernder Vervielfältigung der Gelehrtenausgaben zeitigen mußten, hat etwa schon O. Ribbeck in den Prolegomena critica zur Vergilausgabe, Leipzig 1866, 153 ausgesprochen und dann G. Jachmann in seinen Arbeiten immer wieder vor Augen geführt57. Dabei gilt es zu bedenken, daß die Folgen sehr verschiedener Art sein konnten, entsprechend der Regellosigkeit des Zerfallsprozesses insgesamt. "Tilgungszeichen wurden bald beachtet bald ignoriert, nach Überlegung oder nach Belieben", j a "ein lax gesetzter obelus" konnte auch Auslassung echten Versguts bewirken58. Ist man bereit, die Existenz einer solchen Ausgabe für Prudentius anzunehmen59, ergibt sich etwa folgender Gang der Dinge: Die Verse 43/44 standen darin hinter den echten Versen 41/42, waren aber durch ein kritisches σημεΐον am Rande als unecht oder vielleicht auch nur als bedenklich bezeichnet; desgleichen führte jene Edition die Verse 60 und 60a beide mit, aber wiederum kritisch adpungiert. Während sich nun im Zuge des allmählichen Fortfalls der Zeichen am Rande die Überlieferung hinsichtlich der offenkundig alternativen Verse 60/60a spaltete, so daß sie | in keiner oder fast keiner60 Handschrift mehr vereint erscheinen, trat bei der weniger offensichtlichen Doppelfassung 41/42-43/44 eine andere Folge ein: beide Versionen wurden zusammen tradiert, wie sie in der spätantiken Ausgabe zusammenstanden. Einzig durch den Versausfall im Puteanus ist uns noch ein äußerer Anhaltspunkt dafür bewahrt, daß auch diese Doppelfassung durch Randsemeiose gekennzeichnet war. Jedenfalls sichert der Puteanus für Vers 43/44 den antiken Ursprung der Interpolation. Darauf, daß die Fälschung noch in der Antike zustandekam, weist j a schon ihr Motiv, das einer aktuellen Streitfrage altkirchlicher Theologie entstammt. Aber der Puteanus bezeugt uns die antike Herkunft urkundlich. Der ganze merkenswerte Fall widerlegt die landläufige Anschauung, die spätantike Haupthandschrift sei frei von Interpolationen, ja für interpolatorische Tätigkeit sei der Zeitraum zwischen der Sammelpublikation der Gedichte im Jahre 405 und dem Einsetzen der handschriftlichen Überlieferung im 6. Jh. überhaupt zu knapp61. Vielmehr zeigt sich hier bei Prudentius ganz deutlich,

57 Vgl. bes. Jachmann, Ausgewählte Schriften 380ff. 58 Jachmann 458. 59 Hierzu demnächst im Hermes 114 (1986) [in diesem Bande S. 126/137], 60 Darüber s. oben Anm. 3. Zur beschränkten Geltung solcher Aussage s. unten S. 670 (zu S. 235). 61 So etwa neuerdings wieder J.-L. Charlet, JbAC 25 (1982), 192. Über die Bedeutung des

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was Jachmann immer wieder zur Frühgeschichte antiker Texte, auch der Klassikertexte, feststellte®2: die Phase größter Verwilderung des Texts ist oft die allererste, die der Publikation unmittelbar folgende. Publikation der Gedichte, interpolatorische Entstellung, Sicherung durch eine wissenschaftliche Edition und deren Verfall: alles dies mag der Prudentiustext in den ersten etwa hundert Jahren seiner Geschichte erlebt haben.

Puteanus als Zeugnis spätrömischer Kultur s. O. Pecere, Esemplari con subscriptions e tradizione dei testi Latini: Atti del convegno internazionale "II libro e il testo", Urbino 1982, a cura di C. Questa e R. Raffaelli, = Pubblicazioni dell'Universitä di Urbino, Scienze umane, Atti di Congressi I, 111/137 (127f.); auch Raffaelli (14/21) und Questa (349/362) handeln über die beiden spätantiken Prudentius-Codices (s. o. S. 104 [181]) - jeweils mit Beigabe schöner Tafeln. 62 Jachmann, Ausgewählte Schriften 396; Textgeschichtliche Studien 755f. u.ö.

VI. ZWEI BINNENINTERPOLAMENTE UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE GESCHICHTE DES PRUDENTIUSTEXTS * Die Existenz einer wissenschaftlichen, kritisch adnotierten Prudentiusausgabe der Spätantike wurde in dieser Zeitschrift 112 (1984) 335 Anm. 5 [in diesem Band S. 69 Anm. 5] zuversichtlicher als früher 1 angenommen. Dort ist auch bereits auf die binneninterpolatorische Bearbeitung des Verses Prud. ham. 488 hingewiesen und die Bedeutung knapp gestreift, die dieser Fall und andere Beweise redaktioneller Tätigkeit für die Frühgeschichte des Prudentiustexts besitzen. Da an gleicher Stelle eine erneute Durchleuchtung altbekannter, durch urkundliche Divergenzen bezeugter Textänderungen gefordert wurde, mag es vielleicht angebracht sein, wenn diese Aufgabe hier in Angriff genommen wird. Ich beschränke mich dabei auf zwei Fälle: den schon erwähnten und einen weiteren in der 'Psychomachie'. Hinsichtlich der Angaben zur Überlieferungslage halte ich mich, soweit nicht Prüfung der Handschriften ratsam erschien2, an den Apparat bei J. Bergman (CSEL 61, 1926) und bei M.P. Cunningham (CCL 126, 1966).

1. Prud. ham. 488f. Was nützen die Heilstaten Gottes dem durch Christus erlösten Gottesvolk, wenn es sich selbst dem Bösen ergibt wie einst Israel in der Gefangenschaft? Wenn es seine hohe 'Stadt' nicht zu verteidigen weiß? Und weiter: |

Hermes 114 (1986) 88/98. ι Philol. 109 (1965) 2511 [in diesem Band S. 6 Anm. 15]; Studien zur Lit. der Spätantike, hrsg. von Ch. Gnilka und W. Schetter, Bonn 1975, 86 mit Anm. 55 [in diesem Band S. 63 Anm.55]. 2 Die Leidener Handschrift (E), die Vatikanische (V), die Sanktgaller (S) und die Berner (U) sah ich selbst ein; Α und C kontrollierte ich anhand von Fotokopien bzw. Filmen. W. Schetter stellte mir dankenswerter Weise hierfür sein Material zur Verfügung, verglich überdies die drei Pariser Codices N,F,T zu psychom. 726/30 und gab wertvolle Hinweise. Herrn Bibliothekar Dr. Chr. von Steiger, Bern danke ich für das Anfertigen einer Kopie.

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... si nescit, quis lapis ille est hostibus obsistens et inexpugnabile turris praesidium, quem non aerato machina rostro arietat insiliens nec ferrea verbera quassant?

So lauten die Verse in der Überlieferung, die der 'Puteanus' (Parisinus lat. 8084, saec. VI = A) repräsentiert. Dagegen haben Handschriften des 9. Jh., darunter der Leidensis Burm. Q.3 ( = E)3, folgendes: 486 488 488a 489

... si nescit, quis lapis ille est hostibus obsistens et inexpugnabile turris praesidium, quem non fragor hosticus aut arietis vis inpacta quatit non aerato machina rostro arietat insiliens nec ferrea verbera quassant?

Der Berner Codex schließlich (Bernensis 264, saec. IX = U) bietet mit anderen Handschriften seiner Familie4 die Versreihe in diesem Wortlaut: 486 488 488a 489

... si nescit, quis lapis ille est hostibus obsistens et inexpugnabile turris praesidium, quem non fragor hosticus arietis aut vis concutit inpacta aut aerato machina rostro arietat insiliens nec ferrea verbera quassant?

Wir haben in Α, Ε und U also drei verschiedene Versionen vor uns. Ε und U bieten gegenüber Α einen erweiterten Text: V.488 ist nach der Semiquinaria aufgeschnitten und durch einen - jeweils verschieden lautenden - Einschub

3 Außerdem S ( = Sangallensis 136) und G ( = Guelferbytanus, Augusteus 56.18). Dazu tritt U, wo unter dem U-Text (s. oben) ursprünglich ebenfalls die Ε-Version stand, vgl. Cunninghams Apparat. Der Vaticanus (Reg. 321 = V) hat die Α-Fassung, doch wurde hier der Versuch gemacht, durch Tilgung des Worts quem in V.488 und Beischrift der Worte quem ... quatit am Rande nachträglich den Ε-Text herzustellen. Erwähnenswert noch, daß in Ε neben V.488 die Cryphia (s. unten Anm. 22) mit einem Vermerk angebracht ist, der wieder auf Divergenz im Versbestand zu deuten scheint. Dagegen sind andere Details, etwa die Verschreibung arietus statt arietis in E, für die Sache ohne Gewicht. 4 Vgl. hierzu die Angaben bei J. Bergman, De codicum Prudentianorum generibus et virtute = Sitzungsber. Akad. Wien, Philos.-Hist. Kl. 157,5 (1908) 501. Über U s. die vorige Anmerkung.

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aufgefüllt, der in V.488a an gleicher Versstelle (die wiederholte Negation in Ε nicht gerechnet) endet. Während aber U einen metrisch einwandfreien Text liefert, weist der Ε-Text abgesehen von dem prosodischen Schnitzer arietis5 | am Versende 488 eine grobe Störung des Metrums in V.488a nach der Nahtstelle (non aeratö) auf. Was ist von alledem zu halten? Cunningham in der Praefatio p.XXI: "Locum similem habemus", Cunningham im Apparat: "Locum similem habemus". Dazu erübrigt sich jedes Wort (s. unten Anm. 14). R. Palla (Kommentar zur Hamartigenie, Pisa 1981, 238f.) ist bemüht, gegen P. Pelosi6 die Unechtheit der überschüssigen Stücke in Ε und U erneut zu bekräftigen. Er ruft Heinsius' Urteil in Erinnerung, der (Ausgabe, Köln 17012, p. 608) über den U-Text im Ganzen bemerkt: "Nec quisquam emunctae naris dubitat, quin reliqua [ = das im Verhältnis zu Α Überschüssige] tollenda sint, si advertet animum ad illa hostibus obsistens, cui mox subiungitur fragor hosticus. Tum illa arietis et arietat, quae prorsus inconcinna sunt". Wie gesagt: Heinsius wendet sich gegen frühere Editoren, z.B. M.J. Weitz (Hanau 1613, p. 212), die den U-Text in toto aufnahmen. Daran wird heute niemand mehr ernstlich denken. Aber Heinsius' Hinweis auf die lästige Wiederholung hostibus/hosticus gilt auch, falls man die Einschübe in Ε und U jeweils als authentische Varianten zu den Worten non aerato... insiliens in Erwägung ziehen wollte. Damit nähern wir uns dem Kern der Sache. Denn so richtig und wichtig auch die Abweisung der Urvarianten-Lehre gerade in solchem Fall ist: man darf dabei nicht stehen bleiben. Mehr als sonst kommt es hier darauf an, den Typos der Interpolation sowohl nach ihrer äußeren Gestalt als auch nach ihrem Ziel klarzustellen und, soweit möglich, das Motiv der Einfälschung aufzudecken. Es wird sich als zweckmäßig erweisen, wenn wir von dem Ε-Text ausgehen.

5 Prudentius mißt V.489 ärj&tät. Prosodische Abnormitäten wie lange Paenultima in arietis finden sich nur "apud auctores pudendos, hoc est Afros balbutientes" (Corippus Joh. 2,400): s. L. Mueller, De re metrica (Petersburg/Leipzig 18942) 438. Dazu ThLL 2,570, Z. 69/74. Gerade derlei aber ist "Interpolatorenprosodie" (G. Jachmann, Textgeschichtliche Studien, Königstein/Ts. 1982 = Beitr. z. Klass. Philol. 143, 539, hier über Griechisches) - selbst falls Stat. Theb. 2,492: ... aut celsum crebris ärietibus urbis Inclinare latus ... eqs. (codd., verteidigt von A. Klotz, Teubneriana 19081. 19732, p. 63) wirklich eine Ausnahme bilden sollte (crebri Srietls ictibus | coni. Unger, gefolgt von H.W. Garrod: OCT 19061). 6 P. Pelosi, La doppia redazione delle opere di Prudenzio: Studi Italiani di Filologia classica, N.S. 17 (1940) 137/80, ebd. 169.173.

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Was dieses Interpolament seiner äußeren Form nach ist, unterliegt keinem Zweifel: wir haben eine 'Binneninterpolation' vor uns, deren sinnfällige Besonderheit zunächst einfach darauf beruht, daß sie durch die Divergenz der Handschriften unleugbar als solche bezeugt wird. Damit gewinnt der Fall methodisch eine herausragende Bedeutung. Jachmanns Anstrengungen, diesen Interpolationstyp durch kritische Interpretation antiker Texte nachzuweisen7, erhalten eine unverächtliche Stütze, wie umgekehrt die übertriebene Skepsis gegenüber den Versuchen, binneninterpolatorische Störungen dingfest zu machen, schlagend widerlegt wird. Ihrem Zweck nach gehört die Einfälschung | zum Typ der Ersatzfassung. In dieser Erkenntnis wie auch in der Aufhellung des Motivs war Bergman (De codicum ... virtute p. 50) allen Späteren voraus, Pelosi nicht ausgenommen. Das Motiv sah er, gewiß richtig, in dem Streben eines Halbgelehrten nach Vereinfachung des Originals. Allerdings ging es dem Textbearbeiter wohl kaum nur um die Ausschaltung des Verbums arietat, wie Bergman meint, sondern eher um Beseitigung der ganzen gewählten Periphrase: aerato machina rostro Arietat insiliens. Das kraftvolle Bild des ausschwingenden Sturmbocks wird in dem gefälschten Einschub durch die blasse Zutatfragor hosticus geschwächt, die kühne personificatio der machina insiliens merklich herabgestimmt8. Leider krankt Bergmans Behandlung an einer argen Künstelei, welche die Einsicht in das Wesentliche des Vorgangs doch wieder empfindlich trübt. Der Redaktor soll sein Elaborat nämlich, Bergman zufolge, nicht selbst in den Text gefügt, sondern als Interlinearglosse über die Worte aerato ... insiliens geschrieben haben; erst ein späterer Schreiber habe die Ersatzfunktion des Einschubs nicht mehr verstanden, habe daher beide Fassungen hintereinander in den Text gebracht und so die schwere Störung des Metrums in V.488a (non aerato) hervorgerufen. Bergman hat sich zwar bemüht, solchen Hergang durch ein graphisches Kunststück im Druck seiner Abhandlung zu veranschaulichen, aber der Widersinn der Erklärung ist trotzdem augenfällig: der pseudogelehrte Redaktor wollte Ε r -

7 Vgl. bes. seine beiden Abhandlungen "Binneninterpolation", jetzt bequem zugänglich in den "Textgeschichtlichen Studien" (s. Anm. 5) 528/82. 8 Daß der Redaktor sich dabei bestimmter prudentianischer Wortverbindungen bediente, die an ganz anderer Stelle des Werks vorkommen, ist durchaus möglich, vgl. bes. c. Symm. 2,1110 über die virgines Vesiales als Zuschauerinnen beim Gladiatorenkampf: Spectant ae rata m faciem, quam crebra tndenti Inp act ο qua ti an t hastilia ... eqs. Aber für die Authentizität des Binnenstücks ergibt sich daraus nichts Beweisendes. Dies gegen Pelosi (a.O. 173), von dessen Argumentation auch Palla (a.O.) sich mit Recht nicht beeindrucken ließ.

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s a t ζ schaffen ("sciolus ille homo ... s u b s t i t u e r e volens"), rang sich auch ein metrisches Gebilde ab, führte aber dann seine Absicht nicht durch, sondern bot sein zweiteiliges Binnenstück nur in Form einer Glosse zwischen den Zeilen gleichsam zur Auswahl an! Bergman verquickt also auf höchst unnatürliche Weise interpolatorische Absicht, glossematische Form und mechanisches Schreiberversehen. In Wahrheit liegen die Dinge einfacher. Deutlich wie keine andere Form der Fälschung bekunden Binneninterpolamente die Vorsätzlichkeit der Textänderung. So kann auch im vorliegenden Fall kein Zweifel daran bestehen, daß das interpolierte Binnenstück fragor ... quatit ursprünglich für den Text selbst verfertigt ward, nicht etwa für Rand oder Zeilenzwischenraum, und daß es dort, an der ihm vom Redaktor zugedachten Stelle, einst auch tatsächlich seinen Platz fand - selbstverständlich o h n e die entsprechende echte Fassung aerato ... insiliens, die es ja eben e r s e t z e n sollte. Desweiteren bewahrt der seltsame Befund in Ε nicht das Ergebnis einer zufälligen Konfusion, sondern den Rest einer bewußten Konstruktion. Jede der beiden Alternativfassungen, | wie sie in Ε hintereinander überliefert sind, stört für sich genommen das Metrum keineswegs. Denn aus Ε läßt sich nicht nur die Reinform des Echten, sondern auch die Reinform des Unechten herauslösen, und zwar ohne Riß und ohne Änderung des Wortbestands. Neben die interpolierte Fassung:

488 488a/489

praesidium, quem non fragor hosticus aut arietis vis inpacta quatit < nec ferrea verbera quassant >,

tritt hier die authentische ( = A):

488/488a

non aerato machina rostro arietat insiliens nec ferrea verbera quassant.

Sieht man von dem Verstoß gegen die Prosodie bei arietis ab, liefert auch die gefälschte Ersatzfassung ein metrisch vollkommenes Gebilde. Kurzum: die metrische Störung in V.488a der in Ε erhaltenen Langfassung ergibt sich einzig und allein daraus, daß zwei einander ausschließende Versionen zusammengestellt wurden, die interpolierte und die prudentianische: unter Wiederholung der Negation non, doch gerade darum so deutlich geschieden,

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daß die Verbindung nach rückwärts (488: praesidium quem ...) und vorwärts (489: ... necferrea verbera quassant) jeweils ohne weiteres hergestellt werden konnte. Es bedurfte dazu allerdings der Kennzeichnung der alternativen Binnenstücke bzw. des einen, unechten. Solcher Zustand wird jedem, der die Vorstellung eines Grammatikers, der in der ausgehenden Antike einen wissenschaftlich fundierten Prudentiustext zusammenstellte, adpungierte und adnotierte9, nicht von vorneherein als pure Phantasie abtut, eben diese Möglichkeit ins Gedächtnis rufen. Der Ε-Text gibt das Bild, das wir uns von einer antiken Gelehrtenausgabe machen müssen. Bergmans Urteil: "sed ineptum (!) hoc apographon religiose traditum est..." etc. wird dann allerdings der angenommenen Ausgangslage nicht gerecht. Dagegen stimmt zu solcher Betrachtungsweise fast Wort für Wort, was Jachmann mit dem Blick auf die Dittologien im allgemeinen feststellt: nämlich daß sie sich ohne die gelehrte Arbeit der antiken Philologen und ihr System der notae criticae nicht hätten ausbreiten können, weil die Unverträglichkeit von Grundtext und Ersatzfassung - anders als bei Zusatzinterpolationen - meist offensichtlich ist; und daß sich Handschriften mit Parallelfassungen in nennenswerter Ausdehnung "eben | dadurch untrüglich als Abkömmlinge antiker wissenschaftlicher Textrecensionen" erweisen10. Über den U-Text brauchen wir jetzt nicht mehr viel Worte zu verlieren. Hier ist das ursprüngliche Binneninterpolament so überarbeitet, daß die grobe Störung des Metrums, die in Ε durch das Zusammentreten der beiden alternativen Fassungen entsteht, bereinigt (zugleich auch die irreguläre Messung des Worts arietis beseitigt) und so das gedanklich wie stilistisch Unvereinbare - ich erinnere nochmals an Heinsius' Verdikt - wenigstens äußerlich fugenlos vereinigt wird. U spiegelt daher einen gegenüber dem Ε-Text späteren Zustand11, hervorgerufen eben durch jene offenkundige Verletzung des Versmaßes, wie sie nach Wegfall der Randsemeiose im Ε-Text, sagen wir ruhig: im Text der antiken Edition, aufbrach.

9 Adpungere bezeichnet die kritische Semeiose, adnotare deren Erklärung im Kommentar. Die Begriffe sind durch die Scholia Danielis fur Probus' Vergilkritik gesichert. Vgl. SD Aen. 1,21 (Serv. 1, p. 20 Thilo): in Probi adpuncti sunt et adnotatum:... eqs.; ferner SD Aen. 4,418 (ebd. p. 539). 10 G. Jachmann, Ausgewählte Schriften, Königstein/Ts. 1981 = Beiträge zur Klassischen Philologie 128, 381f. π Damit nehme ich die gegenteilige Feststellung zurück, die in den "Studien zur Psychomachie des Prudentius" (s. unten Anm. 16) 132" getroffen ist.

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2. Prud. psych. 727/29 Nachdem das Tugendheer in der 'Psychomachie' sechs Hauptlaster samt deren Gefolge in offener Feldschlacht besiegt und beim Einzug ins Lager auch noch den heimtückischen Anschlag der Discordia-Heresis glücklich überstanden hat, kann es endlich an die Aufgaben des Friedens denken (726ff.): 726 727 728-9 730

Conpositis igitur rerum morumque secundis in commune bonis tranquiüae plebis ad unum sensibus in tuta valli statione localis exstruitur media castrorum sede tribunal editiore loco ... eqs.

So lauten die Verse in Α und in etlichen Handschriften des neunten Jahrhunderts12. Die Doppelzählung des Verses 728-9 hat sich eingebürgert, weil die Leidener Handschrift ( = E) und der Parisinus lat. 8085, saec. IX ( = F bei Cunningham) folgende Langfassung bieten13: | 726 727 728 729 730

Conpositis igitur rerum morumque secundis in commune bonis postquam intra tuta morari contigit ac statione frui valloque fovere pacificos sensus et in otia solvere euros exstruitur media castrorum sede tribunal editiore loco ... eqs.

Daß diese Langfassung aus einer am Rande beigeschriebenen Parallele e n t s t a n d e n sei, wie Cunningham auch hier wieder lehrt14, erweist sich

12 Außer V R und Ν Μ S, aufgeführt bei Bergman, nennt Cunningham noch den 'Thuaneus', Parisinus lat. 8087 ( = T). Über die Marginalien in V Ν S s. unten Anmerkung 22. 13 Die Lesung der Verse psych. 729/33 in Ε wird dadurch erschwert, daß hier die ursprüngliche Schrift (ab V.729 paci-) von späterer Hand bzw. späteren Händen überschrieben wurde; vgl. die detaillierten Angaben bei Cunningham, der den Ε-Text zusätzlich durch Vergleich mit F und einer Brüsseler Handschrift (Bruxellensis 9987-9991, saec. XI) sichert. Die einzige Abweichung des Ε-Texts erster Hand scheint allerdings darin zu bestehen, daß hier ebenso wie in den beiden anderen Codices - Jusos statt sensus (V.729) zu lesen stand: ein offenkundiges, leicht erklärliches Schreiberversehen. Zur Marginalie in Ε s. unten Anmerkung 22.

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Ausgabe, praef. p. XXI 73: "Ps. 726-9 lectio quam praebet Ε cum suis ex loco simili

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sofort auf den ersten Blick als ausgeschlossen. Denn der Text in Ε beruht auf einem voll bewußten, rücksichtslosen Eingriff in den Versbestand: V.727 der kürzeren Fassung wurde nach der Semiquinaria aufgetrennt, und die zweite Hälfte dieser Zeile sowie die ganze folgende wurden durch eine neue Version ersetzt, die genau um einen Vers länger ausfiel als die Α-Fassung: an die Stelle der Worte tranquillae... locatis (A) trat die Fassung postquam ... curas (E). In einer etwas freieren Weise darf man den Begriff "Binneninterpolation" wohl auch auf diesen Typ der Textfälschung anwenden, der strenggenommen eine Mischform zwischen halb- und ganzzeiliger Falsifikation darstellt. Auch das Motiv der redaktionellen Bearbeitung liegt auf der Hand. Bergman (De codicum ... virtute p. 50) äußert sich darüber viel zu vage: "explicationem olet hominis, qui subobscuram Prudentii dictionem clarius aperire voluerit". Davon, daß der moderne Editor sich hier in der Bewertung prudentianischer Ausdrucksfähigkeit ziemlich genau den Standpunkt zu eigen macht, den der Textfälscher eingenommen haben dürfte, sei einmal abgesehen. Zur Klärung nur so viel: Prudentius hat die 'Psychomachie' anthropologisch in dem Widerstreit von Leib und Seele begründet. Die personifizierten Gestalten des Guten, die Tugenden, sind daher für ihn Teile der Seele (vgl. V.740f.: Concurrunt alacres castris ex omnibus omnes, Nulla latet pars mentis iners ... eqs.), die Laster sind die Kräfte des Fleisches. Sensibus in V.728 der originalen Fassung steht daher für virtutibus (wie sensus überhaupt bei Prudentius eines der Wörter für Seele ist), wozu tranquillae plebis in explikativem Sinn tritt: die sensüs = partes mentis (virtutes) s i n d das friedvolle Volk15. Wer sich diese | Verräumlichung seelisch-körperlicher Vorgänge innerhalb des allegorischen Epos klargemacht hat16, sollte mit der authentischen Formulierung in dem Vers 727/29 (nach üblicher Zählung) keine sonderlichen Schwierigkeiten mehr haben. Für den Redaktor dagegen dürfte die

orta est, ut videtur" (ebenso im App.), vgl. dazu p. XXII 75. Die Betulichkeit, mit der neuerdings Cunninghams Ausgabe gegen das vermeintliche Unrecht in Schutz genommen wird, das ihr durch K.Thraede im Gnomon (40, 1968, 681/91) widerfahren sein soll, schadet der Sache; vgl. etwa C. Magazzü, Rassegna di studi prudenziani: Bolletino di studi latini 7 (1977) 105/34, ebd. 105' und 129. 15 M. Lavarenne erklärt richtig (Sonderausgabe der 'Psychomachie' Paris 1933, p. 257 zu V.741): "Pars mentis, mdme sens que sensus en vers 729". Ob darüberhinaus noch ein Doppelsinn beabsichtigt ist, wie Lavarenne (ebd.) zu V.727: tranquillae plebis sensibus vermerkt ("les sentiments du peuple pacifique, c'est-ä-dire des chrdtiens"), bleibe dahingestellt. 16 Ich kann hierzu auf meine "Studien zur Psychomachie des Prudentius" ( = Klass.-Philol. Studien 27, 1963, 14/18) verweisen.

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eigentümliche Raumvorstellung, die in sensibus... locatis (!) liegt, ein ernstes Hindernis dargestellt haben. Daß nicht Soldaten hinter die Umwallung versetzt werden, sondern eben die sensus, erschien ihm befremdlich, und so vereinfachte er: Soldaten suchen im Lager Erholung für ihr nunmehr friedvolles Gemüt, lösen die Sorgen usw. ( f o v e r e Pacificos sensus... solvere curas). Alles so recht gängig, bequem, simpel. Sensus in seiner Version sind nicht mehr die virtutes als partes mentis, sondern die Gemüter verschiedener Einzelmenschen. Daß das Problem für den Diaskeuasten tatsächlich darin lag, nicht etwa in der Wendung: compositis ... secundis In commune bonis, über die sich Lavarenne den Kopf zerbricht17, folgt aus der Abgrenzung seiner eingefälschten Ersatzversion, die ja V.726/727 bonis unangetastet läßt. Da die Langfassung deutlich mangelhaftes Verständnis jener Szenerie verrät, die Prudentius seinem Gedicht gab, ist sie auch als Beweisstück im Sinne der These von den Autorvarianten bei unserem Dichter durchaus ungeeignet! Dies gegen Pelosi18 wie gegen Heinsius, der (p. 763 der 2. Auflage 1701) urteilte: "... liquet duplicem diversarum editionum scripturam hic denuo in libris confundi". Vielmehr sind es gerade Phänomene der hier vorgeführten Art, welche den Gedanken an Existenz und Zerfall einer kritisch adnotierten wissenschaftlichen Prudentiusausgabe nahelegen, in der das Echte und das Unechte vereint war, so wie das heute noch einer der Codices des neunten Jahrhunderts, der Cantabrigiensis Corp.Chr. 223 ( = C), ungefähr zu erkennen gibt19: |

17 Lavarenne, Sonderausgabe p. 256f. zu V.726. Bergman hat (ebenfalls in seiner 'Psychomachie'-Ausgabe, Diss. Upsala 1897, p. 66) die Konstruktion folgendermaßen erklärt: "Compositis - bonis i.e. cum igitur bona rerum morumque (bonae res bonique mores) ita ordinata, constitute essent, ut secunda in commune forent (ut publicae utilitati servirent)". Echtheitszweifel erscheint mir unnötig und unangebracht. Man muß unterscheiden: die Unklarheit, die durch die Einfälschung erzeugt wird, darf nicht ihr trübes Licht auf den echten Wortbestand ergießen. Schon die Bemerkung, mit der Lavarenne seine Note beginnt, verrät, daß er nicht scharf genug trennt: "Compositis - bonis, passage obscur. Cette obscuritö, jointe aux divergences de texte dans ce qui suit (vers 727-728), nous porte ä nous demander si tout l'endroit qui va de 726 ä 728 ne serait pas altere". 18 Vergilisches Kolorit, wie es Pelosi a.Ο. 165 in der Wendung intra tuta morari erkennt (vgl. Aen. 11,882 inter [intra Μ R] tuta domorum \), besagt nichts für die Echtheit; vgl. JbAC, Erg.-Bd. 11 (1984) 140f. mit Anm. 10 [in diesem Band S. 97 mit Anm. 10], 19 Außerdem D K, nach Bergman. Nichts darüber in Cunninghams Apparat, der mit Quisquilien aus Ε vollgestopft ist. Auch die Parallelfassungen cath. 3,100 flavit et ind.id.it ore animam (E etc.) - ore animam dedit ex proprio (A) stehen in C so hintereinander im Text, was Bergman wiederum daraus erklärt, daß die Vorlage den unechten Vers der E-Version "glossae modo" über dem echten führte! Cunningham übergeht C auch hier (freilich ein vergleichsweise kleiner Schaden, liest man, was er sonst zu diesem Vers vorbringt).

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conpositis igitur rerum morumque secundis in commune bonis postquam intra tuta morari contigit ac statione frui valloque fovere pacificos sensus et in otia solvere curas sensibus in tuta valli statione locatis exstruitur media castrorum sede tribunal editiore loco ... eqs.

In margine, neben V.727: tranquillae plebis ad unum. Die Eintragung ist durch am Rande wiederholtes Zeichen über postquam als an diese Stelle gehörig ausgewiesen. Mithin fehlt hier am Gesamtbestand des Echten und Unechten nicht das Geringste. Allerdings wird eben die originale Fassung V.727 ex. nur am Rande gleichsam zur Auswahl angeboten und ist von dem zugehörigen echten V.729b durch das dazwischengestellte Großinterpolament weit getrennt. Der gleichlautende Versbeginn 727 beider Fassungen: in commune bonis hat wohl verhindert, daß auch diese Zeile schon im Text wiederholt und damit die denkbar gröbste Dublette geschaffen wurde. Der umfängliche und ungefüge Versbestand in C beweist, daß bei Vorliegen dittologischer Fassungen eine für den Benutzer durchschaubare Darstellung des überlieferten Textguts ohne die kritischen Zeichen der Antike nicht gelingen konnte, ja daß die Verhältnisse den Kopisten selbst kaum noch durchsichtig waren. Trifft die angedeutete Gesamtschau der Vorgänge, dann befinden wir uns eben in solchen Fällen mitten unter den Trümmern, welche der Verfall der antiken έκδοσις zurückgelassen hatte. Und hier ist endlich auch der Ort, etwas über das Verhältnis von Interpolation und Marginalie zu sagen. Interpolamente sind nicht aus Randbemerkungen e n t s t a n d e n , wie der letzte Editor des Prudentius uns glauben machen will20. Aber sie können unter gewissen Bedingungen durchaus auch als Beischriften auftreten: Alternativfassungen nämlich, und zwar sowohl die jeweils echte wie die jeweils unechte, neigen dazu, sich am Rande neben, unter oder über dem Haupttext zu zeigen - leicht begreiflich! Bleiben wir bei unserem Fall. Wie in C ein Teil

20 Cunningham, Praef. p. XXII 75: " ... locos similes margini adscriptos et postea pro textu ipso habitos in textu ipso descriptos esse invenimus" - dieser schöne Satz steht, wohlgemerkt, unter der Überschrift: "De interpolationibus"! Bei solcher Sicht der Dinge muß es besonders verwundern, daß der Editor keinerlei Hinweise auf die Marginalien in den wichtigen Urkunden (s. Anmerkung 22) erteilt. Bergman verzeichnet sie gewissenhaft.

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des echten Verses 7 2 7 , so ist in Ε am Rande die ganze echte Fassung beigeschrieben. Umgekehrt erscheint in Ν S und V, welche den Α-Text bieten, am Rande die interpolierte E-Version 2 1 , | wobei die Absicht der Kopisten nicht immer deutlich hervortritt 22 . Ratlosigkeit ist aber ebenso ein Indiz wie das Tradieren des Unmöglichen. Man werfe nur noch einen Blick in Bergmans (nicht Cunninghams!) Apparat zur berühmten Doppelfassung der beiden Strophen cath. 1 0 , 9 / 1 6 , w o in Α das Echte steht, in Ε V Ν das Unechte (dazu am Rande das Echte), in S U etc. beides vollständig hintereinander, in C D das Echte ganz, das Unechte nur zur Hälfte (wieder vervollständigt am Rande)! D o c h genug. Wenn an der Urvariantenlehre bei Prudentius etwas Gutes war, so lag es darin, daß sie den Blick für die Tatsache schärfte, daß nicht nur das allein antiken Ursprungs ist, was in den beiden spätantiken Handschriften Α und Β steht 23 . Hier mag es einmal genügen, zur Festigung dieser allgemeinen Erkenntnis an die 'Psychomachie' - Illustrationen der karolingischen und späteren Handschriften zu erinnern, die sämtlich, w i e längst bemerkt und für die Miniaturen in U neuerdings wieder bekräftigt wurde 24 , auf einen bebilderten

21 In Ν mit den Varianten tuen statt morari (727) und foveri statt fovere (728). 22 So sind in Ε am unteren Rande die Verse 727.728-9.730 in. (exstruitur) der echten Fassung unter Vorsatz der Cryphia beigeschrieben; vgl. Isid. orig. 1,21,10: circulipars inferior cum puncto ponitur in his locis, ubi quaestio dura et obscura aperiri vel solvi non potuit. Im Vaticanus scheinen V.727.728.729a der interpolierten Version als Alternative zu dem einen echten Vers 727 verstanden zu sein, wodurch sich insgesamt etwa ein Bestand wie in C ergäbe, d.h. 729a+729b. Anders in N, wo der Antigraphus (Isid. I.e. 6: ... adponitur, ubi in translationibus diversus sensus habetur) vor V.729b gesetzt und am Rande vor der Beischrift der Interpolation (727.728.729a) wiederholt wird, also wohl die beiden Fassungen jeweils als ganze einander gegenübergestellt werden sollen. In S ist die Einfügung überhaupt unklar. Die Frage der Datierung dieser Zusätze kann im Rahmen unserer Studie nicht beantwortet werden. In Ε scheinen sie von früher Hand zu rühren. 23 In Α und Β (= Ambrosianus D 36 sup.). Das Zeugnis von Β fallt für die beiden hier behandelten Stellen aus. Über den Blattverlust in der Handschrift des 6. Jh., ihre Ergänzung im 9. Jh. sowie über ihr Schicksal allgemein s. Mirella Ferrari, "In Papia conveniant ad Dungalum": Italia medioevale e umanistica 15 (1972) 1/52, ebd. 40/52; dazu jetzt J. Vezin, Observations sur l'origine des manuscrits legu6s par Dungal ä Bobbio: Paläographie 1981, hrsg. von G. Silagi (München 1982) = Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 32, 125/ 144, ebd. 139f. Über die beiden spätantiken Textzeugen s. auch O. Pecere, C. Questa und R. Raffaelli in ihren Beiträgen zu dem Band "II libro e il testo" (Urbino 1982), hrsg. von Questa und Raffaelli; s. ebd. Reg. p. 438. 441. 24 Außer R. Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Diss. Berlin 1895, 155 vgl. jetzt Ellen J. Beer, Überlegungen zu Stil und Herkunft des Berner Prudentius-Codex 264: Florilegium Sangallense, Festschrift J. Duft, hrsg. von O.P. Clavadetscher u. a. (St. Gallen/ Sigmaringen 1980) 15/75, bes. 51 (mit Lit.). Beer hält es sogar für wahrscheinlich, daß den Illuminatoren des Bernensis das antike Original selbst zugänglich war.

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VI. Zwei Binneninterpolamente

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Prudentius-Codex des 5. Jh. zurückgehen. Die beiden Handschriften des 6. Jh. sind nicht illuminiert. Im übrigen verraten gewisse Interpolamente ihre antike Herkunft schon dadurch, daß sie nachweislich aus aktuellen Streitfragen der altkirchlichen Theologie hervorgegangen sind25. | Ich schließe mit dem Ausblick auf ein einzigartiges Dokument spätantiker Textdiaskeuase: die Rezension des ersten Buchs der Laudes Dei und der Satisfactio des Dracontius, die Bischof Eugenius von Toledo (Mitte des 7. Jh.) vornahm26. Denn um a n t i k e μεταγραφή handelt es sich hierbei, wenn auch vielleicht weniger der Zeit ihrer Entstehung nach als aufgrund ihres äußeren und inneren Zusammenhangs mit dem antiken Interpolationswesen. Ersatzfassungen, darunter auch binneninterpolatorische wie die eben besprochenen, treten dort gleich reihenweise auf. Von einer antiken Gelehrtenausgabe und den Folgen ihrer Auflösung kann dabei natürlich nicht die Rede sein. Denn dem spanischen Bischof aus der Zeit des Westgotenreichs war ein Erfolg beschieden wie sonst kaum einem antiken Redaktor: seine Rezension setzte sich ungehindert durch und blieb bis zum Ende des 18. Jh. die alleinherrschende. Erst seit F. Arevalo den echten Dracontius ans Licht hob, können wir Original und Diaskeuase vergleichen, was eben diesen ganzen Fall zu einem Schulbeispiel interpolatorischer Arbeit macht.

25 Vgl. hierzu "Theologie und Textgeschichte. Zwei Doppelfassungen bei Prudentius", Wien. Stud. 98 (1985) S. 179/203 [in diesem Band S. 102/125]. 26 Auf sie macht mich W. Schetter aufmerksam. Der Text bei F. Vollmer, MGH a.a. 14 (1905); dazu jetzt F. Speranza, Blossi Aemili Draconti satisfactio una cum Eugeni recensione, Roma o.J. (1978). Die Redaktion des Eugenius verdient nach der tüchtigen Arbeit K. Reinwalds, Die Ausgabe des ersten Buchs der Laudes dei und der Satisfactio des Dracontius durch Eugenius von Toledo: Progr. z. Jahresber. des K. humanistischen Gymnasiums Speyer 1912/ 13, Speyer 1913 eine erneute Behandlung, deren Hauptziel darin bestehen müßte, den Text des Eugenius in den Zusammenhang des antiken Interpolationswesens zu rücken.

VII. ZUR PRAEFA

TIO

DES PRUDENTIUS'

Unter diesem trockenen Titel ist uns ein einzigartiges Stück altchristlicher Poesie bewahrt. Seine literaturgeschichtliche Stellung läßt sich nicht mit einem Wort beschreiben. Prudentius hat horazische Maße: Glykoneus, Asklepiadeus minor und maior verwandt, aber ihre Fügung zu einer dreizeiligen Strophe ist, soweit wir sehen, ohne Vorbild. Inhaltlich nimmt die Praefatio die Tradition antiker Gedichte auf, in denen der Autor seine Hinwendung zur Dichtung als eine lebensbestimmende Wahl begründet. Aber ganz anders als etwa einem Horaz (carm. 1,1) gilt dem christlichen Dichter nicht menschliche Anerkennung, sondern Verdienstlichkeit vor Gott als Triebfeder seines Schaffens. In dieser Hinsicht nähert sich Prudentius sehr der Praefatio zu Juvencus' Bibelepos, von der sein Gedicht jedoch durch den stärker autobiographischen Charakter geschieden ist. Er wiederum rückt es in die Nähe der Confessiones. Die Conversion des kaiserlichen Beamten und Weltmenschen zum geistlichen Dichter, der nur noch Gott dienen will1, erinnert an die beiden Beamten zu Trier (Aug. conf. 8,6,15), mehr noch: an Paulinus von Nola oder an Vinzenz von Lerin, welcher ebenfalls der militia saecularis entsagte, um für seine Religion literarisch zu wirken (comm. 1). Sidonius hat ähnliche Verse (epist. 9,16, vers. 41/56), die sich aber an Tiefe mit den prudentianischen nicht messen können, weil der gealterte Literat | und Bischof mehr einen Wechsel innerhalb seiner literarischen Tätigkeit - von der Poesie hin zur Epistolographie - begründet, weniger eine Wandlung des Lebens2. Schließlich beansprucht die Praefatio dem Thema nach auch einen Platz in der Reihe der Alters* Filologia e forme letterarie. Studi sull' antichita classica e la sua fortuna offerti a Francesco Deila Corte, vol. IV, Urbino o.J. [1988] 231/251. 1 Die Praefatio ist mit dem unmittelbar folgenden Gedicht, dem ersten Hymnus des Liber cathemerinon (Ad galli cantum), durch einen tiefreichenden Bezug verbunden. Die Bekehrung vom Weltleben zum Christenleben, die Prudentius selbst vollzogen hat, ist dort ins Allgemeine erhoben und zu einer Forderung gemacht, die für alle gilt (cath. 1,89/92): Sunt nempe falsa et frivola, Quae mundiali gloria Ceu dormientes egimus: Vigilemus, hie est Veritas. Unter den Weltgütern erscheinen dann hier (94) auch die honores. Solche Verallgemeinerung ist möglich, weil nicht so sehr äußere Weltflucht verlangt als vielmehr falsche Hingabe an die Welt bekämpft wird (cfr. 1 Joh. 2,15ff.: nolite diligere mundum ... eqs.). Dieser Gesichtspunkt muß auch bei Interpretation der Praefatio beachtet werden: unten Anmerkung 34. 2 Auf Vinzenz und Sidonius verweist schon F. Arevalo in seiner kommentierten Prudentius-Ausgabe (Rom 1788/1789), abgedruckt bei Migne, PL 59/60, ibid. 59,773 B/C. Ferner s. I. Rodriguez-Herrera, Poeta Christianus, Speyer 1936, 18/28.

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VII. Zur Praefatio des Prudentius

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reflexionen antiker Autoren. Die dem Gedicht zugedachte Aufgabe, 'Vorrede' zu einer Sammlung zu bilden - in persönlicher Sache, doch ohne Widmung an einen Empfänger (also anders als etwa Catull 1) - hängt sicher auch mit Prudentius' Vorliebe für Praefationes überhaupt zusammen, deren zwei (c. Symm. 1 praef.; 2 praef.) in ein demutsvolles Gebet münden. Wie Ausonius' und Claudians Praefationes vermuten lassen, nutzte Prudentius dabei eine breitere literarische Entwicklung für die Zwecke seiner christlichen Poesie. Im Ganzen offenbart die Haupt-Praefatio ein schöpferisches Walten mit Gedanken und Formen, dem die 'Gattungskreuzung', bewußtes Mittel literarischen Ausdrucks seit dem Hellenismus, den Weg geebnet hatte. Der Philologie gilt das Gedicht als ebenso kostbar wie unantastbar und mit gewissem Recht. Aber gerade darum wird man sich aus gegebenem Anlaß die Frage vorlegen müssen, ob diese Einstellung zum Text während seiner ganzen Geschichte die herrschende gewesen ist. Daß der Prudentiustext groben Eingriffen von fremder Hand ausgesetzt war, wird durch den handschriftlichen Befund dargetan 3 , und es mehren sich die Indizien dafür, daß die Phase der intensivsten interpolatorischen Bearbeitung die früheste seiner Geschichte gewesen ist4. Das heißt, daß sie dem Einsetzen der handschriftlichen Überlieferung im sechsten Jahrhundert 5 zeitlich voraufliegt und daß daher bei ihrer | Aufdeckung vor allem innere Kriterien angewandt werden müssen. Gewiß ging die Welle der Interpolation besonders über die hexametrischen Gedichte hinweg, wie das für die Tätigkeit der antiken Redaktoren schlechthin bezeichnend ist. Aber daß diese vor den lyrischen Gedichten nicht Halt machte, beweist allein schon die Existenz einer interpolierten Doppelfassung zu zwei ganzen Strophen des Grabhymnus (cath. 10,9/16) 6 . Unser Gedicht

3 Ich verweise hierzu auf meinen Aufsatz: Zwei Binneninterpolamente und ihre Bedeutung für die Geschichte des Prudentiustexts, Hermes 114, 1986, 88/98 [in diesem Band S. 126/37]. 4 Leider ist es wieder nur Eigenes, was ich anführen kann: Eine inteipolatorische Ehrenrettung Davids, in: Vivarium. Festschrift Th. Klauser (Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 11, 1984, 136/43 [in diesem Band S. 90/101]; Kritische Bemerkungen zu Prudentius' Hamartigenie, Hermes 112, 1984, 333/52 [in diesem Band S. 68/89]; Theologie und Textgeschichte. Zwei Doppelfassungen bei Prudentius, Wiener Studien 98, N.F.19, 1985, 179/203 [in diesem Band S. 102/125]. 5 Die Praefatio, um die es im folgenden geht, fehlt allerdings in den beiden antiken Textzeugen (dem 'Puteanus' = Parisinus lat. 8084 und dem Ambrosianus D 36 sup.). So bleibt äußerlich - die Möglichkeit späterer Entstehung der behandelten Großinterpolamente offen. Aber Art und Umfang des Gesamtbestands interpolatorischen Versguts bei Prudentius wie auch die im Puteanus nachweisbaren Fälle legen frühe Entstehung auch nier zwingend nahe. 6 Cfr. E. Pianezzola, Sulla doppia redazione in Prud. Cath. X 9/16, in: Miscellanea critica, II, hrsg. von J. Irmscher etc., Leipzig 1965, 269/86.

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nahm sowohl nach seinem äußeren Platz an der Spitze der Sammlung als auch nach seinem autobiographischen Inhalt eine exponierte Stellung im Gesamtwerk ein, und es wäre ganz falsch zu glauben, daß dieser besondere Rang unbedingt hätte schützend und textkonservierend wirken müssen. Die gegenteilige Folge ist von vorneherein sehr gut denkbar: die Praefatio stand herausfordernd da für jeden, der meinte, dem Text rezensorisch aufhelfen zu sollen. In der Tat wird sich zeigen, daß Prudentius' Altersgedicht durch zwei eingeschwärzte Strophen entstellt ist. Ihre Behandlung rücke ich in die Mitte der nachfolgenden Studie ( = 1 1 und III); umrahmt wird sie durch die Erörterung zweier exegetischer Kleinigkeiten in der ersten und letzten Strophe der Praefatio ( = I und IV). Die vier Kapitel bilden, wenigstens nach meinem Dafürhalten, insofern auch eine innere Einheit, als sie dartun wollen, daß die Poesie des Prudentius größere Eindringlichkeit in der exegetischen und kritischen Durcharbeitung verlangt, als ihr gewöhnlich zuteil wird.

I I

Per quinquennia iam decern, ni fallor, fuimus; septimus insuper annum cardo rotat, dum fruimur sole volubili.

Wenn der steinalte Xenophanes vorrechnet, er sei, nachdem er die Heimat mit 25 Jahren verlassen habe, 67 Jahre durch griechische Lande gewandert, und hinzufügt: εϊπερ έγώ περί τώνδ' οΐδα λέγειν έτύμως (frg. 7 Diehl), erscheint uns solcher Ausdruck der Unsicherheit durchaus natürlich und keiner Erläuterung bedürftig, die nicht schon in der Dauer und Unruhe des Lebens, | wohl auch in der Betagtheit des Dichters gegeben wäre. Anders verhält es sich, wenn ein ehemaliger römischer Gouverneur und Beamter der kaiserlichen Kanzlei, eben erst in den Fünfzigern stehend, eine derartige Einschränkung macht. "Ich bin 56 Jahre alt - wenn ich mich nicht irre": wer könnte heute ähnlich reden, ohne erheiternd zu wirken? Aber Prudentius wollte nicht so wirken: auch der leiseste scherzhafte Unterton würde den religiösen Ernst seiner Lebensbeichte zerstören7. Ni fallor bedarf also der Erklärung. 7 Es ist eine ansprechende Vermutung W. Schetters (Zeitschrift fiir Kirchengeschichte 74, 1963, 149), daß Prudentius die Vollendung des 56. Jahrs gemäß der beliebten hebdomadischen Gliederung des Lebens als Beginn des Alters auffaßte. Zwar ist das 63. Jahr bedeutsamer (cfr.

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Sie ist aber nicht schon damit erreicht, daß man aus der Einschränkung ni fallor tine Bekräftigung heraushört: necfalloi*. Ob restriktiv oder affirmativ: hier bleibt der Ausdruck auffällig. Im übrigen sind Worte gar so leichte Ware nicht. Auch wenn nifallor affirmative Bedeutung annimmt9, gibt das nur Sinn, falls ein Irrtum naheliegt oder wenigstens möglich ist. Zu Aeneas' Worten: iamque dies, nisifallor, adest... eqs. (Verg. Aen. 5,49) bemerkt Servius: non quasi nescius (!) dicit, sedpropter anni confusionem, quae erat apud maiores (er denkt an Caesars Kalenderreform!). Die Notiz ist töricht, zeigt aber, welchen allgemeinen Eindruck die Wendung nisifallor machte. Ist nach Ansicht des Redenden jeglicher Irrtum ausgeschlossen, wird die Möglichkeit nur unterstellt, dann nimmt der Einschub ironische Färbung an10. Aber Ironie und Scherz liegen dem Dichter der Praefatio gleichermaßen fern. Das kleine exegetische Problem beweist, daß eine rein | gefühlshafte Interpretation antiker Literatur nicht immer genügt. Zwar mag auch ein moderner Mensch einen Augenblick lang zweifeln, wie alt er sei, aber er kann sich seines genauen Alters stets durch eine einfache Subtraktion vergewissern: geboren an einem bestimmten Tag im Jahre 1929 braucht er nicht viel zu rechnen, um sicher zu sein, wie alt er an einem bestimmten Tage im Jahr 1985 ist. Zur Zeit des Prudentius blickte ein Mann reiferen Alters auf eine lange Reihe von Jahren zurück, die nicht anders als durch die Namen ihrer Konsuln, allenfalls noch durch die Zahl der Regierungsjahre der Kaiser, gekennzeichnet waren11. Mochte auch sein Geburtsdatum feststehen, weil der Art. Greisenalter, RAC 12, 1983, 998), doch braucht das hier nichts zu besagen. Die weitergehende Vermutung freilich, Prudentius könne sein Alter zur Zeit der Krise nur fingiert haben, um auf jene Zahl zu kommen, bleibt ganz unsicher, wie Schetter selbst zu Recht betont. Die Theorie braucht nicht gegen das Erlebnis zu sprechen, weil ein Stufenjahr als solches auch erlebt und empfunden werden kann. Man vergleiche hierzu das reizende Briefchen, das Augustus an seinem 64. Geburtstag an den Enkel Gaius schrieb (Gell. 15,7). 8 Cft. M. Brozek, Ad Prudentii praefationem interpretandam, Eos 57, 1967/68, 149/56, ibid. 149. 9 Wie sonst autfallor, cfr. Ov. met. l,607f.: aut ego fallor Aut ego laedor (i.e. certe laedor) und Brink zu Hör. ars 42. 10 Ironisch ist Electra gegenüber Clytaemnestra Sen. Ag. 960: nisi forte fallor, feminas ferrum decet, und der Stadtpraefect gegenüber St. Laurentius Prud. per. 2,99f.: Nifallor, haud ullam tuus Signal deus pecuniam. Hierherzuziehen ist wohl per. 10,91, vielleicht auch c. Symm. 2,965. Dagegen hat Prudentius die ähnliche Wendung fallo nisi im Sinne der Versicherung ham. 506: fallo creaturam nisi doctor apostolus omnem (ingemuit miserans). π Die Berechnung der Jahre ab urbe condita war im privaten Leben, aber auch im öffentlichen von weit geringerer Bedeutung; cfr. A.E. Gordon, Illustrated Introduction to Latin Epigraphy, Berkeley/Los Angeles/London 1983, 226/28 mit Literatur. Bezeichnend etwa, wie Claudian den Bauern glücklich preist: frugibus alternis, non consule computat annum (carm. min. 20,11).

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Vater die Geburt ordnungsgemäß beim zuständigen tabularium angezeigt, vielleicht auch den für die Familie bestimmten Auszug aus dem Stammbuch aufbewahrt hatte12: ohne eine Konsulliste konnte das Alter nicht sicher berechnet werden. Die annorum computatio war also, gemessen an modernen Verhältnissen, eine umständliche Angelegenheit, zumal dann, wenn Suffektkonsuln in die Reihe traten. Und Konsullisten standen nicht in jedem Haushalt zur Verfugung. Der rechtskräftige Nachweis des Lebensalters, der vor Gericht oft nötig war, wurde im Tabularium ausgestellt. Trotzdem waren Irrtümer auch seitens des Amts nicht ausgeschlossen13. Daß in einem Strafprozeß das Alter einer erwachsenen Person erheblichen Zweifeln unterliegen könne, vermögen wir uns heute kaum noch vorzustellen; aber Apulejus mußte vor Gericht erst den Nachweis führen, daß die Witwe, die er behext haben sollte, nicht sechzig, sondern erst vierzig Jahre alt war (Apul. apol. 89). Die deutlichste Sprache sprechen die Grabinschriften. Zusätze wie plus minus (Ρ M), circiter neben der Zahl der Lebensjahre bezeugen mit bemerkenswerter Unbefangenheit, daß die Lebenszeit des Verstorbenen nur schätzungsweise zu ermitteln war. In die gleiche Richtung weist der unverhältnismäßig hohe Anteil der runden Zahlen auf den Grabinschriften. Gewiß folgt aus alledem nicht, daß etwa Prudentius | außerstande gewesen wäre, sein Alter genau anzugeben; denn Unkenntnis des Lebensalters ist Anzeichen für einen niedrigen Bildungsstand14. Aber die Beobachtung der Realien antiken Lebens lehrt, daß jene beiden Worte beim zeitgenössischen Leser nicht die Wirkung hervorriefen, die sie beim modernen fast notwendig erzeugen müßten. Freilich wäre es ebenso falsch zu folgern, daß sie, weil sie diese Wirkung nicht taten, überhaupt keine Wirkung taten. Gedankenlose Füllsel sind nicht Prudentius' Sache, und gleich zu Beginn seines programmatischen Gedichts wird man derlei am allerwenigsten erwarten dürfen. Einschübe des Typs nisi (ni)fallor begegnen in Prosa und Poesie (ThLL 6,184,8/14), ihr Ausdruckswert wechselt, wie bereits bemerkt, und läßt sich nicht immer sicher fassen. So umgeben etwa Redner wie Dichter bestimmte Daten gerne mit dem Hauch einer eleganten Nachlässigkeit, um den Eindruck 12 Hierzu und zum folgenden s. W. Levison, Die Beurkundung des Civilstandes im Altertum, Bonner Jahrbücher 102, 1898, 1/82; A. Möcsy, Die Unkenntnis des Lebensalters im römischen Reich, Acta Antiqua 14, 1966, 387/421. 13 Möcsy, op. cit., 391. 14 Außer Möcsy, op. cit., s. R.P. Duncan-Jones, Age-rounding, Illiteracy and Social Differentiation in the Roman Empire, Chiron 7, 1977, 333/53; J. Kunow, Zum Analphabetentum im römischen Heer, Archäologisches Korrespondenzblatt 13, 1984, 483/85.

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aufdringlicher Sorgfalt fernzuhalten. Obwohl Apulejus das Alter Pudentillas genau kannte, sagt er, zum Richter gewandt (loc. cit.): iube, Maxime, consules computari: nisi fall or, invenies nunc Pudentillae haud multo amplius quadragesimum annum aetatis ire. Prudentius erlebte Fest und Verehrung des hl. Hippolytus in Rom selbst mit und will durch seinen Hymnus (per. 11) den Kult des Märtyrers in der spanischen Heimat fördern, aber das wichtige Datum des Festtags versieht er trotzdem mit einem leichten Fragezeichen (per. 11,231 f.): si bene commemini, colit huncpulcherrima Roma ldibus Augusti mensis ... eqs.15. Doch solche allgemeine Erklärung wäre für unsere Stelle zu schwach. Wir nähern uns ihr eher mit Claudian. bell. Get. 488f.: Si numero nonfallor, ait, tricesima currit Brumafere, rapidum postquam transnavimus Histrum ... eqs. Das sind Worte eines greisen Gotenkriegers an Alarich, und es liegt auf der Hand, daß die Möglichkeit eines Rechenfehlers hier auch zu dem Zweck angedeutet wird, die Vielzahl der | verflossenen Jahre hervorzuheben; denn der Alte vertritt die Partei der Kriegsmüden. Sehe ich recht, trägt jenes nifallor bei Prudentius ähnlichen Ton. Das heißt: Prudentius rückt tatsächlich in gewisse Nähe zum eingangs zitierten Xenophanes, insofern er die verflognen und vertanen Jahre als große, schwer überschaubare Zeitmasse empfindet und darstellt. Alles schon in dieser ersten Strophe ist daraufhin angelegt, die Schnelligkeit der rinnenden Zeit und die Länge des vergeudeten Lebens herauszuarbeiten. Jedes Wort dient diesem Zweck: das lange Substantiv quinquennia (nur hier bei Prudentius), iam, ni fallor, das scheinbar umständliche, in Wahrheit höchst ausdrucksstarke Adverb insuper, überhaupt die Zusammensetzung der Zahl Siebenundfünfzig, die - für den Dichter eigentlich eine Not - hier zur Tugend wird, das Bild des Türzapfens, der die Jahre dreht, geschärft noch durch die 'Enallage' septimus cardo (statt septimum annum), das klangvolle Ende: sole volubili - vielleicht auch das Versmaß: die gleichmäßige, von Vers zu Vers fortschreitende Erweiterung um je einen Choriambus. Der Einschub: nifallor ist also in diesem wohldurchdachten Ganzen ein absichtsvoll eingefügtes Element: gesuchtes Stilmittel mit bestimmtem Ausdruckswert. 15 Rodriguez-Herrera, op. cit., 94 bemerkt: "Si bene commemini ist kein Zweifelsausdruck - vgl. Pr 2 nifallor, Juimus". Aber w a s drücken die Wendungen dann aus? Gar nichts? Wenn etwa Augustin civ. 14,8 bei Erwähnung des Alcibiades hinzufügt: si me de nomine hominis memoria non fallit, so mag, wer an echten Zweifel nicht glauben will, darin das Streben nach einer gewissen Distanz gegenüber Piaton erkennen (cfr. J. Gibb - W. Montgomery, The Confessions of Augustine, Cambridge 1927, 58 zu conf. 4,4,7 cuiusdam Ciceronis): jedenfalls b e d e u t e n die Worte etwas.

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II VIII

Haec dum vita volans agit, inrepsit subito canities seni oblitum veteris me Saliae consulis arguens.

IX

[sub quo prima dies mihi, quam multas hiemes volverit et rosas pratis post glaciem reddiderit, nix capitis probat.]

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Kenntnis antiker Kultur, enge Fühlungnahme mit Stil und Absicht des Autors: das ist eine Sache. Gesundes Urteil, Blick für Unterschiede in der Qualität: das ist vielleicht eine andere. Aber beides muß dennoch zusammengehen. Der Philologe darf nicht die kulturelle und geistige Kluft, die ihn von dem antiken Autor trennt, zum Entschuldigungsgrund machen für alles, was er nicht versteht, was ihn verwundert, befremdet, stört - bis ihn schließlich nichts mehr wundert und nichts mehr stört. 'Die Logik des Autors ist nicht die unsere': in Sätze solcher Art kleidet sich eine Haltung, die alles gelten läßt, alles verzeiht, alles für gleich gut erachtet. Und wo gut und schlecht dasselbe ist, da ist auch echt und unecht dasselbe: nämlich gut und echt. Meine Einwände | richten sich gegen die zweite der ausgeschriebenen Strophen. Ich sehe kein Subjekt zu volverit und reddiderit (26/27), und ich wage es, mich daran zu stören, daß je eine Rose einen Frühling machen soll (quam multas rosas wie quam multas hiemes!), wo doch bekanntlich eine Schwalbe noch lange keinen Sommer macht. Lavarenne übersetzt16: "C'est sous lui que je naquis. Depuis, combien le temps [!] a-t-il ramen6 d'hivers, combien de fois [!] a-t-il rendu, apres la saison glacee, les roses aux champs? La neige qui couvre ma tete le montre". Ein schönes Stück französischer Prosa! Auch Thomson glättet alles, was im Lateinischen Risse bildet17: "Under him my time [!] began, and how many winters it [!] has seen roll on, how often [!] seen the roses given back to the meadows after the frost, the snow on my head proves". Prima dies (25) kann nur der Geburtstag sein, und es geht nicht an, 16 M. Lavarenne, Prudence, I, Paris 19552 (repr. 1972), 2. π H.J. Thomson, Prudentius, I, Loeb Library 1949 (repr. 1962), 5. Ähnliche Kunststücke vollfuhrt J. Guillen im Spanischen: "cuäntos inviernos hayan pasado [!] y cuäntas veces [!] hayan substituido las rosas al hielo de los prados, la nieve de mi cabeza te lo dice" (J. GuillenI. Rodriguez, Obras completas de Aurelio Prudencio, Madrid 1950, 7).

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aus prima dies eine Bedeutung herauszuziehen, die das Wort dies in Junkturen wie nulla dies (Lucr. 3,908), multa dies (Hör. ars 293), numerosa dies (Sedul. carm. paschal. 2,11), volvenda dies (Verg. Aen. 9,7)18 annehmen kann ("le temps", "time"), so daß man einfach ergänzen dürfte: quam multas hiemes volverit, sc. dies. Das ist ein Übersetzer-Trick. Die Bedeutung dies i.q. tempus ist in V.4 unseres Gedichts richtig (instat terminus, et diem Vicinum senio iam Deus adplicat), hier unstatthaft19. Brozek (op. cit., 153) verzichtet denn auch auf diesen Kunstgriff. Er nimmt prima dies zum Subjekt20: "dies natalis [!] a qua aetas initium sumit... quaeque omni anno recurrit, ut ipsa annum volvere videatur". Aber selbst als Anhänger der mathematici hätte sich der christliche | Dichter, wofern er Dichter sein wollte, so nicht ausdrücken dürfen. Denn prima dies kann nur der Tag sein, an dem ein Mensch tatsächlich das Licht der Welt erblickte, nicht jedoch der alljährlich wiederkehrende Festtag (dies natalis). Brozeks Gleichung geht nicht auf. Im übrigen bewegt der Geburtstag - ob nun dies prima oder dies natalis - nicht das Jahr, geschweige denn, daß er den Wiesen die Rosen zurückgäbe! Den anderen Anstoß beseitigt Brozek auf dieselbe Weise wie Lavarenne und Thomson: "quam multas rosas pratis reddiderit: quam multa vice (quota vice) rosas pratis reddiderit". Heißt das erklären? Einsetzen, was nicht dasteht? Die Prädikate volverit, reddiderit finden im Text kein vernünftiges Sub21 jekt . Aber das ist nicht das Ärgste. Das Schlimmste ist, daß der Ductus des Satzes quam multas... eqs. wie von selbst darauf fuhrt, nix capitis als Subjekt auch im indirekten Fragesatz zu ergänzen. Brozek sträubt sich begreiflicherweise gegen diese unsinnige Konsequenz, doch mit schwächlichen Mitteln: nach arguens am Schluß der voraufgehenden Strophe sollen wir, so Brozek, schwere Interpunktion setzen, um den relativisch angeschlossenen Satz leichter zum 18 Gerade die vergilische Wendung volvenda dies (Servius: pro 'volubilis"), gebildet wie volvendis mensibus (Aen. 1,269), führt vielleicht im Zusammenhang mit den prudentianischen Ausdrücken: annum cardo rotat... sole volubili (praef. 3), vita volans (ibid. 22) auf die ungefähre Vorstellung, die jenem volverit in V.26 zugrundeliegt. 19 Übrigens besteht zwischen den Altersbezeichnungen in V.4f. (diem vicinum senio) und V.23 (seni) kein wesentlicher Unterschied, da senex bei Dichtern nicht mehr zu bedeuten braucht als senior, cfr. Art. Greisenalter, cit., 999. Dies gegen I. Lana, Due capitoli Prudenziani, Roma 1962, 38. 20 Und außerdem gleich den ganzen Relativsatz: "quod subiectum et ipsum enuntiati relativi... formam habet... 'sub quo quae prima dies mihi illuxit*". Wenn das Latein ist: das Latein des Prudentius ist es jedenfalls nicht. 21 An vita (22) hat Bergman (Eranos 12, 1912, 115f.) gedacht. Ob der Interpolator sich solche Gewaltsamkeit erlaubte, werden wir niemals wissen, und wir brauchen es auch nicht zu wissen.

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folgenden ziehen zu können22. Aber alle Kunst der Zeichensetzung hilft hier nichts. Immer wird man sub quo ... nur eng auf Saliae beziehen, den Satz erst mit V.25 enden lassen dürfen. Ein gewisser 'concetto' ist den Versen 26/27 nicht abzusprechen, aber ihm haftet etwas Skurriles an. Der Wechsel von Winter und Frühling soll den Zeitbegriff veranschaulichen23, darüberhinaus nimmt nix capitis bewußt hiemes und glaciem auf, wodurch der Verfasser offenbar eine Verbindung zwischen der Intensität der Haarfarbe Weiß und der Vielzahl (!) vergangener Winter | sowie der Häufigkeit (!) erlebter Schneeschmelzen herstellen will. Ist schon das Bild nix capitis gewagt, so ist der Einfall, das Bild durch solchen Bezug zu strapazieren, noch gewagter, ja rundheraus gesagt: verschroben. Das schneeweiße Haar beweist, wieviele Winter vergangen sind - derlei mag noch hingehen, obschon die Jahre eines ganzen Lebens nicht allesamt Jahre des Lebenswinters sind. Immerhin: die Assoziation von Alter und Winter, Alter und Kälte ist gängig24 und die Metapher nix capitis sogar horazisch: carm. 4,13,1 lf.: te quia rugae Turpant et capitis nives. Quintilian tadelt sie zwar als hart und weithergeholt, doch das brauchte einen Dichter nicht unbedingt davon abzuhalten, sie wiederzuverwenden25. Aber daß das Greisenhaar auch beweisen soll, wieviele Rosen nach der Eisschmelze auf die Wiesen zurückkehrten, wirkt ganz und gar absonderlich, zumal sonst überall dort, wo Lebensalter und Jahreszeiten in Parallele gesetzt werden, der Frühling zur Jugend gehört, nicht zum Alter26. Man hat den Eindruck, daß der Farbkontrast zwischen Rot 22 Wohlgemerkt: als Subjekt zu volverit, reddiderit - so Brozek (s. oben Anmerkung 20). Im Text vorgeführt hat diese Grammatik M. Cunningham, CCL 126, 1966, 2: ... arguens. Sub quo prima dies mihi Quam multas hiemes volverit et rosas Pratis post glaciem reddiderit, nix capitis probat. Bergman scheint die Sache dem Leser überlassen zu wollen. Er setzt nach arguens nur Komma, verzichtet jedoch gleichfalls auf Interpunktion nach mihi. 23 Hiemes (hiemes aestatesque) als Zeitangabe für anni: ThLL 6,2778f. (Kornhardt). Hier ist auch (2779,6) unsere Stelle ausgeschrieben, und zwar in einer Weise, die erkennen läßt, daß prima dies als Subjekt zu volverit und reddiderit gezogen wird. Brozek steht also nicht allein, was freilich angesichts so verzweifelter Lage auch nicht verwundert. 24 Cfr. Ov. met. 15,212: inde senilis hiems tremulo venit horrida passu; Prud. psych. 847f.: algida borrae aetas; hierüber Ch. Gnilka, Studien zur Psychomachie des Prudentius, Wiesbaden 1963, 106; Art. Greisenalter, cit., 1000. 25 Quintil. inst. 8,6,17: sunt et durae (sc. translationes), id est a longinqua similitudine ductae, ut 'capitis nives' (Hör. loc. cit.) et 'Iuppiter hibernas cana nive conspuit Alpes' (Furius Bibaculus frg. 15, p. 106 Morel-Büchner). Zu letzterem Vers cfr. Mart. 1,49,5: senemque Caium nivibus (von einem Berg seiner spanischen Heimat). Ferner s. Kießling-Heinze zu Hör. loc. cit. 26 Catull. 68,16: iocundum cum aetasfloridaver ageref, Ov. met. 10,85: aetatis breve ver. Nur in Ausnahmefällen gilt die Gleichung nicht, cfr. Greg. Naz. poem, moral. l,701ff. (PG 37,575f.) Χειμέριοι νιφάδες, τά δέ γ' ανθεα εϊαρος ωρη, Και πολιή ρικνοΐο, τό δέ

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und Weiß reizte, und vielleicht verband sich mit ihm nicht nur die Erinnerung an horazische Frühlingsverse, sondern auch der Gedanke an den Kranz Rosen auf dem weißen Haupt des alternden Dichters: Hör. carm. 2,ll,13ff.: Cur non ... rosa Canos odorati capillos, Dum licet, Assyriaque nardo Potamus uncti?27 Auch an Rosen als Sinnbild der Vergänglichkeit, gerade des raschen Alterns, mag man denken, wie sie etwa Ps. Ausonius, De rosis nascentibus 43 ff. vorführt (p. 411 Peiper): Quam longa una dies, aetas tarn longa rosarum: Cum pubescenti iuncta senecta brevis. ... eqs. (cfr. ibid. | 35f.). Es scheint jedenfalls, als seien in diese zwei Zeilen allerlei Vorstellungen zusammengedrängt worden. Gerade deshalb aber: wegen der fülligen und gewagten Bildlichkeit, hätte die sprachliche Bewältigung des Ganzen unbedingt tadellos sein müssen, was sie nicht ist. Außerdem fällt eine gewisse Leere der Aussage auf, die zu der üppigen Bildhaftigkeit seltsam kontrastiert. Von seiner canities hatte Prudentius ja schon zuvor gesprochen28, weshalb sollte sie jetzt noch einmal derart grell nachgemalt werden? Warum wird das Haar zum Beweis erhoben (27: probat), nachdem der Dichter selbst die Zahl seiner Jahre genau genannt und sogar das Geburtsjahr angegeben hatte? Wer wollte seine Daten bezweifeln, so daß etwa noch eine probatio aetatis ex aspectu (dig. 4,4,32) nötig wäre? Prudentius gibt in der Praefatio einen Überblick über sein bisheriges Leben, sein dichterisches Werk, begründet die Lebenswende: alles ist auf zügigen Fortschritt des Gedankens abgestellt, auf skizzenhafte Darstellung des Wesentlichen, auf Schlichtheit im Ausdruck und Sachlichkeit. Die Verse 26/27 in ihrer grammatischen Mangelhaftigkeit, bizarren Bildlichkeit, inhaltlichen Blässe wirken belastend, verzögernd, hemmend. Kein Grund läßt sich ausmachen, weshalb Prudentius sein feines Gedicht mit einem solchen Stück befrachtet haben sollte. Dagegen sticht sofort das Motiv des Fälschers hervor: Schloß der Satz nach arguens, zugleich mit der Strophe, wie übrigens auch sonst immer in der σθένος ήβώοντος. "Ηδη δ' ανθεα μέν γ' ένι χείματι, χειμέριαι δέ "Ωφθησαν νιφάδες ποτ' έν ήμασιν είαρινοΐσι. ... κτλ. 27 Cfr. Catull. 64,309: at roseae niveo residebant vertice vittae (über die Parzen); Prop. 4,9,52: puniceo cartas stamine vincta (sc. sacerdos) comas. Zur Beliebtheit der Farbkombination Rot und Weiß (etwa rote Rosen, weiße Lilien) s. Gnilka, Studien zur Psychomachie, cit., 121. 28 Freilich viel feiner und verhaltener: inrepsit subito canities seni (23). Die Komposita von repere bezeichnen das unmerkliche Kommen des Alters, und zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung schwebt hier canities. Cfr. Cie. Cato m. 4: obrepere aiunt eam (sc. senectutem) citius quamputavissent; ibid. 38: ... non intellegitur, quando obrepat senectus; Tib. 1,1,71: iam subrepet iners aetas; Juv. 9,129: obrepit non intellecta senectus; s. ferner Courtney zur Juvenalstelle, wo Prudentius nachzutragen ist.

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Praefatio, dann war alles gesagt, und zwar um ebensoviel schöner wie knapper; denn was es mit dem "alten" Konsul Salia auf sich hat, konnte in diesem Zusammenhang kaum rätselhaft sein29. Aber gerade darin lag der Anstoß: ein wenig Mitdenken war doch erforderlich, etwas Andeutungshaftes blieb, und das störte. Eigentlich war dem Textbearbeiter nur sein erster Vers wichtig: sub quo prima dies mihi. Damit war | sein Anliegen erledigt, das scheinbar Erklärungsbedürftige ausreichend glossiert. Der Rest war nur eine durch die Strophe erzwungene Verlegenheitslösung, für die canities in V.23 das Stichwort lieferte. Denn den Interpolatoren "waren Verse und Strophen für das was sie zu sagen hatten gewöhnlich nicht zu kurz sondern zu lang"30. Ich sehe voraus, daß die Strophe dennoch ihre Verteidiger finden wird, die gerade an der Kombination von Winter, Rosen, Wiesen, Eis, Schnee und Haupthaar ihre besondere Freude haben. Aber die grammatische Schwierigkeit erlaubt keine Ausflüchte. Daher halte ich es für aufrichtiger und im Sinne des Dichters wie der philologischen Kritik für verdienstlicher, den Obelus gegen das ganze Strophengebilde zu zücken.

III X

XI

Numquid talia proderunt carnis post obitum vel bona vel mala, cum iam, quidquid id est, quod fueram, mors aboleverit?

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[Dicendum mihi: 'quisquis es, mundum, quem coluit, mens tua perdidit; non sunt ilia Dei, quae studuit, cuius habeberis'.]

"Pronomina stehen am Sprachhimmel, entsprechend ihrer Natur als F ü r Wörter, nicht mit eigenem, sondern mit erborgtem und daher mattem Glanz. Deshalb legen sich Dichter, die auf ihre Diktion etwas halten, im Gebrauch von Pronomina Beschränkungen auf ... In schroffstem Gegensatz zu alledem schwelgen die Interpolatoren förmlich in Fürwörtern, mit denen 29 Es gibt nur einen Konsul Salia: den Flavius Salia (Sallia, Sallea), der zusammen mit Flavius Filippus im Jahre 348 Konsul war. Cfr. A. Degrassi, I fasti consolari dell'impero Romano, Roma 1952, 81. Das Konsulpaar begegnet öfters auf christlichen Grabinschriften, so ILCV 1477. 4326: s. den Index der anni consulares bei Diehl, op. cit., 3,231. 30 G. Jachmann, Ausgewählte Schriften, Königstein/Ts. 1981, 426.

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sie ihre Verse füllen". Wie ein Lichtstrahl sollten diese Sätze Günther Jachmanns31 auf jeden wirken, der um das Verständnis der Zeilen 31/33 ehrlich ringt: mihi, quisquis, quem, tua, ilia, quae, cuius - das alles in drei Versen und das alles unmittelbar nach dem Vers 30: cum iam, quidquid id est, quod fueram ... eqs.! Es liegt eine besondere, vielleicht nicht sofort erkennbare Feinheit darin, daß Prudentius dort, wo er im Rückblick auf sein gesamtes bisheriges Dasein die eingangs (6) aufgeworfene Frage nach dem Nutzen seines Lebens und Strebens wiederholt - eben in Strophe X - , | abwägende Formulierungen wählt, die zwar keinen Zweifel daran lassen, daß seine Bemühungen ohne Wert sind für das eine höchste Ziel jeden Menschenlebens, die aber doch eine so scharfe Depretiation vermeiden, wie er sie im Hinblick auf gewisse einzelne Lebensabschnitte vorher zum Ausdruck brachte. Den Prügelunterricht in der Schule, die Unaufrichtigkeit der rhetorischen Übungen, seine jugendlichen Ausschweifungen, die ehrgeizige Anwaltstätigkeit: all das durfte er in dunklen Farben malen (6/15), aber seine folgende Karriere (16/21): die Statthalterschaft zweier Provinzen und das Amt eines Vorstehers der kaiserlichen Kanzlei32 konnte er so düster nicht einfärben, ohne sich dem gegenüber undankbar und verletzend zu zeigen, dessen Huld ihn emporgehoben hatte(cfr. 19f.:tandemmilitiaegradu Evectum pietas principis extulit... eqs.33). Auch die Wendungen: vel bona vel mala und: quidquid id est, quod fueram tragen dem klug Rechnung34. Prudentius will sagen: es mag nicht alles geradezu böse und schlecht gewesen sein in meinem Leben, aber gemessen am Ziel des Ewigen Lebens war es jedenfalls indifferent. Das heißt: bonum im eigentlichen und höchsten Sinne war eben nichts. So erklärt sich Strophe X, erklärt sich namentlich die zurückhaltende Umschreibung in V.3035. 31 Jachmann, op. cit., 374f.; cfr. ibid. 425f.; 431f. Ferner: G. Jachmann, Textgeschichtliche Studien, Königstein/Ts. 1982, 539f. 607. 32 Prudentius hatte das Amt des proximus in einem der drei kaiserlichen scrinia inne. Cfr. Lana, op. cit., 10/16 mit Literatur, bes. O. Seeck, Art. Scrinium, RE 2 A, 1, 1921, 893/904; W. Enßlin, Art. Proximus, RE23.1, 1957, 1034/37. 33 Pietas regelt das Verhältnis des treuen Beamten zum Kaiser (so schon Plin. epist. 10,9: Traianus Plinio) und umgekehrt. Später ist pietas vestra (nostra) Bestandteil der höfischen Terminologie, cfr. L. Traube im Index zu Cassiodor, MGH a.a. 12,547 s.v. imperator, 580f. s.v. rex. 34 Der spätere Vers 35: peccatrix anima stultitiam exuat widerspricht dieser Beobachtung nicht, weil das darin enthaltene Urteil auf die persönliche Verstrickung des Dichters im Sinne der mundialis gloria (cath. 1,90) zielt, jedenfalls viel weniger direkt als haec (22) und talia (28) auf die zuvor (16/21) genannten hohen Staatsämter zurückverweist. 35 Quidquid id est, quod fueram: leicht abschätzig wie Lucr. 2,15f.: Qualibus in tenebris vitae quantisque periclis Degitur hoc aevi quodcumque est·, Hör. serm. 2,1,74: quidquid sum ego. Cfr. Fordyce zu Catull. 1,8.

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So erklärt sich aber nicht Strophe XI. Gegen stilistische Schwächen pflegt man allerdings heute nachsichtig zu sein, und daher wird die häßliche Fülle der Pronomina in dieser Strophe, selbst die Wiederholung: quisquis es (nach quidquid id est), vielleicht ertragen werden, so unerträglich beides auch ist36. Aber der exegetischen Schwierigkeit des | Ganzen kann sich niemand ohne weiteres entziehen. Denn der scabies locutionis entspricht eine obscuritas, und zwar vom ersten bis zum letzten Wort. Beginnen wir mit dem letzten! Cuius habeberis. Bergman im Index der Ausgabe (CSEL 61, 1926, 523): "in cuius dicione eris"; Brozek, op. cit., 154: "cuius eris, cuius in possessionem venies". Nun ist haberi = esse zwar nicht das Latein des Prudentius, sondern das des Venantius37, aber da haberi auch anderwärts so vorkommt (ThLL 6,2459), mag das noch hingehen. Störender ist schon etwas anderes. Entwickelt hat sich die Bedeutung haberi = esse aus der "notio putandi, existimandi" (ibid. 2459,6), und diese ursprüngliche Bedeutung bleibt sehr oft fühlbar, ja bisweilen ist gar nicht zu unterscheiden, in welchem Sinne haberi genaugenommen steht. Das gilt selbst noch für Venantius Fortunatus38. Eben darin liegt hier das Mißliche. Aus Lavarennes Umschreibung springt der Nonsense förmlich hervor39: "Dieu, propriete de qui tu seras repute [!]". Haberi steht schlecht, weil die "notio existimandi" überaus störend wäre, jedes Fluktuieren der Bedeutungen allein schon ausreichen würde, die Aussage empfindlich zu beeinträchtigen. Vollends das Futur! Cuius habeberis =

36 Zumal sich auch der Sinn des verallgemeinernden Relativums von der einen Zeile auf die andere zu verschieben scheint. Quidquid id est (30) steht mindernd, leicht abwertend, wie wir sahen. Für quisquis es (31) gilt nicht unbedingt dasselbe, steigernde Bedeutung liegt näher: "wie bedeutend du auch bist, alles war umsonst". Nur so vermag ich mir zu erklären, daß Brozek-falschlich-zu V.30 erklärt (op. cit., 154): "nam \\\υά quidquid id est mn tarn modicum quam sane magnum significat esse, quod poeta fuerit". Das Unechte wirft eben Schatten auf das Echte. 37 S. Blomgren, Studia Fortunatiana, I, Upsala 1933, 166f. 38 Blomgren, loc. cit.: "saepissime haud ita facile diiudicet quispiam, utrum haberi idem valeat atque putari, existimari an idem quod esse, cum inter utramque significationem incerto confinio hoc verbum, ut ita dicam, fluctuet". Eindeutige Beispiele sind carm. 4,26,53, p. 96 Leo: Tertius esse patercupiens, heu, solus habetur-, l,15,39f., p. 17L.: Tertiusadecimo huic urbi antistes haberis, Sed primus meritis enumerandus eris. 39 M. Lavarenne, Etude sur la langue du poete Prudence, Paris 1933, 47 §77. Daß der französische Prudentiuskenner hier noch aus Arevalos altem Kommentar die Erklärung cuius = Nominativ zu cuius, -α, -um mitschleppt (nach dem Muster Verg. buc. 3,1: die mihi, Damoeta, cuium pecus? an Meliboei?), sei nur als bezeichnendes Kuriosum erwähnt: wo alles nebelhaft ist, scheint das Ausgefallene am Platze.

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"in cuius dicione eris" 40 . Wie das? Gilt | nicht, was in der Apostelgeschichte steht, daß Er "allen Leben, Odem und alles" schenkt, daß wir "in Ihm leben und weben und sind" (Act. 17,25.27)? Sollen wir glauben, der Mensch werde erst n a c h dem Tode der Macht Gottes unterstellt? Gilt nicht, was Prudentius selbst im Gebet spricht? Cfr. ham. 933ff.:

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Te moderante regor, Te vitam principe duco, iudice Te pallens trepido, Te iudice eodem spem capio fore quidquid ago veniabile apud Te, quamlibet indignum venia faciamque loquarque ... eqs.

Als Selbstäußerung des Dichters ist dieser hymnenartige Anruf der Praefatio durchaus vergleichbar. Gleich ist das demütige Bekenntnis der Sündhaftigkeit, gleich der Gedanke an das Gericht; vielleicht umgreift loquar in V.936 auch die eigene Dichtung41. Aber das Stück beweist zugleich, wie fern dem Dichter der Gedanke liegt, er sei jetzt weniger von Gott abhängig, unterstehe ihm jetzt weniger als nach dem Tode. Die durch Anaphora des Pronomens Te hervorgehobenen Sätze arbeiten vielmehr gezielt den Gedanken heraus, daß sich der Christ jetzt und einst, zu Lebzeiten und beim Gericht nach dem Tode (oder beim Jüngsten Gericht) vollkommen Gott anheim gegeben, dem göttlichen Richter allzeit unterstellt weiß. Das ist eine Grundtatsache christlichen Glaubens und Lebens, der Prudentius auch andernorts Ausdruck gibt (cfr. cath. 2,105/12), und sie konnte unmöglich gerade dort getrübt werden, wo der Dichter in seinem deutlichsten autobiographischen Zeugnis vor das

40 Rodriguez-Herrera, op. cit., 12 paraphrasiert: "Du hast aber nichts vor Gott, dem Du einmal 'in die Hände fallen wirst'". Er bezieht also Hebr. 10,31 mit ein (horrendum est incidere in manus Dei viventis), was unstatthaft ist; denn so wird der verwaschene Ausdruck cuius habeberis mit kräftiger Farbe übertüncht. Auch A. Rosier (Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens, Freiburg i.B. 1886, 4) kommt nur auf Krücken durch den Text: "darauf muß ich mir denn selbst die Antwort geben: Wer immer du bist: die Welt, welcher dein Geist bisher alle Aufmerksamkeit zuwandte, hat derselbe dann [!] nach [!] seiner Trennung vom Leibe verloren (verlassen)" - derart muß perdidit gebogen werden, damit sich Sinn ergibt! Und weiter: "das, was er bisher angestrebt hat, ist wertlos vor Gott, dem du doch (einmal) ganz [!] angehören wirst". Wieso: g a n z angehören? Mehr als auf Erden? Auch in der Hölle (mit der ein Prudentius immerhin rechnet, cfr. ham. 958ff.)? 41 Cfr. R. Henke, Studien zum Romanushymnus des Prudentius, Frankfurt/Bern/New York 1983, 54f.

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Publikum trat. Cuius habeberis ist also nicht bloß sprachlich schwach, sondern auch gedanklich. Gehen wir von hier aus zum Strophenanfang zurück! Dicendum mihi: 'quisquis es ..." eqs. Wer spricht hier eigentlich und zu wem? Was heißt dicendum mihi? "Ich muß sagen (zu einem anderen)"? "Es muß mir gesagt werden (von einem anderen)"? "Ich muß (mir) sagen"? Man lächle nicht über vermeintliche | Pedanterie: alle drei Auffassungen haben ihre Vertreter! Iso von St. Gallen erklärt zu quisquis es: "o lector"42. Anrede an den Leser verteidigt noch Antonius Nebrissensis: "quisquis es: cum quo mihi sermo est"43. Arevalo dagegen belehrt uns44, der wahre Sinn sei: "Dicet mihi aliquis: 'Prudenti, vel quisquis es'" - als ob in diesem persönlichsten aller Gedichte des Prudentius noch irgendein anderer zur Rede stünde als der Dichter selbst! Oder als ob Prudentius sich noch nicht genügend vorgestellt hätte, so daß man sagen könnte: "vel quisquis es"! Und dazu denkt sich der brave Arevalo die Rede noch als eine Art Totengespräch45: "Verba haec sunt alloquentis Prudentium post obitum ...". Aber man wird sich über ihn nicht mokieren dürfen, da er doch die in dem Zeitverhältnisperdidit (sc. mundum) - habeberis liegende Schwierigkeit wenigstens ins Auge faßte und mit Recht das von Giselinus46 ersonnene Heilmittel abwies: "Non audio Giselinum, qui enallagen temporis [!] hoc loco agnoscit: perdidit pro perdet, amittet". Die Schwierigkeit beruht, anders ausgedrückt, darauf, daß mundum ... perdidit (Perfekt) mehr sagt, als man von einem Lebenden sagen darf. Die alten Erklärer fühlten das ganz richtig, und wie man überhaupt mit der Wendung mundum perdere hier fertig werden soll, hat nach ihnen niemand mehr gezeigt. Zwei verschiedene Gedanken scheinen in dieser Wortverbindung zu einer trüben Mischung zusammengeflossen zu sein: der biblische Begriff des mundus, κόσμος als des Bösen, dem Christen Feindlichen47, und der Gedanke, das bisherige Leben vergeudet zu haben. Zu mundus in jenem pejorativen

42 in den Glossae veteres, abgedruckt bei Arevalo (PL 59,772) unter dem Text. Daneben gibt es aber auch die Glosse ο Prudenti zu V.32 mens tua. 43 Seine Bemerkungen sind in der Sylloge Adnotationum der Ausgabe von M.J. Weitz, Hanau 1613, 3ff. enthalten. 44 Cfr. PL 59,772 C zu praef. 31. 45 Arevalo ibid. C/D zu praef. 32. 46 Bei Weitz, op. cit., 427; s. auch Röslers Paraphrase oben Anmerkung 40. 47 Cfr. 1 Joh. 5,19: scimus quoniam ex Deo sumus, et mundus totus in malignopositus est; ferner: Joh. 12,31f.; 14,30 etc.

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Sinne paßt nicht perdereAi - vom Perfekt einmal abgesehen und ein Begriff wie | 'Leben', 'bisherige Lebenszeit', der zu perdere paßte, kann nicht ohne weiteres aus mundus herausgelesen werden. Mens tua als Subjekt (sichtlich angeregt durch peccatrix anima in V.35) macht die Sache nicht besser. Aber wozu über die Einzelheiten rechten, wo alles derart nebulos ist - und so viel schlechter als das echte Dichterwort zur selben Sache? Gewiß lassen sich die Dinge durch Paraphrasen notdürftig begradigen, wofür Brozek (op. cit., 154) ein Beispiel bietet: "tu ipse, quae mundi cultor conquisisti, frustra conquisisti; nam inania vitaeque futurae inutilia, immo damnosa sunt". Aber ist das Philologie? Nur noch eine Bemerkung zu V.33: non sunt ilia Dei... eqs. Denn hier greifen wir das Motiv, das den Fälscher leitete: sein Bestreben, die gewollte Abgewogenheit der Strophe X aufzulösen und die Aussagen des Dichters gröberem Verständnis faßlich zu machen, so gut er es eben vermochte. Vel bona vel mala (29) im Verein mit jenem quidquid id est (30): das war ihm zu wenig. Und so brachte er hier den mundus als Inbegriff des Welttreibens hinein und erklärte grobschlächtig: non sunt ilia Dei, wo der Dichter - aus gutem Grund, wie wir sahen - feine Zurückhaltung geübt hatte. Auch das Faktum des göttlichen Gerichts mochte der Redaktor nicht genügend ausgedrückt finden. Carnis post obitum (29) geht natürlich darauf, aber (Deus) cuius habeberis schien wohl die Sache besser festzulegen. Wegen der offenkundigen Dublettenhaftigkeit der Strophe XI im Verhältnis zu Strophe X dürfte XI als E r s a t z für X konzipiert sein, während die oben besprochene Strophe IX den typischen Fall eines erklärenden Z u s a t z e s bildet. Nach Ausscheiden der beiden gefälschten Strophen ergibt sich ein Gesamtbild des Texts, das gleichsam für sich selber spricht: VIII

Haec dum vita volans agit, inrepsit subito canities seni oblitum veteris me Saliae consults arguens.

22

48 Die vom Christen geforderte Haltung gegenüber dem mundus (i.q. saeculum mundi huius, Eph. 2,2) beleuchten die Verse Prud. per. 10,545: agnosce qui sis, vi nee mundum et saeculum; ham. 548: (anima) victum proculcet sobria mundum. Wo mundus für Welt = Schöpfung steht, hätten unter Umständen Begriffe wie perdere guten Sinn; cfr. ham. 206f. über die Depravation der Schöpfung infolge des Sündenfalls: Ultimus exitium subversopraeside (i.e. homine) mundus Sortitur mundique omnis labefacta supellex.

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X

Numquid talia proderunt carnis post obitum vel bona vel mala, cum iam, quidquid id est, quod fueram, mors aboleverit?

28

XII

Atqui fine sub ultimo peccatrix anima stultitiam exuat; saltern voce Deum concelebret, si mentis nequit.

34

Hergestellt sind Zügigkeit der Gedankenführung und Durchsichtigkeit des Aufbaus, beides Merkmale des Gedichts, die durch seine | von Interpolation unberührte Substanz deutlich bezeugt werden49. Haec (22) wird passend aufgenommen mit talia (28), ohne daß der gegenseitige Bezug dieser Wörter und ihr gemeinsamer Rückbezug auf die vorhergehende Lebensbeschreibung verschleppt und verwischt würden, wie das im überlieferten Text der Fall ist, wo talia auch Nebensächlichkeiten von der Art der Frühlingsblumen etc. einzuschließen scheint. Desgleichen ergibt sich die Aufforderung (34ff.): Atqui fine sub ultimo ... eqs. folgerichtig aus der Frage (28ff.): Numquid talia proderunt... eqs.? Beseitigt ist das Hemmnis der Strophe XI, deren unsicheres Schwanken zwischen Vergangenheit und Zukunft, Diesseits und Jenseits um anderes nicht zu wiederholen - die klare Angabe: fine sub ultimo und damit die Grundsituation des Gedichts trübt.

IV XV

Haec dum scribo vel eloquor, vinclis ο utinam corporis emicem liber, quo tulerit lingua sono mobilis ultimo.

45

49 Aus der Besinnung auf die Zahl der verlebten Jahre ( = Strophe I) folgt die Erkenntnis, daß Alter und Tod nahe sind, daraus wiederum die Frage nach dem Nutzen der bisherigen Tätigkeit (II). Sie führt zum Rückblick auf das Leben (III/VII), dessen sechs Abschnitte - nur die ersten drei lassen sich mit Altersstufen gleichsetzen - klar abgeteilt werden: aetas prima (7) - mox (8) - tum (10) - exim (13) - asyndetischer Anschluß (16) - tandem (19). Die Rückschau mündet zwanglos in den Gedanken an das Alter (VIII), kehrt damit zur Situation des Anfangs zurück, aus der heraus die Frage nach dem Nutzen abermals gestellt wird, doch so, daß die

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VII. Zur Praefatio des Prudentius

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Die ganze Strophe ist in ihrer sprachlichen Geschmeidigkeit50 und in ihrem lautlichen Wohlklang ein Meisterstück. Haec dum scribo (43) erinnert an: Haec dum vita volans agit (22)51. Kaum zufällig, aber nicht nur wegen des Strophenanfangs. Der parallele Ausdruck schärft die Antithese des Gedankens. Die | Gegenstände, auf die haec jeweils weist, bilden Gegensätze: bei weltlichem Treiben überraschte ihn das Alter, bei geistlicher Dichtung möge ihn der Tod treffen. Sono... ultimo: natürlich ist damit weder das letzte Wort des Epilogus gemeint (Christum) noch die Märtyrerdichtung, die im Werkverzeichnis praef. 37/42 und in der überlieferten Reihenfolge der Gedichte nach Bergmans /46-Klasse an letzter Stelle steht. Brozeks diesbezügliche Vermutungen (op. cit., 156) sind gekünstelt. Wie der letzte Vers zu verstehen ist, unterliegt zwar keinem ernsthaften Zweifel, doch läßt sich das Verständnis zusätzlich durch eine Strophe des Laurentiushymnus (per. 2,485ff.) stützen: hie finis orandifuit et finis idem vinculi carnalis: erupit volens vocem secutus spiritus. Bevor St. Laurentius stirbt, wendet er sich in einem feierlichen Gebetsanruf an Christus (413ff.) und bittet, Christus möge Rom vom Götzenkult befreien. Sein Gebet mündet in die Vision eines künftigen Herrschers - Theodosius der Große ist gemeint - , der die Heidentempel schließen, die Kunstwerke in Marmor und Bronze vom Opferblut reinigen werde. Wenn es nach diesen Worten mit den oben zitierten Zeilen fortgeht, so ist klar, was der Sinn ist. Vocem secutus spiritus (488) bezieht sich auf den gesamten Tenor, die gesamte Richtung seiner letzten Gedanken und Worte, nicht auf ein einzelnes Wort, freilich auch nicht bloß auf das 'Aushauchen' der Seele. Die beiden Parallelstellen

negative Antwort darin bereits beschlossen liegt: numquid ...? (X). Dann in scharfer Wendung der neue Entschluß (XII), eine geraffte Darstellung des Inhalts seines Dichtens und Lebens (XIII/XIV) und der Ausblick auf das erhoffte Ende (XV). 50 Der Hiat ο utinam nach bestem Muster: Hör. carm. 1,35,38; Tib. 1,3,2; Ον. her. 1,5. 51 Vita volans agit: Prudentius betrachtet sich rückschauend mehr als Objekt wirkender Kräfte denn als handelndes Subjekt, das in Freiheit und Übersicht sein Leben selbst bestimmt. Erst das plötzliche Erwachen im Alter bewirkt eine Selbstbesinnung. Weitere Ausführungen dazu muß ich mir versagen. Wichtig hier nur, daß der Dichter auch in solchen Einzelzügen absichtsvoll verfährt.

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erhellen sich gegenseitig: die Seele will dort hinauf, wo die Gedanken längst weilten. Die Praefatio drückt das in schönem Wunschbilde aus: der Tod möge den Dichter bei der Arbeit finden und die Seele52, endlich frei, vom Gesang emporgetragen werden. Lingua sono mobilis ultimo stimmt gut zu eloquor, das Ganze gut zu V.36: saltern voce Deum concelebret, si mentis nequit (sc. anitna). Man las ja laut, und erst recht formte man kunstgemäße Dichtung oder Prosa laut, bevor oder während man schrieb. Eloquor also etwa: während ich "sprechend bilde". Das Verbum ist fast im technischen Sinne der Rhetorik von der elocutio = λέξις | gebraucht (der passenden Wortwahl, cfr. Cie. inv. 1,9; Quintil. inst. 3,3,1): nicht ganz im abgeblaßten Sinne von loquor (ThLL 5/2,421,61ff.), sondern vom stilistischen Ausdruck im allgemeinen (cfr. Cie. Tusc. 1,6: fieri ... potest, ut recte quis sentiat et id quod sentit polite eloqui non possit). Die Begriffsverbindung scribo vel eloquor bezeichnet also - ohne enge Rücksicht auf die zeitliche Reihenfolge beider Tätigkeiten - die A r b e i t des Dichters. Zum Gedanken mag man Pontius, vita S. Cypriani 14,6 vergleichen. Wie der Dichter wünschte sich der Prediger den Tod bei der Arbeit: videlicet tanta illifuit cupido sermonis, ut optaret sie sibi passionis vota contingere, ut dum de Deo loquitur, in ipso sermonis opere necaretur. Die Sache ist nicht ganz gleichgültig für die Lösung des vielerörterten Problems, das die Verse 37/42 im Zusammenhang des Gedichtganzen bilden53: geben sie ein Verzeichnis fertiger oder ein Programm geplanter Werke? Hat Prudentius seine Umkehr vom Weltmenschen zum Dichter zeitlich 'verschoben' (von irgendeinem Punkt der Vergangenheit auf die Zeit der Abfassung der Praefatio) oder ist sie überhaupt nur literarische Fiktion? Die Schlußstrophe sagt deutlich, daß Prudentius sich das Dichten gleichsam zur Lebensform erkoren hat: zu seiner Art asketischen Lebens und verdienstlichen Strebens, die er bis zum letzten Augenblick durchhalten will. Die Umkehr besteht daher nicht eigentlich darin, daß er anfängt zu dichten54, sondern

52 Anima ist Subjekt der voraufgehenden Strophen, der Sache nach aber natürlich auch hier gemeint. Emicare vom Auffahren der Seele beim Verlassen des Leibes: per. 3,161: emicat inde columba repens (die Seele der hl. Eulalia); 14,91: exutus inde spiritus emicat. 53 Hierüber Schetter, op. cit., 149f. 54 Was nicht nur der feststehenden Datierung des zweiten Buchs c. Symm. (vollendet Sommer 402) widerspräche, sondern auch aller Lebenserfahrung, da bekanntlich kein Meister vom Himmel fällt. Dem praef. 36 ausgesprochenen Entschluß muß Erprobung der eigenen Kräfte, auch schon Erfolg vorausgegangen sein.

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VII. Zur

Praefatio

des Prudentius

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darin, daß er fortan nichts anderes mehr tun will als dichten. Die Aussage der Verse 37f.: ( a n i m a ) hymnis continuet dies Nec nox ulla vacet, quin 55 Dominum canat bietet, wofern man sie in ihrer äußeren und inneren Verbindung mit den Schlußzeilen betrachtet, mehr als eine bloße Periphrase des Titels der καθημερινά. Die Thema-Angabe prudentianischer Poesie ist also in zeitlicher Hinsicht nach rückwärts wie vorwärts gleichsam offen: sie streitet weder frühere Entstehung einzelner Werke ab, noch erklärt sie die Liste der Publikationen für geschlossen. Ich behaupte nicht, daß | sich damit schon das ganze Problem löse - wir wissen zu wenig über die Vita des Dichters, als daß es sich jemals ganz lösen könnte sondern nur, daß seine Lösung keine starre sein dürfe56.

55 Continuare dies hymnis wie - sprachlich! - Tac. Germ. 22,2: diem noctemque continuare potando; ann. 14,20,2: dies totos ignavia continuare; Claudian. nupt. Hon. praef. 4: epulis continuare dies; s. ThLL 4,724. 56 Abwägend in diesem Sinne schon A. Puech, Prudence, Paris 1888, 53f. Zum Vergleich der Praefatio mit Hör. carm. 1,1 (oben S. 138 [231]) cfr. W. Ludwig, Die christliche Dichtung des Prudentius und die Transformation der klassischen Gattungen, in: Christianisme et formes littSraires de l'Antiqutä tardive en Occident (Entretiens sur l'Antiquitd classique 23, 1976), Genfeve 1977, 303ff., ibid. 340/343.

VIII. EINE SPUR ALTLATEINISCHER BIBELVERSION BEI PRUDENTIUS'

Die Frage, in welcher sprachlichen Fassung der große religiöse Dichter die Hl. Schrift las, hat immer wieder gereizt. Daß er nicht die griechischen Texte vor sich hatte, schien manchem von vorneherein wahrscheinlich, und da Prudentius zu einer Zeit schrieb, als Hieronymus' Arbeiten am lateinischen Bibeltext eben erst entstanden oder gerade entstanden waren, lag es nahe, an eine der altlateinischen Übersetzungen zu denken. Beweise sind freilich schwer zu erbringen. Ist schon der Rückschluß auf die zugrundegelegte Bibelversion bei einem kirchlichen Prosaschriftsteller unter Umständen keine leichte Sache1, so gilt das natürlich erst recht für einen Dichter, der die Bibel selten wörtlich zitiert und niemals, ohne den Wortlaut irgendwie den Erfordernissen des Metrums und der Dichtersprache anzupassen. Wirklich beweiskräftige Belege für den Anschluß an einen von der Vulgata abweichenden Text gibt es denn auch wenige. Seit langem waren etwa drei schlagende Fälle bekannt - die Orthographie biblischer Namen nicht gerechnet2. Neuere Forschung hat noch das eine oder andere hinzugefügt, doch sind es meist nur unterschiedliche Grade der Wahrscheinlichkeit, welche die einzelnen Nachweise erreichen3. Schwerer noch auszumachen sind Belege, welche etwa die Benutzung

Vigiliae Christianae 42, 1988, 147/155. 1 Zur Problematik, besonders im Hinblick auf das Neue Testament, s. B. Fischer, Beiträge zur Geschichte der lateinischen Bibeltexte, Freiburg 1986 = Vetus Latina. Aus der Geschichte der lateinischen Bibel 12, 156ff. 2 F.X. Schuster, Studien zu Prudentius, Diss. Würzburg (Freising 1909) 72f. Dazu vgl. jetzt J.-L. Charlet, Prudence et la Bible: Recherches Augustiniennes 18, 1983, 3/40, wo auch die übrige ältere Literatur besprochen wird. Ebd. 26 über jene drei sicheren Stellen. Zu bedenken bleibt freilich auch hier immer die mögliche Wirkung der indirekten Überlieferung, bes. traditioneller Exegesen der Väter; vgl. R. Palla im Kommentar zur Hamartigenia (Pisa 1981) p. 122f. 3 Charlet 29/32. Wenn Prud. cath. 4,4/6 Gott auf dem Cherub u n d dem Seraph thronen läßt, folgt er der von Hier, in Is. 3,6,2f. (CCL 73,85f.) als inkorrekt bezeichneten Gebetsformel, die einfach auch auf die Seraphim überträgt, was Ps. 79,2 über die Cherubim gesagt wird. Durch die Bibel (Is. 6,2) wird das eben gerade n i c h t gestützt, wie Hieronymus ausführt, auch nicht durch die LXX oder VL. Schlüsse auf den Bibeltext, wie sie Charlet 29f. zieht, hängen daher in der Luft. Anderes erscheint plausibler. Daß der Dichter cath. 7, 96/100. 131/75 ein dreitägiges Fasten der Nineviten annehme (Ion. 3,4 LXX, VL), nicht ein vierzigtägiges (Vulg.), leuchtet ein, wenn es auch nicht ausgesprochen wird. Bezeichnend für die ganze Problemlage ist, daß Charlet (20f. 33) und R. Palla: Civiltä Classica e Cristiana 2, 1981, 87/97

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VIII. Eine Spur altlateinischer Bibel version

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des Griechischen zugunsten einer altlateinischen Version ausschlössen, vollends solche, die etwas über die Art dieses Texts aussagen könnten. War es die Itala oder eine andere Übersetzung4? In den einschlägigen Erörterungen ist bislang stets eine Stelle übersehen worden, die für das ganze Problem durchaus eine gewisse Bedeutung besitzt. Da sie auch in kritischer und exegetischer Hinsicht für Prudentius selbst etwas abwirft, scheint ihre gesonderte Behandlung gerechtfertigt. Den Krieg, den Abraham zur Befreiung Lots führte (Gen. 14), behandelt Prudentius psych, praef. 15ff. als Urbild des Seelenkampfs. Abraham holt die Beute zurück, welche die Ostkönige zuvor bei ihrem Sieg | über die Könige von Sodom und Gomorra gemacht hatten (vgl. Gen. 14,11 bzw. 16): 30

aurum, puellas, parvulos, monilia, greges equarum, vasa, vestem, buculas.

An der Spitze des Verses 31 divergieren die beiden spätantiken Textzeugen: oves A ( = Parisinus lat. 8084, 'Puteanus'), graeges Β ( = Ambrosianus D 36 sup.). Die Variante oves fuhren noch zwei weitere Codices am Rande (s. den Apparat bei J. Bergman: CSEL 61, 1926, p. 168), sonst gehen alle Handschriften mit Β (greges). Bergman folgte dem Puteanus (A) und druckte folgendes: oves, equarum vasa, vestem, buculas. Begründet hatte er diese Entscheidung (Eranos 12, 1912, 143) durch die Abbildung von Schafen in den Psychomachie-Illustrationen, welche ihm Alter und Echtheit der Lesart oves zu bestätigen schien. Die Nichtigkeit dieses Arguments ist durch G. Meyer (Philol. 87, 1932, 332/334, bes. 33429) genügend dargetan5. Meyer hat überhaupt die Vorzüglichkeit der Fassung: greges equarum, vasa ... eqs. unter sprachlichem, sachlichem, stilistischem und metrischem Gesichtspunkt nachgewiesen. Ich wiederhole hier nur seine stilistischen hinsichtlich der von Prud. cath. 3,126/128 und 149/50 befolgten Version der Genesisstelle 3,15f. zu Verschiedenen Ergebnissen gelangen. 4 Charlet 32/40 plädiert für die versio Africana = C bzw. Κ in der Beuroner Ausgabe. 5 Daß es sich bei der Variante oves um eine sehr alte Korruptel handelt, wird schon allein durch das Zeugnis des Puteanus (saec. VI in.) bezeugt. Sollte der Künstler, der im 5. Jh. das Original der illuminierten Psychomachie schuf, tatsächlich in der entsprechenden Miniatur Schafe vorgeführt haben (aus den Angaben bei R. Stettiner, Die illustrierten Prudentiushandschriften, Textband, Diss. Straßburg, Berlin 1895, 227f. geht das nicht hervor) und sollte er darin 'textgemäß' verfahren sein, so würde sich die Verderbnis nur zeitlich nach oben verschieben lassen. Für die Echtheit folgt daraus nichts.

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Beobachtungen, weil sie zeigen, wie fein Prudentius auch die Asyndeta-Reihen komponiert, die man bisweilen - in Verkennung prudentianischer Kunstauffassung - zu den Schwächen seiner Poesie rechnet6: in V.30 rahmen die 'Concreta' aurum und monilia die 'Animantia' puellas, parvulos (c a a c), in V.31 umgeben umgekehrt die 'Animantia' greges equarum und buculas die 'Concreta' vasa, vestem (a c c a), wobei jeweils die Binnenpaare alliterierend gebunden sind: puellas, parvulos/vasa, vestem. Die Lesart oves stört den kunstvollen Bau, weil dann vasa nicht mehr selbständig neben vestem tritt: die Wirkung jener paarweisen Gliederung wie auch der alliterierenden Bindung der mittleren Glieder geht verloren. Ich füge hier gleich hinzu, daß das später von Lavarenne erhobene Bedenken, der Dichter stelle sonst in den Asyndetareihen nur bloße Nomina zusammen, weshalb ein Genitivattribut in solchem Verse überhaupt ungewöhnlich sei, nicht trifft7. Β hat also das Echte, Α das Unechte. Meyer hielt oves für ein Glossem, willkürlich hinzugesetzt oder ausgelöst durch greges; denn grex steht ja proprie für die Kleinviehherde (opp. armentum), worauf die | Grammatiker besonderen Wert legen8. Aber es läßt sich auch etwas anderes denken. Da Gen. 13,5 VL oves et boves (greges ovium et armenta, Vulg.) als Besitztum Lots, das später der Feind erbeutet (Gen. 14,12) und Abraham zurückgewinnt (14,16), erwähnt werden, mochte es passend erscheinen, bei Prudentius auch die Schafe nachzutragen und damit die Aufzählung des Dichters hinsichtlich des Viehs 'bibelgemäß' zu vervollständigen: oves... buculas (ohne Deminutivbedeutung gleich boves: Meyer a.O. 334f.). Man muß also mit der Möglichkeit einer angleichenden Tendenz rechnen, d.h. mit Interpolation, so wenig auch das sprachlich und sachlich schlechte Ergebnis bewußter Maßnahme entsprungen scheint. Damit sind wir bei unserer eigentlichen Frage angelangt. 6 Vgl. dazu Hermes 111, 1983, 354f. 7 Lavarenne sah selbst (Kommentar p. 211), daß man aus solchen Dingen keine Regel machen dürfe. Die Verse ham. 758ff. zeigen schön, wie sich eine Asyndetakette gleichsam verdichtet und wieder lockert; in den Zeilen ham. 395/97 umschließen zwei Reihen, die aus blanken Substantiven bestehen (395. 397), eine mittlere, die nur Verbindungen mit dem Genitiv enthält: sanguinis atra sitis, vini sitis et sitis auri (396). Teilung zu zwei Paaren innerhalb eines Verses liegt vor tit. 80: virga potestatis, cornu crucis, altar, olivum. 'Mischformen* wie psych, praef. 31 haben daher nichts Unerhörtes. Der kunstvolle Gebrauch des Stilmittels bei Prudentius wäre einer genaueren Betrachtung wert. 8 Servius kommt dreimal darauf zu sprechen: Serv. Aen. 6,38; ecl. 6,55; georg. 3,49: armenta autem sunt equorum et boum ... greges vero capellarum et ovium sunt. Vgl. Burckhardt: ThLL 6,2331,21ff.

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Meyers Eintreten für den authentischen Wortlaut greges equarum erzielte zwar Erfolg, insofern diese Fassung sich in fast allen späteren Leseausgaben des Dichters9 und auch in Cunninghams Edition (CCL 126, 1966, p. 150) durchsetzte, aber dieser Erfolg blieb gleichsam ein äußerlicher, weil das Dichterwort, wie es scheint, nicht wirklich verstanden wurde. Über die Existenz von Pferdeherden bzw. Herden von Stuten hier im biblischen Kontext hatte nämlich Meyer kein Wort verloren, und eben sie erschien M. Lavarenne so merkwürdig, daß er im Psychomachiekommentar (Paris 1933) für die Klärung der Sache erheblichen Raum aufwandte (p. 210f.) - allerdings mit niederschmetterndem Ergebnis. Das Hauptproblem sah er darin, daß Pferde in der Genesis nicht vorkämen, dem Dichter folglich ein seltsamer Anachronismus anzulasten sei. Nach vergeblichem Versuch, selbst durch Konjektur Abhilfe zu schaffen (oves, asellas, vasa... eqs.), gelangt er zu dem Schluß: solange nicht eine bessere Lösung gefunden sei, bleibe nichts anderes übrig, als dem Dichter eine Nachlässigkeit vorzuwerfen; er habe sich entweder mit greges equarum einen Anachronismus oder mit equarum vasa ein dunkles Flickwort ("une 'cheville' obscure") geleistet. Hier, zumal in der letzteren Annahme, tritt eine Fehleinschätzung prudentianischer Kunst zutage, die Lavarenne auch sonst gelegentlich zu erkennen gibt, und wie es kaum anders sein kann, zieht die exegetische Schwierigkeit eine Unsicherheit in der textkritischen Entscheidung nach sich. Die (echte) Lesart, die Lavarenne druckte, sollte nur Verlegenheitslösung sein, bestenfalls Platzhalterin für das Richtige, das es noch zu finden gelte, und bis zur zweiten Auflage seiner Gesamtausgabe des Prudentius (tome 3, Paris 19481, 19632) war der französische Gelehrte keinen Schritt weitergekommen, wie eine lange Fußnote (ebd. p. 49') beweist. Dafür hatte | inzwischen G. Bardy die Anregung Lavarennes aufgegriffen und auf der Grundlage des Α-Texts (oves) die Emendation: oves, aquarum vasa ... vorgeschlagen (Recherches de science religieuse 25, 1935, 363). Obwohl diese Konjektur unter paläographischem Gesichtspunkt passabel erscheinen mag - Bardy hätte auf entsprechende Verschreibungen andernorts verweisen können10 ist sie dennoch schlecht, schon deswegen, 9 Ausgenommen J. Guillen - 1 . Rodriguez, Obras Completes de Aurelio Prudencio, Madrid 1950, p. 306 sowie U. Engelmann, Die Psychomachie des Prudentius (zweisprachig), Basel/Freiburg/Wien 1959, p. 30, der sich allerdings im Deutschen die Übersetzung von equarum vasa erspart ("Gefäße"). 10 Stat. Theb. 2,724 equarum, v.l. equorum, aquarum·, Lucan. 4,102 aquas, v.l. equos (adn.: aquas legitur et equos); Claudian. VI cons. Hon. 379 aquis, v.l. equis. Vgl. ThLL 51 2,731,70ff.

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weil aquarum vasa weniger sagt als vasa. Die Konjektur belastet den Vers mit einer langen Nichtigkeit. Was sollen W a s s e r gefäße neben Gold, Geschmeide, Gewändern, Vieh - um von den jungen Frauen und Kindern zu schweigen? Das Speziellere ist in diesem Fall nicht das Schönere, nicht das Dichterische. Lavarenne a.O. tat recht daran, diesen Vorschlag abzuweisen, und H. J. Thomson hätte ihn in seinen (spärlich gesäten) Noten zum Text gar nicht erwähnen sollen (Prudentiusausgabe der Loeb Library, vol. 1, 1949', p. 2761). Vor allem aber fußt auch Bardy erklärtermaßen auf der Voraussetzung, die Genesis erwähne niemals Pferde, was er von Lavarenne übernimmt. Die Prudentiusforscher hätten gut daran getan, einen Blick in die griechische Bibel zu werfen, denn damit enthüllt sich das Problem als Scheinproblem. Von Pferden ist nach der Septuaginta in der Genesis dreimal die Rede, und zwar nicht irgendwo, sondern gerade im 14. Kapitel, also im Rahmen der Ereignisse, die Prudentius psych, praef. 15ff. behandelt: zunächst dort, wo die Beute erwähnt wird, welche die Ostkönige bei ihrem Sieg über Sodoma und Gomorra machen (Gen. 14,11 LXX), dann im Zusammenhang der Rückführung dieser Beute durch Abraham (Gen. 14,16 LXX) und schließlich in der Szene, da der König von Sodom vor Abraham hintritt und die Rückgabe der Männer fordert (Gen. 14,21 LXX). Es wird sich als hilfreich erweisen, wenn ich die drei Stellen hier ausschreibe11: 14,11: 14,16

14,21:

ελαβον δέ τήν ϊππον πασαν την Σοδομων και Γομορρας και πάντα τά βρώματα αυτών ... κτλ. και άπέστρεψεν πασαν τήν ϊππον Σοδομων και Λωτ τον άδελφόν αΰτοΰ άπέστρεψεν και τά υπάρχοντα αΰτοΰ και τάς γυναίκας και τον λαόν. ... Δός μοι τους άνδρας, τήν δέ ϊππον λάβε σεαυτω.

Die Pferde der Sodomiter bilden also nach der Septuaginta ein auffallendes Moment der ganzen Erzählung12. Folglich sind die Vorwürfe, die Lavarenne gegen den Dichter erhebt, hinfällig: der Anachronismus, wenn es einer ist, geht nicht auf sein Konto13. Zugleich wird der echte Wortlaut jenes Prudentiusverses endgültig gesichert: greges equarum \ gibt anschaulich πασαν τήν 11 Vgl. die Göttinger Septuaginta-Ausgabe: Genesis, ed. J.W. Wevers (1974), p. 162/66. 12 Desgleichen in der spiritualisierenden Exegese bei Ambrosius de Abraham 2,43f. (CSEL 32,1, p. 597f.): Pferde als Symbol der libido. 13 Zur Sache s. H. Weippert, Art. Pferd und Streitwagen: Bibl. Reallexikon, hrsg. von K. Galling, Tübingen 19772, 249/55 mit Literatur.

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ϊππον (14,16). Hieronymus' Übersetzung, die auf dem Hebräischen neu aufbaut, enthält dieses besondere Beutegut freilich nicht mehr, und der Übersetzer gibt uns selbst die Erklärung: 'Et tulerunt omnem equitatum Sodomorum et Gomorrae' (Gen. 14,11 Itala): pro equitatu in Hebraeo habet 'rachus', id est substantiamu. Seine Version der drei Stellen lautet demnach15: 14,11: 14,16: 14,21:

tulerunt autem omnem substantiam Sodomorum et Gomorrae et universa, quae ad cibum pertinent ... eqs. reduxitque omnem substantiam et Loth fratrem suum cum substantia illius, mulieres quoque et populum. ... da mihi animas, cetera tolle tibi.

Es unterliegt keinem Zweifel, welche Version Prudentius in diesem Fall vor Augen hatte. Mit einer Klarheit, wie sie eben nur selten gegeben ist, tritt er hier auf die Seite der Septuaginta bzw. der Vetus Latina. Der grundsätzliche Einwand, die Pferde könnten nur freie Zutat des Dichters sein, weshalb ein Schluß auf den zugrundeliegenden Bibeltext überhaupt unstatthaft sei, erweist sich bei gründlicher Überlegung als schwach. Auch die buculae sind ja der Bibel entnommen, wie wir sahen, und die ganze Aufzählung zeigt trotz gewisser Freiheiten des Dichters doch den bewußten Anschluß an die Vorlage16. Es müßte daher schon sehr seltsam zugehen, wenn Prudentius ausgerechnet ein Detail von sich aus hinzuerfunden haben sollte, das in der Septuaginta derart scharf hervortritt - ganz gleich, wie man ϊππος genau auflöst. Doch eben damit stellt sich ein neues Problem. 14 Hier. Hebr. quaest. in Gen. 14,11 (CCL 72,18). Statt r^küS nimmt die Septuaginta an raekaeS - auffälligerweise, da dasselbe hebräische Wort rkS in bezug auf Lot korrekt aufgelöst wird: την άποσκευήν αύτοΰ (Gen. 14,12), τά υπάρχοντα αύτοΰ (14,16). Vielleicht enthält das Griechische ein Interpretament, das nicht weit abliegt von der christlichen Exegese (vgl. oben Anm. 12). Das Pferd deutet auch bei Philon, Clemens Alex, und Origenes auf die πάθη (C. Siegfried, Philo von Alexandria als Ausleger des Alten Testaments, Jena 1875, Reg. s.v. Pferd; vgl. etwa Philo migr. Abr. 62), wobei letzterer ausdrücklich die Verbindung zu den Sodomitern (Gen. 14,11) herstellt: ϊππον Σοδομΐται νυν πρώτον ώνομασμένην ώς φαΰλον έχειν λέγονται (Orig. sei. in Gen.: PG 12,113 Α). Die zugrundeliegende Anschauung ist in der Antike überhaupt verbreitet (K. Rittweger und E. Wölfflin: Archiv für lat. Lexikographie 7, 1892, 314) und wird durch das platonische Gleichnis vom Seelenwagen befördert (vgl. z.B. Philo agr. 73). - Für freundliche Auskunft danke ich den Herren Prof. W. Beyerlin und Dr. K. Kiesow, Münster. 15 Biblia Sacra iuxta Latinam vulgatam versionem, 1 Genesis, rec. H. Quentin, 1926, p. 195/97. 16 Die Angabe Gen. 14,16 (Itala): revocavit et substantiam ist entfaltet (vasa, vestem) und gesteigert (aurum ... monile, vgl. V.24 gaza dives), was zusätzlich durch Gen. 13,2f. angeregt sein mag, wo der Reichtum Abrahams an Gold und Silber betont und Lot (!) miterwähnt wird. Aus der Mitteilung über den Herdenreichtum beider Gen. 13,5 sind die buculae übernommen,

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Die Wendung greges equarum erweckt die Vorstellung einer Pferdekoppel, einer Pferdezucht, eines Gestüts, vgl. etwa Varro rust. 2,8,6: nisi tu ipse dorm equarum greges haberes; Ov. met. 2,690: nobiliumque greges custos servabat equarum (sc. Battus)17. Darauf geht auch der Soldat aus, wenn er Beute macht, vgl. Liv. 24,20,16 über die Beutezüge der numidischen Truppen Hannibals in Apulien: ... equorum greges maxime abacti, e quibus ad quattuor milia domanda equitibus divisa. Jedenfalls sind Pferdeherden etwas anderes als die Reiterei als Truppenteil. Equitatus lautet aber gerade der entscheidende Begriff in der Itala (Ambr. Abr. 2,41.43, vgl. auch Hier. a.O.)18: 14,11: 14,16: 14,21:

et tulerunt omnem equitatum [equitatum totum, v. 1.] Sodomorum et Gomorrae. et reduxit [revocavit, v. 1.] omnem equitatum Sodomorum, et Lot fratrem suum revocavit et substantiam. ... da mihi homines, equos autem sume tibi. |

In dieser Übersetzung ist das mehrdeutige griechische Wort auf bestimmte Weise festgelegt: ή ϊππος nicht gleich equa oder als Sammelbegriff gleich equus (equi), sondern gleich equitatus. Das Problem bestand ja für die lateinischen Übersetzer auch sonst. Es galt, den einen griechischen Begriff, der seinerseits verschiedene Begriffe des Hebräischen zusammenfaßte19, angemessen aufzulösen. Das war Sache der Interpretation und konnte zu Divergenzen führen. Augustinus spricht davon bei Behandlung idiomatischer Ausdrücke des Griechischen bzw. des Hebräischen20. Zu Dtn. 17,16: 'Non multiplicabit sibi equum' (Itala; ϊππον, LXX; equos, Vulg.) bemerkt er: pro equis velpro equitatu equum posuit: unde nonnulli 'equitatum' interpretati sunt. Die Äußerung zeigt zugleich, daß der semantische Übergang von eques zu equus (Rehm: ThLL 5/2,717,20ff. mit Belegen auch aus der Vulgata), falls er equitatus überhaupt erfaßte21, den Bedeutungsunterschied keineswegs etwa aufgesogen hat. die equae aus Gen. 14, 11.16.21. Die Verbindung puellas, parvulos greift wohl τάς γυναίκας Gen. 14,16 auf. 17 Ferner: Varro rust. 2,10,11: ad equarum gregem quinquagenanum bini homines (sc. constitui solent), utique uterque Horum ut secum habeat equas domitas singulas ... eqs. Zur Sache s. G. Lafaye: Daremberg-Saglio 2,791/94. 18 Vetus Latina, Bd. 2: Genesis, hrsg. von B. Fischer, Freiburg 1951/54, p. 166/69. 19 Hatch-Redpath, Concordance to the Septuagint 1, p. 687f. s.v. ίππος. 20 Aug. loc. hept. 5,48 (CSEL 28/1, 608). 21 In der Exegese gleitet Ambrosius leicht von equitatus zu equus (s. oben Anm. 12). Ein merkwürdiger Fall ist Cant. 1,8 Vulg.: equitatui meo in curribus Faraonis adsimilavi te, amica mea. In der Itala (Ambr. in psalm. 118 serm. 2,33,1) beginnt der Vers: equae meae...

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Nach der Itala ist es also die Reiterei der Sodomiter, die zunächst den Ostkönigen (Gen. 14,11), dann Abraham (Gen. 14,16) zufällt; erst in der Rückforderung des Königs von Sodoma (Gen. 14,21) wird sozusagen eine geteilte Rechnung aufgemacht, indem der frühere Besitzer seine Forderung ausdrücklich auf die Männer beschränkt, die Tiere (equos) ausnimmt. Von solcher Vorstellung aus auf greges equarum zu verfallen - als Beute Abrahams nach Gen. 14,16 - , war nicht geradezu unmöglich, aber es drängt sich doch die Vermutung auf, der spanische Dichter könne eine Bibelversion vor sich gehabt haben, die den entscheidenden Begriff anders festlegte als die Itala bzw. der Text des Ambrosius. Dabei müßten wir es bewenden lassen, wäre uns nicht durch eine spanische Bibel, die heute verschollene Bibel von Valvanera22, an der entscheidenden Stelle (Gen. 14,16) die altlateinische Variante: omnem [sic] e quit ium erhalten. Genau dieser Begriff: equitium, "Gestüt" = συνιππία ö έστιν άγέλη ϊππων (Corpus Gloss. Lat. 2, p. 446,42 Goetz), gebildet wie avitium, stellt das fehlende Glied dar. Vgl. H.G. Wackernagel: ThLL 5/2,728f. s.v. equitium, wo der Beleg aus der Vetus Latina nachzutragen wäre. Wie passend das Wort als Vorlage des prudentianischen Ausdrucks ist, wie zwanglos sich aus ihm die Vorstellung der greges equarum ergibt, sieht man leicht: Colum. 6,27, lf.: summam sedulitatem et largam satietatemdesiderat equitium ... gregibus autem spatiosa... pascua eligenda sunt·, Ulpian. dig. 6,1,1,3: idem et de armento et de equitio ceterisque, quae gre gat im h ab entur, dicendum est; sed enim gre gem sufficiet ipsum nostrum esse... eqs.; Mod. dig. 22,1,39: equitio autem legato | etiamsi mora non intercedat, incremento gregis fetus accedunt. Die Verhältnisse lassen sich also etwa folgendermaßen veranschaulichen (ich benutze zum Teil die Sigla der Beuroner Ausgabe):

adsimilavi te, was den Sinn des Griechischen (τη ϊππω μου), aber auch des Hebräischen (süsah) durchaus trifft. 22 Hierzu vgl. die Einleitung der Beuroner Ausgabe (oben Anm. 18) p. 2*14* und 19*721*.

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την ιππον (LXX)

equitatum

(I)

greges equarum (Prud.)

substantiam

(H)

Das Stemma soll nicht etwa ausdrücken, daß uns Prudentius' Bibeltext durch die Glossen der Bibel von Valvanera ( = 94) greifbar sei 23 oder daß Prudentius den Zeugen für die Vetus Latina Hispana zugerechnet werden müsse 24 . V o n einer Einzelheit aus lassen sich Probleme solcher Art natürlich überhaupt nicht lösen. Aber ein gewisses Indiz dafür, daß seine Version v o n der Itala ( = I) abwich, scheint hier doch gegeben. 23 Auch nicht, daß sich die semantische Filiation (equitatus/equitium) direkt aus dem Griechischen ergeben habe - statt etwa auf dem Wege über equus oder equi in einer * UrÜbersetzung' oder sonst irgendwie. 24 T. Ayuso Marazuela, La Vetus Latina Hispana, Bd. 2, Madrid 1967, p. 71/74 nennt die Väter, die als Zeugen angenommen werden (Prudentius erscheint hier nicht, sondern nur im allgemeinen Index der spanischen Kirchenschriftsteller: Bd. 1, Madrid 1953, p. 524f., Nr. 347). Ebd. p. 62 (Nr. 54 = Gen. 14,16) gibt er übrigens an: omnem aquitium. Die Beuroner Ausgabe p. 167 (mit App. zu Gen. 14,16) enthält keinen Hinweis auf solche Verschreibung.

IX. PALESTRA BEI PRUDENTIUS * "Das Schicksal litterarischer Wahrheiten und richtiger Erkenntniss ist kein anderes, als das, was über Wahrheit und Recht in der Welt überhaupt waltet. Recht und Wahrheit werden verkannt, erkannt und wieder verkannt." Daß dieser pessimistische Erfahrungssatz1 durchaus nicht aus der Luft gegriffen ist, ließe sich anhand moderner Urteile über gewisse Tatbestände der Prudentiusüberlieferung vorführen. Ich meine jene Großinterpolamente, die sich durch urkundliche Divergenzen im Versbestand zu erkennen geben. Wenn ich hier einen dieser Fälle aufgreife, so geschieht das allerdings nicht nur in der Absicht, für ein einzelnes Textproblem den Grad der Erkenntnis, der bereits erreicht war, wiederzugewinnen. Ich möchte vielmehr, eigene Bemühungen gleicher Art fortsetzend2, den Blick öffnen für textgeschichtliche Zusammenhänge, welche sich aus der Betrachtung, besonders aus der vergleichenden Betrachtung, solcher Erscheinungen erschließen. Denn wenn sie auch für die Textgestaltung keinen unmittelbaren Gewinn versprechen, so ist doch ihre mittelbare Bedeutung groß. Sie bezeugen eine Bearbeitung des Dichtertexts, mit deren Wirkung wir auch dort rechnen müssen, wo sie sich durch den handschriftlichen Befund äußerlich nicht mehr fassen läßt. Insofern besitzen alle diese Fälle musterhaften Wert, der nicht getrübt werden darf. Im zweiten Buch seines Gedichts gegen Symmachus führt Prudentius Gott selbst redend ein (c. Symm. 2,123/60). Der Schöpfer mahnt zu rechtem, maßvollem Gebrauch der irdischen Güter: Fülle und Schönheit der Schöpfung rührten von Ihm her, aber der Mensch dürfe ihren Reizen nicht erliegen, so daß er darüber Gott und die wahren, ewigen Güter vergesse. Darum habe Er das menschliche Leben als eine Zeit des Kampfs und der Bewährung anberaumt3: I

* Illinois Classical Studies 14, 1989, 365/382. ι Aufgestellt von Karl Friedrich Heinrich, Juvenalausgabe, ed. Karl Berthold Heinrich (Bonn 1839) vol. II p. 14. 2 Vgl. bes. "Zwei Binneninterpolamente und ihre Bedeutung für die Geschichte des Prudentiustexts", Hermes 114 (1986) 88/98 [in diesem Band S. 126/137], 3 Parallel ist nicht so sehr Lact. inst. 5,22,16f. (von Lavarenne, tome III p. 164 unterm Text angegeben) - hier ist von der Prüfting durch Verfolgungen die Rede - als vielmehr Lact, inst. 6,22,1/5 (zitiert von Arevalo zu V. 146, vgl. PL 60,192 C), wo derselbe Gedanke mit

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atque aevum statui, sub quo generosa probarem pectora, ne torpens et non exercita virtus robur enervatum gereret sine laude palestrae. inlecebrosus enim sapor est et pestifer horum, quae ... eqs.

Das ist die Textfassung, die sieben der von den Editoren Bergman und Cunningham herangezogenen Handschriften bieten4 - alles Codices des neunten Jahrhunderts (die beiden spätantiken Textzeugen fallen hier aus). Zwei weitere, der Leidensis Burm. Q. 3 ( = E) und der Parisinus lat. 8086 ( = P), haben folgendes: atque aevum statui, sub quo generosa probarem pectora, ne torpens et non exercita virtus

143a enervare suum corrupta per otia robur 143b posset et in nullo luctamine pigra iaceret. 145

inlecebrosus enim sapor est et pestifer horum, quae ... eqs.

Es ist nicht schwer zu sehen, was es mit diesem Text auf sich hat: an die Stelle des echten Verses 143 tritt ein zweizeiliges Ersatz-Interpolament ( = 143a, b). Der interpolatorische Charakter der beiden Verse ist längst erkannt. Die Erkenntnis findet sich, knapp ausgesprochen, bei F. Arevalo (Ausgabe, Rom 1788/89), ohne daß er etwa damals geradezu eine Neuigkeit verkündet hätte5. Arevalo schreibt6: "Perspicuum est duos alios versus ( = vv. 143a, b) additos ab aliquo, qui primum e in enervatum nollet corripi". Ist das Motiv des Textbearbeiters damit richtig getroffen, dann dürften seine Verse dem Bereich der sog. "emendatorischen" Interpolation zuzuordnen sein, die als Typos der Fälschung besonders durch Jachmanns Forschungen Gestalt gebesonderer Schärfe ausgedrückt wird, zunächst zwar im Hinblick auf die Reize des Geschmacksund Geruchssinnes (voluptates saporis et odoris), aber dann doch verallgemeinernd: itaque fecit omnia Deus ad instruendum certamen rerum duarum (i.e. virtutis et voluptatis). Bei Prudentius selbst ist harn. 330/36 zu vergleichen. 4 VNMS bei Bergman (CSEL 61,1926), dazu TtQ bei Cunningham (CCL 126,1966). In der Orthographie (palestra statt palaestra) folge ich Bergman, vgl. dazu Gnomon 58 (1986) 30. 5 Victor Gislain (Giselinus) empfand die Unerträglichkeit der Wiederholung enervatum/ enervare und schied die Dubletten-Verse 143a, b aus. Ich entnehme seine Notiz der Sylloge annotationum bei M.J. Weitz (Ausgabe, Hanau 1613) p. 497. Gislain gab Prudentius heraus, zuerst Paris 1562, dann - zusammen mit Theodor Poelmann (Pulmannus) - Antwerpen 1564. 6 Arevalos Ausgabe ist bei Migne abgedruckt, hier PL 60, 192 B/C.

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IX.

Palestra bei

Prudentius

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wann7. Daß selbst kleinste sprachliche Anstöße oder | Textverderbnisse großräumige rezensorische Änderungen hervorrufen konnten, steht fest8, und so wäre es auch in diesem Fall durchaus denkbar, daß die ungewöhnliche, durch den Wechsel von e zu i in Sprache und Schrift erklärliche9 Prosodie enervatum, die Prudentius hier und cath. 8,64 (enervans) zuläßt, den Eingriff verursachte. Es verdient vielleicht Beachtung, daß eine ähnliche Kurzmessung bei Sedulius carm. paschal. 3,265: Septem panibus agmen Pavit inorme (v.l. enorme) virum, in der Überlieferung teilweise durch Wortinterpolation ausgemerzt erscheint: ... agmen Pavit grande virum10. Eine gewisse Unklarheit verrät sich bei Arevalo freilich in der Formulierung: "(versus) additos ab aliquo", welche die Ersatzfunktion der beiden Verse im Dunkeln läßt. Man muß hierbei wohl bedenken, daß sich schon die alten Editoren und Erklärer des Prudentius mit einem weiteren Befund auseinanderzusetzen hatten. Denn gewisse Handschriften führen das Echte und das Unechte zusammen, d.h. hintereinander im Text (ich folge Bergmans Angaben11): im Berner 7 Vgl. G. Jachmann, Textgeschichtliche Studien, Beiträge zur Klassischen Philologie 143 (Königstein/Ts. 1982) 552ff. Er spricht von interpolatorischen "Emendationsversuchen" (z.B. ebd. 55T2; 639') oder "korrektiver Ersatzfassung" (7621). Im engeren Sinne sind darunter Versuche zu verstehen, wirkliche oder vermeintliche Textverderbnisse zu bereinigen. Doch kann das Emendationsbedürfnis auch anders begründet sein, s. S. Mendner, Der Text der Metamorphosen Ovids (Diss. Köln 1939) 42ff.: "Emendatorische Interpolation". Bei Klassifikation der Interpolamente nach den Motiven ihrer Entstehung sind die Umrisse der einzelnen Typen naturgemäß nicht immer scharf. 8 Vgl. Jachmann a.O., dazu noch dens., Ausgewählte Schriften, Beiträge zur Klassischen Philologie 128 (Königstein/Ts. 1981) 394f., 496 u.ö. Ich zitiere fortan nur noch nach den fortlaufenden Seitenzahlen beider Bände. 9 So schon Salmasius: seine diesbezügliche Bemerkung ist abgedruckt bei Arevalo, Prolegomena 219: PL 59, 742(b), aufgenommen bei L. Mueller, De re metrica (Petersburg/ Leipzig 18942) 453, mißdeutet bei F. Krenkel, De Aurel» Prudentii Clementis re metrica, Diss. Königsberg (Rudolstadt 1884) 15: ein pseudogelehrter Itazismus, den Prudentius "falso inductus veriloquio" von griechischen Wörtern auf lateinische übertragen habe, ist bei Salmasius nicht gemeint. Davon kann auch keine Rede sein. Vielmehr ist die Gewohnheit eine allgemeine und lebendige, und indem Prudentius ihr gelegentlich nachgibt, zeigt er gerade seine freiere, nicht klassizistische Kunstauffassung. Vgl. H. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins I (Leipzig 1866) 226ff., bes. 306. Auch in den Prudentius-Handschriften schwankt die Orthographie an den beiden Stellen c. Symm. 2,143 (inervaium neben enervatum) und cath. 8,64 (inervans hier auch Β = Ambros. D 36 sup., saec. VI). 10 Dazu s. Huemers Apparat (CSEL 10, p. 84); die Messung enormis nach Ausweis des Thesaurus auch Cypr. Gall. num. 367 und carm. epigr. 1380,2 ( = ILCV 4362, vom Jahre 549). Zur häufigen Schreibung inormis ThLL 5,604,54ff. 11 Aus Cunninghams Apparat sind die Verhältnisse nicht ersichtlich. Man erfährt nichts über die Zusammenstellung des Echten und Unechten, aber auch das jeweilige Zeugnis für die Reinformen beider Versionen wird (verglichen mit Bergmans Apparat) unvollständig wiedergegeben. Das hängt freilich mit einer Beschränkung zusammen, die sich der Editor im Ganzen auferlegte (vgl. praef. p. X nr. 2). Aber die handschriftliche Bezeugung der Großinterpolamente im Prudentius gehört keinesfalls zu den Quisquilien.

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Codex (Bernensis 264, saec. IX = U) geht die Ersatzfassung (143a, b) dem echten Vers (143) voran, im Cantabrigiensis Corp. Chr. 223 (saec. IX = C) und in zwei weiteren Handschriften des zehnten Jahrhunderts ( = D und Ο bei Bergman) folgt das doppelzeilige Interpolament dem echten Vers, so daß hier dieser Versbestand erscheint: | atque aevum statui, sub quo generosa probarem pectora, ne torpens et non exercita virtus 143 robur enervatum gereret sine laude palestrae 143a enervare suum corrupta per otia robur 143b posset et in nullo luctamine pigra iaceret. inlecebrosus enim sapor est et pestifer horum, 145 quae ... eqs. Freilich kann selbst solcher Befund den alternativen Charakter der beiden Fassungen nicht verdunkeln, wie er denn etwa auch von Giselinus entschlossen festgehalten wird12. Daß das Unvereinbare dergestalt vereint auftritt, hat andrerseits sehr wohl seine Bedeutung, und es ist ein schlimmes Manko, wenn solche Tatbestände in einer großen kritischen Ausgabe unterdrückt werden13. Denn auf diese Weise werden Spuren verwischt, die in eine entscheidende Phase der Textgeschichte zurückfuhren können14. Unter den neueren Prudentiuskennern hat sich zuerst Bergman mit der Dublette befaßt15. Er betonte richtig den alternativen Charakter jener beiden Verse und entschied sich gegen die Annahme authentischer Doppelfassung für Interpolation - gleichfalls richtig. Er nahm dasselbe Motiv an wie Arevalo16, 12 Vgl. oben Anm. 5. 13 Vgl.obenAnm.il. 14 Nämlich auf die Vereinigung des echten und unechten bzw. verdächtigen Versguts in einer kritisch adnotierten Prudentiusausgabe der Spätantike und auf den späteren Zerfall dieser Ausgabe, als dessen Folge sich das Nebeneinander unverträglicher Parallelfassungen in einem Teil der Überlieferung ergab: vgl. hierüber im Hermes 114 (1986) 92f. [in diesem Bande S. 130f.]. 15 J. Bergman, De codicum Prudentianorum generibus et virtute, Sitzungsber. Akad. Wien, Philos.-Hist. Kl. 157,5 (1908) 27f. 16 Für Prudentius selbst rechnete er hier noch mit der Orthographie inervatum (s. dazu oben Anm. 9), die erst im Zuge der mittelalterlichen Tradition verändert und erst dann zum Anlaß der Interpolation geworden sei: eine unnötige Künstelei, die Bergman später in der Ausgabe stillschweigend aufgab, wo er enervatum und enervans in den Text setzte (vgl. auch den Index verborum, p. 515 s.v.). Hier zeigt sich aber die verbreitete Neigung, solche Vorgänge ursächlich der mittelalterlichen Tradition zuzuschreiben, weil das urkundliche Material, das sie bezeugt, mittelalterlicher Herkunft ist.

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lenkte jedoch außerdem die Aufmerksamkeit auf den stilistischen Vergleich der beiden Fassungen: "Adde quod verba in nullo luctamine pigra iaceret explicationem olent dictionis Prudentianae brevioris et elegantioris sine laude palestrae". Leider machte sich Bergman hier wie auch sonst17 vom Hergang der Verderbnis eine unzulängliche Vorstellung: die interpolierte Ersatzfassung sei ursprünglich an den Rand geschrieben worden und durch spätere Abschriften versehentlich in den Text geraten. Als ob nicht gerade Dubletten wie diese überdeutlich die Absicht ihres Verfassers bekundeten: nämlich das echte Versgut zu ersetzen! Und als ob das Interpolament nicht tatsächlich im Leidensis den ihm vom Redaktor zugedachten Platz einnähme: nämlich im Haupttext anstelle des echten Verses! Nichts rechtfertigt die Anschauung, derartige Fassungen seien ursprünglich | für den Rand fabriziert und hätten die ihnen zugedachte Rolle, nämlich die, Ersatz zu bilden, nur gewissermaßen zufällig dank gelegentlicher Kopistenfehler spielen dürfen. Daß sich der Fortbestand offenkundiger Dubletten im Zuge der Überlieferung derart auswirken kann, daß bald die unechte Fassung, bald die echte, und zwar jeweils bald ganz, bald teilweise an den Rand gedrängt wird, ist begreiflich, erklärt aber nicht den Ursprung des gesamten Befunds18. Er ist nicht in den Zufälligkeiten mittelalterlicher Schreibertätigkeit zu suchen, sondern in einer absichtsvollen Bearbeitung des Prudentiustexts, die noch in den Zusammenhang des spätantiken Interpolationswesens gehören dürfte19. Bergman hatte sich, wie gesagt, gegen die Möglichkeit authentischer Doppelfassung ausgesprochen, aber sein Urteil bewahrte den Dichter nicht davor, daß ihm auch die Verse 143a, b zuerkannt wurden. Pelosi suchte der These von den Autorenvarianten bei Prudentius zum Durchbruch zu verhelfen, wobei er auch diese Verse anführte20. In bezug auf andere Fälle widersprach ihm sogleich Lazzati21, in bezug auf unseren W. 17 Vgl. Hermes 114 (1986) 91 [in diesem Bande S. 129f.]. 18 Vgl. Hermes a.O. 96f. [in diesem Bande S. 135f.]. 19 Hierzu vgl. die grundlegenden Bemerkungen Jachmanns, 395f.: "(Für die Frage,) in welcher Zeit die Interpolationen entstanden sind, ist es vollkommen gleichgiltig, wo sie uns entgegentreten, ob im Text selbst, ob neben dem Text oder sonstwo in irgendwelchen Zeugnissen ..." usw. Zu Prudentius s. noch: Wien. Stud. 98 Ν.F. 19 (1985) 179/203, bes. 201/03 [in diesem Bande S. 102/125, bes. 123/125]; Filologia e forme letterarie. Studi offerti a Francesco Deila Corte IV (Urbino o.J. [1988]) 231/51, ebd. 232f. [in diesem Bande 138/157, ebd. 139f.]. 20 P. Pelosi, "La doppia redazione delle opere di Prudenzio", Studi Italiani di Filologia Classica, N.S. 17 (1940) 137/80, ebd. 164f. 21 G. Lazzati, "Osservazioni intorno alla doppia redazione delle opere di Prudenzio", Atti del Reale Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti, tom. 101, parte II: Cl. di Scienze mor. e lett. (1941/42) 219/33.

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Schmid22. Er kehrte wieder zur Auffassung Bergmans zurück. Das Motiv der Fälschung erkannte auch er in dem Streben nach Explikation ("ethisierender Verdeutlichung") der palaestra-Metzpher: "(Für den Redaktor) genügt der im Bilde steckende ethische Gehalt nicht, er muss auch äusserlich expressis verbis für jeden sichtbar gemacht werden (corrupta per otia, pigra)." Die unregelmäßige Prosodie enervans erwähnte Schmid nicht mehr, offenbar deswegen, weil sie ihm als auslösendes Motiv der Interpolation weniger wichtig schien. Mit all diesen Erkenntnissen brach der Editor Cunningham. Ich würde die Kritik an seiner Behandlung des Interpolationenproblems, die schon von anderer Seite wie auch von mir selbst mehrfach vorgebracht wurde, hier nicht wiederholen, wenn sich nicht Cunningham, in Auseinandersetzung mit Schmid, gerade unserem Fall zugewandt hätte23. Er will überhaupt Interpolation nicht gelten lassen, erklärt die beiden Zeilen | vielmehr als glossierende Beischrift ("locus similis"), die vom Rande her in den Text eingedrungen sei. Die Frage, was denn solche doppelzeilige, hexametrische Glosse hätte veranlassen können, beantwortet er durch eine Reihe phantastischer Vermutungen, die, halbherzig vorgebracht, alle nur den einen Zweck verfolgen: vom Offensichtlichen, nämlich vom Ersatzcharakter der beiden Verse, abzulenken24. Die Anerkennung dieses ihres Charakters hätte ihn allerdings fast notwendig zur Einsicht in das Wesen der rezensorischen Maßnahme gezwungen. Die Saat, die Bergman einst säte, indem er Interpolation, Glosse und Schreiberversehen verquickte, ist in Cunninghams Philologie in der Weise aufgegangen, daß sich nur noch die beiden letzteren Momente durchsetzten. Das ist also der Stand der Dinge, der jene Regel zu bestätigen scheint, die ich eingangs zitierte. Das Richtige ist schon gesagt, es zeigt sich allerdings 22 W. Schmid, "Die Darstellung der Menschheitsstufen bei Prudentius und das Problem seiner doppelten Redaktion", Vig. Chr. 7 (1953) 172/86, ebd. 184f. ( = Ausgewählte philologische Schriften, hrsg. von H. Erbse und J. Küppers [Berlin-New York 1984] 365/77, ebd. 375/ 77). 23 Maurice P. Cunningham, "The Problem of Interpolation in the Textual Tradition of Prudentius", Transactions and Proceedings of the American Philological Association 99 (1968) 119/41, ebd. 132/34. 24 Nicht also, daß Cunningham überhaupt Hypothesen aufstellt, bemängele ich - selbst bringe ich ebenfalls Vermutungen vor (s. dazu unten S. 176 [373]). Auch nicht, daß seine "reasonable conjectures" (a.Ο. 133) in Wahrheit ganz unglaubwürdige Spekulationen darstellen (sie beruhen alle auf der verwegenen Annahme, der "Leser", der angeblich die Beischrift vornahm, habe [antike?] Poesie zur Hand gehabt, die wir nicht mehr haben, und aus ihr seien irgendwie jene beiden Hexameter geflossen), scheint mir das Schlimmste. Das Unerträgliche liegt, wie gesagt, darin, daß diese Mutmaßungen nicht zu dem Zwecke vorgebracht werden, das Offensichtliche zu erklären, sondern mit der Absicht, es zu vernebeln.

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mehr zerstreut als an einem Orte vereinigt und am wenigsten dort, wo man es am ehesten erwarten sollte: in der jüngsten Ausgabe. Eine ergänzende Beobachtung scheint mir im Hinblick auf das Motiv der Interpolation möglich, womit nochmals zu dem Ausdruck: sine laude palestrae zurückgelenkt sei. Ich halte es für denkbar, daß den Textbearbeiter, als er diesen Ausdruck durch seine Ersatzversion beseitigte, nicht nur stilistische Gründe leiteten, sondern auch sachliche, ja daß über das Streben nach prosodischer Glättung und stilistischer Verdeutlichung hinaus ein sachlicher Anstoß das eigentlich auslösende Moment der Textänderung bildete. Prudentius gebraucht palestra hier im positiven, spiritualisierten Sinne für die "Ringschule" des Lebens, in der wir uns bewähren müssen. Die Metapher hatte damals in der christlichen Latinität längst einen Platz. Ihren Ausgang nimmt sie von den entsprechenden Bildreden des Apostels 1 Cor. 9,24f. (vgl. Eph. 6,12; 2 Tim. 2,5), welche sie zugleich weiter entfaltet25. So nennt etwa Tertullian das Gefängnis den "Ringplatz" der Märtyrer: carcerem nobis pro palaestra interpretamur (Tert. mart. 3,5). Und Prudentius selbst entwickelt diese Metaphorik in zwei Strophen seiner Märtyrerlieder. Einmal ist die Stadt Saragossa, in der St. Vinzenz aufwuchs, die "Ringschule" des künftigen Märtyrers, wo er, gesalbt mit dem Öl des | Glaubens, den ob seiner Stärke furchtbaren Gegner, d.h. den Teufel, durch die (Ring-)Kunst seiner Tugend zu bezwingen lernte (per. 4,10Iff.): 101

Noster et nostra puer in palestra arte virtutis fideique olivo unctus horrendum didicit domare viribus hostem.

Das andere Mal bildet die Folterstätte den "Ringplatz". Der Märtyrer wiederum St. Vinzenz - ringt mit dem Folterknecht, indem er ausgesuchte Qualen standhaft erträgt (per. 5,213ff.):

215

Ventum ad palestram gloriae, spes certat et crudelitas, luctamen anceps conserunt hinc martyr, illinc carnifex.

25 Vgl. Hodges, ThLL 10,100,Iff. s.v. palaestra, wo die im Text zitierte Tertullianstelle (mart. 3,5) richtig neben Prud. per. 5,213 gerückt wird (die anderen Belege aus Prudentius fehlen). Die Verbindung spiritalis palaestra hat Ambrosius (gesagt von der Passion Christi: in Ps. 40,13,3: CSEL 64,236), pietatispalaestra Paulinus Nol. (epist. 23,5: CSEL29.162, Z.13f.: haec pietatis magis palaestra quam corporis). Zur christlichen Bildersprache vgl. auch den RAC-Artikel "Gymnasium" (folgende Anm.) 173f.

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Aber wenn auch diese Bildlichkeit innerhalb der Märtyrerfrömmigkeit und christlicher Spiritualität überhaupt ihren guten Sinn hat, so bleibt doch andrerseits palestra für den Christen wie für den Römer ein Reizwort, mit dem sich leicht der Eindruck höchster sittlicher Entartung verbindet26. Es genügt, Prudentius selbst hierüber zu befragen. Denn er kennt die palestra auch als Inbegriff griechischer (heidnischer) Weichlichkeit und Verderbtheit. Der Grund erhellt am besten aus per. 10,186ff. (Worte des Märtyrers Romanus an den Stadtpräfekten Asclepiades):

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Ostende, quaeso, quas ad aras praecipis vervece caeso fumet ut caespes meus? Delfosne pergam? sed vetat palestrici corrupta ephybi fama, quem vester deus effeminavit gymnadis licentia.

Hyacinthus ist der durch Apollon in der Ringschule zum Weibe gemachte Liebling des Gottes. Palestricus ephybus sagt alles27. Das Lehrgedicht (ham. 365f.) geißelt die Verwendung des Öls in der Palaestra sogar als Beispiel für den Mißbrauch der Schöpfung durch den Menschen: 365

sie Lacedaemonicas oleo maduisse palestras novimus et placidum servire ad crimina sueum, ... eqs.

Ad crimina deutet auf die gleichen Verhältnisse. Schon aufgrund solcher Bewertung der Ringschule mochte die Formulierung c. Symm. 2,142f.: ... ne torpens et non exercita virtus Robur enervatum gereret sine laude | palestrae einem Redaktor auffallen. Daß die positive palestra-Metapher an anderen Stellen des Werks offenbar keinen Anstoß erregte, braucht nicht unbedingt dagegen zu sprechen; denn die interpolatorische Arbeit erstreckt sich niemals gleichmäßig über einen ganzen Text, geschweige denn über das gesamte vielgestaltige Werk eines großen Autors. Die Inkonsequenz, die darin läge, daß palestra hier anstößig erschien, anderswo nicht, paßte durchaus in das Bild, das wir

26 Zum weiteren Hintergrund vgl. J. Delorme - W. Speyer, Art. "Gymnasium", RAC 13 (1986) 155/76, bes. 169; 170f.; 172f. sowie die dort (174/76) genannte Literatur. 27 Ephebum mulierare sagt Varro Men. 205. Mit palestricus ephybus hier an dieser Stelle ist wohl or. imp. Claud. (CIL 13,1668) 2,15 zu vergleichen: odi illudpalestricum prodigium (i.e. Valerium Asiaticum); s. ThLL 10,100,72f. Eine Rubrik zum pejorativen Sinn von palaestra enthalten die Thesaurusartikel nicht.

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uns von der Tätigkeit der Diaskeuasten machen müssen. Aber in unserem Falle kommt noch etwas hinzu, was den Eingriff gerade an dieser Stelle vielleicht erklärlich macht. Denn in demselben Gedicht, im zweiten Buch gegen Symmachus, begegnet die Palaestra noch einmal und zwar eben in jenem negativen Sinne, als Symbol der ejfeminatio. Die weichlichen Griechen, heißt es dort (c. Symm. 2,512ff.), waren samt ihren "Göttern" keine ernstzunehmenden Gegner der harten Italiker im Kriege28:

515

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sed nec difficilis fuit aut satis ardua genti natae ad procinctus victoria frangere inertes molliaque omnigenum colla inclinare deorum. num cum Dictaeis bellum Corybantibus asper Samnitis Marsusque levi sudore gerebat? num mastigoforis oleoque et gymnadis arte unctis pugilibus miles pugnabat Etruscus? nec petaso insignis poterat Lacedemone capta Mercurius servare suas de clade palestras.

Die Verse 512/14 schlagen das Thema an (vgl. inertes, mollia colla), das dann in den folgenden Zeilen ausgeführt und variiert wird. Dabei erscheint in der Schilderung der Gegner Roms jeweils das nationale Element mit dem kultischen verbunden, so gleich bei der ersten Gegenüberstellung (515f.) des Samniten und des Marsers mit den Corybantes. Und zu diesem Zweck setzt der Dichter auch der Konfrontation des etruskischen Legionärs mit den Aufsehern 29 und Faustkämpfern des Gymnasiums (517f.) noch den entsprechenden religiösen Akzent auf (519f.), indem er Merkur als das | palaestrarum numen30 einbezieht und durch ein satirisches Glanzlicht: petaso insignis 28 Das ist die römische Wertung griechischer Athletik, die Prudentius hier von seinem Standpunkt aus aufnimmt. Vgl. Scipio bei Cicero rep. 4,4,4: iuventutis vero exercitatio quam absurda in gymnasiis! quam levis epheborum ilia militia! Und ganz in diesem Sinne läßt Lucan seinen Caesar vor der Truppe sprechen (7,269ff.): ... nec sanguine multo Spem mundipetitis: Grais delecta iuventus Gymnasiis aderit studioque ignava palaestrae Et vix armaferens ... eqs. Die entgegengesetzte Sicht des Verhältnisses athletischer und militärischer Tüchtigkeit liegt den Versen Stat. Theb. 4,227ff. zugrunde. 29 Im Thesaurus (8,433,53ff.) s.v. mastigophorus wird die Prudentiusstelle (c. Symm. 2,517) unter dem Lemma "technice i.q. apparitor" eingeordnet, neben einem Beleg aus dem Juristen Charisius (saec. IV): mastigophori quoque qui agonothetas in certaminibus comitantur ... eqs. Der Zusammenhang bei Prudentius (vgl. V.519Lacedemone captal) könnte auch daran erinnern, daß einst in Sparta Jünglinge als μαστιγοφόροι dem παιδονόμος zur Seite standen und über die Zucht der Knaben wachten (Xen. Lac. 2,2). 30 So heißt Mercurius im Schol. Stat. Theb. 4,227. Vgl. etwa Hör. c. 1,10,1/5 (und dazu

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(Mercurius) hervorhebt31. In ähnlicher Weise läuft die Versreihe auch über das ausgeschriebene Stück hinaus weiter. Man bedenke also: ausgerechnet im Zusammenhang mit kriegerischer Tüchtigkeit wird der gymnadis ars und der palestra (vgl. 514 bzw. 520) in abfälligstem Tone gedacht, dazu noch ihre Verbindung mit dem heidnischen Kult bloßgelegt! Und man blicke hinüber zu den früheren Zeilen desselben Gedichts, von denen wir ausgingen! Drängt sich da nicht die Frage auf: wie soll man "nervige Kraft" in der Palaestra erwerben bzw. Entnervtheit, Schlaffheit durch erfolggekrönte Übungen in der Ringschule vermeiden - denn auf solcher Bewertung des Gymnasiums ruht ja die Bildrede der Verse 142f. - , wenn doch andrerseits diese Stätten griechischer Körperschulung geradezu als Ursachen und Sinnbilder unmännlicher Schwäche anzusehen sind? Hierdurch vor allem, meine ich, nicht bloß durch das Streben nach Explikation des metaphorischen Ausdrucks, sah sich der Diaskeuast veranlaßt einzugreifen. Er wollte einen vermeintlichen Widerspruch beim Dichter auflösen oder doch eine störende Assoziation beseitigen. Deshalb mußte unbedingt der verräterische Begriff fortfallen: in nullo luctamine (143b) klang ihm unbestimmter und gerade darum besser als das echte Dichterwort: sine laude palestrae (143). Daß der Anteil des Hypothetischen bei Erörterung möglicher Motive einer Interpolation bisweilen spürbar bleibt, wird niemand leugnen wollen. Und so mag sich auch hier vielleicht mancher lieber für emendatorische oder bloß simplifizierende Tendenz des Interpolators entscheiden. Aber daß der Fall nicht befriedigend behandelt ist, wenn die vorgetragenen Überlegungen überhaupt nicht angestellt, die Möglichkeit einer harmonisierenden Textänderung nicht wenigstens erwogen wird, scheint mir klar. Und unabhängig davon behält die Gegenüberstellung der Verse 142f. und 512/20 einen eigenen Reiz. Denn aus ihr läßt sich deutlich eine verbreitete Darstellungsweise wahrnehmen: die Einbindung gewisser Elemente (Motive, Gedanken, ForNisbet-Hubbard 129f.) oder Ov. fast. 5,667: laete lyrae pulsu, nitida quoque laete palaestra. Eine Herme oder Hermesstatue stand nahezu in jeder Palaestra (Cie. ad Att. 1,10,3; in Verr. II 5,185). Vgl. ferner: K. Schneider, Art. "παλαίστρα": PW 18,2 (1942) 2472/97, ebd. 2495; H. Siska, De Mercurio ceterisque deis ad artem gymnicam pertinentibus (Diss. Halle 1933), wo (p. 3/5) Prudentius fehlt. 31 Gebildet natürlich in Analogie zu den hochepischen Wendungen armis insignis, spoliis insignis, aber etwa auch: ramis insignis olivae (Verg. Aen. 6,808) oder lituo ... insignis ...et hasta (ibid. 6,167, über Misenus) u. dgl. Zum πέτασος: Ε. Schuppe, PW 19,1 (1937) 1119/24, ebd. 1121.

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men) in typische Kombinationen. Bestimmte Gedanken oder Formen gehören fest in einen Gedankenzusammenhang oder in eine Bildkomposition. Sie haben darin ihren angestammten Platz. Und die einigende Kraft dieser typischen Zusammenhänge ist nicht selten stärker als das Bedürfnis, ihre einzelnen Elemente über die Grenzen der Komplexe hinweg | aufeinander abzustimmen. Die Palaestra hat ihren Platz im Zusammenhang der Idee einer palestra spiritalis des Christen, sie hat ihn aber auch - mit entgegengesetzter Bewertung - im Verbund der Polemik gegen heidnische Unmoral. Es gehört zu den Überraschungen prudentianischer Dichtkunst, daß das Gegensätzliche derart nebeneinandertreten kann, weil eben der typische Zusammenhang seine Herrschaft ausübt. Im ersten Buch gegen Symmachus wendet Prudentius sieben Verse auf, um die Vergänglichkeit des Materials, aus dem die Götterbilder gefertigt sind, anschaulich zu machen (c. Symm. 1,435/41). Aber was hier noch cariosorum ... monstra deorum sind (434), das sind wenig später pulcherrima ... ornamenta (503f.), die aufbewahrt werden und das christliche Rom schmücken sollen. Beiderlei steht in derselben Rede zusammen, die Prudentius den Kaiser Theodosius d. Gr. halten läßt (415/505). F. Solmsen nahm das als Beweis, daß die Verse 501/05 als späterer, mißglückter Zusatz des Dichters anzusehen seien32. Zu Unrecht. Es obwaltet nur wieder dieselbe Unbefangenheit in der Wahrung des Typischen. Die Hinfälligkeit des Materials gehört fest in die Polemik gegen die Götzen aus Stein, Stuck und Bronze33; aber die Schönheit der Kunst und die Leistung des Künstlers zu loben, liegt dem Christen gleichfalls nicht fern34. Heidnische Superstition zu bekämpfen 32 F. Solmsen, Philol. 109(1965)310/13. Dagegen W. Steidle, Vig. Chr. 25 (1971)272" 5 , dem S. Döpp, ebd. 40 (1986) 73 zustimmt. Beide wehren allerdings nur den vermeintlichen Widerspruch zwischen Buch I und Buch II (v. 39ff.) des Gedichts ab, ohne die von Solmsen angenommene Unstimmigkeit innerhalb der Theodosiusrede zu berühren. Das entscheidende Argument gegen Solmsen liegt in der Tatsache, daß die Theodosiusrede mit besagten Schlußversen (c. Symm. 1,501/05) in einer Art Ringkomposition zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt; denn dort (408/26) wird geschildert, wie die Dunstschwaden der Dämonen das Haupt der reichgeschmückten Roma umwölken, und es ist nur eine konkrete Ausführung des in diesen Versen enthaltenen allgemeinen Postulats der Reinigung der urbs, wenn dann am Schluß die Aufstellung der (vom Opferblut) gereinigten Bildnisse in der Stadt gefordert wird. 33 Diese drei Materialien bei Prud. c. Symm. 1,435/41. Vgl. H. Funke, Art. "Götterbild", RAC 11 (1981) 786f. Den "Topos" als solchen bemerkt auch Solmsen a.O. 3 1 1 \ der u.a. darauf hinweist, daß er durch den Wortlaut des kaiserlichen Edikts Cod. Theod. 16,10,12,2 (vom 8. Nov. 392) hindurchschimmere: mortali opere facta et aevum passura simulacra. 34 Ich erinnere hier nur an einen Passus in Augustins Confessionen. Der Autor fragt (conf. 11,5,7), wie Gott die Welt erschaffen habe - sicher nicht so, meint Augustinus, wie ein Künstler einem schon vorhandenen Stoff (Ton, Stein, Holz, Gold etc.) Form und Schönheit gibt. Gleichwohl stammen auch alle Mittel und Fähigkeiten des Künstlers von Gott und dienen daher dem

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und Teile der göttlichen Schöpfung anzuerkennen: das sind nur eben verschiedene Zusammenhänge. Aber man kann sich leicht denken, welcher Reiz zur | Erklärung oder Beseitigung des scheinbar Widersprüchlichen von solchen Verhältnissen allezeit ausgehen mochte. Ich sagte: auf vergleichende Beobachtung solcher Erscheinungen komme es an. Und dabei gilt es, über Prudentius hinaus auf die entsprechenden Verhältnisse auch bei anderen Autoren zu schauen. Jachmann forderte einst, vom Ausoniustext ausgehend, vergleichende Studien für Prudentius und Paulinus v. Nola35. Man kann Claudian hinzufügen36 - und vor allem Juvencus37. Zu seinem Bibelepos sind ganzzeilige Interpolamente in beträchtlicher Zahl überliefert: die sog. "Plusverse". Der Ausdruck trifft freilich schlecht, weil er die Tatsache verdunkelt, daß es sich bei den gefälschten Zeilen größtenteils um Ersatzfassungen handelt, also um Verse, die nach Absicht ihres Verfassers zum originalen Text nicht im Verhältnis des Plus stehen, sondern ihn eben in bestimmtem Umfang ersetzen sollen. Und zwar ist es gerade der älteste Textzeuge, der Codex Collegii Corporis Christi Cantabrigiensis 304 ( = C bei Huemer), welcher die meisten Dubletten und Zusätze mitführt. Er gehört in die erste Hälfte des achten Jahrhunderts38. Durch die Existenz der gefälschten Verse in C und in anderen Codices vorkarolingischer und karolingischer Zeit sowie durch die Überlieferungslage insgesamt wird der antike

Lob des Schöpfers: "Tu fabro corpus, Tu animam membris imperitantem fecisti, Tu materiam, unde facit aliquid, Tu ingenium, quo artem capiat et videat intus quid faciat foris, Tu sensum corporis, quo interprete traiciat ab animo ad materiam id quod facit, et renuntiet animo quid factum sit, ut ille intus consulat praesidentem sibi veritatem, an bene factum sit. Te laudant haec omnia creatorem omniumDies steht - in allgemeinerer Weise - auch hinter den Prudentiusversen (c. Symm. 1,501/05), die weit mehr sind als Ausdruck einer kulturpolitischen Konzession. Die Schönheit der Kunstwerke bekundet die ars summa des allmächtigen Schöpfers, die durch den Künstler wirkt: Aug. div. quaest. LXXXIII 78 (PL 40,89f.). 35 Jachmann 490. 36 Hierzu verweise ich auf meine "Beobachtungen zum Claudiantext", Studien zur Literatur der Spätantike, Antiquitas, Reihe 1, Bd. 23 (Bonn 1975) 45-90 [in diesem Band S. 16/67], Der neue Editor Claudians, J.B. Hall, hat weder in der Ausgabe (Leipzig: Teubner 1985) noch in seinen Prolegomena to Claudian (Lyndon 1986) etwas vorgebracht, was mich zu einer Änderung meines Urteils im Ganzen oder im Einzelnen veranlassen könnte. Übrigens ist das Binneninterpolament Eutr. 1,469/70 (inter... falsi) - aufgedeckt Riv. di Filologia e di Istruzione Classica 110 (1982) 435/41 - in der Ausgabe (p. 161, Apparat z. St.) falsch begrenzt. 37 Jachmann ist selbst nie auf Juvencus eingegangen, wohl deshalb nicht, weil ihm der Gegenstand zu fern lag. 38 Von einer Juvencus-Handschrift des sechsten oder siebten Jahrhunderts sind Fetzen eines Blatts in der Vaticana (Lat. 13501) erhalten: H. Thoma, "The oldest manuscript of Juvencus", Class. Rev. 64 (1950) 95f. Hier auch die Urteile über das Alter des Cantabrigiensis.

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Ursprung der Interpolamente zwingend nahegelegt39 und die verbreitete Anschauung, derartige Fälschungen seien das Erzeugnis der "Leser", "Schreiber" oder "Erklärer" (Glossatoren) mittelalterlicher Zeit, für diesen Autor in unleugbarer Weise ausgeschlossen. Aber die besonderen Verhältnisse, die den Juvencustext eigentlich zum Übungsfeld für das Studium des antiken Interpolationswesens hätten machen müssen, nützten wenig. Denn man suchte hier mit umso größerem Eifer die Ausflucht in umgekehrter Richtung und wähnte, was da an "Plusversen" - von der umfassenden Kleininterpolation, die über das Werk hinweggegangen ist, nicht zu reden - in den Handschriften auftaucht, müsse mindestens teilweise dem Autor selbst zugetraut werden. Die Theorie der Autorvariante, bei Prudentius längst zurückgedrängt, behauptet sich bei Juvencus heute | unangefochten. Die beiden kritischen Ausgaben, die dieser erste bedeutende Dichter der christlichen Latinität erhielt, liegen mehr als hundert Jahre zurück. In kurzem Abstand erschienen damals die Teubneriana von Karl Marold (1886) und Johannes Huemers Edition im Corpus Vindobonense (CSEL 24, 1891). Während Marold die "Plusverse" allesamt für unecht hielt, glaubte Huemer sie größeren Teils als authentische Doppelfassungen dem Autor selbst vindizieren zu können40. Schon bald erkannte man freilich, daß das ganze Problem einer neuerlichen Behandlung bedürfe 41 , aber es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis die Aufgabe in Angriff genommen wurde: Nils Hansson, Textkritisches zu Juvencus (Lund 1950), 60ff. Leider hat sich Hansson in der Gesamtauffassung des wichtigen Überlieferungsbefiinds von Huemer, den er im Einzelnen, vor allem in der Darbietung des handschriftlichen Befunds zu wichtigen Stellen, verbessert, nicht zu lösen vermocht: wie Huemer nimmt er zwar unechte Verse an, hält aber andere, und zwar offenbar die Mehrzahl, für echt, wobei er noch unter den Dubletten die vermeintlich frühere und spätere Fassung des Dichters zu

39 Es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, daß die "Plusverse" großenteils aus dem Archetypos stammen, den Hansson a.O. (unten S. 376) 27/30 ins 5. oder 6. Jh. setzt. Vgl. dazu auch unten Anm. 54. 40 Vgl. Huemer praef. p. XXXVII sq. 41 M. Petschenig in der Rezension der Huemerschen Ausgabe: Berl. Philolog. Wochenschr. 11 (1891) 137/44, ebd. 138: "Ich halte es daher für unbedingt notwendig, daß diese zweifachen Lesarten gründlich untersucht werden". Selbst wies er allerdings auch den Weg, der tiefer in die Irre führen mußte, indem er, jeweils nach zweifelhaften Kriterien, gewisse Parallelverse in C für unecht, andere für echt erklärte. Marold dagegen ließ sich nicht beeindrucken, vgl. Berl. Philolog. Wochenschr. 12 (1892) 845: "Meiner Meinung nach ist auch nicht eine der Doppellesarten und auch nicht einer der Plusverse auf den Dichter zurückzuführen".

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scheiden sucht, so daß sich mit dem Echtheitsproblem jeweils ein Prioritätsproblem verbindet: ein Unterfangen, dessen Aussichtslosigkeit schon Marold völlig richtig erkannte42 und dessen Scheitern sich bei Hansson selbst durch die scheinbar abwägende, in Wahrheit aber unsichere Art, mit der die Ergebnisse vorgetragen werden, deutlich zu erkennen gibt. Hanssons Hauptfehler lag darin, daß er von vorgefaßten, ungeprüften Kriterien der Echtheit ausging bzw. solche Kriterien allein aus den 32 "Plusversen" bei Juvencus (von denen er überdies nur einen Teil behandelte) gewinnen wollte. Wie bitter rächte es sich, daß er darauf verzichtete, aus dem reichen Vorrat einschlägiger Beobachtungen zu schöpfen, den | Jachmanns Forschungen angesammelt hatten! Wo Hansson auf eine schwächere, ungefüge oder dunkle Formulierung stößt, wie etwa im Falle der Verse 1,696a oder 4,30a, glaubt er einen "ersten Entwurf' des Dichters oder eine "ältere Version" des Verses zu greifen (pp. 66, 75). Er operiert also mit stilistischen Kriterien, deren Nutzen für die Diagnose interpolatorischer Arbeit hundertfach erprobt ist, deren Anwendung auf die Feststellung verschiedener Schaffensperioden des Juvencus dagegen pure Willkür bedeutet. Unklarheit in Wort und Gedanke ist ein Merkmal der Falsifikation bei Vergil ebenso wie bei Juvenal, bei Ausonius ebenso wie bei Prudentius43. Aber wer sagt uns, daß derlei für einen "frühen" Juvencus gelte? Der Dichter, der in Prolog und Epilog höchsten Anspruch anmeldete, der sich wahrhaft ewigen Ruhm erhoffte (l,15ff.), der dem göttlichen Gesetz durch seine Verse Schmuck verleihen wollte (4,805: ornamenta... terrestria linguae), soll gleich reihenweise schlechte oder verbesserungsbedürftige Verse vorgelegt haben? Daß das starke

42 Vgl. K.Marold, Berl. Philolog. Wochenschr. 12 (1892) 843/47, ebd. 844: "Ein stichhaltiger Beweis dafiir (d.h. dafür, daß die Mehrzahl der Plusverse auf Juvencus zurückgehen) wird sich schwer beibringen lassen, und auch Huemer kann nur sagen, daß der Dichter mit großer Mühe arbeitete und jene Plusverse oft an Stellen ständen, wo ein Glossator keine Ursache zur Änderung oder Erklärung hatte". Es verdient durchaus Anerkennung, daß Marold - der freilich unpassenderweise vom Glossator redet statt vom Interpolator - die Hohlheit jenes Echtheitskriteriums erkannte, das in der Begründbarkeit oder Nichtbegründbarkeit einer Fälschung liegen soll. Denn Huemer, Ausg. p. XXXVII nahm es ebenso unbedenklich an wie später Hansson, vgl. unten S. 181f. [378], Wie sich denken läßt, hat Hanssons Verfahren auch bei manchem Rezensenten Bedenken ausgelöst - vgl. etwa J.H. Mozley, Class. Rev. N.S. 2 (1952) 90 aber es fehlt doch, soweit ich sehe, der entschiedene Widerspruch, der umso nötiger erscheint, als gerade gewisse Verdienste dieser Arbeit über ihre methodische Schwäche in Behandlung der Hauptfragen hinwegtäuschen können. 43 Vgl. Jachmann passim, z.B. 8091 anläßlich des Oxforder Fragments zur sechsten Satire Juvenals: "Die obscuritas war eben bei diesen Quasidichtern eine weitverbreitete Eigenschaft η

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Selbstgefühl des Dichters eine Ausgangslage schafft, die der Theorie der Autorvarianten besonders wenig entgegenkommt, hat ebenfalls schon Marold ausgesprochen44. Weiter legt Hansson großen Wert auf Übereinstimmungen mit dem Sprachgebrauch des Autors45. So wertvoll auch seine diesbezüglichen Mitteilungen sein mögen, für die Echtheit der Verse ergibt sich daraus gar nichts. Gerade hierüber hätten ihm Jachmanns Abhandlungen vielfachen Aufschluß erteilen können46. Wie das vorhin besprochene Interpolament nicht etwa deswegen echtes Dichterwort ist, weil darin das Substantiv luctamen vorkommt, das auch der echte Prudentius hat, und zwar sogar in ähnlichem Kontext47, so zeugen auch sonst sprachlich-stilistische Verwandtschaften zwischen dem angezweifelten und dem zweifelsfreien Textbestand weder für die Echtheit noch gegen sie. Denn die Redaktoren kennen mitunter ihren Autor recht gut und rüsten sich mit seinen Mitteln. Und Gleiches gilt auch für die | Reminiszenzen aus Vergil und anderen Klassikern, mit denen die Interpolatoren aufwarten48. Entschiedenen Widerspruch erfordert schließlich - und damit lenke ich zu unserem Ausgangspunkt zurück - Hanssons Verfahren, den (wirklichen oder vermeintlichen) Mangel eines Motivs der Fälschung zum Kriterium der Echtheit zu erheben. Kaum eine Lehre hat Jachmann so oft und so entschieden bekämpft wie eben diese: daß jede Fälschung ihr Motiv müsse erraten lassen, um als Fälschung durchzugehen. Die Unbefangenheit, mit der Hansson gerade diese Voraussetzung macht, beweist, daß er in Sachen der Echtheits-

44 K.Marold, Berl. Philolog. Wochenschr. 12 (1892) 845. 45 Vgl. etwa Hansson a.O. 76 zu den Dublettenversen 2,28a, 29a: weil ventorum rabies als Hexameteranfang in 3,230 wiederkehrt; weil die Junktur abruptos ... monies in 1,397 abrupti montis und 3,318 abruptum montem "so gute Parallelen" hat; weil der hyperbolische Ausdruck trans sidera auch andernorts (bei Juvencus 1,495; 2,222; bei Verg. Aen. 1,102) vorkommt, sollen wir in alledem Indizien der Echtheit sehen. 46 Vgl. etwa Jachmann 213. 47 Vgl. Prud. c. Symm. 2,143b und per. 5,215 (ausgeschrieben oben S. 173 [371]). Mit diesem Hinweis trat einst Alfonsi für die Echtheit des Interpolaments ein, vgl. den Widerspruch bei Schmid a.O. (oben Anm. 22) 18421 bzw. 37621: "... antike Rezensoren bestreiten ihre Extratouren nicht selten mit dem sprachlichen Material des betreffenden Autors ...". Das Argument war freilich in jenem Fall besonders schwach, weil die Substantiva auf -men in der hexametrischen Dichtung allgemein beliebt sind. 48 Christine Ratkowitsch, " Vergils Seesturm bei Juvencus und Sedulius", JbAC 29 (1986) 40/58, ebd. 43f. zeigt, daß auch der Verfasser der Verse Juvenc. 2,28a, 29a nach bekannten Vorlagen arbeitete (s. oben Anm. 45). In der Echtheitsfrage übt sie Zurückhaltung. Zur Vergilbenutzung der Interpolatoren vgl. auch Vivarium, Festschrift Th. Klauser, JbAC Erg.Bd. 11 (1984) 140f. [in diesem Bande S. 97],

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kritik nicht auf der Höhe war49. "Wir müssen anerkennen, dass die Interpolatoren mitunter ganz aus freien Stücken und aus reiner Spielerei ihr Wesen in den Texten trieben", erklärte Jachmann50 schon i.J. 1935, und gerade weil auf den vorstehenden Seiten erheblicher Raum aufgewandt wurde, um das Motiv einer Interpolation im Prudentiustext aufzuhellen, sei diese Erkenntnis Jachmanns hier in Erinnerung gebracht. Nun steht es allerdings nicht so, als ob sich für die Interpolamente im Juvencus in der Regel kein Motiv ausfindig machen ließe! Die Regel lautet vielmehr auch hier umgekehrt: "Allein in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ... sind ihre Motive (d.h. die Motive der Interpolatoren) durchsichtig"51. Ich greife einen einfachen Fall heraus, der sich kurz abmachen läßt. Die Berufung und Aussendung der zwölf Apostel nach Mt. 10, Iff. (et convocatis duodecim discipulis suis dedit Ulispotestatem ... hos duodecim misit Jesus, praecipiens eis, dicens: ... eqs.) wird im C-Text des Juvencus folgendermaßen wiedergegeben (2,430/32): 430 431 431a 432

haec fatus populo ex omni delecta seorsum fortia conglomerat bisseno pectora coetu. bis sex consociat fidorum corda virorum. hos ubi delegit, praeceptis talibus inplet: ... eqs.

| In anderen Handschriften geht der Dublettenvers (431a) dem echten (431) vorauf, in zwei weiteren steht er an Stelle des echten im Text52 - Verhältnisse 49 Bereits einleitend zu dem ganzen Problem bemerkt er (a.O. 61): "In zahlreichen Fällen sind klare Gründe für eine stilistische Umarbeitung nicht zu erkennen". In der Praxis wird daraus ein Argument, vgl. a.O. 67 zu 2,452a, b: "Ausserdem ist nicht der geringste Grund für eine fremde Umarbeitung von 4 5 l f zu entdecken". 50 Jachmann 377. Vgl. dens. 450, 543, 561', 630 (gegen Kirchhoff) u.ö., bes. 542: "Vor allem, immer wieder die verfehlte Denkweise, die man bedauert mitunter sogar bei Wilamowitz zu treffen, daß nämlich jede Interpolation nach Anlaß und Zweck durchsichtig sein müßte. In Fällen, wo man allein auf innere Kriterien angewiesen ist, vernichtet dieses trügerische Postulat gewöhnlich die Früchte der kritischen Einsicht. Andererseits pflegen die zahllosen Fälle, wo es selbst durch urkundliche Zeugnisse vernichtet wird, unbeachtet zu bleiben." Jachmann sagte noch zu wenig. "Das trügerische Postulat" wird sogar, wie Hansson vorführt, gegen das urkundliche Zeugnis eingesetzt, um Echtheit zu erweisen. 51 Jachmann 377. 52 Vgl. die Angaben bei Hansson a.O. 83. Der Vers gehört zu denjenigen, die Hansson nur registrierend abmacht (ihre Bezeugung in den Handschriften sowie ihre Beurteilung durch seine Vorgänger verzeichnend). Solches Vorgehen ist in einer Spezialuntersuchung an sich schon unbefriedigend. Es zeigt, wie wenig dem Verfasser an einer Zusammenschau der Vorgänge gelegen war. Er hat sein Verfahren dann auf "Varianten zu Phrasen und einzelnen Wörtern" (85ff.) ausgedehnt, indem er auch hier Autorvarianten aus den "sicheren Fälschungen" auszusondern versucht: eine Arbeit, die im Einzelnen nützlich ist, im Ganzen verfehlt.

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wie sie bei Juvencus immer wiederkehren und wie sie ja auch aus der Prudentiusüberlieferung bekannt sind. V. 431a ist zweifellos interpolierter Ersatz, entstanden aus dem trivialsten aller diaskeuastischen Motive: dem Streben nach Simplifikation. Fidorum corda virorum, gesagt von den Jüngern, ist einfacher als fortia... pectora, consociat schwächer als conglomerat (dies nur hier bei Juvencus), bis sex ... corda im Vergleich zu bisseno ... coetu ohne jede Kühnheit. Nicht immer läßt sich aber eben die Absicht des Fälschers mit solcher Klarheit fassen. Das gilt gleich für den nächsten Fall. Er betrifft die Worte des Herrn an die Jünger Mt. 10,1 Iff.: in quacumque civitate intraveritis, interrogate, quis in ea dignus est; et ibi manete, donec exeatis. intrantes autem in domum, salutate earn, dicentes: pax huic domui. et si fuerit domus illa digna, veniet pax vestra super earn; si autem non fuerit digna, pax vestra ad vos revertetur. et quicumque non receperint vos neque audierint sermones vestros, exeuntes foras de domo vel civitate, excutite pulverem de pedibus vestris. C gibt dazu folgenden Juvencus-Text53 (2,445ff.): 445

450 451 452 452a 452b

ingressi muros urbis perquirite semper, hospitio quorum par sit succedere iustis; ingressique dehinc pacem sub tecta vocate. si tranquilla domus fuerit, pax illa manebit, sin erit indignis habitantum moribus horrens, diffugiet vestrumque abitum pax vestra sequetur. excludet quicumque ferus vos limine tecti, auribus aut duris spernet vitalia verba, sin adversa Dei famulos succedere tectis hospitiique focos miscere gravata vetabit, excutite egressi domibus vestigia vestra, haereat iniustae ne vobis portio vitae.

Will man nicht annehmen, daß der Verfasser der gefälschten Verse mit Vers 451 auch Vers 452 ausräumen und folglich die Herrenworte:... neque audierint sermones vestros ohne Wiedergabe lassen wollte, wird man die beiden Verse 452a, b trotz ihrer Stellung hinter V. 452 als doppelzeiligen | Ersatz des 53 Die Verse 452a, b sind allerdings in C "fast völlig getilgt", vgl. Hansson a.O. 66f. mit den weiteren Angaben. C hat im übrigen V. 452a sin nicht sive, wie Huemer angibt.

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einen Verses 451 anzusehen haben54. In Hanssons Beweisführung zugunsten der Echtheit der Ersatzverse vereinen sich seine beiden trügerischen Kriterien: das der Übereinstimmungen mit dem Sprachgebrauch des Autors und das der Grundlosigkeit der Umdichtung55. Beide Feststellungen, auch die letztere, könnte man, wie gesagt, durchaus anerkennen, ohne daraus dieselbe Folgerung ziehen zu müssen wie Hansson. Bei näherem Zusehen zeichnet sich freilich auch hier ein Motiv der Textänderung ab. Denn die Zeilen 452a, b gehören in den weiten Bezirk der "syntaktischen Interpolation"56. In der echten Fassung: 451

excludet quicumque ferus vos limine tecti auribus aut duris spernet vitalia verba excutite egressi domibus vestigia vestra, ... eqs.

fehlt dem verallgemeinernden Relativum ein Beziehungswort (wie bei Matthaeus). Der Satz gehört zu den Relativsätzen ohne Bezugsmasse (LeumannHofmann-Szantyr, Lat. Gr. Up. 555f.). Vergleichbar istHoraz serm. 2,5,51f.: 51

qui testamentum tradet tibi cumque legendum, abnuere et tabulas a te removere memento.

Housman hat gezeigt (zu Lucan 6,550), wie solche Konstruktion gelegentlich von modernen Kritikern mißverstanden wurde, und es läßt sich leicht denken, 54 Zu diesem Ergebnis scheint auch Hansson a.O. 68 zu gelangen, nachdem er allerdings zuvor die Dublettenverse so behandelt hat, als seien sie als Ersatz fiir V. 451 und fur V. 452 gedacht. Es verdient im übrigen Beachtung, daß die Ersatzverse in C sonst jeweils als einzelne hinter dem zu ersetzenden Vers stehen, und zwar auch dann, wenn (wie im Falle von 2,28/29; 385/86) zwei oder (wie im Falle von 2,522/24) gar drei echte Verse neben einer gleichen Anzahl interpolierter Zeilen geführt werden. Solche Organisation geht letzten Endes - ganz gleich, welche Vorstellung man sich vom Archetypos macht (vgl. Huemer praef. p. XXXVII: "archetypus non solum verba discrepantia, sed versus totos vel in margine adscriptos vel supra lineas positos habuisse videtur..." etc., ebenso Hansson a.O. 28f.) - nicht auf Interlinear- oder Marginalglossen zurück, sondern auf die Anlage einer kritisch adnotierten Gelehrtenausgabe der Spätantike, die das echte und unechte bzw. zweifelhafte Textgut vereinte, vgl. etwa Jachmann 380/84 sowie oben Anm. 14. Und es dürfte im Bereich der lateinischen Literatur kaum eine Urkunde geben, die ihre Abkunft von einer solchen Ausgabe deutlicher offenbart als der Cantabrigiensis des Juvencus (trotz der fortlaufenden Schreibung der Verse). In der modernen Juvencus-Philologie wird freilich solche Erklärung des auffälligen Befunds nicht einmal als Möglichkeit in Betracht gezogen, obschon man spätestens seit Ribbecks Prolegomena zur Vergilausgabe (Leipzig 1866, p. 153) über die Folgen des Zerfalls kritischer Editionen der Antike hätte Bescheid wissen können. 55 Hansson a.O. 67f., vgl. das Zitat oben Anm. 49. 56 Zum Begriff s. Jachmann 215", 244f., 595 u.ö.

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IX.

Palestra

bei Prudentius

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daß sie hier den antiken Redaktor zur Änderung und (mühsamen) Angleichung an die Syntax der voraufgehenden Zeilen (448f. si... sin) herausforderte57. Vielleicht hat auch noch das eine Wort ferus (V. | 451) mitgewirkt. Gerade weil der echte Vers schlicht ist und dem Bibeltext deutlich folgt (vgl. quicumque), sticht das Wort hervor: es ist stark, kühn, geht über den biblischen Wortlaut hinaus. Daß ein einzelner Ausdruck zu einer doppelzeiligen Umdichtung reizen konnte, lehrte ja auch die palestra-Metapher bei Prudentius. Wieviel blasser und verschwommener nehmen sich jedenfalls die Wörter adversa und gravata, sc. domus im interpolierten Text aus! Überhaupt kann ich an den beiden Zeilen 452a, b nichts entdecken, was die Auffassung rechtfertigte, sie stellten "eine spätere Formulierung des Juvencus" dar (Hansson), also eine verbesserte. Mitnichten. Auch wenn man die Wortwiederholungen (succedere, hospitium: vgl. V. 446) für unerheblich erachtet, so bleiben doch andere Mängel: Flecken, die Hansson zum Teil selbst gesehen, aber nicht als solche hat gelten lassen. Die Wendung: hospitiique focos miscere (452b) wirkt verschroben. Die Formulierung beim echten Juvencus 2,39: Illi inter sese timidis miracula miscent Conloquiis, quae... eqs. (miracula für admirationem, vgl. Mt. 8,27: mirati sunt dicentes) ist noch nicht einmal "einigermassen vergleichbar" (Hansson), da es hier um ein Austauschen und Mitteilen (miscere) im Gespräch geht. Desgleichen bei Sen. epist. 3,3 (von Hansson als beste Parallele außerhalb des Juvencus genannt):... cum amico omnes curas, omnes cogitationes tuas misce. Außerdem verschiebt sich der Gedanke, da der Eindruck erweckt wird, als gehe es irgendwie um Aufnahme oder Verweigerung gegenseitiger Gastfreundschaft58. Mit 452a Dei famulos fällt der sprechende Christus zudem seltsam aus der direkten Anrede Seiner Sendboten heraus, welche sonst die gesamte Rede beherrscht und prägt (vgl. bes. 437 vobis, 439 vobis, 440 vos, 442 vos [Acc.], 450 vestrumque abitum, 451 vos [Acc.], 453 vestigia vestra, 454 vobis, 458 vos, 460 vobis, 462 vos [Acc.], 464 vos [Acc.] usw.). Auch in der Abfolge der Konjunktionen: si (448), sin (449), sin (452a) kann ich keine Eleganz erblicken, da hier (anders als 3,419ff.) sin kurz hin57 Syntaktische Interpolationen ganzer Verse, die sich aus dem Bestreben erklären, dem Relativum eine fehlende Stütze zu geben: Jachmann 822' (zu Juvenal). Übrigens sind die von Hansson a.O. 67 aus Juvencus beigezogenen Parallelen für quicumque gleich si quis (1,493; 2,504) unserem Fall nicht voll kommensurabel. 58 Also h. focos miscere etwa wie consortia, conubia, convivia, mores, ritus miscere (Pfligersdorffer, ThLL 8, 1084,34ff.), vgl. Cypr. Gall. iud. 134 (CSEL 23,184): nec solos sociant ritus, consortia miscent (sc. Iudaei cum gentibus)... eqs.

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tereinander in ungleichem Sinne zu stehen kommt: rein adversativ in V. 449, überleitend in V. 452a ( = et si, vgl. Hansson p. 67). Die Wirkung der klaren Alternative in V. 4 4 8 / 5 0 wird dadurch gemindert. Vollends unerträglich ist die Fügung: Sin adversa (sc. domusl) ... vetabit, Excutite egressi domibus vestigia vestra. Fürwahr kein Anzeichen reiferen Formwillens! Mit Recht hat man in jüngster Zeit eine vergleichende Behandlung der sog. "Plusverse" bei Juvencus und der entsprechenden Erscheinungen in der Prudentiusüberlieferung vermißt59. Die Grundlage solcher Studien ließe sich | ohne sonderliche Mühe60 gewaltig verbreitern, wofern man bereit wäre, die Untersuchungen Jachmanns zu Rate zu ziehen.

Vgl. R. Herzog, in: Restauration und Erneuerung. Die latein. Lit. von 284 bis 374 n.Chr., hrsg. von R. Herzog u.a. (München 1989) 335. Daß wir allerdings in den Autorvarianten (als solche werden sie ohne weiteres angenommen) das "Ergebnis erbaulicher Darstellungstendenz" zu sehen hätten, wie Herzog unter Hinweis auf seine Bibelepik I (München 1975) 144" 4 lehrt, ist eine seltsame und verkehrte Devise, deren Befolgung nur dazu fuhren würde, die Phänomene in der Textgeschichte christlicher Autoren vom allgemeinen Zusammenhang mit dem antiken Interpolationswesen zu lösen und erneut zu isolieren. Die Motive, soweit erkennbar, sind eben vielfältig. Herzogs weitere Mitteilung, die Doppelfassungen bei Juvencus seien "seit O. Korn" (Beiträge zur Kritik der Historia evangelica des Juvencus, Progr. Danzig 1870) zum größten Teil als Autorvarianten gedeutet worden, führt irre; denn gerade Korn vertrat entschieden die Auffassung, daß jeweils nur eine der parallelen Versionen echt sein könne (Korn a.O. 22f.; vgl. Hansson a.O. 72 38 ). 60 Gute Dienste würden allerdings Sach- und Stellenregister zu den beiden Bänden der Jachmannschen Schriften (s. oben Anm. 7 und 8) leisten, welche seine Theorie und deren Ergebnisse entschlüsseln. Solche Register liegen vor (angefertigt von R. Henke), sind aber noch ungedruckt. 59

χ. DAS TEMPLUM ROMAE UND DIE STATUENGRUPPE BEI PRUDENTIUS, C. SYMM. 1,215/237* Als im 17. Jahrhundert Famiano Nardini zum ersten Mal in den großen Ruinen auf der Velia die Reste des Doppeltempels der Venus und der Roma erkannte1, stützte er sich auch auf einige Prudentiusverse, in denen der Tempel erwähnt wird. Und als in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts die Ergebnisse der Restauration des Areals in einer Publikation zusammengefaßt wurden, setzte der Autor, Antonio Munoz, dieselben Verse (c. Symm. 1,219/ 222) als Motto über seine Abhandlung2. Auch sonst werden die Zeilen gelegentlich zitiert, so etwa im Dictionary von Platner-Ashby3, aber kaum jemals sind sie in dem Zusammenhang betrachtet worden, in den sie gehören. Gewisse Ausnahmen bilden P. Allard, Rome au IVe siecle d'apres les poemes de Prudence (Revue des questions historiques 36, 1884, 5/61) und A. Cerri, Archeologia Romana nel Contra Symmachum di Prudenzio (Athenaeum, N.S. 41, 1963, 304/317). Allard (6f.) bietet jedoch kaum mehr als eine Paraphrase, Cerri versucht, kritischer zu sein, beobachtet aber den Text nicht immer scharf genug. Wie genau das sachliche, d.h. das topographische, archäologische und historische, Substrat der prudentianischen Götterkritik zu nehmen ist, hat unlängst D. Fishwick am Beispiel einiger Verse aus der Nachbarschaft unserer Stelle gezeigt4. Wenn ich hier auf die Erwähnung des Templum Urbis bei Prudentius zurückkomme, geschieht das in der Hoffnung, durch Rücksicht auf den Context jene Versreihe besser aufzuhellen und vielleicht einige neue Erkenntnisse über eine dort erwähnte Statuengruppe zu gewinnen. Dem Dichter selbst soll vor allem durch Athetese zweier Zeilen geschuldeter Dienst erwiesen werden.

* Boreas 17,1994 = Bild-und Formensprache der spätantiken Kunst, Festschrift Hugo Brandenburg, 65/88. 1 Famiano Nardini, Roma antica, Roma 1666, libro III, capo XII; in der Neuausgabe von A. Nibby, torn. I, Roma 1818 (Nachdruck 1988), 286f. 2 A. Munoz, La sistemazione del tempio di Venere e Roma, Roma 1935. 3 S.B. Platner - Th. Ashby, A Topographical Dictionary of Ancient Rome, Oxford/London 1929, 553f. s.v. Venus et Roma. 4 D. Fishwick, Prudentius and the Cult of Divus Augustus: Historia 39 (1990) 475/486 (zu Prud. c. Symm. 1, 245/248).

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I. Das Templum Romae Prudentius schildert im ersten Buch Contra Symmachum (l,42ff.), wie der moralisch verderbliche Polytheismus durch Vergötterung schlauer Betrüger entstand und sich über drei Stufen oder Zeitalter hinweg immer mehr ausbreitete, bis er schließlich in der Stadt Rom seinen Sammelplatz und Mittelpunkt fand. Hier unterbricht der Autor die historische Linie, um die Entwicklung, die er im Großen nachzeichnete, auf analoge Weise im Leben des Einzelnen zu verfolgen (l,197ff.). Er zeigt, wie das Kind in Rom allmählich in den Götterkult hineinwuchs und, überwältigt von den Einflüssen seiner Umgebung, völlig der Macht der Gewohnheit erlag. Dabei werden zwei Phasen der Kindheit unterschieden: das Leben des Kleinkinds unter der Obhut der Mutter und der Amme im Hause (l,199 ex 7214) und die Zeit, da das Kind das Haus verläßt und am Leben in der Öffentlichkeit teilnimmt (l,215ff.). Beide Szenen sind fein aufeinander abgestimmt, denn in beiden Lebensabschnitten zeichnen sich trotz der verschiedenen Umstände dieselben Mittel der Wirkung ab: die sinnlichen Eindrücke, die das Kind empfing, und das Beispiel der Personen, denen es vertraute, festigten seine Verehrung der Götterbilder im privaten Kult, und auf dieselbe Weise, nur noch stärker, wirkte der Staatskult, den das Kind erlebte, sobald es aus dem Hause trat (l,215ff.): 215

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iamque domo egrediens, ut publica festa diesque et ludos stupuit celsa et Capitolia vidit | laurigerosque deum templis adstare ministros ac sacram resonare viam mugitibus ante delubrum Romae - colitur nam sanguine et ipsa more deae nomenque loci ceu numen habetur atque Vrbis Venerisque pan se culmine tollunt templa, simul geminis adolentur tura deabus - , vera ratus, quaecumque fiant auctore senatu, contulit ad simulacra fidem dominosque putavit aetheris, horrifico qui stant ex ordine vultu.

Ein einziges Satzgefüge überwölbt diese elf Verse. Die temporalen Sätze (ut... stupuit... vidit... eqs.) geben die Eindrücke des Kults, danach wird die lange Parenthese über den Doppeltempel eingeschoben, den Hauptsätzen noch eine den ganzen Vers 223 füllende Partizipialkonstruktion vorgelagert (vera

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X. Das Templum Romae

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ratus ... eqs.), bis sich die Spannung schließlich in den Aussagen der Verse 224/225 entlädt. Der Aufbau ist kunstvoll, auch die Parenthese hat Wirkung5. Die ganze Gedankenbewegung richtet sich auf ein einziges Ziel: die Idololatrie bildet das unausweichliche Resultat aller Erlebnisse.

V. 215/219in Prudentius nennt zunächst allgemeine Eindrücke und schreitet dann zum Besonderen fort, wobei auch ein gewisses Anwachsen der Glieder zu beobachten ist: das Kind staunt über die Feste und Spiele, sieht den "hochragenden Kapitolstempel"6, sieht das gottesdienstliche Personal7 lorbeerbekränzt8 vor den Tempeln stehen und hört - videre (216) nimmt in bezug auf das dritte Objekt die allgemeinere Bedeutung eines Verbums der Wahrnehmung an9 auf der Via sacra vor dem Romatempel die Rinder brüllen. Priester und Opfertiere stehen natürlich deshalb vor den Tempeln, weil die sakralen Handlungen jeweils am massiven Hauptaltar vor der Tempelfront stattfanden. Aber 5 Vgl. M. von Albrecht, Die Parenthese in Ovids Metamorphosen und ihre dichterische Funktion, Diss. Tübingen 1959 (Hildesheim 1964) = Spudasmata 7,103ff. über den Typ der "erläuternden Parenthese": sie braucht nicht der "psychologischen Funktion" zu entbehren, die auf mannigfache Weise erfüllt werden kann, vgl. ebd. 114ff. Beispiele gleicher Stellung der Parenthese im Satzgefüge ebd. 53 (z.B. Ov. met. l,535ff.; 4,673ff.). Eine entsprechende Untersuchung fehlt für Prudentius (vor den Hauptsatz gestellt ist die lange begründende Parenthese zu Beginn der Romarede c. Symm. 2,658/660). Hinsichtlich der Inversion des nam übt Prudentius durchaus nicht die Zurückhaltung Ovids (v. Albrecht 59). 6 Capitolia (216) geht auf den Tempel der kapitolinischen Trias, wie c. Symm. l,182f. und 2,834. Celsa Capitolia, eine verhaltene Angabe, aber typisch für den christlichen Dichter, der das antike Rom doch noch in seiner ganzen Prachtentfaltung kannte. Die Junktur ist vergilisch (Aen. 8,653). ν Ich verbinde (in V. 217) deum ... ministros, nehme also Sperrung der Wörter vor Hauptcaesur und Versende an; vgl. etwa Tac. Germ. 10,2 ministros deorum. Die Junktur templa deum bei Prud. kurz vorher: 1,190. Minister, mit und ohne nähere Bestimmung, steht von Priestern und Opferdienern: ThLL 8, 1000,23ff. (Bulhart), bei Prud. per. 10,1074f. von den Priestern der Cybele. 8 Laurigeri (217) geht auf die Bekränzung beim Opfer; man erinnert sich des Opferzugs auf der Ära Pacis: K. Baus, Der Kranz in Antike und Christentum, Bonn 1940 (1965) = Theophaneia 2,7/12 mit Taf. 1. Daran, daß bei bestimmten Gelegenheiten (bei den Supplikationen: Wissowa, Religion2, 424) das Volk Lorbeerzweige in den Händen trug, ist hier ebensowenig gedacht wie an die Verbindung des Lorbeers mit dem Kult Apollons. Im Thesaurus steht unsere Stelle richtig als (einziger) Beleg für lauriger "cum respectu quorumlibet sacrorum": ThLL 7,2,2, 1059,50ff. (van Wees - Β.). Bekränzung und velatio capitis gelten den Kirchenschriftstellern als typisch für das heidnische Opfer, vgl. außer Tertullians Kranzschrift (bes. Tert. cor. 10,6) z.B. Cypr. laps. 2 (CCL 3, 221, Z. 27ff.). 9 V. 216/218: vidit Capitolia, adstare ministros, resonare viam sacram. Über diesen Sprachgebrauch s. Norden zu Verg. Aen. 6,256ff.; Nisbet-Hubbard 1,183 zu Hör. carm. 1,14,6.

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es hat seine Bedeutung, daß Prudentius nur solche Begebenheiten erwähnt, die sich beim Gang durch die Stadt unmittelbar darbieten. Das Kind betritt nicht etwa das Innere der Tempel, sie waren ja ohnehin meist geschlossen; erst | recht nicht dürfen wir uns den jungen Römer auf der Suche nach versteckten Raritäten vorstellen. Es sind große Impressionen, die er aufnimmt. Wenn Prudentius davon spricht, daß die Via sacra vom Gebrüll der Rinder widerhalle10, denkt er gewiß an eines der aufwendigen Staatsopfer, bei denen eine Masse Vieh geschlachtet wurde11. Prudentius beschreibt, was ins Auge fällt, was nicht zu überhören ist.

V. 219 ex 7222 Daß der Autor gerade den Tempel der Venus und Roma stark hervorhebt, gründet im Anliegen seines Gedichts. Man könnte allenfalls sagen, daß dem Haupttempel auf dem Kapitol, der zuvor erwähnt war, nun der gewaltige Tempel der beiden Stadtgottheiten auf der Velia gegenübergestellt werden solle, wobei an einen Spaziergang durch das Forumstal zu denken sei. Aber das Interesse des Dichters ist nicht eigentlich topographischer Art. Er konnte gerade diesen Tempel kaum unerwähnt lassen, weil Roma als Stadt und als Person in seinem Gedicht eine bedeutende Rolle spielt. Diese Rolle war durch die Texte, die Prudentius bearbeitete, vorgegeben; denn sowohl bei Symmachus als auch bei Ambrosius tritt Roma redend auf 12 . Der Dichter hat diese Rolle weiter ausgestaltet: im ersten Buch wird Roma von Kaiser Theodosius angeredet und als Dame mit edelsteinbesetztem Stirnreif vorgestellt - man denkt an die Trierer Deckenbilder13; im zweiten Buch richtet sie selbst eine Anspra10 Mugitibus (218) weist auf das Rind als Opfertier, gewiß auf die bosfemina, entsprechend der bei Arnob. 7,19 bezeugten Grundregel; vgl. Wissowa, Religion2, 412f.; Latte, Rom. Rel. 381. Zugleich ergibt sich eine Steigerung gegenüber dem Opfer im Privatkult, das agnorum sanguine erfolgt (1,214); s. F.J. Dölger, ΙΧΘΥΣ 2, Münster 1922, 398'. 11 Vgl. Ammian. 25,4,17 über Kaiser Julianus Apostata (dessen Zeit Prudentius als Junge erlebte: apoth. 449f.): innumeras sine parsimonia pecudes mactans, ut aestimaretur, si revertisset de Parthis, boves iam defUturos ... eqs. 12 Symm. rel. 3,9f.; Ambros. epist. 73 (18 Maur.), 7 (CSEL 82,3, 36/38). Weitere Hinweise, bes. zur Abtrennung der Rede im Symmachustext: Hermes 118 (1990) 464/470. 13 Prud. c. Symm. 1,415/505, bes. 415/422. Vgl. H. Brandenburg, Zur Deutung der Deckenbilder aus der Trierer Domgrabung: Boreas 8 (1985) 143/189, bes. 172/177. Zum Sinn dieser descriptiven Details bei Prudentius s. Ch. Gnilka, ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur II. Kultur und Conversion, Basel 1993, 146ff., bes. 150.

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che an die regierenden Kaiser, diesmal in Gestalt einer Kriegerin, etwa nach Art des bekannten Minerva- oder Amazonentypus, der sich gerade durch die Kultstatue der Dea Roma verbreitete14. Eben darum mußte dem christlichen Dichter aber auch daran gelegen sein, jedes Mißverständnis seiner Personifikation fernzuhalten, und zu diesem Zweck wird hier die kultische Verehrung der Roma abgewiesen, im zweiten Buch die Annahme eines Genius urbis (populi Romani) der Lächerlichkeit preisgegeben15. Fragt man, was sich in topographischer oder archäologischer Hinsicht aus den fünf Versen 218/222 ergibt, läßt sich folgendes sagen: 1) Der Bau erscheint hier unter dem in der Spätantike geläufigen Namen: delubrum Romae (219), wie sonst templum Romae, templum Urbis16, wodurch im Zusammenhang der | ganzen Beschreibung ein Beweis für die Identität des so benannten Tempels mit dem Doppeltempel der Venus und Roma (Urbs) geliefert wird17. - 2) Die Lage des Baus ist recht genau getroffen. Die Via sacra läuft um die Südwestecke des Tempels herum18, der Tempelbezirk öffnet sich nach Westen über eine breite, flache Treppenanlage, die heute noch erhalten ist. Von der Seite des Colosseums her gab es Zugänge über zwei gestufte Rampen, an den Längsseiten führte jeweils ein propyläenartiger Eingang durch die doppelte Säulenreihe der Porticus. Wenn also die Opfertiere, wie aus Prudentius ersichtlich, auf der Via sacra stehen ante delubrum Romae, ist damit korrekt die westliche Tempelfront, gewissermaßen die Hauptfront des Doppeltempels, bezeichnet. Sie ge-

14 Cornelius C. Vermeide, The Goddess Roma in the Art of the Roman Empire, Cambridge (Mass.)/London 1959, 35/43; R. Mellor, The Goddess Roma: ANRW 17,2 (1981) 950/ 1030, hier 1016f. Über die Gestalt der Roma in Poesie und Kunst der Spätantike s. auch W. Taegert, Claudius Claudianus. Panegyricus dictus Olybrio et Probino consulibus, München 1988 = Zetemata 85, 126/129 zu den Versen 73/173; über Prudentius Ch. Gnilka, Der Gabenzug der Städte bei der Ankunft des Herrn: Iconologia Sacra, Festschrift Karl Hauck, hrsg. von H. Keller und N. Staubach, Berlin/New York 1994, 25/67, hier 66 zu Prud. per. 4,62 (jeweils mit weiterer Literatur). 15 Prud. c. Symm. 2,443ff. Vgl. Hille Kunckel, Der römische Genius = Rom. Mitt., Suppl. 20 (1974) 58ff. über die Genien der Bauwerke und Plätze, die Prudentius in diesem Zusammenhang besonders aufs Korn nimmt. Zur Auffassung, die der Dichter selbst von seinen Personifikationen hat, vgl. meinen eben genannten Aufsatz (vorige Anm.) 31. 16 Templum Romae: Chronogr. ann. 354: Chron. min. 1,148 Mommsen; templum Urbis: Amm. 16,10,14; Hist. Aug. Hadrian. 19, 12; vgl. Wissowa, Rel. 2 , 340 s ; L. Richardson, A New Topographical Dictionary of Ancient Rome, Baltimore 1992, 409/411, hier 409 (linke Spalte), s.v. Venus et Roma, Templum. 17 Vgl. im Text: delubrum Romae (219) und Urbis Venerisque templa (221 f.), mit Bezug auf denselben Bau. 18 F. Coarelli, II foro Romano 1, Roma 1983, l l f f . , bes. 41; G. Lugli, Roma antica. II centra monumentale, Roma 1946, 75. [Der Situationsplan - Abb. 1 des Originaldrucks - ist hier fortgelassen.]

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hörte auch zum Romatempel im engeren | Sinne, denn die westliche Cella war die der Roma19. - 3) Prudentius bringt den Charakter des Baus als eines Doppeltempels klar heraus. Er spricht einerseits von dem Heiligtum im Singular (219 delubrum Romae), andrerseits von den templa (222) der beiden Göttinnen, der Urbs und der Venus, die hier als σύνναοι verehrt werden (vgl. 222: simul geminis adolentur tura deabus). - 4) Daß die beiden Cellae ein einziges Haus bilden, betont der Ausdruck pari... culmine, modaler Ablativ zu se tollunt, sc. templa (221). Damit ist nicht etwa nur gesagt, daß die Cellae gleich hoch sind, wie meist angenommen wird20. Das wäre zu wenig; es mag viele templa geben, die gleiche Höhe haben. Gemeint ist vielmehr, daß sie das gleiche Dach besitzen, par nähert sich hier der Bedeutung von idem21. Man versteht die Angabe sofort, wenn man aus der Anschauung heraus urteilt: "Nel mezzo della piattaforma si elevava il gran tempio che sotto un unico tetto e circondato da un unico colonnato, racchiudeva due celle addossate, una contenente la statua di Venere, Γ altra quella di Roma ..." etc. (Mufioz, S. 6). Das sind die Daten, die sich den Prudentiusversen entnehmen lassen. Sie mochten einst immerhin helfen, die Ruinen zu identifizieren. Aber wie wenig sagen sie doch über den Tempel, der damals neben dem Serapistempel Caracallas der größte Roms war! Wäre gar nichts von ihm übrig, wer würde je allein aufgrund dieser Verse zu einer Anschauung des Baukomplexes gelangen? Und doch findet jeder, der die Anschauung schon hat, den Befund in einigen nicht unwesentlichen Zügen bestätigt. Eben das ist merkenswert und

19 Das wird gemeinhin vorausgesetzt, wenn auch gelegentlich mit Fragezeichen versehen; vgl. M. Manieri Elia, Note sul significato del tempio di Venere e Roma: Saggi in onore di Guglielmo de Angelis d'Ossat, Roma 1987 = Quaderni dell' Istituto di storia dell' architettura, N.S. 1/10 (1983/87) 47/54, hier 47. Im Gebrauch der Wörter delubrum und templum (templa) macht Prudentius wohl keinen Unterschied, obgleich gewisse antike Definitionen, die delubrum von aedes, templum trennen und als locus ante templum (Serv. Aen. 2,225) bzw. area cum porticibus (Prob. app.: GL 4,202, Z. 23f. Keil) bestimmen, hier vielleicht paßten. Vgl. dazu F. Castagnoli, II tempio Romano: Questioni di terminologia e di tipologia: Papers of the British School at Rome 52 (1984) 3/20, hier 4 (Hinweis Μ. Trunk). 20 So erklären schon die alten Glossen (Iso von St. Gallen?) zu V. 219 (PL 60,136 B): "templum Veneris et Romae deae pari altitudine se extollebant". Etwa auf das gleiche führen die Übersetzungen in den Handausgaben von H J . Thomson 1 (London/Cambridge, Mass.: The Loeb Classical Library 1949) 367, J. Guillen -1. Rodriguez (Madrid 1950) 379 und M. Lavarenne 3 (Paris 19632) 144. Deutlich in diesem Sinne auch Cerri (wie S. 187 [65]) 308: Teguale altezza" und Donald R. Dudley, Urbs Roma. A Source Book of Classical Texts ..., Aberdeen 1967, 118: "the temples of the City and of Venus rise to a like height". 21 Wie in den Verbindungen par idemque, par atque idem (ThLL 7,1, 191,3ff.); vgl. Prud. cath. 7,214: Unam paremque sortis humanae vicem (sc. ducere)', cath. 3,115: Ipsa pari peritura modo; psych. 222f.: nati nam luce sub una Et domus et domini paribus adolevimus annis.

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macht die Passage zu einem Lehrstück. Bei archäologischer Auswertung eines Dichtertexts gilt es zu beherzigen, daß der Autor immer nur das beschreibt, was seinen Absichten dient; er nimmt und gibt von den Fakten nur so viel, wie er braucht. Prudentius sagt, daß beide Gottheiten je ein templum unter demselben Dach hatten, aber er verliert kein Wort über den eigentümlichen Grundriß dieses Doppeltempels, dessen Cellae mit ihren Rückwänden bzw. Apsiden gegeneinanderstanden22. Gerade diesen baugeschichtlich auffälligen Befund, der den Archäologen beschäftigt23, übergeht er, weil er für seine Aussage ohne Belang ist. Der Dichter hat nicht die Absicht, den Leser darüber zu belehren, wie das Bauwerk aussieht, er verbindet mit den Versen einen anderen Zweck: er will den Tempel zum Beweisstück dafür machen, daß Roma, die doch nichts weiter als ein | Name ist24, tatsächlich als Gottheit verehrt wird, ebenso wie Venus. Auch Venus ist natürlich eine falsche Gottheit, war aber wenigstens ein Mensch: eine Frau aus vornehmem Geschlecht25. Mit Roma, meint Prudentius, ist die Entwicklung des polytheistischen Kults über die übliche Grenze hinausgegangen: ein "Name" wird einem Menschen gleichgestellt. Vielleicht dient die Syzygie dieser Göttinnen hier auch als Moment der Satire, insofern die Verbindung der Stadtgottheit gerade mit Venus | im Zusammenhang des Gedichts besonders unrühmlich erscheinen muß26.

22 Die Apsiden und die Einwölbung der Cellae stammen erst aus der Zeit des Maxentius, als der hadrianische Bau (dediziert im Jahre 135) nach dem Brand des Jahres 307 neugestaltet wurde. Vgl. A. Barattolo: Rom. Mitt. 80 (1973) 243/269; 85 (1978) 397/410. Ein Aquarell des 19. Jahrhunderts und eine gute archäologische Zusammenfassung bei R. Keaveney, Views of Rome from the Thomas Ashby Collection in the Vatican Library, London 1988, Nr. 28, p. 132ff. [Die Rekonstruktionen - Abb. 2 des Originaldrucks - sind hier ebenfalls ausgelassen.] 23 Griechische Vorbilder suchte G.A.S. Snijder auszumachen: Kaiser Hadrian und der Tempel der Venus und Roma: Jahrb. d. Inst. 55 (1940) 1/11. 24 Das Wortspiel nomen - numen ist vorgegeben durch Symmachus selbst rel. 3,3: reddatur saltern notmni honor, qui numini denegatus est, womit aber keineswegs dasselbe gemeint ist. Aus der christlichen Götterkritik vgl. bes. Paulin. Nol. epist. 16,4 (CSEL 29, 117f.): cassa nomina, tamquam ideo numina quoque situ. Die Polemik gegen die Vergottung der res incorporeae wird später im Zusammenhang mit der Statue der Victoria wiederaufgenommen (c. Symm. 2,57ff.). Zum Hintergrund vgl. Ch. Gnilka, Prudentius über die Statue der Victoria im Senat: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991) 1/44, bes. 30 und 37 (zu Symmachus). 25 Prud. c. Symm. l,172f. 26 Vgl. Prud. c. Symm. l,164ff.; 2,225f. Die Absichten, die sich mit der Errichtung des Tempels verbunden haben mögen, erörtern J. Gag6, Le 'Templum Urbis' et les origines de l'idee de 'Renovatio': Melanges F. Cumont 1, Brüssel 1936, 151/187; J. Beaujeu, La religion romaine a l'apogie de l'empire 1. La politique religieuse des Antonins (96-192), Paris 1955, 128/161; R. Turcan, La 'fondation' du temple de V6nus et de Rome: Latomus 23 (1964) 42/55. Gediegene Information bietet immer noch Wissowa, Rel.2 338/342. Carla Fayer, II culto della dea Roma. Origine e diffusione nelF Impero, Pescara 1976, geht auf den Tempel nicht ein.

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Daß übrigens der Kult zur Zeit des Prudentius noch fortdauerte, wie gelegentlich behauptet wird27, kann man den präsentischen Formen der Parenthese (colitur, adolentur) nicht ohne weiteres entnehmen28. Im Jahr 402 oder 403, als das Gedicht abgeschlossen wurde, wäre das auch ganz unmöglich gewesen.

V. 223/225 Die allgemeine Folge der Eindrücke ist die, daß sich das Kind - puer etwa ist als Subjekt zu ergänzen29 - in allem auf die Autorität des Senats verläßt, die besondere die, daß es sein Vertrauen den Götterbildern schenkt. Vers 223: vera ratus quaecumque flant auctore senatu wird auch in abweichender Fassung überliefert: v.r. quaecumque senatu auctore probantur (probentur). Erstere Version nimmt Bergman in den Text; letztere (probantur) bevorzugt Cunningham: zu Unrecht, denn sie stellt eine nicht sehr auffällige, aber doch merkliche Verschlechterung dar30. Beachtlich ist diese Divergenz deshalb, weil wir hier erstmals innerhalb unseres Stücks auf eine Spur spätantiker Fälscherarbeit stoßen. Der Interpolator sah wohl die Kompetenz des Senats überzogen; er wollte ihm nur die Befugnis zur Genehmigung zubilligen, nicht die Initiative. Prudentius betont jedoch die Verantwortlichkeit des Senats nicht ohne Grund. Er will die Bekehrung der Senatsmehrheit vorbereiten, deren Schilderung den Höhepunkt des ersten Buchs bildet31, und die Schuld27 Vermeule (wie Anm. 14) 42, Dudley (wie Anm. 20) 119; zurückgewiesen von mir a.O. (oben Anm. 14) 3145. Der Bau selbst stand noch mindestens zweihundert Jahre später, da um 630 die Bronzeziegel mit Erlaubnis des byzantinischen Kaisers fur St. Peter verwandt wurden: R. Krautheimer, Rome. Profile of a City, 312-1308, Princeton, Ν. Jersey 1980,72; A. Barattolo: Rom. Mitt. 89 (1982) 133/151, hier 14238. 28 Die Parenthese gehört zu einem historischen Bericht, der V. 245ff. unter Bezug auf die Zeit des Augustus (!) fortgesetzt wird. Innerhalb der Kindheitsschilderung ist der Tempusgebrauch wechselnd, worauf ich hier nicht weiter eingehen kann. Zum Tempus gerade in der Parenthese ist auch an die Beobachtungen v. Albrechts (wie Anm. 5) 92. 105 zu erinnern. 29 Vgl. 1,199 tener... heres; 201 puerorum infatitia; 206 parvus; 209 puerilia vota. Der altersmäßige Fortschritt wird in der Kindheitsschilderung 199 ex 7214 mehr durch die Umstände als durch die Altersbezeichnungen ausgedrückt. 30 J. Bergman: CSEL 61 (1926) 227; M. Cunningham: CCL 126 (1966) 193. Die Variante: senatu auctore probantur (probentur) ist stark bezeugt, u.a. durch einen der beiden spätantiken Codices, den Ambrosianus B. Aber so wird eine Tatsache doppelt ausgedrückt, ohne daß die Angaben ganz zusammenstimmten: senatu auctore (fiant) ist korrekt, senatu auctore probantur schief. 31 Prud. c. Symm. l,506ff., bes. 544/577; 608/610: Wirkung der theodosianischen Edik-

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haftigkeit derjenigen Senatoren deutlich machen, die unter Symmachus' Führung noch immer im Götzendienst verharren32. Die Zeile hängt also innerlich mit dem Anliegen des ganzen Werks zusammen. Auf welche Weise sich im Kinde die erwähnten Eindrücke mit der Autorität des Senats verbinden, wird nicht ausgeführt. Das darf man von der knappen Darstellung auch kaum erwarten. Aber in den Augen des Dichters bildeten die Inschriften einen unleugbaren Beweis der Verantwortung des Senats. Er sagt es selbst wenig später, mit Bezug auf den Kult des Augustus: Testantur tituli, produnt consulta senatus Caesareum lovis ad \ speciem statuentia templum™. Das geht auf die Weihinschrift und die übliche Formel (EX) SC. Sie stand auch auf dem Templum Urbis, wie die Münzen mit Abbildung des Tempels nahelegen34. Jedenfalls ist der Gedanke hier eben der, daß das Kind aufgrund jener großen Impressionen zu dem Schluß gelangt, alles sei wahr, was auf Veranlassung des Senats geschehe, und d e s w e g e n die Statuen für Götter hält. Auch die Statuen werden also durch die Autorität des Senats empfohlen: das ist die natürliche Abfolge der Gedanken. Und sie hat dann weitere Konsequenzen, nämlich für die Frage, ob die Götterbilder, die der Dichter hiernach (226ff.) aufzählt, tatsächlich existierten oder nicht; ob sie beim Rundgang durch die Stadt ins Auge fallen konnten oder nicht. Wie unerträglich für die römischen Adressaten des Gedichts, wie schädlich für das apologetische und protreptische Anliegen des Verfassers, wären es bloße Ausgeburten dichterischer Phantasie, die als Scheinbeweise des verhängnisvollen Wirkens der Senatsautorität vorgeführt werden!

te, vorbereitet durch Konstantins Sieg: 1,489/495. 32 Ebd. 5 4 8 e x ; 5 7 4 / 5 7 7 ; 591/607; die Warnung vor einem Rückfall steht im Hintergrund: vgl. l,7f.; 496ff. (mit der Anrede 502: οproceres). Daß es zuallererst um eine Sache des Senats geht, bleibt stets gegenwärtig, vgl. etwa 2,61 im Context. Praenobilis ille senator heißt Symmachus (2,644). 33 Prud. c. Symm. l,249f. Denkt man an römische Topographie, könnte der Tempel des Augustus in der Senke zwischen Palatin und Capitol gemeint sein: "L'edificio rimase intatto fino al tardo impero ..." (Lugli, Roma antica 187). Eine Münze Caligulas zeigt den Tempel und die Aufschrift: DivoAug. SC (ebd. 186 fig. 38). Weiteres zu diesem Tempel bei Heidi HänleinSchäfer, Veneratio Augusti. Eine Studie zu den Tempeln des ersten römischen Kaisers, Rom 1985, 120/128 (Hinweis M. Trunk). Fishwick (wie Anm. 4) 476 faßt die Angabe allgemeiner, kündigt im übrigen einen weiteren Artikel zu dieser Stelle an (47715). 34 p.L. Strack, Untersuchungen zur römischen Reichsprägung des zweiten Jahrhunderts 2, Stuttgart 1933, 174/177; Gage (wie Anm. 26) 158 mit pi. I. Prudentius zieht die stadtrömischen Inschriften auch sonst zu Zeugen des Kults heran: vgl. c. Symm. 1,402/405 über die Formel D M. Die Grabinschriften der Katakomben musterte er als Quellen des Märtyrertums (per. 11, Iff.).

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Im übrigen setzt sich draußen nur fort, was drinnen im Hause begann. Die Zeilen 224f. dürfen nicht in derart allgemeinem Sinne verstanden werden, als ob das Kind jetzt erstmals Götterbilder sehe oder verehre. Denn schon im Hause nahm es ja am Kult der Laren teil, küßte es das Steinidol der Fortuna mit dem Füllhorn35. Zu diesen freundlicheren Götterbildern gesellen sich aber nun die erschreckenden Gestalten kriegerischer Gottheiten (vgl. 225: horrifico ... vultu), wie ja auch der Einfluß der Mutter ergänzt und verstärkt wird durch die Autorität des Senats. Das Moment des Schrecklichen tritt in der Auffassung paganen Kults bei Prudentius auch sonst hervor: blinde Furcht bildet das Motiv heidnischer Religiosität36, und die Götterbilder sind zu dem Zweck geschaffen, Angst zu machen37. Aber der allgemeine Gedanke ist hier besonders passend angewandt. Denn wenn schon sonst die grimmige Miene eines bronzenen Hercules erschreckend wirkt38, so muß die Wirkung auf ein kindliches Gemüt gewiß erst recht fürchterlich sein. Vorausgesetzt wird dabei die heidnische Anschauung, daß die Bildnisse die Götter s i η d39. Erst das gibt auch hier den Versen Schärfe, erst so werden dann die satirischen Spitzen der folgenden Schilderung voll verständlich. Das Heidenkind sieht in den Statuen nicht Bilder, sondern Götter. Darum wird die bloße Feststellung der Tatsache: Contulit ad simulacrafidem (224) ergänzt durch die inhaltliche Wiedergabe der Überzeugung (224f.): dominosqueputavit Aetheris, horrifico qui stant ex ordine vultu. Zugleich erhalten wir hier einen ersten Hinweis darauf, daß Prudentius eine zusammengehörige Bildergruppe vor Augen hat. Thomson übersetzt40: "...and believed | that the figures standing i n a r o w [ex ordine] ... were the lords of the heavens". Er mag das Richtige getroffen haben. Zwar dient die Wendung ex ordine auch nur im intensivierenden Sinne dem Ausdruck einer Ganzheit, aber es bleibt selbst bei solchem Gebrauch das Moment einer Anordnung und Reihenfolge spürbar, das willkürliche Streuung oder regellose Häufung der Teile ausschließt41. Vollends in einem Zusammen-

35 Prud. c. Symm. 1,205/209: zu dieser Fortuna privata s. R. Peter, Art. Fortuna: Roscher, Lex. 1 (1884/1890) 1503/1549, hier 1518; vgl. auchl. Kajanto: RAC 8 (1972) 183f. 36 Prud. c. Symm. l,449/452 m ·; hier auch dasselbe Adjektiv: horrificos ... deos (451f.). 37 Prud. per. 10,271/290. 38 Prud. ibid. 283/285: Si forte vultum tnstioris Herculis Liquore crispo massa finxit fusilis, Clavam minari, ni colatur, creditur. 39 Hierzu s. den oben (Anm. 24) genannten Aufsatz über die Victoriastatue 19f. 37145. 40 Thomson (wie Anm. 20) 367. 41 Zu Verg. Aen. 1,456: videt (sc. Aeneas) Iliacas ex ordine pugnas bemerkt Servius: Ex ordine. Hoc loco ostendit omnempugnam esse depictam ... eqs. Etwas lapidar R.A.B. Mynors,

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hang wie dem unseren bildet sich wie von selbst die Vorstellung einer Reihe oder Gruppe. Auch bei Vergil Aen. 7,177ff. - diesen Passus hatte Prudentius hier im Kopf 2 - stehen die Statuen der laurentischen Könige ex ordine da43, und bei Silius, der seinerseits dieselbe Vergilstelle zugrundelegt, heißt es über den Didotempel zu Carthago: ordine centum Stant arae ... eqs.44

II. Die Statuen 226

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illic Alcides spoliatis Gadibus hospes Arcadiae fulvo aere riget, gemini quoque fratres [corrupta de matre nothi, Ledeia proles, nocturnique equites, celsae duo numina Romae,] inpendent retinente veru magnique triumfi nuntia suffuso figunt vestigia plumbo. adsistunt etiam priscorum insignia regum: Tros, Italus Ianusque bifrons genitorque Sabinus Saturnusque senex maculoso et corpore Picus, coniugis epotum sparsus per membra venenum. omnibus ante pedes posita est sua cuique vetusta arula; Iano etiam celebri de mense litatur auspiciis epulisque sacris ... eqs.

Es empfiehlt sich, zunächst diejenigen Fragen zu erörtern, die sich aus dem Blick auf das Ganze dieser Versreihe ergeben: 1) Weshalb wählt der Dichter gerade diese Bildnisse aus? - 2) Nennt er eine Statuengruppe oder stellt er verstreute Skulpturen zusammen? - 3) Wo sollen die Skulpturen stehen? 1) Der Katalog läßt eine Zweigliederung erkennen. Zunächst werden Hercules und die Dioskuren genannt, dann mit der Wendung: adsistunt etiam

Vergil. Georgics, Oxford 1990,233 zu georg. 3,341: "ex ordine: purely intensive, is Lucretian" (mit Verweis auf Lucr. 4,973). Beispiele bei Prudentius lassen schön das Moment der Reihe oder Ordnung hervortreten: c. Symm. 2,581: mille triumforum memoras ex ordine pompas\ harn. 913f.: (Iohannis) peragrans Ordine dispositos Venturis solibus annos; vgl. per. 9,79 und 2,163f.: Longo et locates ordine Adstare pro templo iubet. 42 Vgl. unten S. 210ff. [82ff.]. 43 Servius Aen. 7,177 erkennt hier eine Ordnung nach der Thronfolge: Ex ordine: prout sibi successerant, Ti. Donat (2, p. 27, Z. 13ff. Georgii) eine Reihenfolge nach der Geburt: Ex ordine intellegendum est ita: ut natifuerant, sic eorum imagines fuisse conpositas. 44 Sil. 1,91 f.

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... eqs. (232) die alten Könige angeschlossen: Tros, Italus, Ianus, Sabinus, Saturnus, Picus. Überlegt man, was Prudentius zu dieser Auswahl veranlaßte, so ergeben sich zunächst gewisse Anhaltspunkte, die mehr im Gesamtcharakter des Gedichts selbst beschlossen liegen als in einem äußeren Befund archäologischer Art. Hercules und die Castores werden auch sonst gerne zusammen genannt. Man erinnert sich Horazens: Dicam et Alciden puerosque Ledae ... eqs. Die Zusammenstellung entspricht aber auch der Bedeutung dieser Göttergestalten in Kult und | Leben, wie sie sich etwa in den beteuernden Formeln mehercule, ecastor, edepol niederschlägt45. Darüberhinaus gelten alle drei als Beispiele der Vergötterung sterblicher Menschen oder Halbgötter, und auch in diesem Sinne treten sie zusammen auf 6 . Gerade sie zu nennen, paßte mithin vollkommen zur euhemeristischen Beweisführung des Gedichts gegen Symmachus. Dasselbe gilt von den reges prisci. Sie erscheinen alle, Tros ausgenommen, im siebten Buch der Aeneis: ihre hölzernen Statuen stehen im Tempelpalast auf der Akropolis der Laurenter, und zwar als Bildnisse der Ahnen des Königs Latinus47. Der Passus liefert ein bemerkenswertes Zeugnis euhemeristischer Erklärung italischer Religion und Mythologie: Vergil hat keine Bedenken, Gottheiten wie Saturn und Ianus, die seit Jahrhunderten Kult und Tempel in Rom hatten, aus der Apotheose urzeitlicher Könige herzuleiten48. Die Kraft solchen Zeugnisses mußte angesichts der Autorität Vergils gewaltig sein, und man faßt hier einmal so recht den 'Sitz im Leben', den Übernahmen aus der klassischen Poesie bei dem christlichen Dichter beanspruchen dürfen. Vergil wird zum Zeugen, der die Wahrheit einer Aussage bestätigt. Und das nicht nur im Allgemeinen: gerade die Herrscherapotheose, die Prudentius von Anfang an im Auge hat - er läßt die unheilvolle Entwicklung mit Saturn beginnen!49 wird durch Vergil beglaubigt. So ermöglichen die divinisierten 45 Vgl. Nisbet-Hubbard 1,153 zu Hör. carm. 1,12,25. 46 Vgl. Cie. Tusc. 1,28. Hier erscheinen Hercules und die Dioskuren überdies durch Qualitäten ausgezeichnet, die an den Prudentiustext erinnern: Hercules als Gott, der Verehrung genieße usque ad Oceanum (vgl. Prud.: spoliatis Gadibus), die Dioskuren als Helfer der Römer in der Schlacht und als Siegesboten. Zur Rechtfertigung der Apotheose waren sie auch in Ciceros Consolatio zusammen aufgeführt, wovon Prudentius bei Lactanz (inst. 1,15,20 = frg. 11 Müller) lesen konnte: si Cadmi progenies out Amphitryonis aut Tyndari in caelum tollendafama fiiit, huic (sc. Tulliae) idem honos certe dicandus est. Vgl. ferner Cie. leg. 2,19. 47 Vgl. unten S. 210ff. [82ff.] 48 Hervorgehoben bei J.R. Seeley, Livy, Book I with Introduction ... etc., Oxford 1881, 19, auf den Nettleship im Vergilkommentar (Conington-Nettleship 3,20 zu Aen. 7,177) mit Recht verweist. Weiteres bei C. Bailey, Religion in Virgil, Oxford 1935, 40f. Besonders Aen. 8,357f. verdient Beachtung. 49 Prud. c. Symm. 1,42ff. Das Moment der Herrscherapotheose betonen zusammenfassend die Verse 1,145ff.: Tantum posse omnes illo sub tempore reges ... eqs.

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Könige italischer Vorzeit zugleich einen zwanglosen Übergang zur Apotheose römischer Kaiser, mit der Prudentius wieder zur historischen Linie seiner Darstellung zurückfindet.50 2) Für die Frage, ob der Dichter eine zusammengehörige Bildergruppe vorstellen will oder nur verschiedene Monumente in eine Reihe bringt, kommt dem Satz in V. 236f. besonderes Gewicht zu: Omnibus ante pedes posita est sua cuique vetusta Arula. Allen Statuen (omnibus), und zwar jeder einzelnen für sich {cuique), ist ein eigener Altar (sua ... arula) beigegeben51. Damit werden die Statuen, auf die sich diese Angabe bezieht, tatsächlich zu einer Gruppe zusammengeschlossen und außerdem als Kultbilder charakterisiert. Zugleich ergibt sich, daß wir nicht etwa an die Idole solcher Götter denken dürfen, die jeweils als Inhaber des Tempels im Innern der Cella standen. Ihre Altäre befanden sich nicht ante pedes, sondern weitab vor dem Bau, waren auch nicht im Rundblick zu erfassen. Vielmehr handelt es sich hier um eine Reihe freistehender Skulpturen mit Altären davor. Eine Anschauung vermitteln die hadrianischen Tondi am Konstantinsbogen. Vier davon zeigen Opferszenen: der Kaiser opfert nach erfolgreicher Jagd der Diana, dem Apollo, Silvanus und Hercules. Die Statuen der Diana, | des Apollo und des Silvanus stehen auf hohen Basen, unmittelbar vor den Basen sind niedrige Steinaltäre erkennbar (s. Tafel Π)52. Mag sein, daß solches Größenverhältnis der Wahl des Deminutivs arula bei Prudentius zugrundeliegt, obschon das Adjektiv vetusta - sordens (arula) ist interpoliert53 - auch abschätzige Nuance fühlen läßt. Die Verbindung von Statue und Altar erinnert im übrigen an die Victoria im Senat, die den Anlaß des Gedichts bildet54, zeigt sich auch sonst im erhaltenen Be-

so Aus der Reihe der reges prisci wird V. 237ff. Ianus herausgegriffen, der durch das Fest der Januarkalenden und durch den Monatsnamen (wie Augustus: V. 245ff.) geehrt wird. Zur Wendung: Iano etiam celebri de mense (237) s. Rhein. Mus. 109 (1966) 84/87. 51 Die aus Anlaß dieser Stelle von Molinaeus (Charles Dumoulin), De Altaribus 10 gegen den Katholizismus erhobenen Vorwürfe, die der Kommentator J. Weitz (Hanau 1613), Sylloge p. 735 zu V. 236 weitergibt, hat F. Arevalo in seiner Ausgabe (Rom 1788/89) zurückgewiesen: PL 60,140 B/C zu V. 236. 52 Vgl. W. Hermann, Römische Götteraltäre, Kallmünz 1961, 46f.; H. von Hesberg, Archäologische Denkmäler zu den römischen Göttergestalten: ANRW 17,2 (1981) 1032/1199, hier 1052f. (Taf. 5a). 53 Wegen der Unsicherheit der Prosodie von cuique. Je nach Aufnahme der einen oder der anderen Variante ergibt sich trochäische oder daktylische Messung des Worts: sua cuique vetusta Arula - sua cüique sordens Arula. Dreimal kommt die Form cuique in diesem Werk vor: dreimal wurde interpoliert. Die Editoren Bergman und Cunningham entscheiden sich einmal gemeinsam für daktylische (2,89), einmal für trochäische Messung (hier: 1,236), an der dritten Stelle (2,35) gehen sie auseinander. Hierzu Gnilka (wie Anm. 24) 5. 54 Gnilka (wie Anm. 24) 33/40, bes. 39f.

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stand der Denkmäler55 und wird immer wieder durch Inschriften belegt, die Weihung eines sigillum cum ara, einer ara cum signo usw. bezeugen56. Zweifeln mag man allenfalls, ob die Angabe in V. 236f.: omnibus ante pedes ... eqs. auch für die Bildnisse des Hercules und der Castores gilt, ob der Begriff der Gesamtheit auch sie umfaßt oder nur die Statuen der Könige, die unmittelbar zuvor genannt werden. Beides wäre möglich, doch fuhrt der Ductus der ganzen Versreihe eher darauf, daß alle Statuen zusammen eine Gruppe bilden. Die rahmenden Hinweise: horrifico qui stant ex ordine vultu (225) - omnibus ante pedesposita est sua cuique vetusta Arula (236f.) sowie der überleitende Satz: Adsistunt etiam priscorum insignia regum (232)57 erzeugen den Eindruck der Zusammengehörigkeit. Auch ein gedankliches Moment spricht dafür. Prudentius will ja nicht irgendwelche Kunstwerke aufführen, sondern Kultbilder als Beispiele des vom Senat autorisierten Götzendiensts nennen. Darum ist die Beigabe des Altars zu jedem einzelnen Bild wesentlich, mithin auch für Hercules und die Dioskuren zu erwarten. Trifft diese Interpretation, dann haben wir uns alle neun bzw. acht Figuren - die Dioskuren einzeln bzw. als Paar gerechnet - als Gruppe vorzustellen: die Statuen aus Bronze58, natürlich auf Steinbasen, jeweils mit einem Altar davor. Zweifel daran, daß zumindest die Könige zu einer Gruppe vereint sind, kann es jedenfalls nicht geben. 3) Und schließlich: wo sollen wir uns die Bilder denken? Illic (226) kann nicht einfach die ganze Stadt meinen, und ein Begriff wie "draußen" (d.h. außerhalb des Hauses) läßt sich aus den Versen kaum abstrahieren. Das Ortsadverb, durch Spitzenstellung hervorgehoben, verlangt aber einen festen

55 Im Vorhof des Apollotempels zu Pompej i standen an den Säulen der umlaufenden Porticus sechs Statuen. Vor den Basen zweier dieser Statuen, vor dem Bild der Artemis (aus Bronze, teilweise erhalten) und dem der Aphrodite, befinden sich Altäre, nicht aber vor der Bronzestatue des Apollon, die gleichfalls dort stand (jetzt in Neapel): denn ihm wurde am Hauptaltar geopfert, sein Kultbild (verloren) dürfte in der Cella gestanden haben. Vgl. J. Overbeck - Aug. Mau, Pompeji in seinen Gebäuden, Alterthümern und Kunstwerken, Leipzig 18844, 102f.; Aug. Mau, Pompeji in Leben und Kunst, Leipzig 19082, 78f.; v. Hesberg (wie Anm. 52) 1076f. (Taf. 14). Andere Beispiele bei Hermann (wie Anm. 52) 44f. 94f. zu Nr. 29 des Katalogs; 137f. zu Nr. 64. 56 Aram marmorea [sie] cum suo sibi sigillo (ILS 3543 Dessau); aram cum ornamentis et signis suis (CIL 8,1,12000); aram et signum... cum aedicula (ILS 3549 Dessau); sigillum cum ara (5005); aram cum basi et sigilla duo (CIL 6,574); arulas cum statuneulis (8,2601. 2602). Vgl. Reisch: PW 1,2 (1894) 1655,20ff. s.v. Altar. Im kaiserlichen Edikt vom 25. Nov. 407 (Const. Sirm. 12) ist von simulacra in den Tempeln die Rede und von solchen, quae aliquem ritum vel aeeeperunt vel aeeipiunt paganorum. 57 Insignia gleich signa, richtig eingeordnet ThLL 7,1, 1900, Z. 31ff. (Karin Alt). 58 Vgl. unten S. 201. 204. 214f. [76. 78. 85f.].

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Bezugspunkt im Text. Daher ist es auch willkürlich, diese oder jene Lokalität aus äußeren, archäologischen | Gründen anzunehmen, etwa die Statuen auf das Augustusforum zu versetzen59. Im übrigen standen dort zwar die Bildnisse der albanischen Könige, aber von den laurentischen hören wir nichts®0. Auch waren jene Statuen aus Marmor, nicht aus Bronze61, und Altäre gehörten offenbar nicht dazu. Ebenso scheidet der Kapitolsplatz aus, obwohl dort einst gleichfalls Könige, wohl Statuen der römischen Könige, standen62; denn die knappe Erwähnung des Kapitols (216) liegt zu weit zurück, als daß sie durch illic (226) könnte aufgegriffen werden. Eher kommt der Romatempel in Frage. Er bildet zwar auch nur einen Teil des Ganzen, das in den Versen 215/ 225 erfaßt wird, tritt doch aber so stark hervor, daß er in der Vorstellung haftet. So erklärte denn auch schon ein mittelalterlicher Glossator: "Illic, in templo Romae" 63, und ein moderner Leser dachte, ohne überhaupt nur eine Schwierigkeit zu fühlen, ohne weiteres an den Platz vor dem Tempel, d.h. er bezog illic auf die Angabe ante delubrum Romae (218f.)64. Der Sache nach erscheint der Schluß verführerisch, wenn auch der unmittelbare Bezug im Text eher durch den vorausgehenden Relativsatz gegeben sein dürfte (225f.): horriflco qui stant ex ordine vultu. Illic Alcides ... eqs. "Dort", d.h. in der Reihe jener Bildnisse. Die Frage des Platzes der Gruppe ist damit nicht beantwortet, sondern verschoben. Wir dürfen eben die Pflicht zur Zurückhaltung im Umgang mit dem Dichtertext nicht vergessen. Aber aufgrund des Gesamteindrucks der Schilderung drängt sich doch das Templum Urbis in den Vordergrund. Soviel etwa läßt sich im Aufblick auf den ganzen Versblock sagen. Aber die Einzelheiten erfordern eine genauere Betrachtung. Ich gehe daher die Reihe jetzt Stück für Stück durch. 59 So Grangaeus (Isaac de la Grange) in seiner kommentierten Ausgabe, Paris 1614; vgl. Arevalo: PL 60,138 C zu V. 226. 60 p. Zanker, Forum Augustum. Das Bildprogramm, Tübingen o.J. = Monumenta Artis Antiquae 2,14; die Reste der zu den Königen von Alba Longa gehörigen Elogia bei A. Degrassi, Inscriptiones Italiae 13,3 (Rom 1937) 9/11. 61 Allerdings wurden auch Fragmente von Bronzestatuen gefunden: Zanker (wie vorige Anm.) 15. 62 Thomson (wie Anm. 20) 367c: "Many statues of deities stood in the area C a ρ i t ο 1 i η a". Die Statuen der Könige im Vestibulum des Kapitolstempels (κατά τάς θύρας) erwähnt Appian bell. civ. 1,16. 63 Glossae veteres (Iso von St. Gallen?) bei Arevalo: PL 60, 137 Α zu V. 226. 64 Cl. Brockhaus, Aurelius Prudentius Clemens, Leipzig 1872 (Wiesbaden 1970) 55: "Vor dem Tempel der Venus und Roma brüllen die Opferstiere [kaum: s. oben Anm. 10], der Platz

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V. 226/227'™·: Hercules Es handelt sich um eine Bronzestatue. Aber dem Dichter ist nicht so sehr das Material wichtig wie die Tatsache lebloser Starre (riget). Zu diesem bekannten Motiv christlicher und vorchristlicher Bilderkritik65, das gleich darauf im Falle der Dioskuren noch schärfer gefaßt wird, tritt der Name Alcides in satirischen Kontrast: "der Alkide starrt in braungelber Bronze"66. Subjekt ist nicht ein Wort für Bild, sondern der Eigenname, hier das Patronymikon67. Der verbreitete Sprachgebrauch, die Götterbilder durch die Namen der Götter zu bezeichnen, entspringt wiederum der heidnischen Überzeugung | von der Identität des Bildes und der Gottheit68, ist aber hier zu besonderem Effekt genutzt. Auch der mythologische Hintergrund des Herculeskults auf dem Forum Boarium wird in satirischer Beleuchtung gezeigt (spoliatis Gadibus)69, die durch Vergil verklärte Einkehr des Helden bei Euander wie durch grellen Blitz jäh erhellt70. Die Tatsache der Verbindung der Statue mit dem Herculeskult in Rom kann trotzdem kaum als bloß kommentierender Zusatz des Dichters aufgefaßt werden. Sie mußte wohl irgendwie durch das Bild selbst ausgedrückt oder zumindest im Bilde vorgestellt sein. Unter Umständen mochte zwar allein der Ort der Aufstellung genügen, um solchen Bezug zu schaffen. Doch darf man diesen Hercules nicht als Tempelkultbild ansehen71. Für den Fall, daß er zur ganzen Gruppe gehört, ist das ohnehin ausgeschlossen, aber

sei überfüllt mit den Bildsäulen des Hercules, der Dioskuren..., und jeder habe seinen Altar..." usw. Brockhaus läßt also auch die Feststellung über die Altäre (V. 236f.) für die ganze Reihe gelten. 65 Vgl. H. Funke, Art. Götterbild: RAC 11 (1981) 659/828, hier 750 und 787/789. 66 Zum Farbwort fulvus s. J. Andre, Etude sur les termes de couleur dans la langue latine, Paris 1949 = Etudes et Commentaires 7, 132/136, bes. 136; vom Gold wird es viel häufiger gebraucht als vom Erz, vgl. noch Ov. met. 1,114f.: argentea proles Auro deterior, fulvo pretiosior aere (ThLL 6,1, 1534, Z. 83ff. [Klee], wo unsere Stelle nachzutragen wäre). 67 Alcides betont die menschliche Abkunft (vom Großvater Alkaios), empfiehlt sich aber auch aus metrischen Gründen: Hercules (Nom., Dat.) ist dem Hexameter nicht fügsam (Gen. bei Prud. apoth. 457). Alcide (Vok.) auch in metrischen Inschriften auf Stein: CIL 6,312 = ILS 3403 Dessau, CIL 6,316 = ILS 3404 Dessau (vom Forum Boarium). 68 Vgl. oben S. 196 [72]. Zu diesem "Eigennamen-Typus" s. R. Daut, Imago, Heidelberg 1975, 14/31; Gnilka (wie Anm. 24) 1969. 69 Bei Vergil tritt der Alkide auf tergemini nece Geryonae spoliisque superbus (Aen. 8,202)! 70 Hospes Arcadiae von Gronovius und N. Heinsius konjektural angetastet: Arcadii bzw. Arcadis e, sc .fulvo aere (Heinsius p. 815 der späteren Ausgabe Köln 1701). Zur Sache s. außer Verg. Aen. 8,184/279 auch Ov. fast. 1,543/584; 4,65/68; 5,639/650, wo hospes und hospitium im Text vorkommen (4,67 bzw. 1,545; 5,647). 71 Verschiedene Herculesstatuen auf dem Forum zieht Cerri (wie S. 187 [65]) 309 in Erwägung.

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auch sonst paßte das, wie oben (S. 189f. [66f.]) bemerkt, nicht recht zum Charakter der Darstellung, die sinnfällige Eindrücke eines Rundgangs wiedergibt. Man könnte an Beischriften denken; denn die Frage stellt sich erneut für die Reihe der reges prisci, die ja, den doppelköpfigen Janus ausgenommen, kaum ohne weiteres zu identifizieren waren. Aber auch passende Attribute kommen in Betracht, die bei Prudentius dem Streben nach Kürze der Schilderung zum Opfer gefallen sein könnten72. Der bronzene Hercules Aemilianus im Konservatorenpalast, der im Tempel des Hercules Victor bei der Ära Maxima stand, hält eine Keule, die ursprünglich am unteren Ende in einen Gegenstand eingelassen war. Eine Marmorreplik zeigt, daß es sich um einen Stierschädel handelte73. Damit war der Zusammenhang mit dem CacusAbenteuer und dem Besuch bei Euander bildhaft angedeutet. Ein ähnliches Attribut könnte auch die Statue ausgezeichnet haben, die Prudentius vor Augen hatte. Zu bedenken bleibt schließlich, daß der Herculeskult in Rom schon zuvor in diesem Gedicht erwähnt war, und zwar mit einer topographischen Angabe74 und unter Hinweis auf seine besondere Bindung an das Geschlecht der Pinarii75. Wenn Prudentius die Sache, die gewissermaßen schon abgemacht war, hier erneut ins Spiel bringt, darf das vielleicht als Indiz dafür gewertet werden, daß er einen bestimmten Anlaß fand, darauf zurückzukommen. Die allgemeinen Momente, die oben (S. 197f. [73f.]) vorgeführt wurden, erklären den Befund nicht völlig. |

72 Die Angaben bei Vergil Aen. 7,177/191 sind - in der überlieferten Textgestalt - etwas reicher. Doch vgl. zu dem Vers 7,179 unten Anm. 100. 73 H.G. Martin, Römische Tempelkultbilder, Rom 1987, 91f. mit Bezug auf die Replik im Museum zu Burdur (Taf. 10 a-b). Einen Stierschädel als Unterlage der Keule hatte schon W. Fuchs vermutet: Heibig, Führer4 2,573. 74 Prud. c. Symm. 1,120f.: Nunc Saliis cantuque domus Pirtaria templum Collis Aventini convexa in sede frequentat. Die Angabe convexa in sede wird bei Lugli, Fontes 8 (1962) 351, Nr. 332 und Cerri (wie S. 187 [65]) 306 auf den Rundtempel des Hercules Victor bezogen, aber das ist sprachlich unhaltbar: sedes convexa kann nicht dasselbe sein wie aedes rotunda (Liv. 10,23,3 über ebendiesen Tempel). Bei Nardini-Nibby (wie Anm. 1) 3, 299 wird der Ausdruck richtig mit dem Aventin verbunden: die ganze Wendung Collis Aventini convexa in sede gehört jedenfalls zusammen; gemeint ist wohl die Senke und Abflachung des Hügels (wie sonst vallis convexa). Bei F. Coarelli, II foro Boario dalle origini alia fine della repubblica, Roma 1988, 60/ 103 ("I santuari di Ercole nel Foro Boario") wird Prudentius nicht erwähnt, obwohl einerseits gleichzeitige Quellen (Servius und Macrobius), andrerseits Dichter (Ovid) sehr wohl zu Wort kommen. Uber den Herculeskult der Kaiserzeit zusammenfassend Maria Jaczynowska: ANRW 17,2(1981)631/661. 75 Vgl. Verg. Aen. 8,268/270, dazu Wissowa, Religion2 273/275; Latte, Rom. Rel. 213/221.

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V. 227 ex 7231: Die Castores Minucius Felix erwähnt die Statuen der Dioskuren im Lacus Iuturnae, die dort mit ihren Pferden als Boten des Sieges über Perseus standen76. Cerri stellt Erwägungen darüber an, ob Prudentius dieselbe Gruppe meine, neigt aber dann der Annahme zu, der Dichter könne eher das kolossale Paar im Auge haben, das heute auf dem Kapitolsplatz steht77. Er übersieht, daß die Angaben im Text auf eine Bronzegruppe weisen: suffuso figunt vestigia plumbo (231). Damit ist der Sohlenverguß der Bronzestatuen getroffen 78 . Marmorbildnisse, die Dioskuren vom Lacus und die auf dem Kapitol, scheiden also aus, ebenso natürlich die auf dem Quirinal79. Prudentius denkt an Bronzeplastiken auf Steinsockeln, passend zum bronzenen Hercules, der zuvor erwähnt war. Auch hier liegt ihm freilich nichts an Material oder Technik, er bringt die Bleistollen an den Füßen nur deshalb in Erinnerung, um wieder - ähnlich wie schon im Falle des Hercules, aber schärfer und witziger - die Unbeweglichkeit der Statuen vor Augen zu führen, wobei abermals die angenommene Identität von Bild und Gott die Voraussetzung der Kritik schafft: solche fest hingestellten Bildnisse können unmöglich 'Boten' sein! Überhaupt ist hier alles in satirisches Licht getaucht. Inpendent retinente veru (230): die erhöht aufgestellten Figuren neigen sich vornüber, hängen über dem Betrachter, scheinen zu kippen, und die Lanze, die sie halten, muß in Wahrheit als statische Sicherung dienen. Man braucht nur einen Blick auf den sog. Thermenherrscher zu werfen (Tafel I)80, und man wird sogleich die Wahrheit der Beobachtung

76 Min. Fei. 7,3. Zu dieser Gruppe, deren Fragmente erst zu Beginn unseres Jahrhunderts gefunden wurden, s. Fran^oise Gury, Art. Castores: LIMC 3,1 (1986) 608/635, hier 617, Nr. 56 und 3,2,493 (Abb.); Martin (wie Anm. 73) 98/103; Eva Maria Steinby, Lacus Iuturnae 1, Rom 1989 = Lavori e Studi di Archeologia 12,177ff. 77 Cerri (wie S. 187 [65]) 309/313; zu dieser Gruppe LIMC 3,1,617, Nr. 57 und 3,2,494 (Abb.). 78 Vgl. P.C. Bol, Antike Bronzetechnik, München 1985, 162f. mit Abb. 117. Zur Ausnutzung statuarischer Technik für polemischen Zweck s. Arnob. adv. nat. 6,16; hier auch plumbum suffusum, aber in allgemeinerer Verwendung. 79 LIMC 3,1,619, Nr. 77 und 3,2,496 (Abb.). Die Dioskuren des Hegesias, die vor dem Tempel des Jupiter Tonans auf dem Kapitol standen (Plin. n.h. 34,78; vgl. R.D. de Puma, Art. Dioskouroi: LIMC 3,1,567/608, hier 576, Nr. 109a), scheidet Cerri (wie S. 187 [65]) 312 aus, ebenso die Statuen im Castorentempel selbst - dazu ist schon oben S. 191 [68] das Nötige gesagt. 80 Früher auch als einer der Castores aufgefaßt, daher im LIMC 3,1,614, Nr. 21 s.v. Castores, aber unter dem Titel: "Identification contestde"; dazu 3,2,490 Abb. 21.

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und die Treffsicherheit ihres knappen Ausdrucks bewundern81. Aber das Dichterwort ist zugleich kühn, anspruchsvoll, und so hat das Echte (a) hier gleich zwei simplifikatorische Verformungen des Texts (b, c) ausgelöst82: inpendent retinente veru (a) inpendent retinente solo (b) inpendent retinentque veru (c) Version b ersetzt den Ablativ veru durch solo (zu solum, Fußsohle) und scheint noch aus lebendiger Kenntnis und Anschauung antiker Großbronzen entstanden, vereinfacht freilich durch inhaltliche Angleichung an das Folgende. Ein Detail geht verloren, die Aussage wird ärmer. Erst recht läßt c: retinentque veru (Akk.) die Angabe zu einer trivialen Mitteilung verblassen. Der Fall zeigt erneut, wie an dem Prudentiustext herumgearbeitet wurde. Die statischen Probleme, die hier angedeutet werden, | erwähnt Prudentius auch sonst. Der Zusammenbruch der Bronzen dient als Beweis ihrer Vergänglichkeit: aera cadunf*. Oder ausführlicher (c. Symm. l,438ff.)84: 438 440

siformam statuae lamnis conmisit aenis lima terens, aut in partem cava membra gravato pondere curvantur, scabra aut aerugo peresam conficit effigiem crebroque foramine rumpit.

Kurzum, Prudentius hat eine Dioskurengruppe bekannten Typs vor Augen: die Figuren stehen (vestigia flgunt) und halten die auf die Schäfte gestellten Lanzen85. Ob auch die Pferde dazu gehören, bleibt unklar: equites (229) könnte dafür sprechen86 - falls der Text in Ordnung wäre. Aber gegen die Echtheit der beiden Zeilen 228/229 erheben sich ernste Bedenken. Daß hier nach der Periphrase: gemini quoquefratres (227 ex ) noch vier81 Vgl. N. Himmelmann (u.a.), Herrscher und Athlet. Die Bronzen vom Quirinal, Katalog der Ausstellung Bonn, Akadem. Kunstmuseum, 20. Juni - 5. Sept. 1989 (Mailand 1989) 126ff., Abb. (farbig) 143/147; dazu im Katalog 207: "Die Figur steht auf einer modernen Standplatte, wobei sie sich merklich vornüber und nach ihrer linken Seite neigt. ... Ob die antike Basis das Kippen der Statue ausglich, läßt sich nicht sagen". Über die Probleme der Statik bei der Restauration ebd. 181f. 82 ich verweise hier der Einfachheit halber auf Bergmans Apparat: CSEL 61,227 zu V. 230. 83 Prud. c. Symm. 2,753 in passendem Zusammenhang. 84 Wobei offenbar an kolossale Bronzen gedacht ist, die aus Stücken zusammengenietet waren; vgl. Marquardt-Mau, Privatleben 2 2,672f. 85 Darstellungen anderen Typs, welche die Castores zu Pferde zeigen (LIMC 3,1, Nr. 103/ 112) oder sitzend (Nr. 113/114), kommen also nicht in Frage. 86 So folgert Cerri (wie S. 187 [65]) 309.

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mal zu variierender Umschreibung desselben Namens angesetzt wird, wirkt schwerfällig: corrupta de matre nothi - Ledeia proles - nocturnique equites - celsae duo numina Romae (228/229). Es entsteht der Eindruck schleppender Addition der Glieder, dazu ein seltsames Übergewicht im Verhältnis zu den knappen Angaben über Hercules (226/227'"·). Der doppelte Hieb, der in V. 228 auf Leda und ihre Bastarde niedergeht, paßt nicht zum Tenor prudentianischer Götterkritik. Denn ihre Spitze richtet sich stets gegen die Unmoral der vermeintlichen Götter selbst, nicht gegen ihre sterblichen Mütter, ja nicht einmal gegen ihre Geliebten, die eher als Opfer der Gewalt oder List erscheinen. Hier aber wird allein die Mutter der Dioskuren geschmäht. Doch nicht nur der allgemeine Eindruck stört, ein besonderes Moment tritt hinzu. Prudentius hatte schon an früherer Stelle des Gedichts Jupiters Abenteuer mit Europa, Leda und Danae Revue passieren lassen und dabei die althergebrachten Mythen, getreu seiner euhemeristischen Grundanschauung, des Wunderbaren entkleidet. Denn wenn Jupiter Mensch war, standen ihm auch nur menschliche Verführungskünste zur Verfügung (c. Symm. l,59ff.). Ich gebe hier den Text nur so weit wie nötig: 59 60

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mox patre deterior silvosi habitator Olympi luppiter incesta spurcavit labe Lacaenas, nunc bove subvectam rapiens ad crimen amatam, nunc tener ac pluma levior blandosque susurros in morem recinens suave inmorientis oloris, capta quibus volucrem virguncula ferret amorem, ... eqs.

Leda ist also in Wahrheit nicht die Gattin des Tyndareos, die vom Gott in Gestalt eines Schwans besucht wird, sie ist vielmehr ein Jüngferchen (64 uirguncula), das sich von dem artigen, leichtfertigen Verführer, der süß wie ein sterbender Schwan zu säuseln und zu singen wußte, zu flüchtiger Liebe betören ließ (62/64). Prudentius gibt eine rationalistische, wenn auch dichterisch fein ausgesponnene | Mythendeutung, und auf ihr ruht die gesamte Darstellung des ersten Buchs wie auf einem Pfeiler87. Der fragliche Vers (228) 87 Zwar wird virgo gelegentlich freier gebraucht (vgl. Nisbet-Hubbard 2,133 zu Hör. carm. 2,8,22; nicht hierher gehört Verg. ecl. 6,47.52, s. Erika Simon: Enciclopedia Virgiliana 3 [1987] 1006 s.v. Pasifae), aber das Deminutivum virguncula kann man hier nicht von der verheirateten Frau verstehen. Prudentius löst mit der rationalistischen Erklärung der Metamorphose Jupiters zugleich den gesamten Erzählzusammenhang des Mythos auf und reduziert ihn auf

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zerbricht diese sorgsam errichtete Konstruktion. Denn mit der Phrase: corrupta de matre not hi (228 in ) kehrt der Mythos zurück: Leda soll auf einmal wieder Ehefrau sein, die dem Gemahl Bastarde gebiert. Denn so muß nothi hier verstanden werden - dies eine weitere Auffälligkeit, da sonst das unehelich gezeugte Kind des Mannes nothus heißt. So auch bei Vergil Aen. 9,697: Thebana de matre nothum Sarpedonis alti; formal parallel ist ferner Aen. 7,283: supposita de matre nothos (jeweils mit gleicher Stellung im Vers). Es wird also auch in dieser dubiosen Zeile vergilisches Sprachgut verarbeitet was keineswegs überraschen darf 88 -, aber eben mit Verschiebung des Wortsinnes. Denn der Einfall, die Zwillinge seien deshalb nothi, weil sie von Jupiter außerhalb seiner eigenen Ehe mit Juno gezeugt wurden, kann hier selbst klügelndem Verstände kaum kommen. Und ausgerechnet in solchem Vers sticht noch eine ungebräuchliche Wortform hervor: Lede'ia (proles). Das Adjektiv zum Namen Leda heißt Ledaeus, und zwar überall in lateinischer Dichtung, soweit ich sehe89. Schließlich noch ein Letztes. Auch Hercules ist, legt man den Mythos und die hier gewählte Ausdrucksweise zugrunde, corrupta de matre nothus, und doch wird solcher Vorwurf gegen ihn nicht erhoben: er heißt einfach Alcides (226), obwohl Alkaios ebensowenig sein Großvater war wie Tyndareos der Vater der Tyndariden90. Nun mag vielleicht ein Dichter und Apologet unter anderen Umständen solche Tatsachen bald aussprechen, bald unterdrücken, aber er wird schwerlich im Tone der Selbstverständlichkeit vom Alkiden sprechen und in der übernächsten Zeile die Tyndariden als Bastarde bloßstellen. Tut er es dennoch, setzt er sich dem Vorwurf der Ignoeine alltägliche Verfiihrungsgeschichte. Deutlich zeigt sich dieses Verfahren auch in den folgenden Versen (1,65/68) über Danae: Jupiter ist der 'exclusus amator', der sein Ziel erreicht, indem er durch das Dach Gold in den Schoß der Geliebten (68: amicae) schüttet. Auch da bleibt nichts mehr übrig von der Königstochter im Turm. 88 Vgl. die Bemerkungen JbAC, Ergänzungsband 11 (1984) 140f. [in diesem Bande S. 97]; Illinois Classical Studies 14 (1989) 377f. [in diesem Bande S. 181], jeweils im Hinblick auf Vergilbenutzung seitens der Prudentiusinterpolatoren. 89 M. Lavarenne, Etude sur la langue du poete Prudence, Paris 1933, p. 38, § 65 ordnet Ledeius unter der Überschrift "Formes rares d'adjectifs" ein und bemerkt p. 384, § 1097: " Virg. emploie l'adjectif Ledaeus" (zweimal). Aber Ledaeus sagen auch Ovid (dreimal), Lucan (einmal), Statius (fünfmal), Silius (viermal) und Martial (siebenmal); vgl. bes. Lucan. 4,526f. Ledaea ... sidera; Sil. 13,804 Ledaei Castoris; 15,83 Ledaeos ... fratres; Stat. Theb. 11,133 Ledaei ...fratres. 90 Der Verfasser des Verses 228 legte eine Sagenversion zugrunde, derzufolge beide Brüder aus demselben Ei der Leda hervorgingen (Hör. serm. 2,l,26f.; Auson. epigr. 66 [p. 336 Peiper]; Serv. auct. Aen. 3,328), jedenfalls beide nicht Kinder des Tyndareos waren. Einen kurzen Überblick gibt HJ. Rose, Griechische Mythologie, München 1955, 227; vgl. LIMC 3,1,609; Roscher, Lex. 2, 1922/25, bes. 1923f.

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ranz aus: in einem polemischen Gedicht ein fataler Fehler. Andernorts, in der Kritik an den mythischen Stoffen des Pantomimus, stehen denn auch die Abenteuer Jupiters mit Leda und Alkmene zusammen91. Vers 228 allein kann nicht fallen, da V. 229 schlecht an V. 227 anschließt. Zudem melden sich, hat man erst einmal Verdacht geschöpft, gewisse Bedenken auch gegen diese Zeile. Die Wendung: nocturnique equites klingt seltsam - als ob es die Gewohnheit der Brüder wäre, gerade nachts zu reiten92. Natürlich sollte die | bekannte Tatsache ihrer nächtlichen Erscheinung vor jenem P. Vatinius in Erinnerung gerufen93, vielleicht auch ein satirischer Funke daraus geschlagen werden. Aber er springt nicht über, die Pointe, falls es eine ist, wirkt matt. Mit dem letzten Gliede flacht die Reihe der Periphrasen vollends ab: celsae duo numina Romae, das ist kaum mehr als ein volltönendes Füllsel94, gebildet unter Wiederholung des Attributs aus V. 216: celsa ... Capitolia. Klarheit und Schwung der prudentianischen Diktion sind zurückgewonnen, maßvolle Zunahme und Steigerung der Angaben im Übergang von Hercules zu den Dioskuren hergestellt, sobald man die Verse 228/229 streicht: 226 227 230 231

illic Alcides spoliatis Gadibus hospes Arcadiae fulvo aere riget, gemini quoque fratres inpendent retinente veru magnique triumfi nuntia suffuso figunt vestigia plumbo.

Das verbleibende Versgut schießt zusammen, ohne die geringste Fuge zu 91 Prud. per. 10,221/227: Leda, Europa, Alcmene. Zu cygnus stuprator (221) vgl. Tert. apol. 21,8: Jupiter ist Vater de stupro coniugis alienae, d.h. im Mythos geht es um Ehebruch, weil Leda verheiratet ist - nicht etwa mit Rücksicht auf Juno. Dies als Nachtrag zur Bedeutung von nothi an der behandelten Stelle. 92 Nocturni equites, "nächtliche Reiter", "Reiter bei Nacht". Zum Gebrauch des Adjektivs (nocturnus) statt eines Zeitadverbs (noctu) vgl. etwa Hör. epist. 1,19,11: (poetae) nocturno certare mero, putere diurno und ars 268f.: vos exemplaria Graeca Nocturna versate manu, versate diurna. Aber der Vergleich lehrt, wieviel klarer der Dichter ist als der Dichterling, dessen Ausdrucksweise den alten Exegeten wahre Rätsel aufgab, vgl. Heinsius (wie Anm. 70) zur Stelle. Die prädikative Verwendung des Adjektivs, von der jener Sprachgebrauch ausgeht, ist hier nicht mehr fühlbar; s. Hermes 111 (1983) 343f. 93 Cie. nat. deor. 2,6: ...et recentiore memoria idem Tyndaridae Persen victum nuntiaverunt. P. enim Vatinius ..., cum e praefectura Reatina Romam venienti noctu duo iuvenes cum equis albis dixissent ... eqs.; Val. Max. 1,8,1: item hello Macedonico P. Vatinius ... noctu urbem petens ... eqs.; Lact. inst. 2,7,10: idem (sc. Castor et Pollux) bello Macedonico equis albis insidentes Publio Vatieno [sie] Romam nocte venienti se obtulisse dicuntur nuntiantes ... eqs. Ähnlich das Scholion zu Persius 2,56, das die Wendung: fratres inter aenos auf Bronzebilder der Dioskuren bezieht. Vgl. Cerri (wie S. 187 [65]) 310. 94 An die Identifikation der Staatspenaten mit den Dioskuren (Wissowa, Religion 2 165) wird hier wohl niemand denken.

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hinterlassen. Was hier über die Dioskuren gesagt war, reichte vollkommen aus, um die Gruppe zu kennzeichnen, genügte auch, den quasi-historischen Hintergrund des Kults anzudeuten. Man sieht jetzt, daß die beanstandeten Verse kein graphisches Detail hinzufügen, die Anschauung in nichts stützen, sie sogar schwächen, indem sie auf Nichtgeschautes ablenken. Das hat hier als Mangel zu gelten, weil bei aller satirischer Färbung doch hervortreten soll, was dem Kinde Eindruck macht, nicht, was sich überhaupt gegen die Götter vorbringen läßt. Großinterpolamente spätantiker Herkunft, auch solche, die sich, wie in unserem Fall, nicht durch den handschriftlichen Befund irgendwie verraten, sind im Prudentiustext nichts Unerhörtes95. Man muß bedenken, daß die Erzählungen vom hilfreichen Eingreifen der Dioskuren in der Schlacht am Regillussee und von ihrer Erscheinung nach dem Sieg bei Pydna sehr bekannt waren und überdies durch Ciceros Cotta eine Ironisierung erfahren hatten, die der christlichen Polemik vorarbeitete96. Das alles konnte zur Ergänzung der prudentianischen Angaben, zur Erweiterung der Namensperiphrase reizen, wobei aber wohl auch eine gewisse Tendenz zur Verschärfung der Götterkritik mitgewirkt haben dürfte. Sie hat sich auch sonst im Text dieses Werks niedergeschlagen97.

V. 232/237'°·: Die Könige Das methodische Problem, das bei Interpretation des ganzen Passus überall im Hintergrund steht, tritt in diesen Versen mit voller Schärfe hervor. Es ist das Problem des Verhältnisses von Literatur und Monument, Imitation und Beobachtung, Dichtung und Wahrheit. Statuen aus dem Epos Vergils, scheint es, werden nach Rom versetzt, Bildnisse der Urzeit Italiens unter die Monumente der Stadt eingereiht, Fiktionen dichterischer Phantasie wie reale Denkmäler vorgestellt. Cerri wählt den vermeintlich einfachen Weg, den jedermann zuerst sieht. Was sich durch den bekannten Denkmälerbestand nicht belegen läßt, ist erfunden und bloß 'literarisch': Bildnisse des Hercules und 95 Darüber zuletzt in den Illinois Classical Studies 14 (1989) 365/382 [in diesem Bande S. 167/186]. 96 Cie. nat. deor. 3 , l l f . Dazu Tert. apol. 22,12: phantasmata Castorum. 97 Das auszuführen, muß späterer Gelegenheit überlassen werden [dazu in diesem Bande S. 228/90, bes. 230. 237f. 248. 268. 272f. 277. 281. 284ff.].

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der Dioskuren gibt es, und auch Saturn und Janus haben ihre Tempel; aber von Statuen der anderen wissen wir sonst nichts, | folglich gibt es sie auch nicht98. Cerri bricht also die kunstvoll gefügte und durch die Aussage: omnibus ante pedes ... eqs. (236f.) stilistisch wie sachlich zusammengeschlossene Reihe der reges prisci auf, um nach dem äußeren, durchaus fragwürdigen Kriterium unseres Wissens zu entscheiden, was dem Autor zu glauben sei und was nicht. Also, Janus und Saturn: ja! Tros, Italus, Sabinus, Picus: nein! Daß solches Verfahren auch dem Wortlaut grob widerspricht, insofern die Angabe über die Altäre mißachtet wird, brauchen wir hier nicht zu wiederholen". Für die Beurteilung des Verhältnisses zu Vergil ist es wichtig, nicht nur die Übereinstimmungen zu sehen, sondern auch - innerhalb des Vergleichbaren - die Unterschiede. Der Königspalast auf der Akropolis der Laurenter diente nach Vergil sowohl Zwecken des staatlichen Lebens als auch solchen des Kults und wird daher templum genannt. Über die dort aufgestellten Statuen heißt es (Aen. 7,177ff.)100: 177

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quin etiam veterum effigies ex ordine avorum antiqua e cedro, Italusque paterque Sabinus [vitisator, curvam servans sub imagine falcemj Saturnusque senex lanique bifrontis imago vestibulo adstabant aliique ab origine reges [Martiaque ob patriam pugnando volnera passi.] multaque praeterea sacris in postibus arma, captivi pendent currus curvaeque secures et cristae capitum et portarum ingentia claustra

98 Cerri (wie S. 187 [65]). 99 Vgl. oben S. 198f. [74f.]. 100 Ich gebe den Wortbestand des Texts nach Sabbadini - Geymonat (Ausgabe: Turin 1973). Die Klammern um V. 179 habe ich selbst zu verantworten. Die Aussage kann sich, so wie sie im Text steht, nur auf den zuvor genannten Sabinus beziehen. Der Gott mit der falx ist aber nicht Sabinus, sondern Satumus, und er heißt auch vitisator (bei Arnob. 3,29). Der Ausdruck: servans sub imagine (falcem) hat antiken wie modernen Erklärern Rätsel aufgegeben (Serv. Aen. 7,179; vgl. P.H. Peerlkamp, Aeneisausgabe Bd. 2, Leiden 1843, p. 15) und bewirkt eine häßliche Wortwiederholung im folgenden Vers (sub imagine ... imago). Dem Zeugnis des Prudentius kommt hier durchaus Gewicht zu. V. 179 wird von ihm nicht verarbeitet. Als Erfinder des Winzermessers kennt auch er nur den Saturn, vgl. c. Symm. l,49f. (Saturn spricht): Vitibus incurvum, si qua est ea cura, putandis Procudam chalybem ... eqs. Aen. 7,182 wurde von Chr. G. Heyne (Bd. 3, Leipzig 18033, p. 30 im App. zu V. 182) beargwöhnt, von Peerlkamp (a.O. p. 16) getilgt. Die heute herrschende Auffassung, wir besäßen einen sicheren, reinen Vergiltext, ist, jedenfalls was die Aeneis angeht, grundfalsch.

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spiculaque clipeique ereptaque rostra carinis. ipse Quirinali lituo parvaque sedebat succinctus trabea laevaque ancile gerebat Picus, ecum domitor, quem capta cupidine coniunx aurea percussum virga versumque venenis fecit avem Circe sparsitque coloribus alas.

Man hat auch für diesen Passus einen Zusammenhang mit dem Augustusforum angenommen, doch kann der Dichter aus chronologischen Gründen nicht der Empfänger etwaiger Anregungen gewesen sein101. Heute wird im Hinblick auf die gesamte Beschreibung des Baus, seiner Lage und Größe, seiner staatlichen und kultischen Funktionen (Aen. 7,170ff.), der Kapitolstempel in Rom als Vorbild | Vergils angesehen102, doch lasse ich die Frage auf sich beruhen. Die Details, die einen Vergleich mit Prudentius rechtfertigen, sind oben im Druck hervorgehoben. Gleich ist vor allem die Liste der laurentischen Könige103, die bei Prudentius in derselben Reihenfolge wiederkehren, gleich oder ähnlich sind auch einige ihrer Attribute, gemeinsam ist beiden Schilderungen schließlich die Metamorphose des Picus - nicht zu vergessen natürlich die Tatsache, daß es sich hier wie dort um Statuen handelt. Vergil: ex ordine ... adstabant (177/181), Prudentius: qui stant ex ordine (225); adsistunt etiam (232). Aber gerade in den Gemeinsamkeiten zeigen sich Unterschiede. 1) Die Liste ist bei Prudentius um eine Gestalt erweitert, die nichts mit den laurentischen Königen zu tun hat. Indem Tros an die Spitze der Reihe tritt

ιοί A. Degrassi, Virgilio e il Foro di Augusto: Epigraphica 7 (1945) 88/103 gegen H.T. Rowell: American Journal of Philology 62 (1941) 261/276. Degrassi hält es aber immerhin für möglich, daß Augustus seinerseits durch vergilische Verse, bes. durch die sog. Heldenschau Aen. 6,756ff., angeregt wurde, die Statuen seiner Vorfahren und der großen Männer der Republik aufzustellen. 102 W. A. Camps: Class. Quarterly, N.S. 9 (53), 1959,54; ders., An Introduction to Virgil's Aeneid, London 1969, 153f. mit Anm. 14. Zustimmend V.J. Rosivach: Class. Quarterly, N.S. 30 (74), 1980, 148f. und Enciclopedia Virgiliana 4 (1988) 92f. s.v. Pico (Picus). Auch für C.J. Fordyce, Spezialkommentar zu Aen. VII/VIII, Oxford 1977, 96 zu V. 170ff. ist die Sache klar. 103 Vergils Liste Aen. 7,177ff. stimmt nicht mit der Genealogie ebd. 47ff. (Saturnus, Picus, Faunus, Latinus) überein; auch hat nach 7,61ff. Latinus selbst die Stadt der Laurenter gegründet und benannt, während 7,171 der Tempelpalast Laurentis regia Pici heißt. Diese Widersprüche erklären sich aus dem unfertigen Zustand der Aeneis; vgl. etwa die kurze Notiz bei R. Heinze, Virgils epische Technik, Leipzig 19153 (1957) 3981. Die Annahme, der Dichter habe an der späteren Stelle "vergessen", was er hundert Verse vorher schrieb (Fordyce [wie vorige Anm.]), ist ebenso absurd wie die Unterstellung, er erzeuge in solcher Sache absichtsvolle "Ambivalenz" (Rosivach [wie vorige Anmerkung] 140/152, bes. 146).

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(Prud. 233), wird sofort bestätigt, daß es im Sinne der Ankündigung: priscorum insignia regum (Prud. 232) tatsächlich um Bildnisse "alter Könige" geht, nicht nur um die der laurentischen. Interpolatorische "Egalisierungssucht" (Jachmann)104 hat sich hier allerdings gereizt gefühlt und durch Veränderung des Versanfangs die vollständige Harmonie der Kataloge hergestellt. Dux Italus, urkundlich als spätantikes Interpolament ausgewiesen105, ersetzt Tros, Italus, wodurch das gegenüber der laurentischen Königsliste überschüssige Glied abgestoßen, der Text freilich auch stilistisch verschlechtert wird. Denn Prudentius hat auf die Bildung solcher Reihen große Sorgfalt verwandt106. Hier (Prud. 233/235) eröffnen zwei blanke Namen, asyndetisch gestellt, die Aufzählung; sie setzt sich fort in drei durch Attribut erweiterten, mit -que verbundenen Gliedern, die nach Art eines doppelten Chiasmus angeordnet sind, und findet in der Person des Picus, dem noch ein ganzer Vers zusätzlich gewidmet ist, ihren Abschluß. Es ergibt sich also dem Umfang nach eine Steigerung, die, beginnend mit zwei einzelnen Namen, über drei etwa gleichgewichtige Mittelglieder zum Höhepunkt führt, wobei auch die Verteilung der Namen auf die Verse sorgfältige Ponderierung zu erkennen gibt. Vier Eigennamen drängen sich in der ersten Zeile (233), zwei rahmen die folgende (234), die dritte (235) erzeugt nur noch ein Bild (Prud. c. Symm. l,233ff.): 233 235

Tros, Italus Ianusque bifrons genitorque Sabinus Saturnusque senex maculoso et corpore Picus, coniugis epotum sparsus per membra venenum. \

Die interpolierte Fassung, von älteren Editoren sogar in den Text genommen107, stört diesen kunstvollen Bau, da nun der flotte Auftakt fortbleibt und nur noch monotonisch vier Glieder gleichen Gewichts aufeinanderfolgen: dux Italus, Ianusque bifrons ... eqs. Der Tendenz zur Harmonisierung der Listen fällt außerdem paradoxerweise gerade Vergilisches zum Opfer. Den Versanfang Tros Italusque hat Vergil Aen. 11,592, wo die Namen allerdings bloße Ethnika 104 G. Jachmann, Textgeschichtliche Studien, Königstein/Ts. 1982 = Beiträge zur Klass. Philologie 143, 611. 624; sie äußert sich besonders in der Verbalinterpolation (Kleininterpolation): ebd. 535 2 ; vgl. dens., Ausgewählte Schriften, Königstein/Ts. 1981 = Beiträge zur Klass. Philologie 128, 221: "Egalisierungstrieb". Nach Jachmanns Typologie gehört unser Fall in den weiten Bereich der sog. "Konkordanz-Interpolationen" (ebd.). 105 Durch den Ambrosianus (B): dus [sie] Italus. Im übrigen verweise ich wieder auf Bergmans Apparat: CSEL 61,227 zu V. 233. 106 Vgl. Hermes 111 (1983) 354f.; Vig. Chr. 42 (1988) 148 [in diesem Bande S. 159f.]. 107 So von F. Arevalo (Rom 1788/89): PL 60,139 A.

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sind108. Aber Vergil kennt Tros auch als Person, ja sogar als Statue109. Der Ahn des julischen Hauses steht unter den Marmorbildern des idealen Tempels, den der Dichter am Mincius errichten will (Verg. georg. 3,34ff.): 34 35

stabunt et Parii lapides, spirantia signa, Assaraci proles demissaeque ab love gentis nomina, Trosque parens et Troiae Cynthius auctor.

Prudentius' Katalog vereinigt also Bildnisse, die bei Vergil an verschiedener Stelle und in verschiedenem Zusammenhang vorkommen. Seine Formation, die gleichsam Troja und Altitalien repräsentiert, trägt eigentümlichen Charakter. 2) Die Statuen der laurentischen Könige bei Vergil sind aus Zedernholz. Solche archaischen ξόανα kann sich kaum jemand im kaiserzeitlichen Rom vorstellen, und so wird man dem Unterschied im Material - Prudentius beschreibt Bronzen110 - nicht sonderliche Bedeutung beimessen. Beachtlicher ist die verschiedene Funktion der Figuren. Vergil meint Ahnenbilder, nicht Kultbilder. Seine Statuen stehen im Vorhof des Tempels: vestibulo adstabantm, und von Altären ist nicht die Rede. Ja, es scheint, als gebe es dort überhaupt kein Götterbild, so daß man auf den Gedanken kommen könnte, Vergil habe der Lehre Varros vom anikonischen Kult der Frühzeit Wirklichkeit verleihen wollen112. Allenfalls mag man sich Picus, der, anders als alle anderen, sitzend dargestellt war (vgl. 7,187: ipse... sedebat), als Tempelkultbild denken. So hat sich wohl Silius die Verhältnisse zurechtgelegt"3. Aber 108 Vgl. A. Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius, Washington 1934, 87. 109 Richtiger Hinweis darauf bei Thomson (wie Anm. 20) 368c. Unbegreiflich, daß Mynors (wie Anm. 41) zweifelt, ob mit georg. 3,34 Statuen gemeint seien! Stabunt läßt keine andere Möglichkeit offen, s. den Text oben. Vgl. W. Richter, Vergil. Georgica, München 1957, 268 zu V. 34ff.: "Lebensechte Statuen" (spirantia signa). HO Vgl. oben S. 201. 205, unten S. 215 [76. 78, unten 86f.]. 111 Betont von Ti. Donat (2, p. 26, Z. 22ff. Georg») zu tectum augustum, ingens (Aen. 7,170): cum autem nominat tectum, intellegendum est solum interim describi vestibulum, ut ex qualitate triumphalis ingressus qualia fuerint reliqua colligi posset. In der Tat hören wir über das Innere des Tempels nichts, bis wir erfahren (Aen. 7,192f.), daß Latinus dort sitzt und die Trojaner hereinrufen läßt (wiederum aufmerksam verfolgt von Donat: p. 29,27ff.). Das Vestibulum eines Tempels ist fester Begriff, vgl. z.B. Cie. Verr. 2,160: ante ipsum Serapim, inprimo aditu vestibuloque templi-, de or. 2,320: oportet, ut aedibus ac templis vestibula et aditus, sie causis prineipia pro portione rerum praeponere. Weiteres bei Marquardt-Mau, Privatleben2 1,224 5 . 112 Varro bei Aug. civ. 4,31 = RD (Res divinae) I frg. 18 Cardauns. 113 Bei Silius l,86ff. gibt es im Didotempel zu Carthago eine Ahnengalerie in Form von Standbildern und eine sitzende Figurengruppe: Dido und Sychaeus. Aber hier ist die Sitzgruppe als Kultbild verstanden. Die Imitation der vergilischen regia Pici ist notiert von Heyne (wie

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aus dem Vergiltext geht das nicht klar hervor. Dagegen sind die Könige, die Prudentius nennt, allesamt als Götter aufgefaßt: sie haben Altäre. 3) Der auffälligste Unterschied zeigt sich an der Gestalt des Picus. Bei Vergil ist er mit der Trabea angetan, in der Rechten hält er den lituus, in der Linken das ancile. Seine Verwandlung in einen | Specht wird nur erzählerisch ergänzt (Aen. 7, 189/191). Ovid, der eine Marmorstatue des Picus erwähnt, hat das Problem, wie die Metamorphose in der Plastik ausgedrückt werden könne, ansatzweise zu lösen versucht. Eine Dienerin der Kirke zeigt dem Achaemenides das Bildnis (met. 14,313/315): 313 315

ilia mihi niveo factum de marmore signum ostend.it iuvenale gerens in vertice picum, aede sacra positum multisque insigne coronis.

Ovid stellt uns eine Jünglingsgestalt vor, auf dem Haupt trägt sie einen Specht. Der Mythos wird also nur durch ein Attribut symbolhaft angedeutet. Der Dichter ließ sich vielleicht durch die Statue des Corvinus auf dem Augustusforum anregen: in eius statuae capite corvi simulacrum est, reipugnaeque ... monimentumm. Wie der Rabe auf dem Kopf des Helden an jenen Zweikampf mit dem hünenhaften Gallierfürsten e r i n n e r n sollte, so dachte sich auch Ovid offenbar den Specht als monimentum der Metamorphose beigegeben. Etwas ganz anderes beobachten wir bei Prudentius. Sein Picus ist natürlich auch menschengestaltig, nicht etwa Vogel115. Ein Specht in der Reihe der Könige wäre ja ganz undenkbar, und die Wendungen: maculoso... corpore, per membra (Prud. 234f.) gehen selbstredend auf einen menschlichen Körper. Anm. 100) 29 zu Verg. Aen. 7,177/182; andere Muster aus Vergil bespricht J. Küppers, Tantarum causas irarum, Berlin/New York 1986 = Untersuchungen zur antiken Lit. und Gesch. 23, 74/80. 114 Gell. 9,11,10. Mehr bei F. Börner, Ovid, Metamorphosen, Buch XIV-XV, Heidelberg 1986, l l l f . zur Stelle. Zum weiteren Hintergrund s. H. Bartholome, Ovid und die antike Kunst, Diss. Münster 1935; H. Herter, Ovids Verhältnis zur bildenden Kunst. Am Beispiel der Sonnenburg illustriert: Kleine Schriften, hrsg. von E. Vogt, München 1975 = Studia et testimonia antiqua 15, 493/513; Marion Lausberg: Grazer Beiträge 10, 1981 (1983), 181/191; Boreas 5 (1982) 112/123, jeweils mit Lit.; ferner dies., Ovid: "Metamorphosen" = Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 1988/89, 39/53, hier 48: Ovid selbst liebt es, die Metamorphose in ihrem Verlauf darzustellen und wirkte damit auf die Künstler, besonders im Barock. 115 Falsch also Ch. Schwen, Vergil bei Prudentius, Diss. Leipzig 1937, 39f.: "Wesentlich ist, daß Picus bei Vergil Menschengestalt trägt und seine Verwandlung, erst als nachträglich erzählt wird, Prudentius aber spottend ihn als bereits verwandelt darstellt". Über Picus s. Carter: Roscher, Lex. 3,2 (1902/1909) 2494/2496; G. Rohde: PW 20,1 (1941) 1214/1218; V.J. Rosivach: Enciclopedia Virgiliana 4 (1988) 92f.

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Was hätte auch Prudentius, der schon Victoria, die puella pinnigera, nicht ertrug116, aus einer vogelgestaltigen Gottheit gemacht! Nein, die Metamorphose ist hier bildhaft durch somatische Veränderungen wiedergegeben, die sich üblicherweise am Körper des Vergifteten zeigen. Denn dunkle Verfärbungen (livores) sind die indicia et vestigia veneni"7. Wir haben es mit einer neuen Möglichkeit zu tun, den alten König als Menschen darzustellen und doch seine Vergiftung und bevorstehende Verwandlung im Bilde festzuhalten. Dieser Picus zeigt die in Rom wohlbekannten Symptome des Gattenmords durch Gift, weshalb auch Kirkes Zauberstab, der bei Vergil und Ovid118 mit am Werke ist, hier ganz unerwähnt bleibt, alle Wirkung allein auf einen Trank zurückgeführt wird: (Picus) coniugis epotum sparsus per membra venerium (Prud. 235). Die natürliche Zeichnung des Vogelgefieders erleichterte es vielleicht, die Metamorphose als im Verlauf befindlich zu erkennen119. Was also Vergil nur der Beschreibung des Schnitzbildes erzählend hinzufügen konnte, war auf der Bronze, die Prudentius vor Augen hatte, teilweise sichtbar wiedergegeben. An der technischen | Möglichkeit solcher Darstellung wird niemand zweifeln, der sich des Faustkämpfers im Thermenmuseum erinnert120. Er zeigt Wunden und Narben an Kopf und Körper: Vertiefungen in der Bronze, die mit Kupfer ausgefüllt waren und es zum Teil noch sind. Ähnliche Bearbeitungen der Bronze sind seit klassischer Zeit nachweisbar121, und nichts hindert die Annahme, daß auf solche Weise auch das corpus maculosum des Picus plastisch dargestellt werden konnte. Prudentius' Statuengruppe der alten Könige weicht also von der Vorlage bei Vergil in einigen wesentlichen Punkten ab. Andrerseits ist der literari116 Ausführlich hierüber in dem oben (Anm. 24) genannten Aufsatz 1 Iff. 29ff. 117 Suet. Calig. 1,2 (livores)·, Cie. Cluent. 30 (indicia et vestigia veneni); Tac. ann. 2,73 (veneficii signa); vgl. Juv. sat. 1,69/72. Die Sache liegt dem ersten der prudentianischen Tituli zugrunde, wo auch maculae erwähnt sind. Vgl. Ch. Gnilka, Prudentiana: Roma renascens, Festschrift Ilona Opelt, hrsg. von M. Wissemann, Frankfurt a.M. (usw.) 1988, 78/87, hier 84/86. Π8 Verg. Aen. 7,190; Ov. met. 14,387 und 413f. U9 Sil. 8,440ff.: (Picum) carmine Circe Exutumformae volitare per aethera iussit Et spar sit croceum plumis jügientis honorem. Vgl. Prud. 235: sparsus per membra. Die ornithologische Frage, welchem Vogel die Farbbezeichnungen der Dichter gelten könnten, behandelt Theodora Stillwell Mackay, Three Poets Observe Picus: American Journal of Philology 96 (1975) 272/275. 120 Vgl. den Katalog der Bonner Ausstellung (wie Anm. 81) 150ff. 175ff., dazu die Abbildungen auf S. 165/171. 121 Bol (wie Anm. 78) 155f. mit S. 153 Abb. 112. Vgl. P. Reuterswärd, Studien zur Polychromie der Plastik. Griechenland und Rom, Stockholm 1960, 115/130.

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sehe Bezug deutlich und wird vom Autor gesucht, weil, wie wir sahen122, das Vorbild den argumentativen Wert seiner eigenen Schilderung steigerte. Gerade das macht aber die bestehenden Differenzen, die unter der gemeinsamen 'literarischen Schicht' hervorschimmern, um so auffälliger.

III. Ausblick Die behandelte Passage gehört in die literarische Tradition der Kunstbeschreibungen antiker Poesie, und Prudentius' Darstellung offenbart ihren literarischen Charakter in jeder Zeile. Aber diese Tradition wird hier in den Dienst eines neuen, religiösen Zwecks genommen. Außerdem befand sich der Dichter hinsichtlich seines Verhältnisses zu den geschilderten Denkmälern in einer besonderen Lage. Ebenso wie er die Malereien am Cassiansgrab zu Forum Cornelii und in der Hippolytusgruft in Rom nicht frei erfinden und seinem Heimatbischof eigene Phantasien vorgaukeln konnte123, so durfte er auch hier gegenüber Symmachus und seinem Kreis nicht mit dichterischen Fiktionen aufwarten. Wo wir ihn überprüfen können, bei Beschreibung des Romatempels, hält er stand - nach dem Maß, das man anlegen darf. Aber auch die Götterbilder im Herzen des heidnischen Rom hat er ebensowenig erfunden wie etwa das Baptisterium bei St. Peter und andere Monumente der christlichen Stadt124. Die allgemeinen Voraussetzungen der Ortskenntnis sind erfüllt, da dem Abschluß des Gedichts im Jahre 402 oder 403 eine Romreise des Autors voraufging125. Man kann sich die Tatsachen auch in der Art einer Gegenprobe klarmachen. Wollte man annehmen, Prudentius habe jene Figurenreihe erfunden, stieße man auf folgende Konsequenzen: Er hätte Statuen, deren literarische Existenz jedem Gebildeten vertraut war, zu Beispielen des Kults gemacht, die das Kind in Rom beeindrucken. Er hätte die dreiste Erfindung als Beweis des Einflusses des Senats ausgegeben und durch eine betonte Ortsangabe (illic) 122 Vgl. oben S. 198 [74]. 123 Prud. per. 9 und 11, hier (11,2) die Anrede ο Christi Valeriane sacer. Vgl. Gnilka (wie Anm. 24) 2 8 , etwa im gleichen Sinne, wenn auch etwas halbherzig, äußert sich jetzt M. Roberts, Poetry and the Cult of the Martyrs, Ann Arbor 1993, 138. 124 Prud. per. 12, 37/44. Anders steht es mit Prudentius' Bildepigrammen. Dazu habe ich mich bei früherer Gelegenheit (wie Anm. 117: dort 84) knapp geäußert; die Frage wird von T. Lehmann im Boreas 17, 1994, 290 Anm. 55 erneut geprüft. 125 Literatur zu dieser Spezialfrage bei Roberts (wie Anm. 123) 38; vgl. ebd. 17893. Ältere Gelehrte nahmen sogar an, das Werk Contra Symmachum sei in Rom entstanden.

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bekräftigt. Er hätte das in einem Gedicht gewagt, das Theodosius (in Buch I) und die regierenden Kaiser (in Buch II) redend einführt und einen Preis auf Honorius und Stilicho (in Buch II) enthält, das gegen das Haupt der heidnischen Senatspartei in noch immer aktueller Sache gerichtet ist und durch die beiden Praefationes die Apostelfürsten Peter (zu Buch II) und Paul (zu Buch I) als leitende Gestalten den Büchern voranstellt, also in einem Werk, das mit | einem hohen Anspruch auftritt und als repräsentatives Dokument christlichrömischen Kulturwillens in mancher Beziehung den episch-panegyrischen Gedichten Claudians vergleichbar ist. Er hätte weiterhin die Kombination der Könige mit Hercules und den Dioskuren frei erfunden, hätte diese ganze erdachte Statuenreihe an die Behandlung des Templum Urbis angeschlossen, die einige Fakten präzise wiedergibt, und hätte an das Erfundene mit dem Hinweis auf den Monatsnamen Ianuarius und das Kaiendenfest im Januar wiederum Tatsachen angefügt: hätte also den Fiktionen einen realen Rahmen gegeben, das Phantastische in einen historischen Hintergrund hineingemalt. Er hätte schließlich Vergils Schilderung jener Statuen der laurentischen Könige in wichtigen Punkten abgewandelt, ohne daß sich die Veränderungen allein aus dem Streben nach Variation des Vorbilds erklären ließen. Was ist nun das methodisch Richtige? Das alles dem Dichter zuzutrauen, weil er eben Dichter ist und weil er einen anderen Dichter benutzt? Oder trotz des literarischen Charakters der Darstellung einen entsprechenden Denkmälerbefund anzusetzen? Wählt man, wie billig, den zweiten Weg, gelangt man zu Schlüssen, welche die stadtrömische Topographie und Archäologie nicht unberührt lassen. Unsere Handbücher, etwa das Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC), müssen durch neue Nummern (s.v. Castores, Ianus, Hercules, demnächst auch s.v. Picus, Saturnus) ergänzt und unter Umständen auch durch neue Stichwörter (Italus, Sabinus, Tros) erweitert werden. Für die Gestalt des Picus ergibt sich eine eigenartige Wiedergabe seiner Metamorphose und ein interessanter Beleg plastischer Technik. Aber auch aus der ganzen Gruppe sind dann Folgerungen abzuleiten. Denn da die Übereinstimmungen mit Vergil, mag sie auch Prudentius vielleicht absichtlich betont haben, schon im Statuenbestand selbst müssen erkennbar gewesen sein, hat man die 'Vergilimitation' zunächst für die Plastik anzunehmen, nicht für die Poesie, muß man sie dem zuweisen, der das Statuenprogramm für die Kunst konzipierte, nicht dem, der das Programm in seinen Versen nachbildete. Und damit lenke ich nochmals zu der Frage nach dem Ort der Aufstellung zurück126. 126

Vgl. oben S. 200f. [75f.]

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Prudentiana I. Critica

[87/88]

Standen die Bronzebilder tatsächlich, wie der Text nahelegt, am Tempel der Venus und Roma, etwa im Vestibulum ante delubrum, wo sie dem Betrachter gleich auffielen, ergäbe die Aufnahme des Statuenprogramms aus der Aeneis wie auch seine gleichfalls an Vergil orientierte Abwandlung vielleicht einen tieferen Sinn: zur Roma Aeterna und zur Venus Genetrix paßten die Repräsentanten Altitaliens wie auch der eponyme Heros der Troer, und Hercules mit den Dioskuren fügten sich, vielleicht als Mittler griechischer und römischer Welt, auch nicht übel an. Prudentius' Liste braucht ja auch keineswegs vollständig zu sein. Der eine Tros neben den fünf laurentischen Königen mag nur ein umfassenderes Programm andeuten. Hadrian, der den Plan des Doppeltempels angeblich selbst entwarf und so stolz darauf war, daß er den Architekten Apollodor seine Kritik mit dem Tode büßen ließ127, wird sich wohl auch um den Statuenschmuck gekümmert haben128, und nichts hindert die Annahme, daß der ursprüngliche Bestand das Feuer zu Beginn des vierten Jahrhunderts überdauert hatte, da ja auch die umlaufende Porticus erhalten blieb129. Natürlich ist das alles nur Vermutung. Andrerseits | wissen wir, daß Hadrian ein begeisterter Liebhaber der Literatur und besonders der Dichtung war130, daß er gerade die alten Autoren liebte - Ennius sogar mehr als Vergil131 - und selbst literarisch hervortrat132. Wenn wir in der Statuengruppe bei Prudentius ein Zeugnis lebendiger Vergilwirkung in der Plastik greifen, dann würde man solchen Einfall gerne mit der Person dieses Kaisers verbinden. Hadrian, "cet archai'sant subtil"133, könnte dem ähnlichen Bildprogramm des Augustus-Forums ein eigenes gegenübergestellt haben. 127 Vgl. Cass. Dio 69,4. Doch vgl. jetzt W. Burkert, Perikles von Mylasa, Architekt des Tempels der Venus und Roma: Kotinos. Festschrift für Erika Simon, hrsg. von Heide Froning, T. Hölscher, H. Mielsch, Mainz 1992, 415/417 (Hinweis M. Trunk). 128 Ihn hat man sich als reich vorzustellen. Platner-Ashby p. 554 zitieren hierzu Hist. Aug. trig. tyr. 32. Münzen und ein Medaillon zeigen zwei bzw. vier Statuen vor den Frontsäulen des Tempels: Strack (wie Anm. 34) Nr. 463. 696 mit Taf. XI 696; vgl. auch die verschiedenen Rekonstruktionszeichnungen bei Mufioz (wie Anm. 2). 129 Erinnert sei immerhin an die Junktur vetusta arula bei Prudentius (236f.), obwohl ich darauf nicht besonderes Gewicht legen möchte. 130 Hist. Aug. Hadrian. 14,8: fiiit... poematum et litterarum nimium studiosissimus. 131 Ebd. 16,6f. 132 Ebd. 15,11. 133 Turcan (wie Anm. 26) 42. Wenn Einfluß Vergils auf den Statuenschmuck des Augustusforums für möglich erachtet wird (s. oben Anm. 101), ist solche Möglichkeit im anderen Falle nicht auszuschließen. Vgl. A. Barattolo: Rom. Mitt. 89 (1982) 133/151, hier 150: der Tempel der Venus und der Roma sei unzweifelhaft "il monumento principe della propaganda imperiale di Adriano". - Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß Ianus bifrons in der hadrianischen Münzprägung mit Szepter dargestellt wird, also als "Urkönig von Latium"; Erika Simon: Art. Ianus: LIMC 5,1 (1990) 618/622, hier 621, Nr. 16 und 5,2,422 (Abb.).

XI.

EIN MIßGLÜCKTES INTERPRETAMENT IM PRUDENTIUSTEXT (c. Symm. 2,302)' Der Prudentiustext weist vielerlei Spuren spätantiker Fälschertätigkeit auf, die sich durch den handschriftlichen Befund zu erkennen geben. Doch genügt es nicht, allein solchen äußeren und gewissermaßen zufälligen Spuren zu folgen Hier soll eine Frucht dieser allgemeinen Erkenntnis geerntet und ein bislang unerkanntes Versinterpolament im zweiten Buch des Gedichts Contra Symmachum ans Licht gezogen werden2. Symmachus hatte die Gedanken seiner berühmten (dritten) Relatio hauptsächlich aus der Hochschätzung der Tradition entwickelt, Ambrosius ihr das Prinzip des Fortschritts entgegengesetzt. Eine der von Ambrosius angeführten Analogien, die kulturelle Entwicklung der Menschheit3, behandelt Prudentius c. Symm. 2,277ff. in einer längeren Versreihe, die Sache zugleich satirisch belebend, indem er die paradoxen Wirkungen schildert, die eine konsequente Anwendung des gegnerischen Prinzips zeitigen müßte: nie hätte es einen Fortschritt geben dürfen, wir alle müßten in den anfänglichen Zustand der Primitivität zurücksinken. Dann hieße es: wieder Eicheln essen und die eisernen Beile einschmelzen! Zurück zu Höhlenwohnung und Fellkleidung! Und weiter (2,29Iff.): | 291

inmanes quondam populi feritate subacta edomiti iam triste fremant iterumque ferinos in mores redeant atque ad sua prisca recurrant! praecipitet Scythica iuvenis pietate vietum

Wiener Studien 109 (1996) 171/79. ι Darüber s.zuletzt Illinois Classical Studies 14 (1989), 365/382 [in diesem Band S. 167/ 186], wo von der urkundlich faßbaren Dublette zu Prud. c. Symm. 2,143 (143 a.b) ausgegangen wird. 2 Die Intensität der Wort- und Versinterpolation, die über den Text hinweggegangen ist, zeigte sich mir auch bei Behandlung einer Partie des ersten Buchs: Das Templum Romae und die Statuengruppe bei Prudentius, c. Symm. 1,215/237: Bild- und Formensprache der spätantiken Kunst, Festschrift Hugo Brandenburg, hg. von M. Jordan-Ruwe und U. Real, Münster 1994 = Boreas 17, 65/88 (71. 75 Anm. 53. 78. 79-81. 83f. [in diesem Bande 194. 199 Anm 53. 204f. 205/09. 21 lf.]). Die Textkritik trifft im Werk c. Symm. auf eine weniger günstige Ausgangslage, insofern die zwei spätantiken Codices hier ganz (A) bzw. großenteils (B) ausfallen; für die im folgenden behandelte Versreihe fehlen sie beide. 3 Ambros. epist. 73 (18 Maur.), 25: CSEL 82,3, p. 47f.

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votivo de ponte patrem - sic mos fuit olim! caedibus infantum fument Saturnia sacra flebilibusque truces resonent vagitibus arae! ipsa casas fragili texat gens Romula culmo sic tradunt habitasse Remum! -, regalia faeno 300 fulcra supersternant out pelle Libystidis ursae conpositam clamydem villoso corpore gestent! 302 [talia Trinacrius ductor vel Tuscus habebant.] Roma antiqua sibi non constat versa per aeuum ... eqs.

Wir lesen den Dichter nicht stets in der Bereitschaft, den Obelos zu setzen, rechnen nicht immer mit der Möglichkeit der Fälschung. Ist aber diese Möglichkeit erst einmal ins Bewußtsein gerufen, ist damit zuweilen auch schon das Urteil gefällt. Den Vers 302, der oben in Klammern geschlossen ist, zähle ich zu den evidenten Fällen der Interpolation. Talia ... habebant! Wer empfindet nicht das Schulmeisterliche der Erklärung? Die dadurch bewirkte Hemmung der schwungvollen Jussive? Das Unpassende der beiden nichtrömischen Ethnika? Gewiß hat auch Prudentius selbst die lebhafte Folge der jussiven Konjunktive, die das ganze Stück schon ab V.286 prägen und die sich in der ausgeschriebenen Versreihe fortsetzen (fremant, redeant, recurrant, praecipitet, fument, resonent, texat, supersternant, gestent) durch zwei Parenthesen unterbrochen: sie mos fuit olim! (295), sie tradunt ... eqs.! (299), aber diese Sätze sind rhetorisch wirkungsvolle Elemente, die der Partie nichts von ihrem Schwung nehmen4. Dagegen schiebt sich der erklärende Zusatz (302) an empfindlicher Stelle breit und störend in den Text, dort nämlich, wo der Dichter nach der bewegten Versreihe (282/301) zu der ruhigen Reflexion der folgenden Zeilen 303ff. übergeht: Roma antiqua sibi non constat... eqs., zugleich das Fazit aus den absurden Forderungen ziehend. Dieser Wechsel von den jussiven Sätzen zu den affirmativen erzielt schöne Wirkung, wird aber durch die müde Explikation des Verses 302 vorweggenommen und geschwächt. Und dann, wie gesagt, die Ethnika: Trinacrius ductor vel Tuscus\ Sie stören den gedanklichen | Ductus. Längst hatte ja Prudentius die satirische Idee einer 4 Zur affektischen Wirkung, die durch Parenthese erzielt werden kann, s. M. von Albrecht, Die Parenthese in Ovids Metamorphosen und ihre dichterische Funktion, Diss. Tübingen 1959 (Spudasmata 7, Hildesheim 1964), 21/23. 97/99 u.ö.

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XI. Ein mißglücktes Interpretament

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Umkehr der zivilisatorischen Entwicklung, vom Allgemeinen ausgehend (282ff.), zum Besonderen (291ff.) geführt, und hier wiederum vom Nichtrömischen zum Römischen (298ff.). Denn in 29Iff. war gefordert, inmanes quondam populi sollten zu ihren grauenvollen Riten zurückkehren, wofür die Altentötung und die Kinderopfer im Kult Saturns (Baals) als Beispiele stehen5. Daran schließt sich im Sinne der Steigerung das Gemälde urrömischer Primitivität: ipsa ... gens Romula ... eqs. (298ff.). Hier erfolgt ein merklicher Übergang, jetzt ist eindeutig von Altrom die Rede, und darum kann es auch mit Vers 303 weitergehen: Roma antiqua ... eqs. Vers 302 verwischt diese gedankliche Linie, indem er wieder vom Römischen ablenkt. Das Fell des libyschen Bären dagegen (Libystidis ursae, 300) geht ohne weiteres durch: es wirkt wie ein urzeitliches Ausstattungsstück. Die Wendung hat vollen epischen Klang und gibt satirisch-parodistisches Feuer ab6. Ganz anders die beiden nichtrömischen Völkernamen in Vers 302, die gar keine Pointe bilden, nur platte Information vermitteln. Und wenn der glossematische Einschub wenigstens leistete, was er leisten soll! Wenn seine Erklärung wenigstens stimmte! Aber nicht einmal das darf man ihm ohne Einschränkung zubilligen, und allein deswegen: weil die Verschrobenheit sowohl Vergil selbst als auch das Vergilverständnis des christlichen Dichters betrifft, lohnen sich weitere Worte. Prudentius erinnert 298ff. an die Siedlung auf dem Palatin, als deren ehrwürdiges Relikt die casa Romuli stets bewahrt und erneuert wurde7. Seine Schilderung ist in juvenalisches Licht getaucht8, verarbeitet aber dennoch |

5 Die Zeilen über den Sturz der senes depontani (294/295) werden durch die beiden Verse über die Opferung der Kinder (296/297), die keinesfalls Rom treffen konnten, von der Schilderung urrömischen Lebens in 298/301 abgetrennt. Prudentius wollte den Bezug der Altentötung auf Rom offenbar in der Schwebe lassen. Die Zuweisung dieser Sitte an die römische Frühzeit war ja umstritten. Ovid (fast. 5,621/662) hatte die Vorväter davon freigesprochen, und wenn auch Lactanz sich nicht scheute, dem römischen Heidentum alter Zeit derlei zuzutrauen (inst. 1,21,6/9; epit. 18,2), so mochte es doch unser Dichter, an die römische Aristokratie sich wendend, für klüger erachten, solche Barbarei lieber mit den vormals wilden Völkern zu verbinden (vgl. Scythica ... pietate, 294), deren Gesittung er selbst gerade römischer Kulturleistung zuerkennt (Prud. c. Symm. 1,455/460). Zur Sache verweise ich auf meinen Artikel "Greisenalter": RAC 12 (1983) 995/1094, hier 1041/1043 und 1065f. 6 Satirische Signale setzen auch die Wendung villoso corpore - kühn gesagt vom Bärenfell, das den Körper bedeckt - und das Wort clamydem in Verbindung eben mit dem zottigen Pelz. Vgl. auch unten Anm. 8. 7 Weshalb Mars zu Ovid sagen kann (fast. 3,183f.): Quae fuerit nostri, si quaeris, regia nati, Aspice de carma straminibusque domum ... eqs. Die Hütte galt als Muster des einfachen Lebens: Val. Max. 4,4,11; vgl. Sen. ad Helv. 9,3. 8 Die Ausgaben verzeichnen zu Vers 288f.: et frigida parvas Praebebat spelunca domos die wörtliche Übernahme aus Juv. sat. 6,2f.: cum frigida parvas Praeberet spelunca domos.

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vergilische Züge 9 . Da er selbst mit Vers 299 in ·, sic tradunt habitasse Remum!, eine Erklärung einschaltete, kann sich der erläuternde Zusatz in Vers 302, talia... habebant, nur auf das Textstück 299 ex 7301 beziehen: regalia... gestern. Darin sind zwei Vergilstellen zusammengezogen10. Acestes erblickt vom Gipfel des Eryx aus die Schiffe des Aeneas und eilt den Ankömmlingen entgegen (Aen. 5,37): horridus in iaculis et pelle Libystidis ursae. Über Euander, der dem Gast das Nachtquartier anweist, heißt es (Aen. 8,366ff.): 366

dixit et angusti subter fastigia tecti ingentem Aenean duxit stratisque locavit effultum foliis et pelle Libystidis ursae.

Die auffällige Wortverbindung et pelle Libystidis ursae, die den Hexameter (Aen. 5,37 und 8,368) jeweils nach der Hauptcaesur füllt, hat Prudentius (300) in gleicher Stellung - nur mit leichter Variation der Partikel: aut statt et - übernommen, wobei die Situation im achten Aeneisbuch dem Rahmen entspricht, den auch Prudentius geben will. Denn an die Zustände an jener Stätte, welche die Keimzelle des künftigen Weltreichs bildete, soll sich Symmachus erinnern. Daß bei Vergil strenggenommen gar nicht von der Gründung des Romulus die Rede ist, sondern von der Siedlung Euanders, fällt nicht ins Gewicht. Denn Euanders Pallanteum, durch Ort und Kult (des Hercules) mit Rom verbunden, galt gleichsam als etwas Urrömisches, weshalb der römische Senat bei Prudentius geradezu Euandria curia heißen kann (c. Symm. 1,550). Nun führt allerdings Prudentius das Bärenfell nicht als |

Aber die ganze Eröffnung der sechsten Satire schimmert hier durch; zu den ausgeschriebenen Prudentiusversen 298/301 vgl. Juv. sat. 6,5ff.: silvestrem montana torum cum stemeret uxor Frondibus et culmo vicinarumqueferarum Pellibus ... eqs. Es scheint fast, als habe Prudentius mit dem Fell der l i b y s c h e n Bärin dazu bewußt Kontrast bilden, einen neuen satirischen Funken schlagen wollen. Zur Nutzung der juvenalischen Satire insgesamt s. Ch. Gnilka, Satura tragica. Zu Juvenal und Prudentius, WSt. 103 (1990), 145/177. 9 Wo der christliche Dichter allgemein vom Menschen spricht, läßt er zweimal deutlich die Kulturentstehungslehre der Georgica anklingen: die Verse 282 und 285 sind bis auf die jeweils ersten beiden Wörter identisch mit den Zeilen Verg. georg. 1,125 bzw. 144. Ebenso deutlich bezieht er sich dann im spezielleren Zusammenhang auf die Aeneis, s. dazu oben im Text. Vgl. A. Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius, Diss. Washington 1934 (The Catholic University of America. Patristic Studies 39), 121; Chr. Schwen, Vergil bei Prudentius, Diss. Leipzig 1937, 42. 10 Vgl. Mahoney (o. Anm. 9), 104; Schwen (o. Anm. 9), 42, vgl. auch Prop. 4,1.

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Decke vor, wie sie Euander zur Bereitung des Lagers gebraucht, sondern als Kleidungsstück, wie es Acestes auf Sizilien trägt. Er hat also die beiden Szenen der Aeneis kunstvoll zusammengearbeitet und die Schilderung altrömischer Primitivität noch durch den besonderen Zug der Fellkleidung bereichert. Aber natürlich mußte er deswegen nicht Acestes namentlich nennen oder die Person des Siziliers umschreibend bezeichnen, wie das in V.302 geschieht. Prudentius will ja hier (ab 298) eben nicht erzählen, wie es in alter Zeit allgemein zuging oder wie die Helden des Epos wohnten und sich kleideten, sondern er will daran erinnern, wie das r ö m i s c h e Volk vormals lebte. Alle Züge der Schilderung: Strohhütte, Heulager und Bärenfell (298/ 301) werden zu einem Bilde urzeitlichen Lebens in R o m vereinigt. Nur deswegen darf auch die Aufforderung, zu solchen Verhältnissen zurückzukehren, an die gens Romula gerichtet werden11. Immerhin ist die Erklärung des Interpolators, was Vergil und Acestes angeht, wenigstens sachlich richtig: Trinacrius ductor. Wie aber steht es mit dem ( d u c t o r ) Tuscusl Wer soll der Etrusker sein? Lavarenne rätselt12: "II est difficile de savoir ä quel chef etrusque le poete fait allusion: Mezence ( V i r g . , Ε η . 8,482)? Tarchon (ibid., 506)?" Doch an keiner der beiden Stellen ist von Heulager oder Bärenfell die Rede, und auch nirgendwo sonst findet sich in der Aeneis ein Anhaltspunkt, der es erlaubte, einem der beiden Etrusker derlei (talia) zuzuweisen. Sollte Prudentius, während er Symmachus widerlegt, zugleich ein Rätsel aufgeben, das keine vernünftige Lösung findet? Natürlich nicht. Und es ist auch müßig, darüber zu grübeln, ob vielleicht doch auch der Etrusker Mezentius ab und zu auf einem Heulager schlief oder der Etrusker Tarchon sich gelegentlich einen Bärenpelz umwarf, wenn doch feststeht, daß Prudentius hat an Vergil erinnern wollen, Vergil aber von Euander und Acestes spricht. Andrerseits ist es schlüssiger, nach einem Etrusker zu fahnden, dem solche Lebensgewohnheiten zuzutrauen wären, als dem Dichter zu unterstellen, er habe den Euander für einen Etrusker gehalten oder doch inkorrekter Weise so genannt, wie dies

11 Zum vergilischen Hintergrund bei Prudentius gehört auch der Aeneisvers 8,654 R ο mule ο que recens horrebat regia culmo (auf dem Schild des Aeneas) - Verg. georg. 1,317 fragili... culmo ist nur formal gleich; s. Mahoney (o. Anm. 9), 104. Daß die römischen Senatoren einst auf Heu schliefen, weiß Ovid (fast. 1,205f.): Nec pudor in stipula placidam cepisse quietem Et fenum capiti subposuisse fuit. 12 M. Lavarenne, Prudence, t. III, Paris 21963, p. 169, note 4.

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andere Prudentiuserklärer, durch den Textzustand verführt, seit eh und je tun. Die Auflösungen zu V.302: Acestes und Evander, finden sich schon in den mittelalterlichen Prudentiusglossen (Iso von St. Gallen?), abgedruckt bei Arevalo, und auch Arevalo selbst kommt im Ergebnis nicht | über sie hinaus13 - und spätere Editoren nicht über Arevalo14. Noch Thomson schreibt15: "Tuscus is not a correct description of him (i.e. Euander), but at his city of Pallanteum he is 'bounded by the Tuscan river' (the Tiber, Aeneid, VIII, 473) and is allied with the Etruscans, who have offered to make him their king (ib., 505ff.)". Ja, Euander erhielt das Angebot, aber er lehnte es ab (Aen. 8,505/509). Euander war niemals König der Etrusker, und selbst das Anerbieten, es zu werden, konnte ihm nur gemacht werden, weil er selbst kein Etrusker war. Weil er Nicht-Italiker war, erfüllte er die Bedingung, die der Spruch des haruspex enthielt (Aen. 8,498ff.). Und nicht einmal Pallas, sein Sohn, kam als Retter Etruriens in Frage, weil er eine sabellische, d.h. italische Mutter, hatte (ebd. 51 Of.). So scharf tritt im Epos die Herkunft Euanders hervor, so deutlich wird er nach Abkunft und Stellung von den Etruskern geschieden! Wer immer ihn ductor Tuscus nannte - oder vielmehr, was ja noch verwirrender ist: den Namen Euanders durch solche Periphrase glaubte ersetzen zu dürfen - , er leistete sich einen Fehler, den ihm diejenigen niemals verziehen hätten, die Prudentius durch sein Gedicht gewinnen wollte; er gab sich eine Blöße, die im Kreise des Symmachus nie und nimmer wäre übersehen worden. Euander ist rex Areas (Aen. 8,102), Danaum ductor et Areas (ebd. 129). Überflüssig zu sagen, daß das auch Prudentius weiß! Aber es verdient immerhin Erwähnung, daß er davon spricht, und ^war in demselben Werk: hospes Arcadiae

13 F. Arevalo, Prudentiusausgabe, Rom 1788/89, abgedruckt bei Migne, Patrologia Latina 59 und 60, hier 60,203 Α (Glosse zu Vers 302: Tuscus Evander) und 204 B/C (sein Kommentar zu Vers 302). Arevalo leistet sich zudem selbst einen groben Fehler, indem er den Musenanruf Aen. 10,164f. (cantus movete) Quae manus interea Tuscis comitetur ab oris Aenean ... eqs. auf die Truppe bezieht, die Euander dem Aeneas mitgab (vgl. Aen. 8,518f.), statt auf die etruskischen Verbündeten unter Tarchon. 14 Th. Obbarius, Ausgabe, Tübingen 1845, p. 168 und A. Dressel, Ausgabe (Leipzig 1860) p. 263 stimmen für Euander und gegen Tyrrhenus (vgl. Aen. 11,612) - einen ganz aussichtslosen Kandidaten, den Chr. Cellarius, Ausgabe, Halae Magdeburgicae 1703 ( J 1739), 455, zögerlich nominiert hatte: "Tuscus. Tyrrhenus forsan, frater Lydi. Vellei. cap. 1. Iso Magister Euandrum intelligit, qui vero cis Tiberim Pallanteum coluit". Gewirkt hat hier immerhin die richtige Erkenntnis, daß die herkömmliche Lösung nicht befriedigt. Bei Dressel übrigens wird Arevalos Fehler (s. vorige Anm.) weitergegeben. 15 H.J. Thomson, Prudentius, II, London-Cambridge, Mass. 1953, 29, note f.

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heißt Hercules (c. Symm. 1,226f.), wobei an Euanders Erzählung Aen. 8,184/ 275, an die Cacus-Episode, gedacht ist. Die ganze Misere, die V.302 verursacht, bricht auf in dem anonymen mittelalterlichen Kommentar (Remigius von Auxerre?), den Burnam edierte: VEL TUSCUS id est Evander rex Tusciae ... eqs.16. | Dergestalt ist der Irrtum, den das Interpolament hervorrufen kann, ja eigentlich: hervorrufen muß. Und natürlich wird aus Euander auch nicht deswegen ein Etrusker, weil der amnis Tuscus seine Siedlung begrenzt. Der Tiber heißt so, weil er aus Etrurien kommt. Die Art, wie Vergil georg. 1,499 in feierlichem Götteranruf Vesta nennt, zeigt schön und genau den Unterschied zwischen Tiber und Palatin: (Vestaque mater) quae Tuscum Tiberim et Romana Palatia servas. Auch Horaz denkt doch, wenn er das rechte Tiberufer litus Etruscum nennt (carm. 1,2,14), nicht im Traume daran, aus den Römern Etrusker zu machen, und ebensowenig werden bei ihm die Trojaner dadurch zu Etruskern, daß sie am Strand des Etruskischen Meeres an Land gehen (vgl. Hör. carm. saec. 38: litus Etruscum). Auch bei Ovid fast. 1,46Iff. erscheint Euander durchaus als Fremdling auf italischem Boden: er ist aus Arkadien vertrieben, erleidet das Schicksal eines Verbannten (exilium: ebd. 540), fährt wohl auch den Tiber hinauf Tuscis obvius ... aquis (ebd. 500) aber nichts läßt eine Verbindung mit Etrurien ahnen, die es rechtfertigen würde, ihn ductor Tuscus zu nennen. Daher hätte ich, als ich Fälle geographischer Ungenauigkeit bei Prudentius sammelte17, diesen (c. Symm. 2,302) nicht aufnehmen dürfen: er ist anderer Art18. Erst recht geht es nicht an, ductor Tuscus auf Aeneas selbst zu beziehen, wie Schwen unbedenklich voraussetzt19. Gewiß, Aeneas schlief in jener Nacht bei Euander auf Laub und Bärenfell: aber dürfte man deswegen sagen: talia habebat',? Als ob derart die gewöhn-

16 John M. Burnam, Commentaire anonyme sur Prudence d'aprös le manuscrit 413 de Valenciennes, Paris 1910, 161. Über die lateinischen Scholiensammlungen s. die zusammenfassenden Bemerkungen bei H. Lauffer, Der Lehnwortschatz der althochdeutschen und altsächsischen Prudentiusglossen, München 1976 (Münchener Germanistische Beiträge 8), 14f. 17 Ch. Gnilka, Notizen zu Prudentius, RhM 109 (1966), 84/94, hier 89. 18 Um beim Ethnikon Tuscus zu bleiben: Prud. c. Symm. 1,43/58 behandelt die Sage, daß Saturn über die latinischen Vorfahren herrscht und durch sein Versteck der Landschaft Latium den Namen gegeben habe (Latium zu latere, vgl. ebd. 47f.). Trotzdem bemerkt er bald darauf: Tuscis ... ille puellis primus adhinnuit ... eqs. (ebd. 57f.). Aber in solchem Zusammenhang kommt auf Genauigkeit nichts an, im Gegenteil: der verhängnisvolle Einfluß, den der schlaue Betrüger auf ganz Italien nahm - vgl. ebd. 56f.: (deos) intulit Italiae - tritt so noch besser hervor. Anders in unserem Fall, anders, wenn es sich um die Aeneis handelt! 19 Schwen (o. Anm. 9), 42.

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lichen Umstände seines Lebens gewesen wären! Und wer würde je in Aeneas einen Etrusker sehen? Oder hinter einem ductor Tuscus den Trojaner vermuten? Maxume Teucrorum ductor, redet ihn Euander an (Aen. 8,470). Zwar verspricht Euander im Hinblick auf die Kampfbereitschaft der empörten Etrusker: His ego te, Aenea, ductorem milibus addam (Aen. 8,496) und fordert, die Ereignisse vorwegnehmend, den Gast auf: ingredere, ο Teucrum atque Italumfortissime ductor (ebd. 513), aber Aeneas heißt trotzdem | Troius heros (ebd. 530). Und auch wenn Aeneas den Etrusker Tarchon tatsächlich zum Bundesgenossen gewinnt und mit etruskischen Schiffen und Hilfstruppen zum Kampfplatz zurückkehrt (Aen. 10,148/162), bleibt er natürlich Tros Anchisiades (ebd. 250). Als Periphrase des Namens Aeneas wäre die Angabe ductor Tuscus schlechterdings unverständlich. Die ganze Verwirrung beweist nur die Unechtheit der Zeile, die sie verschuldet20. Aber wenn schon einem Prudentius solche Confusion nicht zuzutrauen ist: warum, wird man fragen, verdarb sich denn der Interpolator seine Sache? Er kannte doch Vergil gut genug, um den Bezug zu Acestes herzustellen. Weshalb gelang es ihm nicht, die Person Euanders recht zu treffen? Es wäre doch so leicht gewesen! Er hätte Areas sagen müssen statt Tuscus, etwa: Talia Trinacrius ductor, rex Areas habebant. Wieso das Rätselhafte, Dunkle statt des Einfachen, Klaren? Wir wissen es nicht, und es lohnt sich nicht, darüber nachzusinnen. Nur die sichere Hand des Künstlers zieht klare Linien, der Pfuscher verrät sich oft durch verschwommene Züge, die niemand deuten kann21. "Überhaupt verfuhren ja die Textbearbeiter mit den Ethnika stark nach eigener Laune", wie Jachmann beobachtete22. Vielleicht suchte der Interpolator eine scheinbar unverfängliche Angabe, die es ihm ersparte, zwischen Aeneas und Euander, zwischen Gast und Gastgeber, unterscheiden zu müssen23, vielleicht war er bloß in die Alliteration verliebt und

20 Ihre Unklarheit hat vielleicht auch die Variante habebat (statt habebant) begünstigt: vgl. den Apparat bei J. Bergman (CSEL 61, 1926, 257) zu Vers 302. Es wäre dann möglich, nur eine Person anzunehmen, nicht einen ductor Trinacrius und einen ductor Tuscus, sondern einen ductor zweifelhafter Herkunft: Trinacrius vel Tuscus. Barer Unsinn natürlich. 21 Nur als Warnung vor unpassender Konjekturalkritik sei nochmals daran erinnert, daß die Zeile in toto schlecht ist, ja durch Areas (statt Tuscus) das störende Element der nichtrömischen Ethnika (s. oben S. 202 [172]) noch schärfer hervorträte. Der Fall zeigt, wie falsch es wäre, stets kleinräumigen Emendationen den Vorzug zu geben. 22 G. Jachmann, Ausgewählte Schriften, Königstein/Ts. 1981 (Beiträge zur Klassischen Philologie 128), 496f. 23 Daß aber in Wahrheit für römisches Empfinden Tuscus nicht dasselbe besagt wie Romu-

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XI. Ein mißglücktes Interpretament

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opferte die sachliche Richtigkeit der Vermehrung dieses wohlfeilen Schmukkes: talia, Trinacrius, Tuscus.24 \ Aber wie dem auch sei, das Motiv der Zudichtung im Ganzen steht außer Frage. Es ging darum, die Anspielungen auf Vergil irgendwie festzulegen. Das Interpolament trägt explikativen Charakter. Gewirkt hat sicherlich das verbreitete diaskeuastische Streben, "die in Rede stehenden Personen ... zwecks Verdeutlichung ausdrücklich mit Namen zu nennen"25; denn etwas Ähnliches liegt ja auch hier vor. Hinzukam, daß ja Prudentius selbst zuvor erklärt hatte: sie tradunt habitasse Remum (299) - wobei sein Hinweis natürlich für die Schilderung der Verse 298/301 insgesamt gelten sollte. Aber damit war der Anreiz gegeben, einen Zusatz anzubringen, der die Verhältnisse genauer festlegte. Verstärkt wurde der Reiz zur Explikation wohl auch durch das auffallende Detail des Bärenfells. Denn wie Euander ausgerechnet zum Fell einer l i b y s c h e n Bärin sollte gekommen sein, erschien schon den antiken Vergilerklärern merkwürdig26, und man darf vermuten, daß dieses Stück urzeitlicher Kultur auch dem Bearbeiter des Prudentiustexts besonders ins Auge stach.

lern, lehrt Cie. nat. deor. 2,11 -.An vos Tusci ac barbari auspiciorum populi Romani ius tenetisl (Ti. Gracchus als Consul im Senat, an die haruspices gewandt). 24 Zu Juvenc. 2,11 mare velivolum gibt es die alte Variante: mare multisonum, hervorgerufen vielleicht durch das Streben nach Alliteration. Vgl. N. Hansson, Textkritisches zu Juvencus, Lund 1950, 97 (und ebd. 98 über einen ähnlichen Fall). Hansson hält allerdings beide Versionen fur echt; hierüber s. den eingangs (o. Anm. 1) genannten Aufsatz 375ff. [in diesem Bande S. 178ff.] 25 G. Jachmann, Textgeschichtliche Studien, Königstein/Ts. 1982 (Beiträge zur Klassischen Philologie 143), 559/563, mit Beispielen aus der griechischen Tragödie. 26 Servius sucht das Problem wegzuschieben: PELLE LIBYSTIDIS URSAE species pro genere: nam cuiuslibetferaepossumus aeeipere (Serv. Aen. 8,368:2, p. 255 Thilo). Ti. Donatus sieht tiefer: ne tarnen in totum deprimeret quod tanto viropraebueratpauper, addidit Libystidis ursae, ut ex pretio bestiae aliquid stratis ipsis gratiae potuisset accedere (2, p. 168, Z. 5ff. Georgii).

XII. ANTIKE GÖTTER BEIM ECHTEN UND BEIM UNECHTEN PRUDENTIUS *

Dichter und Künstler vermerken mit äußerstem Unmut alle Änderungen, die fremde Hand an ihrem Gebilde vornimmt. Annette von Droste-Hülshoff scherzte, sie leide nicht die kleinste Pfauenfeder in ihrem Krähenpelz, aber es war ihr doch ernst dabei zumute; denn sie verlangte vom Freunde, der für sie die Verhandlungen mit dem Verleger führen sollte, das feierliche Ehrenwort, an ihren Gedichten auch nicht eine Silbe willkürlich zu ändern, und gestand: Ich bin in diesem Punkte unendlich empfindlicher, als Sie es noch wissen1. Wir dürfen sicher sein, daß auch die antiken Dichter ebenso dachten und fühlten2, und darum ist alle Textkritik nach Grund und Ziel, wenn auch nicht unbedingt dem Erfolge nach, eine Art Liebeswerk. Aber nicht nur die den überlieferten Wortbestand sichernde oder im Kleinen bessernde Textbehandlung darf den Anspruch erheben, an diesem Werk beteiligt zu sein. Gerade auch das Bemühen, die falschen Federn abzulösen, mit denen grobe Hände das originale Kunstwerk aufzuputzen suchten, bildet eine Form des kritischen Liebesdiensts. Unter den Autoren, die unserer Philologie anvertraut

* Frühmittelalterliche Studien 30 (1996) 103/149. 1 Annette von Droste-Hülshoff am 8. Januar 1844 an Levin Schücking, s. Winfried Woesler (Hg.), Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 10,1: Briefe 1843-1848, Tübingen 1992, Nr. 323, S. 135f. Für den Hinweis auf diesen Brief danke ich Dr. Rainer Henke. 2 Die christlichen nicht ausgenommen. Zwar hat christliche Demut dem 'Bescheidenheitstopos' antiker Literaten neuen Sinn und ungeahnte Tiefe gegeben, wofür gerade der Dichter, dem diese Untersuchung gewidmet ist, schönste Beweise liefert - vgl. Rainer Henke, Studien zum Romanushymnus des Prudentius (Europäische Hochschulschriften, Reihe 15, Bd. 27), Frankfurt a.M.-Bern-New York 1983, S. 13/87 - , aber das Bekenntnis eigenen Unvermögens angesichts eines heiligen Stoffs und etwaige Zustimmung zu dreisten Eingriffen von fremder Hand sind verschiedene Dinge, und es wäre verkehrt, wollte man das eine aus dem anderen ableiten. Die Praefatio des Iuvencus etwa zeugt von Wertgefühl, und Prudentius hat eines seiner Gedichte mit eigenem Namen gesiegelt, demütiges Gebet und literarische Sphragis verbindend (per. 2,581ff.). Auf manchen Gebieten der mittelalterlichen Literatur läßt sich, wie mir Hagen Keller und Christel Meier-Staubach mitteilen, ein verändertes Verhältnis des Autors zum Werk beobachten. Die Entwicklung beleuchtet Gertrud Simon, Untersuchungen zur Topik der Widmungsbriefe mittelalterlicher Geschichtsschreiber bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, in: Archiv für Diplomatik 4 (1958), S. 52/119, hier S. 108ff. und 5/6 (1959-60), S. 73/153, hier S. 132f.

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XII. Antike Götter

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sind, befinden sich etliche, die ihn ganz besonders nötig haben. Denn gar manchem ist schon sehr früh, noch in der Antike selbst, viel falscher Putz aufgesteckt worden, den er bis heute mit sich herumträgt und weiter tragen muß, wenn sich nicht eine barmherzige Hand findet, die ihn davon befreit. Zu ihnen gehört Prudentius3, und daher habe ich immer wieder versucht, diesem Dichter den geschuldeten | Dienst zu erweisen, indem ich altbekannte Interpolamente ans Licht zog und neue Athetesen begründete. Der Widerspruch, mit dem solche Kritik stets rechnen muß, ist heute innerhalb der Prudentiusforschung nahezu verstummt, ohne daß man freilich deswegen schon von einem allgemeinen Triumph kritischer Philologie sprechen dürfte. Es scheint vielmehr, als lagere eine Wolke der Gleichgültigkeit über dem ganzen Problemfeld4. Durch sie bricht jetzt wie ein Lichtstrahl Bastiaensens Revue: "Prudentius in recent literary criticism"5. Bastiaensen anerkennt den Wert der Echtheitskritik für die Sicherung des Prudentiustexts, zeigt sich überzeugt von der Existenz auch solcher Großinterpolamente, die nicht aufgrund des handschriftlichen Befunds äußerlich faßbar sind, und sieht die Haltlosigkeit der Position Cunninghams, des letzten Editors, die faktisch einer Leugnung der interpolatorischen Bearbeitung des Dichtertexts gleichkommt. Meinerseits nehme ich diese Zustimmung zum Zeichen, auf dem eingeschlagenen Wege fortzuschreiten. Wie man hier weiterkommen kann, hat Bastiaensen treffend festgestellt6: "by patient work". Und er fährt fort: "As we interpret we must establish the text, as we establish we must interpret it." Dieser doppelten Aufgabe stelle ich mich im folgenden, wobei das Hauptgewicht auf Textprobleme des Gedichts Contra Symmachum gelegt wird. Das Werk richtet sich gegen den Götzendienst, es stellt Verkehrtheit und Torheit des heidni-

3

Der Editor Albert Dressel (Prudentiusausgabe, Leipzig I860, S. XXV) fand den Text durch Interpolationen derart entstellt, daß er an der Möglichkeit verzweifelte, den reinen Wortlaut wiederzugewinnen. In der allgemeinen kritischen Einsicht überragt er die neueren Herausgeber. Freilich konnte er nicht zu einer angemessenen Vorstellung der wahren Verhältnisse gelangen, da er - ein Vorläufer der später grassierenden Urvariantenlehre (s. unten S. 234 [107]) - gerade die auffälligen Dubletten dem Autor selbst zuschrieb (ebd. S. XXIVf.). 4 Es ist vielleicht nicht ganz gerecht, einzelne Zeugnisse dieser verbreiteten Haltung zu benennen, und nur weil einer der hier behandelten Fälle betroffen ist, verweise ich auf die Bemerkung, mit der Roberts die offensichtliche Doppelfassung zu per. 5,99/100 abmacht: s. unten S. 246f. [117]. 5 A. A.R. Bastiaensen, Prudentius in recent literary criticism, in: J. den Boefit - A. Hilhorst (Hgg.), Early Christian Poetry. A Collection of Essays (Vigiliae Christianae, Suppl. 22), Leiden-New York-Köln 1996, S. 101/134, hier S. 104/108. 6 Bastiaensen (wie Anm. 5) S. 103.

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sehen Kults vor Augen sowie Unwürdigkeit und Bosheit seiner Empfänger, der wirklichen oder der bloß gedachten, der Dämonen oder der vermeintlichen 'Götter'. Aber bei alledem mußte doch dem Autor daran gelegen sein, die Tatsachen richtig zu erfassen. Denn gesunde Polemik wird immer danach streben, Wesen und Gestalt des Gegenstands, den sie bekämpfen will, so getreu wiederzugeben, daß sie ihn trifft, nicht ins Leere stößt. Dieser Grundsatz läßt sich auch in der Götterkritik des Prudentius beobachten, bisweilen aber eben nur dann, wenn man sie von grellen Übermalungen reinigt, die spätere Hände grob darüberstrichen. Denn das bekannte Streben der Redaktoren, die feinen Muster in Wort und Gedanke mit dicken Klecksereien zu übertünchen, mußte sich besonders dort bemerkbar machen, wo Spott und Schelte zu allerlei Zutat reizten. Darum schließen sich die vorgeführten Fälschungen teilweise auch innerlich, ihrem allgemeinen Motiv nach, zusammen7. Ich beginne mit urkundlich bezeugten Doppelfassungen (unter Nr. 1/4), die geeignet sind, kritische Aufmerksamkeit zu wecken, weil sie die interpolatorische Bearbeitung des Prudentiustexts unleugbar bekunden, und gehe dann zu weiteren Stellen über (Nr. 5/9), an denen Athetese aus inneren Gründen notwendig erscheint. |

1. Prudentius läßt seine Parade heidnischer Göttergestalten (c. Symm. 1,42/ 407) in einer Vorstellung der unterirdischen Gottheiten gipfeln, der Proserpina und des Dis (354/407). Der Gipfel zeigt sich nicht nur im Kompositorischen, sondern auch im Gedanklichen. Die beiden bilden nicht nur das äußerste Ende der Reihe, sondern auch ihren schrecklichen Höhepunkt. Das rührt daher, daß der Dichter diese Götter sehr ernst nimmt, uns in ihnen die dämonische Energie des Heidentums vorführt. Die Vergötzung der Menschen und der Elemente ist noch nicht das Schlimmste, sagt Prudentius (354), aber der Kult der Unterirdischen ist Teufelskult. Ich setze die ganze Versreihe über Proserpina (Trivia) hierher 8 : 7 Wenn ich allerdings im Titel nicht nur vom echten, sondern auch vom unechten Prudentius spreche, will ich - anders als Otto Ribbeck in seinem berüchtigten Buch: "Der echte und der unechte Juvenal", Berlin 186S - nicht etwa behaupten, daß alle Fälschungen von ein und demselben Redaktor herrühren. Über eine auffällige Übereinstimmung im metrischen Detail s. unten S. 234f. 245f. und 273f. [108. 116. und 137], 8 Der Text nach Johan Bergman (CSEL 61, 1926, S. 232f.) und Maurice P. Cunningham (CCL 126, 1966, S. 198f.). Ich verwende folgende Abkürzungen: CCL = Corpus Christianorum,

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360

365 366 367a 367 368 370

375

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Hoc tarnen utcumque est tolerabile. quid, quod et ipsae dant tibi, Roma, deos inferni gurgitis umbrae? Eumenidum domina Stygio caput exerit antro, rapta ad tartarei thalamum Proserpina regis et, si quando suos dignatur adire Quirites, placatur vaccae sterilis cervice resecta et regnare simul caeloque ereboque putatur, nunc bigas frenare boves, nunc saeva sororum agmina vipereo superis inmittere flagro, nunc etiam volucres caprearum in terga sagittas spargere terque suas eadem variare figuras. denique, cum Luna est, sublustri splendet amictu, cum subcincta iacit calamos, Latonia virgo est, cum rapitur, furia est et torvi Plutonis uxor. cum subnixa sedet solio, Plutonia coniunx imperitat Furiis et dictat iura Megaerae. si verum quaeris, Triviae sub nomine daemon tartareus colitur, qui te modo raptat ad aethram sidereoque deum venerandum suadet in astro, per silvas modo mortiferi discurrere mundi erroresque sequi subigit nemorumque putare esse deam, quae corda hominum pavitantia figat quaeque feras perimat letali vulnere mentes, depressos modo subter humum formidine sensus obruit, inplorent ut numina lucis egena seque potestati committant noctis opertae.

Grundlage dieser feingearbeiteten Partie ist die synkretistische Auffassung der Hekate τριοδΐτις, der zufolge die Proserpina des Mythos und des Kults (356/359) | nur eine der drei Erscheinungsformen der Trivia (369) bildet. Die Göttin der Dreiwege hat als Mondgöttin, Unterweltsherrscherin und Jagdgottheit drei Kompetenzen (361/364 spargere), drei Namen und Gestalten (364 terquel368) sowie drei Machtbereiche: Himmel, Erde und Unterwelt (vgl. 369ff.). Das Gerüst dieser dichterischen Darstellung geben die kar-

Series Latina; CSEL = Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum; GCS = Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte; ThLL = Thesaurus Linguae Latinae.

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gen Glossen bei Servius (auctus) zu Vergil, Aen. 4,511 ex.: TRIA VIRGINIS ORA ... Lunae, Dianae, Proserpinae. et cum super terras est, creditur esse Luna; cum in terns, Diana; cum sub terns, Proserpina ...ob quam triplicem potestatem triformem earn triplicemque finxerunt, cuius in triviis templa ideo struxerunf. Hier erinnern sogar die cum-Sätze an die bei Prudentius V. 365/ 368 gewählte Formulierung, so daß man geneigt sein könnte, in der Vergilexegese die Quelle des Dichters zu vermuten. Aber Prudentius hat das dürre Fachwerk zu einem kunstvollen Bau ausgestaltet, in dessen Struktur sich die Dreiheit der diva triformis10 wiederholt. Denn von Vers 361 an entwickelt sich die Schilderung in drei Dreierreihen, die jeweils durch anaphorisches nunc (361 bis, 363) bzw. cum (365. 366. 367) und durch modo (370. 372. 376) gegliedert werden, so daß die für Hekate wesentliche Dreizahl im ganzen Komplex wie auch in seinen Teilen bestimmend hervortritt. Das merkwürdigste Stück bildet die Deutung des Dichters (369ff.: si verum quaeris ... eqs.) - Friedrich Solmsen fühlte sich durch sie zu einer Studie angeregt11. Hinter der Hekate verbirgt sich ein daemon tartareus (369f.)12, die drei Kräfte, Gestalten und Machtbereiche, die ihr zugeschrieben werden, sind in Wahrheit die verschiedenen Mittel der Täuschung, die der Höllengeist anwendet, um sich die Menschen gefügig zu machen. Prudentius hat damit Psychologie und Kult in einen eigenartigen Zusammenhang gebracht. Die drei Wirkungen des Bösen, welche den Machtbereichen der Hekate entsprechen, vollziehen sich nämlich auf die Art, daß im Menschen zunächst eine bestimmte Fehlhaltung erzeugt wird, aufgrund derer er sich eine Gottheit sucht, die seiner verkehrten Seelenlage entspricht, so daß er jeweils gerade DIANAE

9 Serv. Aen. 4,511 (Bd. 1, S. 557 Thilo-Hagen); vgl. Serv. Aen. 6,118 (ebd. Bd. 2, S. 25); Paul. Fest. s.v. Hecate (S. 89 Lindsay). Mehr bei Alois Kehl, Art. Hekate, in: Reallexikon für Antike und Christentum 14 (1988) Sp. 310/338, hier Sp. 327. 330/333; Kehl wertet auch die Prudentiusstelle aus, die bei Josephus Heckenbach, Art. Hekate, in: Pauly-Wissowa, Realencyclopaedie der classischen Altertumswissenschaft, 7,2 (1912) Sp. 2769/2782 fehlt. Zu Vergil vgl. Ileana Chirassi Colombo, Art. Ecate, in: Enciclopedia Virgiliana 2 (1985) S. 160/163. 10 Hör. carm. 3,22,4. Zur τρίμορφος in der Kunst s. Haiganuch Sarian, Art. Hekate, in: Lexicon iconographicum mythologiae classicae 6,1 (1992) S. 985/1018, hier S. 1015f.; 6,2 (Tafeln), S. 661ff. 11 Friedrich Solmsen, The Powers of Darkness in Prudentius' "Contra Symmachum". A Study of His Poetic Imagination, in: Vigiliae Christianae 19 (1965) S. 237/257 = ders., Kleine Schriften 2, Hildesheim 1968, S. 355/375. Ich zitiere den Originaldruck. 12 Vielleicht "der Teufel", s. Solmsen (wie Anm. 11) S. 243 und dazu Euseb. praep. 4,22,15 (GCS Euseb. 8,1, S. 213): nach Porphyrios herrschen Sarapis und Hekate über die bösen Dämonen, nach der Hl. Schrift Beelzebul; vgl. Kehl (wie Anm. 9) Sp. 329 unten.

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das anbetet, was ihn vernichtet13. Indem der Dichter so das wahre Wesen der Hekate enthüllt, gibt er der ganzen synkretistischen Konstruktion eine ungeahnte Wirklichkeit. Auch das Finstere und Furchtbare, das jener Zaubergottheit nach verbreitetem Aberglauben eignete, wird nun auf einmal wahr und verständlich, so daß man sagen könnte, der antiken Religiosität werde jetzt erst ihr Recht gegeben - allerdings | nur innerhalb der Grenzen ihres schweren Irrtums, der darin lag, daß man die furchtbare Macht nicht wirklich durchschaute und infolgedessen zur Gottheit erhob. Die vergilische Tönung der Passage paßt zum Gegenstand; denn die über die Versreihe verteilten Anklänge an die Aeneis lassen düstere Szenen des alten Epos vor dem Leser aufsteigen und rechtfertigen die Darstellung durch die Autorität des poeta nobilis14. Hineingemischt sind Farbtupfer, die von der Palette Claudians genommen sein könnten. So wird mit Vers 357: rapta ad tartarei thalamum Proserpina regis das Thema des claudianischen Epos De raptu Proserpinae berührt, dazu in einer Weise, die einen Vers aus eben diesem Gedicht durchschimmern läßt: Candida Tartareo nuptum Proserpina regi (sc. dari: Claudian. rapt. 1,217). Auch sonst sticht die eine oder andere Wortgleichheit hervor; gerade die auffällige Wendung terque suas ... variarefiguras (364) scheint eine claudianische Prägung zu wiederholen: ternis Hecate variatafiguris (rapt. 1,15)15. Vielleicht will der christliche Dichter als Anticlaudianus wirken. Falls dieser Eindruck stimmte, wäre schon auf der literarischen Ebene ein polemischer Bezug zur Gegenwart des Autors gegeben. Deutlicher zeichnet er sich ab, sobald man die Verse vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund betrachtet, denn Hekate spielte damals nicht nur in der philosophischen Spekulation eine Rolle16, sondern genoß auch besonderes Ansehen als Orakelgottheit und Herrin der Mysterien auf Aigina. Als solche

13 Deutlich im mittleren Glied (Diana: 372/375) und im letzten (Proserpina: 376/378), weniger ausgeprägt im ersten (Luna: 370 quit371). Hierzu eingehend Solmsen (wie Anm. 11) S. 249ff., bes. S. 256f. zu Luna. 14 Vgl. Albertus Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius (Patristic Studies 39), Washington 1934, S. 84f.; er rühmt den Passus als Muster kunstvoller Vergilbenutzung bei Prudentius. 15 Das gegenseitige Verhältnis der beiden Dichter ist allerdings nicht gesichert, wenngleich gerne Claudiankenntnis bei Prudentius vorausgesetzt wird. Darüber s. Christian Gnilka, in: Gnomon 59 (1987) S. 299/310, hier S. 309. Eine bemerkenswerte Parallele zu c. Symm. 1,385: amphitheatralis spectacula tristiapompae (s. das Zitat unten S. 267 [132]) bildet Claudian. paneg. Mall. Theod. 293: amphitheatrali faveat Latonia pompae; vgl. ThLL 1, Sp. 1983, s.v. amphitheatralis. 16 Kehl (wie Anm. 9) Sp. 321/323. 335.

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wurde sie gerade in den Kreisen des heidnischen Widerstands verehrt. Stadtrömische Inschriften künden davon17, etwa das Grabgedicht der Paulina, der Frau des Praetextatus, die dem Gatten für die Einführung in verschiedene Mysterien dankt: Te teste cunctis imbuor mysteriis... Hecates ministram trina secreta edoces ... eqs.18. Des Dichters Enthüllungen über Hekate enthalten mithin eine Spitze, die sich unmittelbar gegen seine Widersacher richtet. Über den Charakter des Verses 367a kann es keinen Zweifel geben. Der Vers ist einzeilige Ersatzfassung für das Verspaar 367/368, und zwar natürlich interpolierte. Der Versuch, Dubletten wie diese als authentische Doppelfassungen dem Autor selbst zu vindizieren, besser: ihm zu unterschieben, darf heute mit Recht dem Vergessen preisgegeben werden, mag auch die Urvariantenlehre noch hier und da in einzelnen Irrlichtern durch die Prudentiusliteratur gaukeln. Selbst Pelosi, der sie nachdrücklich vertrat, konnte nicht umhin, die stilistische Schwäche und inhaltliche Verschiefung in dieser Zeile wenigstens anzudeuten19. In der Tat ist sie schlecht, vom ersten bis zum | letzten Wort, CUM RAPITUR: schlecht, weil Proserpina ja durch wirklichen Raub die Gattin Plutons wurde und davon ja eben erst die Rede war (357: rapta)\ rapitur im Sinne von funis rapitur (vgl. Prud. cath. 11,92) erzeugt Zwielicht. CUM RAPITUR FURIA EST: mißlich, weil tautologisch, dazu sachlich falsch; denn Proserpina ist nirgends selbst Furie, weder bei Vergil noch bei Claudian noch beim echten Prudentius, der sie als Herrin (356) und Gebieterin der Furien vorstellt: V. 368 imperitat Furiis ... eqs, 2 0 ET TORVI PLUTONIS UXOR: miserabel!

17 Kehl (wie Anm. 9) Sp. 325f. 18 Corpus Inscriptionum Latinarum 6,1, Berlin 1876, S.398, Nr. 1779d, Z. 25ff. Erwähnenswert, daß in der großen Opferszene bei Prud. apoth. 460/502 Kaiser Julianus Apostata gerade der Hecate (Persefone, Proserpina) opfert! 19 Pietro Pelosi, La doppia redazione delle opere di Prudenzio, in: Studi Italiani di Filologia Classica, N.S. 17 (1940) S. 137/180, hier S. 164. Über die Entwicklung dieser Irrlehre s. Christian Gnilka, Beobachtungen zum Claudiantext, in: Christian Gnilka - Willy Schetter (Hgg.), Studien zur Literatur der Spätantike (Antiquitas, Reihe 1, Bd. 23) Bonn 1975, S. 45/90, hier S. 86/90 [in diesem Bande S. 16/67, S. 63/67]. Eine neuerliche Ubersicht gibt Bastiaensen (wie Anm. 5) S. 104/108. 20 Innerhalb der eben (Anm. 18) erwähnten Szene der Apotheosis ist die Gleichsetzung der Hekate-Persephone mit einer der Furien durch bloße Umbenennung erreicht: Territa Persefone (v.l.: Thisifone, Thesifone, Tissifone) vertit vestigia retro Extinctis facibus tract ο (v.l.: fracto) fugitiva flagello (apoth. 475f.). Fackel und Geißel als Attribute der Unterweltsgöttin reizten zu solcher Namensänderung, aber die oben ausgeschriebenen Verse des Gedichts Contra Symmachum lehren, weshalb die Herrin der Furien die Peitsche führt: nunc (sc. putatur) saeva sororum Agmina vipereo superis inmittere flagro (c. Symm. l,361f.). Daher tritt Collins (wie Anm. 90) S. 47 zu Unrecht fiir die Variante Tisifone ein. Unterschieden werden die beiden Gestalten auch bei Horaz serm. l , 8 , 3 3 f f . : Hecaten vocat altera, saevam Altera Tisiphonen.

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Prosodische Schnitzer solcher Art leisten sich nicht einmal Dichter wie Dracontius, Eugenius oder der neugefundene Severus21, geschweige denn Prudentius. Er erlaubt sich zwar bei griechischen Wörtern gewisse Freiheiten, aber die Kürzung einer lateinischen Casusendung ist natürlich eine andere Sache22. Gewiß könnte man das Metrum durch Wortumstellung leicht in Ordnung bringen: cum rapitur furia est torvi Plutonis et uxor. Schon Arevalo und Bergman erkannten diese Möglichkeit, ohne daß sie doch deswegen etwa an dem interpolatorischen Charakter des ganzen Elaborats irre geworden wären23. Aber die Umstellung ist hier überhaupt kein probables Mittel, denn ausgerechnet dieselbe Messung Ρ lutönis bzw. Plutönes begegnet noch in zwei weiteren gefälschten Versen24, so daß wir sie als das gelten lassen müssen, was sie tatsächlich ist: "Interpolatorenprosodie"25. Gattin des Pluton bleibt hier Proserpina zwar auch als Furie, aber wieviel voller klingt die authentische Wendung: Plutonia coniunx im Vergleich zum interpolierten Text: (torvi) Plutonis uxor! Selbst da noch, wo die Sache festgehalten ist, zeigt sich der Unterschied zwischen Echt und Unecht, und man braucht sich nur vorzustellen, was die horazische Wortverbindung: domus exilis Plutonia mit dem Adjektiv Plutonia verlöre, um diesen Unterschied auch hier zu erfassen26. | Man sieht leicht, daß der Diaskeuast das dritte Glied der Reihe nach Umfang und Syntax den beiden ersten angleichen wollte, dadurch freilich die viel feinere Korresponsion zwischen V. 366 und V. 367 zerstörte27 - ein Man-

21 Nach Ausweis des Vollmerschen Index: MGH auct. ant. 14, 1905 (1984), S. 442f.; zu Severus s. Zwierlein in der Ausgabe: Severi episcopi 'Malacitani (?)' in evangelia libri XII. Das Trierer Fragment der Bücher VIII-X. Unter Mitwirkung von Reinhart Herzog erstmalig herausgegeben und kommentiert von Bernhard Bischoff | und Willy Schetter t, bearbeitet von Otto Zwierlein (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philos.-Hist. Kl., Abhandlungen, N.F. 109), München 1994, S. 172: "Kürzung langer Silben". 22 Vgl. auch unten S. 258/61 [126f.] zu Prud. ham. [502]: Marciönis. 23 Faustinus Arevalo in der Ausgabe, Rom 1788/89, zur Stelle; abgedruckt bei Migne, PL 60, Sp. 150 C; Ioannes Bergman, De codicum Prudentianorum generibus et virtute (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Wien, Philos.-Hist. Kl., 157,5), Wien 1908, S. 27. 24 Vgl. unten S. 245f. [116] und S. 273f. [137], 25 Günther Jachmann, Ausgewählte Schriften (Beiträge zur Klassischen Philologie 128), Königstein/Ts. 1981, S. 432 Anm. 19. Vgl. dazu auch unten S. 240 [112] mit Anm. 44. 26 Vgl. R.G.M. Nisbet - Margaret Hubbard, A Commentary on Horace: Odes. Book 1, Oxford 19803 (1971'), S. 70 zur Stelle: "The adjective Plutonia is more grandiose than the genitive Plutonis". Bei Prudentius kommt überdies die absichtsvolle Korresponsion Latonia (virgo) - Plutonia (coniunx) hinzu; s. Anm. 27. 27 Sie ruht auf der völligen Isokolie: gleich ist die Anzahl der Wörter (bei Aphärese virgo_est) und der Silben, gleich sind Wortfolge und Versbau; die Anaphora des cum, der Gleichklang

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gel, der allein schon ausreichte, seiner Fälschung das Urteil zu sprechen. Weil Luna nur eine Zeile bekommt (365) und Diana auch nur eine (366), sollte Proserpina gleichfalls bloß eine erhalten (367a), nicht zwei (367/368). Und weil der Dichter in den beiden vorangehenden Versen (365/366) jeweils eines der Prädikate des Neben- und des Hauptsatzes mit dem Hilfsverbum esse gebildet hatte, meinte der Dichterling, dieselbe Konstruktion auch im dritten Gliede (367a) beibehalten zu sollen. Also V. 367a: cum rapitur, furia est... eqs. wie V. 366: cum ... iacit calamos, Latonia virgo est. Alles schön simpel und bequem. In Wahrheit hat Prudentius die erstrebte Concinnität absichtsvoll gelockert, teils um Einförmigkeit zu vermeiden, teils um Akzente zu setzen. So ist in der durch nunc gegliederten Reihe V. 361/364, welche die drei Kompetenzen der Göttin angibt - Lenken des Mondwagens28, Entsenden der Furien, Erlegen der Rehe - , durch gleichmäßige Zunahme der Infinitivkonstruktionen das Gesetz der wachsenden Glieder beobachtet, wobei allerdings der letzte Vers der Gruppe (364) bereits den Gesichtspunkt enthält, unter den dann die nächste Reihe gestellt ist (364 figuras), so daß er überleitende Funktion erfüllt: denique (365) schließt das Folgende begründend an. Auch innerhalb der zweiten Reihe, in der die dreifache Gestalt der Trivia vorgeführt wird - als Mondgöttin in dunkel glänzendem Mantel29, als Göttin der Jagd und Bogenschützin in geschürztem Gewand, als Herrscherin der Unterwelt auf dem Thron sitzend - , ist die gesuchte Korresponsion doch wieder gemildert, und zwar eben durch jene beiden Faktoren, die der Redaktor ausschaltete. Die Steigerung des Umfangs, diesmal im Verhältnis des letzten, zwei Verse füllenden Glieds zu den beiden voraufgehenden, hat guten Sinn. Denn auf den Charakter der Hekate als Unterweltsgottheit soll besonderer Nachdruck gelegt werden; deswegen hat ja der Dichter auch die frühere Reihenfolge: Luna,

zwischen subcincta und subnixa, zwischen Latonia (virgo) und Plutonia (coniunx) verstärken den Eindruck der Concinnität. In virgo und coniunx liegt überdies ein antithetisches Moment. 28 Schön illustriert durch die bildende Kunst, vgl. Franfoise Gury, Art. Selene, Luna, in: Lexicon iconographicum mythologiae classicae 7,1 (1994) S. 706/715, hier S. 711 f., Nr. 58/66 und 7,2 (Tafeln), S. 527f. Aus der Zeit unseres Dichters stammt die Silberschale in Mailand: ebd. Nr. 63. 29 Die bildlichen Darstellungen, etwa der konstantinische Tondo auf der westlichen Schmalseite des Konstantinsbogens in Rom (Lexicon iconographicum mythologiae classicae [wie Anm. 28] Nr. 52), zeigen stets den windgebauschten Mantel der Göttin. Das Adjektiv sublustris scheint auf dunkle Färbung zu deuten, vgl. etwa Hör. carm. 3,27,31 nocte sublustri; Verg. Aen. 9,373 sublustri noctis in umbra·, Ciris 37f. (inter) Candida lunae Sidera, caeruleis orbem pulsantia bigis.

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Proserpina, Diana (361/364) geändert und hier (365/368) - wie auch in der dritten Gruppe (370 qui/37%) - die Anordnung: Luna, Diana, Proserpina gewählt, damit das gewichtigste Moment jetzt an den Schluß trete und so zugleich die Abfolge der drei Machtbereiche: Himmel, Erde, Unterwelt, welche der Deutung in V. 369ff. zugrunde liegt, vorbereitet würde30. Selbstverständlich hängt damit auch die andere, fülligere Bildung des ganzen Satzes in V. 367f. zusammen, und gerade der Umstand, daß der Interpolator uns statt des vollen Ausdrucks: Plutonia coniunx (praedikativ!) | imperitat ein drittes est zumutet, zeugt für die mindere Qualität der Ersatzfassung in stilistischer Hinsicht. Seiner Art nach läßt sich V. 367a also zunächst den "syntaktischen Interpolationen" zuschlagen31, wobei das Hauptmotiv, das die Redaktoren treibt: das Streben nach Vereinfachung, auch hier erkennbar ist. Aber der Gesichtspunkt, von dem wir oben (S. 230 [104]) ausgingen, führt noch auf eine andere Fährte. Der echte Dichter zeigt uns Proserpina, ebenso wie später Dis, in düsterer Majestät. Anfangs, dort, wo er Mythos und Kult beleuchtet (356/ 359), sind der Schilderung satirische Lichter aufgesetzt. Aber von V. 360 an nimmt das schauerliche Dunkel zu, das Hekate umgibt, bis es sich in den beiden Versen 367/368 zum Eindruck furchtbarer Erhabenheit verdichtet32. Proserpina thront in der Unterwelt, gebietet über die Furien et dictat iura Megaerae (368). Also folgen die Erinyen Befehl und Gesetz, es sind die alten Rachegöttinnen, die Prudentius meint: furchtbar, aber nicht toll. Durch die Anspielung auf Vergil Aen. 1,506f. taucht überdies das Bild Didos auf, wie sie zu Carthago, mitten im Tempel sitzend, Recht spricht und Gesetze erläßt33: ( D i d o ) s a e p t a a r m i s s o l i o q u e a l t e s u b r t i x a r e s e d i t Iura dabatlegesque viris ... eqs. Prudentius brauchte die Wirkung finsterer Größe nicht zu scheu-

30 Hier, in der dritten Reihe (370 qui/37&), hat das mittlere Glied (Diana) den stärksten Umfang, was eben mit der Deutung zusammenhängt; s. oben Anm. 13. 31 Der Terminus nach Jachmann (wie Anm. 25) S. 215 Anm. 8. Jachmann hat diesen in sich sehr variablen Interpolationstyp immer wieder aufgedeckt. 32 Über die Mischung des Schrecklichen und Lächerlichen gerade in diesem Gedicht s. Christian Gnilka, Satura tragica. Zu Juvenal und Prudentius, in: Wiener Studien 103 (1990) S. 145/177, bes. S. 163ff. Satirisch-spitzig klingt eigentlich alles, was die vier Verse 356/359 bringen, und die Art, wie das Opfer der Färse (nach Verg. Aen. 6,251) eingeführt wird, steigert den Eindruck abschließend; aber mit V. 360 schlägt der Ton um. Die Junktur caeloque ereboque, die aus derselben Umgebung bei Vergil stammt (Aen. 6,247: voce vocans Hecaten caeloque Ereboque potentem), gibt ernsten, dunklen Klang. 33 Außer Mahoney (wie Anm. 14) vgl. auch Christian Schwen, Vergil bei Prudentius, Diss. Leipzig 1937, S. 40. Der Stillage nach verwandt Claudian. rapt. l,79f. (über Dis): Ipse rudifultus solio nigraque verendus Maiestate sedet... eqs.

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en, im Gegenteil: sie ist, wie wir sahen, ein Element der Wahrheit, das er zielbewußt ergreift; denn hinter der furchtbaren Gestalt steht eine furchtbare Realität, die der Christ als solche anerkennt. Aber dem Interpolator mochte das alles zuviel sein, und so degradierte er die Unterweltsfürstin kurzerhand zur Furie. Nicht als thronende Herrscherin sollen wir sie uns vorstellen, welche die Furien befehligt, sondern als Furie, die selbst von Raserei ergriffen wird. Man mag zweifeln, welches der beiden Motive den Ausschlag gab, das stilistische oder das sachliche. Hierüber sind ja überhaupt nur Vermutungen möglich. Aber mir scheint, daß in der Aussage: dictat iura Megaerae der hauptsächliche Anstoß lag und daß dann der Redaktor einen Ersatz nach seinem Gusto fabrizierte. Die offensichtliche Dublettenhaftigkeit des Verses verhinderte, daß er von der gesamten Überlieferung aufgesogen wurde. Immerhin muß seine starke Bezeugung zu denken geben: die beiden spätantiken Textzeugen (A und B) fallen zwar aus, aber sechs der zehn übrigen Handschriften, die Bergman für dieses Gedicht heranzieht, führen den falschen Vers mit, teils nach V. 366, wie oben abgedruckt, teils nach V. 367. Außer Bergmans Apparat sind auch Meyers "Prudentiana" heranzuziehen. Meyer erinnert einerseits an den bemerkenswerten Umstand, daß der unechte Vers in einem Zitat bei Isidor nicht erscheint 34 , stellt aber andrerseits fest, daß kein Grund besteht, die | Haupthandschrift Α von dieser Interpolation freizusprechen 35 . Cunninghams Apparat gibt den Befund in unzulässiger Verknappung 36 , seine sonstigen Bemerkungen zu diesem Fall zeugen von der bei ihm üblichen Wirrnis. Der Vers soll eine "Glosse", eine Parallele ("locus similis") zu V. 367 sein37, schließlich "an illustration of an alternative quantity for the ο in Plutonia"3S - als ob

34 Gustav Meyer, Prudentiana, in: Philologus 87 (1932) S. 249/260 und S. 332/357, hier S. 338 der Hinweis auf Isid. orig. 8,11,58, wo die Verse Prud. c. Symm. 1,365/367 zitiert werden. Cunningham hätte das im Apparat vermerken sollen. 35 Meyer (wie Anm. 34) S. 354. 36 Cunningham (CCL 126, S. 198, im Apparat) beschränkt seine Mitteilungen auf den Sangallensis S und den Cantabrigiensis C, woraus immerhin zu entnehmen ist, daß S den interpolierten Vers zwischen V. 367 und V. 368 fuhrt, nicht, wie Bergman angibt, zwischen V. 366 und V. 367. Aber diese kleine Korrektur - sie stimmt, wie die Kontrolle durch den Mikrofilm ergibt - wiegt nicht auf, was fehlt. Zur Cunninghamschen Recensio vgl. Klaus Thraede, in: Gnomon 40 (1968) S. 681/691, hier S. 685f., bes. S. 686 Anm. 1. 37 Cunningham: CCL 126, S. XXI, hier noch mit dem unsinnigen Zusatz: "de productione primae [sic!] syllabae in Plutonia agitur" - als ob es an den Quantitäten von Πλούτων irgendetwas zu deuteln gäbe! 38 Maurice P. Cunningham, The Problem of Interpolation in the Textual Tradition of

[Ill]

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es eine "Alternative" zur Messung Plutonius sonst gäbe, als ob ein schlechter Vers sie "illustrieren" könne, als ob überhaupt die Falschmessung des Genitivs Plutönis etwas über die Quantitäten des Adjektivs Plutonius aussagte, als ob es erlaubt sei, einen prosodischen Schnitzer solchen Kalibers als sprachschöpferischen Versuch oder metrisches Experiment zu werten! Man sieht, zu welch verzweifelter Gegenwehr die Leugner der redaktionellen Bearbeitung des Prudentiustexts bereit sind, selbst wenn ihre Lage so aussichtslos ist wie eben hier. Und natürlich kann keine Rede davon sein, daß die Einordnung des gefälschten Verses vor V. 367 (statt danach) "a readable text" ergäbe 39 . Es sei denn, man setzte die Ansprüche des Lesers sehr tief an, so tief, daß man ihm die gröbsten Doppelungen und Verdrehtheiten zumuten dürfte. Infolgedessen läßt sich auch die Stellung des Verses weder in dem einen noch in dem anderen Fall primär aus dem Streben erklären, den Text lesbar zu machen, mag auch das Interpolament, wofern es auf V. 367 folgt, sogar den syntaktischen Zusammenhalt der echten Verse 367/368 sprengen. Denn das Schwanken in der Bezeugung und Placierung gehört zum allgemeinen Dublettenschicksal und ist im letzten Folge des regellosen Zerfalls jener kritischen Ausgabe, die einst das echte und das unechte Versgut vereinte 40 .

2.

Daher tritt in den Handschriften bisweilen der Gesamtbestand von Echt und Unecht auf, obwohl die Unverträglichkeit der alternativen Fassungen ins Auge springt. Solcher Befand verrät die Anlage der spätantiken Ausgabe, in der einst die Randsemeiose für die nötige Scheidung sorgte. Ich greife drei weitere Beispiele aus dem Prudentiustext heraus. Im Romanushymnus verwundert sich der Märtyrer darüber, daß sogar Gebildete dem Götterkult anhingen; verzeihlicher sei das beim törichten Volk (per. 10,301ff.): |

Prudentius, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 99 (1968) S. 119/141, hier S. 134. 39 Cunningham (wie Anm. 38). 40 Hierüber Christian Gnilka, Theologie und Textgeschichte. Zwei Doppelfassungen bei Prudentius psychom. praef. 38ff., in: Wiener Studien 98 (1985) S. 179/203, hier S. 201/203 [in diesem Bande S. 102/125, hier S. 123/125]; ders., Zwei Binneninterpolamente und ihre Bedeutung für die Geschichte des Prudentiustexts, in: Hermes 114 (1986) S. 88/98 [in diesem Bande S. 126/137]; ders., Palestra bei Prudentius, in: Illinois Classical Studies 14 (1989) S. 365/382 [in diesem Bande S. 138/157].

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301 302a 302

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Ignosco fatuis haec tamen vulgaribus, quos verum latet, qui fidunt in stipite, quos lana terret discolora in stipite, quos saepe falsus circulator decipit, quibus omne sanctum est, quod pavendum rancidae edentularum cantilenae suaserint.

Diesen Versbestand bieten der Cantabrigiensis (C) und das Manuskript in Durham (D) -was man bei Cunningham nicht erfährt41 - , während die übrigen Codices - die beiden spätantiken Handschriften scheiden hier wieder aus - teils allein den echten Vers führen (MOSNU), teils nur den unechten (VPE). Im Bernensis (U) ist die unechte Fassung am Rande beigeschrieben. Auch in diesem Fall gibt sich das Interpolament durch "metrische Lüderlichkeit" (Jachmann) zu erkennen42; denn die durch das Metrum erzwungene Längung in lätet ist bei Prudentius ebenso befremdlich43 wie die unreine Bildung der zweiten und vierten Senkung des iambischen Trimeters. Jachmann, der dieses Beispiel für "Interpolatorenmetrik" kurz berührte44, wies auch schon auf das Motiv der Ersatzfassung hin: "Beseitigung eines Zuges, der nicht jedem Leser verständlich war". Obwohl sich die heidnische Sitte, heilige Bäume mit bunten Wollbinden zu schmücken, zäh behauptete45, war sie dem Redaktor in der

41 Cunningham (CCL 126, S. 340, im Apparat zu V. 302) macht nur eine Angabe zu den Codices V E, die den unechten Vers allein, statt des echten, haben (vgl. aber Bergman: CSEL 61, S. 381, im Apparat zu V. 302). Solcher Mangel ist empfindlich, s. Gnilka, Palestra (wie Anm. 40) S. 367f. mit Anm. 11 [in diesem Bande S. 169f. mit Anm. 11]. 42 Günther Jachmann, Textgeschichtliche Studien (Beiträge zur Klassischen Philologie 143) Königstein/Ts. 1982, S. 822 Anm. 1. 43 Zu per. 10,911 ( r a t e ) vgl. Gnilka, Theologie und Textgeschichte (wie Anm. 40) S. 186 Anm. 18 [in diesem Bande S. 108 Anm. 18]. 44 Jachmann (wie Anm. 25) S. 524 Anm. 37. Der Ausdruck "Interpolatorenmetrik" ebd. S. 435 Anm. 20 und Jachmann (wie Anm. 42) S. 563. Jachmanns stark wertende Nomenclatur mag man als unhistorisch empfinden, da es Dichter gibt, die sich mancherlei prosodische Lizenzen gar nicht selten gestatten (vgl. Zwierlein [wie Anm. 21] S. 28/30 zu Severus mit Ausblicken auf frühere und spätere Bibeldichter). Dennoch hat sie ihre Berechtigung, weil sie mit heilsamer Schärfe den Unterschied des Sprachniveaus kennzeichnet, der zwischen dem jeweils originalen Grundtext und den aufgesetzten Stücken besteht. 45 Weshalb sie in einem kaiserlichen Erlaß des Jahres 392 unter den verbotenen Kultübungen erwähnt wird: Cod. Theod. 16,10,12,2. Die arbor vittata auch bei Prud. c. Symm. 2,1010. An unserer Stelle ist an Umwinden des Stammes (stipes) gedacht, vgl. Arnob. adv. nat. 5,16 (zum Cybelekult): quid lanarum vellera (sc. sibi volunt), quibus arboris conligatis et circumvolvitis stipiteml Ferner: Ov. met. 8,744f. vittae mediam (sc. quercum) memoresque tabellae Sertaque cingebant. Weiteres bei Franz Börner im Kommentar zu den Metamorphosen, Buch VIII-IX, Heidelberg 1977, S. 242f. zur Stelle; vgl. auch Carl Boetticher, Der Baumkultus der Hellenen, Berlin 1856, S. 43/45.

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hier gebotenen Formulierung (302) offenbar nicht mehr recht einsichtig, oder er wollte dem Leser eine vermeintliche Erschwernis ersparen. Die μεταγραφή entspringt jedenfalls rein simplifikatorischer Tendenz. Dasselbe gilt für die zu per. 13,90 überlieferte Ersatzfassung. Cyprian wird dem Proconsul vorgeführt: 88 89 90 91

laetior interea iam Thascius ob diem suorum sistitur indomiti proconsulis eminus furori. edere iussus erat, quid viveret: 'unicultor', inquit, 'trado salutiferi mysteria consecrata Christi'. |

So schrieb der Dichter. Aber dem Redaktor klang die Frage in der Form: quid viveret (90) zu allgemein, und in derselben Zeile stach ihm das semel dictum unicultor ins Auge46. So ersetzte er Vers 90 durch ein eigenes Fabrikat, das die Verhältnisse klarer bezeichnen sollte. Und das Verbum trado an der Spitze des nächsten Verses (91), das ihm wohl mißfiel, weil es geradezu das Gegenteil der intendierten Aussage einzuschließen schien ('ich übergebe', 'ich liefere aus'), beseitigte er im gleichen Zuge: 88 89 90a 91

laetior interea iam Thascius ob diem suorum sistitur indomiti proconsulis eminus furori. dogmatis atque loci iussus genus edere: 'Christianus', inquit, 'servo salutiferi mysteria consecrata Christi'.

In dieser Version geht locus im Sinne von 'Amt', 'Stellung' auf das Bischofsamt Cyprians, und die ganze Wendung: dogmatis atque loci genus soll die Frage des Proconsuls genauer fassen, zugleich die Antwort des Märtyrers vorab klären. Den archilochischen Vers hat der Fälscher allerdings, wie es scheint, nicht gemeistert, denn die Zeile 90a ist um ein Metrum zu lang geraten47. Man mag sich freilich fragen, ob nicht das Interpolament in der vorliegenden Fassung bereits durch Kontamination mit dem echten Vers 90

46 Daß ein Anstoß für den Interpolator in quid viveret lag (90), erkannte Bergman (wie Aran. 23) S. 54 richtig. Er verwies hier auf V. 32 desselben Gedichts: vivere iustitiam Christi, wo er selbst aber später die Variante iustitia in den Text der Ausgabe nahm (iustitiam Cunningham). 47 Wohl deshalb wird die interpolierte Zeile 90a in einem Teil der Handschriften (MUS, dazu b bei Cunningham) unter Weglassung des Verbums edere grob ins Metrum zurückgestutzt: dogmatis atque loci iussus genus: Christianus (-um) inquit ... eqs. (nur diese verstümmelte Fassung des Interpolaments teilt Cunningham mit).

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entstellt ist. In der Form: dogmatis atque loci genus edere... eqs. (ohne iussus) könnte edere als finaler Infinitiv zu sistitur gehören, was einen nicht gerade eleganten, aber immerhin metrisch und grammatisch einwandfreien Text ergäbe. Den dichterischen Glanz hat der Diaskeuast jedenfalls nach Kräften abgestumpft, mit servo statt trado den wichtigen Bezug auf die Lehre Cyprians preisgegeben48, und was er mit dem hochpoetischen Wort unicultor auch in gedanklicher Hinsicht opferte, lehrt ein Blick in die Actaproconsularia dieses Märtyrers49: Cyprianus episcopus dixit: Christianus sum et episcopus, nullos alios deos novi nisi u η um et verum deum ... eqs. Wiederum stehen in C und D die beiden alternativen Zeilen (90a und 90) hintereinander im Haupttext, während sich an der Spitze des Verses 91 auch hier bereits die beginnende Spaltung der Doppelfassungen zeigt, die in der übrigen Überlieferung längst vollzogen ist: trado führt C, D servo (am Rande auch in C beigeschrieben)50. | Das berühmteste und gewichtigste Beispiel für das gemeinsame Auftreten des Echten und des Unechten liefert die interpolierte Doppelfassung zweier ganzer Strophen des Grabhymnus (cath. 10,9/16), die in gewissen Handschriften der echten unmittelbar folgt, in anderen sie verdrängt oder sich mit ihr vermischt hat51. Ich gebe hier nur noch einen einfacheren Fall. Im Hymnus ante cibum preist Prudentius den Schöpfer, eine Strophe gilt der Erschaffung des Menschen (cath. 3,96ff.): 96

nos igitur tua, sancte, manus caespite conposuit madido effigiem meditata suam,

48 Vgl. per. 13,16/20: es fehlt der Welt ein beredter Mann, der im Dienst der apostolischen Schriften die Menschen lehre sive timoris opus seu my st ica vel profunda Christi (20). Darauf greift V. 91 zurück. Aber der Bearbeiter wollte das Wort ausmerzen, das den Märtyrerbischof für sein Empfinden in die Nähe der traditores rückte; vgl. dazu Aug. bapt. 7,2,3 (CSEL 51,344, Z. 8ff.). 49 Acta proconsularia Sancti Cypriani 1,2 (Herbert Musurillo [Hg.], The Acts of the Christian Martyrs, Oxford 1972, S. 168); die Worte gehören zum ersten Verhör vor Paternus. 50 Den Text in C und D (dazu in S und O) kontrollierte ich, Bergmans Angaben (CSEL 61, S. 426, zu V. 90) sind demnach zuverlässig, die Cunninghams (CCL 126, S. 385, zu V. 90) wieder unvollständig (s. oben Anm. 41 und 47). In C erscheinen übrigens die Zeilenabstände zwischen den Versen 89/91 und die Buchstabengröße in den Zeilen 90a und 90 leicht verringert, als sollten diese beiden Verse in den Raum eines einzigen gepreßt werden. Am Ende des Verses 90a fehlt inquit. 51 Der ganze Fall ist gründlich behandelt von Emilio Pianezzola, Sulla doppia redazione in Prud. cath. X 9/16, in: Miscellanea critica, Teil 2. Aus Anlaß des 150jährigen Bestehens der Verlagsgesellschaft und des Graphischen Betriebes B.B. Teubner, Leipzig 1965, S. 269/286.

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100 100a

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utque foret rata materies ore animam dedit ex proprio. flavit et indidit ore animam.

Über das Motiv der Fälschung haben nach dem Vorgange Bergmans52 besonders Pelosi, Lazzati und Salvatore Erwägungen angestellt, Pelosi und Salvatore allerdings im Sinne der verkehrten Urvariantenlehre53. Es mag sein, daß der Dichter mit V. 100 in gefährliche Nähe zum Pantheismus und Emanatismus zu geraten schien und daß der Ersatzvers (100a) das dogmatische Zwielicht aufhellen sollte54. Jedenfalls suchte der Interpolator mit flavit engeren Anschluß an den Bibeltext: Gen. 2,7 VL tunc finxit deus hominem de limo terrae et insufflavit (flavit, inflavit, sufflavit, adflavit etc.) in faciem eius \ spiritum vitae55. Bemerkenswert nun abermals das Zeugnis der beiden britannischen

52 Bergman (wie Anm. 23) S. 44. 53 Pelosi (wie Anm. 19) S. 152/154; Giuseppe Lazzati, Osservazioni intorno alia doppia redazione delle opere di Prudenzio, in: Atti del Reale Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, Anno accademico 1941-1942, tomo 101, parte 2 (Cl. di Scienze mor. e lett.) S. 219/233, hier S. 225f.; Antonio Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o.J. [1958], S. 122/130. Salvatore untersucht den Sprachgebrauch des Dichters genauer, kann jedoch eine Änderung durch den Autor selbst nicht plausibel machen; dazu hatte schon Lazzati das Nötige gesagt. Zur Diskussion s. ferner Christian Gnilka, Zwei Textprobleme bei Prudentius, in: Philologus 109 (1965) S. 246/ 258, hier S. 246 mit Anm. 5 [in diesem Bande S. 1/15, hier S. 1 mit Anm. 5] und dens. (wie Anm. 19) S. 86f. mit Anm. 59 [in diesem Bande S. 63f. mit Anm. 59]. In neuerer Zeit hat sich Thraede zu dem Fall geäußert - mit richtiger Entscheidung, obwohl er die Fälschung einem "Abschreiber oder Leser" zutraut: Klaus Thraede, "Auferstehung der Toten" im Hymnus ante cibum des Prudentius, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für Alfred Stuiber (Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 9), Münster 1982, S. 68/91, hier S. 72 Anm. 9. Auch die dem Motiv nach verwandte Dublette zu cath. 10,130 hat Lazzati richtig beurteilt; über sie zuletzt Henke (wie Anm. 2) S. 161, Anm. 323, wo der ganze Fall thematisch in den rechten Zusammenhang gerückt wird. 54 Bergman (wie Anm. 23) S. 44 vermutete sogar, in der ursprünglichen Fassung des Interpolaments könne ort (nicht ore) gestanden haben, womit der vermeintliche Anstoß völlig beseitigt wäre, da nun vom Munde des Geschöpfs, nicht des Schöpfers die Rede wäre. Im Lehrgedicht hat Prudentius selbst solches Mißverständnis benannt und ausgeräumt: apoth. 820ff. Sed fortasse animam, domini quia fluxit ab ore, Conpositam factamque neges, velut ipsa dei pars, Quod dictu scelus est ... eqs. Vgl. Salvatore (wie Anm. 53) S. 124ff. Man könnte sich allerdings fragen, ob nicht die Änderung den Subjektswechsel erleichtern sollte, also eher der Gruppe der syntaktischen Interpolationen angehört: tua manus ist Subjekt des ersten Satzes (V. 96/98), aber zu dedit (V. 100) ist natürlich deus zu ergänzen; vielleicht sollte das neue Subjekt durch flavit deutlicher eingeführt werden. 55 Für die näheren Angaben verweise ich auf Bonifatius Fischer (Hg.), Genesis (Vetus Latina 2), Freiburg 1951-1954, S. 39. Überdies bediente sich der Interpolator anscheinend gewisser Formulierungen, die der Dichter andernorts für dieselbe Sache gewählt hatte, wodurch der Fall zugleich die Egalisierungssucht der Rezensoren bezeugt; vgl. besonders Prud. cath. 11,50f.: (dies) Quo te creator arduus Spiravit et limo indidi t. Dazu Salvatore (wie Anm. 53) S. 122f.

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Codices. C führt den unechten Vers hinter dem echten, läßt aber mit der überschüssigen Zeile 100a die folgende Strophe beginnen - die Strophenanfänge sind hier, wie bereits in den beiden spätantiken Handschriften, durch εκθεσις der jeweils ersten Zeile (bzw. durch Abrücken der Initiale) gekennzeichnet so daß diese Strophe sechs statt fünf Zeilen erhält. In D ist diese Unzuträglichkeit vermieden, der Ersatzvers erscheint hier nicht; der Freiraum jedoch für etwa eine Zeile, der nach V. 100 ausgespart wurde, beweist, daß das Echte und das Unechte in der Vorlage beider Handschriften geführt wurde. Wir treffen eben hier auf ein spätes Stadium der Auflösung jener synthetischen Ausgabe, die für Prudentius anzunehmen ist56. Aber es dürfte einleuchten, daß von dem Zerfall des einst dort vereinigten Textbestands die offensichtlichen Dittologien stärker erfaßt wurden als andere Falsifikate: stärker als äußerlich unauffällige Dubletten, stärker vor allem als die bloßen Texterweiterungen, die aufgrund eben ihres Zusatzcharakters dazu prädestiniert waren, mit dem originalen Grundtext sich zu verbinden. Daher gilt es, an offenkundigen Fällen wie den hier behandelten den Blick zu schärfen für alle jene Interpolamente, die noch unerkannt im überlieferten Versgut stekken.

3. Den Puteanus (Parisinus 8084 = A), der den eigenhändigen Besitzervermerk des Vettius Agorius Basilius (Mavortius), des Consuls vom Jahre 527, trägt57, betrachtete Bergman mit größter Ehrfurcht, und daß eine Zeile, die dieses alte Manuskript enthält, interpoliert sein könne, wollte ihm nicht in

56 Solcher Annahme liegt eine θεωρία der frühen Textgeschichte antiker Autoren zugrunde, die natürlich nicht diesen wenigen Einzelfällen abgewonnen werden kann. Bergman (CSEL 126, S. 16, im Apparat zu V. 100) meint, die gemeinsame Vorlage von C und D habe den interpolierten Vers nach Art einer Interlinearglosse über dem echten geführt. Man mag sich die graphische Situation vorstellen, wie man will: dem U r s p r u n g der ganzen Erscheinung, d.h. der Existenz der Doppelfassungen und ihres Nebeneinander in manchen Textzeugen, kommt man damit jedenfalls nicht auf die Spur; vgl. Gnilka, Zwei Binneninterpolamente (wie Anm. 40) S. 91 [in diesem Bande S. 129f.]. 57 Hierzu Oronzo Pecere, Esemplari con subscriptiones e tradizione dei testi Latini, in: Cesare Questa - Renato Raffaelli (Hgg.), Atti del convegno internazionale "II libro e il testo", Urbino, 20-23 settembre 1982 (Pubblicazioni dell' Universitä di Urbino, Scienze Umane, Atti di congressi I), Urbino o.J., S. 111/137, hier S. 127 mit Anm. 59 und S. 132.

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den Kopf. Bis heute hat diese Einstellung, ungeachtet der Kritik Gustav Meyers, weitergewirkt, und selbst Bastiaensen, der jetzt in der ganzen Frage gesundes Urteil beweist und sich ihrer Bedeutung für die Textgeschichte unseres Autors bewußt ist, behandelt sie doch in einem Tone, als sei die Existenz interpolierter Verse in Α Sache des persönlichen Credo58. Das ist sie aber | mitnichten. Ich wende mich gleich einem beweiskräftigen, wenn auch weithin verkannten Fall zu. Der hl. Vinzenz zieht beim Verhör kräftig gegen Kaiser und Götterkult vom Leder, worauf der Richter Datianus befiehlt59, ihm den Mund zu schließen (per. 5,93ff.). Zwei Zeilen sind in doppelter Fassung überliefert:

97 99a 100a

α Vocem loquentis claudite raptimque lictores date, illos reorum Plutones pastos resectis carnibus!

97 99 100

ß Vocem loquentis claudite raptimque lictores date, illos reorum carnibus pastos manuque exercitos!

Wer würde ohne weiteres annehmen, daß das "Monstrum" - so Meyers Urteil über Plutones - gerade in Α auftaucht? Und doch ist es so60! Meyer fand es "hübsch", daß diese Falschmessung ausgerechnet in dem von allen Editoren, auch von Bergman, zu Recht verurteilten Vers c. Symm. 1,367a wiederkehre61. Hübsch natürlich deswegen, weil damit die Unechtheit der für per. 5,99/100 in Α überlieferten Fassung ( = α) bestätigt wird und Bergmans, aus blindem Vertrauen auf Α resultierende, Inkonsequenz zutage tritt. Und dennoch: welch anhaltende Verwirrung hat diese Dublette ausgelöst! Eine seltsame Kapriole vollführte schon Heinsius. Er nahm zwar hier das Richtige in den Text und schied, ebenfalls richtig, den Vers c. Symm. 1,367a aus, merkte aber unsinnigerweise zu diesem Vers an, Prudentius kürze "auch anderswo" die

58 Bastiaensen (wie Anm. 5) S. 107. Dressel (wie Anm. 3) äußerte sich einst deutlicher. Er hielt sämtliche Handschriften für interpoliert und fugte ausdrücklich hinzu: "Puteano non excepto" (ebd. S,. XXV Anm. 12). 59 Über ihn B. Baldvinus de Gaiffier, Sub Daciano praeside. Etude de quelques passions espagnoles, in: Analecta Bollandiana 72, 1954, S. 378/396, hier S. 381f. 60 Α steht übrigens nicht allein, wie der Benutzer der Ausgabe Cunninghams (CCL 126, S. 297, Apparat zu V. 99 und 100) glauben muß. Bergmans Angaben (CSEL 61, S. 337) sind wiederum vollständiger. 61 Meyer (wie Anm. 34) S. 256 Anm. 18.

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zweite Silbe in Plutönis, womit ja nur wieder per. 5,99a gemeint sein kann62. Den Fehler verweist ihm Arevalo, der an beiden Stellen vernünftig urteilt63, und auch die Editoren des neunzehnten Jahrhunderts - Obbarius (1845) und Dressel (I860) 64 - entscheiden sich für die Fassung ß. Erst Bergman machte zwischen den beiden Fällen gleicher Falschmessung {Plutönis, Plutönes) eine getrennte Rechnung auf und verunzierte mit dem Monstrum seinen Text des Märtyrergedichts. Nachdem so die Weiche falsch gestellt war, zog die a Fassung in die modernen Leseausgaben von Lavarenne, Thomson und Guillen ein65, und Meyers Einwände verhallten fast ungehört, bis Cunningham das Glück hatte, hier das Richtige zu wählen. Aber das Lob, das man ihm | gerne einmal spenden würde, erstirbt auf den Lippen, sobald man liest, wie er sich im Apparat dazu äußert66. Was eigentlich zum Anlaß kritischer Besinnung hätte werden müssen, die auch die Immunität des Puteanus aufhebt, das wird bei Cunningham durch seine krause Locus similis-Hypothese derart verschleiert, daß es jene Wirkung nimmermehr tun kann, zumal der Editor an anderer Stelle seiner Ausgabe den widersprüchlichen Eindruck erweckt, kurzes ο in Plutönes gehöre zu den prosodischen Merkwürdigkeiten des Dichters selbst67. Und so ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, daß ein moderner Prudentiusforscher angesichts dieser Textdivergenz erklärt, es genüge ihm, wenn der Ausdruck - gemeint ist die echte Fassung - prudentianisch sei "in

62 Nicolaus Heinsius, Prudentiusausgabe, Amsterdam 1667 (in der von mir benutzten Auflage Köln 1701: S. 825): "... etsi secundam in Plutönis et alibi corripit". Über Heinsius' Verdienste um den Prudentiustext und deren Grenzen s. Dressel (wie Anm. 3) S. XXXVIII f. Daß die Messung Plutönis noch ein drittes Mal, wiederum in fraglos interpoliertem Text, vorkommt, konnte Heinsius kaum bekannt sein; s. unten S. 273 [137]. 63 Arevalo (wie Anm. 23) Sp. 150 B-C. 64 Aurelii Prudentii Clementis carmina rec. Theodorus Obbarius, Tübingen 1845, S. 226; rec. Albertus Dressel, Leipzig 1860, S. 354. 65 Maurice Lavarenne, Prudence, Bd. 4, Paris 2 1963, S. 77; H J . Thomson, Prudentius, Bd. 2, London-Cambridge (Mass.) 1953, S. 174; Jose Guillen-Isidoro Rodriguez, Obras completas de Aurelio Prudencio (Biblioteca de autores cristianos), Madrid 1950, S. 560. Auch Sister Μ . Clement Eagan, The Poems of Prudentius (The Fathers of the Church 43), Washington 1962, S. 150 übersetzt: "Those Plutos [!] of condemned outlaws Who feed on torn and mangled flesh." 66 Cunningham (CCL 126) S. 297, App. zu V. 100 nach Zitat des unechten Verses c. Symm. 1,367a: "Hic versus (cum ο brevi) in codices quosdam inrepsit [!] ex loco simili [!] margini adscripto; simile quid et hic accidisse facile credas." Über diese verworrene Spekulation zuletzt Gnilka, Palestra (wie Anm. 40) S. 369f. mit Anm. 24 [in diesem Bande S. 171 f. mit Anm. 24], 67 Cunningham (CCL 126) S. XXXVII. In Wahrheit steht hier Plutönes ebenso isoliert wie bei Maurice Lavarenne, Etude sur la langue du poöte Prudence, Paris 1933, S. 94 § 183.

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the broader sense of 'in the manner of Prudentius"'68. Aber was bleibt der Philologie, wenn wir unsere Ansprüche dermaßen hinunterschrauben? Im übrigen ist es ja gar nicht bloß die Prosodie, welche die Version des Puteanus diskreditiert. Noch niemand hat so recht erklären können, was Plutones - als Appellativum und im Plural ohne Parallele69 - eigentlich bedeuten soll. Meyer erinnerte sich wohl daran, daß wir unsere Hunde gerne Pluto nennen, und das mag ihn auf den skurrilen Einfall gebracht haben, mit Plutones müsse hier so etwas wie "Höllenhunde" gemeint sein70. Er verwies auf die Metapher canes gleich lictores (tortores, carnifices), die in demselben Gedicht vorkommt (per. 5,146ff.): Si iam tuorum perspicis (sc. Datiane) Languere virtutem canum, Age, ipse maior carnifex ... eqs. Aber hier gehören die "Hunde" dem angeredeten Beamten, in dessen Dienst die Liktoren stehen71, und es wäre ein ganz anderer, seltsamer Bezugspunkt der Metapher, wenn die Liktoren auf einmal nicht Hunde des Richters, sondern Hunde oder gar Höllenhunde der Gefolterten (reorum Plutones) sein sollten. Derart also sind die Assoziationen, welche die schillernde Kuriosität Plutones selbst bei einem Gelehrten auslöste, der sie doch nach Qualität und Herkunft durchschaut hatte! Weniger phantasievoll äußert sich Lavarenne: "L'idee est sans doute: les bourreaux torturent aux enfers les reprouves (Ixion, Tantale, Sisyphe etc.). "72 Aber wo hören wir sonst, daß Pluton sich in der Unterwelt persönlich als | Foltermeister betätigt, in Analogie zu den Liktoren des Datianus? Bei

68 Michael Roberts, Poetry and the Cult of the Martyrs. The Liber Peristephanon of Prudentius, Ann Arbor (The University of Michigan) 1993, S. 64 Anm. 64. 69 Das Stilmittel an und fur sich ist gängig und z.B. dem Juvenalleser vertraut. Auch werden Eigennamen als Typenbezeichnung gerne in den Plural gesetzt. Aber der Typos muß feststehen, wie etwa Pylades für amicus. Plutones ist verschwommen. Ebenso Nestoras per. 10,408, weil der Name hier nicht für alte Männer (senes) stehen soll, wie sonst, sondern für Männer alter Zeit (antiquissimos, so Bergman: CSEL 61, S. 478 s.v.). Es ist dies nicht der einzige Makel, durch den die verschrobene Strophe per. 10,406/410 Verdacht erregt. Nähere Ausführungen dazu muß ich mir hier ersparen. [Sie sind unten S. 373/84 gemacht.] 70 Meyer (wie Anm. 34) S. 256 Anm. 17. 71 Die Metapher ist aus Ciceros Verrinen bekannt, wo die Gehilfen ('Spürhunde') des Verres so heißen: Cie. in Verr. 11,1,126 (Virres aiebat) multa sibi opus esse, multa canibus suis, quos circa se haberet; ebd. 4,31; 4,40; 5,146; ferner Cie. ad Att. 6,3,6 Gavius est quidam ... P. Clodi canis. 72 Lavarenne (wie Anm. 67) S. 497, § 1463. Der Hinweis auf die Unsicherheit der Überlieferung, den er hier und andernorts (ebd. S. 94, § 183; Ausgabe [wie Anm. 65] S. 77 Anm. 2) anbringt, zeigt aber wohl, daß er sich seiner Sache doch nicht so sicher war, wie die obige Bemerkung vorgibt. Thomson (wie Anm. 65) S. 175 übersetzt übrigens: "those gods [!] of death for criminals", was wiederum auch nicht dasselbe ist wie "les bourreaux". Die interpolatorische Münze trägt eben keine klare Prägung.

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Vergil etwa ist das nicht der Fall. Das Verhör der Schuldigen leitet Rhadamanthus (Aen. 6,566/569), die Strafe der Auspeitschung jedoch vollzieht nicht er, sondern Tisiphone (ebd. 570/572), worauf die Verurteilten in den Tartarus abgeführt werden (573ff.). Unter den Büßern (580ff.) erscheint dann keine Gottheit mehr, nur noch Furiarum maxima (605). Pluton gar oder Dis tritt hier nirgendwo auf, und er ist in diesem ganzen Lokal auch nicht anzutreffen, weil sein Palast in entgegengesetzter Richtung liegt: am Scheidewege in der Unterwelt führt der Weg nach rechts Ditis magni sub moenia, wo auch das Elysium liegt; links geht's zum Strafort (540/543). Gewiß mag solche Topographie vernachlässigt oder verändert werden, und gewiß kann es vorkommen, daß der Name Plutons im Zusammenhang mit den Höllenstrafen fällt, doch wird damit der Herrscher der Unterwelt nicht auch schon gleich zum carnifex. Lehrreich ist Juvenal sat. 13,49/52: 49 50

... nondum imi sortitus triste profundi imperium Sicula torvos cum coniuge Pluton, nec rota nec furiae nec saxum aut volturis atri poena, sed infernis hilares sine r e g i b u s umbrae.73

Sogar bei solch enger Verknüpfung der Strafen mit den Herrschern der Unterwelt, welche die Tatsache der Bestrafung geradezu von der Existenz ihres Reichs abhängig macht, bleiben Pluton und Proserpina eben doch reges inferni, wodurch völlig ausgeschlossen wird, daß sie selbst bei den Martern Hand anlegen. Wenn also Lavarennes Erklärung des Appellativums Plutones stimmt - und ich habe nichts Besseres zu bieten - , dann liegt solcher Ausdrucksweise eine Karikatur Plutons zugrunde, die an das Zerrbild gemahnt, das sich der Verfasser der Zeile c. Symm. 1,367a von Proserpina machte: wie jener Stümper, der sich denselben prosodischen Fehler leistete, Proserpina, die über die Furien gebietet, selbst zur Furie machte, so dachte sich auch der Redaktor, der die Ersatzfassung per. 5,99a/100a erstellte - sei es nun derselbe Poetaster oder ein anderer - , Pluton nicht als Herrn des τόπος κολάσεως, sondern als Foltermeister oder Folterknecht, und aus solcher vergröbernden Anschauung antiker Götterwelt leitete er sich das Recht ab zu dem seltsamen appellativischen Gebrauch des Eigennamens74. |

73 Imi in V. 49 ist Konjektur Housmans (aliquis, codd.). 74 Daß darüber hinaus noch pantomimische Gestaltung der Hinrichtung oder mythische Kostümierung der Akteure gewirkt haben sollte (vgl. hierüber Ludwig Friedländer, Darstellun-

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D e n Anlaß seiner Maßnahme bildete vermutlich die kühne Bildhaftigkeit des echten Dichterworts: (illos) carnibus pastos.

Sie sollte wohl durch

einen unmißverständlichen Bezug zur Folter geklärt werden: (illos) resectis

carnibus.

Die Wörter secare,

sector,

segmentum

pastos

gehören z u m

Vokabular der Märtyrerlieder, dessen Kenntnis wir dem Textbearbeiter zutrauen dürfen 75 . Also: gesättigt nicht 'durch das Fleisch', sondern 'durch das zerschnittene Fleisch', 'durch das Schneiden des Fleischs'. Das schien deutlicher 76 . Aber Prudentius hat nicht nur die Wendungenpastus sanguine (per. 6 , 1 7 ) und sanguine pasta

voluptas

carnifex

(c. Symm. 1,383), er steigert auch

diese schauerliche Bildersprache, indem er die hl. Eulalia über Kaiser Maximianus sagen läßt (per. 3 , 8 6 f f . ) : 86

D u x bonus, arbiter egregius, sanguine pascitur innocuo corporibusque piis inhians viscera sobria dilacerat

90

gaudet et excruciare fidem.

Hier ist geradezu von der 'Gier nach Leibern' die Rede (vgl. 87 ... inhians), carnibuspasci.

corporibus

und in den Rahmen solcher Bildlichkeit gehört auch die Junktur Daß der Redaktor einerseits an ihr herumbesserte, andrerseits

gen aus der Sittengeschichte Roms, Bd. 2, Leipzig l01922, S. 91f.), ist unwahrscheinlich. Aber ich halte es für möglich, daß sich der Diaskeuast, als er die Gleichung Plutones i.q. tortores vornahm, durch einen Ausdruck beim echten Prudentius angeregt fühlte. Ministrum interitus nennt der Dichter c. Symm. l,393f. den Unterweltsgott der Heiden, s. das Zitat unten S. 266f. [132], Minister steht dort zwar fur effector, patrator (Vincenz Bulhart: ThLL 8, Sp. 1004, Z. 3ff.), vgl. Veil. 2,83,1 (Plancus) obscenissimarum rerum auctor et minister; Octavia 368 caedis ... ministrum; aber die Junktur konnte Anlaß bieten, die Liktoren des Datianus zu Plutones zu befördern, dann nämlich, wenn man die Bedeutung des Worts minister verschob: minister ist in den Märtyrerliedern der Folterknecht (per. 6,67f.; 10,691; 817); vgl. Manil. 5,413 tortor poenaeque minister; Drac. Laud, dei 2,537 poenae... ministri. Vgl. auch unten Anm. 122. 75 Vgl. Prud. per. 3,91f.: Ergo age, tortor, adure, seca, Divide membra coacta luto!; 5,529ff.: Quid tale sector ausus est? Truncata numquid corporis Segmenta post serram fens Obiecit aut undis dedit? Ferner: per. 10,886 (secandi doctus... artifex); 1099 (secare viscera); 1101 (tortor et sector); 1129 (segmenti modus) u.ö. 76 Immerhin hat auch ein moderner Prudentiuseditor den springenden Punkt verkannt. Christoph Cellarius (Ausgabe, Halae Magdeburgicae 1703, S. 143 zu per. 5,99) dachte sich die Henker als gutverdienende, wohlgenährte Muskelprotze: "lucrum ex reorum suppliciis faciunt lictores ac carnifices, plerumque lacertosi, tamquam carnibus pasti". In der Sache mag er recht haben (vgl. per. 5,124: fessos lacertorum toros), aber der Ansatz für metaphorisches pasci liegt hier in einem anderen, geistigen Bereich. Pasci steht im Sinne eines intensiven delectari: vgl. Dietfried Krömer, Art. pasco, in: ThLL 10,1, Sp. 600, Zeile 51ff., wo Prud. per. 3,87 richtig eingeordnet ist.

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das Monstrum Plutönes kreierte und außerdem - dies nicht zu vergessen mit dem Verzicht auf die Wendung: (illos) manuque exercitos (V. 100) einen markanten Zug der Darstellung preisgab77, gehört zur Widersprüchlichkeit interpolatorischer Arbeit, die sich selten ganz auflösen läßt.

4. Um die Linie unserer Überlegungen noch nach einer anderen Richtung hin auszuziehen, sei angemerkt, daß es sehr wohl auch den gleichsam umgekehrten Fall gibt: daß nämlich das Echte, aber metrisch oder prosodisch Ungewöhnliche, interpolatorisch beseitigt wurde. So hat die irreguläre Kurzmessung der letzten Silbe in quadrupes gleich zweimal eine Ersatzversion hervorgerufen. Prudentius unterscheidet fünf Altersstufen, deren letzte, das Greisenalter, die geistige und sittliche Vollendung des Menschen bringe (c. Symm. 2,317/323). Eine analoge Entwicklung erkennt er in der Menschheitsgeschichte (324/334): | 324 325 326 328 329 330

his genus humanum per dissona tempora duxit curriculis aevum mutabile, sic hebes inter primitias mersumque solo ceu quadrupes egit. mox tenerum docili ingenio iamque artibus aptum noscendis varia rerum novitate politum est; inde ... eqs.

Der Leidensis (E) bietet - zusammen mit Ρ und Ο - die Versreihe in folgender Fassung: 324 325 326 327 328 329 330

his genus humanum per dissona tempora duxit curriculis aevum mutabile, sie hebes inter primitias mersumque solo titubavit et instar quadrupedis pueri lactantia viscera traxit. mox tenerum docili ingenio iamque artibus aptum noscendis varia rerum novitate politum est; inde ... eqs.

77 Denn auf die Kunst der Folter wird später Bezug genommen, vgj. per. 5,133: illa vis exercita; 136: ars... dolorum.

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Der eingefälschte Plusvers 327 wird in unseren Ausgaben mitgezählt. Wolfgang Schmid, der diese Textstörung erstmals so recht ans Licht zog und den interpolatorischen Charakter der Langfassung erwies, suchte das Motiv der Umarbeitung allein in einem sachlichen Grunde: in dem Bestreben, die Fünfteilung der Lebens- und Weltalter, die Prudentius zugrunde legt, in eine Vierteilung umzuwandeln78. Aber solches Motiv wäre angesichts der verschiedenen Gliederungen des Lebens, welche in der Antike umliefen, nicht recht einsichtig79. Auffallen muß aber doch, daß im revidierten Text die Messung quadrupes, die der echte Prudentius sich gestattet (326), gemieden wird (vgl. 327 quadrupedis). Der Redaktor wollte offenbar die Prosodie des Dichters verbessern, was ihm allerdings nur gelang, indem er in V. 326 für das Stück nach der Hephthemimeres (ceu quadrupes egit) einen E r s a t z schuf (titubavit et instar), der einen ganzzeiligen Z u s a t z (327) nach sich zog80. Eine ähnliche Mischform zwischen Ersatz- und Zusatzfassung, Binneninterpolation und ganzzeiliger Falsifikation bietet auch der Psychomachietext des Leidensis81. Daß wir das Motiv des Fälschers | hier richtig erfassen, beweist der zweite Fall. Gott gewährt allen Menschen, sagt Prudentius (c. Symm. 2,78Iff.), gleichermaßen die allgemeinen Lebensgrundlagen, ohne daß etwa dadurch die Unterschiede zwischen den Menschen in puncto Moral und Religion aufgehoben würden. Bleiben doch auch die Unterschiede zwischen Römer und Barbar, zwischen Mensch und Tier davon unberührt (808/815). Die jeweiligen Abstände auf diesen beiden Ebenen des Daseins sind aber dem auf der religiösen Ebene, d.h. dem Abstand zwischen Christentum und Heidentum,

78 Wolfgang Schmid, Die Darstellung der Menschheitsstufen bei Prudentius und das Problem der doppelten Redalaion, in: Vigiliae Christianae 7 (1953) S. 171/186 = ders., Ausgewählte Schriften, Berlin-New York 1984, S. 365/377, hier S. 374f. 79 Daß die Scheidung zwischen infamia und pueritia im interpolierten Text verwischt ist, erklärt sich daraus, daß der Fälscher den Wortbestand der Umgebung plündert, dürfte also eine sekundäre Folge der Maßnahme sein; vgl. V. 319: infirmus titubatpueri gressusque animusque, gesagt vom Knabenalter im Leben des einzelnen. Über die Nutzung Lucrezens (Lucr. 3,447ff.) an dieser Stelle s. Schmid (wie Anm. 78) S. 179f. bzw. 372f. 80 Cunningham (wie Anm. 38) S. 132f., gegen Schmid sich wendend, vermag hier wieder einmal "nothing more than the marginal note of a parallel passage" zu erkennen und schließt in geradezu unsinniger Weise auf rein mechanische Verderbnis. Dabei hatte er selbst in der Ausgabe (CCL 126, praef. S. XXXVII) die auffällige Prosodie quadrupis, wenn auch kommentarlos und ohne Stellenangabe, vermerkt. Die Bemühungen des Kopisten im Bernensis U, mit den beiden alternativen Fassungen fertigzuwerden, besagen natürlich für die Genese der Textdepravation rein gar nichts (hierüber Cunningham ebd.). 81 Vgl. Gnilka, Zwei Binneninterpolamente (wie Anm. 40) S. 93ff. [in diesem Bande S. 13 Iff.]

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durchaus kommensurabel82: 816 817 818 819

sed tantum distant Romana et barbara, quantum quadrupes abiuncta est bipedi vel muta loquenti, tantum etiam, qui rite dei praecepta sequuntur, cultibus a stolidis et eorum erroribus absunt.

In der Leidener Handschrift (Ε), dazu in C und P, erscheint Vers 817 in folgender Fassung: 817a

quadrupedes bipedi abiunctae mutaeve loquenti.

Klingner, der in seiner Rezension des Bergmanschen Prudentius richtig für die Variante tantum an der Spitze des Verses 818 eintritt (quantum Bergman, Cunningham), bemerkt im Hinblick auf die Umformung des Verses 817: "Unklar ist es, was ihm (d.h. dem Bearbeiter) in V. 817 mißfallen hat"83. Aber man sieht unschwer, vergleicht man diesen Fall mit dem vorigen, daß der Fälscher hier wie dort von derselben Absicht geleitet wurde. Er wollte quadrupes ausräumen. Doch kurze Endsilbe ist irregulär im Verhältnis zur klassischen und vorklassischen Dichtung, nicht aber im Vergleich mit der zeitgenössischen Poesie: Ennius und Vergil messen quadrupes, ebenso hat tripes bei Horaz lange Schlußsilbe, und stets sagen die Epiker sonipes, dagegen gestatten Ausonius, Orientius und Paulinus die Prosodie bipes, tripes und quadrupes, Dracontius hat cornipesM, und auch Prudentius mißt quadrupes nicht nur an den beiden genannten Stellen, sondern auch noch ein drittes

82 Zum rechten Verständnis dieser Äußerung s. Christian Gnilka, Die frühe Kirche und die antike Kultur. Zu einem neuen Prudentiusbuch, in: Historische Zeitschrift 258 (1994) S. 397/ 415, hierS. 411. 83 Friedrich Klingner, in: Gnomon 6 (1930) S. 39/52, hier S. 46 = ders., Studien zur griechischen und römischen Literatur, Bern 1964, S. 675/688, hier S. 682. 84 Enn. ann. 232; Verg. Aen. 10,892 (quadrupes); Hör. serm. 1,3,13 (bipes). Sonipes z.B. Verg. Aen. 4,135; 11,600; 11,638; Stat. Theb. 9,284; Sil. 3,293; 7,641; 7,698; 8,337; 10,255; Claud. 15,439; 28,240. Aber Auson. 16 v. 38f. (S. 202 Peiper): Ilia quaerens Qui bipSs et quadrupes foret et tripis, omnia solus... eqs.; Orient, comm. 1,32; Paulin. Nol. carm. 20,387 (quadrupls); carm. 23,140 (tripis); Drac. laud. 1,58 (cornipis). Vgl. Ps. Priscian.: Grammatici Latini, hg. von Heinrich Keil, Bd. 3, Leipzig 1859, S. 524, Z. 14f.: es syllaba finita breviantur, ut... sonipes, alipes... eqs.; ferner Prob.: ebd. Bd. 4, Leipzig 1864, S. 26, Z. 15f. Es mochte im übrigen schon eine prosodische Unsicherheit genügen, um interpolatorische Beseitigung der zweifelhaften Messung zu veranlassen. Über die Vermeidung "prosodisch bedenklicher" Wörter bei den Dichtern s. Bertil Axelson, Unpoetische Wörter (Skrifter utgivna av Vetenskaps-Societeten i Lund 29), Lund 1945, S. 21/24.

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Mal85. Nicht jede prosodische Unregelmäßigkeit | darf also dem Dichter abgesprochen werden, und nicht immer ist das Normale auch das Echte. Um zu unserem Ausgangspunkt zurückzulenken: auch daß Α in solchem Falle gegen die Mehrheit der Handschriften recht behält, läßt sich zeigen. Aber natürlich folgt daraus nicht, daß das Abnorme, weil es in Α bezeugt ist, immer echt sein müsse86. Die Notwendigkeit der Unterscheidung ergibt sich etwa aus dem folgenden Beispiel 'emendatorischer' Interpolation, das auch insofern Beachtung verdient, als es die frühe rezensorische Bearbeitung des Prudentiustexts von der Seite des anderen spätantiken Textzeugen (B) her beleuchtet. Nabuchodonosor sieht neben den drei Jünglingen im Feuerofen eine vierte Gestalt, in der er den Sohn Gottes erkennt (apoth. 128ff., vgl. Dan. 3,24f.). Daraufhin befiehlt er, das Feuer im Ofen ausgehen zu lassen: 136 137

inrisas removete faces taedasque tepentes subtrahite, friget succensi sulpuris ardor, ... eqs.

Das ist die Version des Puteanus87. Im Ambrosianus (D 36 sup.), der auch noch dem sechsten Jahrhundert angehört88, lautet Vers 137 so: 137a

subtrahite, accensi frigescit sulpuris ardor.

Offenbar reizte die Längung der Schlußsilbe in subtrahite zu solcher Umformung. Das bestätigt die Textgestalt, die durch Codices des neunten und zehnten Jahrhunderts stark bezeugt wird89: 137b

subtrahite, en friget succensi sulpuris ardor.

85 Prud. apoth. 212f.: Non recipit natura hominis, modo quadrupes ille Non sit et... eqs. Auch hier hat die Kürze quadrupis einen Schlimmbesserer zu einem Eingriff gereizt. In einer Münchener Handschrift des zehnten Jahrhunderts (Clm 14395, aus dem Kloster St. Emmeram in Regensburg) ist nach Rasur von späterer Hand folgender Text hergestellt: Non recipit natura hominis quadripes modo non sit IUe, sed.. .eqs. Auf diese Änderung eines " ineptus corrector" macht Faustinus Arevalo (Migne, PL 59, Sp. 940 D) aufmerksam. Von derselben Hand wurde auch an anderen Stellen desselben Gedichts radiert und interpoliert (apoth. 222. 320. 981), stets zu dem Zweck, auffällige Messungen zu normalisieren. 86 Zum metrisch fehlerhaften Vers psych, praef. 60 (in A) s. Gnilka, Theologie und Textgeschichte (wie Anm. 40) S. 182/186 [in diesem Bande S. 105/109]. 87 Hinzu tritt der Thuaneus (Parisinus lat. 8087, saec. IX) = Τ bei Cunningham und ein weiterer Parisinus (Lat. 8305, saec. X) = Ν bei Bergman. 88 Neuere Literatur zu den beiden Handschriften bei Gnilka, Zwei Binneninterpolamente (wie Anm. 40) S. 97 Anm. 23 [in diesem Bande S. 136 Anm. 23]. 89 Hierzu s. den Apparat bei Bergman CSEL 61, S. 87; Cunningham CCL 126, S. 81 gibt wieder nur eine Auswahl. In dieser Fassung setzten die älteren Editoren, Heinsius ausgenommen, den Vers in den Text; vgl. den Apparat bei Dressel (wie Anm. 3) S. 89 zu apoth. 137.

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Prudentiana I. Critica

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Hier dient der Einschub der Interjektion dem gleichen Zweck90. Prudentius beschränkt die Längung kurzer auslautender Silben in der hexametrischen Poesie im | wesentlichen auf die Versstellen vor den männlichen Hauptcaesuren, und zwar selbst dann, wenn Muta cum liquida oder sogar s impurum folgt91. Nur in wenigen Fällen längt er in der zweiten Arsis92, und zu diesen wenigen Fällen gehört der Vers apoth. 137. Daher konnte ein Redaktor hier tatsächlich Anstoß nehmen. Aber das besagt nicht, daß sein Anstoß berechtigt ist, und im Vergleich mit dem vorhin (S. 245ff. [116f.]) besprochenen Fall zeigt dieser, warum wir die Längung subtrahite dem Dichter zutrauen dürfen, die Kürzung Plutönes nicht; warum der Puteanus in jenem Fall seine

90 Der Vers apoth. 254 lautet in beiden spätantiken Handschriften: filius, auctore genitus quod (quo B) sit patre summo. Dagegen überliefern die karolingischen Codices (PEMSU, D p.c.): filius, auctore ut genitus quod sit patre summo, was Heinsius (wie Anm. 62) S. 492 so wiederherzustellen suchte: filius, auctore ut genitus qui sit patre summo. Wenn diese Konjektur (qui statt quod) trifft, wie S. T. Collins meint (The Apotheosis of Prudentius, in: Sacris Erudiri 9, 1957, S. 44/49, hier S. 46), dann trifft sie doch nur, was der Interpolator schrieb, denn das Echte (auctore genitus) haben hier Α und B, während die Änderung (auctore ut genitus) sichtlich der irregulären Länge gilt. Aus demselben Grunde ist bei Tibull l,6,33f. in manchen Handschriften et eingefügt: tua si bona nescis Servare, [et] frustra clavis inest foribus; desgleichen bei Prudentius apoth. 294: Quin potius scrutare Dei signacula in ipso Fonte vetustatis, percurre [et] scrinia primi Scriptoris (in der Senkung, vor der Diärese). Es ist mir daher fraglich, ob die Copula in dem ähnlich gebauten Vers apoth. 1080 zu Recht steht: Pellite corde metum, mea membra, et credite vosmet Cum Christo reditura Deo ... eqs. (membrä credite, v.l). Dressel (wie Anm. 3) S. 219, App. zu c. Symm. 1,54 wollte umgekehrt solche Längungen in thesi beseitigt wissen. Vgl. aber Meyer (wie Anm. 34) S. 252 zu den iambischen Versen. Aus einem irregulären Longum erklären sich vielleicht auch Textdivergenz und Textverderbnis in dem Vers c. Symm. 2,45; vgl. Gnilka (wie Anm. 154) S. 5f. 91 Nach den, allerdings nicht unbedingt zuverlässigen, Angaben bei Franz Krenkel, Epilegomenorum ad poetas posteriores particula prima: De Aurelii Prudentii Clementis re metrica (Diss. Königsberg), Rudolstadii 1884, S. 19/24 längt Prudentius auslautende kurze Silbe zwölfmal in der Penthemimeres des Hexameters (c. Symm. 1,92: Iura resignasse sursum revolantibus umbris), zehnmal in der Hephthemimeres (c. Symm. 1,477: Plenapuellarum patribus ergastula saevi), sechsmal vor Muta cum liquida in der Penthemimeres (c. Symm. 1,73: Hospite regrumte crudus stupor aurea finxit); dazu kommen etwa zwanzig Fälle einer Dehnung vor sc, sp, sq, st in beiden Caesuren zusammen (c. Symm. 1,356: Eumenidum dominä Stygio caput exerit antro). Manches mag sich ergänzen lassen (c. Symm. 2,316 fehlt bei Krenkel: Crescit vita hominis et longo proficit usu); doch dürfte sich das Gesamtbild kaum verändern. Die Praxis in den nichthexametrischen Gedichten zeigt dieselbe Tendenz zur Caesur. Vgl. aber vorige Anmerkung. Über die Erscheinung insgesamt vgl. Friedrich Vollmer, Zur Geschichte des lateinischen Hexameters. Kurze Endsilben in arsi (Sitzungsberichte der Bayer. Akademie der Wissenschaften, Philos.-philol. und histor. Klasse, Jahrgang 1917, 3. Abhandlung), München 1917, hier S. 43 auch Beispiele aus Prudentius. 92 Ham. 908: Pervigitis animae, quamvis denseta graventur; c. Symm. 2,215: Halanfis animae figmentum et corporis alter; 2,845: Tramitibus et centenos terat orbita Calles·, psych. 252: Imbuere fragilique viros foedare triumfo·, 902: Cessisse stomacho. fervent bella horrida, fervent. Der Vers apoth. 137 erscheint bei Krenkel nicht, da er Dresseis Ausgabe zugrunde legt (s. oben Anm. 89).

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Autorität geltend machen darf, in diesem nicht. Die auffallende Tatsache, daß interpolierte Ersatzversionen einerseits durch prosodische Besonderheiten des Originals hervorgerufen wurden, andrerseits mitunter selbst die Regeln der quantitierenden Metrik gröblich verletzen, darf keineswegs befremden. Der Befund erklärt sich nicht nur aus der verschiedenen Provenienz der eingefälschten Stücke, sondern auch aus dem allgemeinen Charakter der Übergangszeit, der sie entstammen. Das Gefühl für Längen und Kürzen begann damals zu schwinden, ohne doch etwa völlig erloschen zu sein. Der Schüler, mit dem Augustinus das Gespräch De musica fuhrt, bekennt offen, naturlange und -kurze Silben nicht unterscheiden zu können 93 . Und doch erörtert Augustinus gewisse Probleme der Zeitmessung gerade anhand der Längen und Kürzen des iambischen Dimeters Deus creator omnium94. Die ambrosianischen Hymnen selbst verdanken ihren Erfolg sicher auch der Tatsache, daß ihr Autor das alte quantitierende Rhythmussystem mit dem neuen akzentuierenden zu versöhnen suchte95, und die gleiche Tendenz verrät der Prosarhythmus jener Epoche96. Aber gerade in solcher Zeit, da manches Ohr, der | quantitierenden Silbenmessung längst entwöhnt, nur für den Wortakzent empfänglich war, wachten die grammatici eifersüchtig über der Reinerhaltung der metrischen Tradition, und ein solcher custos historiae mochte dann auch bei Musterung des echten Prudentiustexts ein Haar in der Suppe finden97. So spiegeln die Interpolationen das literarische Leben. Und für die Echtheitskritik folgt daraus, daß sie sich niemals in ein Schema zwingen läßt:

93 Aug. mus. 2,1,1 (Migne, PL 32, Sp. 1099f.) u.ö. Vgl. Hermann Koller, Die Silbenquantitäten in Augustinus' Büchern De musica, in: Museum Helveticum 38 (1981) S. 262/267. 94 Aug. conf. 11,27,35. Die Längen und Kürzen werden festgestellt: quantum sentitur sensu manifesto, aber später erfolgt eine leichte Einschränkung: quantum exercitato sensufiditur. Der Ambrosiusvers wird auch mus. 6,2,2 (Migne, PL 32, Sp. 1163) herangezogen. 95 Vgl. Jacques Fontaine (Hg.), Ambroise de Milan. Hymnes, Paris 1992, Introduction, S. 82/92. 96 Adolf Primmer, Rhythmus- und Textprobleme in Iul. Aug. op. imperf. 1/3, in: Wiener Studien 88 (1975) S. 186/212; Wilhelm Blümer, Rerum eloquentia. Christliche Nutzung antiker Stilkunst bei St. Leo Magnus (Europäische Hochschulschriften, Reihe 15, Bd. 51), Frankfurt a. M.-Bern-New York 1991, S. 62ff. mit weiterer Literatur. 97 Vgl. Aug. mus. 2,1,1 (Migne, PL 32, Sp. 1099): grammaticus, custos ille videlicet historiae·, ebd. (Sp. 1100): grammaticus autem iubet emendari et illud te verbum ponere, cuius prima syllaba producenda sit secundum maiorum auctoritatem, quorum scripta c us todit. Die Auseinandersetzung zwischen Musikern und Grammatikern gehört allerdings in einen weiteren Zusammenhang, vgl. dazu Adalbert Keller, Aurelius Augustinus und die Musik. Untersuchungen zu "De musica" im Kontext seines Schrifttums (Cassiciacum 44), Würzburg 1993, S. 204/209.

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kein einzelnes Kriterium duldet eine mechanische Anwendung, immer ist das Urteil gefordert, stets eine neue Entscheidung verlangt. 5. Die gewonnenen Einsichten sollten uns ermutigen, die derben Flicken, die dem feinen Gewebe der prudentianischen Poesie aufgesetzt sind, auch dort abzulösen, wo das Gewicht der handschriftlichen Überlieferung bislang jeden Verdacht erdrückte. Ich schließe einen Fall an, bei dem es wieder um appellativische Verwendung eines Namens aus der Mythologie geht. Im Lehrgedicht über den Sündenquell veranschaulicht der Dichter den geistlichen Schutz, den die Religion dem gläubigen Christen gewährt, im Bilde einer befestigten Stadt (Hamartigenia 484ff.). Sie steht für das Gottesvolk wie für den einzelnen Christen: Christus ist der Schlußstein im Torbogen dieser Stadt (490f.); wer Ihn seiner Befestigung recht eingefügt weiß, seinen Mauerring mit dreifachem Wall - d.h. mit der Hl. Dreifaltigkeit - umgeben hat und auf dem Turme voll Gottvertrauen Wache hält (492/495), der braucht keinen Feind zu fürchten, nicht einmal den Teufel (ham. 496ff.): 496

500

non illum regina Tyri, non accola magni Eufratis Parthus rapiet, non decolor Indus tempora pinnatis redimitus nigra sagittis. quin si fulmineos cogens ad bella gigantas allofilus tua castra velit delere tyrannus, tutus eris nec te firma statione movebit ipse Charon mundi, numen Marcionis, ipse qui regit aerio vanas sub sole tenebras. nam vanum quidquid sol aspicit ... eqs.

"Periphrase surprenante", "expression bizarre" urteilt Lavarenne über den Ausdruck Charon mundi9*. In der Tat bildet der Name des Fährmanns als Bezeichnung des Teufels seltsamen Effekt, es ist, als solle hier alle Wirkung der gewiß schon überaus farbigen Umgebung durch einen grellen Reiz gleichsam übertrumpft werden. Aber die | Wendung ist nicht nur überraschend, sie

98 Lavarenne (wie Anm. 67) S. 381, § 1085 bzw. in der Ausgabe: Prudence, Bd. 2, Paris 2 1961, S. 80 (Anmerkung Nr. 3 zu S. 59).

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ist auch störend, weil sie sich schlecht mit der Periphrase allofilus... tyrannus (500) verträgt. In diesem biblisch gefärbten Ausdruck (vgl. etwa Ps. 55,1; 59,10; 107,10 VL) sammelt der Dichter die gesamte Bildlichkeit, die er schon von V. 406 an, längst vor der oben ausgeschriebenen Versreihe, entwickelte99. Die Dämonen erkennt er dort (409/423) άλληγορικώς in den Namen der sieben Fremdvölker nach los. 11,3f und besonders 24,11. Auch danach bleibt der Dichter im biblischen Bereich, indem er die babylonische Gefangenschaft, die Knechtschaft in Ägypten, die Rettungstaten Gottes während der Exodus, die Eroberung des Gelobten Landes und schließlich die Erbauung der 'Stadt' auf das Schicksal der gläubigen Seele und des Christenvolks als des neuen Israel deutet. Die Namen der Feinde in den Versen 496/498 führen aus dem biblischen Bereich hinaus, sie sollen den Eindruck der bedrohlichen Fremdheit noch einmal dem römischen Publikum vermitteln100. Der allofilus tyrannus vereint dann alle Ethnika in einem Begriff, der zugleich biblisch und griechisch-römisch ist, und auch seine 'Giganten' sind dieser absichtsvoll temperierten Atmosphäre wohl angepaßt101. Nach dieser sorgfältig arrangierten, steigernd abgeschlossenen Bilderfolge, die jene dem Christen feindlichen Mächte durch ethnische Gegensätze zu treffen sucht, wirkt das Appellativum Charon mundi wie ein dicker Tropfen falscher Farbe. Der abrupte Übergang in die griechische Unterwelt, der Riß in der Metaphorik, gehört nach den Maßstäben der antiken Rhetorik in den Bereich der κακοζηλία. Das Störende des Ausdrucks hat unlängst W.J. McCarthy richtig erkannt102 und durch eine ingeniöse Konjektur auszuräumen versucht: archon statt Charon, im Anschluß an den neutestamentlichen Sprachgebrauch, besonders an Eph. 2,2: κατά τον αιώνα του κόσμου τούτου, κατά τον άρχοντα της εξουσίας του άέρος. Die Emendation besticht zunächst, insofern sie ein Wort des Urtexts in die

99 Vgl. Roberto Palla, Prudenzio. Hamartigenia (Biblioteca di Studi antichi 26) Pisa 1981, S. 223f., 240f. 100 Palla (wie Anm. 99) S. 239f. Der 'verfärbte', d.h. schwarze Inder (decolor Indus) läßt aber deutlich den geistlichen Sinn durchschimmern, vgl. Franz Josef Dölger, Die Sonne der Gerechtigkeit und der Schwarze. Eine religionsgeschichtliche Studie zum Taufgelöbnis.(Liturgiegeschichtliche Forschungen 2), Münster 1918, S. 52/57 über die Namen der Ägypter und Äthiopier. 101 Vgl. Prud. ham. 147: giganteis... lacertis, gesagt vom Jäger Nebroth (nach Gen. 10,8f. VL), und im übrigen Wolfgang Speyer, Art. Gigant, in: Reallexikon für Antike und Christentum 10 (1978) Sp. 1247/1276. 102 W.J. McCarthy, Satan, the archon (not Charon) mundi: An Emendation of Prudentius* Hamartigenia 502, in: Classica et Mediaevalia 40 (1989) S. 213/225, bes. S. 222/225.

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prudentianische Behandlung desselben Themas einfügt. Der Dichter geht im folgenden sogar dazu über (509ff.), die Lehren des Epheserbriefs (bes. Eph. 6,12) den Apostel selbst in direkter Rede vortragen zu lassen. Auch unter paläographischem Gesichtspunkt läßt sich die Änderung plausibel machen. Trotzdem überzeugt sie nicht. Die lateinischen Übersetzungen haben für άρχων überall princeps (Joh. 12,31: princeps huius mundi\ vgl. ebd. 14,30; 16,11; Mt. 9,34: in principe daemoniorum-, vgl. Mt. 12,34; Mc. 3,22; Lc. 11,15; dazu Eph. 2,2) bzw. principes (Eph. 6,12), und infolgedessen geht der 'Fürst dieser Welt' durch die ganze lateinische Väterliteratur als princeps huius mundi (daemoniorum). Juvencus hat diese Wortverbindung in die Poesie eingeführt (2,607: princeps daemoniorum), und auch Prudentius sagt princeps, sogar an unserer Stelle und im gleichen Zusammenhang: sub principe Belia (519f.; vgl. 393: sub principe tali; 448f.: haec ... horribilis victoria principis Assur - mit spirituellem Sinn). Dagegen ist archon für princeps (huius mundi etc.) der | christlichen Latinität fremd103. Das fällt bei solcher Sache ins Gewicht. Die Konjektur archon statt Charon ersetzt gleichsam eine Rarität durch die andere, und während mit der einen der 'color poeticus' zu dick aufgetragen wird, läßt ihn die andere gänzlich vermissen. Auch daß der Vers, nimmt man archon in den Text, einen Daktylus zugunsten eines weiteren Spondeus verliert, wird man kaum als Vorzug bewerten dürfen, da so der fast ganz spondeischen Zeile als einziger Daktylus nur noch dieser verbleibt: MarcTöms. In Wahrheit stellt aber diese Prosodie, schon für sich genommen, eine weitere Bizarrerie dar. Der Name des Irrlehrers begegnet sonst noch dreimal im Text104, nie in einem obliquen Casus: einmal im Nominativ Marclön (ham. praef. 36) und zweimal im Vokativ Marcion (ham. 56. 124), wobei hier die letzte Silbe

103 McCarthy (wie Anm. 102) S. 225 mit Anm. 18. Er vermerkt die Tatsache, daß archon in der allgemeinen Bedeutung 'Herrscher' im Lateinischen überhaupt sehr selten ist, und sieht hierin den Grund der Verderbnis zu Charon. Als Beleg zitiert er (aus dem ThLL 2, Sp. 467, Z. 8f.) Itala psalm. 2,2 (Tert. adv. Marc. 4,42): astiterunt reges terrae et archontes (principes, Vulg.) congregati sunt. Aber man muß das Defizit auch auf der besonderen Seite verbuchen, im Sprachgebrauch der lateinischen Christenheit, und gegen den positiven Befund abheben, gegen die feste Gewöhnung an den princeps, nicht archon, mundi. 104 Dazu in der adjektivischen Bildung Marcionita deus - diesmal mit kurzem i im Wortstamm - , doch ist mir der Vers (ham. 129) überaus verdächtig. Auch meine Bedenken bezüglich der Authentizität der ganzen Versreihe ham. praef. [36/47] - und damit der Messung Marciön (36) - unterdrücke ich hier, um nicht das Urteil im vorliegenden Fall mit Prämissen zu verbinden, die erst noch gesichert werden müssen. [Dazu s. jetzt unten S. 291/356, zur Prosodie S. 351]

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jeweils positione lang ist. Schon die bloße Tatsache, daß der Name des Häresiarchen, gegen den sich das Lehrgedicht primär richtet, derart sparsam eingesetzt wird, verdient Beachtung. Denn man darf daraus wohl schließen, daß der Autor mit dem ungefügen Wort nicht etwa unbedacht umging. Die Längung des i in allen drei Fällen, vielleicht auch die Kürzung der letzten Silbe ham. praef. 36 {Marciön gegenüber Μαρκίων), entspricht der Praxis des Dichters, der kurze akzenttragende Silben griechischer Wörter gelegentlich lang mißt, andere nach Bedarf kürzt (vgl. allofilus gegenüber αλλόφυλος)105. Aber es ist doch ein deutlicher Schritt von der Prosodie Marciön - wie daemon (c. Symm. 2,889) und Lacedemön (ebd. 2,247) - zur gewagteren Form Marciönis, und es ist angesichts der Zurückhaltung, die Prudentius im Gebrauch des Eigennamens an den Tag legt, mehr als zweifelhaft, ob er solchen Schritt ohne Not getan hätte. Der Verfasser des pseudo-tertullianischen Carmen adversus Marcionem füllt mit der vorletzten und drittletzten Silbe in Marcionem und Marciönis eine Senkung des Hexameters106, hat aber wohl hier konsonantisches i gelesen. Solche Messung gehört zu den vulgären Zügen seines Lateins107 und ist für den Vers ham. 502 aus metrischen Gründen ausgeschlossen. Man muß bei alledem bedenken, wie peinlich andernorts Prudentius solche Namen meidet, die dem Metrum nicht fügsam sind108. Daß er selbst, der in den fünf Büchern Tertullians | Adversus Marcionem ungezählte Male gelesen hatte: deus Marciönis, creator Marciönis, phantasma Marciönis, Christus Marciönis etc., hier auf einmal sollte ein numen Marciönis in den Vers gebracht haben, ist von vorneherein unwahrscheinlich. Wo aber solche Dinge - ein κακόζηλον und eine gewagte Prosodie - in einer Zeile zusammentreffen, begründen sie den Verdacht auf Fälschung. Und der Gesamteindruck bestätigt den Verdacht. Denn das Pathos, das die den Vers nach Art des Kyklos rahmenden Pronomina: ipse... ipse erzeugen sollen, ist

105 Lavarenne (wie Anm. 67) S. 79, § 141; S. 80f., § 144. 106 Carm. adv. Marc. 1,141. 144; vgl. 3,297 (CCL 2, S. 1424. 1442). 107 Vgl. August Οχέ, Prolegomena de carmine adversus Marcionitas, Diss. Bonn, Leipzig 1888, S. 18. Im allgemeinen hierüber auch Karla Pollmann, Das Carmen adversus Marcionitas (Hypomnemata 96), Göttingen 1991, S. 22/26. Anders zu beurteilen ist Mattheus, Chananeys bei Prudentius apoth. 981, ham. 409; s. Lavarenne (wie Anm. 67) S. 78, § 140. 108 In der katalogartigen Partie eines Märtyrergedichts hat er aus diesem Grunde nicht weniger als vier Namen lainstvoll umschrieben, einen weiteren später mit einer Lizenz in den Vers gebracht, solche Freiheit aber ausdrücklich gerechtfertigt, vgl. Christian Gnilka, Der Gabenzug der Städte bei der Ankunft des Herrn. Zu Prudentius, Peristephanon 4,1/76, in: Iconologia Sacra, Festschrift für Karl Hauck, Berlin-New York 1994, S. 25/67, hier S. 45f.[Doch dazu jetzt unten S. 396],

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ein leeres Pathos und zugleich ein störendes. Bereits der allofilus tyrannus war ja V. 499 durch quin mit deutlicher Steigerung eingeführt und so von den zuvor genannten Feinden abgesetzt worden. Die erneute affektische αύξησις in V. 502 wirkt in Verbindung mit den neuen, auffälligen Namen verwirrend, da sie die Vorstellung auslösen kann, das numen Marcionis sei etwas anderes, noch Schlimmeres als jener fremdstämmige Tyrann, während doch eine weitere Steigerung in der Auffassung des personalen Bösen gar nicht möglich ist. Der unechte Vers steht auch im Puteanus, was jetzt nicht mehr überraschen kann. Doch ist der Befund wertvoll als weiteres Zeugnis der frühen Bearbeitung des Dichtertexts. Leicht gibt sich das Motiv der Einfälschung zu erkennen. Sie gehört, nach Jachmanns Terminologie, wiederum in den Bereich der "syntaktischen Interpolation"109. Dem Relativum qui sollte ein Bezugswort gegeben werden. Gleiches Streben verursachte die Einschwärzung einer Zeile in Juvenals vierter Satire (Juv. sat. 4,73): 72

75

sed derat pisci patinae mensura. vocantur ergo in consilium proceres, quos oderat ille, in quorum facie miserae magnaeque sedebat pallor amicitiae ... eqs.

Die Athetese des Verses 73 stammt von Jachmann, Knoche befolgte sie in seiner Ausgabe, und auch die neue Teubneriana, die James Willis vorbereitet, wird die Zeile als unecht führen110. Relativsätze ohne Bezugsmasse111 sind häufig bei Prudentius. Ich greife einige Beispiele heraus: ham. 39 anterior numero est, cuifilius unicus uni est\ ebd. 65f. (Deus praeviderat) fore, qui rectorem lucis et orbis Scinderet in partes-, ebd. 71 Of. {homo) magis utile dum sibi credit, Quod... persuasit callidus anguis\ c. Symm. 1,130f. virides discindunt ore chelydros, Qui Bromiumplacare volunt; ebd. 1,224ff. (puer)

109 Jachmann (wie Anm. 31). HO Jachmann (wie Anm. 42) S. 822 Anm. 1; Ulrich Knoche (Hg.), D. Iunius Juvenalis. Saturae (Das Wort der Antike 2) München 1950, S. 28. Jachmann nennt als weiteres Beispiel Juv. sat. 10,54; doch tilgt Knoche die beiden Verse 10, 54 u n d 55; ebenso jetzt Willis. Vgl. Cie. off. 3,82: capitalis \Eteocles velpotius Euripides], quiidunum, quod omnium sceleratissimum fiierit, exceperit. So J.G. Baiter - C.L. Kayser (Hgg.), M. Tullii Ciceronis opera quae supersunt omnia, Bd. 7, Leipzig 1884, S. 102 und C.F.W. Müller (Hg.), M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Teil 4, Bd. 3, Leipzig 1882, S. 116. in ManuLeumann-J.B. Hoftnann-Anton Szantyr, Lateinische Grammatik. 2, München 1965, S. 555f.

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dominosque putavit Aetheris, horrifico qui stant ex ordine vultu\ 2,41ff. (sumpsit pictura,) Quod variis imitata notis ceraque liquenti Duceret in faciem; 2,166f. ego contra Spero, quod extra aciem longum servatur in aevum. Ist die grelle Tapetenmalerei fortgewischt, zeigt sich das Original in reiner Eleganz: | 499 500 501 503

quin si fulmineos cogens ad bella gigantas allofilus tua castra velit delere tyrannus, tutus eris nec te firma statione movebit, qui regit aerio vanas sub sole tenebras. nam vanum quidquid sol aspicit ... eqs.

Jetzt erst wird sichtbar, wie der Dichter mit wenigen Strichen Macht und Ohnmacht des furchtbaren Gegners skizziert, indem er dem sicheren und festen Posten des Christen (501) unmittelbar die Nichtigkeit jenes Bereichs gegenüberstellt, in dem der böse Feind seine Herrschaft ausübt (503). Horaz drückt gleichsam das Siegel klassischer Kunst auf die wiedergewonnene Reinform des prudentianischen Texts (carm. 3,4,42ff.): 42

... scimus, ut inpios Titanas immanemque turbam fulmine sustulerit caduco,

45

q u i terram inertem, qui mare temperat ventosum et urbis regnaque tristia, divosque mortalisque turmas imperio r e g i t unus aequo.

Man stelle sich den Schaden vor, der entstünde, wollte man hier dem Relativum qui (ιtemperat, regit) durch einen eingeschwärzten Fremdkörper eine plumpe Stütze geben112! Gerade weil aber solche Eingriffe in der hexametrischen Poesie leichter möglich sind als in der lyrischen, wird man ihnen dort mit Aufmerksamkeit begegnen müssen.

112 Denn der Ersatz des Eigennamens durch die relativische Prädikation macht natürlich Wirkung, bei Horaz wie bei Prudentius! Vgl. noch die Schlußstrophe Hör. carm. 3,28,13/16: Summo carmine quae Cnidon Fulgentisque tenet Cycladas et Paphon Iunctis visit oloribus, Dicetur merita Nox quoque nenia.

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6.

Es gibt vitia prosodiaca solcher Art und solchen Gewichts, daß unter Umständen eines allein dazu berechtigt, die Frage nach der Echtheit ganzer Verse aufzuwerfen, besonders dann, wenn keine Aussicht besteht, den Schaden auf dem Wege der Konjekturalkritik zu beheben. Als notwendig erweist sich die Athetese in dem folgenden Fall, der uns wieder zum Gedicht Contra Symmachum (1,27Iff.) zurückführt: 271

275

quid loquar Antinoum caelesti in sede locatum, ilium delicias nunc divi principis, illum purpureo in gremio spoliatum sorte virili, Hadrianique dei Ganymedem, non cyathos dis porgere, sed medio recubantem cum love fulcro nectaris ambrosii sacrum potare Lyaeum cumque suo in templis vota exaudire marito? ergo his auspicibus Traianus, Nerva, Severus et Titus et fortes gesserunt bella Nerones ... eqs.

|

Der consensus codicum, der hier B, nicht aber A, einschließt, darf uns nicht glauben machen, Prudentius selbst sei es gewesen, der den Namen Kaiser Hadrians prosodisch zu Hadrlänus oder Hadriänus entstellte! Daß die vorletzte Silbe des Namens deswegen gekürzt werde, weil sie mit der Form Hadrianique in die Senkung des Versfußes gerate, ist eine ganz unzureichende Erklärung, ja im Grunde eine petitio principii. Lavarenne, der sie vorbringt, vermag denn auch nicht, sein philologisches Gewissen gänzlich zu beruhigen: "L'a est atone, cela explique peut-etre [!] que Prudence Γ abrege."113 Prudentius mißt per. 12,61 korrekt: Ibimus ulterius, qua fert via pontis Hadnäni, und daß er ausgerechnet in demjenigen Gedicht, das sich gegen den vielgepriesenen Redner Symmachus, das Romani decus eloquii (c. Symm. 1,633), richtet und vor den Kreisen hochgebildeter Aristokraten Roms den christlichen Kulturwillen begründet, einen Kaisernamen verhunzt haben soll, ist schwer

113

Lavarenne (wie Anm. 67) S. 94, § 1841.

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zu glauben. Venantius Fortunatas wagt allerdings die Kürzung Cypriänus bzw. die dreisilbige Messung Cypriänusm. Aber Venantius ist eben nicht Prudentius: der sagt stets, siebenmal in verschiedenen Gedichten, Cypriane, Cyprläni, Cypriänus, Cyprlänum (per. 4,18; 11,237; 13,2. 8. 38. 53. 59), und entsprechend behandelt er die Namen Caecittänus, Casslänus (quater), Cottiäni, Dafiänus (ter), Maximlänus (bis), Quintiliänus, Valerlänus (bis). Infolgedessen ersetzt er auch Christianus in den hexametrischen Gedichten durch Christicola, meidet er im daktylischen Vers den Kaisernamen lüliänus. Letzterer Fall wiegt besonders schwer. Denn Prudentius läßt den Christenfeind in einer langen Szene der Apotheosis auftreten (apoth. 449/502), hat aber trotzdem den Namen des Kaisers lieber meiden als durch Kürzung oder Synizese dem Metrum gefügig machen wollen. Hier, an unserer Stelle, bestand erst recht kein Grund zu solcher Maßnahme. Prudentius brauchte den Namen Hadrians nicht in den Vers zu bringen, da schon der Name des Antinous genügte, um in diesem Zusammenhang die Verhältnisse völlig zu klären. Aber der Redaktor vermißte den Eigennamen, er wollte die Angabe nunc divi principis (272) genauer festlegen, und so hallt es wie ein verzerrtes Echo nach: Hadrjänique dei (274). Vorgegeben war ihm | vielleicht, durch die christliche Apologetik, der Vergleich des Antinous mit Ganymed115, fürs übrige half ihm die eigene Phantasie, die sich an dem Stoff und seiner Gestaltung durch Prudentius entzündete. Der Dichter hatte die Vorgänge im Tone des iocus cum amaritudine scharf angeprangert116 und zu voller Anschauung gebracht: der Lustknabe, im Schöße des Kaisers entmannt, mit ihm in den Himmel

114 Ven. Fort. carm. 8,3,153 (MGH auct. ant. 4, S. 185): Africa Cyprianum, dat Siscia clara Quirinum. Die beiden Stellen nickt Lucian Mueller, De re metrica, St. Petersburg-Leipzig 2 1894, S. 441 als Belege für Vokalkürzungen zusammen. Venantius und der falsche Prudentius lasen aber wohl mit konsonantischem i: Hadnänus bzw. Cypriänus, nahmen sich also eine Freiheit, wie sie sich der Verfasser des Carmen adversus Marcionem öfters gestattet (s. oben S. 258f. [126]); vgl. auch Schetter (wie Anm. 21) S. 173 zu Severus. Die Synizese vom Typ omnia, wodurch zwei kurze Vokale zu einem kurzen zusammengezogen werden (vgl. Eduard Nor3en, P. Vergilius Maro. Aeneis Buch VI, Darmstadt 81984, S. 130f.), ist solcher Lizenz verwandt. Über das Bestreben, die Eigennamen zum Zweck der Verdeutlichung einzufälschen, s. Jachmann (wie Anm. 42) S. 559f.; vgl. ebd. S. 804. Ferner Siegfried Mendner, Der Text der Metamorphosen Ovids, Diss. Köln, Bochum-Langendreer 1939, S. 51f. 115 Tert. nat. 2,10,11 (CCL 1, S. 58); Clem. Alex, protr. 4,49,1 (GCS Clem. Alex. 1, S. 38), ausgeschrieben bei Euseb. praep. 2,6,8 (GCS Euseb. 8,1, S. 92); s. Josef Engemann, Art. Ganymed, in: Reallexikon fiir Antike und Christentum 8, 1972, Sp. 1035/1048, hier Sp. 1045f. Vgl. unten Anm. 119. 116 Dazu Gnilka (wie Anm. 32), wo auch diese Partie kurz berührt ist (S. 174).

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versetzt, trinkt dort den Göttertrank und wird in Kultgemeinschaft mit dem 'Gatten' verehrt117. Aber das genügte dem Textverbesserer nicht. Er wollte selbst den Satiriker spielen. Vers 276 insonderheit dürfte ihn animiert haben, die Männersatire nach seinem Witz zu bereichern. Er Schloß nämlich daraus, daß es der Liebling Hadrians im Himmel eigentlich besser getroffen habe als der Mundschenk der Götter, und unternahm es, diese Idee auch noch in den Text zu zwängen. Aber durch diese Übertreibung schadete er der gesamten Darstellung, die nun mit Bildern überlastet ist. Kraft und Klarheit der Diktion leiden darunter. Im originalen Textbestand bleiben die beiden durch anaphorisches illum ... illum (272) eröffneten Glieder, die zwischen den Subjektsakkusativ: Antinoum caelesti in sede locatum (271) und den Infinitiv: n. a. sacrum potare Lyaeum (276) eingeschoben sind, auf die beiden Zeilen 272/ 273 beschränkt. Im interpolierten Text dagegen wird diese zweigliedrige Parenthese um das schwerfällige Gebilde: Hadrianique dei Ganymedem (274) erweitert und in den nächsten Vers fortgeschleppt, so daß die Anaphora an Wirkung verliert, der Schwung der ganzen Periode erlahmt. Außerdem folgt jetzt auf die entrüstete Frage: quid loquar... ? (271) als erster Infinitiv nicht mehr: (Antinoum) sacrum potare Lyaeum, sondern: (Antinoum) no η cyathos dis Porgere, wodurch die klare Gedankenführung zu einer krakeligen Linie mißrät. Denn diese Frage: quid loquar... ? kann dem Sinne nach nur so fortgehen: 'Was soll ich dazu sagen, daß Antinous im Himmel Nektar trinkt?' Geradezu komisch aber wirkt die Frage: 'Was soll ich dazu sagen, daß Antinous im Himmel nicht Mundschenk ist, sondern selbst auf dem Pfühle liegt und trinkt?' Als ob d a s die Sorge des Dichters wäre: daß Antinous im Himmel bedient wird, statt zu bedienen! Wo doch, so oder so, das Ungeheuerliche darin liegt, daß man Antinous in den Himmel versetzt hat (271) und im Tempel verehrt (277)! Von diesem Grund der Empörung lenken die eingefälschten Verse ab, indem sie mit der Gegenüberstellung von Page und Herrn einen neuen Gegensatz aufmachen, der den allein wesentlichen Kontrast zwischen Lustknabe und Gottheit verdunkelt. Zu alledem birgt die Angabe: recubantem cum love (275) ein Moment der Unsicherheit, weil nur der Name Ganymedes als Appellativum deutlich gekennzeichnet ist, nicht der

117 Vgl. Juv. sat. 2,120: gremio iacuit nova nupta mariti, von der Männerhochzeit gesagt. Zur Sache s. Rudolf Hanslik, Art. Antinoos, Nr. 2, in: Der Kleine Pauly 1, 1964, S. 385f.

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Juppiters, so daß man, besonders nach Erwähnung der Götter (274: dis), schwanken kann, mit wem eigentlich Antinous auf dem Bette liegt. Die Vorliebe der Redaktoren für appellativische Verwendung der Eigennamen trat uns bereits in den Plutones, Nestores und in jenem Charon mundi entgegen118. Sie | erfolgt auch hier von einem schiefen Grunde aus. Denn längst hat ja der Dichter erklärt (c. Symm. 1,69/73), was es mit dem Raub des Ganymedes - er selbst gebraucht das Wort catamitus (70) - auf sich habe. Anders als der Mythos erzählt, handelte es sich in Wahrheit um eine einfache Entführung: Juppiter, Mensch und irdischer Herrscher, inszenierte sie mit Hilfe seines Waffenträgers, und erst die Dummheit des Volkes machte aus dem armiger (69) einen Adler (vgl. 77 aquilam). Diese euhemeristische, ja rationalistische Mythendeutung, die Gedanken Lactanzens aufnimmt119, bildet eine Grundlage der prudentianischen Götterkritik, und nach sorgfältiger Bereinigung des Irrtums wieder zum Irrtum zurückzukehren, konnte nicht im Interesse des Autors liegen, selbst wenn es in satirischer Absicht geschah120. Das auffällige Emblem mag manchem trotz alledem attraktiv erscheinen. Aber grobe Reize dürfen uns nicht betören, wenn sich zugleich schlimmer Makel zeigt. 7. Im Anschluß an die Verse über Proserpina-Hekate (c. Symm. 1,354/ 378), von denen wir oben S. 230ff. [105ff.] ausgingen, wendet sich Prudentius

118 Vgl. obenS. 247 [117] mit Anm. 69; S. 256/258 [124/126]. Das Appellativum Ganymedes bei Juvenal sat. 5,59; Mart, epigr. 2,43,14; vgl. ferner Juv. sat. 9,46f.; 13,42ff.: Nulla super nubes convivia caelicolarum Nec puer Iliacus formonsa nec Herailis uxor Ad cyathos, et iam siccato nectare tergens Bracchia Volcanus Liparaea nigra taberna ... eqs. Solche satirische Sicht des Göttersymposiums mag vielleicht dazu beigetragen haben, daß der Interpolator den entsprechenden Zug, den er beim echten Dichter antraf (276), mit dickem Strich nachzumalen suchte. Als Ausdruck der Apotheose sind Nektartrunk und Tischgemeinschaft (vgl. 275 recubantem) bekannt durch Hör. carm. 3,3,1 If.: Quos inter Augustus recumbens Purpureo bibet ore nectar. 119 Lact. inst. 1,11,18/22 (CSEL 19, S. 39f.), epit. 11,2/4 (ebd. S. 684); ferner: Fulg. myth. l,20,57f. (S. 31 Helm). Vgl. Engemann (wie Anm. 115). Lactanz hat die Beispiele Danae, Catamitus, Io, Europa; Prudentius (c. Symm. 1,61/71) tauscht Io gegen Leda. Die mythische Verbrämung der historischen Wahrheit schreibt Lactanz den Dichtern zu, Prudentius der Leichtgläubigkeit jener rohen Frühzeit. Was den Raub Ganymeds und die Gleichung armiger - aquila angeht, so fußt Lactanz auf Verg. Aen. 5,254f. 120 Den gleichen Fehler beging der Interpolator, der für die beiden eingeschwärzten Verse über Leda und die Castores (c. Symm. 1,228/229) verantwortlich ist; s. Gnilka (wie Anm. 152).

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dem Kult des Dis zu. Er sieht ihn vollzogen durch die blutigen Gladiatorenkämpfe in der Arena: die getöteten Menschen sind Opfer für den Gott der Unterwelt121. Die Partie ist lebhaft, geprägt von Fragesätzen und Ausrufen des Jammers, erfüllt von düsterem Pathos und echt juvenalischer indignatio. Denn hinter dieser Gottheit steht dieselbe unheimliche Macht, die der Dichter auch in der dreigestaltigen Hekate erkannte; die Schlußverse des oben S. 231 [105] ausgeschriebenen Stücks leiten in diesem Sinne zum Folgenden über. Aber während sich im Wesen der Trivia das Böse mehr in seiner täuschenden und verwirrenden Wirkung zeigt, stellt es sich in der Person des Dis in seiner brutalen Gewalt vor. Im Unterweltsfürsten hat das Heidentum diejenige Macht, die den Menschen vernichtet, zur Gottheit erhoben. Denn der Dämon, dem die Menschenopfer gelten, gibt sich mit dem physischen Tode ja nicht zufrieden. Sein Ziel ist die endgültige Vernichtung | des Menschen in der secunda morsm. Prudentius braucht das nicht auszusprechen, seine ganze Darstellung führt darauf, und der Leser begreift ohne weiteres, daß die Art des Opfers zur Art des Empfängers in einer wesentlichen Beziehung steht. Zugleich bereitet Prudentius hier im ersten Buch das Finale des ganzen Werks am Schluß des zweiten vor. Der Appell zur Abschaffung der Gladiatorenkämpfe, den der Dichter dort (c. Symm. 2,1114/1132) an Kaiser Honorius richtet, wird hier in einer Weise begründet, die viel tiefer reicht als bloße Mitmenschlichkeit. In ihrer überlieferten Gestalt ist diese hochpoetische, schwungvolle Versreihe (c. Symm. 1,379/407) allerdings von zwei häßlichen Barrieren durchschnitten: 379 380

Respice terrifici scelerata sacraria Ditis, cui cadit infausta fusus gladiator harena, heu, male lustratae Flegetontia victima Romae!

121 Man wüßte gerne, wie Prudentius zu solcher Auffassung gelangte. Solmsen (wie Anm. 11) S. 243f. meint, zur Erklärung genüge "the atmosphere of killing and dying". Die Gladiatorenkämpfe waren ursprünglich mit Leichenfeiern verbunden (Tert. spect. 12,3f.), aber die Einrichtung gehörte längst der Vergangenheit an; seit domitianischer Zeit hatte es in der Stadt Rom keine privaten Fechterspiele mehr gegeben, und auch bei Prudentius (381; 390/392) ist von staatlichen Spielen die Rede. Vgl. Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht 2,2, Leipzig 2 1877, S. 1022/1024; K. Schneider, Art. Gladiatores, in: Pauly-Wissowa, Realencyclopädie, Suppl.-Bd. 3,1918, Sp. 760/784, hier Sp. 767. 122 Solmsen (wie Anm. 11) S. 253f. zu V. 375: letali vulnere. Auch der Ausdruck: ministrum interims (393f.) dürfte diesen Sinn einschließen; denn der Teufel άνθρωποκτόνος ήν άπ' αρχής (Joh. 8,44). Zu minister s. oben Anm. 74; interitus kann einfach für caedes stehen (wie per. 7,13), schimmert aber vielleicht in tieferem Glanz. Zum ganzen Gedanken vgl. Prud. ham. 150/154: der Mensch verehrt in Markions bösem Gott den eigenen Henker, den Teufel.

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nam quid vaesani sibi vult ars inpia ludi, quid mortes iuvenum, quid sanguine pasta voluptas, quid pulvis caveae semper funebris et illa amphitheatralis spectacula tristia pompae? nempe Charon iugulis miserorum se duce dignas accipit inferias placatus crimine sacro. hae sunt deliciae Iovis infernalis, in istis arbiter obscuri placidus requiescit Averni. nonne pudet regem populum sceptrisque potentem talia pro patriae censere litanda salute, religionis opem subternis poscere ab antris? evocat, heu, poenis tenebrosa ex sede ministrum interitus, speciosa hominum cui funera donet. in cassum arguere iam Taurica sacra solemus: funditur humanus Latiari in munere sanguis consessusque ille spectantum solvit ad aram Plutonis fera vota sui. quid sanctius ara, quae bibit egestum per mystica tela cruorem? anne fides dubia est tibi sub caligine caeca esse deum, quem tu tacitis rimeris in umbris? ecce, deos manes cur infitiaris haberi? ipsa patrum monumenta probant: Dis MANIBUS illic marmora secta lego, quacumque Latina vetustos custodit cineres densisque Salaria bustis. die, quibus hunc scribis titulum, nisi quod trucis Orci imperium verae ceu maiestatis adoras? |

Durch die Kursivschrift im Text ist angezeigt, auf welche Stellen sich hier die kritische Aufmerksamkeit zu konzentrieren hat. Wenden wir uns gleich dem Verspaar 386f. zu! Hier muß sofort der Name Charons Befremden erregen. Als Empfänger der Opfer wurde uns eingangs Dis (379) vorgestellt, und nur er darf luppiter infernalis und arbiter Averni heißen (vgl. 388f.). Wie soll man sich also erklären, daß plötzlich Charon auftaucht placatus crimine sacro (387), d.h. ebenfalls als Empfänger der Menschenopfer? Es wäre doch höchst verwirrend, wenn der Dichter hätte zwei verschiedene Gottheiten nebeneinanderstellen wollen, noch dazu ohne ihr gemeinsames Auftreten irgendwie zu begründen. Vollends undenkbar ist es, daß er nach Einführung Charons ohne

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weiteres wieder auf Dis (gleich Iuppiter infernalis und arbiter Averni) zurückfällt, um über ihn in etwa dasselbe zu sagen wie eben noch über Charon: Placidus requiescit (389). Bleibt mithin nur die Möglichkeit, Charon als Appellativum für den Unterweltsfürsten zu nehmen. Aber auch dieser Weg, auf den uns schon oben S. 256ff. [124ff.] der gefälschte Vers harn. 502 führte, ist hier nicht gangbar. Durch die Fülle der Namen aus dem Bereich der griechisch-römischen Unterwelt - Eumenidum, Stygio antro, tartarei regis, Proserpina, erebus, Plutonia coniunx, Furiis, Megaerae, Triviae, daemon tartareus (354ff.); Ditis, Flegetontia victima, Iovis infernalis, arbiter Averni, Orci (379ff.) - hat sich der Dichter so festgelegt, daß der Name Charons nicht fallen kann, ohne die ganz bestimmte Erinnerung an den Fährmann der Toten zu wecken (vgl. Verg. Aen. 6,298ff.). Eine andere Assoziation wäre dem Leser dieser von vergilischen Farben gesättigten Darstellung unmöglich, ist aber vom Verfasser der beiden Zeilen offenbar auch gar nicht beabsichtigt. Denn selbst wenn wir uns Gewalt antun und den natürlich sich ergebenden Gedanken unterdrücken wollten, so würden wir trotzdem durch den Text: se due e dignas aeeipit inferias unweigerlich darauf zurückgeworfen, da sich doch mit diesem Wortgemengsel irgendwie die Vorstellung des Totengeleits verbindet. Freilich eben: irgendwie! Schon dux trifft nicht recht Charons Geschäft. Mag er auch gelegentlich ψυχοπομπός heißen123, so ist er doch eigentlich νεκύων πορθμεύς (portitor: Aen. 6,298. 326). Es ist nicht auszuschließen, daß bei der Wahl des Worts dux die vage Erinnerung an eine eindrucksvolle Partie des zweiten Buchs mitwirkte, wo der Teufel im Rahmen des Bilds der Zwei Wege dux genannt wird: 2,889 dux daemon adesf, 897 (via) talem passa ducem124. Überflüssig zu sagen, daß die Idee der Führerschaft des Bösen dort paßt, hier nicht! Denn der Gedanke, daß der Teufel die obstinaten Heiden verdientermaßen ins Verderben führt, läßt sich keinesfalls auf die Opfer in der Arena übertragen, die Prudentius beklagt. Aber wie auch immer: der Hauptanstoß liegt nicht in den einzelnen Wörtern, sondern in ihrer Verbindung. Zwei Gedanken sind zu einer trüben Mischung zusammen-

123 Eur. Ale. 361; vgl. 441 νεκροπομπός. Dazu R.H. Terpening, Charon and the Crossing. Ancient, Medieval and Renaissance Transformations of a Myth, Lewisburg 1985, S. 44f. Erinnern kann man noch an Formulierungen wie Apul. met. 6,18,4: Charon... ad ripam ulteriorem sutili cumba de due it commeantes; ferner s. Christiane Sourvinou-Inwood, Art. Charon I, in: Lexicon iconographicum mythologiae classicae 3,1 (1986) S. 210/225. 124 Das Wegebild hat auch Solmsen (wie Anm. 11) S. 247 zum Vergleich herangezogen.

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geflossen: daß das Morden ein dem Charon angemessenes Opfer sei und daß er die Toten in Empfang nehme, um sie drunten zu geleiten. Aber diese beiden Gedanken sprachlich zu meistern, ist dem Fälscher nicht gelungen. Inferiae sind die Opfer für die Toten (χοαί), nicht die Toten (inferi). Servius zu Aen. 10,519 | definiert: inferiae sunt sacra mortuorum, quod inferis solvuntur. Mit den sacra läßt sich nur der Begriff des Empfangens verbinden (accipere inferias)125, nicht aber der Begriff des Führens (se duce dignas). Wir stoßen hier auf Interpolatoren-Latein übelster Sorte. Wenn aber schlechte Verse Dunkelheit verbreiten, geschieht es leicht, daß man im Dunkeln ein besonderes Geheimnis vermutet, und so hat man hier einen Hinweis auf den etruskischen Dämon Charun zu erkennen geglaubt, in dessen Maske der Mann geschlüpft sein soll, der die Leichen der Gladiatoren aus der Arena schleppte126. Solmsen hat diese Vermutung geäußert, Steidle sie ihm nachgesprochen, als handele es sich um ein Faktum. Von allem anderen abgesehen: auch so hätten wir es plötzlich mit zwei Empfangern der Menschenopfer zu tun, wie das Solmsen auch zugibt. Aber die ganze Kombination steht auf unsicheren Füßen, und es wäre ganz verfehlt, durch allerlei Gelehrsamkeit die offensichtlichen Mängel dieses Elaborats zuzudecken127. Die Absicht des Diaskeuasten durchschaut man leicht. Prudentius hatte gefragt, und er wollte eine Antwort erteilen. Die wiederholten Fragen, jeweils durch anaphorisches quid eröffnet (382/385), schienen ihm eine deutliche Antwort zu erheischen, und sie Schloß er mit nempe (386) an. In Wahr-

es Vgl. etwa Ov. met. 12,367f.: ... at inferias, iuvenum gratissime Crantor, Accipel Genaugenommen ist schon das Wort inferiae allein falsch, weil diese Opfer eben den Toten dargebracht werden, nicht einem Gott, als der Charon bei Vergil gilt (Aen. 6,304) und auch hier gelten müßte. Korrekt sagt dagegen Tertullian (spect. 12,3), die Gladiatorenspiele seien einst als Ersatz für die Totenopfer gegeben worden edicto die inferiarum, apud tumulos. 126 Latte (wie Anm. 131) S. 156 nach Franz de Ruyt, Charun, demon 6trusque de la mort, Brüssel 1934, S. 191f. Zugrunde liegt Tert. apol. 15,5, wo aber der Name Charons nicht fällt: vidimus et Iovis fratrem gladiatorum cadavera cum malleo deducentem. Vgl. Tert. nat. 1,10,47 (an kritisch schwieriger Stelle): Ditispater, Iovis frater. Die Prudentiusstelle wird übrigens bei Latte und de Ruyt nicht einbezogen; vgl. auch Eugdne Mavleev - Ingrid Krauskopf, Art. Charu(n), in: Lexicon iconographicum mythologiae classicae 3,1 (1986) S. 225/236. 127 Solmsen (wie Anm. 11) S. 244 mit Anm. 26: "I would however not claim more than probability for my interpretation"; Wolf Steidle, Die dichterische Konzeption des Prudentius und das Gedicht Contra Symmachum, in: Vigiliae Christianae 25, 1971, S. 241/281, hier S. 266 Anm. 99 = ders., Ausgewählte Aufsätze, Amsterdam 1987, S. 261/301, S. 286 Anm. 99. Näher liegt es, an die Volkstümlichkeit gerade des Totenfährmanns zu erinnern (vgl. Friedländer [wie Anm. 74] 3, S. 317f.). Der Name Charons hier und in dem gleichfalls interpolierten Vers ham. 502 (s. oben S. 256 [124]) dürfte für die vulgären Züge des Fälscherwesens zeugen.

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heit hat freilich die mehrfach gestufte Frage: nam quid ... sibi vult ... ? (382ff.) begründenden Charakter. Sie hängt mit dem vorhergehenden Ausruf zusammen: Heu, male lustratae Flegetontia victima Romael (381) und erklärt, warum das vermeintliche Sühnopfer für Rom in Wahrheit furchtbares Unheil darstellt128. Einer Antwort bedarf solche begründende Frage nicht, wie sich durch Vergleich der mit nam eingeleiteten Fragen bei Prudentius noch verdeutlichen ließe. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele und lasse die Texte für sich selber sprechen129: | Prud. psych. 584ff.: 584 585

horruit invictae Virtutis fulmen et inpos mentis Avaritia stupefactis sensibus haesit certa mori. n a m q u a e fraudis via restet, ut ipsa calcatrix mundi mundanis victa fatiscat inlecebris spretoque iterum sese inplicet auro? invadit trepidam Virtus fortissima ... eqs.

Prud. psych. 814ff.: 814 815

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surgat et in nostris templum venerabile castris, omnipotens cuius sanctorum sancta revisat! n a m q u i d terrigenas ferro pepulisse falangas culparum prodest, hominis si filius arce aetheris inlapsus purgati corporis urbem intret inornatam templi splendentis egenus? hactenus alternis sudatum est comminus armis ... eqs.

128 Male lustratae ... Romae: gemeint ist nicht eine Sühnung, die hätte besser sein sollen, sondern eine, die Unheil bedeutet, die nicht hätte stattfinden dürfen - der gleichen kultischen Sphäre entstammen die Wörter litanda (391) und poenis (393: 'Sühnegaben'). Zu diesem Gebrauch von male vgl. apoth. If.: ne dira relatu Dogmata catholicam maculent male prodita linguam (Lehren, deren Bekanntmachung Schaden stiftet); c. Symm. l,240f.: sie observatio crevit Ex atavis quondam male coepta (nicht eine Religion, die hätte einen besseren Anfang nehmen können, sondern eine, deren Beginn ein Übel war). 129 Vgl. ferner Prud. apoth. 376ff.; 1057f.; c. Symm. l,79ff.; 652ff.; 2,168ff.; 623ff.

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Man braucht dem Redaktor nicht unbedingt zu unterstellen, daß er die begründende Art der rhetorischen Fragen an unserer Stelle geradezu verkannte. Aber die über vier Zeilen durchgehaltene Folge emphatischer Fragesätze barg für ihn einen Reiz, dem er nicht widerstehen konnte. Ähnlich reagierte der Interpolator Juvenals auf eine Reihe rhetorischer Fragen (sat. 13,162ff.): 162

165 166

q u i s tumidum guttur miratur in Alpibus aut q u i s in Meroe crasso maiorem infante mamillam? caerula q u i s stupuit Germani lumina, flavam caesariem et madido torquentem cornua cirro? nemp e quod haec Ulis natura est omnibus una.

Den Vers 166 verdächtigte Markland, tilgten Pinzger, Housman, Knoche, Clausen130. Auch im Prudentiustext ist die Störung empfindlich. Der Dichter läßt die Fragen wie wuchtige Schläge niedergehen, drängt in ihnen die Eindrücke der Sinnlosigkeit und Furchtbarkeit des Tötens zusammen (382/385), um dann die ganze dunkle Szenerie durch den Blitz seines Sarkasmus zu beleuchten: hae sunt deliciae Iovis infernalis ... eqs. (388f.). Mitten hinein in diese lebhafte Gedankenfolge legt sich wie ein Sperriegel das unbeholfene Falsifikat 386/387. Es nimmt die bittere Wertung der Vorgänge, die der Dichter mit V. 388f. gibt, ungeschickt vorweg, mindert die Wirkung der temperamentvollen Sätze durch seine müde Explikation und verwirrt durch die Einführung eines neuen Namens. Vielleicht war auch diese Einfälschung, wie die bisher besprochenen, als Ersatz, nicht als Zusatz gedacht. Eine gewisse Doppelung der Aussage ist, wie | bemerkt, im Verhältnis der beiden Verspaare 386/387 und 388/389 kaum zu übersehen. Traten die beiden gefälschten Verse an die Stelle der folgenden, echten, schwand auch die unmittelbare Nachbarschaft von Charon und Iuppiter infernalis (arbiter Averni), und der Name des Fährmanns mochte als Appellativum für Dis erträglich oder gar erlesen wirken. Aber es wäre auch hier verkehrt, wollte man den Eindruck erwecken, als sei es möglich, das Zwielicht im Gedanklichen und Sprachlichen, das solche Fälschungen umgibt, gänzlich aufzuhellen.

130 Vgl. die Ausgaben von A.E. Housman (Cambridge 2 1931) S. 120; W.V. Clausen (Ox2 ford 1966) S. 152; Knoche (wie Anm. 110) S. 123, jeweils mit dem Apparat zu V. 166. Nempe auch sat. 10,326 (del. Knoche) und 10,160 (del. Nisbet bei Willis ; vgl. S. 260 [127]).

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8.

Nehmen wir den Verfasser der Zeilen 395/399 beim Wort, dann muß sich uns fast notwendig der Eindruck bilden, als stehe im Amphitheater zu Rom - sagen wir also: im amphitheatrum Flavium - ein Altar des Pluton (Dis), wo in Erfüllung eines voraufgehenden Gelübdes der Zuschauer regelmäßig Menschen geschlachtet werden, und zwar, trotz der anwesenden Volksmassen, im Rahmen einer kultischen Geheimfeier, denn darauf führt die Wendung: per mystica tela (399). Alles pure Phantasie natürlich! Nie gab es einen anderen Altar des Dis und der Proserpina in Rom als die ara Ditis in Tarento, also jenen unter der Erdoberfläche angelegten Altar auf dem Marsfeld, der nur zu den Saecularspielen aufgedeckt wurde131. Sollen wir uns nun auf einmal einen Altar des Gottes mitten in der Stadt, im Colosseum, vorstellen, triefend von Menschenblut? Der Dichter hätte sein großes Anliegen, das Verbot der Fechterspiele zu erwirken, durch solche Flunkerei nur schwächen können. Trotzdem ist die Mitteilung über Plutons Altar ernstgenommen worden132, alle Ausgaben führen die Verse brav mit, alle Übersetzer übersetzen sie artig, und der einzige Gelehrte, der sich mit der Passage eingehender beschäftigte, eben Solmsen, scheint zwar befremdet, beruhigt sich aber mit der Feststellung, der Altar sei "symbolisch" zu verstehen133. In der Tat gibt es nur diesen Ausweg. Oder besser: nur diese Ausflucht, denn die Rede bliebe dunkel. Wenn die Zuschauer opfern ad aram: was soll dann der symbolische Altar sein? Die Arena? Der ganze Bau? Und selbst wenn man sich hinsichtlich des Altars noch mit einer verschwommenen Bildhaftigkeit abfinden wollte:

131 Georg Wissowa, Religion und Kultus der Römer, München 2 1912, S. 311; Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960, S. 247f. 132 Vgl. Andr6 Piganiol, Recherches sur les jeux Romains (Publications de la Facultö des Lettres de l'universit6 de Strasbourg 13), Strasbourg-Paris 1923, S. 10 unten; vgl. S. 133. Auf den Altar Plutons wies schon Justus Lipsius, De amphitheatro, Antwerpen 1584 (Facsimile: Theodor Besterman [Hg.], The Printed Source of Western Art 10/11, Portland, Oregon: Collegium Graphicum 1972), cap. 4, S. 20, ausdrücklich hin, wobei er die fiinf interpolierten Verse zitierte. Von ihm ließ sich E. Nöldechen beeinflussen: Tertullian und das Theater, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 15 (1895) S. 166/203, hier S. 197, von Nöldechen wiederum Joseph Büchner, Quint. Sept. Flor. Tertullianus, De Spectaculis, Kommentar, Diss. Würzburg 1935, S. 123. 133 Solmsen (wie Anm. 11) S. 243 Anm. 24: "The ara Plutonis mentioned in 397-9 must be accepted in a symbolic rather than a literal meaning". Ich bemerke vorsorglich, daß die sacraria Ditis (379) hier nicht wie bei Vergil Aen. 12,199 und Claudian rapt. 1,266 (jeweils gleicher Versschluß) die Residenz des Gottes in der Unterwelt sind: sacraria steht fur sacra wie später 1,500 (richtig, wenn auch zögernd, Bergman: CSEL 61, S. 559 s.v.).

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was ist mit den mystica tela? Es wird doch wohl niemand behaupten wollen, dies sei eine zutreffende Bezeichnung oder auch nur ein passendes Bildwort für die Spieße, Schwerter und Dreizacke | der Secutoren, Murmillonen, Retiarier usw.! Nein, wer immer diese Verse machte, er drängte die Vorstellung eines wirklichen Altars und einer wirklichen Kultfeier in den Text. Ohne Rücksicht auf die Realität der munera, aber auch ohne Rücksicht auf den Context bei Prudentius. Denn solche Einbildung stört den Grundgedanken der ganzen Partie: weil eben Prudentius zwar alles darauf angelegt hat, den Tod der Gladiatoren als Opfer darzustellen, damit jedoch ihren Tod im K a m p f meint, wie er zur ständigen Wirklichkeit in der Arena gehört, nicht irgendein mystisches Schlachtopfer; weil also, indem die Darstellung in diese Richtung gelenkt und übersteigert wird, gerade ihre Grundlage zerbricht. Solmsen hätte sich für seine symbolisierende Auffassung des Altars auf einen anderen Zustand des Texts berufen können, wo sie gleichsam schon vorweggenommen ist, freilich eben unter Änderung der üblichen Version, die solche Interpretation nicht leidet. Der Oxforder Codex des zehnten Jahrhunderts (O) bezeugt für den Vers 397 folgende Fassung: consessusque ille spectantum Plutönis ara est. Damit treffen wir zum dritten Mal auf dieselbe Falschmessung in einem unzweifelhaft interpolierten Text. Zwar ist nur der Versausgang nach der bukolischen Diärese verändert, aber die kleine Divergenz hat weitreichende Folgen, da nun die beiden nächsten Verse (398/399) überflüssig werden. Vers 397a bildet eine Alternative für die Verse 397/399 und verkürzt damit den ganzen Einschub 395/399 um zwei Zeilen. Eine Handschrift in Tours (saec. IX) bietet die beiden verschiedenen Versschlüsse hintereinander134: consessusque ille spectantum Plutonis ara est solvit ad. aram, was wohl dafür spricht, daß die Alternativfassungen einstmals hier, wie auch sonst, zusammen im Haupttext geführt wurden: 397a 397 398 399

consessusque ille spectantum Plutonis ara est. consessusque ille spectantum solvit ad aram Plutonis fera vota sui. quid sanctius ara quae bibit egestum per mystica tela cruorem ?

134 Codex Oxoniensis Oriel 3 = Ο bei Bergman; vgl. den Apparat: CSEL 61, S. 234 zu V. 397; Codex Caesarodunensis sive Turonensis (Tours, Bibl. municipale) 887 = t bei Cunningham; in seinem Apparat: CCL 126, S. 199 zu V. 397 vermißt man den Hinweis auf O. Auch in Ο ist übrigens der alternative Versschluß: solvit ad aram in Verlängerung der Zeile - allerdings von späterer Hand - hinzugefügt.

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Es ist nicht ganz leicht, die beiden einander ausschließenden Versionen, die einzeilige (397a) und die dreizeilige (397/399), hinsichtlich ihres gegenseitigen Verhältnisses zu beurteilen, aber es ist doch wahrscheinlich, daß die Kurzfassung die längere Version voraussetzt - nicht umgekehrt. Die phantastischen Züge der Verse 397/399 dürften den verkürzenden und vereinfachenden Ersatz hervorgerufen haben. Aber er fiel nicht nur technisch fehlerhaft aus, sondern bietet auch ein weiteres Beispiel des κακόζηλον (vgl. oben S. 257 [125]). Die menschengefüllten Zuschauerränge selbst sollen jetzt der Altar sein! Anders wußte dieser Interpolator mit dem lästigen Kram, den er in seinem Text wohl schon vorfand, nicht zurechtzukommen, und "so baut hier, in steigender Verschlechterung, ein Fälscher auf dem anderen auf" (Jachmann)135. Wie ein Meister der Sprache solches Bild gebraucht, zeigt der Vergleich mit Tertullian (spect. 12,7): Pluribus et asperioribus nominibus amphitheatrum consecratur quam Capitolium: omnium | daemonum templum est. tot illic immundi spiritus c onsidunt quot homines capit. Doch kehren wir zur Hauptsache zurück! Um vollständig zu begreifen, was hier vor sich ging, müssen wir das seltsame Stück 395/399 ganz ins Auge fassen. Denn gerade die ersten beiden Zeilen (395/396) bringen uns zu dem Ausgangspunkt, den der Textbearbeiter wählte: 395

in cassum arguere iam Taurica sacra solemus: funditur humanus Latiari in munere sanguis.

Da Prudentius so sehr die kultische Bedeutung des Mordens in der Arena betont hatte, fiel dem Interpolator ein scheinbar ähnlicher Frevel ein, der besonders durch die christlichen Apologeten bekannt wurde: das Menschenopfer für Iuppiter Latiaris136. Daß er tatsächlich daran dachte, zeigt nicht nur die Wendung Latiari in munere (396), sondern auch die Erwähnung der Taurica

135 Jachmann (wie Anm. 42) S. 855, im Zusammenhang der Homerkritik. Hier wäre vielleicht auch der Ausdruck 'Hyperinterpolation' angebracht, den Jachmann allerdings nur in bezug auf moderne "Hyperinterpolatoren" gebraucht. 136 Die Belege bei H.I. Rose, De love Latiari, in: Mnemosyne N.S. 55, 1927, S. 273/279, die oben ausgeschriebenen Stellen mit einer Ausnahme auch bei Lavarenne (wie Anm. 146) unter dem Text. Wie die Sache literarisch fortlebt, zeigt ihre späte Wiederkehr bei Ps. Paulin. Nol. carm. 32,109ff. (CSEL 30, S. 333): Hinc Latiare malum prisci statuere Quirites, Ut mactatus homo nomen satiaret inane.

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sacra (395). Denn die Menschenopfer für Iuppiter Latiaris und die zu Ehren der taurischen Artemis bilden eine beinahe feste Verbindung. Jedenfalls führen Tertullian, Minucius Felix und Lactanz die beiden Crimina zusammen auf: Tertullian apol. 9,5: Maior aetas apud Gallos Mercurio prosecabatur. remitto Tauricas

fabulas

theatris suis, sed et in illa religiosissima urbe Aeneadarum piorum

est Iuppiter

qui

dam,

quem ludis suis humano sanguine proluunt. sed

bestiarii, inquitis. hoc, opinor, minus quam hominis! an hoc turpius, quod mali hominis? certe tarnen de homicidio funditur. ο Iovem Christianum et solum patris filium de crudelitate! Tertullian, scorpiace 7,6: Sed enim Scytharum Afrorum

Di an am aut Gallorum Mercurium

Saturnum hominum

victima placari

apud saeculum licuit,

L at i ο (Latiari coni. Ciacconius) ad hodiernum Iov

aut et

i media in urbe humanus

sanguis ingustatur. Minucius Felix 30,4: Tau ri s etiam Ponticis immolare et Mercurio

et Aegyptio Busiridi ritus fuit hospites

Gallos humanas vel inhumanas victimas caedere, Ro-

mani Graecum et Graecam, Galium et Gallam sacrificii viventes obruere, hodiequeabipsis

Latiaris

Iuppiter

homicidiocolituret,

quodSaturni

filio dignum est, mali et noxii hominis sanguine saginatur. Lactanz inst. l,21,2f.: Erat lex apud hospites immolarentur,

Tau r ο s inhumanam et feram gentem, ut Dianae et id sacrificium multis temporibus celebratum est.

Galli Esum atque Teutaten humano cruore placabant. ne Latini quidem huius immanitatisexpertesfuerunt,

siquidem Latiaris

Iuppiter

etiamnunc

sanguine colitur humano. Zweierlei beweist die Textreihe: daß der Interpolator aus diesen Quellen schöpfte und daß er damit den Prudentiusversen etwas Fremdes aufpfropfte. Namentlich die Sätze aus Tertullians Apologeticum dürften ihn inspiriert haben. Hier steht mancherlei | beisammen, das bei oberflächlicher Betrachtung für den Prudentiustext mochte passend erscheinen: als Ort des Opfers die Stadt Rom, als Anlaß die ludi, als Opfergabe das Blut eines Tierkämpfers, als

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Empfänger ein nicht näher bezeichneter Iuppiter (Iuppiter quidam) aus einer Mehrzahl von loves137, der an den Iuppiter infernalis bei Prudentius (388) erinnern konnte. Auch das Mittel, die taurischen Riten als vergleichsweise irrelevant den römischen gegenüberzustellen, haben beide Texte gemeinsam. Die tertullianische Formulierung: remitto fabulas Tauricas theatris suis findet eine blasse Reproduktion in V. 395: in cassum arguere iam Taurica sacra solemus, die Wendung: funditur humanus ... sanguis (396) ist den Prosavorlagen abgeschaut, vgl. Tert.: (Iovem) humano sanguine proluunt, (Iovi) humanus sanguis ingustatur; Min. Fei.: (Iuppiter) hominis sanguine saginatur\ Lact.: (Iuppiter) sanguine colitur humano. Das Detail ist durchaus bemerkenswert. Denn bei dem Ritus, den Tertullian meint, spielte offenbar das Benetzen des Idols mit dem Blut eine Rolle. Davon ist jedenfalls ausdrücklich bei Novatian die Rede138, und es ist denkbar, daß sich aus solchem Brauch überhaupt erst der dubiose Vorwurf des Menschenopfers entwickelte139. Aber wie immer man den historischen Wert dieser Nachrichten einschätzen mag, sicher ist, daß Prudentius nicht solche absonderlichen Riten vor Augen hat, sondern eben, wie bemerkt, das ganze große Geschehen in der Arena, sozusagen das übliche Sterben beim Fechterspiel. Für ihn ist das Opfer jeder Gladiator, der in der Arena fällt: infausta fusus gladiator arena (380). Das ist die leitende Idee seiner Darstellung, sein Konzept der Ereignisse im Amphitheater. Und nur deswegen macht es Sinn, Handwerk und Schule der Gladia-

137 Iuppiter quidam ist hier wohl Ausdruck der Distanz oder Depretiation wie etwa quidam Lucanus (Aug. cons. ev. 1,30,46; CSEL 43, S. 46), cuiusdam Ciceronis (Aug. conf. 3,4,7), Apollo aliquis (Lact. inst. 5,3,5; CSEL 19, S. 407), Aeneae nescio cuius (Aug. conf. 1,13,20), Piatonis alicuius (Tert. res. 3,2; CCL 2, S. 924), zugleich aber Andeutung einer näheren Bestimmung der Gottheit; gemeint ist jedenfalls Iuppiter Latiaris, vgl. J.P. Waltzing, Tertullien. Apologetique, Paris 1931, S. 72. 138 Ps. Cypr. (Novatian.) spect. 5 , l f . (CCL 4, S. 172): pluraprosequi quid est necesse vel sacrificiorum in ludis genera monstruosa describere? inter quae nonnumquam et homo fit hostia latrocinio sacerdotis, dum cruor etiam de iugulo calidus exceptus spumanti patera, dum adhuc fervet, et quasi sitienti idolo infaciem iactatus crudeliter propinatur, et inter voluptates spectantium quorundam mors erogatur, ... in poenam hominis fern rabida nutritur in deliciis ... eqs. Das Ganze ist wohl Erweiterung der Angaben Tertullians, vgl. Rose (wie Anm. 136) S. 273f. Bemerkenswert die verallgemeinernde Ausdrucksweise zu Beginn (sacrificiorum in ludis genera monstruosa) und der Übergang von dem Ritual mit der Blutschale zum Tod durch wilde Tiere. Derart verwaschene Darstellungen mochten weitere phantastische Ausschmückungen im Stile des Prudentiusinterpolators begünstigen. Vgl. noch Min. Fei. 22,6: (Iuppiter) Latiaris cruore perfimditur. 139 Vgl. Friedrich Schwenn, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 15,3), Gießen 1915, S. 180f. Die Sache selbst wird heute zumeist als unhistorisch angesehen, vgl. etwa Latte (wie Anm. 131) S. 144 Anm. 3.

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toren zu erwähnen, vgl. V. 382: ars inpia ludim. Auch mortes iuvenum (383) ist allgemein gesprochen, und V. 384 betont ausdrücklich die Allgemeinheit: pulvis caveae semper funebris. Es scheint, als sei dem Interpolator dieses Hindernis, das sich seiner Einfälschung entgegenstellte, nicht völlig entgangen. Denn mit dem Ausdruck Latiari in mune re schmuggelte er den Terminus für das Fechterspiel in den Text, während ja bei Tertullian nur ludi und ein bestiarius erwähnt werden. Er suchte wohl irgendwie den Anschluß an den Grundtext. Aber mit den Taurica sacra und dem Gedanken an Iuppiter Latiaris hatte er sich nun einmal auf einen falschen | Weg begeben, der ihn Schritt für Schritt vom Sinn des bearbeiteten Texts abführte. Von den Schlachtopfern kam er auf den Altar, vom Altar auf die Mysterien (mystica tela), und so spann er den Faden, den er einmal aufgegriffen hatte, über fünf Verse weiter. Er machte Pluton zum Kultherrn und unterdrückte den Namen des Iuppiter (Latiaris); insofern gehorchte er den primitiven Erfordernissen des Zusammenhangs. Aber Pluton mußte einen Altar haben - natürlich weil die taurische Artemis einen hatte, der es bis zur Sprichwörtlichkeit brachte; vgl. Ov. trist. 4,4,63f. ubi Taurica dira Caede pharetratae pascitur (spargitur, v.l.) ara deae\ Luc. 1,446 (Taranis) Scythicae non mitior a r a Dianae·, Juv. 15,115f. Maeotide saevior ara Aegyptos; Drac. Rom. 5,139 Taurica crudelis mitis tarnen ara Dianae (der Versschluß auch bei Hör. ars 16, aber wohl mit Bezug auf die Diana Nemorensis). Auch in stilistischer Hinsicht hebt sich das beargwöhnte Stück vom originalen Textbestand der Umgebung ab. Grobe Verstöße gegen Sprache oder Prosodie, wie wir sie in anderen Fällen antrafen, kommen hier nicht vor, aber Fülle und Kraft der prudentianischen Diktion hat der Verfasser dieser Zeilen nicht erreicht. Schon im Ansatz bleibt er hinter dem Dichter zurück. Denn der hatte mit V. 394 das schauerliche Geschehen zu packendem Ausdruck gebracht, und selten offenbart sich ein Unterschied gestalterischen Vermögens so deutlich wie hier im Übergang von den speciosa hominum funera (394) zum humanus sanguis (396)H1, überhaupt vom dunklen Pathos der Verse 393f. zum salbadernden Ton, mit dem der Poetaster V. 395f. das

140 Vgl. Cypr. ad Don. 7: homo occiditur in hominis voluptatem, et ut quispossit occidere, peritia est, usus est, ars est: scelus non tantum geritur, sed docetur; Min. Fei. 37,11: (quis non horreat) in gladiatoriis (sc. ludis) homcidii disciplinam? 141 Funus hier im Sinne von 'Tod', wie etwa in der epischen Wendung funera edere (Verg. Aen. 9,527; 10,602), die Prudentius psych. 480 hat: Talia per populos edebat funera victrix

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Wort ergreift: in cassum arguere iam ... solemus142. Die aufdringliche Wiederholung aram ... ara am Versende (397. 398) wäre vielleicht bei Juvencus erträglich, bei Prudentius ist sie es nicht. Das Possessivum Plutonis ... sui (398) insinuiert ein intimes Verhältnis der Zuschauer zum Unterweltsgott. Gewirkt hat wohl V. 358: (Proserpina) si quando suos dignatur adire Quirites, wo das Pronomen satirische Kraft hat, die hier herauszufühlen Mühe kostet143. Ille im vorhergehenden Vers (consessusque ille) ist bloßes Füllsel; wie der echte Dichter das Pronomen zu ausdrucksvoller Steigerung einsetzt, bezeugt etwa das oben S. 267 [132] ausgeschriebene Textstück durch V. 384f.: ilia Amphitheatralis spectacula tristia | pompae144. Die einfältige Frage schließlich: quid sanctius ara ... ? (398f.) bietet abgeschmackte Ironie. Die Prosodie in V. 395 ist, für sich genommen, nicht zu beanstanden145, aber die Abfolge der Längungen: 395 in cassum arguere und 397 consessusque ille wirkt nicht gerade elegant. Kurzum: der Versblock 395/399 muß ausgestoßen werden; das Inter-

(Avaritia). Vgl. auch ebd. 793: cruda per agninos exercens funera rictus (sc. lupus mentitus ovem). Speciosa funera sind 'sehenswerte Morde'; den ganzen Ausdruck: speciosa hominum funera donare durchglüht juvenalisches Pathos, das der christliche Dichter meisterlich beherrscht. Selbstverständlich kann auch Prudentius vom 'Menschenblut' reden, und er tut es auch, sogar in ähnlichem Zusammenhang; aber dann spürt man doch sogleich die andere Kraft: ham. 371f. Sanguinis humani spectaculapublicus edit Consensus ... eqs. 142 Iam steht ziemlich müßig. Ausdruck hätte die Partikel, wenn man den Eintritt eines neuen Zustands annehmen dürfte (vgl. Ferdinand Hand, Tursellinus 3, Leipzig 1836, S. 125f.); so in diesem Gedicht 1,71: pelice i a m puero magis indignante sorore (über Iunos Eifersucht nach dem Raub des Ganymed); 1,156ff.: quae vivis veneratio regibus ante Contigerat, functis eadem iam munere lucis Cessit; 245f.: Hunc morem veterum docili iam aetate secuta Posteritas ... eqs.; ähnlich 1,508. 512. 590. 598. Über interpolatorisches iam Jachmann (wie Anm. 25) S. 500. 143 Daß Interpolatoren Teile ihres Materials aus dem echten Grundtext, besonders aus der Umgebung der bearbeiteten Stelle, beziehen, ist eine bekannte Erscheinung. Zu consessus ... spectantum (397) mag man auf Prud. c. Symm. 2,1091 verweisen: consessus caveae (vgl. aber auch Lucr. 4,78; Verg. Aen. 5,340; 8,636), zur Wortverbindung egestum... cruorem (399) auf Prud. per. 10,1041: cadaver sanguine egesto rigens (vgl. Ov. met. 10,136 sanguine egesto). Rubenbauer führt im Thesaurus s.v. egero auch den interpolierten Vers auf (ThLL 5,2, Sp.243, Z. 78f.), was daran gemahnt, daß jede Athetese Konsequenzen für die Autorennamen in den Wörterbüchern hat. 144 Man muß sich bei alledem an das erinnern, was bei Jachmann über den teils schiefen, teils farblosen Gebrauch der Pronomina bei Interpolatoren zu lernen ist. Vgl. Jachmann (wie Anm. 25) S. 374f.; dens. (wie Anm. 42) S. 777f.; 796f. Anwendung dieser Erkenntnisse bei Aufdeckung einer gefälschten Strophe: Christian Gnilka, Zur Praefatio des Prudentius, in: Filologia e forme letterarie (Studi offerti a Francesco Deila Corte) Bd.4, Urbino o.J. [1988], S. 231/251, hier S. 242f. [in diesem Bande S. 138/157, hier S. 148f.]. Vgl. auch oben S. 259f. [127] zu ham. [502]: ipse ... ipse. 145 Dazu oben S. 253f. [122 f.] mit Anm. 91.

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polament ist aus den Nachrichten über Iuppiter Latiaris bei den Kirchenvätern, besonders bei Tertullian, herausgesponnen und unter gröbster Mißachtung der Tatsachen dem prudentianischen Context roh angepaßt worden. Nach Ausscheidung der störenden Zutat ergibt sich ein glatter Übergang: 390

394 400

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nonne pudet regem populum sceptrisque potentem talia pro patriae censere litanda salute, religionis opem subternis poscere ab antris? evocat, heu, poenis tenebrosa ex sede ministrum interims, speciosa hominum cui funera donet. anne fides dubia est tibi sub caligine caeca esse deum, quem tu tacitis rimeris in umbris? ecce, deos manes cur infitiaris haberi? ipsa patrum monumenta probant: Dis MANIBUS illic marmora secta lego, quacumque Latina vetustos custodit cineres densisque Salaria bustis. die, quibus hunc scribis titulum, nisi quod trucis Orci imperium verae ceu maiestatis adoras?

Man sieht jetzt, wie entschieden Prudentius die Person des Dis in den Mittelpunkt rückt, wie zielstrebig er seine Gedanken entwickelt. Die argumentierende Frage: anne fides dubia est... ? (400) prallt jetzt nicht mehr mit der flauen Ironie der interpolatorischen Schlußfrage: quid sanetius ara ... ? (398f.) zusammen, sondern dient folgerichtig dem Beweis jener Religiosität, die sich in der ungeheuerlichen Evocatio des Bösen (393f.) äußert. Ja, die mit V. 400 eingeleitete Argumentation erhält jetzt erst ihre volle Berechtigung zurück. Denn der Du-Stil dieser Partie (400/407) erklärt sich nicht etwa daraus, daß der Dichter auf einmal mit einem fiktiven Dialogpartner in ein Gespräch eintrete, wie Solmsen annimmt146. Im Hintergrund solcher Anreden steht im ersten | Buch immer Roma selbst, auch wenn die namentliche Apostrophe

146 Solmsen (wie Anm. 11) S. 244 mit Anm. 27. Die Frage: anne fides dubia est tibi... esse deum ... ? wird von Solmsen ebenfalls nicht richtig aufgefaßt: "This representative of the old religion is clearly meant to be unsure of his ground." Er zieht offenbar tibi zum Praedikat des Hauptsatzes (dubia est)·, ebenso verfahren die Editoren Obbarius und Dressel (s. oben Anm. 64), die nach tibi interpungieren, ferner die Übersetzer Maurice Lavarenne (Prudence, Bd. 3, Paris 2 1963, S. 149: u Est-ce que tu doutes ..." etc.?) und H J . Thomson (Prudentius, Bd. 1, London-Cambridge [Mass.], 1949, S. 381: "Do you waver in your belief ..." etc.?). Doch gehört das Pronomen in den Acl (tibi esse deum): 'Ist die Tatsache etwa zweifelhaft, daß du

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nicht ständig wiederholt wird147. Prudentius wendet sich hier gegen den Skeptizismus des aufgeklärten Heidentums148, der seines Erachtens im Widerspruch zu den Tatsachen des Kults steht. Hatte Juvenal verkündet (sat. 2,149ff.): Esse aliquid manes et subterranea regna ... Nec pueri credunt ... eqs., so verweist der Christ demgegenüber auf die bekannte Formel der paganen Grabinschriften149. Dabei sucht er in sorgfältig gewählter Diktion die Mehrzahl der Manen (402 deos manes) auf die Einzahl (401 deum) hinzuführen: Die, qui bus hunc scribis titulum, nisi quod trucis Orci Imperium verae ceu maiestatis adoras? (406f.). Das entspricht einer Anschauung, wie sie etwa der Devotionsformel bei Macrobius zugrunde liegt (Sat. 3,9,10): Dis pater, Veiovis, Manes sive quo alio nomine fas est nominare ... eqs.150, dient aber vor allem der Absicht des Dichters. Weshalb er aber die Grabinschriften sollte herangezogen haben, wenn es ein viel stärkeres Beweismittel gab, warum er sich auf die Ausfallstraßen Roms begeben sollte, wenn mitten in der Stadt ein Altar des Gottes stand, ist überhaupt nicht einzusehen. Nachdem in den beanstandeten Versen die Existenz eines solchen Altars suggeriert wurde, konnte und durfte es nicht weitergehen mit der Frage: anne fides dubia est... ?

drunten in der Finsternis einen Gott hast...?' usw. Nur so ergibt die anschließende Frage: cur infitiaris? (402) vollen Sinn. Das gebildete Heidentum leugnet die Fakten der eigenen Religion. Durch das Polyptoton tibi ...tu schafft der Redende die in solcher Sache nötige Distanz. 147 Richtiger Auffassung entspringt die Überschrift vor V. 406, die in einem Teil der Handschriften erscheint: Romam alloquitur. Hier wirkt noch die Anrede aus V. 355 nach; ebenso in V. 369f. (si verum quaeris ... te ...) und in V. 379 (respice). Nur weil das Du in den Versen 400ff. (tibi, tu, cur infitiaris?, die) der Roma gilt, kann es V. 408ff. weitergehen: En quibus inplicita squalebat regia summi Imperii... eqs., woraus sich dann die volle Personifikation in der Theodosiusrede (415ff.) ergibt. Ähnlich ist das Verfahren im Schlußteil. Mit Namen angeredet wird Roma in V. 526, es folgen die Imperative respice (573), converte oculos (578) und aspice (608). Namentliche Anreden ferner 1,164. 265f. 148 Vgl. Cottas Rede (nach Carneades) bei Cie. nat. 3,43f. Weiteres bei Friedländer (wie Anm. 74), Bd. 3, S. 316f.; E. Courtney, A Commentary on the Satires of Juvenal, London 1980, S. 147 zu Juv. sat. 2,152. Daß übrigens Prudentius die Juvenalverse sat. 2,149ff. im Kopf hatte, lassen die ähnlichen Formulierungen: nec pueri credunt (Juv. sat. 2,152) und nec pueri putant (Prud. per. 10,675) vermuten; vgl. Anne-Marie Palmer, Prudentius on the Martyrs, Oxford 1989, S.182f. 149 Das Vorkommen der Siglen D-M auf christlichen Grabplatten fiel natürlich, falls der Dichter überhaupt davon wußte, nicht ins Gewicht. Vgl. Ferdinand Becker, Die heidnische Weiheformel D M auf altchristlichen Grabsteinen, Gera 1881, hier S. 65/67 zusammenfassend über die Gründe; Carl Maria Kaufmann, Handbuch der altchristlichen Epigraphik, Freiburg 1917, S. 37f.; Carlo Carletti, Iscrizioni cristiane di Roma, Firenze 1986, S. 148f. zu Nr. 137, mit weiteren Hinweisen. 150 Auch wenn dieser Text als Formel der Devotion unhistorisch ist, bleibt er doch ein Zeugnis der Spätantike; vgl. Wissowa (wie Anm. 131) S. 237; Latte (wie Anm. 131) S. 82, Anm. 4.

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Durch Ausscheidung des Interpolaments wird auch nach dieser Richtung hin der Gedankengang geklärt. Als größte Wohltat aber empfindet man die Wiederherstellung des ursprünglichen Schwungs der lebhaften Rede: Nonne pudet ... ? Evocat, heu ...! Anne fides dubia est... ? Die Athetese ist hier wahrhaft eine Befreiung.

9. Die Behandlung der Gladiatorenkämpfe fanden wir von schweren Entstellungen betroffen. Das entspricht der Erfahrung, daß die interpolatorische Arbeit sich nicht gleichmäßig über ein Werk erstreckt, sondern gewisse Partien stark in Mitleidenschaft zieht, andere weniger antastet, wieder andere völlig ungeschoren läßt. Ein weiteres Beispiel für die Konzentration fälscherischer Tätigkeit bieten bei Prudentius die Verse | über Lots Weib in der Hamartigeniam. Aber es wäre verkehrt, wollte man sich irgendwann oder irgendwo in Sicherheit wiegen, so als brauche man außerhalb solcher Zentren redaktioneller Tätigkeit kritische Aufmerksamkeit nicht zu üben. Im Gedicht gegen Symmachus richtete sich das Interesse der Fälscher durchaus nicht nur auf die unterirdischen Götter. Ein zweizeiliges Emblem ist auch der Beschreibung der Dioskuren bzw. ihrer Statuen eingefügt (c. Symm. 1,228/229). Das Falsifikat gehört insofern in den Rahmen unserer Untersuchung, als auch darin die Linie prudentianischer Götterkritik verzogen wird und die Tendenz zur Vergröberung der Polemik hervortritt. Da ich diesen Fall aber andernorts im Zusammenhang einer weiter ausgreifenden Erklärung besprochen habe152, begnüge ich mich jetzt mit dem bloßen Hinweis. Dagegen verlangt innerhalb des hier gewählten Ausschnitts ein weiteres Interpolament erhöhte Aufmerksamkeit. Zu Beginn des zweiten Buchs Contra Symmachum führt Prudentius die beiden Kaiser Honorius und Arcadius redend ein. Sie wenden sich gegen die bildliche Darstellung der Victoria, gegen ihre kultische Verehrung und gegen

151 Vgl. Christian Gnilka, Kritische Bemerkungen zu Prudentius' 'Hamartigenie', in: Hermes 112, 1984, S. 333/352 [in diesem Bande S. 68/89], 152 Christian Gnilka, Das Templum Romae und die Statuengruppe bei Prudentius, c. Symm. 1,215/237, in: Bild- und Formensprache der spätantiken Kunst. Festschrift Hugo Brandenburg ( = Boreas 17, 1994) S. 65/88, hier S. 78/81 [in diesem Bande S. 204/209].

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die Aufstellung ihrer Statue in der Curie. Die Rede mündet in die folgenden energischen Mahnungen (c. Symm. 2,57/66): 57

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desine, si pudor est, gentilis ineptia, tandem res incorporeas simulatis fingere membris, desine terga hominis plumis obducere: frustra fertur avis mulier magnusque eadem dea vultur. vis decorare tuum, ditissima Roma, senatum? suspende exuvias armis et sanguine captas, congere caesorum victrix diademata regum, frange repulsorum foeda ornamenta deorum. tunc tibi non terris tantum victoria parta, sed super astra etiam media servabitur aede.

Auch die hier im Druck hervorgehobenen Verse 59/60 haben, wie die beiden zuletzt behandelten Großinterpolamente, das einhellige Zeugnis der Handschriften für sich. Der Puteanus fällt zwar für das ganze Gedicht aus, aber der andere spätantike Textzeuge, der Ambrosianus, der mit V. 561 des ersten Buchs wieder einsetzt, führt die Verse mit und bekundet folglich das beachtliche Alter des ganzen überlieferten Textbestands. In den neueren Ausgaben werden die Verse ohne jegliches Anzeichen der Kritik gedruckt. Einzig Nicolaus Heinsius meldete Bedenken an. Er erwägt in seiner Ausgabe zu Vers 60 die Konjektur magicusque vultur (statt: magnusque vultur), fährt dann aber fort153: "Quanquam uel sie uersus hic cum proxime praecedenti suspectus est." Bei der ausführlichen Besprechung der ganzen Partie c. Symm. 2,1/66 in dieser Zeitschrift glaubte ich, den Blick vor allem auf gewisse historische und antiquarische | Fragen heftend, Heinsius' Argwohn beiseite schieben zu können154. Aber mir sind bald Zweifel aufgestiegen. Die empfindlichste Störung erzeugt der ungefüge Aussagesatz·, frustra fertur avis mulier magnusque eadem dea vultur. Die Konstruktion bleibt vertrackt, man mag sich drehen und wenden, wie man will, FRUSTRA paßt sich dem Stil des Gedichts an (vgl. 2,368. 444. 556), aber schon FERTUR löst Unsicherheit aus. Es dürfte Verbum dicendi sein, gebraucht wie psych. 548: summus (sc. sacricola) nam fertur Aaron;

153 Heinsius (wie Anm. 62) S. 859. 154 Christian Gnilka, Prudentius über die Statue der Victoria im Senat, in: Frühmittelalterliche Studien 25, 1991, S. 1/44, hier S. 30 Anm. 12.

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per. 10,672: est quidquid illud, quodferunt homines deum (vgl. ebd. 1064). Entsprechend übersetzt Lavarenne155: "il est absurde de d i r e qu'unefemme est un oiseau." Die Ausdrucksweise wirkt jedoch hier, wo alle Beteiligten das Bildnis vor Augen haben, ungemein fade. Man könnte daher auf den Gedanken kommen, fertur (avis) als Verbum der Bewegung zu fassen. Aber dann wird eine Angabe vermißt, die diesen Sinn festlegt. Wo der echte Dichter spricht, gibt es nie einen Zweifel, wie solches fern aufzufassen ist; es genügt, die Verse c. Symm. l,100f. über Hermes zu vergleichen:... per nubilaferri Aligerisque leves pedibus transcurrere ventos. Im übrigen ließe sich so verstandenes fertur kaum mit dem Adverb frustra verbinden, das wiederum nicht abgetrennt werden kann, da Rückbezug von frustra auf obducere nicht sinnvoll erscheint156. Aber ganz gleich, wie man sich entscheidet, über der ganzen Phrase: FRUSTRA FERTUR AVIS MULIER liegt Dunkelheit. Die Funktion der Substantive bleibt unklar, weil jedes ebenso Subjekt wie Praedicativum sein könnte, schlimmer noch, daß das intendierte Moment der Aussage, nämlich die M i s c h u n g der Gestalten, aus solcher Formulierung höchstens zu erraten ist, weshalb sie sogar im Sinne einer Metamorphose verstanden werden könnte und tatsächlich verstanden worden ist157. Und die obscuritas, die man doch in einer Kaiserrede am allerwenigsten erträgt, verdichtet sich mit jedem Wort, MAGNUSQUE EADEM DEA VULTUR: wieder ist das grammatische Verhältnis der Wörter unbestimmt; besonders das Pronomen verwirrt. Verschiedene Paarungen scheinen hier ungeschickt zusammengedrängt: (avis) mulier eademque dea und mulier eademque vultur. Doch was hilft es, künstlich Ordnung herstellen zu wollen, wo doch in diesem Gestoppel immer etwas überschüssig, immer etwas undeutlich bleibt! Überhaupt schwächen die zusammengepferchten Substantive die rhetorische Kraft der Schlußparänese. Der Schwung, der den ersten desine-Satz trägt (57f.), wirkt zunächst im zweiten (59) fort, verliert sich dann aber völlig im Gehaspei des Aussagesatzes. Der

155 Lavarenne (wie Anm. 146) S. 162. 156 Schon aus diesem Grunde geht es nicht an, die Athetese auf V. 60 zu beschränken. Frustra am Ende des Verses und Satzes (59) hinge störend über, da die Mahnung: desine ... obducere schon impliziert, daß die Handlung ά λ ό γ ω ς erfolgt. Vgl. im Unterschied dazu c. Symm. 2,444: (genius) cuius frustra simulatur imago. 157 In den Glossae veteres (Remigius von Auxerre?) zu V. 60, abgedruckt bei Arevalo (wie Anm. 23) Sp. 186 A: FERTUR AVIS, multos et viros et mulieres legimus in fabulis versos in aves, unde commemorat. Der Irrtum kehrt wieder bei Isidora Rodriguez-Herrera, Poeta Christianus (Diss. München), Speyer 1936, S. 105: "Als Beispiel der fallendi trina potestas bringt der Dichter Attis V. 51f; Hippolytos 53ff; M e t a m o r p h o s i s 57ff" (Sperrung von mir).

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erste Teil des Einschubs profitiert durch die Wiederholung des Imperativs DESINE noch vom echten Text und durch die Junktur PLUMIS OBDUCERE wohl von Horaz (ars 2: inducere plumas). Aber die Wendung steht hier schlecht. Recte profecto germana ilia pictorum poetarumque \ commenta Victoriam finxere ρ inn at am, sagt Pacatus158, puellam ... pinnigeram nennt sie Prudentius (33) mit schönem Dichterwort, dessen Sinn bei ihm zu voller Anschauung gelangt: aurea quamvis Marmoreo in templo rutilas Victoria pinnas Explicet... eqs. (27ff.). Victoria hat Schwingen, sie ist 'geflügelt', wie später in der Kunst auch die Engel, nicht jedoch plumigera, geschweige denn plumis obducta, 'mit Federn überzogen', wie ein Vogel159. Die Skulptur in der Curie, die Prudentius vor Augen hat, ist Vorbild für ungezählte Statuetten geworden; viele haben sich, über das Gebiet des Reichs verstreut, erhalten. Und so verschieden sie auch in mancherlei Beziehung wirken: nie wird der Rumpf von einem Federkleid bedeckt, immer ist der Rücken durchaus menschengestaltig, stets das Gewand zwischen den Flügelansätzen ausgearbeitet - ich verweise hier auf die beigegebenen Abbildungen 1/3160. Schon deshalb ist auch die Bezeichnung magnus ... vultur für die reizende Gestalt der mädchenhaften Göttin nicht allein in ästhetischer Hinsicht unpassend, sondern auch in sachlicher Beziehung mißglückt. Es obwaltete offenbar der Wille, das attraktive Bildnis nach Kräften zu entstellen, und das bringt uns auf das Motiv des Fälschers. Die Polemik des Dichters gilt in den vorhergehenden Versen 27/38, die

158 Paneg. Lat. 2 (12),39,1. 159 Vgl. Prud. cath. 3,44: plumigeram Seriem, von den Vögeln auf der Leimrute. Pluma (plumeus) auch sonst von Vögeln: ham. 295. 817; vgl. c. Symm. 1,62; den Unterschied der plumae und der pinnae (alae) zeigt schön der Vers per. 5,416 im Vergleich zu den vorhergehenden Zeilen 410f. Auch in der Bildrede psych. 789 bleibt der Unterschied gewahrt. 160 Das Ausbreiten der Flügel, das Prudentius vor Augen hat (explicarepinnas), bringt die Bronzestatuette in Neapel zu schöner Anschauung - die Halterung am unteren Teil des Rückens ist modern, der Globus ergänzt (Tafel III a und b). Auch die Victoria aus Köln, die noch Spuren der Vergoldung aufweist, gibt durch die weite Öffnung der Schwingen Nacken und Rücken der Göttin frei (Tafel V a und b). Die Statuette aus Fossombrone, jetzt in Kassel, hat zwar die großen Flügel steiler gestellt und weniger geöffnet - der rechte ist ebenso wie der Globus und der linke Fuß ergänzt - , läßt aber trotzdem klar erkennen, worauf es hier ankommt: die Bildung eines menschlichen, nicht gefiederten Rückens und den Faltenwurf des Gewands (Tafel IV a und b). Zu den Bronzestatuetten dieses Typs vgl. Tonio Hölscher, Victoria Romana, Mainz 1967, S. 34/41; zu den Stücken in Neapel (Museo Nazionale, Inv.-Nr. 4997) und Kassel (Staatliche Kunstsammlungen, Schloß Wilhelmshöhe, Inv.-Nr. Br 121) weitere Literaturhinweise bei Gnilka (wie Anm. 154) S. 13 Anm. 47 und S. 14 Anm. 48, wo auch schon die Kasseler Statuette in Vorderansicht gegeben wurde (ebd. Abb. 1). Die Bronze aus Köln (Rheinisches Landesmuseum

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hier nicht ausgeschrieben sind, sehr wohl auch der Gestalt der Victoria, aber der Punkt seiner Kritik ist ein anderer. Er tadelt nicht etwa ihre Mißgestalt, sondern ihre Erscheinung als Frau: aisfeminea forma (vgl. 32), und das allein deswegen, weil solche Auffassung des Siegs zum harten Männergeschäft nicht passe und der Leistung soldatischer Tüchtigkeit hohnspreche. Indem der Angriff solches Ziel sich nahm, ließ er Raum, Weiblichkeit und Lieblichkeit des Flügelwesens zu betonen, ja solche Akzentuierung war dann geradezu unerläßlich. Und so zeigt uns der Dichter die jungfräuliche Victoria, wie sie mit geöffneten Schwingen (27/29), wohlfrisiertem Haar, flatterndem Gewände, | schwellenden Brüsten und Busenband auf nacktem Fuße schwebt (36/38). Das also ist die durchaus einheitliche und wahrheitsgetreue Anschauung, die der echte Dichter gibt. Und nachdem er sie geschaffen, geht er zu der Frage über, wie sich solche Vorstellung überhaupt hat bilden können, und er findet die Lösung in dem Zusammenwirken von Malerei, Dichtung und Kult (39/47)161: 39 40

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aut vos pictorum docuit manus adsimulatis iure poetarum numen conponere m ο η s t r i s aut lepida ex vestro sumpsit pictura sacello, quod variis imitata notis ceraque liquenti duceret in faciem sociique poematis arte aucta coloratis auderet ludere fucis. sic unum sectantur iter et inania rerum s ο m η i a concipiunt et Homerus et acer Apelles et Numa cognatumque volunt pigmenta, camenae, idola: convaluit fallendi trina potestas.

Monstris in Vers 40 geht nicht etwa auf Mißgestalt der Victoria - davon ist weder vorher noch nachher, die beiden beanstandeten Verse ausgenommen, die Rede. Die Formulierung: (sumpsit pictura) quod... duceret in faciem (41/

Bonn, Inv.-Nr. 5071) ist besprochen und abgebildet bei Heinz Menzel, Die römischen Bronzen aus Deutschland 3, Mainz 1986, S. 40f., Tafel 48 und 49. Vgl. auch dens., Römische Bronzestatuetten und verwandte Geräte: Ein Beitrag zum Stand der Forschung, in: Hildegard TemporiniWolfgang Haase (Hgg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil II, Bd. 12, BerlinNew York 1985, S. 127/169; hier S. 151f. über die in den Vesuvstädten gefundenen Bronzen. Für freundlich gewährte Hilfe danke ich Frau Irmgard Menzel sowie Herrn Dr. Josef Floren (Münster) und Herrn Direktor Dr. Ernst Künzl (Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Mainz). 161 Auf die Textunsicherheit in V. 45 bin ich (wie Anm. 154) S. 5f. eingegangen.

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43) zeigt ja, daß es nur um die Gestalthaftigkeit überhaupt geht, und das Attribut lep i da (pictura) hält jeden Eindruck des Häßlichen fern. Monstra sind hier vielmehr die Wahngebilde dichterischer und malerischer Phantasie, das Wort steht etwa gleichbedeutend mit somnia. Das Partizip unterstreicht das Moment des Fiktiven: adsimulatis ... monstris, 'durch Erfindung von Wunderdingen'. Prudentius hat das Wort auch sonst in dieser Bedeutung, gerade in der antiheidnischen Polemik unseres Buchs (c. Symm. 2,856f.): Et tot sunt eius (sc. viae) divortia, quot templorum Signa, quot aeriis volitant fantasmata monstris. In ausdrucksvollem Parallelismus werden hier die Kultbilder und die Phantastereien des Heidentums zusammengestellt, und an der Bedeutung der 'windigen' monstra ist nicht zu zweifeln162. Natürlich nimmt das Wort nicht nur bei Prudentius diesen Sinn an. Monstrum heißt etwa bei Silius das Trugbild Scipios (fallax simulacrum), das Juno dem Hannibal in der Schlacht vorgaukelt 163 . In seiner Kritik an der unbefriedigenden Erklärung der Volksgötter sagt Ciceros Cotta164: quod si ita est, Caeli quoque parentes di habendi sunt Aether et Dies eorumque fratres et sorores ... Amor, Dolus, Metus, Labor, Invidentia, Fatum, Senectus, Mors, Tenebrae, Miseria, Querella, Gratia, Fraus, Pertinacia, Parcae, Hesperides, Somnia ... aut igitur haec monstra probanda sunt aut prima illa tollenda. Hier trifft das Wort gewisse Personifikationen, ohne daß etwa an Mißgestalten gedacht wäre, und es ist | jetzt völlig klar, was auch Prudentius mit den monstra meint. Er faßt, von Victoria ausgehend, zuallererst die Verkörperung der Abstrakta ins Auge, und daher kehrt er auch, nachdem er zwei weiter ausgreifende Beispiele für den Einfluß der Malerei und Dichtung auf den Kult behandelt hat (49/56), mit Beginn der Schlußparänese wieder zu diesem Thema zurück (57f.): desine, si pudor est, gentilis ineptia, tandem res incorporeas simulatis fingere membris. Die res incorporeae sind eben jene res wie Fides, Mens, Virtus, Honos, Ops,

162 Vielleicht ist auch per. 1,69 hierher zu ziehen: vosque, qui ridenda vobis monstra divos fingitis. Die Bedeutungen 'Wahngebilde' und 'Mißgestalt' sind benachbart, aber nicht identisch. Nicht genügend geschieden werden sie bei Steidle (wie Anm. 177) S. 15. 163 Vgl. Sil. 17,547/550; Anton Szantyr, Art. monstrum, in: ThLL 8, Sp. 1448, Zeile 76ff. 164 Cie. nat. 3,44 (Metus ist unsicher); vgl. ebd. 1,28 über Parmenides: multaque eiusdem monstra, quippe qui bellum, qui discordiam, qui cupiditatem ceteraque generis eiusdem ad deum revocet. In gleicher Bedeutung portenta ebd. 1,18: portenta et miracula non disserentium philosophorum sed somniantium. Vgl. somnia im Prudentiustext (46).

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Salus, Concordia, Libertas und V i c t o r i a , deren Personifikation und Konsekration der Stoiker bei Cicero verteidigt165, der Akademiker, christliche Kritik vorbereitend, als Einbildung entlarvt166; denn solche 'Götter' gelten dem Christen als inania figmenta verborum, wie Arnobius sagt167, als vacua non spirituum neque corporum nomina, wie Paulinus168, als ridenda figmenta poetarum und deliramenta, wie Augustinus sagt169 - und so argumentiert auch Prudentius. Prudentius, wohlgemerkt, aber nicht der Interpolator. Vergleicht man seine Zeilen (59/60) mit dem eben nochmals ausgeschriebenen Verspaar (57/58), erkennt man deutlich, wie und weshalb er abirrt. Er geht von einem anderen Begriff des Monstruosen aus. Monstrum nicht Wahngebilde, sondern Mißgestalt, nicht Phantasma, sondern Zwitterwesen. Natürlich spielt auch dieser Punkt in der christlichen und vorchristlichen Polemik gegen die Götter des Kults eine Rolle, ja vielleicht die größere. Ich zitiere nur einen Satz aus Seneca, De superstitione, den Augustin bewahrt hat170: sacros inmortales inviolabiles in materia vilissima atque inmobili dedicant, habitus Ulis hominum ferarumque et piscium, quidam vero mixtos ex divers is corporibus induunt; numina vocant, quae si spiritu accepto subito occurrerent, monstra haberentur. Diesem ausgetretenen Pfade folgt der Fälscher. Es ist allerdings möglich, daß neben dem allgemeinen Motiv auch ein gewissermaßen spezielles wirkte, und damit lenke ich nochmals zu der Wendung plumis obducere (59) zurück. |

165 Cie. nat. 2,61: tum autem res ipsa, in qua vis inest maior aliqua, sic appellator, ut ea ipsa vis nominetur deus, ut Fides, utMens, quas in Capitolio dedicatas videmus... vides Virtutis templum, vides Honoris... quid Opis, quid Salutis, quid Concordiae, Libertatis, Victoriae; quarum omnium re rum quia vis erat tanta, ut sine deo regi non posset, ipsa res deorum nomen optinuit. Vgl. leg. 2,28: quodsi fingenda nomina, Vicaepotae potius ... rerumque expetendarum nomina, Salutis, Honoris, Opis, Victoriae. 166 Vgl. auch Cie. nat. 3,47: ea (sc. Natio) si dea est, di omnes illi... Honos, Fides, Mens, Concordia, ergo etiam Spes, Moneta omniaque, quae cogitatione nobismet ipsis possumus fingere. 167 Arnob. adv. nat. 4,1 (CSEL 4, S. 142): ausdrücklich wird V i c t o r i a - neben Pax und Aequitas - als Beispiel genannt. 168 Paul. Nol. epist. 16,4(CSEL29, S. 117): quomodo his divina vis et potestas datur, quae non solum nomine creatoris sed etiam creaturae specie carent, vacua non spirituum neque corporum nomina? Er spricht von fors (fortunä), fatum und casus. 169 Aug. civ. 4,17 (Bd. 1, S. 166, Z. 23ff. Dombart-Kalb5): in einem besonderen Kapitel über V i c t o r i a . Diese Belege berührte ich schon (wie Anm. 154) S. 30, aber es ist wichtig, sie vor Augen zu haben, wenn man die Tradition, der Prudentius folgt, klar erkennen und unterscheiden will. 170 Aug. civ. 6,10 (Bd. 1, S. 267, 13ff. Dombart-Kalb5) = Sen. frg. 31 Haase. Zur Textherstellung und zur Sache s. Marion Lausberg, Untersuchungen zu Senecas Fragmenten (Unter-

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Die voraufgehende Partie (V. 39ff.) läßt eine gedankliche Verwandtschaft mit dem Eingang der Ars poetica erkennen: hier wie dort geht es um die Verschwisterung von Malerei und Poesie und um das freie Walten der Erfindung in beiden Künsten171. Auch manche Ähnlichkeit in der Wortwahl macht sich bemerkbar. Vernehmlich ist der Gleichklang der Fügungen: fallendi trinapotestas (Prud. 48) - audendi... aequa potestas (Hör. 10), jeweils vor dem Versende172. Darum muß es zu denken geben, daß die Junktur plumis obducere ebenfalls eine Wortverbindung aus den Anfangszeilen der Ars nachzubilden scheint. Der wirkliche Wert der Übereinstimmung ist freilich, wie so oft, schwer zu bestimmen. Keller-Holder verzeichnen sie unter den Similien, Brink äußert sich vorsichtig173. In der Tat ist inducere (plumas) bei Horaz (ars 2) Terminus für das Auftragen der Farben in der Malerei, während obducere (plumis) hier allgemeineren Sinn annimmt174. Will man das Zusammentreffen nicht für zufällig halten, muß man mit der Möglichkeit rechnen, daß der Redaktor den literarischen Bezug zwischen Prudentius und Horaz erkannte und seinerseits versuchte, ein weiteres horazisches Element aus derselben Umgebung dem bearbeiteten Grundtext einzufügen. Von der Hand zu weisen ist solcher Vorgang nicht. Wenn die 'arte allusiva' der antiken Dichter Sinn machen soll, dann muß sie auch wahrgenommen werden; denn "was in der Kunst nicht wahrgenommen wird, das existirt nicht" (Moriz Haupt)175. Wenn sie aber wahrgenommen werden kann, darf man einen Dichterling des fünften Jahrhunderts von dieser Möglichkeit nicht ausschließen176. Ist sie für unseren

suchungen zur antiken Literatur und Geschichte 7), Berlin 1970, S. 201/204. Die Polemik gegen die monstra und portenta im Kult, gegen Tiere und Mischwesen - effigies compositas, deos mixtos, monstruosa simulacra (vgl. Tac. hist. 5,5,4; Min. Fei. 28,7; Lact. inst. 1,20,36) - ist verbreitet und entwickelt sich besonders in Auseinandersetzung mit der Religion der Ägypter. 171 Vgl. Gnilka (wie Anm. 154) S. 21/23. 172 Auch Prudentius hat änderet im Text (44). Der Versschluß aequa potestas folgt später (c. Symm. 2,415) in anderem Zusammenhang. Vgl. unten Anm. 177. 173 Otto Keller-Alfred Holder, Horazausgabe, Bd. 2, Jena 2 1925, S. 284; Charles O. Brink, Horace on Poetry 2: The 'Ars poetica', Cambridge 1971, S. 86 zu V. 2: "Prud. C. Symm. II 57ff. may recall this passage ..." 174 Auf den darstellerischen Vorgang ist bezogen, was sonst von der natürlichen Ausstattung der Tiere gilt, vgl. Cie. nat. 2,121: quarum (sc. animantium) aliae coriis tectae sunt, aliae villis vestitae, aliae spinis hirsutae; ρ lu ma alias, alias squama videmus ob du. c t a s ... eqs. 175 Vgl. Christian Beiger, Moriz Haupt als academischer Lehrer, Berlin 1879, S. 140. 176 Auf die Wirkung der Ars in der Spätantike wirft der Similien- und Testimonienapparat bei Keller-Holder (wie Anm. 173) S. 284ff. einiges Licht. Im allgemeinen dazu Peter L. Schmidt, Art. Horaz, in: Reallexikon für Antike und Christentum 16 (1994) Sp. 491/524; über ein einzelnes Motiv handelt Franz Quadlbauer, 'Purpureus pannus'. Zum Fortwirken eines horazischen Bildes in Spätantike und Lateinischem Mittelalter, in: Mittellateinisches Jahrbuch 15 (1980) S. 1/32.

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Fall zugegeben, läßt sich, wie bemerkt, ein besonderes Motiv der Einfälschung erkennen. Horaz redet ja in seinem poetologischen Zusammenhang nicht nur von dem Recht freier Erfindung, das er Dichtern wie Malern zubilligt, sondern auch - anders als Prudentius177 - von der Gefahr chimärenhafter Fehlschöpfung, die er durch das Phantasiebild eines Mischwesens veranschaulicht. Monstrum nennt es Quintilian (inst. 8,3,60). Es hat den Kopf einer schönen Frau (vgl. ars 4: m u l i e r formosa superne), doch sitzt ihm der Menschenkopf auf einem Pferdehals, und der Rumpf ist buntgefiedert und endet in einen schwarzen Fischschwanz. Solches Scheusal bringt auch der Redaktor mit seinem | Vogelweib (vgl. 60: avis m u l i e r) in den Prudentiustext, und es liegt nahe zu vermuten, daß er den christlichen Horaz mit horazischem Pinsel komplettieren wollte. So verstünde man auch, weshalb er versuchte, zum Zweck seiner Abmahnung (desine) der Victoria gleichsam das Federkleid jenes Ungeheuers anzulegen (terga... plumis obducere). In dieser Absicht mag er durch den Ausdruck / ο e da ornamenta noch bestärkt worden sein, den Prudentius gerade in der Schlußparänese gebraucht (64). Aber die Häßlichkeit, die der Dichter dort im Sinne hat, ist nicht oder nicht hauptsächlich eine ästhetische Kategorie, da das Oxymoron foeda ornamenta deo rum zwar zunächst auf Victoria und ihre Statue zielt, aber doch allgemein gesprochen ist, also alle heidnischen Kultbilder umgreift. Ihre künstlerische Qualität weiß Prudentius durchaus zu schätzen, weshalb er sie, in anderem Zusammenhang, sogar als pulcherrima ... ornamenta rühmt178. Die foeditas der Bildnisse beruht also hier primär auf ihrer idololatrischen Qualität, etwa im gleichen Sinne spricht der Dichter einmal von den foedae religiones (vgl. c. Symm. 1,513). Der Interpolator dagegen betonte, indem er das Geierweib erfand, die häßliche, der Harpyie ähnliche G e s t a 11. Sie tritt zu der anmutigen Skizze der puella pinnigera, die Prudentius, vielleicht mit Blick auf Catulls Ariadne179, zuvor entworfen hatte, in einen Gegensatz, der

177 Die andere Ausrichtung zeigt sich gerade dort, wo man eine Ähnlichkeit im Detail zu verspüren glaubt. Prudentius spricht nur von eitlen Träumen (45f.), für Horaz sind das außerdem die Fiebervisionen eines Kranken (ars 7: velut aegri somnia); die Personifikationen werden erdacht simulatis ... membris (Prud. 58), nicht aber, wie das horazische Monstrum, undique conlatis membns (ars 3). Vgl. Wolf Steidle, Studien zur Ars poetica des Horaz, Würzburg 1939 (Hildesheim 1967), S. 14/16. 178 Prud. c. Symm. 1,501/505. Hierüber ist wieder ausführlich in der mehrfach genannten Arbeit (wie Anm. 154) S. 33/40 gehandelt. 179 Ebd. S. 14/16.

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im Grunde unerträglich ist und allein schon ausreicht, die fraglichen Verse zu diskreditieren180. Denn solcher Wechsel der Ästhetik bedeutet einen Bruch, ein plötzliches Abgleiten der Kaiserrede ins Vulgäre, das auch durch die Form der obiurgatio nicht gerechtfertigt ist. Denn die Schelte darf nicht die Darstellung außer Kurs setzen, die in durchaus lehrhafter Absicht entwickelt wurde. Die Zeilen 59/60 können einfach erweiternde Zudichtung sein. Es ist aber auch möglich, daß sie dazu ausersehen waren, die beiden voraufgehenden Verse zu ersetzen. Jedenfalls mußte dem Redaktor ganz unbefriedigend erscheinen, was in den beiden Versen über die res incorporeae gesagt war. Ja, das Bestreben, die Allgemeinheit dieses Ausdrucks, die sich aus dem resümierenden Charakter der Schlußpartie ergibt, entweder durch Ersatz auszuräumen oder durch Zusatz zu 'verbessern', darf man sicherlich als weiteres Motiv der Textänderung annehmen. In Wahrheit zeigt sich freilich jetzt, nach Aufdeckung des Interpolaments, wie passend die allgemeine Tönung des ersten desine-Satzes ist, wie unpassend die abstruse Kleinmalerei des Einschubs. Denn mit Vers 57f. wird die Folgerung für das ganze Heidentum gezogen, das deshalb auch angeredet ist (gentilis ineptia), und die Konsequenz gilt natürlich nicht nur für Victoria, sondern für alle jene personifizierten und konsekrierten Abstrakta. Stimmig weitet sich die Perspektive in den folgenden Sätzen, so daß mit V. 64 zur Vernichtung der Götterbilder schlechthin aufgefordert und der dadurch errungene geistliche und ewige Sieg (65 victoria) an den Schluß gesetzt werden kann. Der ganze Fall beweist wieder einmal mehr, wie früh die redaktionelle Bearbeitung des Prudentiustexts anzusetzen ist, wie tiefreichend ihre Folgen waren und wie trügerisch die Sicherheit sein kann, die ein einstimmiger Befund in der äußeren Bezeugung des Texts bewirkt.

180 Die Lehre, die ich (ebd. S. 30/32) aus diesem Gegensatz glaubte ziehen zu dürfen: nämlich daß der Gebrauch der Victorien in der frühchristlichen Kunst, wie der usus iustus der Christen überhaupt, nicht etwas Selbstverständliches ist, läßt sich bis zu gewissem Grade der ganzen Szene (c. Symm. 2,17/66) abgewinnen, auch wenn die inkriminierten Verse ausscheiden.

XIII. DOPPELTER GEDICHTSCHLUSS

"Der spanische Dichter Prudentius ... hat in der 'Hamartigenia' den Dualismus ('adv. Duitas') bekämpft und ihm die Etikette 'Marcion' aufgeklebt, dessen Vorbild er in Kain sieht". So lautet das Urteil Adolf von Harnacks1. Abgegeben wurde es vor allem im Hinblick auf eine Versreihe der Praefatio, wo Cain und sein Opfer auf Marcion und seine Häresie gedeutet werden (ham. praef. 36/47). Und insoweit besteht das Urteil zu Recht. Denn bei diesem Textstück handelt es sich tatsächlich um ein aufgeklebtes Etikett, aber nicht der Dichter selbst hat es seinem Gedicht aufgeklebt: es ist ihm aufgeklebt worden - von fremder Hand, wie sich zeigen wird. Die sog. Praefatio zur Hamartigenie behandelt Ereignisse im vierten Kapitel der Genesis: das Opfer der Brüder Cain und Abel, Cains Neid, Gottes Warnung, den Brudermord. Die Geschehnisse werden skizziert und auf ihren geistlichen, typologischen Sinn hin durchleuchtet. Dabei gilt die Aufmerksamkeit des Autors besonders den warnenden Worten Gottes (Gen. 4,7): nonne si recte offeras, recte autem non dividas, peccasti? quiesce. (VL) - ουκ, έάν όρθώς προσενέγκης, όρθώς δέ μή διέλης, ήμαρτες; ήσύχασον (LXX). Es war eine bekannte quaestio der Genesisexegese, worin die falsche Teilung des Opfers, die Cain sich zuschulden kommen ließ, bestanden habe. Kaiser Julianus Apostata stellte die Frage einmal einem gelehrten Bischof. Der Arme wußte keine Antwort, und der Kaiser genoß seine Verlegenheit. Dann rückte er selbst mit der Lösung heraus: επειδή γαρ των έπί γης δντων τά μέν έστιν έμψυχα, τά δέ άψυχα, τιμιώτερα δέ των άψυχων έστι τά έμψυχα τω ζώντι και ζωής αΐτίω θεω ... κτλ.2 Cyrill von Alexandrien widerspricht der kaiserlichen Exegese mit respektablen Gründen: nicht darin lag Cains Schuld, daß er Feldfrüchte darbrachte, also Unbeseeltes, sondern darin, daß er, anders als Abel, der opferte άπό των πρωτοτόκων των προβάτων αύτοΰ

ι Adolf von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1924 2 ,392*. 2 Cyrill. Alex. c.Iul. 10: PG 76, 1033 D/1036 A = firg. 84 bei Emanuela Masaracchia, Giuliano Imperatore, Contra Galilaeos, Roma 1990 = Testi e Comment) 9, 178f. In den Kommentaren zur Hamartigenie fehlt dieser Fall kaiserlicher Exegese.

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και άπό των στεάτων αϋτών (Gen. 4, 4 LXX; de primitiis ovium suarum , VL), nicht die besten Früchte auswählte3. Cyrills Einspruch erklärt sich aus dem Streben, Julians antichristliche Stellung in der Opferfrage insgesamt zu erschüttern. Augustinus sagt, die Dunkelheit der Bibelworte habe viele Deutungen erzeugt; aber er bewertet diese Vieldeutigkeit durchaus nicht als Nachteil, wofern sich nur die Ausleger an die Glaubensregel hielten.4 Er zählt mehrere Möglichkeiten falscher Teilung auf, und in diesem Katalog erscheinen auch die Ansätze zu den beiden Lösungen Julians und Cyrills.5 Julians Vorschlag entstammt überhaupt älterer Exegese, auch Ambrosius und Augustinus kennen ihn6, und so darf es nicht verwundern, daß Prudentius sein Gedicht ganz auf diese Erklärung, also auf die Unterscheidung der Opfer nach der Art, nicht nach der Qualität der Gaben, gegründet hat. Ich gebe den ganzen Text der Praefatio - die Markierung der beiden Schlußstücke wird unten erläutert. Außerdem empfiehlt es sich, die ersten Verse des Hauptgedichts gleich dazuzusetzen, weil sie im Zusammenhang mit der Praefatio gelesen werden müssen und diese wiederum dort ihre Fortsetzung findet:

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Fratres ephybi, fossor et pastor, duo, quos feminarum prima primos procreat, sistunt ad aram de laborum fructibus deo sacranda munerum primordia. hic terrulentis, ille vivis fungitur; certante voto discrepantes inmolant, fetum bidentis alter, ast alter scrobis. deus minoris conprobavit hostiam, reiecit illam, quam paravit grandior. vox ecce summo missa persultat throno: 'Cain, quiesce; namque si recte offeras, oblata nec tu lege recta dividas, perversa nigram vota culpam traxerint.'

3 Cyrill. Al. c. Iul. 10: PG 76, 1036/40. 4 Aug. civ. 15, 7 (2, 67, 29ff. Dombart-Kalb). 5 Aug. ibid. (68, 7ff.): non autem recte dividitur (sc. sacrificium), dum non discernuntur recte vel loca vel tempore vel res ipsae quae ojferuntur... sive cum electiora sibi eiusdem generis rerum tenet homo, quam sunt ea, quae offert Deo ... eqs. 6 Palla 118; s. unten S. 322f.

XIII. Doppelter Gedichtschluß armat deinde parricidalem manum 15 frater probatae sanctitatis aemulus, germana curvo colla frangit sarculo, mundum recentem caede tinguit inpia, sero expiandum, iam senescentem, sacro cruore Christi, quo peremptor concidit. 20 mors prima coepit innocentis vulnere, cessit deinde vulnerato innoxio; per crimen orta dissoluta est crimine, Abel quod ante perculit Christum dehinc, finita et ipsa est finis exsortem petens. 25 ergo ex futuris prisca coepit fabula factoque primo res notata est ultima, ut ille mortis inchoator rusticus insulsa terrae deferens libamina deumque rerum mortuarum deputans 30 rastris redacta digna sacris crederet, viventis atrox aemulator hostiae. agnosco nempe quem figura haec denotet, quis fratricida, quis peremptor invidus prave sacrorum disciplinam dividat, 35 mactare dum se vota censet rectius:

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43 43a 45

Marcion, arvi forma corruptissimi, docet duitas discrepare a spiritu contaminatae dona carnis offerens et segregatim numen aeternum colens. qui si quiescat nec monentem neglegat, pacem quieta diligat germanitas unum atque vivum fassa vivorum deum. hic se caduco dedicans mysterio hic qui caduci rem laboris offerens summam profanus dividit substantiam malum bonumque ceu duorum separans regnum deorum sceptra committit duo deum esse credens, quem fatetur pessimum.

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Cain cruentus, unitatis invidus, mundi colonus, immolator squalidus, cuius litamen sordet et terram sapit, terram caduci corporis, venam putrem, umore denso conglobatam et pulvere, natura cuius fraude floret fertili fecunda fundens noxiorum crimina animaeque vitam labe carnis enecat. caro in sororem tela mentem dirigit, mens in cerebro ventilatur ebrio, ex quo furores suculentos conligit madens veneno corporis lymfatico. deum perennem findit in duos deos, audet secare numen insecabile; cadit perempta denegans unum deum, Cain triumfat morte fratris halitus. Quo te praecipitat rabies tua, perfide Cain, divisor blasfeme dei? tibi conditor unus non liquet et bifidae caligant nubila lucis? insincera acies duo per divortia semper spargitur in geminis visum frustrata figuris. terrarum tibi forma duplex obludit, ut excors dividuum regnare deum super aethera credas. bina boni atque mali glomerat discrimina sordens hie mundus, domino sed caelum obtemperat uni. non idcirco duos retinent caelestia reges, quod duo sunt opera humanas agitantia curas. exterior, terrenus homo est, qui talia cernens conicit esse duo variarum numina rerum. dum putat esse deum, qui prava effinxerit olim et qui recta itidem condens induxerit, ambos autumat esse deos natura dispare summos.

Im Schriftbild sind hier die Verse praef. 36/47 und die Verse praef. 48/63 als Blöcke von einander abgesetzt und mit α und β bezeichnet. Dieser ganze

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Versbestand wirft erhebliche Probleme auf. Sie gründen einerseits in den vielen Anstößen, die α dem Verständnis bietet, andrerseits in der Schwierigkeit, das Stück β an α syntaktisch anzuschließen, vor allem aber in den offensichtlichen Doppelungen der Aussagen in α und ß. Hinzukommen gewisse sachliche Widersprüche zwischen Praefatio und Hauptgedicht bzw. zwischen Teilen des Hauptgedichts selbst, die durch die in α vorgetragene Exegese: Cain gleich Marcion, ausgelöst werden. Überhaupt erweist sich bei näherem Zusehen, daß alle Störungen von α ausgehen, und es steht für mich außer Frage, daß wir es hier mit einer der größten und folgenschwersten Fälschungen im Prudentiustext zu tun haben. Es handelt sich um alternative Gedichtschlüsse, einen unechten Schluß (α) und einen echten (ß). Ich verfolge zunächst (I.) den Gedankengang der Verse praef. 1/35, bespreche dann (II. und III.) die Stücke α und β Zeile für Zeile und fasse das Ergebnis in einer Synkrisis (IV.) zusammen. Zuletzt erörtere ich (V.) die Folgen, die sich aus der Athetese der MarcionVersion für das Verständnis des Hauptgedichts ergeben und resümiere auch diese Erörterung im Hinblick auf das Motiv des Fälschers (VI.). I. praef. 1/35 In den Versen 1/17 gibt Prudentius seine dichterische Version des biblischen Berichts Gen. 4, 1/8. Aber er hat schon die Darstellung auf die spätere Deutung hin ausgerichtet. Mit jedem Strich seiner Skizze betont er diejenigen Züge des historischen Geschehens, die nachher die wesentlichen Umrisse des geistlichen Bildes ausmachen. Der erste, vier Zeilen umgreifende Satz stellt die Personen vor und führt in die Situation. Schon das Paar: fossor et pastor (1) deutet den Gegensatz an, der das Gedicht beherrscht, der Gleichklang schärft den Begriff der Zweiheit7. Der nächste Vers (2) steht keineswegs müßig. Er bereitet auf das Moment der Zeit vor, auf das Moment der Anfänglichkeit des Geschehens, das später innerhalb der christologischen Deutung (17/24) eine entscheidende Rolle spielt. Die Opfergaben der beiden Brüder werden (3/4) so vorgestellt, daß die konkurrierende Erklärung der

7 Zur Schreibung ephybi vgl. Ferdinand Sommer - Raimund Pfister, Handbuch der lat. Laut- und Formenlehre, Heidelberg 19774, S.58, § 55, 2. Prudentius hat achtmal ephybus, ejybus-, Bergman sucht der wechselnden Orthographie der spätantiken Handschriften zu folgen, vgl. dazu Gnomon 58, 1986, 30.

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falschen Teilung, die Cyrills, von vorneherein ausgeschlossen ist: (sistuntad aram) deo sacranda munerum primordia (4). Das heißt: b e i d e Brüder 8 bringen Erstlingsgaben dar . Alles Licht fällt so auf die verschiedene Art der Gaben. Diesen Unterschied macht sogleich der folgende Vers (5) klar, und zwar in einer Weise, die auf Wesentliches zielt. Denn die Gaben werden zunächst in einer wertenden Verallgemeinerung einander gegenübergestellt (iterrulentis - vivis), bevor sie dann die Periphrase (7) näher bezeichnet. Der Ausdruck: certante voto (discrepantes) und damit der ganze Satz (6/7) läßt zudem das Motiv eines Wettstreits anklingen, verlebendigt also durch das agonale Moment den fundamentalen Gegensatz, bringt die beiden Opferhandlungen in einen inneren Zusammenhang und stärkt zugleich den Grund für den späteren Neid des Unterlegenen (15). Die Ablehnung des einen Opfers und die Annahme des anderen werden im Tone ruhiger Berichterstattung vermeldet (8/9), aber wiederum in absichtsvoller, durch einen Chiasmus geschärfter Antithese der Gabe des "Älteren" und der des "Jüngeren"9. Daß Cain wegen der Zurückweisung seines Opfers traurig bzw. unmutig ward (tristis, περίλυπος), erwähnt der Dichter nicht, erst recht nicht wollte er sich auf die Frage mancher Exegeten einlassen, wie Cain überhaupt von der Abweisung seines Opfers erfuhr10. Prudentius strafft den Bericht der Vorlage mit Rücksicht auf das ihm Wichtige, und dazu gehören sichtlich Gottes Worte über die falsche Teilung. Mit Vers 10 setzt ruckartige Bewegung ein (ecce), die Warnung Gottes wird durch einen bildhaften, feierlichen Ausdruck eingeleitet, der das einfache dixit (dem) der Bibel vertritt. Die Erwartung löst sich durch die direkte Rede Gottes (11/13). Sie füllt immerhin drei Trimeter, gibt aber das Original in starker Verkürzung wieder. Nur die Worte Gottes über die falsche Teilung und die Mahnung, Ruhe zu halten, werden verarbeitet (s. den Text oben S. 292), das einfache Wortpeccasti wandelt sich dafür in einen ganzen düsteren Vers (13). Durch alle diese Mittel - durch die hochdichterische Einleitung, durch Wahrung der direkten Rede, Konzentration der Aussage,

8 Sistunt ad aram: dem Bibeltext nicht unbedingt zu entnehmen und ohne Entsprechung in den frühchristlichen Darstellungen: Stam 121 f. und Renate Pillinger, Die Tituli Historiarum oder das sogenannte Dittochaeon des Prudentius. Versuch eines philologisch-archäologischen Kommentars, Wien 1980 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Denkschriften Bd. 142, hier 23. 9 Die Deutung auf Juden und Christen, Synagoge und Ecclesia, hat Prudentius hier nicht aufgegriffen; anders Reinhart Herzog, Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966 = Zetemata 42, 122f. 10 Vgl. Hier, quaest. hebr. in gen. 4, 4 (CCL 72, 6f.); dazu Karl Georg Kuhn: Kittel, Wörterbuch zum NT 1 (1933) 6.

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Umstellung des Imperativs quiesce an den Anfang und Umwandlung der Frage: nonne ... peccastil in einen begründenden Satz (11 namque ... eqs.) - lenkt der Dichter die Aufmerksamkeit auf einen der Kernpunkte seiner geistlichen Exegese; er sieht in der Vorzeichnung immer schon das Bildnis. Nach Gen. 4,8 lockt Cain den Bruder aufs Feld. Diesen Schritt läßt der Dichter wieder aus. Der Schauplatz ist ihm unwichtig11. Aber dem Mord selbst widmet er drei Verse (14/16): er betont die Vorsätzlichkeit des Brudermords (14), das Motiv des Neids (15) und die Brutalität der Tötung (16). Mit V. 17 beginnt dann die Darstellung des alttestamentlichen Geschehens in eine typologische Deutung hinüberzugleiten. Prudentius erreicht den zwanglosen Übergang durch asyndetische Reihung der Sätze: armat (14), frangit (16), tinguit (17). Wie die Praefationes zur Psychomachie und zu den beiden Büchern contra Symmachum läßt zwar auch unser Gedicht eine klare Trennung der Hauptteile erkennen: die biblische Erzählung geht voraus, die Exegese folgt12. Ihren Einsatz bezeichnet V. 32: agnosco nempe, quemfigura haec denotet, übrigens mit einer Formulierung, die deutlich an die entsprechende Überleitung psych, praef. 50 erinnert: haec adfiguram praenotata est linea. Aber anders als sonst ist hier, in der Praefatio zur Hamartigenie, mit der Exposition der Ereignisse bereits eine figürliche Sinngebung verwoben (18/24). Der Apostel sagt: "Durch einen Menschen ist der Tod gekommen. Durch einen Menschen kommt die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle dem Tode verfallen sind, so werden in Christus alle das Leben haben" (1 Cor. 15,21f.; vgl. Rom. 5, 12/21). Ein ähnliches Verhältnis, wie es Paulus zwischen Adam und Christus sieht, sieht Prudentius zwischen Cain und Christus. Cain war zwar nicht der erste, der sündigte, aber der erste, der mordete, und darum läßt der Dichter die Linie des Todes nicht beim Vater ansetzen, bei Adam, sondern beim Sohne, bei Cain13. Der Sühnetod Christi ist durch eine tiefe und reale Beziehung nicht nur mit dem Tod des unschuldigen Abel, sondern auch mit dem Mord des ruchlosen Cain verbunden. Freilich wird in der Erfüllung des Typos durch Christus zugleich das Ergebnis des typologischen Geschehens aufgehoben, ja umgekehrt. Durch Christi Blut fiel der π Nicht so für Ambr. Cain et Ab. 2, 8, 26 (CSEL 32, 1, 400): quid igitur sibi vult quod ait: 'eamus in campum' nisi quia locus nudus gignentium eligitur parricidiol ... eqs. 12 Über die Praefatio zur Psychomachie s. oben S. 102f. 13 Vgl. Theophil, ad Autol. 2, 29: der Teufel regte Cain zum Brudermord an καν ούτως άρχή θανάτου έγένετο εις τόνδε κόσμον όδοιπορεΐν έως τοΟ δεΰρο έπΐ παν γένος ανθρώπων. Vgl. unten S. 301 zu Mar. Victor aleth. 2, 231ff. (CCL 128, 155).

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Mörder, d.h. der Teufel (19: peremptor), mit Seinem Tod endete der Tod selbst (20/24). Geschliffene Antithesen lassen die Analogien zwischen dem Ursprung des Todes und seinem Erlöschen aufleuchten (20/22), ein Paradoxon erhellt zum Schluß noch einmal das Resultat dieser Gedankenreihe (24). Prudentius hat mit ihr nicht nur eine alte Typologie zu Ehren bringen wollen. Das Stück ist in formaler und gedanklicher Hinsicht dem Gedicht sorgsam eingegliedert und erfüllt auch eine besondere Aufgabe: es durchbricht die Düsternis des Todes. Der Dichter wollte ja durch das biblische Geschehen die tödliche Gefahr der dualistischen Häresie begründen. So führte er die Erzählung bis zum Tode Abels (16) und die Deutung bis zum Tod der Seele (62f.). Beide Teile münden in den Triumph des Todes (vgl. 63: Cain triumfat morte fratris halitus). Um aber dem Gedicht, das so in doppelter Weise auf den Brudermord zuläuft, die Öffnung auf das Leben hin zu geben, welche die christliche Religion nun einmal besitzt und die zum Wesen ihrer Verkündigung gehört, rückte Prudentius Christus und Seinen Sieg über den Tod in die Mitte des Ganzen. Ohne daß die gedankliche Hauptlinie des Gedichts verzogen, die geforderte Entsprechung zwischen dem narrativen und dem exegetischen Strang gestört würde, geht doch über allem die Wahrheit auf, daß der physische wie der seelische Tod durch Christus überwunden ist. Außerdem benützt Prudentius den typologischen Bezug Abels auf Christus zu argumentativem Zweck. Dieser Bezug war ja durch eine lange Tradition geheiligt und gefestigt, war sozusagen evident14. Und so kann ihn der Dichter zum Beweis dafür nehmen, daß das gesamte Geschehen, das er in den Versen 1/16 verfolgte, auf die Zukunft weist: das Geschehen in allen seinen Zügen, auch in denjenigen, die bisher in die geistliche Deutung noch nicht eingebracht wurden. Ergo (25) leitet die Folgerung ein: 25

ergo ex futuris prisca coepit fabula factoque primo res notata est ultima, ut ... eqs.

Ein kunstvoller Chiasmus untermalt die Verschränkung der Ereignisse, die zeitlich weit getrennt sind, ja Eckpunkte der Heilsgeschichte, Anfang und Ende bilden. Die Geschehnisse sind eng aufeinander bezogen, aber nicht gleichrangig. Das Vergangene leitet sich von dem Zukünftigen her (25), durch das 14

Vorgegeben ist er durch Hebr. 12, 24; vgl. Kuhn (wie Anm. 10) 7.

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erste Geschehen ist das letzte bezeichnet (26) - notata wie praenotata (psych, praef. 50). Die Tatsachen, von denen hier die Rede ist, sind die zuvor genannten: Abels und Christi Tod. Anders machen factum primum und res ultima (vgl. 26) keinen Sinn15. Prudentius hat sich ja Mühe gegeben, Cains Tat ganz an den Beginn der Menschheit zu schieben, auf daß die Geschichte bis zur Erlösung einen Bogen bilde, der Anfang und Ende umspannt. Solcher Absicht diente schon Vers 2, wie wir sahen, und auch der Gegensatz zwischen Jugendfrische und Greisenalter der Welt (17f.) soll diesen Gedanken stützen16. In den beiden Versen 25/26 wird der gegenseitige Bezug der beiden Ereignisse noch einmal scharf genommen, aber doch in solcher Weise ausgedrückt, daß er weitere Folgen einschließt. Ut (27) ist konsekutiv17: "also leitete die alte Erzählung ihren Anfang von Zukünftigem her, und durch das erste Ereignis wurde das letzte Geschehen bezeichnet, so daß ..." (Cain glaubte, was er glaubte, und tat, was er tat). Irrtum und Sünde Cains erscheinen als Folgen des tiefen, inneren Zusammenhangs der Ereignisse. Das zeitliche Verhältais von Ursache und Wirkung wird umgekehrt. Die Typen der biblischen Geschichte sind so sehr auf ihre einstige Erfüllung hin angelegt, daß die Vergangenheit sich als Folge der Zukunft offenbart. Die Vorbilder sind da, weil es die größeren Realitäten gibt, auf die sie vorausweisen. Ambrosius sagt, Abel habe von den erstgeborenen Lämmern geopfert, um eine Lehre zu erteilen (docens): er wies durch die Wahl der Opfergabe prophetisch auf das Lamm Gottes (prophetavit), wollte durch sein Opfer einen figürlichen Sinn herstellen: unde et de primitivis obtulit, u t primogenitum signar et18; Gott wiederum habe, indem er Cains Opfer wegen der falschen Teilung der Gabe verwarf, allen Häresien das Urteil gesprochen19. An einer schönen Stelle sei15 Pallas Zweifel (zu V. 26 res notata est ultima) sind unbegründet. 16 Zu diesem Thema vgl. Ezio Gallicet im Kommentar zu Cypr. Demetr. 3, auf den auch Palla zu V. 18 senescentem hinweist: Cipriano, A Demetriano, Torino (Corona Patrum) 1976, 149/71. 17 Nicht explikativ (zu factoque primo), wie Lavarenne, Etude § 777 und Stam 125 zu V. 27 wollen. Die beigebrachten Parallelen (apoth. 1058; cath. 3, 58; 6, 23) überzeugen nicht, da in diesen Fällen das durch den ui-Satz erläuterte Substantiv ein deiktisches Pronomen bei sich hat (ilia virtus, ilia famis, lex haec). Außerdem würde hier (ham. praef. 27) nicht der zunächst stehende Ausdruck erklärt (res ... ultima), sondern der ferner stehende ( f a c t o ... primo), was verwirrend wirken müßte. 18 Ambr. incarn. 1, 4 (CSEL 79, 226). Vgl. Paul. Nol. epist. 13, 4 (CSEL 29, 87): Rachel ist im Tode - sie starb unweit Bethlehems (Gen. 15, 19f.) - Typos der Synagoge, und gerade deshalb setzte ihr Jakob ein Grabmal mit einer Inschrift: quamquam ilium locum titulo mortis uxoriae prophetica me η t e signaverit providens legem ortu evangelico sopiendam. 19 Ibid. 2, 6/12 (CSEL 79, 227/29), vgl. unten S. 322.

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nes Gedichts bringt Claudius Marius Victor den Gedanken, daß die Bildung des Menschen aus Lehm (Gen. 2,7) auf seine künftige Auferstehung weise: die Erde werde ihn hergeben, wie sie ihn einst durch die Macht Gottes gebar (Mar. Victor aleth. 1,213/19). Und weiter20: 219 sie totum forma futuri est 220 quod prius est genitum, dumque ipse i t a c o n d i t u r Adam, u t repetita sacrum geminet narratio munus, utile praeseritur populos quandoque renasci. Die Erschaffung des Menschen vollzog Gott so, daß die biblische Erzählung davon eine doppelte Gabe bereithält, das heißt: einen zweifachen Sinn bietet, indem sie auf die künftige Auferstehung vorausweist. Prudentius meint dasselbe, drückt sich nur anders aus: die Erzählung der Bibel -fabula (25) steht wie narratio bei Victor (1,221) für den biblischen Bericht und für die erzählten Tatsachen selbst21 - nahm ihren Ausgang von der zukünftigen Realität, auf die sie zeichenhaft vorausdeuten soll, und als F o l g e ergibt sich, was der Mi-Satz enthält (27/31). Im Hintergrund steht auch hier der Gedanke, den Augustinus so sehr liebte: daß Gott alles, auch das Böse, lenkt und ordnet und zu einem guten Zweck gebraucht22. Aber man begreift leicht, daß Prudentius Cains Verirrung und Verbrechen hier nicht direkt mit der οικονομία Gottes in Verbindung bringen wollte. Zu Beginn eines Lehrgedichts gegen den häretischen Dualismus hätte ihn solcher Gedanke zu langen Erklärungen genötigt, die seine sorgfältig gearbeitete Skizze nicht verträgt. Der fünf Verse durchlaufende Konsekutivsatz (27/31) leitet zu Cains Opfer zurück und enthält die Begründung dafür, weshalb Cain die Gabe falsch teilte. Angedeutet war der Grund schon in Vers 5, aber nach der ausdrücklichen Warnung Gottes (11/13) erwartete man einen festen Bescheid. Prudentius

20 Mar. Victor aleth. 1, 219/22 (CCL 128, 137). Der Versschluß: forma futuri est \ (219) erinnert an Paul. Nol. carm. 28, 219. forma futuri | (nicht bei v. Härtel: CSEL 30, 393). 21 Also ohne jeden abwertenden Nebensinn (des Märchens, des Geredes usw.). Der Beleg fehlt im Thesaurus 6, 1, 26, 21ff. s.v. fabula, 'i.q. narratio', obwohl er diese Bedeutung so rein zeigt wie keine andere der genannten Stellen. Die Kommentatoren bemerken nichts dazu. 22 Der Gedanke durchzieht die Confessionen, tritt wiederholt im Gottesstaat hervor und bildet überhaupt einen Grundbestandteil augustinischer Theologie, der sich im Kampf gegen den Manichäismus ausprägt. Das christliche Prinzip des "rechten Gebrauchs" findet so im Vorbild Gottes seine höchste Rechtfertigung (ich verweise hierzu im Voraus auf meine Darstellung im d r i t t e n Bande der Reihe: "ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur").

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erteilt ihn jedoch auch jetzt nicht direkt, nicht in der Art einer förmlichen Erklärung. Er erhebt nicht den Zeigefinger zur Belehrung, schildert vielmehr Cains Opfergabe (28) und die Gottesvorstellung, aus der sie kommt (29/30), auf solche Weise, daß die erwartete Antwort implicite gegeben wird. Der Leser entnimmt sie selbst, sie ergibt sich ihm ohne weiteres. Dieses dynamische Verfahren der Exegese verdient deswegen Beachtung, weil es sich später, bei Entwicklung des geistlichen Sinnes (48ff.), wiederholt und dort mit dem großen Textproblem dieses Gedichts sicher in ursächlichem Zusammenhang steht (vgl. unten S. 324. 355). Den Eigennamen Cain ersetzt Prudentius durch eine kraftvolle Periphrase: ille mortis inchoator rusticus (27). Ihr Sinn wird schön erhellt durch Victor aleth. 2,240f.: ille etenim (sc. serpens) letum suasit, non intulit: at tu (sc. Cain) Auetor primus eris caedis. Überhaupt lesen sich seine Verse (2,23Iff.: nulla est iam culpa parentum ... eqs.) wie ein Kommentar zur Konzeption des Prudentius, der die Urschuld Cains gewissermaßen vor und über die der Stammeltern setzt. Die Umschreibung des Namens eröffnet zugleich einen Durchblick auf die Art der Gottesverehrung; denn es ist sicher kein Zufall, daß der Ausdruck mortis inchoator (27) in Vers 29 nachklingt: deumque rerum mortuarum deputans. Den vollen Gegensatz schafft dann die Apposition in Vers 31, die auch das Neidmotiv nochmals (vgl. 15) hervorkehrt: ν i ν ent is atrox aemulator hostiae. Damit ist die falsche Teilung erklärt, der Handlungsfaden wieder aufgenommen, die bevorstehende Allegorese eingeleitet. Denn die Ausdrücke sind so sorgfältig abgestimmt, daß mit den Versen 48ff. der geistliche Sinn ganz natürlich aus ihnen hervorquillt. Auch die Zeilen 28 und 30 leisten solche Vorarbeit. Wenn es später heißt: (litamen) terram sapit Terram caduci corporis (50f.), so wird dort ein Gedanke fortgeführt, der hier in Vers 28 angelegt war: i η suis α terrae deferens libamina (sc. mortis inchoator). Den "faden Geschmack" der Erde hat sich Prudentius wohl nicht selbst einfallen lassen. Auf einen tieferen Ansatz in der Exegese läßt Chromatius schließen. Er bemerkt zu Mt. 5,13 (vos estis sal terrae): Et cuius terrae? promptum est noscere, id est terrae corporis nostri, quam dudum insipientem ac sensu vanitatis i η s ul s am , evangelicae praedicationis sapientia salierunt (sc. apostoli)23. Von einer anderen Seite her beleuchtet Vers 30 die Minderwertigkeit der Gabe: (ut) rastris redacta digna sacris crederet. Alles, was mit dem Ackerbau

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Chromat, in Matth. 4, 1, 3 (CCL 9, 402).

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zu tun hat, wird in diesem Gedicht um des geistlichen Sinnes willen dunkel eingefärbt. So erscheint das Feldgerät in Vers 16 als Mordwaffe (curvo ... sarculo), hier drückt es das Gemeine und Schmutzige im Gegensatz zum Erhabenen und Heiligen aus; die Kola: rastris redacta \ digna sacris bilden durch die chiastische Ordnung beiderseits der Caesur scharfe Antithese. Das Motiv klingt wieder an in sordet (50). Nun, da alles sorgfältig vorbereitet ist, kann der Dichter den Knoten schürzen: agnosco nempe ... eqs. (32). Er spricht mit einer Sicherheit, die eine klare Auskunft erwarten läßt. Er beteuert zu wissen, wen der Typos bezeichne: agnosco nempe, quem flgura haec denotet (32), und die nächste, durch Anaphora des Pronomens: quis ... quis (33) verstärkte Wortfrage ergänzt und spezifiziert die allgemeine Ankündigung. Sie erweckt die Erwartung, daß in der folgenden Deutung auch Aufschluß über zwei weitere wesentliche Punkte erteilt wird: nämlich über den figürlichen Sinn des Brudermords und über den der falschen Teilung der Opfergaben seitens des Brudermörders. Der Autor weist gleichsam, bevor er die Auflösung gibt, noch einmal mit weitausholender Gebärde auf die Hauptzüge des Geschehens. Und zu ihnen gehört zweifellos der Mord: quis fratricida, quis peremptor invidus ... eqs. (33): mit der Repetitio des Pronomens wird auch der Begriff des Mörders variierend wiederholt. Peremptor (33) führt zurück auf Vers 19: peremptor, und es besteht kein Zweifel, daß Cains Untat, die ja den Gipfel der Erzählung bildete (14/17), wie in der vorhergehenden Deutung, so auch in der folgenden ein vollgültiges Äquivalent finden muß. Das bemerke ich schon vorsorglich im Hinblick auf die anstehende textkritische Entscheidung (vgl. unten S. 313f. 333). Wie sicher Prudentius überall Kurs hält auf den erstrebten Sinn, beweist erneut der Ausdruck sacrorum disciplinam (34). Was Cain falsch teilte, war ja eigentlich das Opfer: oblata (12). Aber Prudentius will hinüber von der falschen Teilung der Gaben zur häretischen Teilung des Einen Gottes (60f.), also zu einer dogmatischen Versündigung24. Zwar bleibt er hier noch auf der Ebene der Opfersprache (vgl. 35: mactare ... vota), aber indem er jene verallgemeinernde Wendung vorausschickt, erleichtert er sich das Hinübergleiten zum angesteuerten Ziel der Exegese.

24 Vgl. Palla 130 zu V. 34, der dieses Schweben der Bedeutung richtig gefühlt hat. Disciplina für die christliche Lehre: Prud. per. 10, 45 (disciplinam Nazarenam); 366.

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II. praef. 36/47 = α 36 Marcion, arvi forma corruptissimi. Sofort der erste Vers dieses Stücks versetzt den Leser in den Zustand anhaltender Grübelei. Wie kann Marcion forma sein? Eben hörten wir doch, Cain seifigura (32). Wenn nun Marcion die bildhafte Voraussage erfüllen soll: wie kann er seinerseits Bild (Vorbild oder Abbild) sein? Abel ist forma, figura Christi, aber Christus nicht forma Abels. Die Bezugsgrößen des typologischen oder allegorischen Verhältnisses lassen sich nicht austauschen. Denn der Typos kündet nur an, was später volle Realität erlangt. Wenn der Bauer Cain und das Opfer seiner Feldfrüchte alsfiguraauf Marcion und seine Häresie vorausweisen sollen, kann Marcion nicht wieder als arvi forma auf Cain und seinen Acker zurückverweisen25. Die Grundfesten jeder Typologie würden sonst erschüttert. Und selbst wenn man sich um eine andere Sinngebung für forma bemühte: es bliebe doch trotzdem störend, daß schon in der allerersten Zeile der Erklärung zu figura ein Wort verwandter Bedeutung auftaucht, das eben nicht erklärt, sondern verwirrt. Was aber könnte der bessere Sinn sein? Lavarenne schreibt26: "'Marcion, creature faite d'une terre tres corrumpue, enseigne ...' (par allusion ä la maniere dont Dieu crea l'homme d'apres la Genese)". Aber schon Stam wandte völlig zu Recht ein, daß das ein Vorwurf wäre, der sich gegen alle Menschen richtete, nicht nur gegen Marcion27. Und man kann ergänzen: nicht nur gegen alle Menschen, sondern auch gegen den Schöpfer - so als habe Er sich im Material vergriffen. Solcher Verdacht durfte natürlich in einem Werk, das den Dualismus bekämpft, keinesfalls anklingen. Stams eigene Lösung freilich befriedigt noch viel weniger ("Marcion is like a barren field, which produces harmful plants"28), und so kehrte Palla wieder zu Lavarennes Vorschlag zurück29. Doch man darf nicht weiter rätseln: der Verfasser suchte etwas recht Abträgliches über den Häresiarchen zu sagen und wollte zugleich einen Bezug zwischen Marcion und dem Begriff für "Erde"

25 Beide Wörter, figura und forma, stehen bei Prudentius im Sinne von τύπος. Zu forma vgl. noch cath. 1, 26; ham. 735; psych. 884; tituli 8 (nicht hierher gehört apoth. 309). 26 Lavarenne, Etude § 1609. 27 Stam 129. 28 Stam ebd.; sein Verweis auf ham. 735 ("forma = imago") führt irre, ΛΛ forma dort die Bedeutung τύπος hat (s. oben Anm.25). 29 Palla 130f.

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herstellen, um mittels dieses Zwischenglieds zum Begriff des "Fleisches" (38) zu gelangen. Denn diese Gedankenbewegung hatte er dem Dichter abgeschaut (vgl. 48/55). Aber was Prudentius klug und behutsam über acht Verse hin entwickelt, bringt der Redaktor grob und hastig hervor, so daß man, ohne β zu Hilfe zu nehmen, kaum erahnen kann, was gemeint ist. Vielleicht schaute er außerdem auf das Ende der Apotheosis zurück. Dort (apoth. 1035/37) stellt Prudentius die Frage, warum allein der Mensch unter allen Geschöpfen von Gottes Hand gebildet und der "Lehm" dadurch geheiligt und geadelt wurde. Die Antwort lautet (apoth. 1038ff.): 1038 decrerat quoniam Christum deus i n c o r r u p t o admiscere solo, sanctis quod fingere vellet 1040 dignum habuit digitis et carum condere pignus. destituit natura quidem distructa coactae t e l l u r i s f o r m a m mortique obnoxia cessit, sed natura dei numquam solvenda c a d u c a m t e 11 u r e m nostro ν i t i a t a m primitus usu 1045 esse suam voluit, ne iam vitiabilis esset. Christus nostra caro est ... eqs. Hier begegnet die Junktur telluris formam (1042), und es scheint überhaupt, als sei aus den Angaben dieser Versreihe die Mixtur: arviforma corruptissimi zusammengebraut (vgl. dazu apoth. 1024f.: cum vas conponeret a r ν ο Nondum viscereo ... eqs.). Aber forma in dem Vers apoth. 1042 nähert sich der Bedeutung von natura (1041. 1043)30, und in diesem Sinne wäre das Wort als Apposition zum Eigennamen Marcion kaum verständlich. Überhaupt bringt der Vergleich mit den ausgeschriebenen Versen zu Bewußtsein, welche Bedenken das Urteil erregen muß, das der Interpolator über Marcion leichthin fällt. Mit der Anthropologie des Dichters dürfte es sich schwer vereinen las-

30 Den Übergang der Bedeutungen zeigt die Versreihe apoth. 862ff.: forma (863) i.q. figura (862), species, effigies (865f.), dagegen forma animae (869) in erweitertem Sinne; vgl. cath. 9, 93 forma mortalis von der Menschennatur. Wortuntersuchungen fänden bei Prudentius ein lohnendes Feld. Im allgemeinen s. ThLL 6, 1 s.v. forma (Ida Kapp), 1076, 77f.: "fere i.q. natura, vis, χαρακτήρ" mit Belegen vor allem aus Tertullian, wo freilich genauere Scheidung der Begriffe nötig ist; vgl. Stephan Otto, "Natura" und "dispositio". Untersuchungen zum Naturbegriff und zur Denkform Tertullians, München 1960 = Münchener Theologische Studien, 2. Systematische Abt., Bd. 19, 44. 46f.; Rene Braun, "Deus Christianorum". Recherches sur le vocabulaire doctrinal de Tertullien, Paris 1962 = Publications de la Facultö des Lettres et Sciences Humaines d'Alger 41, 1552. 156f. 308.

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sen. Denn die Behauptung, ein einzelner Mensch, eine bestimmte Person, ein Wesen aus Leib u n d Seele sei "ein Abbild des ganz verderbten Ackers", trifft nicht Prudentius' Lehre vom Menschen. Man darf ja nicht aus dem Auge verlieren, daß die abwertenden Urteile über die "Erde" ham. praef. 48/55 eindeutig allein auf den leiblichen Bestandteil der menschlichen Natur zielen. Der Interpolator ebnet diesen Unterschied ein.

37 docet duitas discrepare a spiritu. Durch unsere Lexika geistert das Hapax *düTtae (-arum), das Prudentius hier gebraucht haben soll: "eine Art Ketzer, die an zwei Götter glaubten", Georges (ebenso Forcellini, Freund, Klotz, Lewis-Short, Castiglioni-Mariotti, nicht aber das Oxford Latin Dictionary und die Wörterbücher von Blaise und Souter, wo das Wort fehlt31). Vollmer führt das Plurale tantum im Thesaurus (5, 1, col. 2182, 34ff.) aufgrund abweichender Schreibungen in den Codices (duetas, dueta, deitas) mit Fragezeichen vor, nimmt im übrigen andere Bedeutung an: "... quod vix potest significare qui duos deos credunt, potius ipsos deos malum et bonum, quos Marcion finxerat". Lavarenne in seiner Etude und in der Ausgabe wie auch die Kommentatoren Stam und Palla halten es mit der Mehrzahl der Lexika und mit den alten Erklärern32. Man weiß, daß Prudentius neue Bildungen gewagt oder sonst nicht belegte Wörter gebraucht hat, und so glaubte man, ihm auch einen Neologismus wie dttitae zutrauen zu dürfen. In Wahrheit liegen die Verhältnisse freilich anders. Wer die Seiten 349/470 in Lavarennes Etude auf die mit Asteriskos gekennzeichneten semel dicta durchsieht, wird nichts wirklich Vergleichbares finden. Das meiste betrifft Erweiterungen der lateinischen Dichtersprache: etwa neue Substantiva auf -men (z.B. Creamen, cruciamen) oder Bildungen nach altem Muster wie crucifer, cunctipotens, dazu Komposita (z.B. sübtacitus, praesiccus), Deminutiva (z.B. tutaculum, russeolus) usw. Hält man nach neuen Namen oder Termini christlicher Lehre Ausschau, ist die Ausbeute auffallend gering33. Offenbar

31 Albert Blaise, Dictionnaire latin-fran^ais des auteurs chrdtiens, Straßburg 1934; Alexander Souter, A Glossary of Later Latin, Oxford 1949. 32 Lavarenne, 6tude § 1085: Marcion u le chef des 'duitae..., qui croyaient ä deux divinit6s"; Lavarenne 2, 423; Stam 128. 130; Palla 131. Von den früheren Kommentatoren nenne ich nur Faustinus Arevalo (Rom 1788/89): PL 59, 1010 D. 33 Außer den im Text genannten Wörtern verdienen noch Erwähnung: christigena, christipotens, omnipater, omnipollens, unicultor; Lucinus (lucina hora). Man muß aber die Menge der

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hat sich der Dichter gerade hier Beschränkungen auferlegt. Vor allem aber: die Bildungen sind immer durchsichtig, lassen niemals über den Sinn rätseln. Denn Tibricolae, Nilicolae erlauben ebenso wenig einen Zweifel wie paradisicolae und Berecyntiacus sacerdos (statt: Berecyntius), mysteriarches ebenso wenig wie ecclesiastes plebs, und auch Wörter wie idololatrix, mammoneus, primoplastus, romfealis, verbigena, Zoroastreus geben keine Rätsel auf. Auch die Bildungen nach dem Griechischen folgen, wie man sieht, der allgemeinen Regel der Verständlichkeit34, für *duitae dagegen besserte auch das von Heraeus (auf den Thesaurus-Zetteln, s. Vollmer) erschlossene *δυΐται die Sache nicht. Selbst jener Redaktor, der die Apotheosis durch Überschriften unterteilte, bescherte uns nicht etwa *unitae, sondern uniotiitae35, und im Vergleich zu den tritheitae bei Isidor fehlt den *Duiten ein entscheidender Bestandteil des Namens36. Mit rechtem Empfinden, aber verkehrtem Ergebnis urteilte Victor Gislain (Ausgabe, Paris 1562, p. 468): "Ad novam et monstrosam haereseos speciem exprimendam, novum atque monstrosum vocabulum effinxit". Was sollte Prudentius veranlaßt haben, seinem Gedicht, das wie kaum ein anderes auf den feinen und abwägenden Gebrauch der Sprache hin angelegt ist, ein Wort einzufügen, das, in seiner Bildung merkwürdig, in seiner Bedeutung fragwürdig, in der ganzen Latinität weder vorher noch nachher irgendwo vorkommt? Nicht einmal dem Interpolator wird man solche Erfindung leichthin unterstellen dürfen. Eher schon die falsche Prosodie duitas statt düitas i.q. duplicitas, δυάς. So erklärte schon 'Iso' (Remigius von Auxerre), der deswegen von Arevalo als töricht gescholten wird: "Glossae ineptae sunt" (PL 59, 1010 D). Zu Unrecht. Das Urteil mag gelten, solange man Prudentius für den Verfasser hält. Denn der Nominativ duitas wäre unter Verletzung sowohl der Prosodie als auch des Wortakzents in den iambischen Vers gestellt, und zweifellos hat solche Gewaltsamkeit, da man sie dem Dichter begreiflicherweise nicht zutraute, die Annahme jener seltsamen Neubildung sozusagen auf-

Wörter und Namen aus Bibel, Kirche, Geschichte, Mythos, Religion, Geographie dagegen halten, um das rechte Verhältnis herzustellen. 34 Eine Ausnahme bildet vielleicht sfragitis, "Tätowierung": per. 10, 1076: quid cum sacrandus accipit sfragitidasl Aber der Vorgang wird durch die vier folgenden Verse derselben Strophe beschrieben, so daß die Bedeutung sfragitis i.q.fervens nota (1079) unzweifelhaft ist. 35 Contra unionitas: im Puteanus (A) und in anderen Handschriften vor apoth. 178. 36 Isid. orig. 8, 5, 68; verglichen von Stephanus Chamillard in seiner Ausgabe (Paris 1687) p.394, nota 17. Die "Duitae" - als Eigenname großgeschrieben wie etwa schon bei Joh. Weitz (Ausgabe: Hanau 1613, p.198) - fanden dann auch Eingang in v. Harnacks berühmte Monographie (s. oben S. 291).

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gezwungen. Hat man aber erst einmal den Gedanken gefaßt, der Vers könne unecht sein, ist man von dem Zwang befreit. Denn wenn im interpolierten Prudentiustext die durch den Versakzent bedingte Messung Plütönis (Plütönes) möglich ist - s. oben S. 244/50 dann ist auch die 'Interpolatorenprosodie' düitas statt düitas möglich. Gerade die falsche Längung des i (piper) tadelt die zeitgenössische Grammatik; sie galt als Fehler besonders der Afrikaner37. Aber auch namhafte Dichter gestatten sich ähnliche Freiheiten aus metrischen Gründen, z.B. dederJtis, poterTmus (Juvencus), ablit (Damasus), ebnetatem (Ambrosius), erlmus (Paulinus Nol.), veriitus bzw. venditus (Sedulius), inpuriitates (Dracontius)38, und der späte Epiker Severus findet gar nichts dabei, in der Versklausel Messungen wie saevosque perlmens, opprimere fervens, perficere signa zuzulassen39. Düitas, "Zweiheit", ist sicher bezeugt, kann hier überdies durch den Gegensatz zu unitas hervorgerufen sein (vgl. 48 unitatis invidus)·, das Begriffspaar μονάς - δυάς spielt im Denken der Zeit eine Rolle40. Trifft diese Vermutung, dann ist das Pluralwort *duitae als vox nihili aus den Lexika zu verbannen. Im α-Text müßte dann die Antwort auf die indirekten Wortfragen (32/35) mit der einen Zeile 36 schließen, mit der nächsten ein neuer Satz beginnen: docet duitas ... eqs. Wie freilich in diesem Falle der Interpolator sollte das Kunststück fertig gebracht haben, mit qui (40) über das Subjekt duitas (37) hinweg den Rückbezug auf Marcion (36) zu finden, vermag niemand mehr mit Sicherheit zu sagen. Vielleicht hängt die Umgestaltung der Versspitze: hie, qui in dem Ersatzvers 43a damit zusammen (vgl. unten S. 315/18). Ich halte es sogar für möglich, daß die Zeile 37 überhaupt 37 Consent, gramm. V 392, 3: fit barbarismus per adiectionem temporis, ut quidam dicunt piper producta priore syllaba, cum sit brevis, quod Vitium Afrorum familiare est. Auch die Kürzung langer Silben (orator) gilt ihm als besonderes Vitium Afrorum (ebd. 392, 12). Beispiele für beides bei Friedrich Vollmer im Index zu Dracontius: MGH a.a. 14, 442f.: praedicant, ins'idens, pröfitente etc. 38 Juvenc. 1, 664; 4, 682; Damas. carm. 51, 7; Ambr. hymn. 3, 24 p.38 Walpole (2, 24, p. 187 Fontaine); Paul. Nol. carm. 17, 287 (CSEL30,94); Sedul. hymn. 1, 21 (CSEL 10, 156); Drac. laud, dei 3, 659 (MGH a.a. 14, 110). Zu den Damasiana und Pseudodamasiana s. Antonius Ferrua, Epigrammata Damasiana, Roma: Citta del Vaticano 1942, 307; zu Sedulius Joh. Huemer: CSEL 10, 394f., zum Ganzen Müller 430/69, bes. 440 und jetzt vor allem Zwierlein (s. folgende Anmerkung). 39 Severi Episcopi in Evangelia Libri XII. Das Trierer Fragment der Bücher VIII-X. Unter Mitwirkung von Reinhart Herzog erstmalig herausgegeben und kommentiert von Bernhard Bischoff t und Willy Schetter f , bearbeitet von Otto Zwierlein, München 1994 = Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Abhandlungen, N.F. 109, hier 28/30: unregelmäßige Längungen und Kürzungen bei spätlateinischen Dichtern (Zwierlein). 40 Vgl. James J. O'Donnell, Augustine, Confessions, Bd.2, Oxford 1992, 257f. zu Aug. conf. 4, 15, 24. Dressel bringt übrigens die beiden Wörter duitas und "duitas durcheinander (p. 130 zu ham. praef. 37; im Index p. 491 verzeichnet er "Duitae qui duos deos fingunt").

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erst später in die α-Fassung eingefälscht wurde, vielleicht in einem Arbeitsgang mit V. 43 a. Im ursprünglichen Zustand könnte die Antwort die drei Verse 36. 38. 39 umfaßt haben; sie wäre dann in formaler Anlehnung an die Antwort in β (48/55) konzipiert worden (nur Namensnennung samt Erweiterungen, kein Satz). Sicherheit ist darüber nicht zu gewinnen. Aber V. 37 macht, für sich betrachtet, den Eindruck eines selbständigen, fast gnomenhaften Satzes: docet duitas (i.q. duplicitas) discrepare a spiritu. Die 'Hyperinterpolation' könnte erfolgt sein, um den dona carnis (38) einen Kontrapunkt zu geben. Aber ganz gleich, ob wir nun die *Duiten gelten lassen oder nicht: die Mattigkeit in Wort und Gedanke bleibt so oder so. Natürlich suchte der Verfasser den Widerstreit von Leib und Seele, Geist und Fleisch, den der Dichter im Finale des Gedichts (56/63) zu voller und eigenartiger Anschauung bringt, auch seiner Version des Gedichtschlusses irgendwie einzupassen. Aber was hat er daraus gemacht! Die furchtbare Realität des Brudermords und den schauerlichen Ausdruck, den sie bei Prudentius im Bilde der Irrsinn erzeugenden Giftwaffe gefunden hat: beides ist beim Interpolator verkümmert zu einer papierenen Phrase, die kaum mehr besagt als bloße Meinungsverschiedenheit: discrepare α spiritu - aufgegriffen aus V. 6: discrepantes immolant.

38 contaminatae dona carnis offerens. Der Vers bietet echte Münze, geprägt wurde sie jedoch aus anderem Anlaß, vgl. per. 10, 506f.: Quis nescit autem quanta corruptela sit Contaminatae carnis ac solubilisl Angeregt wurde die "Übertragungsinterpolation" (Jachmann) durch den ähnlichen Zusammenhang, erleichtert durch das gleiche Metrum41. Die Strophen

41 Wie genau die Redaktoren ihren Autor kennen bzw. wie sehr sich ihnen bestimmte Junkturen des bearbeiteten Dichters einprägen, zeigt in cath. 9, 92 die Variante versipelli astutia (A) gegenüber versipelli hortamine (B). Der Puteanus bietet hier das Muster einer "Konkordanzinterpolation" : astutia ist übertragen aus apoth. praef. 26 vae versipelli astutiae. Der Fall ist von Meyer, Prudentiana 340f. richtig beurteilt worden (astutia Bergman; hortamine Cunningham) ausgenommen den Punkt, daß er es offen läßt, ob diese Änderung "einem Leser oder Korrektor" zuzuschreiben sei, ob sie "in der Form einer wirklichen 'Korrektur' geschah oder als bloße Notiz". Meyer hielt das für gleichgültig. Und für das unmittelbare Ergebnis, nämlich die Erkenntnis, daß der Puteanus hier das Unechte führt, ist das auch gleichgültig. Nicht aber fur die

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per. 10,506/30 geben eine Predigt über die Lockungen des Fleisches und seine Vergänglichkeit, nicht weniger als siebenmal fällt das Wort caro. Da nun Prudentius das Schlußstück β durch die Assonanz: Cain (48) - caro (56) Cain (63) eindrucksvoll zusammengeschlossen hatte, weckte es beim Redaktor die Erinnerung an jene Strophen des Romanushymnus, und so suchte er sich nach bekannter Interpolatorenart die eigene Arbeit durch Plagiat zu erleichtern. Genützt hat das seinem Ersatzprodukt allerdings nicht. Noch wenige Zeilen zuvor lasen wir ja: insulsa terrae deferens libamina (28). Cain opferte gerade kein Tier wie Abel, sondern Feldfrüchte. Daher ist man überrascht, nun plötzlich von den dona carnis zu hören. Diese Wendung des Gedankens wird nicht genügend vorbereitet. Der Redaktor wollte Marcion ins Spiel bringen, ohne doch die Exegese des Dichters ganz aufgeben zu müssen, er wollte mit seiner historischen Auslegung die anthropologische verbinden. Aber damit hat er sich übernommen. Vom unblutigen Opfer Cains auf das 'Fleisch' zu kommen, war ja an sich schon kein leichter Weg; er konnte, wie bemerkt (oben S. 303f.), nur bewältigt werden, indem der Begriff der 'Erde' als gedankliche Zwischenstation eingeführt wurde. Der Pseudo-Prudentius hat zwar mit V. 36 (arviforma c.) diesen wichtigen Gedankenschritt angedeutet, aber nicht fest und klar ausgeführt. Er erzeugte damit ein Dilemma, das nur die Athetese löst: die Verse 36/38 sind ohne β schwer verständlich, mit β kaum erträglich. Sie setzen Tatsachen voraus, die erst in β entwickelt werden, treffen andrerseits Feststellungen, die das später Entwickelte schon vorwegnehmen. Denn daß die contaminatae dona carnis (38) zu dem litamen (sc. quod terram sapit, Terram caduci corporis ... eqs.) in V. 50/52 im Verhältnis der Dublette stehen, ist schlechterdings unübersehbar, nur eben mit dem Unterschied, daß im einen Falle bloß festgestellt, was im anderen Zug um Zug entfaltet wird. 39 et segregatim numen aeternum colens. Wenn es einen Mangel gibt, der als Merkmal interpolatorischer Arbeit gelten darf, dann ist es die Unklarheit. Und wenn es einen Vers gibt, der, obgleich glatt oder gar gefällig, diesen Mangel musterhaft vorführt, dann ist es der eben zitierte. Marcion verehrt die ewige Gottheit "abgesondert", "geweitere und tiefere Einsicht in das Interpolationswesen, von dem solche Fälle nicht wie zufallige Textdepravationen abgetrennt werden dürfen. Gerade in dieser Hinsicht ist die hier behandelte Zeile (harn, praef. 38) lehrreich.

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trennt": segregatim, i.q. separatim, κεχωρισμένως 4 2 . Getrennt wovon? Segregatim ist passives Deverbativum wie separatim oder - beim echten Prudentius - congregatim, iunctim, mixtim, permixtim, scissim, sparsim. Der Begriff der Trennung wird folglich auf das Objekt bezogen: Marcion verehrt die ewige Gottheit auf eine Weise, daß sie abgetrennt ist43. Angespielt wäre damit vielleicht auf den dogmatischen Dualismus, das Thema der Zeilen 43/ 47 (separatim, sc. ab altero deo). Aber numen aeternum kann nicht den guten oder den bösen Gott Marcions im Unterschied zum jeweils anderen bezeichnen, weil die Ewigkeit nicht als differentia specifica des einen oder des anderen gilt44. Oder ist an den schismatischen Charakter der Sekte gedacht? Soll man das Adverb freier auffassen und ergänzen: segregatim ... colens, sc. ab ecclesial Davon ist in den unmittelbar folgenden Versen 40/42 die Rede45. Aber es wäre erst recht seltsam, müßte man auf einmal bei Marcioniten und Katholiken ein numen aeternum als gemeinsamen Gegenstand getrennter Verehrung annehmen, wo sie doch sonst gerade im Gottesbegriff nicht übereinstimmen. Die im Adverb segregatim (colens) enthaltene Idee der Scheidung oder Trennung wirkt wie ein gedankliches Schwebeteilchen, das sich auf keinen Punkt der Aussage niederlassen will. Ja, Vers 37 könnte in Verbindung mit diesem Vers noch eine ganz andere Assoziation erzeugen; denn dort ist ja tatsächlich der Begriff der Trennung betont, aber wiederum im Rahmen eines Gegensatzes, der sich sinnvoller Weise kaum auf Vers 39 erstrecken kann (segregatim, sc. a spiritu). Sollte gar der Verfasser wirklich haben sagen wollen, was ihm die Übersetzer Lavarenne und Thomson unterstellen: "et c'est en le divisant (!) qu'il adore le Dieu eternel", "and worships the everlasting Deity in separate shapes"46, dann hat er auf sprach-

42 Vgl. Neue-Wagener, Formenlehre 2, 559 s.v.; A. Funck, Neue Beiträge zur Kenntnis der lat. Adverbia auf -im: Archiv für lat. Lexikographie und Grammatik 7 (1892) 485/506, hier 504; Judith Schaffner-Rimann, Die lateinischen Adverbien auf -tim, Winterthur 1958,28. 53 zu separatim. Das Adverb segregatim fehlt in ihrer Liste S. 75; es ist noch belegt durch [Serg.] Explan, in Don.: GL IV 560, lOf. Keil sowie durch Augustinus und Cassiodor: s. unten S. 674. 43 Beispiele für analogen Gebrauch solcher Adverbien bei Prudentius: apoth. 798f.: Factor utroque hominem meditans de figmine iunctim Aedificare sui similem; per. 10, 848f.: (ustor) sarmenta mixtim subdita ... Spargens liquato rore ferventis picis; per. 11, 191f.: Conglobat... Permixtim populos religionis amor. Vgl. Schaffner-Rimann 53/55. 44 Vorsorglich sei nochmals in Erinnerung gebracht, daß altemum (statt: aeternum) bei Bergman Druckfehler ist; s. Palla 131 zu V. 39 aeternum (so alle codd.). 45 Da der Verfasser gewisse Kenntnis der Bibel besitzt (vgl. unten S. 314 zu V. 42), könnte man erwägen, ob er irgendwie durch den Judasbrief (lud. 19) angeregt war: hi sunt, qui s e gregant semetipsos, animates, Spiritum non habentes. 46 Lavarenne 2, 42; Thomson 1, 203. Selbst wenn man segregatim den aktiven Deverbativa

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lieh höchst unvollkommene Weise vorweggenommen, was er V.44/46 breit darstellt. Die Wendung: numen segregatim colere, etwa im Sinne von: numen dividuum colere (vgl. ham. 7), wäre, zumal als erste Einführung des häretischen Hauptsatzes, ein weiteres Rätselwort. Wie der echte Dichter den Grundirrtum der Gegner vorstellt, zeigen die Verse praef. 60f. und später z.B. die Verse ham. 65f.: 65

... fore, qui rectorem lucis et orbis scinderet in partes g e m i n a t u m s e g r e g e r e g n o . Mag sein, daß diese Formulierung den Redaktor zur Wahl des ausgefallenen Adverbs segregatim anregte. Zugleich äffte er damit eine Eigenart des Autors nach, der Adverbien auf -tim liebt47. 40

qui si quiescat nec monentem neglegat, pacem quieta diligat germanitas unum atque vivum fassa vivorum deum.

Wie sollte das möglich sein? Wie kann ein Mann, der seit mehr als zweihundert Jahren tot ist, tun, was er zu Lebzeiten nicht tat? Aus einem Konjunktiv Praesens wird nun einmal kein Irrealis der Vergangenheit48, und das nimmt ja auch niemand an. Stam übersetzt49: "If he remains quiet and does not ignore my warning, the brotherhood, remaining quiet, may preserve the unity ..." etc. Und ähnlich auch alle anderen. Bedenken, wie der Häresiarch sich noch im Grabe eines Besseren sollte belehren lassen oder vom Jenseits her Frieden stiften könne, scheinen bei Übersetzern und Kommentatoren für unfein zu gelten. Es herrscht offenbar die Meinung, in der allegorisierenden Poesie sei der gesunde Menschenverstand außer Kraft gesetzt und jede fromme Faselei

zuschlagen wollte (vgl. Schaffner-Rimann 17/27), hätte doch solche Auffassung die Semasiologie gegen sich. 47 Lavarenne, Etude § 1210/11. 48 Allenfalls ein Irrealis der Gegenwart, vgl. Leumann-Hofimann-Szantyr 2,232 und Kühner-Stegmann 2,401. Konjunktiv Praesens zum Ausdruck der Irrealität kommt auch bei Prudentius vor (psych. 308: ni bella duces terrena retardent), wird aber hier nicht erwartet, weil mit der Formulierung: qui si quiescat... eqs. auf die Worte Gottes in V. 11/13: Cain quiesce; namque si recte ο f f e ras ... eqs. zurückgelenkt und potentialer Sinn der Konjunktive nahegelegt wird. Scheidung des Potentialis und des Irrealis zeigen übrigens musterhaft zwei Bedingungssätze des Hauptgedichts: ham. 643 ff. qui si velit omnes Innocuos agere omnipotens, nec saneta voluntas Degeneretfacto nec se manus inquinet ullo ... eqs.; ham. 661ff. quisiforet auetor Servatorque mali, numquam ... redivivam ferre medellam Vellet ... eqs. Solcher Satzbeginn klingt hier (ham. praef. 40) vielleicht nach: qui si quiescat... eqs. 49 Stam 59.

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erlaubt. Herzog läßt denn auch der Phantasie, ohne die hier freilich auch nicht auszukommen ist, die Zügel schießen: "Es wurde gesagt, daß die germanitas (V. 41) nun die Gemeinschaft der Ekklesia ist, aus der sich immer wieder ein 'Kain' abspaltet"50. Ein Cain vielleicht, aber doch nicht so ohne weiteres ein Marcion! Längst ist ja hier nicht mehr von der alttestamentlichen figura die Rede, die auf mancherlei Weise gedeutet werden mag, sondern von derjenigen Person, in der sich das Symbol nach Ansicht des Verfassers erfüllte. Soll nun auf dieser neuen Ebene abermals eine Verschiebung des Sinnes erfolgen, soll Marcion jetzt für jedweden Verfechter dualistischen Irrglaubens stehen oder für alle lebenden Marcioniten zusammen - derlei schwebte wohl dem Fälscher vor - , so hätte es doch nicht der Erfindungsgabe des Lesers überlassen werden dürfen, solchen Wechsel aus dem einfachen relativischen Anschluß: qui si quiescat (sc. Marcion) richtig zu erraten. Vom unsicheren Schein des Zwielichts wird aber nicht nur das Subjekt in Zeile 40 erfaßt, sondern auch das Objekt monentem. Stam ergänzt: "monentem sc. me" und verweist auf die didaktische Aufgabe christlicher Poesie. Palla schließt sich an: "Se egli tace e non trascura i miei avvertimenti ..."51. Ganz abgesehen davon, daß der Bezug auf die Person des Autors kaum verständlich wäre, weil doch die Bibel figürlich ausgelegt wird und der Mahnende dort Gott ist (vgl. V. 10), wäre er auch anmaßend, ja lästerlich, weil der Dichter nun einmal nicht - Didaktik hin, Didaktik her - in die Rolle Gottes schlüpfen darf. Aber die von den beiden modernen Kommentatoren vertretene Auffassung ist alt, sie findet sich schon bei Chamillard52. Die Annahme, Cain alias Marcion könne zu guter Letzt doch noch die Mahnung Gottes beherzigen, die nach Aussage der Hl.Schrift nicht befolgt ward, schien den Erklärern wohl gar zu seltsam, und so hielten sie es für glaubwürdiger, wenn der Poet selbst sich als ständigen Mahner präsentiere. Hier rühren wir nun aber an die eigentliche, tiefer liegende Schwierigkeit. Eine Ahnung davon meldet sich wiederum bei Herzog: "Aber in der ekklesiologischen Sphäre der Verse 40ff. wird eine Tötung 'Abels', der rechtgläubigen Gemeinde, absurd - die katholische Kir-

50 Herzog 124. Im Grunde schillert auch germanitas, weil die Verschwisterung von Leib und Seele (vgl. 56. 63), also die anthropologische Ebene, auf der β steht, nicht in eindeutiger, zwingender Weise überschritten wird. 51 Stam 130 zu V. 40; Palla 41. Die Hervorhebungen im Druck stammen von mir. 52 Chamillard 394 in der Prosaparaphrase des Texts: "quod si Marcion audiat quiete, et credat m i h i monenti" ... usw.

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che hat Marcion längst überwunden. Prudentius hat im Schlußteil der Praefatio (V. 47/63) einen Ausweg gefunden, der mit seiner psychischen Deutung die unverkennbare Prägung seines Geistes trägt"53. Die Falten, die das dichterische Gewebe wirft, nachdem ihm der grobe Flicken aufgesetzt wurde, sind hier ertastet und erfühlt, wenn auch nicht voll begriffen, und da die einzig mögliche Remedur ganz außerhalb des Gesichtskreises dieses Interpreten lag, mußte notwendig zu Lasten des Dichters gehen, was Fälschung und Überlieferung gemeinsam verschuldeten: der Dichter soll wie ein schlechter Romancier, der am Anfang noch nicht weiß, welchen Schluß er setzen will, den Brudermord zwar zum Höhepunkt des Geschehens gewählt haben, dann aber mit der einen Deutung (α) in eine Sackgasse geraten sein und mit der anderen (ß) schließlich einen "Ausweg" gefunden haben. Richtig daran ist, daß die friedliche Lösung, die der Interpolator betulich herbeiwünscht (qui si quiescat ... eqs.), weder zum Entwurf des Geschehens stimmt noch zu seiner Erklärung durch den Dichter und daß infolgedessen auch die entschlossene Ankündigung: agnosco nempe ... quis fratricida, quis peremptor invidus ... eqs. (32ff.) in der Marcion-Fassung (α) nicht mit gleicher Entschiedenheit erfüllt, vielmehr abgeschwächt und teilweise zurückgenommen wird. Vielleicht erachtete es der falsche Prudentius tatsächlich für unpassend, den Brudermord auf der kirchlichen Ebene, die er beschritt, mit der vollen Konsequenz sich wiederholen zu lassen, und ersetzte darum das furchtbare Ende durch einen freundlichen Ausblick. Jedenfalls entfernte er sich damit ebenso von den Tatsachen des biblischen Berichts wie von dem erzählerischen Grundmuster des bearbeiteten Texts, und noch ehe recht erklärt wurde, worin nun Marcions Brudermord bestehe, hören wir schon, wie er zu vermeiden wäre. Das Fundament jeder Analogie droht so zu zerbrechen. Die Könige, die Loth gefangen nahmen, deuten auf die Laster, die den Menschen versklaven: das erklärt Prudentius in der Praefatio zur Psychomachie. Es mag andere Erklärungen geben: aber was für einen Sinn hätte es, Betrachtungen darüber anzustellen, was passiert wäre, wenn die Könige Loth n i c h t gefangen ge-

53 Herzog 124. Bezeichnend, wie Ambrosius dort sich ausdrückt, wo er Gottes Wort an Cain (Gen. 4,7) auf alle Häresien bezieht: quae ... quadam nuncupativa fidei germanitate pairicidalibus gladiis nos cupiunt vulnerare (incarn. 2, 12: CSEL 79, 229). Auf dieser Sinnstufe vermag auch Ambrosius keinen vollendeten Mord zu erkennen, sondern nur eine Verwundung bzw. den Wunsch zu verwunden, wozu man Prud. psych. 689/93: die Verwundung .der Concordia durch die Discordia cognomento Heresis, vergleichen kann. Aber innerhalb des allegorischen Gefuges der Praefatio gefährdet solcher Gedanke das Ganze.

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nommen hätten? Die Schlange, die den Apostel Paulus auf Malta biß, bezeichnet den heimtückischen Angriff, den der Redner Symmachus gegen das Christentum unternahm (c. Symm. 1 praef.). Man mag diese Exegese billigen oder ablehnen, müßig jedoch, ja unsinnig wären Spekulationen auf der Grundlage des Gegenteils, welche die Tatsachen leugnen: wenn die Schlange n i c h t beißt, schweigt Symmachus. Die Schlange hat gebissen und Symmachus hat seine Relatio vorgebracht! Und ebenso: Cain hat nicht Ruhe gegeben, sondern hat Abel erschlagen. Wenn die Hl. Schrift dem gläubigen Erklärer Vorzeichnungen liefern soll, deren Umrisse auf spätere Geschehnisse weisen, dann dürfen die Linien der Skizze im ausgeführten Bilde nicht verwischt werden, sie müssen hier vielmehr erst recht kräftig hervortreten. Der echte Dichter arbeitet den Entwurf sorgsam aus, der Fälscher durchkreuzt ihn mit Erwägungen, die den vorgegebenen Sachverhalt auf den Kopf stellen: Cain ist Marcion, wenn aber Marcion Ruhe gibt (40: qui si quiescat), bleibt alles in schönster Ordnung, und der Brudermord findet nicht statt. Wer das lichte Bild brüderlicher Eintracht nach biblischer Maßgabe malen will, der muß nach einem anderen Typos Ausschau halten, Cains düstere Gestalt taugt dazu nimmermehr. Der Fälscher empfand das Bedürfnis, eine pastorale Ermahnung mit der Geschichte von Cain und Abel zu verbinden, und fiel kläglich aus der Rolle. Die Idee zu solcher Abschweifung dürfte ihm aus dem echten Text aufgestiegen sein, aus der knappen Angabe: Cain ... unitat i s invidus in der ersten ß-Zeile (48). Ausgeführt hat er sie mit Hilfe der Daten des schildernden Teils: Cain, quiesce (II)-qui si quiescat (40); germana ... colla (16) - germanitas (41); deumque rerum mortuarum deputans (29) unum atque vivumfassa vivorum deum (42). Der letzte Vers wendet die entsprechende Vorgabe des authentischen Texts ins Positive, wobei aus dem echten Vers 29 der Bezug auf das Herrenwort Mt. 22, 32: non est deus mortuorum, sed viventium herausgefühlt und zu pathetischem Ausdruck übersteigert wurde.

43 hic se caduco dedicans mysterio. 43a hic qui caduci rem laboris offerens. Eben noch wurde mit der Möglichkeit gerechnet, Marcion könne den Mahnungen zur Eintracht folgen (40: qui si quiescat ... eqs.), nun wird diese hoffnungsvolle Aussicht plötzlich aufgegeben, so als bestehe sie gar nicht und

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habe sie niemals bestanden: Marcion übt einfach sein böses Geschäft. Und weshalb die Irrlehre Marcions, die doch auf Verblendung (ham. Iff.) und Torheit (harn. 58ff.) zurückzuführen ist, ein Mysterium sein soll, ist rätselhaft, die Junktur caduco ... mysterio dunkel. Prudentius geht mit dem Wort mysterium sorgsam um. Er gebraucht es von der christlichen Lehre bzw. von den Sakramenten, im ironischen Sinne auch von heidnischer Religion, aber nur im Romanushymnus, innerhalb des Rededuells zwischen Märtyrer und Präfekt, wo durch den Gegensatz der ernste, tiefe Anspruch des christlichen Mysteriums hervorgehoben wird54. Ebenso steht es mit dem Gebrauch des Adjektivs mysticus beim echten Prudentius55. Dagegen entsprang der Ausdruck: per mystica tela, mit dem der Verfasser der Verse c. Symm. 1,395/ 99 die Wirkung des Unheimlichen zu steigern suchte (vgl. oben S. 272/81), derselben trüben Phantasie, die auch hier am Werke war. Der Interpolator hätte im übrigen kaum einen Gegenstand finden können, der die Bezeichnung mysterium weniger verdient als Marcions Lehre. Denn gerade Marc ion lehnte jede Mysterienweisheit, jede "Geheimnistuerei" (v. Harnack) ab, und sein Schöpfergott, auf den hier vielleicht dunkel angespielt wird, ist durch "profane Offenbarkeit" gekennzeichnet, "die kein Mysterium übrig läßt" (v. Harnack)56. Aber so weit hat der Fälscher überhaupt nicht gedacht. Aus dem echten Text ß, den er ja ersetzen wollte, griff er das Adjektiv heraus (vgl. 51: caduci corporis) und bildete die ebenso obskure wie hochtrabende Wendung caduco... mysterio. Man empfindet eine gewisse Sympathie mit dem späteren Flickschuster, dem solche Trübheit unergründlich schien und der sich deswegen aus V. 43 und V. 38 einen Ersatzvers zusammenleimte (43a): 43 hic se caduco 43a hic qui caduci 38 contaminatae

dedicans mysterio rem laboris offerens dona carnis offerens.

Zurückgeschaut hat er wohl darüberhinaus auf V. 3: sistunt ad aram de laborumfructibus (gleiche Versstelle!), so daß die ganze Zeile 43a ein merkenswertes 54 Mysterium (mysteria) christlich: apoth. 290; cath. 7, 6; per. 10, 589; 13, 91; tituli 188; heidnisch, in ironischem bzw. abfälligem Sinn: per. 10, 168; 217. Umgekehrt nennt der Präfekt den Diakon Laurentius mysteriarches: per. 2, 350. 55 Mysticus christlich: cath. 3, 28; 5, 108; psych, praef. 58; psych. 372. 664; per. 5, 186; 6, 29; 10, 646; im polemischen Sinne wieder nur per. 10, 251 (vanitatis mysticae) und 1063 (ius putatur mysticum). 56 Harnack 146f.; 102; vgl. 93. 175.

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Beispiel für das plagiierende Verfahren der Interpolatoren bildet, das sich hier auf das unechte wie auf das echte Textgut der Umgebung erstreckte57. Der Vers ist handschriftlich stärker bezeugt als die Ausgaben ahnen lassen. Bergman hat in der Wiener Akademie-Abhandlung seine Karten bezüglich dieser Interpolation aufgedeckt, und aus seiner Übersicht ergibt sich, daß zwanzig der insgesamt zweiundsechzig (älteren) Handschriften den Vers 43a im Haupttext führen, teils an der Spitze verstümmelt, mit bloßem qui statt hie qui, teils in der metrisch korrekten, vollständigen Form. In vier weiteren Codices erscheint er am Rande bzw. im Zeilenzwischenraum58. Auch das bekannte Phänomen, daß durch offensichtliche Dubletten sogar die ursprüngliche Fassung in ihrem Fortbestand gefährdet werden kann, läßt sich hier in Ansätzen beobachten: in einem Codex hat sich nur V. 43a im Text behauptet, in einem anderen, im Sangallensis S, wurden beide Verse zunächst ausgelassen und erst am Rande von verschiedenen Händen nachgetragen59. Cunningham, der keine Gelegenheit ausläßt, von den wahren Absichten der Redaktoren abzulenken, sieht in V. 43a eine "Parallele", die das Adjektiv caducus "illustrieren" solle - als ob es dieses harmlose Element der Sprache sei, das einer Verdeutlichung bedürfe! - und in der Reinform des Versbeginns hie qui "a correction metri causa" 60 . Davon kann nun freilich keine Rede sein: qui ist, wie gesagt, bloß sekundäre Entstellung. Man sieht auf den ersten Blick, daß sich die Konstruktion der Sätze in den Versen 43/47 verändert, je nachdem, ob V. 43 oder V. 43a (hie qui) vorausgeht, und es bedarf keines Scharfsinns, den Grund der Maßnahme zu durchschauen:

57 Otto Friedrich Gruppe, Minos. Über die Interpolationen in den römischen Dichtern, Leipzig 1859,539f.: "Endlich bleibt noch in vorzüglichem Grade die an vielen Stellen hervortretende Erscheinung beachtenswerth, daß Interpolationen sich über einander häufen, daß neben den ersten Einschub sich ein zweiter, wohl gar dritter stellt, oder daß die Interpolation selbst wiederum interpoliert wird, bald in gleicher, bald in abweichender Art". Diese Erkenntnisse bleiben wahr, unabhängig davon, ob derjenige, der sie aussprach, sie stets glücklich anwandte. Vgl. im übrigen oben S. 273f. zu Prud. c. Symm. 1, [397] und S. 308 zu V. [37] unseres Gedichts. 58 Bergman, De codicum virtute 30/32. 59 V. 43 fehlt im Guelferb. Weiss. 77: Bergman, De codicum virtute 32. Daß im Sangallensis 136 ( = S in den Ausgaben) b e i d e Verse: 43 und 43a, am Rande nachgetragen wurden, teilt Cunningham (Ausgabe: CCL126,117) mit. Umgekehrt führt der Bernensis 264 ( = U) beide Verse im Haupttext, was man wiederum nur in Bergmans Ausgabe erfährt (CSEL 61, 128, im Apparat). 60 Maurice P. Cunningham, The problem of interpolation in the textual tradition of Prudentius: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 99 (1968) 119/141, hier 136.

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hic se caduco dedicans mysterio summam profanus dividit substantiam malum bonumque ceu duorum separans regnum deorum sceptra committit duo deum esse credens, quem fatetur pessimum.

Hier herrscht die Parataxe. Die beiden Sätze (dividit, committit) treten asyndetisch zusammen, aber die Satzfuge wird durch die vorgeschaltete Partizipialkonstruktion in V. 45f. (separans) verwischt. Die Herausgeber außer Bergman, der die Binnengliederung nicht durch Satzzeichen unterstützt, setzen leichte Interpunktion nach separans, aber es ist das eben doch nur ein graphisches Hilfsmittel, das den Mangel in der rhetorischen Durchbildung nicht wettmachen kann. Hier wollte der spätere Bearbeiter Ordnung schaffen; mit dem Streben, den schwierigen Ausdruck caduco ... mysterio los zu werden, verband er eine weiterreichende Absicht: 43a 45

hic, qui caduci rem laboris offerens summam profanus dividit substantiam, malum bonumque ceu duorum separans regnum deorum sceptra committit duo deum esse credens, quem fatetur pessimum.

Aus der Parataxe zweier Sätze wird durch den Relativsatz eine einzige Periode gebildet, das Prädikat dividit in den Nebensatz gestellt, der richtige Bezug des Partizips separans erleichtert - das alles freilich um den Preis der lästigen Wiederholung des Partizips offerens (38 und 43a, jeweils am Versende). Überhaupt zeigt das ganze Falsifikat α durch die Häufung des Partizips Präsens: offerens, colens, monentem, dedicans (bzw.wieder offerens), separans, credens (dazu noch fassa, 42) einerseits den Anschluß an die Diktion des Dichters - vgl. discrepantes (6), senescentem (18), petens (24), deferens, deputans (28f.), viventis (31 ),fundens (54), madens (59), denegans (62) - , andrerseits deren unschöne Übertreibung, weil sich die dichte Folge dieser Formen in V. 38. 39.40. (42). 43.45. 47, zumal nach den schon voraufgehenden Partizipien in V. 28. 29. 31, aufdringlich bemerkbar macht. In der echten Fassung β vergehen erst sechs ganze Trimeter, bevor der Dichter in V. 54. 59 und 62 erneut zu diesem Mittel greift. Der ausufernde Gebrauch, den der Interpolator vom präsentischen Partizip macht, erinnert an den verkorksten

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Stil des schrulligen Severus episcopus61. 44 summam profanus dividit substantiam 45 malum bonumque ceu duorum separans regnum deorum sceptra committit duo deum esse credens quem fatetur pessimum. Der Vorwurf der 'Teilung' Gottes (44) ist aus β herübergenommen (60f.)· Aber beim Dichter bildet die dualistische Verirrung einen Akt innerhalb eines zusammenhängenden Geschehens, das mit dem Angriff des Fleisches beginnt und mit dem Tod der Seele endet (56/63). Der Poetaster hat die Idee der dramatischen Entwicklung aufgegeben und nur einen trockenen Lehrsatz ausgezogen. Die geschlossene Gedankenbewegung nachzuahmen war ihm ja auch durchaus unmöglich, da er den tragischen Höhepunkt, Tod und Triumph, verschwiegen und durch seine salbadernde Betrachtung (40/42) ersetzt hatte. So bleibt vom ganzen Drama nicht einmal eine dürre Hypothesis übrig. Denn V. 44 kann dafür nicht gelten. Stattdessen fügt der Verfasser weitere Mitteilungen an, die er teils aus der Praefatio, besonders ß, teils aus dem Hauptgedicht zusammenträgt, und mit den Gedanken liest er auch Wörter auf: summam ... substantiam (44) - deos... summos (ham. 16), summapotestas (ham. 20; vgl. 21. 22. 24), una ... substantia (ham. 78); dividit (44) - dividas (12), dividat (34), divisor (ham. 2): man halte die erlesene Variation im echten Schlußstück β (60f.) daneben: find.it, audet secare, dazu ham. 66 scinderet, und man wird in diesem Detail den Unterschied zwischen Dichterling und Dichter leicht erkennen! malum bonumque (45) - boni atque mali (ham. 8); duorum ... deorum (45f.) - duos deos (60); separans (45) - separat (ham. 19); regnum (45) - regnare (ham. 7. 18. 46), reges (ham. 10), regno (ham. 66); sceptra (46) - sceptris (ham. 107); committit (46) - commisit (ham. 568). Aber zu klarem Bau hat er das erbeutete Material nicht gefügt. Committit weckt Zweifel. Palla übersetzt: "assegna due scettri", für das Gleiche entschieden sich Stam, Lavarenne, Guillen62. Doch bei solcher Bedeutung vermißt man einen Dativ, vgl. Prud. c. Symm. 1,378: (ut sensus se)potestati commit-

61 Ein Beispiel dort: die Versreihe 9, 125/28; im allgemeinen dazu Severus episcopus 179 (Schetter). 62 Palla 41; Stam 59; Lavarenne 2, 42; Guillen 247.

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tant noctis opertae; 2,1024: semina cum sulcis committitis. Thomson versteht daher committere anders: "(This man) matches two ruling powers against each other"63. Also sceptra committere wie acies committere. Dafür könnte eben der beigezogene Vers aus dem Hauptgedicht sprechen: (Abessalon) unius commisit sanguinis arma (ham. 568). Aber arma committere ist ohne weiteres verständlich, sceptra committere nicht; denn man kreuzt die Waffen, nicht die Szepter. Eine Unsicherheit bleibt folglich. Und nun erst die partizipiale Konstruktion: Malumbonumqueceuduorumseparans Regnum deorum(45f.)! Wenigstens den Plural regna sollte man doch erwarten, der auch tatsächlich in den Handschriften auftaucht (im Bernensis U, als Variante von zweiter Hand im Sangallensis S notiert). Der Interpolator gäbe sich allerdings in diesem Fall durch die Prosodie regnä ebenso zu erkennen wie im anderen durch den unbeholfenen Ausdruck für die Idee zweier getrennter Reiche des Guten und des Bösen. Lustlos stolpert er schließlich auf seinem falschen Pegasus dem Ende entgegen: Vers 47 wirkt prosaisch, die Wiederholung fatetur nach fassa (42) ärmlich.

III. praef. 48/63 = β Dieses Stück, ausgezeichnet durch Originalität in Wort und Gedanke, durch äußere und innere Geschlossenheit, hebt sich von dem Falsifikat α so deutlich ab, ist andrerseits aufgrund inhaltlicher Überschneidungen als bloße Fortsetzung der voraufgehenden Versreihe so befremdlich, daß es wunder nimmt, wie man die Abfolge der beiden Gedichtschlüsse bisher unbeanstandet hat ertragen können, zumal die Bruchkante zwischen den alternativen Fassungen in voller Schärfe erhalten ist. Denn die Verse 48/55 sind syntaktisch nicht selbständig. Sie bilden keinen Satz, und die Nominative in V. 48f.: Cain cruentus ... eqs. gestatten es nicht, das Ganze als Anrede aufzufassen. Die ßFassung, von ihrem natürlichen Verbund mit dem echten Text gelöst, liegt da wie ein erratischer Block. Die syntaktische Unsicherheit, die er hervorruft, zeigt sich in der Interpunktion der Ausgaben64. Das sechzehnte Jahrhundert,

63 Thomson 1,203. 64 Von den alten Ausgaben, die Dressel p. XXV-XLVI aufführt, sah ich folgende: Venedig 1501 (Aldina), Antwerpen 1540, Basel 1540, Antwerpen 1546, Lyon 1553, Basel 1562, Paris 1562 (Giselinus), Antwerpen 1564 (Giselinus-Pulmannus), Cagliari 1574, Köln 1594, Hanau

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das siebzehnte und das achtzehnte setzen fast einhellig Komma nach V. 47, das neunzehnte und das zwanzigste - Guillen ausgenommen - Punkt. Aber weder so noch so ist das Resultat befriedigend. Der Versuch, die Reihe der Nominative 48f. und damit das ganze achtzeilige Stück 48/55 samt seinen Relativsätzen als Apposition zu hic (43) zu ziehen, mutet uns ein kaum durchschaubares Gebilde zu, in dem die Worte wie endlos weiterwuchern. Verständlich, daß die neueren Editoren seit Obbarius (1845) durch schwere Interpunktion nach pessimum (47) Luft schaffen wollen, aber wie man das abgetrennte Stück dann grammatisch aufzufassen habe, erfährt man nicht, auch nicht von den beiden Kommentatoren Stam und Palla. In Wahrheit erteilen die Verse 48ff. die Antwort auf die indirekten Wortfragen 32ff., und ihre geschachtelte Konstruktion wird innerlich belebt durch die Spannung, welche die eindringlichen Fragen erzeugen: weil sie Antwort ist, die Lösung bringt, die Hauptsache einführt, deswegen empfindet man keine Stauung und kein Hemmnis, wenn die Erklärung des Dichters in weitem Bogen acht Trimeter überwölbt (48/55) und, Zug um Zug allmählich sich entfaltend, schließlich zum erstrebten Ende findet (55). Die gesamte Exegese β ( = 48/63) ist in zwei Hälften zu je acht Versen geteilt: in der ersten (48/55) wird in der Form der Antwort die Analogie Cain gleich caro entwickelt und auch der Brudermord schon gedeutet (55); in der zweiten (56/63) wird der Vorgang der Tötung genauer beschrieben, und mit dem Vorwurf der 'falschen Teilung' so verbunden, daß der häretische Dualismus als Todesursache erscheint. Die Strukturanalyse, heute oft bis zum Exzeß getrieben, ist in Anwendung auf dieses Stück antiker Poesie richtig und wichtig: seine große Gliederung , die in sich wiederum feinere Symmetrien birgt (s. unten S. 332), wird durch das Wort caro an der Spitze der zweiten Hälfte (56) hervorgehoben, der Name Cain zu Beginn des ersten (48) und des letzten Verses (63) rahmt das Stück. In berechneter Placierung und absichtsvoller Assonanz treten so diejenigen Wörter hervor, welche die ganze Deu-

1613 (Weitz), Amsterdam 1625, Amsterdam 1667 (N. Heinsius), Paris 1687 (Chamillard), Köln 1701, Halle 1703 (Cellarius), Parma 1788 (Teoli), Rom 1788/89 (Arevalo). Nur Cellarius setzt schwere Interpunktion nach V. 47 (pessimum), die Aldina und die Ausgabe Cagliari 1574, die den Text der Aldina wiederholt, verzichten auf jegliches Satzzeichen an dieser Stelle, so daß der Text von V. 43 hic bis V. 50 sapit ohne Interpunktion fortläuft. Da sonst überall leichte Interpunktion nach V. 47 erscheint, hielt ich die obige Verallgemeinerung für berechtigt. Ich benützte diese Ausgaben teils in Rom (Bibliotheca Vaticana bzw. Angelica), teils in Bonn (Universitätsbibliothek); einige besitze ich selbst.

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tung tragen, ja die, zusammengerückt, wie in einer Kurzformel die Exegese einprägen: Cain (48) - caro (56) - Cain (63). Daß dieser die Erklärung stützende Gleichklang gesucht ist, mithin die Composition der Versreihe 48ff. sorgsamer Formung entspringt, bestätigt das Bildepigramm De Abel et Cain (ditt. 2 = tituli 5/8), in dem überhaupt die Grundzüge unserer Partie (ß) wiederkehren: 5

fratrum sacra deus nutu distante duorum aestimat accipiens viva et terrena refutans. rusticus invidia pastorem sternit: in Abel forma animae exprimitur, caro nostra in munere Cain.

Freilich ist hier alles dem knappen Stil des Epigramms angepaßt, aber es handelt sich eben doch um die epigrammatische Version derselben Exegese. Die durch den Chiasmus geschärfte Antithese: accipiens viva et terrena refutans (sc. deus) sammelt das Licht auf die unterschiedliche Art der Gaben und bereitet, wie in der Hamartigenie (praef. 5), die Deutung vor; das Neidmotiv ist auch hier festgehalten, und die Exposition des Geschehens wird wieder gerade so weit getrieben, daß sie den Brudermord noch erfaßt; so ist klargestellt, auch wenn hier keine weitere Ausführung folgt, daß sich die schlimme Tat auf der anthropologischen Ebene der Deutung wiederholt, die Deutung selbst wird diesmal sogar durch doppelte Alliteration: Abel - anima, caro - Cain untermalt. Eine unscheinbare Einzelheit verdient besondere Beachtung: die Analogie, die ja eigentlich bei den verschiedenen G a b e n der beiden Brüder ansetzt (vgl. 6: viva et terrena), wird sachte auch auf die P e r s o n e n der Opfernden ausgedehnt, so daß nicht nur Lamm und Feldfrucht, sondern auch Abel und Cain selbst als Sinnbilder der Seele und des Leibes erscheinen. Im Epigramm wird das bloß durch leichte Abwandlung der Formulierung ausgedrückt: in Abel (!)... exprimitur, ... in munere (!) Cain. Aber an den Versen der Hamartigenie (praef. 48/55) läßt sich beobachten, wie Prudentius darauf hingearbeitet hat, den Sinn des biblischen Vorbilds in solche Richtung zu erweitern. Denn ohne diese Dehnung und Weitung wäre es ihm nicht möglich gewesen, den Brudermord zum Seelenmord zu machen. Und gerade in der ganzheitlichen Auffassung des symbolischen Charakters der biblischen Erzählung liegt die Eigenständigkeit beschlossen, die man der in β vorgetragenen Exegese seit jeher nachgerühmt hat. Mit vollem Recht stellt Herzog fest (vgl. oben S. 313), Prudentius' Deutung in diesen Versen trage "die unver-

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kennbare Prägung seines Geistes". Der Widerstreit von Leib und Seele klingt wie ein Leitthema durch die prudentianische Poesie, im geistlichen Epos vom Seelenkampf tritt die Grundmelodie beherrschend hervor, und auch dort werden die Fanfarenstöße des Sieges von bänglichen Lauten begleitet. Hier aber, in dem iambischen Gedicht, tönt jedes Kolon wie ein dumpfer Paukenschlag, in doppeltem Crescendo zuerst von V. 48 bis V. 55, dann von V. 56 zu V. 63, schwellen die Takte unheimlich an. Die tödliche Gefahr der Niederlage, allzeit gegenwärtig, ist hier als vollendete Tatsache geschaut und gestaltet. Zu solcher Auffassung des biblischen Ereignisses regten den Dichter gewiß zu allererst die Gewohnheiten des eigenen Denkens an. Da er die enge Verbindung der duplex substantia des Menschen auch andernorts (apoth. 827/29) im Bilde der Verschwisterung vorstellt65, ist es ohne weiteres begreiflich, daß ihm der Brudermord Cains durchsichtig wurde auf jene Wirklichkeit hin, die er stets vor Augen hatte. Aber weitere Anstöße gab ihm sicher Ambrosius, der wiederum Philons Exegesen verarbeitet. Bei Ambrosius konnte er nicht nur die Erklärung finden, Cains Schuld habe darin bestanden, daß er Unbelebtes opferte statt Lebendiges: auch die Zuordnung der Gaben Cains und Abels zu Leib und Seele des Menschen war hier vorgebildet66. Vor allem aber hatte schon Ambrosius die 'falsche Teilung' der Gaben zu den Häresien in Beziehung gesetzt. Gottes Worte an Cain: si recte ojferas, recte autem non dividas, peccasti; quiesce! (Gen. 4,7 VL bei Ambrosius) gelten über die Zeiten hinweg allen Häretikern und Schismatikern, lehrt Ambrosius; denn sie alle teilen nicht recht. Und ausdrücklich nennt er die Anhänger der dualistischen

65 Duplex substantia·, psych. 909, dazu Gnilka, Studien 1/8. 66 Für Philon (sacr. 70/74: 1, 232 Cohn) und für Ambrosius (Cain et Ab. 1, 10, 41: CSEL 32, 373) liegt eine Schuld Cains darin, daß er nicht "von den ersten Früchten" opferte. Ambrosius versteht aber darunter - anders als Philon (vgl. Hans Leisegang in der deutschen Philonausgabe 3, Berlin 19622, 244 1 ) - die primitiae animae (animi) im Gegensatz zu denprimitiae corporis·. Cain brachte Gaben des Körpers dar, nicht, wie Abel, Gaben der Seele. Mit dieser Exegese, die von der Qualität der Gaben ausgeht (373, Z. 10: non aprimis fructibusprimitias deo, sc. optulit Cain) verbindet Ambrosius das crimen, das in der Art der Gaben zum Ausdruck kommt (373, Z. 2Iff.): accedit ergo quia de primitivis ovium et adipibus earum (sc. optulit Abel). considera quia non de insensibilibus, sed de animantibus optulit. plus est enim animalis quam terrenus ... eqs. Bei Philon folgt dieser Gesichtspunkt erst später (sacr.88: 1, 239 Cohn): "Αβελ δέ ήνεγκεν ... άντΐ μέν άψύχων έμψυχα. Ambrosius hat also die beiden exegetischen Ansätze auf dasselbe Ziel hin verfolgt: anima (animalis), opp. corpus (terrenus). In dieser Richtung ist Prudentius weiter gegangen, indem er die Deutung von den Gaben auf die Personen und damit auf den Brudermord übertrug. Immerhin klingt auch bei Ambr. paenit. 2, 104 (CSEL 73, 204) in Zusammenhang mit Gen. 4, 7 (peccasti? requiesce) das Thema des Kampfs zwischen mens und caro an.

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Irrlehren des Sabellius, Marcion, Mani usw.67. Von daher also, aus einer Predigt des Bischofs von Mailand, mag Prudentius einen Grundgedanken seiner Exegese empfangen haben6*, daß die lästerliche Lehre von der Existenz zweier Götter in jenem Wort Gottes an Cain im Voraus bezeichnet und verurteilt wurde: generalis haec enim in impios omnes sententia est69. Aber alle diese Vorgaben miteinander verbunden und zum Akt des geistlichen Brudermords zusammengefügt zu haben, das ist des Dichters ureigene Leistung. Und das gestalterische Prinzip, mittels dessen er die Teile zum Ganzen eint, ist, wie schon bemerkt, das einer assoziativen Reihung der Glieder. Sie prägt den ersten, antwortenden Abschnitt (48/55); im zweiten (56/63) wird sie von einer raschen Handlungsfolge abgelöst. Man muß genau zusehen, um das Gleiten der Gedanken recht zu verfolgen:

48 Cain cruentus, unitatis invidus, mundi colonus, immolator squalidus. Man erwartet eine Antwort auf die Frage, wer Cain sei, und erhält die Auskunft: Cain cruentus ... eqs. Der Name kommt also überraschend, und sicherlich lag für den Redaktor hier ein Anstoß; er wollte durch seine Ersatzfassung (α) die scheinbare Tautologie beseitigen, Marcion an die Stelle Cains setzen und damit das Verständnis erleichtern. Aber aus der παρά προσδοκίαν an erfolgenden Namensnennung wird hier absichtsvoll ein Funke geschlagen. Man begreift sofort, daß der Name jetzt nicht mehr Individualname sein kann (wie in V. 11: Cain, quiesce... eqs.), sondern in einem appellativischen Sinne stehen muß. Wie nun die appellativische Verwendung eines Namens gewöhnlich durch 'Signale' gekennzeichnet und vor Mißverständnissen geschützt

67 Ambr. incarn. 1, 5/2, 12 (CSEL 79, 227/29). Über den Anlaß der Homilie berichtet Paul. Med. vita Ambr. 18; vgl. Otto Faller: CSEL 79, proleg. p.45748*. Aber schon im Judasbrief lautet der Weheruf über die Irrlehrer: Vaeillis, quoniam in via Cainabierunt! (lud. 11). 68 So auch Palla 128f. 69 Ambr. incarn. 2, 6 (CSEL 79, 227). Vgl. Hans Martin von Erfa, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Quellen 1, München 1989, 346ff. zu Cain und Abel, 362 zu Cain als "Urbild des Ketzers". Es entsteht dort freilich der Eindruck, als sei dies eine Anschauung erst des Mittelalters. Prud. ham. wird zwar unter den Belegen aufgeführt, aber nicht als solcher wirklich erfaßt; Zitat und Übersetzung der ersten Worte des Hauptgedichts sind fehlerhaft.

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wird™, so stützt auch Prudentius hier die Bedeutung des Eigennamens, aber nicht bloß durch ein Adjektiv o.dgl., sondern durch eine dichte Folge von Gliedern und Sätzen, die den Sinn des Namens schrittweise enthüllen. Gesichert ist dieser Sinn durch die ausdrückliche Feststellung des Schlußverses (63), bekräftigt durch die gesuchte Assonanz Cain - caro - Cain (48. 56. 63): aber der Dichter hat es, einem darstellerischen Prinzip seiner allegorischen Dichtkunst folgend (vgl. oben S. 301), vorgezogen, diese Bedeutung, statt sie sofort in der Art einer Gleichung zu präsentieren, auf dem Wege der Beschreibung zwanglos und doch überzeugend allmählich zur Anschauung zu bringen. Diesen Gedankenbogen des Dichters mitzumachen, bedarf es einer gewissen Anpassungsfähigkeit. Schon die beiden ersten Kola in V. 48 lassen eine leichte Verschiebung des Sinnes ins Allgemeine, Überpersönliche ahnen. Die Aussage: unitatis invidus wird man zunächst auf den Bruch der brüderlichen Eintracht beziehen, von den späteren Versen 60ff. her rückschauend erkennt man darin auch einen Hinweis auf die Sünde der Gottesteilung71. Auffällig ist die Wiederholung des Worts invidus am Versende (vgl. 33: peremptor invidus), die sich nach Ausscheidung des Versblocks α stark bemerkbar macht72. Gleiches Wort im Versschluß begegnet sonst nirgends im ganzen Gedicht, und gerade in dem deutenden Teil β beobachtet Prudentius eine feine Variation hinsichtlich der Wortwahl (vgl. etwa 50: litamen, im Wechsel zu 28: libamina-, 60: findit gegenüber 34: dividat). Nur wenige Grundwörter aus der voraufgehenden Partie nimmt er hier wieder auf (terra, crimen, mors, frater), aber nirgendwo sonst tritt eine Gleichheit derart vernehmlich hervor. Elegant antwortet cadit (62) auf die Frage nach dem fratricida (33); peremptor (19. 33) klingt in perempta (62) wieder an, aber der Gleichklang ist durch die andere Wortart und die andere Versstelle sehr gemildert. Was daher im überlieferten Textzustand als pure Nachlässigkeit gelten

70 Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik 1, Stuttgart 19903, S. 301f., § 581. Die Ausdrücke "Aktualisierungsattribut", "aktualisierendes Signal" erscheinen freilich in Anwendung auf Fälle wie den unseren nicht glücklich. Prudentius mißt übrigens Cain spondeisch, wie die Verse ham. 1 und tituli 8 zeigen, also auch mit langer erster Silbe, die bei anderen Dichtern kurz sein kann; s. ThLL Onomasticon C 61, 13/22. 71 Solchen Doppelsinn nimmt auch Palla 133 zu V. 48 an, der im übrigen zu unitas auf H616ne Petr6, Caritas, Louvain 1948, 322/26; 332/40 und Braun (wie Anm. 30) 142/51 verweist. 72 Zu invidus, substantivisch und mit Genitiv gebraucht, vgl. etwa Cie. Flacc. 2: sed si forte aliquando aut beneficii huius obtrectator aut virtutis hostis aut laudis invidus exstitisset... eqs.

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müßte, erscheint nach dem Zusammenrücken der Verse 31/35 und 48ff. als sinnfällige Klammer zwischen (indirekter) Frage und Antwort. Prudentius hat hier einmal zu dem Mittel gegriffen, durch den gleichen Versschluß invidus | (33) ... invidus | (48) einen wichtigen Begriff, den gemeinsamen Beweggrund des Handelns, hervorzuheben73. Denn das Neidmotiv bildet einen wesentlichen Bestandteil der prudentianischen Allegorie: es wird in der Erzählung eingeführt (15: aemulus) und später zweimal wieder aufgegriffen (31: aemulator; 33: invidus). Daher durfte es natürlich im deutenden Teil keinesfalls fehlen. Sogar im Epigramm hat der Dichter auf diese Psychologie nicht verzichtet: rusticus invidia pastorem sternit (tituli 7). Es macht folglich gerade einen der Vorzüge der Fassung β aus, daß sie in diesem Punkte dem Erfordernis der Entsprechung von Typos und Antitypos gerecht wird, während in der interpolierten Version α dieser charakteristische Zug verloren gegangen ist74. Das dritte Glied dieses zwei Zeilen füllenden Tetrakolons stößt entschiedener als die beiden ersten in Richtung des neuen Sinnes vor: mu η di colonus. Damit kann nicht mehr der historische, biblische Cain gemeint sein. Denn mundus steht hier für κόσμος, verstanden als Inbegriff dessen, was dem Christen fremd und feindlich ist, wie im Neuen Testament und auch sonst bei Prudentius75, und colonus, mit dem Genitivus obiectivus verbunden wie etwa runs colonus bei Horaz carm. 1, 35, 6, nimmt zwar variierend die Ausdrücke fossor (1), rusticus (27) wieder auf, gleitet aber deutlich zur geistlichen Ebene hinüber. So ist spätestens an der Spitze des zweiten Verses (49) Zeichen dafür gegeben, daß wir uns in einer Deutung des Geschehens befinden, nicht in einer Wiederholung, daß Cain (48) tatsächlich die erwartete Antwort einleitet, nicht eine tautologische Digression. Aber noch sind die Wendungen so gewählt, daß sie sich gleichsam in einem Schwebezustand halten 73 Als Beispiel des ζήλος erscheint Cain schon bei Clem. Rom. 1 ad Cor. 4, wo er eine entsprechende Exempla-Reihe eröffnet. 74 Invidus am Versende 48 wird also durch die Sache gesichert, außerdem wohl auch durch eine Reminiszenz bei Paul. Nol. carm. 17, 234 (CSEL 30, 92): Invidus Cain, redivivus Abel. Wer sich daher mit der Wiederholung desselben Worts in zwei dicht aufeinanderfolgenden Versschlüssen nicht abfinden und lieber mit Corruptel rechnen will, kann sie allenfalls in Vers 33 vermuten (peremptor impiusl Rainer Henke). Allerdings bildet sich durch Paronomasie bzw. Reim beiderseits des Verses 35 eine gewisse Assonanz zwischen den Zeilenschlüssen 33/34 (invidus-dividat) und 48/49 (invidus-squalidus), wie man sie auch in dem Paulinusvers vernimmt (invidus-redivivus). Es muß also dabei bleiben, daß die Wiederholung beabsichtigt ist. 75 Vgl. oben S. 152f. mit Anm. 48; ferner ham. 540. 548; psych. 587 u.ö. Pallas Notiz 133f.: "Mundus viene qui usato ormai nel senso di terra, orbis terrarum" trifft nicht.

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zwischen dem wörtlichen, historischen Sinn und dem geistlichen, überzeitlichen, und erst allmählich neigt die Waage sich zugunsten dieses neuen Gehalts, der immer schwerer ins Gewicht fällt, bis er schließlich alles äußere Geschehen eindeutig überwiegt. Das vierte Kolon: immolator squalidus eröffnet schon sachte die für die ganze Exegese entscheidende Gedankenbewegung: das Erdhafte der Gabe Cains soll auch auf ihn selbst übertragen werden, damit die Deutung des Opfers, die bei dem Begriff der Erde ansetzt (50/52), auch auf die Person des Opfernden sich erstrecken kann (53/55)76. Cain heißt darum "schmutzig" (squalidus) - wie seine Opfergabe (50: cuiuslitamen sordet):

50 cuius litamen sordet et terram sapit, terram caduci corporis, venam putrem, umore denso conglobatam et pulvere. Die Praesentia sordet, sapit (später: enecat, dirigit usw.) zeigen an, daß die historische Ebene verlassen ist: der Wechsel gegenüber den praeteritalen Formen in V. 20ff. (coepit, cessit, dissoluta est, perculit, finita est, coepit, notata est, ut... crederet) unterstreicht den Schritt zur allegorischen Sinnstufe und stützt und klärt die appellativische Funktion des Namens Cain. Die Anadiplose im Übergang von V. 50 zu V. 51 bildet das Mittel, die Bedeutung des Worts terra entscheidend zu erweitern: terram ... terram caduci corporis. Zum ersten Mal fällt ein Wort, das den Zielpunkt der Erklärung bezeichnet. Es kommt wie von ungefähr und selbstverständlich, noch in einem obliquen Casus, als Genitivus (definitivus) zu terra. Ähnlich steht carnis in V. 55: labe carnis. Aber nachdem die Bedeutungsentwicklung abgeschlossen, der Sinn von Glied zu Glied geschoben, der Gedanke von terra über corpus zu caro geführt ist, tritt der Hauptbegriff "Fleisch", personifiziert, als handelndes Subjekt an die Spitze des Verses und des Satzes: caro (56). Man sieht es gerade den drei Versen 50/52 an, wie der Dichter Zug um Zug auf sein Ziel hinarbeitet. Er wählt seine Wörter so, daß sie den Zusammenhang mit Feld und Feldarbeit wahren, auch wohl Elemente des erzählenden Teils wiederaufnehmen, zugleich aber Durchblicke auf Leib und Leiblichkeit des

76 Zu immolator vgl. cath. 12, 48: nati immolator unici: Abraham ist bekannt für das Opfer des einzigen Sohnes (für die Bereitschaft dazu). So weist auch immolator squalidus auf einen notorischen Charakter.

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Menschen eröffnen, und überall ist er bemüht, durch die beschreibenden Details die Wertung des Leibes, auf die es ihm hier ankommt, gewissermaßen anschaulich zu machen. Sordet (50) erinnert an die sordida rura etc.77, aber auch an die sordida foedera carnis, durch welche die Seele gebunden wird (Prud. apoth. 910)78. Der Ausdruck: (litamen) terram sapit (50) nimmt die insulsa terrae libamina (27) wieder auf, und die Apposition: terram caduci corporis (51) erklärt sie allegorisch (vgl. oben S. 301), den Sinn durch eine Alliteration schärfend, die der Dichter offenbar liebte (vgl. cath. 9,16: corporis ... caducl·, per. 6, 119f.: caducis ... corporibus). Der ersten Apposition folgt eine zweite: venam putrem (51). Auch sie bleibt im Bilde; denn es gibt nicht nur Adern des Leibes, sondern auch venae des Wassers, der Steine und der Ε r d e79, weshalb Prudentius andernorts das Wort metonymisch fur die Feuchtigkeit des Lehms gebrauchen kann, aus dem Gott den Menschen formte80. So steht vena hier gleichsam passend zu beiden Teilen der voraufgehenden Junktur {terram ... corporis), undputris fügt sich bestens zu dieser gesuchten Ambivalenz. Das Adjektiv puter (putris) kann in Verbindungen wie putris glaeba, putre solum bei Lucrez (5, 142) und Vergil (georg. 1, 44; 2, 204. 262f.) die "mürbe", d.h. fruchtbare, Erde bezeichnen und daher bei Prudentius wiederum den aus Lehm gebildeten Leib (apoth. 1026: putres ... artus), ohne daß eine scharf pejorative Nuance fühlbar würde; es kann aber auch das "faulige" Fleisch in Gegensatz zur Seele bringen: Corruptela putris nascentem (sc. animam) turbida carnis Concipit ac membris tabentibus interfusam Participat de faece sua ... eqs. (apoth. 816ff.). Solche abwertende Bedeutung hat das Wort auch an unserer Stelle, und trotzdem wahrt es den Zusammenhang mit der bildlichen Ebene. Erweitert wird diese (zweite) Apposition ihrerseits durch die Partizipialkonstruktion der dritten Zeile (52), die den in vena putris συνεκδοχικώς erfaßten Begriff der Erde bzw. des Körpers in die Komponenten der Feuchtigkeit und des Staubs zerlegt: {venam) umore denso conglobatam et pulvere. Unausgesprochen steht im Hintergrund dieser Formulierung der Gegensatz zur klaren, reinen und 'feurigen' Natur der Seele. Attribute 77 Verg. ecl. 2, 28; Mart, epigr. 10, 96, 4 - wo übrigens sordidtts ohne tadelnden Nebensinn, allein zum Ausdruck des Ländlichen steht, wie öfters bei Martial. 78 Vgl. Prud. psych. 906f.: {animus) nigrantis carcere cordis Aestuat et sordes arta inter vincla recusat. 79 Verg. georg. 1, 91: {calor) venas astringit hiantis, sc. terrarum. 80 Prud. apoth. 764f.: qui (sc. deus)fictilis ollae Perflavit venam madidam. Zur Konjektur ollae (Collins; ulvae codd.) s. unten S. 575/81.

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wie liquidus, purus, serenus, igneolus, ignitus u.a. kennzeichnen bei Prudentius ihre Geistigkeit: demgegenüber betont der Ablativ umore d ens ο die Stofflichkeit der körperlichen Substanz, und das ausdrucksvolle Partizip conglobatam (venam) wirkt im gleichen Sinne. Jedes Wort ist mit Bedacht gesetzt. 53 55

natura cuius fraude floret fertili fecunda fundens noxiorum crimina animaeque vitam labe carnis enecat.

Mit Recht macht Stam (zu V. 53) darauf aufmerksam, daß cuius, wie in V. 50, so auch hier in V. 53 auf Cain (48) zurückgreife, nicht auf die zunächst stehenden Substantive terram bzw. venam. Der zweite Relativsatz ist dem ersten asyndetisch angeschlossen, die Stellung des anaphorischen Pronomens leicht variiert (cuius litamen - natura cuius), der Parallelismus durch gleichen Umfang der Sätze (zu je drei Versen) gestärkt. An der richtigen Beziehung des zweiten cuius hängt der Sinn: Prudentius verschiebt jetzt den Ansatz seiner geistlichen Deutung vom Opfer (litamen) auf den Opfernden selbst: auf das Wesen Cains (natura), vollzieht also hier den entscheidenden Gedankenschritt, der es ihm ermöglicht, die Exegese unter dem leitenden Gesichtspunkt des 'Fleisches' von der Gabe auf die Person und von der Person auf die Handlung, auf den Brudermord, auszudehnen. Darin darf man nicht Willkür sehen. Der gläubige Betrachter schaut durch Natur und Geschichte hindurch auf größere Sachverhalte, er erkennt im Sichtbaren lauter Abdrücke des Unsichtbaren, aber die Züge der höheren Tatsachen lassen sich mit ihren Spuren in den Abbildern niemals völlig zur Deckung bringen. Daher sind es auch nie saubere Gleichungen, die das Verhältnis der beiden Realitäten ausdrücken. Die Sprache, gerade die bildgesättigte Dichtersprache, ist das Mittel, die zwischen dem sichtbaren Bild und dem unsichtbaren Sinngefüge hin und herlaufenden Linien nachzuziehen, so gut es eben menschlicher Rede möglich ist81. Und so müssen wir auch dieses feine Stück geistlicher Poesie aufnehmen, indem wir uns dem gleitenden Fluß der gedanklichen Übergänge widerstandslos überlassen und mit dem Dichter im ganzen Geschehen wiederum ein 81 Insofern gilt auch hier, was andernorts für die christliche Betrachtung der Natur ausgeführt wurde: "Die Natursymbolik in den Tagesliedern des Prudentius": Pietas. Festschrift Bernhard Kötting, Münster 1980 = JbAC, Erg.-Bd.8, 411/46, bes. 442f.

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anderes Ganzes sehen. Schön hält sich auch der zweite cuius-Satz im Rahmen des Gesamtbildes: die Sphäre des Ackerbaus, der Cain angehörte, schimmert durch die Ausdrücke pflanzlichen Wachsens und Wucherns. Das ist meisterliche Einheit der Bildlichkeit in schwieriger Sache. Der Dichter entwickelt mit den Gedanken seiner Exegese auch die Bilder, die sie tragen: angefangen von Cains Bauerntum (49) über die Erdhaftigkeit seines Opfers (50/52) bis hin zum üppigen Gedeihen seiner sündhaften Natur (53/55). Die Alliteration, an sich ein wohlfeiles Schmuckmittel, das jedermann zur Verfügung steht, auch dem Interpolator (vgl. 37: docet duitas discreparef2, trägt hier das unzweifelhafte Siegel der Echtheit: die Wiederholung desselben Konsonanten im Anlaut der fünf aufeinanderfolgenden Wörter wirkt ausdrucksverstärkend, hebt die Wörter hervor, die den Begriff der Fülle enthalten, prägt den Pleonasmus lautlich ein: fraude floretfertili Fecunda fundens. Viermaliges/ begegnet später im Hauptgedicht (ham. 560), wo wohl besondere Lautmalerei beabsichtigt ist: friget ferafuttile frendens (vom Löwen gleich Teufel!)83. Theologisch genommen gründet die Aussage in der Schwächung der menschlichen Natur durch die Erbsünde, aber der Ablativ fraude ...fertili läßt sich kaum auf diese Bedeutung einengen; fraus ist bei Prudentius eines der Wörter für Sünde schlechthin, vgl. cath. 2, 10: fraudisque pectus conscium\ apoth. 937: fraude carens, omni culparum aspergine Uber (sc. Iesus)M. Dem Hyperbaton fraude ... fertili entspricht im nächsten Vers die weite Sperrung fecunda ... crimina. Denn das Adjektiv fecunda zieht man gefühlshaft nicht zum Subjekt natura, das eines Attributs weniger bedarf, sondern zum Objekt crimina85. Adjektiv und Substantiv rahmen den Vers in der beliebten Wort-

82 Möglich sogar, daß der Verfasser des unechten Schlusses α mit diesem Stilmittel den echten Dichter nachzuahmen suchte, wie er das ja auch in anderer Hinsicht tat, z.B. in der Häufung des Partizips (s. oben S. 317). 83 Die Alliteration bei Prudentius, die zu sehr auffälligen Formen gelangt ist, harrt noch einer eindringenden Untersuchung. Lavarenne, Etude § 1647/66 bietet kaum mehr als eine Beispielsammlung, die abgeschlossen wird von einer unhistorischen Wertung: die Assonanz Abel - anima, Cain - caro im zweiten Titulus (s. oben S. 321) empfindet er als "enfantillage" (§1666). Das Urteil verfehlt den tiefen Ernst der Sache. Neuere Literatur bei Lucio Ceccarelli, L'alliterazione a vocaie interposta variabile in Virgilio, Roma 1986, in den Anmerkungen zu seiner "Premessa" (S. 1/7). 84 In Rubenbauers Thesaurus-Artikel s.w. fraus (ThLL 6, 1, 1266/77) ist diese Bedeutung nicht klar erfaßt; vgl. aber ebd. 1267, 37 unter der Rubrik: "(fraus) i.q. malum" Gell. 1, 2, 4: morborum vitiorumque f r a u d e s animorumque lab es ... ea omnia explorata. Stams Erklärung zu V. 53: "fraus h.l. peccatum nascentis" ist zu eng. 85 Anders Stam 133 zu V. 54: "fecunda: with natura" und Palla 43 in der Übersetzung.

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Stellung, und der regelmäßige Zusammenfall von Vers und Kolon, der nur eine einzige, absichtsvolle Ausnahme zuläßt (18/19: sacro Cruore Christi), erleichtert das rechte Verständnis. Jedes Wort ist gesetzt, den Eindruck der Sündenfiille zu vertiefen: das Partizip fundens86, aber auch der Genitiv noxiorum. Er gehört zum Neutrum noxia, ist substantivisch gebraucht (vgl. Tac. ann. 4, 33: quia pauci... utilia ab noxiis discernunt) und verstärkt als Genitivus inhaerentiae den in crimina liegenden Begriff von Schuld und Sünde. Eine Einschränkung der Aussage auf "die Sünder" (noxii) - so die beiden Kommentatoren überhaupt der Wechsel zur Ebene der Individuen, der Schuldigen und der Unschuldigen (noxii - innoxii), käme ganz unpassend, da es um eine allgemeine, anthropologische Tatsache geht, um den Widerstreit von Leib und Seele im Menschen. Lavarenne hat zwar in seiner "Etude" auch kein Anzeichen rechter Auffassung des Ausdrucks noxiorum crimina hinterlassen, ist aber in der Übersetzung durch den Sinn richtig geführt worden: "dont la nature ... produit en abondance les fautes et les crimes"87. Die Verbindung mit dem synonymen Genitiv sagt nichts anderes als die mit dem Adjektiv bei Vergil: crimina noxia (Aen. 7, 326), die der prudentianischen Prägung vielleicht sogar zugrundeliegt88. In V. 55 findet die dichte Gedankenreihe des antwortenden Stücks ihren vorläufigen Endpunkt: es ist gesagt, wer der fratricida ist und wer der getötete Bruder. Die gegensätzlichen Kräfte treten in der chiastischen Wortstellung scharf hervor. Animaeque ν it am ist mit Bedacht gesagt. Darin klingen die sinnstiftenden Wörter vivis (5: opp. terrulentis) und viventis (31: sc. hostiae) fort, und zugleich wird die Deutung, die bisher nur von der Seite Cains her gegeben war, knapp und klar von der Seite Abels her begründet; denn die Seele ist als mens vivida (c. Symm. 2, 385), mens viva (c. Symm. 2, 164; 387; ham. 894) der lebensspendende, lenkende, unsterbliche Teil des Menschen, auf den Abel und sein lebendiges Opfer (vgl. auch viva im Titulus V. 6) weisen. Den Tod der Seele, den geistlichen und schließlich den zweiten, ewigen, bewirkt die Sünde. Enecat, das

86 Serv. auct. Verg. ecl. 4 , 2 0 (ΙΠ 1 , 4 8 Thilo): dicendo 'fundet' abundantiamfloris ostendit. Vgl. Prud. cath. 3, 51; 5, 114/16; ThLL 6, 1 s.v. l.fundo (Luisa Robbert) 1567, 53ff. 87 Lavarenne 2, 42f.; man vermißt den Genitiv noxiorum sowohl in der Liste der substantivierten Neutra PI. (Etude § 913/49) als auch unter den Beispielen für den Genitivus inhaerentiae (Etude § 260: pietatis amor, litoris oram, retinaculorum vinculo, scrobis in foveam usw.). 88 Vgl. Albertus Mahoney, Vergil in the Works of Prudentius, Washinton 1934 = Patristic Studies 39, 189, wo der Anklang unter der Überschrift "possible", d.h. als mögliche Reminiszenz notiert wird.

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letzte Wort im Vers, frischt in Verbindung mit dem Ausdruck labe carnis nocheinmal die Grundfarbe des ganzen Abschnitts auf 89 : das Fleisch und seine Sünden sind wie eine Seuche, die das Leben vernichtet, vgl. etwa Colum. 2, 9, 9: ubi vel uligo vel aliqua pestis segetem ene cat. Kaum irgendwo sonst ist die Feindschaft zwischen Leib und Seele von Prudentius so hart vorgebracht und zugleich derart lapidar, wie ein Gesetz, festgestellt worden. Aber deshalb wird doch aus dem Streiter gegen den Dualismus nicht etwa selbst ein Dualist. Man muß bei der Erklärung dieses Dichters die komplementäre Interpretation üben. Daß unser Kampf nicht gegen Fleisch und Blut geht, sondern gegen "die Mächte und Gewalten" usw. (Eph. 6,12) hat Prudentius, die Apostelworte nachdichtend und erläuternd, gerade in diesem Lehrgedicht eindrucksvoll dargestellt (ham. 506/52), nicht jedoch ohne auch hier wieder die Wahrheit nach der anderen Seite hin zu ergänzen: wir zeugen das Böse aus unserer eigenen Seele (553ff.; 608ff.), der Teufel hat nur die Macht über uns, die wir ihm geben (557/61). Der Leib als der weitaus schwächere Teil des Menschen wird hier also gleich in doppelter Weise entschuldigt: Nemo habitum naturae aut inritamina peccans Corporis accuset... eqs. (ham. 523ff.), und sicher hat der Dichter damit dem Dualismus jeden Ansatz nehmen wollen90. 56

caro in sororem tela mentem dirigit, mens in cerebro ventilatur ebrio, ex quo furores suculentos conligit madens veneno corporis lymfatico.

Mit Recht setzen die Herausgeber schwere Interpunktion nach V. 59 (lymfatico). Auf die Satzzeichen kommt hier freilich nicht viel an, da die Gliederung sich von selbst aus dem Dichterwort ergibt: die Seele, vom Leib vergiftet, wird

89 In der Junktur labe carnis ist der Genitiv einfacher subiectivus, der explikative Genitiv liegt allerdings nicht weit ab, vgl. Prud. cath. 7, 76: labe ... criminum; apoth. 894: labe ... peccati und Peter Flury: ThLL 7 , 2 , 2 , 771,34ff. Die Wortverbindung erinnert an Lucr. 5 , 9 3 0 : labi (Abi.) corporis; im spirituellen Sinne: Cypr. zel. 14 (CCL 3A, 82): terreni corporis infesta labes spiritali vigore calcanda; Prud. ham. 961 f.: Esto, cavemoso, quia sic pro labe necesse est Corporea, tristis me sorbeat ignis Averno ... eqs. 90 Die blasphemia creatoris stützte sich bei Marcion besonders auf das "Fleisch", vgl. Harnack 104. Zu Prudentius s. Gnilka, Studien 5/7 und Rainer Henke, Studien zum Romanushymnus des Prudentius, Frankfurt a.M. /Bern/New York 1983 = Europäische Hochschulschrif-

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wahnsinnig (56/59); wahnsinnig geworden verfällt sie in den dualistischen Irrglauben und stirbt (60/63). Also regiert weiter das Gesetz der Symmetrie: zwei Gedankenschritte zu je vier Versen (56/59 und 60/63) wie zuvor zwei cuius - Sätze zu je drei Versen (50/52 und 53/55) und wie im Ganzen zwei Hauptstücke zu je acht Versen (48/55 und 56/63). Innerhalb der beiden Tetraden des zweiten Hauptstücks läßt sich wieder eine Zweiteilung zu je zwei Versen beobachten: auf die beiden durch Anadiplose (mentem ... mens) verbundenen Verse 56/57 folgt der zweizeilige Relativsatz 58/59; in der zweiten Vierergruppe wird zunächst die 'Teilung' Gottes durch zweifache Formulierung hervorgehoben (60/61) - mit rechtem Empfinden setzt Bergman Komma nach V.60 und wieder nach V.62, aber Semikolon nach V. 61 dann das Gedicht durch Variation im Ausdruck des furchtbaren Endes geschlossen (62/63). Diese sorgfältig geplante, von der Symmetrie bestimmte Architektonik wird dadurch möglich, daß die Grenzen des Metrums regelmäßig auch Grenzen des Sinnes sind, die Verse also Sinneinheiten bilden und daher nach arithmetischen Gesichtspunkten angeordnet werden können. Die sofort sichtbaren Elemente solcher Harmonie, die den entsprechenden gestalterischen Willen anzeigen, sind, um das hier zu wiederholen, die absichtsvoll placierten Assonanzen Cain (48) - caro (56) - Cain (63). Die Schwere der gehäuften Wortgruppen, die das erste Hauptstück (48/55) prägten, löst sich jetzt in einer schnellen Handlungsfolge. Ging es dort um Zustände, so geht es hier um Aktionen. Jeder Vers enthält ein Verbum, fast immer in der finiten Form: dirigit (56), ventilator (57), conligit (58), madens (59), und dann: findit (60), audet (61), cadit (62), triumfat (63). Die Versreihe besteht aus fast ebenso vielen Sätzen wie Versen, nur eine Partizipialkonstruktion ist eingeschoben (59), und bis auf den einen Relativsatz in V. 58f. sind es alles asyndetisch gereihte Hauptsätze. Der Abschluß der ersten Hälfte mit enecat (55) fällt zwar schwer ins Gewicht, doch ist auch hier durch dieselbe lockere Form der Anadiplose, die schon in V. 50/51 angewandt war (terram sapit, Terram), ein Übergang geschaffen, der sich gleich im Wechsel zur nächsten Zeile wiederholt, so daß trotz des deutlichen syntaktischen Einschnitts nach V. 55 ein Gleiten von Zeile zu Zeile erreicht wird:

ten, Reihe 15, Bd. 27, 161ff. 169f. Einen Überblick über das Thema bietet Cornelius Mayer, Art. Caro - spiritus: Augustinus-Lexikon 1 (1986-94) 743/59 mit Hinweisen auf weitere Literatur.

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animaeque vitam labe carnis enecat. caro in sororem tela mentem dirigit, mens in cerebro ventilatur ebrio, ... eqs.

Die Catene verhindert ein Auseinanderfallen der beiden Hälften des exegetischen Teils ß, so klar sich auch diese als Hauptelemente der Struktur abheben. Auch in Bild und Gedanke ist der Zusammenhang gewahrt. Der letzte Satz des ersten Stücks: ... labe carnis enecat gibt auf beiden Ebenen das Stichwort für den zweiten. Ja, fast hätte die Auslegung des biblischen Geschehens mit diesem Vers (55) ihr Ende finden können; denn der Höhepunkt der Ereignisse, der Brudermord, ist damit erklärt. Aber Prudentius hatte den kühnen Gedanken gefaßt, die falsche 'Teilung' der Opfergabe im Sinne des hl. Ambrosius (s. oben S. 322f.) auf die Häresie zu deuten und solche Deutung seinem Entwurf einzugliedern. Sicherlich ist es überhaupt dieser Gedanke gewesen, der ihn dazu bewog, gerade diesen biblischen Stoff zur Praefatio des antihäretischen Lehrgedichts zu verarbeiten. Kühn ist er deshalb, weil er den Exegeten zwingt, die zeitliche Abfolge der Handlungen zu verändern und einen neuen Zusammenhang zu schaffen: die falsche Teilung des Opfers, dem historischen Bericht zufolge Ursache für Gottes Mißfallen (9/13), Cains Neid (14f.) und seinen Mord (16f.), wird jetzt zur falschen Teilung Gottes selbst und damit für Cain (gleich caro) zum Mittel des Mords und für die Seele zum Grund des Todes. Der Dichter beachtet die Hauptlinien der figura, anders als der Interpolator, der sie mißachtet, aber er malt die Striche der Skizze nicht ängstlich nach, sondern zieht die Züge zu einem neuen Bilde zusammen, dessen Umrisse er unter dem Entwurf erblickt hat. Den Ansatz der Deutung findet er im Motiv des furor haereticus, der haeretica dementia, insania haeretica usw.91 Dem Gläubigen, der die Tatsachen der Natur und der Offenbarung im Lichte des Glaubens betrachtet, sind sie so evident, daß er sich das bewußte und hartnäckige Abweichen von der Wahrheit oftmals nur aus einer geistigen Verwirrung zu erklären vermag. Bei den Kirchenvätern, die ja fast alle große

91 Tert. adv. Marc. 3, 6, 1; 4, 10, 15 (CCL 1, 514. 565) \x.ö.\ furor bei Prudentius noch ham. 157; apoth. 552f. 979. Vgl. 2 Tim. 3, 9: ή γαρ αγνοία αύτών (insipientia, Vulg.; dementia, VL) έκδηλος έσται πασιν. Ferner Ilona Opelt, Hilarius von Poitiers als Polemiker: Vigiliae Christianae 27 (1979) 203/17, hier 216 mit Belegen fur furor haereticus, insania haeretica-, Hans Rubenbauer: ThLL 6, 1 s.v. furor (1630, 68ff.); Adolf Lumpe: ThLL 7, 1 s.v. insania (1828, 75ff.), insanus (1836, 41ff.). Zu Manichaeus gab es die ironische Ableitung von μ α ν ί α und χείν: insanifusor (ThLL 7, 1, 1829, 24ff.).

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Polemiker sind, äußert sich solche Auffassung meist in Schimpfwörtern, aber Prudentius versucht, sie durch eine quasi-medizinische Erklärung zu untermauern, sozusagen durch eine Pathogenese des Irrglaubens. Er unterscheidet fünf Phasen. Vers 56: Das Fleisch greift die Seele mit Pfeilen an (1.), natürlich mit vergifteten, telis venenatis, die Wahnsinn auslösen; vgl. Scrib. Larg. 194: verum cum potum est (sc. toxicum, das Pfeilgift), e vestigio ciet dolorem omnium interaneorum infinitum et velut t e l ο traiectorum concitatque mentis furor em. Mordwaffe und Todesart sind also gegenüber der Erzählung (V. 16) verändert und dem geistlichen Vorgang angepaßt. An die Stelle Abels tritt jetzt, trotz der Frage nach dem fratricida (33), eine Schwester. Gewählt ist soror in V. 56 wegen des Geschlechts von mens, wie frater in V. 63 wegen des Maskulinums halitus. Dem Dichter geht es um die Variation in der Wortwahl: animae (55), mentem (56), mens (57), halitus (63), und entsprechend wechselt der Ausdruck für das Verhältnis der geschwisterlichen Verbundenheit. Man sieht aber auch an dieser Einzelheit, wie frei sich der Dichter gegenüber dem Buchstaben des biblischen Texts fühlt. Er hält die Grundlage seiner Exegese, die er in den vorangehenden Versen (48/55) geschaffen hat, für so fest, daß er auf ihr nun kühner weiterbaut. Vers 57: Die Seele gerät in dem gleichfalls von der Intoxikation betroffenen Gehirn in wirbelnde Bewegung (2.)· Der Sinn des Wortes mens hat sich im Übergang von V. 56 zu V. 57 leicht verschoben. Mens ist bei Prudentius eines der Wörter für "Seele" schlechthin, und in diesem Sinne steht mentem noch im voraufgehenden Vers 56 (opp. caro). Jetzt aber ist mit mens das ήγεμονικόν gemeint, das im Gehirn sitzt; vgl. Cael. Aur. acut. 1, 8, 53f. (CML VI 1, 52): aliqui igitur cerebrum (sc. phreniticorum) pati dixerunt, alii eiusfundum sive basin ..., alii et cerebrum et eius membranas, alii cor ... nam singuli eum locum in phreniticis pati dixerunt, in quo animae regimen esse suspicati sunt92. Das Gehirn selbst heißt "trunken" (in cerebro ... ebriö). Das Bild wird auch sonst im Zusammenhang mit der Häresie gebraucht, vgl. Aug. conf. 5,13,23: ego ipse ambivi per eos ipsos manichaeis vanitatibus ebrios. Hier aber wirkt die Metapher kühner, weil sie nicht die Folgen des Weingenusses ins Geistige überträgt, sondern die der Vergiftung; vgl. Prud. cath. 11,91 f.: Credos venenis ebriam Furiisve lymfatam rapi (sc. patrum prosapiam: die Juden). V. 58/

92

Zur Sache s. Jan Hendrik Waszink im Kommentar zu Tertullian, De anima, Amsterdam

1947, 219/21.

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59: Die Seele zieht aus dem Hirn Giftwasser, so daß sie, völlig vom Gift des Körpers durchtränkt, dem Wahnsinn verfällt (3.). Prudentius wendet zwei Verse auf, um dieses entscheidende Stadium der Erkrankung hervorzuheben. Er trennt deutlich die Seele vom Gehirn; das Fleisch (der Körper) wirkt über das Hirn auf die Seele (den Verstand): ex quo (sc. cerebro) furores suculentos conligit (sc. mens). Die richtige Lesart ist suculentos (v.l. purulentos), giftige Säfte gehören zum Bild, vgl. ham. 114: anguino... suco; ham. 230f.: Quid loquar herbarum fibras medicante veneno Tinctas letiferi fudisse pericula sue i ?; Sedul. carm. pasch. 1,5 lf.: nec de tellure cruenta Livida mortiferis vellatis toxica s uc i s. Vervollständigt wird es durch das Partizip madens, wohl auch durch die Wortverbindung veneno... iymfatico, weil in dem Adjektiv der Zusammenhang mit tympha noch gefühlt wird93. Zugleich setzt sich damit ein Zug der Gesamtkomposition fort; denn in den Ausdrücken ν e nam putrem (51), umore denso (52), labe carnis (55) war das Thema schon angeschlagen, das nun zum Motiv der giftigen Körpersäfte erweitert wird. Im Quartett der Schlußzeilen (60/63) sind dann zu je zwei Versen (60/61 und 62/63) die beiden Endstadien des Wahnsinns erfaßt, die Häresie (4.) und der Tod (5.):

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deum perennem findit in duos deos, audet secare numen insecabile.

Die Annahme zweier Götter statt des Einen gehört durchaus zur Pathologie der Geisteskrankheit. Das wird aus dem Hauptgedicht klar, wo sich das Motiv weiter entfaltet. Cains rabies (ham. 1) führt zu einer Sinnestäuschung, sein Blick ist getrübt, er sieht alles doppelt, sieht auch die Erde in doppelter Gestalt, so daß er in seiner Verrücktheit (exeors: ham. 6) sogar an zwei Götter im Himmel glaubt (ham. 1/7). Bald fällt der medizinische Terminus, der die Diagnose unmißverständlich angibt (ham. 124f.): 124 125

haec tua, Marcion, gravis et dialectica vox est, immo haec attoniti frenSsis manifesta cerebri.

93 Ähnlich bei Horaz carm. 1, 37, 14: mentemque lymphatam Mareotico (sc. vino), wo der Zusammenhang mit tympha ein Oxymoron verursacht; vgl. Nisbet-Hubbard 415 ad loc. Die aktivische, kausative Bedeutung des Adjektivs, die Stam hier (zu V. 59: "causing madness") erkennt, wird von Marcello Salvadore: ThLL 7, 2, 2, 1944, 36 bezweifelt. Im üblichen Sinne cath. 9, 57: pecus lymfaticum (nach Mc. 5, 13 par.).

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Prudentiana I. Critica

Die Diagnose wird hier freilich auf höchst literarische Art mit einer eleganten Anspielung auf Juvenal verbunden (14, 136): cum furor haud dubius, cum sit manifesto frenesis. Aber Prudentius hat frenesis wohl genauer gefaßt als Juvenal. Denn der Wahnsinn Marcions und der aller Anhänger dualistischer Häresie besteht ja gerade darin, daß sie, wie die phrenetici, Trugbilder schauen (vgl. ham. 59: fantasmata). Dadurch unterscheidet sich nämlich die Phrenitis (Phrenesis) von der Mania, vgl. Cels. 3,18: phrenesis vero tum demum est (sc. id genus morbi), quum continua dementia esse incipit; aut cum aeger, quamvis adhuc sapiat, tarnen quasdam vanas imagines accipit: perfecta est, übi mens Ulis imaginibus addicta est94. Diese phrenesis perfecta heißt bei Prudentius manifesto. Die Phantasien - visa ..., quae Graeciphantasmata vocaverunt, sagt Caelius Aurelianus (acut.l, 9, 59: CML VI 1, 56) - haben sich im Dualisten derart verfestigt, daß er sich auch zwei Götter einbildet: όρέωσι (sc. οί φρενετικοί) τά μή οντα και τά μή ύπεόντα φαντάζωνται ή άνθ' έτέρων έτερα γιγνώσκωσι ή ξένα Ινδάλματα προβάλλωνται... κτλ. (Aretaeus 5, 1, 3: CMG II 92). Es mag sein, daß Prudentius auch deswegen die Krankheit ausdrücklich im cerebrum lokalisiert, weil eben die Phrenesis im Unterschied zu anderen Formen des Wahnsinns im Gehirn sitzt95. Erwähnenswert ist das alles deswegen, weil man auch hieran wieder beobachten kann, wie der Dichter die Gedanken allmählich sich entwickeln läßt, wie seine Praefatio auf das Hauptgedicht zugearbeitet ist und wie das Motiv des Wahnsinns über die durch das Metrum verstärkte Grenze zwischen Praefatio und Hauptgedicht hinweggeführt wird. Die rhetorische Durchbildung der Schlußzeilen braucht man kaum sonderlich hervorzuheben. Durch betonte Stellung am Anfang bzw. Ende des Verses (60) kontrastiert der Singular deum mit dem Plural deos, und der Ausdruck: (in)

94 Jackie Pigeaud, La r6flexion de Celse sur la folie, in: G.Sabbah-Ph.Mudry (Hrsgg.), La Medicine de Celse, Saint-Etienne 1994 = Centre Jean-Palerne, M6moires 13, 257/79, bes. 372f. zu den imagines; dies., Folie et eures de la folie chez les mddicins de l'antiquiti gr6coromaine: la manie, Paris 1987 = Collection d'etudes anciennes 112, 91. 124 u.ö.; das hier Wesentliche knapp bei Johan Ludvig Heiberg, Geisteskrankheiten im klassischen Altertum, Berlin/Leipzig 1927, 22. 95 Vgl. noch Aretaeus 3, 6, 7 (CMG II 42f.): τό δέ κΰρος έν τονσι σπλάγχνοισί έστι έπν μανίη και μελαγχολίη, δκωσπερ έν τη κεφαλή και τησι αϊσθήσεσι τά πολλά τοΐσι φρενετικοΐσι. οΐδε μέν γάρ παραισθάνονται και τά μή παρεόντα όρέουσι δήθεν ώς παρεόντα, και τά μή φαινόμενα αλλφ κατ' δψιν ίνδάλλεται... κτλ.

XIII. Doppelter Gedichtschluß

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duos deos am Ende des Verses 60 bildet wiederum Gegensatz zum Versschluß unum deum (62): 62

cadit perempta denegans unum deum, Cain triumfat morte fratris halitus.

Mit dem letzten Vers kommt die Gedankenbewegung zur Ruhe, die Antwort auf die Frage, wen die figura bezeichne, ist vollständig erteilt. Wie um der Deutung das Siegel aufzudrücken, hat der Dichter den entscheidenden Vorgang im Schlußvers nocheinmal knapp vorgestellt96. Gemeint ist selbstverständlich die mors secunda (Apc. 2, 11; 20, 6. 14), der ewige Tod, von dem auch die unsterbliche Seele betroffen wird97. Prudentius hat auch sonst das Schicksal der Seele in Bildern zu fassen versucht, bekannt ist die "Krankheitsmetaphorik" im Laurentiushymnus98. Aber dort (per. 2, 237ff.) stehen die πάθη der Seele zu denen des Leibes tatsächlich in einem bloßen Vergleichsverhältnis: Hochmut und Wassersucht, Geiz und Handgicht, Ehrgeiz und Fieber, Schwatzsucht und Krätze usw. Hier dagegen stehen Wahnsinn und Häresie nicht nur im Verhältais der Analogie, sondern auch im Verhältnis von Ursache und Wirkung. Prudentius entrollt vor uns die Phasen einer Pathogenese, die Leib und Seele umfaßt, ein im vollen Sinne psychosomatisches Geschehen: die Krankheit geht vom Körper aus, erfaßt die Seele und vernichtet über alles irdische Leben hinaus - die Geistseele des Menschen99. Die Grenzen zwischen Geist und Materie sind hier überwunden, der Wahnsinn schlägt die Brücke: er ist Bild und doch mehr als das. Man muß dem Dichter sein Recht lassen! Denn gerade durch die Mittel, die ihm, die der Poesie eigen sind, erreicht er es, den vielschichtigen Vorgang zu einer Anschauung zusammenzufassen, die sich in philosophischer oder theologischer Kommentierung sofort auflösen und verflüchtigen würde.

96 Arevalos Konjektur allitus statt halitus (v.l. alitus) ist von Palla 135 (zu V. 63) erneut und mit Recht zurückgewiesen worden. 97 Gut hierüber Stam 134f. zu V. 62. 98 Fridolf Kudlien, Krankheitsmetaphorik im Laurentiushymnus des Prudentius: Hermes 90 (1962) 104/15. 99 Über die Tradition, die Prudentius hier christlich nutzt, s. Jackie Pigeaud, La Maladie de l'äme. Etude sur la relation de l'äme et du corps dans la tradition medico-philosophique antique, Paris 1981.

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Prudentiana I. Critica IV.

Die Textstücke α und β können nicht zusammen bestehen: α ist ein alter exitus, und zwar ein gefälschter. Die in dem echten Schluß behutsam entwickelte Deutung Cain gleich caro wird hier teilweise vorweggenommen, aber weder genügend vorbereitet noch zu Ende geführt. Die theologische Sicht der falschen Teilung, in β der Höhepunkt einer Gedankenbewegung, ist in α bereits breit ausgewalzt, aber weder mit der Exposition des Geschehens noch mit seiner Auslegung innerlich verbunden. Der Neubeginn in V. 48ff. (= ß) hängt, wenn α in den Text tritt, nicht nur syntaktisch in der Luft, sondern auch gedanklich. Nachdem die Auflösung Cain gleich Marcion gegeben wurde, mutet der neue Ansatz, der zur vorherigen Exegese in keine Beziehung gebracht wird, wie ein Rückfall an. Vor allem aber unterscheiden sich die beiden Stücke zutiefst hinsichtlich ihrer Qualität. Ich fasse das Ergebnis der Interpretation unter einigen Punkten zusammen. Zunächst zum echten Schluß (β): 1) Eine einzige Idee wird verfolgt: das Fleisch tötet die Seele durch Häresie. Dieser Idee entspricht die Einheit der Handlung, die sich zu einem dramatischen Geschehen steigert. - 2) Die Deutung wird allmählich, aber zielstrebig entwickelt. Namentlich in den ersten acht Versen ist ein scheinbar assoziatives, in Wahrheit absichtsvoll gelenktes Schreiten von Stufe zu Stufe zu beobachten, das mühelos und wie natürlich beim gewollten Ziele endet. Ihm folgt eine dichte Kette lebhafter Handlungen, die zügig zum Endpunkt des Dramas fuhren. - 3) Dieser Endund Höhepunkt ist der Brudermord, auf ihn läuft alles hin. Somit entspricht die geistliche Auslegung vollkommen dem erzählerischen Entwurf und befriedigt restlos die Erwartung, die das Versprechen: agnosco nempe ... quis fratricida ... eqs. erweckte. - 4) Die Exegese verarbeitet Ansätze, die Ambrosius bot, ist aber als ganze originell bis zur Kühnheit. Das zeigt sich besonders darin, daß in puncto Teilung der Opfergabe die zeitliche Abfolge der Vorgänge aufgegeben wird, um das Faktum einem neuen, geistlichen Zusammenhang sinnvoll einzuordnen. - 5) In der Sprache offenbart sich die Kunst, sachte die Bedeutung eines Worts zu erweitern, die verschiedenen Sinnstufen in einem Wort zusammenfallen zu lassen. Die elegante Variation in der Wortwahl bezeugt die stilistische Unabhängigkeit vom expositorischen Teil der Praefatio; die einzige sinnfällige Ausnahme (invidus) beruht auf Absicht. In den gewählten Bildern setzt sich zunächst noch die Sphäre des Ackerbaus

XIII. Doppelter Gedichtschluß

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fort, bis eine ganz neue Bildlichkeit eingesetzt wird, um die Deutung des Mords zu entwickeln. Trotzdem gibt es nirgendwo die geringste Unklarheit. - 6) Die Komposition ist bestimmt durch ein ungewöhnliches Streben nach Symmetrie der Teile. Sie wird betont durch die sinnstiftende Assonanz der Wörter Cain - caro - Cain, die auffällige Plätze in der Architektur einnehmen. - 7) Zum Hauptgedicht hin ist ein gleitender Übergang geschaffen: durch den Namen Cain, der den letzten Vers der Praefatio eröffnet und den ersten Vers des Hauptgedichts beschließt, sowie durch das Motiv des Wahnsinns, das gleich im ersten Vers des Hauptgedichts aufgegriffen und dann weiter entfaltet wird; β ist unlösbar mit dem Gedichtbeginn verzahnt. - 8) Cain ist caro, d.h. er praefiguriert die aus dem 'Fleisch' kommende dualistische Häresie im allgemeinen. Eine namentliche Festlegung auf einen bestimmten Häresiarchen, auf eine einzige Sekte erfolgt nicht. Die Exegese ist nicht historisch, sondern anthropologisch. Die Spitze richtet sich auf ein Ziel, das hinter den dualistischen Häresien steckt, sozusagen auf den gemeinsamen Urgrund allen solchen Irrglaubens. Nun zur Ersatzfassung (α): 1) An die Stelle der einen Idee tritt ein Vielerlei verschiedener Informationen: Marcion, "Bild" (?) des verderbten Ackers (ist Cain); die Zweiheit lehrt (Marcion lehrt die "Duiten"?), vom Geist abzuweichen, Gaben befleckten Fleisches darbringend und die ewige Gottheit "getrennt" (wovon?) verehrend; wenn er (Marcion) Ruhe gibt und den "Mahner" (Gott?) nicht mißachtet, liebt die Bruderschaft in Ruhe den Frieden, den einen und lebendigen Gott der Lebenden bekennend; er (Marcion) weiht sich einem hinfälligen Mysterium (!), teilt frevlerisch die höchste Substanz, trennt Gut und Böse wie "das Reich" (sie: Singular!) zweier Götter und bringt zwei Szepter aneinander (übergibt zwei Szepter?), im Glauben, es gebe einen Gott, von dem er bekennt, er sei ganz schlecht. - 2) Die Aussagen werden additiv gereiht, ohne daß eine innere Verbindung erkennbar würde. Zwischen der Irrlehre und den fleischlichen Gaben besteht kein deutlicher Zusammenhang. Die Möglichkeit, Marcion könne Ruhe halten, taucht plötzlich auf und verschwindet ebenso plötzlich. Die Schlußverse kehren wieder zur Irrlehre zurück. - 3) Der Brudermord findet keine klare Entsprechung, sie kann allenfalls aus der vagen Aussicht auf eine positive Lösung indirekt erschlossen werden. Die entscheidende Linie der figura ist also auf der Ebene der Exegese nicht ausgezogen, der Frage nach dem fratricida wird ausgewichen. - 4) Die Daten, die α verarbeitet, sind fast alle dem echten Text ent-

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Prudentiana I. Critica

nommen, teils der Praefatio, teils dem Hauptgedicht. Auch die authentische Exegese (ß) spielt herein, ist aber nur noch rudimentär zu erkennen. Neu ist der Gedanke der brüderlichen Eintracht, der aber wohl durch β angeregt wurde (Stichwort: unitatis invidus). Die kühne Gesamtkonzeption des Dichters geht völlig verloren. - 5) Die Ausdrucksweise zeigt allerlei rhetorischen Flitter, besticht auch auf den ersten Blick durch die eine oder andere gelungene bzw. pretiöse Wendung (caduco ... mysterio), leidet aber an Verschwommenheit und gibt von der ersten bis zur letzten Zeile fortwährend Rätsel auf. Die Dunkelheit erzeugte auch ein sekundäres Versinterpolament. Zudem lebt der Text sprachlich wie gedanklich von der Umgebung. In einem Fall hat der Verfasser seinen Wortschatz bereichert, indem er einen Ausdruck aus einem anderen Werk des Dichters entlieh (contaminatae ... carnis). - 6) Ein kompositorischer Wille läßt sich nicht erkennen. - 7) Das Stück nimmt zwar Tatsachen vorweg, die erst später im Hauptgedicht zur Sprache kommen (die Schlechtigkeit des anderen Gottes, den Namen Marcions), aber es fehlt ihm die enge Verknüpfung mit dem Gedichtanfang, die β auszeichnet. - 8) Cain soll Marcion sein, d.h. er soll eine bestimmte Lehre praefigurieren, und zwar diejenige, die als einzige im ganzen Gedicht durch den Namen ihres Haupts und Gründers bezeichnet wird. Der Verfasser versucht also, die psychologische bzw. anthropologische Deutung aus β aufzunehmen und g l e i c h z e i t i g die kirchenpolitische und dogmengeschichtliche Auswirkung solcher inneren Disposition zur Häresie in der Exegese auszudrücken. Aus dem letzten Punkt ergibt sich die weiterführende Frage, ob die Festlegung des figürlichen Sinnes auf Marcion tatsächlich dem Inhalt des folgenden Lehrgedichts entspricht, ob die häretische Theologie, die dort bekämpft wird, wirklich nur diejenige Marcions ist. Oder aber: ob sich die Auslegung des Dichters (ß) absichtlich im allgemeinen Rahmen des Gegensatzes von Leib und Seele hält, weil er nicht nur die marcionitische Sekte, sondern in prinzipieller Weise jeden Dualismus bekämpfen wollte.

V. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die oben S. 294 ausgeschriebenen Anfangsverse der Hamartigenie (ham. 1/16), so gilt es zunächst festzustellen, daß Marcion dort nicht genannt wird. Angeredet ist Cain (1), also

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dem Sinne nach das Fleisch (coro) als Urgrund der Häresie; eine andere Auffassung verbieten die unmittelbar voraufgehenden Verse der Praefatio. Der Name in der ersten Zeile des Hauptgedichts kann nichts anderes bedeuten als in der letzten Zeile der Praefatio. Dazu stimmt die hervorhebende Periphrase in V. 12: exterior, terrenus homo est, qui ... eqs. Gemeint ist der äußere Mensch, von dem Paulus 2 Cor. 4 , 1 6 spricht {exterior homo, opp. interior)100, und zur Auffassung der Häresie als Fleischessünde ist Gal. 5, 19f. zu vergleichen: manifesto, sunt autem opera carnis: quae suntfornicatio... rixae, dissensiones, sectae (v.l. hereses) ... eqs., ferner Ruf. Or ig. in Rom. 6, 1 (PG 14, 1055 C): sed si requiras quomodo etiam haereses inter carnis opera numerentur, invenies eas de sensu carnis procedere ... eqs. Man erinnert sich auch daran, daß in der Psychomachie die Discordia cognomento Heresis (psych. 710) zu denjenigen Kräften gehört, die auf der Seite des Leibes gegen die Seele streiten (psych. 899/907)101. Prudentius setzt also zunächst noch die anthropologische Linie der Praefatio fort und erklärt die dualistische Häresie weiter wie in β - aus der Natur des Menschen. Marcion wird nicht erwähnt, an ihn ist aber auch gar nicht gedacht. Denn der Irrwahn, der hier dem homo exterior zur Last gelegt wird, paßt nicht zur Lehre Marcions. Schon wenn Cain zu hören bekommt: tibi conditor unus Non liquet...? (ham. 2f.), ist darin der Vorwurf enthalten, daß er mehr als einen S c h ö p f e r annehme. Später wird das deutlich ausgesprochen (ham. 14ff.): 14 15

dum putat esse deum, qui prava effinxerit olim et qui recta i t i d e m c o n d e n s induxerit, ambos autumat esse deos natura dispare summos.

Wer meint, Prudentius habe bei Abfassung dieser Verse Marcions Theologie im Auge gehabt, kann nur mit Stam (S. 10) folgern: "He even makes a bad mistake". Denn die Anschauung, die dem homo exterior hier unterstellt wird, steht in Widerspruch zu einem Hauptdogma marcionitischer Theologie. Marcions guter Gott hat gar keinen Anteil an der Schöpfung der Welt. Allein der böse Gott ist der Demiurg. Der Vorwurf, Marcion nehme einen Gott an, der nichts geschaffen habe, bildet daher auch einen kardinalen Punkt in der

100 Vgl. Rhein. Mus. 109 (1966) 90f. Das Urteil, das ich dort (91) über die Marcion-Verse der Praefatio und ihr Verhältnis zum echten Gedichtschluß abgab, widerrufe ich natürlich, ιοί Vgl. Prud. apoth. 367ff. über die Juden: at tu, Posteritas carnis, carnaliter omnia cernens Carnis opus sub lege geris, quam spiritus inplet Interior ... eqs.

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Prudentiana I. Critica

Polemik gegen seinen Dualismus. Es dürfte genügen, ein Stück aus Tertullians erstem Buch Adversus Marcionem auszuschreiben (Tert. adv. Marc. 1, 11, 5/7: CCL 1, 452): ... unam saltim cicerculam deus Marcionis propriam protulisse debuerat, ut novus aliqui Triptolemus praedicaretur. aut exhibe rationem deo dignam, cur nihil c ondider it, si est; quia condidisset, sifiiisset, illo scilicetpraeiudicio quo et nostrum deum non alias manifestum est esse quam quia totum condidit hoc. semel enim praescriptio stabit non posse illos et deum confiteri creatorem et eum quem volunt aeque deum credi, non ad eiusformam probare, quem et ipsi et omnes deum, ut, quando hoc ipso nemo creatorem deum dubitet, quia totum hoc condidit, hoc ipso nemo debeat credere deum et ilium qui nihil condidit, nisi ratio forte proferatur. Die Ansicht also, ein böser Gott habe das Böse geschaffen und ein guter das Gute itidem condens, kann schwerlich mit Marcions Lehre in Einklang gebracht werden. Das gilt selbst noch für den Fall, daß man bereit wäre, hier das "Unsichtbare" in Rechnung zu stellen, das nach Marcion der gute Gott geschaffen haben soll. Denn dieses Unsichtbare ist von unserer Welt völlig geschieden, nicht einmal dem Schöpfergott bekannt102. Der homo exterior bei Prudentius gelangt zu seinem Irrglauben aber gerade durch die - freilich getrübte - Anschauung der sichtbaren Schöpfung und schließt daraus auf zwei Schöpfer, deren unterschiedliches Wesen und Wirken den Zustand d i e s e r Welt erklärt: der Gegensatz lautet Gut und Böse, nicht Sichtbar und Unsichtbar. Also ist auch dieser Ausweg abgeschnitten. Andrerseits: tritt die Marcion-Fassung (α) in den Text der Praefatio - gleich, an welche Stelle, gleich, ob allein oder zusammen mit β - , so bleibt gar nichts anderes übrig, als auch schon die in den Anfangsversen des Hauptgedichts entwickelte Anschauung des homo exterior unmittelbar auf Marcion zu beziehen, wie das ja auch allgemein getan wird und wie das schon die Überschrift in den Codices (deest in A; def. B) anzeigt: adversus Marcionitas qui duos deos esse adfirmant 0adserunt). Über das Dilemma mag leicht hinweggleiten, wer, wie v. Harnack, 102

Vgl. Harnack 102. 119. 267* und unten S. 360.

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das Gedicht für eine Art "literarischer Stilübung" hält103. Immerhin hat Stam den Anstoß wenigstens bemerkt und moniert, während Palla ihn gänzlich ignoriert104. Aber es ist doch sehr fraglich, ob man dem Dichter in derart fundamentaler Sache einen Irrtum unterstellen darf. Da sich uns die Lösung des Problems, die Athetese des alter exitus der Praefatio, schon aus ganz anderen Gründen ergab, bedarf es jetzt eigentlich nicht mehr weiterer Worte. Aber es ist doch wichtig, den Folgen der Fälschung nachzuspüren, die sich tief in das Hauptgedicht hinein erstrecken. Denn infolge der durch α erzwungenen Beziehung des Zwei Schöpfer-Theorems (ham. 1/16) auf Marcion gerät Prudentius nicht nur in Gegensatz zu den äußeren Tatsachen, sondern auch in Widerspruch mit sich selbst, hat er doch nur etwa hundert Verse später in demselben Gedicht Marcions Lehre im Wesentlichen korrekt wiedergegeben und zu diesem Zweck sogar den Gegner selbst redend eingeführt (ham. 111/ 23). Prudentius benützt zunächst die falsche Vorstellung zweier Schöpfergottheiten, um die katholische Lehre von der Einzigkeit Gottes und der Einheit des Vaters mit dem Sohne zu entfalten (ham. 27/55)105. Hierauf erst wendet er sich gegen Marcion (ham. 56ff.): 56

haec tibi, Marcion, via displicet, hanc tua damnat secta fidem dominis caelum partita duobus.

Damit ist nicht gesagt, daß sich alles Vorhergehende auf Marcion beziehe und ihm auch jene Zwei Schöpfer-Lehre unterstellt werde. Die Gemeinsamkeit 103 Vgl. Harnack 394*: "Nun erscheinen sie (d.h. die Carmina adv. Marcionem) als eine literarische Stilübung ..., die höchstens an der Hamartigenia des Prudentius eine Parallele hat". 104 Palla 18 weist Stams (und v. Harnacks) Kritik für die Verse ham. 111/23 - Marcions Rede - überzeugend zurück, aber den gewichtigen Einwand Stams gegen harn. 14/16 (S. 10 und S. 137 zu harn. 6/17) erwähnt er gar nicht. 105 Harn. 28 del. Dressel, mit Recht, wie Sisto Colombo, Note critiche su Prudenzio: Pubblicazioni della Universitä Cattolica del Sacro Cuore, serie quinta, scienze storiche, vol. XVI, Milano 1937 = Studi dedicati alia memoria di Paolo Ubaldi 171/75, hier 174 zeigt. Sein Urteil über diesen Vers: "manifestamente interpolato" stimmt. Pallas Einwände (S. 145f. zu V. 28) überzeugen nicht. Der Interpolator konnte es nicht abwarten, bis das Geheimnis der Einheit des Vaters mit dem Sohne entwickelt wurde (37ff.: sie cum pater ac deus alter Non sit, item Christus ... eqs.), sondern beeilte sich, herausgefordert durch die scharfe Betonung der Einzigkeit Gottes, die theologische Ergänzung gleich anzubringen, wodurch die Komposition gestört und eine syntaktische Unsicherheit ausgelöst wird: 27 nos plenum sine parte deum testamur et unum, 28 [in quo Christus inest, idem quoque plenus et unus,] 29 qui viget ac viguit super omnia quique vigebit 30 partieipem nullo conlato foedere passus. Der Einschub stört den Bezug des Relativums qui (29) auf deum (27), der unbedingt aufrechterhalten werden muß.

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Prudentiana I. Critica

zwischen dem erstgenannten Irrtum und der marcionitischen Theologie besteht in der Annahme zweier G ö t t e r (nicht zweier S c h ö p f e r ! ) , und deswegen darf Prudentius nach Darstellung des Geheimnisses der beiden ersten göttlichen Personen ohne weiteres zu Marcion übergehen: haec tibi, Marcion, via displicet... eqs. "Weg" steht hier für "Lehre" wie schon in der Apostelgeschichte, vgl. auch c. Symm. 2, 104 fidei via; 275 via iustitiae\ 897f. salutis... iterm. Zu ihr, zur katholischen Gotteslehre, tritt die marcionitische Häresie ebenso in Gegensatz wie jener andere, anfangs umrissene Dualismus. An dieser Stelle (V. 56f.) erfolgt also ein Übergang. Er wird nicht weiter gekennzeichnet, und eben darin dürfte ein Grund des Mißverständnisses liegen. Wer nämlich diesen Gedankenschritt nicht mitmachte, konnte darauf verfallen, die gesamte dogmatische Auseinandersetzung auf Marcion zu beziehen. Dann war sozusagen der Weg frei für die Interpolation der Praefatio (α) und für andere Eingriffe - ich meine die Verse 93/94, die jedoch gesondert behandelt werden sollen (unten S. 357/63). Freilich war solches Mißverständnis auch nur möglich, wenn der folgende, Marcion geltende Text flüchtig und ungenau gelesen wurde. Denn nachdem Prudentius gegen Marcion das prachtvolle Sonnensymbol vorgeführt hat (61/92) - dazu wieder unten S. 358f. - , entwickelt er den Gedanken, daß die Zweigötterlehre konsequenter Weise eigentlich zur heidnischen Vielgötterei zurückfuhren müsse (95/105), und das wiederum bringt ihn auf die Frage, wie Marcion sich überhaupt das gegenseitige Machtverhältnis seiner beiden Götter vorstelle. Der Häresiarch selbst solle Rede und Antwort stehen (ham. 106ff.): 106

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vel, si gentiles sordet venerarier umbras et placet esse duos sceptris socialibus aequos, die, age, quis terras dicionis sorte retentet, quis regat aequoreas aeterna lege procellas, ede coheredum distinetum ius dominorum! ' u n u s ' , ais, 'tristi residet sublimis in arce a u c t ο r nequitiae, scelerum deus, asper, iniquus, qui, quodeumque malum vitioso fervet in orbe, sevit et anguino medicans nova semina sueo

106 Zur Entwicklung des Bildes verweise ich auf meine Studie: ΧΡΗΣΙΣ/Chresis. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur, II Kultur und Conversion, Basel 1993, 19/54, bes. 32. 44. 54.

XIII. Doppelter Gedichtschluß 115

120

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rerum principium mortis de fomite traxit. ipse, o p i f e x m u n d i , terram, mare, sidera fecit, condidit ipse hominem, lutulenta et membra coegit effigians, quod morbus edat, quod crimine multo sordeat, informi tumulus quod tabe resolvat. a s t a 1 i i pietatis amor placidumque medendi ingenium recreans homines, mortalia servans. testamenta duo fluxerunt principe utroque: tradidit iste novum melior, vetus illud acerbus'. haec tua, Marcion, gravis et dialectica vox est, immo haec attoniti frenesis manifesta cerebri, novimus ... eqs.

Marcions Lehre wird hier wie etwas Neues eingeführt. Der Dichter selbst stellt sich unwissend und verlangt Auskunft: die (108), ede (110). Er nimmt die Haltung des Satirikers an. Unter ironischer Anspielung auf den Mythos von der Teilung und Verlosung der Welt (Horn. II. 15, 187ff.) fragt er, welcher der beiden "Miterben" (110: coheredum) über die Lande herrsche, wer über das Meer107. Das alles klingt nicht so, als ob der Leser des Gedichts über Marcion schon mehr erfahren habe, als daß er zwei Götter annehme. Erst jetzt erhält man Aufschluß über den getrennten Kompetenzbereich (110: distinetum ius) der beiden. Nur einer ist der Weltschöpfer: unus ... auetor nequitiae ( l l l f . ) . So wird er genannt, weil die ganze Schöpfung schlecht ist. Auch bei Tertullian heißt Marcions Demiurg mali auetor (adv. Marc. 1,2,2), malitiae auetor (2,14,2) - die Wahl des anderen Worts (nequitiae statt malitiae) erklärt sich beim Dichter aus dem Metrum108. Dem Schöpfer des Schlechten entspricht nicht etwa ein Schöpfer des Guten. Der auetor nequitiae hat alles geschaffen, auch den Menschen (116f.), und so ist er der opifex mundi schlechthin (116). Ihm tritt nicht ein anderer Schöpfer entgegen, sondern der Erlöser (120f.). Über ihn sagen die Marcioniten bei Tertullian (adv. Marc. 1, 17, 1):

suffieit unieum hoc opus deo nostro, quod hominem liberavit summa etpraeeipua bonitate sua et omnibus loeustis anteponenda. Und auch sonst stimmt sein Charakter, wie ihn die Quellen bezeugen, vollkommen mit Prudentius' An-

107 Vgl. Gnomon 58 (1986) 32. 108 Vgl. auch Tert. adv. Marc. 1, 17, 4 (CCL 1, 458): Harnack 99f. 271774'.

malitia creatoris,

und zum Ganzen

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gaben (120f.) überein109, vgl. etwa noch Tert. adv. Marc. 1,6,1:... Marcionem dispares deos constituere, alterum iudicem, ferum, bellipotentem, alterum mitem, placidum et tantummodo bonum atque optimum. Mag also auch Prudentius, zum Teil vielleicht im Anschluß an spätere Marcioniten, den Dualismus des Sektengründers zugespitzt haben - vor allem dadurch, daß er die Gerechtigkeit des Schöpfergotts unterdrückte (vgl. 112 iniquus)110 - , so faßt er doch gerade darum die Hauptsache klar und scharf: Marcions Gott ist ein Retter, kein Schöpfer und deshalb keinesfalls itidem condens (15). Die divergierenden Mitteilungen hier und dort lassen sich selbst bei laxer Auffassung dessen, was als marcionitisch gelten darf, nicht harmonisieren. Wie die Auseinandersetzung mit Marcion nicht bis auf den Anfang des Gedichts rückbezogen werden kann, so darf man sie auch nicht unbegrenzt auf das Folgende ausdehnen. Zunächst (126ff.) stellt Prudentius klar, wer sich hinter Marcions auctor nequitiae (112) in Wahrheit verbirgt: der Teufel, kein Gott. Der Dichter zeigt ihn in schauerlichem Bilde (130/35). Er ist der Jäger Nimrod (143: Nebroth), der gigans venator (Gen. 10, 9 VL), der auf die Seelen Jagd macht (142/48). In ihm verehren die Menschen ihr eigenes Verderben (149/58)111. Nochmals wird betont, daß der "Erfinder des Bösen" (159: inventor vidi) nicht Gott sei - so weit etwa reicht die Darstellung, die sich gegen Marcions Schöpfergott richtet. Dann beginnt die Spitze der Kritik sich ein neues Ziel zu suchen. Das Böse zeugte ein gefallener Engel, einst ein strahlend schöner Stern - Luzifer ist gemeint112 - , von Gott aus dem Nichts geschaffen, wie alles aus dem Nichts geschaffen wurde (159/63). Das doppel-

109 Dazu Harnack 121ff. Vgl. R. Joseph Hoffmann, Marcion: On the Restitution of Christianity: American Academy of Religion 1984, 193f. 110 Bemerkt schon von dem Editor Theodor Obbarius (Tübingen 1845) p. X36, den Dressel p. XII25 ausschreibt. Über die Gerechtigkeit des Schöpfergotts nach Marcion s. Harnack 99/101; Hans Jonas, The Gnostic Religion, Boston 1958, 141/43. Aber der Marcionit Markus ist "wirklich ein Vertreter des Dualismus ό άγαθός > ό πονηρός (ohne Berücksichtigung der Gerechtigkeit) gewesen, den Hippolyt leichtfertig dem Marcion selbst zugeschrieben hat" (Harnack 165'). Prudentius steht also nicht allein. Man könnte anderes hinzusetzen: die Gleichstellung der beiden Götter (ham. 107), ihre Ansiedlung im Himmel (ham. 57.111) - vgl. demgegenüber Harnack 274' f. zu Marcion - , aber alles dient bei Prudentius dem Zweck, den Gegensatz im Sinne des Dualismus zu betonen und berührt nicht den Punkt, auf den es hier ankommt. Im übrigen darf man bei alledem nicht vergessen, daß Harnacks Gebäude teilweise auf unsicherem Grunde errichtet ist. Vgl. dazu Gerhard May, Marcione nel suo tempo: Cristianesimo nella storia 14 (1993) 205/20. Neuere Literatur bei Barbara Aland, Art. Marcion/Marcioniten: Theol. Realenzyklopädie 22 (1992) 89/101. in Zu dieser Versreihe s. unten S. 361f. 112 Nach Is. 14, 12 in Kombination mit 2 Cor. 11, 14; zur patristischen Tradition vgl. Stam 165f. zu ham. 159ff. und Palla 172 zu ham. 159/205.

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te ex nihilo, jeweils am Versanfang (162f.), bereitet die neue Kontroverse vor. Noch ein drittes Mal wird der Ausdruck gesetzt: at non ex nihilo deus ... eqs. (164). Der dreieinige Gott ist selbst immer lebend, ohne Anfang, aber die dienenden Geistwesen (aerios... ministrosu3) - auch sie! - hat Er geschaffen (164/66). Und weiter (harn. 167ff.): 167 horum de numero quidam pulcherrimus ore, maiestate ferox, nimiis dum viribus auctus inflatur, dum grande tumens sese altius effert 170 ostentatque suos licito iactantius ignes, persuasit propriis genitum se viribus ex se materiam sumpsisse sibi, qua primitus esse inciperet, nascique suum sine principe coeptum. hinc schola subtacitam meditatur gignere sectam, 175 quae docet e t e η e b r i s subitum m i c u i s s e tyrannum, qui velut aeterna latitans sub nocte retrorsum vixerit et tecto semper regnaverit aevo. aemulus, ut memorant, opera ad divina repente corrumpenda caput caligine protulit atra. 180 hoc ratio sed nostra negat, cui non licet unam infirmare fidem, sacro quae tradita libro est. 'nil', ait, 'absque deo factum, sed cuncta per ipsum, cuncta, nec est alius quisquam nisi factus ab ipso', sed factus de Stirpe bonus, bonitatis in usum 185 proditus ... eqs. V. 174 läßt schon aufgrund der Formulierung keine andere Annahme zu, als daß nun eine neue Häresie vorgestellt werde. Wie der Dichter Marcions Häresie einführte: hanc tua damnat Sect α fidem (56f.), so setzt er die neue sogleich als eigene Schule von der marcionitischen Sekte ab: hinc schola subtacitam meditatur gignere sectam (174). Ihre Entstehung wird mit dem Hochmut des gefallenen Engels in ursächlichen Zusammenhang gebracht: Luzifer ver113 Aerius hier nicht "being in the air" (Stam), sondern gleich spiritalis, da nicht schon von den gefallenen Engeln die Rede ist, von den Dämonen, die "in der Luft" ihr Unwesen treiben aerii heißen sie deswegen z.B. bei Aug. civ. 8, 15 (1, 344, 12 Dombart-Kalb) - , sondern von den Engeln schlechthin. Dressel hat das richtig verstanden (p. 137 zu harn. 166), ebenso Palla, da er (174 zu ham.166: aerios) auf Ps. 103, 4 (Hebr. 1, 7) verweist: (Deus) quifacit angelos suos spiritus. Zu dieser Bedeutung von aerius s. unten S. 614, Anm. 5.

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breitete die Meinung, er sei ungeschaffen, selbstgezeugt, und daher (vgl. 174: hinc) kam es zur Bildung einer entsprechenden Lehre. Persuasit (171) ist absolut gebraucht, sinngemäßes Objekt sind aber die Anhänger des im folgenden beschriebenen Irrglaubens. Der Angriff richtet sich wohl, wie schon ältere Erklärer sahen114, gegen Priscillianus. Sein Name fällt nicht und konnte nicht fallen, da er wegen der kretischen Silbenfolge dem daktylischen Metrum nicht fügsam ist. Seltsam, daß diese einfache Tatsache bei Erörterung der Frage, weshalb Prudentius den Priscillianus nie nenne, kaum beachtet wurde115! Prudentius hat bei solchen Namen keine prosodischen Konzessionen gemacht und daher den Kaisernamen Iuliatius auch dort gemieden, wo er ihn brauchte (apoth. 449/502). Erst wieder ein Interpolator hat es gewagt (c. Symm. 1, 274f.), den Namen Hadrianus durch Synizese dem Hexameter gefügig zu machen116. Aber der Bezug auf den Priscillianismus wird hier durch die Sache nahegelegt. Schon in der Wendung: subtacitam ... gignere sectam (174) könnte ein charakteristischer Zug angedeutet sein; denn Augustinus berichtet über die Priscillianistae: propter occultandas... contaminationes et turpitudines suas habent in suis dogmatibus et haec verba: 'iura, peiera, secretum M17 prodere noli . Jedenfalls stimmt die in V. 175ff.: (secta) quae docet ... eqs. umrissene Lehre deutlich mit der priscillianischen überein, wie sie bei

114 Nachweise bei Palla 175 zu ham. 174ff. 115 Gar nicht von Augustin Rosier, Der katholische Dichter Aurelius Prudentius Clemens, Freiburg i.B. 1886, 204/13, der im Sinne seiner These, Prudentius habe hauptsächlich den Priscillianismus bekämpft, viel Scharfsinn aufwandte, um das Fehlen des Namens im Text zu erklären. Nachdem Aim6 Puech auf die Prosodie hingewiesen hatte (Journal des Savants 56, 1891, 310'), suchte sie Sebastian Merkle, Prudentius und Priscillian: Theologische Quartalschrift 76 (1894) 77/125 folgendermaßen zu entwichtigen (901): "Ich meine ferner, wer Arrius schreibt (psych. 794), der werde sich auch durch die doppelte Liquida nicht abhalten lassen, Priscillianus [!] zu gebrauchen, was für Prudentius einen ganz leidlichen Hexameterschluß abgegeben hätte". Als ob eine bestimmte Lizenz: Vokalkürzung bei griechischen Wörtern und Namen, jedwede prosodische Gewaltsamkeit rechtfertigte! Arrius mißt übrigens auch Sedulius carm. pasch. 1, 300; vgl. Lavarenne, Etude § 146. Karl Künstle wiederum, der in seinen Antipriscilliana (Freiburg i.B. 1905) Röslers These aufgriff, erörterte zwar (179/81) die Frage, weshalb der Name des Häretikers bei dem Dichter nicht vorkomme, ebenfalls, verlor aber über die Prosodie kein Wort mehr - und dabei ist es bis heute geblieben. 116 Vgl. oben S. 262f. Den Namen des Praefecten Dalianus hat Prudentius dreimal in den iambischen Dimeter gebracht (per. 5, 40. 130. 422), aber jedesmal an die Spitze des Verses gestellt, den er auch sonst öfters (in 30 von 576 Versen des Gedichts) anapästisch beginnen läßt (44. 158 violare; 139 cohibete; 174 laniatur; 240 animaret usw.), d.h. er hat es auch in diesem Fall streng vermieden, den Eigennamen durch Synizese dem Metrum fügsamer zu machen, hat ihn stattdessen auf diejenige Stelle im Vers beschränkt, wo er Doppelkürze unbedenklich erlaubt; vgl. die Tabelle bei Meyer, Prudentiana 254. 117 Aug. haer. 70, 1 (CCL 46,333). Augustins Schrift contra mendacium ist indirekt veranlaßt durch die Priscillianisten, qui heresem suam non solum negando verum etiam mentiendo

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Leo Magnus und später in den Akten des ersten Konzils von Bracara (561) wiedergegeben wird. Der Papst antwortet im Jahr 447 auf einen Brief des spanischen Bischofs Turibius, den das Aufflammen der "alten Pestilenz" beunruhigte. Leo klärt unter verschiedenen Punkten, die Turibius genannt hatte, die Irrtümer der Priscillianisten; der sechste ist einschlägig118: Sexta annotatio indicat eos dicere quod diabolus numquam fuerit bonus nec natura eius opificium dei sit, sed eum ex chao et tenebr is emersisse, quia scilicet nullum sui habeat auctorem, sedomnismali ipse sit ρ rincipium atque substantia, cum fides vera, quae est catholica, omnium creaturarum sive spiritalium sive corporalium bonam confiteatur substantiam et mali nullam esse naturam, quia deus, qui universitatis est conditor, nihil non bonum fecit, unde et diabolus bonus esset, si in eo quod factus est permaneret; sed quia naturali excellentia male usus e st ' et in veritate non stetit' (Joh. 8,44), non in contrariam substantiam transiit, sed a summo bono, cui debuit adhaerere, descivit... eqs. Die Übereinstimmung mit dem Prudentiustext reicht bis in Einzelheiten hinein, besonders auffällig ist die Ähnlichkeit: ex... tenebris emersisse (Turibius/ Leo) - e tenebris ... micuisse (ham. 175). Aber auch den Grundsatz des rechten Gebrauchs bzw. den Gedanken, daß Satans Verfehlung im Verstoß gegen diesen Grundsatz lag, haben beide Texte gemein: excellentia male usus est (Leo) - bonitatis in usumproditus (ham. 184f.). Das Prinzip kehrt dann später bei Prudentius in der Form des Makarismos wieder: Felix, qui indultis potuit mediocriter uti Muneribus ... eqs. (ham. 330f.), bildet überhaupt ein Richtmaß seiner Sittenschilderungen (vgl. bes. ham. 301. 360/64). Dem Gehalt existimant occultandam (Aug. retract. 2, 86: CSEL 36,199). Rosier 380 brachte die Ausdrucksweise ham. 174 mit der "Geheimthuerei" der Priscillianisten in Verbindung. Die Auffassung scheint mir jetzt möglich, und meine Erklärung im Hermes 111 (1983) 343f. bedarf entsprechender Modifizierung. 118 Leo M. epist. 15, 6, If.: S. 128 in der kritischen Ausgabe bei Benedikt Vollmann, Studien zum Priscillianismus, St. Ottilien 1965 = Kirchengeschichtliche Quellen und Studien 7; bei Migne PL 54,683 B. Vgl. den Konzilstext bei Claude W. Barlow, Martini episcopi Bracarensis opera omnia, New Haven 1950, 108, Nr. VII: Si quis dicit diabolum non Juisse prius bonum angelum a Deo factum nec Dei opificium fuisse naturam eius, sed dicit eum e χ chao et tenebris emersisse, nec aliquem sui habere auctorem, sed ipsum esse principium atque substantiam mali, sicut Manichaeus et Priscillianus dixerunt, anathema sit. Über den Zusammenhang dieser Konzilsakten mit den Erklärungen Leos I. s. Vollmann S. 170f.

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nach ist die bei Prudentius und Leo vorgetragene Lehre grundverschieden von der marcionitischen, wie sie ham. 111/23 entworfen wurde: nicht ein böser Schöpfergott hat alles verdorben, sondern ein seit Ewigkeit verborgener Despot bricht in die gute Schöpfung ein und ruiniert sie; nicht ein guter Gott, der nichts geschaffen hat, steht gegen den schlechten Schöpfer, sondern der gute Schöpfer gegen den bösen Eindringling aus der Finsternis. Innerhalb des prudentianischen Gedichts kommt der neuen Irrlehre, so knapp sie auch skizziert wird, erhebliche Bedeutung zu; sie ist aus ihm gar nicht fortzudenken. Denn für die Argumentation erfüllt sie die Aufgabe eines Schwungrads. Sie stellt die treibende Kraft dar, welche die folgenden großartigen Schilderungen aus Natur und Kultur auslöst. Um Marcions Schöpfergott als das zu entlarven, was er ist, wurde die Gestalt des Teufels und seine Macht vorgeführt (126/ 58); um jene andere Verirrung zu widerlegen, die einen ungeschaffenen, p l ö t z l i c h auftauchenden (175. 178f.) Verderber annimmt, zeigt der Dichter nun das Böse in seiner allmählichen Entstehung und schrittweisen Verbreitung. Und dieses Thema gibt ihm Anlaß und Möglichkeit zu düsteren Gemälden des Verfalls. Er läßt ihn bei der Person Luzifers selbst beginnen, zeigt, wie der Neid auf den Menschen in ihm wirkte, und führt im Bilde der Mutation des ehemals geraden Schlangenkörpers und der zuvor ungespaltenen Schlangenzunge die unheimliche Veränderung vor, die ihn erfaßte und zum Ursprung des Bösen machte, zuerst für sich selbst, dann für den Menschen (184/205); er schildert, wie die Depravation vom Herrn der Schöpfung auf Vegetation, Tierwelt und die Elemente Wind und Wasser übergriff (206/46)119, um dann bei der Darstellung menschlichen Lebens zu verweilen, das, durch Laster entstellt, den Mißbrauch aller fünf Sinne bekundet, die der Schöpfer dem Menschen gegeben (247/329). Die Darstellung findet hier keine feste Grenze, aber es genügt, sie so weit zu verfolgen, um zu sehen, daß große und schöne Teile dieses Lehrgedichts von dem unmittelbaren Widerspruch gerade gegen diese, also wohl die priscillianische Häresie leben. Und insoweit wird man der alten These Augustin Röslers, Prudentius habe gegen den Priscillianismus geschrieben, zustimmen dürfen120.

119 Über die Herkunft dieses Gedankens handelt mein Beitrag "Der Mensch als Hausherr der Schöpfung bei Prudentius": Anuario de Historia de la Iglesia 3 (1994) 163/65. 120 Selbst sein scharfer Kritiker Merkle bemerkt (wie Anm. 115): "... wenn wir Prudentius ... in der Hamartigenie Gottes Unverantwortlichkeit für das Böse verteidigen und die Existenz

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Schon allein hieraus folgt, daß der Name Marcions in der Praefatio zu Unrecht steht. Denn wenn Cain auf Marcion weist, dann ist Priscillian nicht getroffen, ja im Grunde jeder andere von der Typologie ausgeschlossen. Der Redaktor hat eben die Gedankenbewegung des Gedichts nicht nachvollzogen und sich an den einzigen Häretiker gehalten, den er im Text namentlich erwähnt fand. Infolgedessen fälschte er auch das numen Marcionis nochmals an späterer Stelle ein, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß Marcion mit dem Auftreten der neuen schola (174) seine Rolle in dem Lehrgedicht ausgespielt hat121. Die Athetese des Verses ham. 502, die oben S. 256/61 allein aus immanenter Betrachtung der Zeile und ihres unmittelbaren Contexts begründet wurde, erhält jetzt eine Bestätigung von ganz anderer Seite her. Und die Prosodie spricht dafür, daß dieselbe Fälscherhand am Werke war. Wie ham. praef. 36: Mardön ist auch ham. 502 die dritte Silbe gekürzt: MarcJönis. Der echte Dichter gebraucht den Namen zweimal, jeweils im gleichen Casus und an gleicher Stelle im Vers, im Vokativ und vor der Hauptcaesur: haec tibi, Marcion, via displicet ... eqs. (56); haec tua, MarcTon, gravis et dialectica vox est (124). Der Name wird beide Male so gesetzt, daß die letzte Silbe positione gelängt und die prosodische Klippe umschifft ist. Der Interpolator kennt solche Bedenklichkeit nicht, wie man besonders an der Kürzung der Genitivform Marcionis (502) sieht (dazu oben S. 258f.). Und durch eine prosodische Laune verrät er sich noch ein drittes Mal. Ich meine den Vers ham. 129, der die Messung Marciönita deus bietet, also auch kurzes i. Gegen diesen Vers wurde schon oben S. 258, Anm. 104 Verdacht geäußert. Er erhärtet sich, wenn man die Zeile im Zusammenhang liest (ham. 126ff.):

eines bösen Urwesens leugnen sehen, so wäre es unsinnig, jeden Gedanken an die heimische Häresie (d.h. den Priszillianismus) dem Dichter abzusprechen" (118f.). Merkle hat aber solchen Bezug nur im allgemeinen zugegeben (vgl. noch 121): vor Rosier sei es niemandem eingefallen, in Prudentius* Gedichten "eine direkte Bekämpfung dieser Häresie" zu suchen (125). Doch daß sich die Verse ham. 167ff. gegen Priscillian richten, erkannten, wie gesagt, schon alte Editoren, z.B. Arevalo: PL 59, 1023 D (zu ham. 162) und 1025 C (zu ham. 184); vgl. oben Anm. 114. Die neueren Arbeiten behandeln das Problem, soweit ich sehe, nicht; außer Vollmann (wie Anm. 118) 150/67, bes. 161 und PW Suppl. 14 (1974) 485/559 s. auch Henry Chadwick, Priscillian of Avila, Oxford 1976, 208/17 zu Turibius. 121 Die Verse ham. 350/53: Non tarnen idcirco duo numina nec duo rerum Artifices eqs. sagen nichts über Marcion; sie kommen nur falschen Folgerungen zuvor, die sich aus der Erschaffung der Welt durch Gott und die Weisheit (345), d.h. den Vater und den Sohn, ergeben könnten. Ungenau zu dieser Stelle Jean-Michel Fontanier, Le Christ crdateur chez Prudence: Recherches Augustiniennes 22 (1987) 109/28, hier 113: "L'adversaire du pofcte semble ... distinguer un 'crdateur des choses mauvaises' et un 'cr6ateur du bon'". An einen bestimmten Gegner ist hier überhaupt nicht gedacht.

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novimus esse patrem scelerum, sed novimus ipsum haudquaquam tamen esse deum, quin immo gehennae mancipium, Stygio qui sit damnandus Averno, Marcionita deus, tristis, ferus, insidiator, vertice sublimis, cinctum cui nubibus atris anguiferum caput et fumo stipatur et igni, liventes oculos subfundit feile perusto invidia inpatiens iustorum gaudia ferre. hyrsutos iuba densa umeros errantibus hydris obtegit et virides adlambunt ora cerastae.

Nachdem der Dichter versichert hat: sed novimus ipsum Haudquaquam tamen esse deum (126f.), schaltet der Fälscher ungerührt sein Marcionita deus ein! Damit sollte der Zeile 129 endgültig das Urteil gesprochen sein. Sie mag dazu bestimmt gewesen sein, die nachfolgende schauerliche, aber auch anspruchsvolle Darstellung (130/35) zu ersetzen. Denn insidiator scheint Anschluß an das Bild des Jägers und Fallenstellers (136ff.) anzudeuten122.

VI. Die von Prudentius bekämpften Irrlehren stimmen in dem überein, was in der Praefatio als Sünde der vom Fleisch vergifteten Seele und als Ursache ihres Todes angegeben war: sie teilen den Einen Gott (ham. praef. 60f.), d.h. sie nehmen zwei Prinzipien an, eines des Guten und eines des Bösen. Das Gedicht richtet sich also gegen den Grundirrtum des Dualismus. In der Ausführung des Themas behandelt der Dichter drei Formen dieses Irrtums, wobei er vielleicht der lex scholastica folgt, die jeweils drei Beispiele fordert123: 122 Herzog 94: "In der theologischen Vorstellung des Teufels als des insidiator (v. 129) liegt das poetische Bild des Jägers und Fallenstellers verborgen, das V. 136-141 ausgeführt wird". Ähnlich Palla 168 zu V. 129 insidiator: "questo termine ... prelude ... all' immagine del diavolo come cacciatore ..." etc. (Hervorhebungen von mir). 123 Vgl. Plin. epist. 2, 20, 9; Quintilian will von einer starren Anwendung der Regel nichts wissen (inst. 4, 5 , 3 ) . Plinius beobachtet sie in den Briefen des öfteren: Adrian Nicholas SherwinWhite, The Letters of Pliny, Oxford 19852, 3. 250 (zu epist. 3, 16, 13). Prudentius hat auch ham. 723/803 drei Beispiele, vgl. oben S. 85f. Nicht fünf. Daran halte ich trotz des Einspruchs fest, den Luis Rivero Garcia, La poesia di Prudencio, Universidad de Huelva 1996, 80 Anm. 204 erhoben hat.

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1) es gibt zwei Götter: beide sind Schöpfer, der eine ist Schöpfer des Guten, der andere Schöpfer des Bösen (ham. 1/16); 2) es gibt zwei Götter: der eine ist Schöpfer der ganzen Welt, auch des Menschen, zugleich Urheber des Bösen, der andere ist der liebevolle Gott, der den Menschen rettet (ham. 111/25); 3) es gibt Gott, den guten Schöpfer, und einen bösen Despoten, der seit Ewigkeit verborgen lebte, bis er plötzlich aus der Finsternis hervorbrach, um die Schöpfung Gottes zu verderben (ham. 167/79). Die erste Art des Irrtums wird mit keinem Namen verbunden, der Dichter läßt sie unmittelbar aus der Verirrung des äußeren, fleischlichen Menschen hervorgehen. Da er hier nicht ausdrücklich, wie in den anderen beiden Fällen, eine "Sekte" verantwortlich macht, hat er vielleicht den Dualismus zunächst nur in einer abstrakten, vereinfachten Form vorführen wollen. Als Begründer der zweiten Häresie wird Marcion genannt, die dritte ist wohl die Priscillians, dessen Name wegen des Metrums fortbleiben mußte. Daß mit ihr auch der Manichäismus abgewiesen wird, kann man wohl annehmen, auch wenn der Text keinen bestimmten Hinweis darauf bietet. Immerhin verurteilt der siebte Kanon des Konzils von Bracara Mani und Priscillian zusammen, und zwar aufgrund ihrer Lehre vom Bösen als einer ungeschaffenen Substanz124. Die verschiedenen Irrtümer werden bei Prudentius widerlegt durch Nachweis ihrer Verkehrtheit (a) und durch Darstellung der jeweils entgegengesetzten Wahrheit (b). Diese Wahrheit ist im Falle von Nr. 1 (zwei Schöpfergottheiten): das Geheimnis der beiden ersten göttlichen Personen (ham. 27/55); im Falle von Nr. 2 (ein böser Schöpfergott): der Teufel als Vater des Bösen (ham. 126/58); im Falle von Nr. 3 (plötzliches Auftauchen eines Fürsten der Finsternis): die allmähliche Depravation der Schöpfung durch ein anfangs gutes Geschöpf Gottes (ham. 180/ 246, mit fließendem Übergang zu den folgenden Sittenschilderungen). Die Refutationen der Irrtümer treffen sich in der gemeinsamen Stoßrichtung gegen den Dualismus und erlauben daher eine gleitende Gedankenbewegung: im Falle von Nr. 1 folgen die Beweisgänge a und b hintereinander (17/26 und 27/55) auf die Exposition des Irrtums (1/16); im Falle von Nr. 2 geht a (56/ 105: das Sonnensymbol) dem Referat der Häresie (106/25) voran, b folgt (126/58); im Falle von Nr. 3 ist die Wiedergabe der Irrlehre (167/79) einge124 Der Text ist oben Anm. 118 ausgeschrieben. Daß Prudentius in der Hamartigenie sogar vorzüglich den Manichäismus im Auge habe, behauptet Macklin Smith, Prudentius' Psychomachia. A Reexamination, Princeton N.J. 1976, 74.

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bettet in einen Gedankengang (159ff.), der eine Scheidung der Beweisarten vollends unmöglich macht. Im Ganzen läßt sich hinsichtlich des Umfangs das Gesetz der Steigerung beobachten. Auf den einzelnen Vers hin darf man die Sache freilich nicht durchrechnen, aber die Zunahme ist unverkennbar, wofern man die letzte Argumentation, wie billig, in die anschließenden Sittengemälde sich erstrecken läßt. Und in dieser Hinsicht darf man auch von einer Steigerung im Ausdruck des Gefühls sprechen125. Der Interpolator, der den echten Schluß der Praefatio (ß) durch die Marcion-Fassung (α) ersetzte, ließ sich, wie gesagt, von der Anrede Marcions ham. 56 und 124 inspirieren, dessen Namen er noch zweimal im Hauptgedicht (ham. 129 und 502) einfälschte. Die feinen Gedankenlinien des Texts zu verfolgen, die verschiedenen Formen des dualistischen Prinzips zu erfassen, war er nicht willens oder nicht fähig. Er bezog alles auf den einen Marcion. Insofern wurde es dem Gedicht zum Verhängnis, daß sein Autor mit den Namen der Häretiker so sparsam umging. Prudentius tat das übrigens nicht nur in der Hamartigenie, und der allgemeine Grund solcher Zurückhaltung metrische Zwänge beiseite - läßt sich leicht denken. Er ist indirekt zu Beginn der Apotheosis ausgesprochen, wo der Dichter versichert, er wolle nur wenige Falschlehren behandeln, ne dira relatu Dogmata catholicam maculent male prodita linguam (apoth. lf.). Was er hier von den dogmata sagt, gilt gewiß ebenso, ja vielleicht in noch höherem Maße von den nomina. Dem Dichter mußte es widerstreben, ihnen durch seine Gedichte Dauer zu verleihen; denn ein kunstvolles Lehrgedicht ist etwas anderes als ein prosaisches Ketzerwerk, und auch der Autor verbindet mit ihm andere Absichten und Erwartungen. Daher hat Prudentius in der Apotheosis auch nur zwei Gegner namentlich genannt: Sabelli (apoth. 178) und Manichee (apoth. 974) - im Vokativ, wie Marcion (ham. 56. 124) - dazu noch einmal Manicheus (956). Für ein ausgesprochen antihäretisches christologisches Lehrgedicht, das im überlieferten Textzustand fast elfhundert Hexameter umfaßt, ist das gewiß

125 Alles das muß fast notwendig verkennen, wer das Gedicht allein gegen Marcion sich richten läßt; so hat etwa B. Rötter, De hamartigeniae, carminis Prudentiani, auctoribus Christianis, Diss. Berlin (maschinenschriftlich) 1922, p. I/III eine Gliederung des Gedichts vorgelegt, die den Unterschied der vorgetragenen und bekämpften Lehren völlig außer Acht läßt. Darum hat er auch, getreu seiner These, Prudentius habe alle wesentlichen Gedanken von Tertullian bezogen, und gestützt auf die Darstellung bei Aime Puech, Prudence, Paris 1888, 174ff., die Bedeutung der Parallelen, die beweisen, daß Prud. ham. 174/79 den Priscillianismus meint, nach Kräften heruntergespielt (32/35). Auch in Pallas Übersicht (19ff.) ist das Relief verwischt.

XIII. Doppelter Gedichtschluß

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nicht viel126. Unter diesem Gesichtspunkt fällt es auch leicht, sich von dem Vorurteil zu befreien, als müsse Marcion in der Praefatio genannt sein und als müsse die α-Fassung echt sein, weil dort Marcions Name vorkomme. Ganz im Gegenteil. Daß der Dichter ihm diese Ehre erwiesen hätte, ist von vorneherein unwahrscheinlich. Aber das Streben, Eigennamen nachzutragen, bildet ein Kennzeichen interpolatorischer Arbeit, das uns auch im Verlauf dieser Studien begegnete (s. oben S. 24f. 227; vgl. auch 209). Man wird sich hier besonders daran zu erinnern haben, daß in der Praefatio zur Psychomachie der Name Melchisedechs durch eine zweizeilige Ersatzfassung eingefälscht wurde (s. oben S. 115f.). Im vorliegenden Fall kam freilich mehr hinzu. Die gedankliche Feinheit des echten Gedichtschlusses ß, die gleitende Entwicklung des allegorischen Sinnes, die kühne Verschränkung der Vorgänge des Teilens und Tötens: all das forderte zur Vereinfachung heraus; es sollte gleich reiner Tisch gemacht und rundheraus erklärt werden, welcher Ketzer mit Cain gemeint sei. Innerhalb der Typologie des Interpolationswesens steht das Stück α der "Schlußinterpolation" nahe127, das Phänomen des alter exitus ist aus der Textgeschichte der römischen Komödie bekannt128. Ist das falsche Etikett 'Marcion' abgelöst, tritt die allgemeine Ausrichtung des Gedichts, die man schon immer erkannt oder doch gefühlt hat, und damit auch seine wahre Aktualität

126 In den Anreden: sacrilegi doctores (apoth. 101), perdite (291) oder in Wendungen wie: occurrit dubitans hic dissertator (782) spürt man die Absicht, Namen zu meiden. Nimmt man noch die Psychomachie hinzu, wo Arrius und Fotinus erwähnt werden (psych. 794), kommt man für diese drei großen hexametrischen Gedichte auf fiinf Ketzernamen, die nur je einmal bzw. zweimal (Marcion und Manicheus) im Text erscheinen. Auch die Tatsache, daß Symmachus in den beiden gegen ihn gerichteten Büchern niemals genannt wird, nicht einmal in der Praefatio zum ersten Buch, die sich doch direkt gegen ihn wendet, darf man vielleicht in diese Überlegungen einbeziehen, mag auch der Fall nicht voll vergleichbar sein. 127 Der Terminus nach Jachmann, Schriften 416/19. Einen Musterfall bieten die beiden obskuren Verse, die dem dritten Buch des Sedulius angehängt sind (Sedul. carm. pasch. 3,338f.), jetzt richtig, wenn auch in der Entscheidung zurückhaltend, beurteilt von Michael Mazzega, Sedulius, Carmen paschale, Buch III = ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur 5, Basel 1996, 266f. Vgl. auch unten 675/77 zu Prud. psych. 309. 128 Zum vielerörterten Problem in Plautus' Poenulus vgl. jetzt Otto Zwierlein, Zur Kritik und Exegese des Plautus I, Stuttgart 1990 = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrg. 1990, Nr. 4, 56/ 101. Auch hier hat, Zwierleins Recherchen zufolge, ein "mittelmäßiger Bearbeiter" den echten Schluß ersetzen wollen, und auch hier g e h t in der Überlieferung d a s U n e c h t e (die Versreihe 1322/71, welche ihrerseits ein echtes Stück umschließt: 1338/41) d e m E c h t e n (1372/1422: dem sog. alter exitusl) v o r a n . Zum alter exitus in Terenzens Andria: Zwierlein ebd. 49f.; Rainer Jakobi, Die Kunst der Exegese im Terenzkommentar des Donat, Berlin/New York 1996 = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 47,26f.

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in voller Reinheit hervor129. Man sieht erst jetzt deutlich, daß der Dichter gegen einen prinzipiellen Irrtum ankämpft, gegen eine Verirrung, die aufgrund der Natur des 'Fleisches' und des Zustande der Schöpfung sozusagen jederzeit möglich ist. Dem Umfang nach entspricht der exegetische Teil des Gedichts (32/63), sind die zwölf unechten Verse (36/47) ausgeschieden, mit seinen zwanzig Zeilen fast genau dem Schlußstück der Praefatio zur Psychomachie (psych.praef. 50/68 = 19 Verse). Und das ist nicht bloß eine Äußerlichkeit: Klarheit und Zügigkeit der Exegese, hier wie dort Merkmale solcher Dichtung, sind für die Hamartigenie zurückgewonnen.

129 Einen Überblick über die Meinungen zur Frage der Aktualität gibt Palla 14/19. Belege für das Fortwirken Marcions auch im Westen sammelt Cesare Magazzü, L'attualitä dell' Hamartigenia di Prudenzio, in: Studi in onore di Anthos Ardizzoni, Roma 1978, 585/93. Er glaubt im übrigen, daß die eigentliche Aktualität des Themas in der Psychologie des Dichters faßbar werde. Smith wiederum (wie Anm. 124), unter dem Eindruck der Praefatio stehend, lehrt (50f.), Marcion sei fiir Prudentius in den zeitgenössischen Manichäern verkörpert ("spiritually embodied or fulfilled"). Solcher Spekulationen bedarf es nun nicht mehr.

XIV. FALSCHER MARCION Der Verfasser des unechten Gedichtschlusses ham. praef. 36/47 hat die Unterschiede, die der Dichter zwischen den dualistischen Lehren macht, eingeebnet, indem er die Cain-Fassung (48/63) durch seine Marcion-Fassung (36/47) ersetzte und somit implicite alles Folgende, jedweden Dualismus, für marcionitisch erklärte. Dieselbe Grobheit wiederholte er - er oder ein anderer Redaktor gleichen Schlags - nocheinmal in kleinerem Maßstab, dafür aber sozusagen ausdrücklich, innerhalb des Hauptgedichts. Er schob die Lehre von zwei S c h ö p f e r n Marcion unter, indem er mit Hilfe der echten Verse aus dem Gedichtanfang zwei eigene Zeilen zimmerte (ham. 93/94) und diesen Zusatz dort in den Text fügte, wo tatsächlich von Marcion die Rede ist. Doch gehen wir der Reihe nach vor! Hier nochmals die Anfangsverse des Gedichts (ham. Iff.): 1

5

quo te praecipitat rabies tua, perfide Cain, divisor blasfeme dei? tibi conditor unus non liquet et bifldae caligant nubila lucis? insincera acies duo per divortia semper spargitur in geminis visum frustrata figuris. terrarum tibi forma duplex obludit, ut excors dividuum regnare deum super aethera credas.

Der Ausdruck: bifidae... lucis in V. 3 ist auf verschiedene Weise mißverstanden worden. Gemeint ist weder das Augenpaar - darauf fuhren die Übersetzungen bei Stam1 und Lavarenne2 - noch die doppelte Gottheit (lux i.q. deus), wie Castiglioni und, von ihm beeindruckt, Palla wollen: "di una duplice potenza"3. Das Adjektiv enthält hier deutlich das Moment der Zweiteilung, vgl. ham. 791: bifido sub tramite (von der Weggabelung); cath. 5, 68: sub bifido

1 Stam übersetzt: "the blurred sight of your t w o e y e s " ; im Kommentar 136 zu V. 3 steht das Richtige: "the divided sight" neben Falschem: "lux = deus". 2 Lavarenne 2,43: "un brouillard pfcse sur tes d e u χ y e u χ et les rend aveugle." Offenbar wirkt die alte Glosse nach: lucis, oculorum (PL 49, 1011 D). Wenn Lavarenne, Etude § 1634, den ganzen Ausdruck unter die "exemples d'expressions bizarres" rechnet, ohne ihn durchschaut zu haben, beweist das nur, wie kritisch seine Liste der "ddfauts" aufzunehmen ist. 3 Luigi Castiglioni: Gnomon 18 (1942) 175; Palla 138f.

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aequore (vom Roten Meer beim Durchzug der Israeliten). Und lux steht in der Bedeutung von "Augenlicht". Also: "Ist dir der Eine Schöpfer nicht klar, und dunkelt dir das Gewölk zweigeteilten Augenlichts?". Zu dieser Bedeutung von lux vgl. Apul. Plat. 1, 14 p. 209: ac primo oculorum acies gemellas perlucidas et quadam luce vis ionis inlustres noscendi luminis officium teuere·, Tert. adv. Marc. 5, 17, 5: ille dabit illuminatos cordis oculos qui etiam exteriores oculos luce ditavit ; Arnob. nat. 1, 50: (Christus dedit) visum luminibus caecis ...et hi quoque (sc. piscatores, opifices etc.) ... luce oculos implevere iam perdita; Prud. cath. 9, 36: mox apertis hac medella lux reducta est orbibus\ apoth. 688: (Christus iubet) infus a vultum splendescere lue e \ Vollkommen richtig übersetzt daher Thomson5: "Is not the one creator plain to thee? Is thy vision befogged and double?" Zwar besteht ein gewisser Gegensatz zwischen den Ausdrücken conditor unus (2) und bifidae... lucis (3), aber diese Antithese rückt absichtsvoll den geistigen und den visuellen Fehler zusammen, wie ja in dem ganzen Stück ham. 1/7 die dualistische Häresie aus dem krankhaften Doppelt-Sehen des Wahnsinnigen hergeleitet wird (s. oben S. 335f.). Auch die Wendung duo per divortia (4) zielt nicht unmittelbar auf die Annahme zweier Götter, sondern zeigt die Art der Erkrankung des geschädigten Sinnesorgans an (vgl. 4: insincera acies), aus der sich der Irrglaube erst ergibt (vgl. 6f.: ut... credas). Wenn die Interpreten an der Junktur bifidae ... lucis (3) etwas zu deuteln fanden, so erklärt sich das zum Teil daraus, daß sie auf die vermeintliche Parallele in dem interpolierten Verspaar ham. 93/94 blickten und das Echte mit Hilfe des Unechten zu erfassen suchten6. Wird nämlich die Fälschung nicht durchschaut, wirft sie ihren Schleier auch über das Dichterwort, das sie kopiert. Gegen Marcion, der mit V. 56 erstmals auftritt, führt Prudentius das Sonnensymbol an (6Iff.): Es gibt nur eine Sonne, die uns vom Schöpfer in weiser Voraussicht zum Zeichen der Einzigkeit Gottes und zugleich - aufgrund ihrer dreifachen Funktion des Leuchtens, der Bewegung und der Wärme - als Bild der Hl. Dreifaltigkeit vor Augen gestellt ist (61/84)7. Doppelt 4 Diese und weitere Belege im Thesaurus 7, 2, 2, 1914, 5ff. s.v. lux (Widu-Wolfgang Ehlers): "speciatim de virtute oculorum". Unsere Stelle (Prud. harn. 3) wäre hinzuzufügen. 5 Thomson 1, 205. 6 Castiglioni beruft sich ausdrücklich auf V. 93; auch Palla zieht das Verspaar 93/94 zur Erklärung heran. 7 Dazu s. Hermes 111 (1983) 339f.

XIV. Falscher Marcion

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sieht man die Sonne nur, wenn man am grünen Star {glaucoma) leidet, oder dann, wenn sich infolge dichter Wolkenbildung das Naturphänomen der Nebensonne zeigt (85/88). Auch die Seele hat ihre Wolken und ihr Glaukom, auch ihre Sehschärfe kann getrübt werden, so daß sie die Einzigkeit Gottes nicht erfaßt (89/92): zwei Götter aber sind um nichts besser als viele (95/105)8. Ich schreibe das Stück so weit aus, daß die Umgebung des Interpolaments (93/94) genügend hervortritt (ham. 85ff.): 85

90

95

nemo duos soles nisi sub glaucomate vidit aut, si fusca polum suffiidit palla serenum, oppositus quotiens radiorum spicula nimbus igne repercusso mentitos spargit in orbes. sunt animis etiam sua nubila, crassus et aer, est glaucoma, aciem quod tegmine velat aquoso, libera ne tenerum penetret meditatio caelum neve deum rapidis conprendat sensibus unum. spargitur in bifldas male sana intentio luces et duplices geminis auctoribus extruit aras. si duo sunt igitur, cur non sint multa deorum milia, cur numero deitas contenta gemello est? ac non in populos dispersa examina divum fundere erat melius ... eqs.

Die Wörter, die hier im Druck hervorgehoben sind, holte sich der Flickschuster aus den oben S. 357 ausgeschriebenen Eingangsversen des Gedichts. Aber er hat das Übernommene nicht zu voller Klarheit bringen können. Die Wendung: in bifidas ... luces verbreitet Unsicherheit. Eigentlich müßten die beiden Götter Marcions gemeint sein. Denn mit V. 89: sunt animis etiam sua nubila ... eqs. hat Prudentius schon vom körperlichen Auge zum Seelenauge übergeleitet. Luces als Metapher für den guten u n d den bösen Gott stünde allerdings nicht glücklich, ganz gleich, von wessen Standpunkt aus man die Sache betrachtet. Vor allem aber läßt sich aufgrund des Vorhergehenden die Bedeutung luces i.q. soles (85), orbes (88) nicht fernhalten. Und da also hier von zwei Sonnen und im nächsten Vers von zwei Schöpfern die Rede zu sein

8 Zum Gedanken Tert. adv. Marc. 1, 4, 1; 1, 5, 1 (CCL 1, 444f.; 446) und Palla 159. Vgl. auch Aug. c. Faust. 20, 5 (CSEL 25, 539): Heidentum ist besser als Manichäismus.

360

Prudentiana I. Critica

scheint, findet man sich zu der absonderlichen Unterstellung gedrängt, als habe nach Marcion jeder der beiden auctores eine Sonne geschaffen. Oder auch: beide zusammen beide Sonnen. Stam hat den Widersinn gefühlt: "Here we must not think of gods, who have made the luces (1. 93). Otherwise an illogical line of thought must be assumed with Prudentius." Während er nun einerseits solche gedankliche Schiefheit dem Dichter zutraut9, versucht er andrerseits, sie zu begradigen, indem er erklärt: "auctoribus: deis". Aber Stams Auswege sind unerlaubte Ausflüchte. Gerade im Context dieses Lehrgedichts darf auctor nicht ohne weiteres in Richtung auf die allgemeine Bedeutung von deus verschoben werden10. Das Wort steht ja auch in den gefälschten Versen keineswegs zufällig. Denn in der Eingangspartie des Gedichts, wo sich der Interpolator das Wortmaterial lieh, traf er wirklich die Lehre von den zwei Schöpfern an (14/16), die er an diese Stelle übertrug, der Tatsache nicht achtend, daß sich inzwischen mit der Einführung Marcions (56ff.) die Spitze der Polemik auf ein anderes Ziel gerichtet hatte (hierzu ausführlich oben S. 343/46). Dadurch erzeugte er einen groben Widerspruch zur folgenden Rede des Ketzers (111 ff.): lU η us ... tristi residet sublimis in arce Auctor nequitiae ...' eqs. Diese offensichtliche Diskrepanz läßt sich durch keine Tüftelei zudecken. Von zwei Schöpfern ist bei Marcion nur im speziellen Zusammenhang der Lehre vom 'Sichtbaren' und 'Unsichtbaren' die Rede (s.oben S. 342). Sie bleibt hier und überhaupt in dem ganzen Gedicht außer Betracht, kann daher auch nicht plötzlich aus der Versenkung geholt werden. Selbst wenn man also dem Interpolator - gewiß unverdientermaßen - unterstellen wollte, er habe daran gedacht: verständlich wäre solche Absicht hier nicht, der Widerspruch nicht aufgelöst11. Prudentius kannte Marcions Hauptdogma, wie eben die direkte Rede ham. 111/23 beweist, und auch noch der Verfasser

9 Wofür er sich (156 zu V. 94) auf Lavarenne beruft, der mit seinem Katalog vermeintlicher "Fehler" (s. oben Anm. 2) solcher Einschätzung des Dichters im allgemeinen vorgearbeitet hatte. 10 Auctor i.q. conditor, factor: ham. 299. 381 (absolut); 112. 641. 661f. (mit Genitiv); vgl. 33 generisque et originis auctor. Das Wort gebraucht Prudentius überhaupt nie einfach für deus. Den Plural auctoribus i.q. creatoribus hat nur der Interpolator. In anderer Bedeutung: c. Symm. 1,165; 2,679. π Tertullian adv. Marc. 1, 16, 1 (CCL 1, 457) äußert sich dagegen völlig klar: non comparenteigitur mundo alio, sicutnec deoeius, consequens est, ut duas species rerum, visibilia et invisibilia, du ob us auctoribus deis dividarti et ita suo deo invisibilia defendant. Und auch in der rhetorischen Zuspitzung bei Hieronymus in Is. 12,45 (CCL 73 A, 506) ist die Sache festgehalten: confundetur Marcion, duos deos intellegens, unum bonum et alium iustum; alterum invisibilium, alterum visibilium conditorem. e quibus prior lucem facial, secundus tenebras; ille

XIV. Falscher Marcion

361

des carmen adversus Marcionitas kannte es12. Der Pseudo-Prudentius aber wischt leichtsinnig darüber hinweg. Eine Verschiefimg der Tatsachen verrät auch der Ausdruck: extruit aras (94). Die Marcioniten denken nicht daran, b e i d e n Göttern, also auch dem bösen Demiurgen, A l t ä r e zu errichten. Diesem widersetzen sie sich vielmehr auf jede Weise13. In der Haltung der άντίταξις gegenüber dem Schöpfer wurzelt auch die strenge Askese Marcions; sie wurde geübt ad destruenda et contemnenda et abominanda opera creatoris (Hier. adv. Iovin. 2, 16: PL 23, 323 C). Nun entwickelt allerdings Prudentius selbst später einen Gedanken, der dem Irrtum des Interpolators Vorschub leisten konnte. Nachdem er Marcions bösen Gott als Teufel entlarvt und das Treiben des Jägers Nimrod (d.h. des Teufels) geschildert hat, führt er lebhafte Klage, daß der Mensch in dieser bösen Macht sein eigenes Verderben v e r e h r e (150/58). Ich schreibe den Text wieder in etwas weiterem Umfang aus (ham. 142ff.) - auf die sententiolae 149 und 155f. gehe ich nur beiläufig ein14: 142

145

hie est ille venator atrox, qui caede frequenti incautas animas non cessat plectere, Nebroth, qui mundum curvis anfractibus et silvosis horrentem scopulis versuto circuit astu,

pacem, hie malum... eqs. Das zweite Gegensatzpaar macht deutlich, inwiefern Marcion von zwei Schöpfern spricht. 12 Carm. adv. Marc. 1, 73ff. Der zeitliche Ansatz des Gedichts auf die Jahre zwischen 420 und 450, den Karla Pollmann, Das Carmen adversus Marcionitas, Göttingen 1991 = Hypomnemata 96, 33 vorschlägt, wird von Isabella Gualandri: Gnomon 69 (1997) 161f. in Zweifel gezogen. Die prosodischen Freiheiten scheinen auf spätere Zeit zu weisen. 13 Harnack, 149. 277*. 14 Zu V. [149]: Tod und Teufel sind nicht dasselbe - und mors und pernicies (vgl. 151) auch nicht! Der logische Bezug des Satzes zur Umgebung ist überhaupt unsicher. Auch ein sinnvolles Verhältnis zum vergilischen Text, der den centonenhaften Vers rechtfertigte, läßt sich nicht erkennen. Der Anruf Vergils: improbe amor, quid non mortalia pectora cogis! (Aen. 4, 412) begleitet Didos Selbsterniedrigung, die durch Bitten Aeneas zum Verweilen bewegen will. Das Stichwort gab dem Interpolator wohl moritura (Aen. 4, 415). Es reizte ihn, das bekannte Dictum (vgl. auch Verg. Aen. 3, 56f.) hier einzuschieben. Etwa gleichen Kalibers ist das sentenziöse und zugleich prosaische Emblem ham. [257]: auri namque famespartofit maior ab auro - zusätzlich bezeugt durch die indirekte Überlieferung (Greg. Tur. vit. patr. 6 p.819, 14); vgl. Meyer, Prudentiana 336. Nam (namque) gehört übrigens zu den Lieblingswörtern der Interpolatoren, worüber ein Blick in die neue Teubneriana Juvenals belehrt (ed. James Willis, Stuttgart/Leipzig 1997): 1, 137f.; 3, 242; 6, 444/47; 7, 181; 10, 349; 11, 161; 11, 176/78; 13, 109; 15, 69/71 del. Willis - fast stets nach dem Vorgang anderer. Eine weitere nam-Interpolation deckte schon Colombo (175) in unserem Gedicht auf: ham. [347]: nam deus atque deus pater est et filius unum. Der verschrobene Vers ist natürlich nicht etwa deswegen echt, weil er Joh. 10, 30 verarbeitet: Ego et Pater unum sumus (dies gegen Palla 208 zu ham. 340). Zu V. [155f.] s. folgende Anmerkung.

Prudentiana I. Critica

362

150

155

fraude alios tectisque dolis innectere adortus, porro giganteis alios luctando lacertis frangere, fimereos late exercere triumphos. improba mors, quid non mortalia pectora cogis? ipse suam - pudet heu! - contempto principe vitae perniciem veneratur homo, colit ipse cruentum carnificem gladiique aciem iugulandus adorat! in tantum miseris peccati nectare captis dulce mori est, tanta in tenebris de peste voluptas. qui mala principio genuit, deus esse putatur, quique bona infecit vitiis et Candida nigris! par furor illorum, quos tradit fama dicatis consecrasse deas Febrem Scabiemque sacellis.

Wenn Prudentius sagt (150/52), der Mensch verehre in Marcions bösem Gott, d.h. im Teufel, sein eigenes Verderben, seinen Henker, das scharfe Henkersschwert, durch das er getötet werden wird, so ist mit den Wörtern der Verehrung (veneratur, colit, adorat) nur der Gottesbegriff verbal und füllig ausgedrückt, also die Tatsache, daß der Mensch den "Vater der Sünde" (126) für G o t t hält - vollkommen richtig erfaßt, wenn auch unsäglich platt hervorgebracht von dem Verfasser des glossematischen Einschubs 155f. {deus esse putatur)15. Denn es geht dem Dichter ja nicht darum, zu beweisen, daß es das personale Böse nicht gibt, sondern darum zu zeigen, daß es nicht, wie Marcion lehrt, G o t t ist. Entsprechende Feststellungen rahmen diese Versreihe, vgl. 126f.: novimus essepatrem scelerum, sed novimus ipsum Haudquaquam tarnen esse de um ... eqs.; 159: Inventor vitii non est deus ... eqs. Man darf also jene Verben des Verehrens nicht pressen; eine Kultpraxis zu Ehren des Demiurgen ist darin nach Absicht des Dichters nicht involviert. Das bestätigt gerade der Vergleich mit dem heidnischen Kult der dea Febris und der dea Scabies, denn um einen Vergleich handelt es sich: par furor illorum ... eqs. (157f.). Aber es ist klar, daß in solcher Redeweise die Gefahr der Vergröberung lag, und das Interpolament ham. 93/94 führt uns vor, wie sie Wirklichkeit werden konnte: jetzt errichtet der Häretiker seinen beiden Göttern bzw.

15 Dem erklärenden Vers [155] fügte er in V. [156] noch eine sprichwörtliche Redensart an (vgl. Palla 171 ad loc.), welche die Furchtbarkeit des Geschehens (vgl. 113/19) in trockener Schulweisheit zusammenfaßt.

XIV. Falscher Marcion

363

Schöpfern tatsächlich Altäre: extruit aras\ Der Versschluß erinnert an apoth. 190 consecret aras\ zu male sana intentio vgl. psych. 203: male sana Superbia (wiederum gleiche Versstelle). Vielleicht hat also der Mosaizist auch diese Steinchen beim Dichter gefunden. Intentio - in der Poesie nur hier! - mag in Anlehnung an meditatio (91) gewählt sein. Das Motiv des Fälschers war vermutlich nicht ein sachliches oder theologisches, sondern ein gewissermaßen äußerliches und triviales. Ihn störte wohl die elliptische und leicht inkonzinne Ausdrucksweise: Si duo sunt igitur, sc. de i, cur non sint multa deorum Milia ... eqs. (95f.)16. Zwar kann der Sinn hier nicht wirklich zweifelhaft sein, zumal sich aus dem betonten Begriff der Einheit im vorhergehenden Vers: deum ... unum (92) die richtige Ergänzung zu duo ohne weiteres ergibt, aber dem Bearbeiter mochte das nicht genügen. Er wollte wohl der Zahl duo ein direktes Bezugswort verschaffen, einen Ausdruck für die Zweiheit schon vorher im Text verankern, und diesem Zweck dient sein zweizeiliges Emblem; man soll jetzt jedenfalls in V. 95 ergänzen: Si duo sunt igitur, sc. auc t ο r e s, cur non sint multa deorum Milia ... eqs.? Um sich die Arbeit zu erleichtern, griff er auf Formulierungen des Dichters in den Anfangsversen zurück, die ihm wegen der ähnlichen Thematik passend erschienen, und scheute sich auch nicht, den einprägsamen Versbeginn (5): spargitur (in) zu übernehmen, obwohl ihm in der neuen Umgebung (93) spargit vorausgeht (88) und dispersa (97) folgt. Daß das Bemühen, den Text durch Ergänzung eines syntaktischen Elements lesbarer zu machen, größere Einfügungen hervorruft, ist keineswegs unerhört. Ähnliches Streben verursachte die einst von Meineke aufgedeckte, von Jachmann (Schriften 451/54; 460) eingehend behandelte, von Shackleton Bailey (Teubneriana 19851. 19953) - ohne Erwähnung Jachmanns - in Klammern geschlossene Binneninterpolation Hör. epist. 1, 18, 91ex/92in (vgl. oben S. 35).

16 Bergmans Interpunktion in V. 95 (nach sunt), der die Handausgaben und die beiden Kommentatoren folgen, ist falsch. Igitur steht im Fragesatz sehr selten an erster Stelle, so gut wie nie vor dem Fragepronomen; vgl. (Otto Skutsch) - Bernhard Rehm s.v. igitur: ThLL 7, 1, 253, 73ff. Prudentius setzt igitur sonst an die zweite Stelle, enim gelegentlich auch an die dritte (ham. 648; c. Symm. 1, 315; per. 9, 27). An späterer Stelle haben es u.a. Lucrez und Cicero: ThLL ebd. 254, 38ff. Hier in V. 95 gehört die folgernde Partikel zur Aussage des ganzen Satzes. Cunningham vermeidet es, sich festzulegen, alle älteren Editoren, soweit ich sehe, auch noch Dressel, interpungierten richtig nach igitur.

XV. FLICKVERSE

Interpolamente sind bisweilen aus echtem Dichterwort zusammengestückelt und dem Text an unpassender Stelle aufgesetzt1. Dieses plagiierende Verfahren, für das die zuletzt behandelten Verse ham. 93f. ein Beispiel lieferten, läßt sich in demselben Gedicht anhand zweier Einfälschungen beobachten, die als solche schon durch den handschriftlichen Befund gekennzeichnet sind. Ich beginne mit diesen bekannten Fällen (Nr. 1), um dadurch die Aufdeckung eines neuen (Nr. 2) vorzubereiten.

1.

Gott hat uns die eine Sonne als Symbol Seiner Einzigkeit vor Augen gestellt, weil Er die Irrlehre Marcions voraussah (ham. 67ff.): 67 69

Idcirco specimen posuit spectabile nostris exemplumque oculis, ne quis duo numina credat imperitare vagis mundi per inania formis.

V. 69 wurde in Klammern geschlossen von den Editoren Nicolaus Heinsius (1667), Dressel (1860), Bergman (1926) sowie von den Kommentatoren Stam (1940) und Palla (1981), in den Apparat verbannt von Obbarius (1845) und Cunningham (1966). Er ist interpoliert, aber nicht allein deswegen, weil er durch den urkundlichen Befund schwer diskreditiert wird2, sondern weil er trotz einer gewissen Scheineleganz, die er den wörtlichen Anleihen beim Dichter selbst verdankt, unpassende und verschwommene Vorstellungen hervorruft.

ι "Flickverse" nennt sie Jachmann, Schriften 405; ebd. 428: "Flickpoet". Von "CentoPartien" spricht - im Anschluß an Bentley (zu Hör. ars 337) u.a. - Marcus Deufert, PseudoLukrezisches im Lukrez. Die unechten Verse in Lukrezens "De rerum natura", Berlin/New York 1996 = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 48, 116ff. Ebd. 31, Anm. 149 zur Geschichte des Begriffs. 2 Übersicht über den Befund bei Bergman, De codicum virtute 30/32. Der Vers fehlt im Puteanus und in einer Reihe anderer Handschriften, die Bergman bevorzugt, wird aber immerhin von insgesamt 24 der in Bergmans "Tabula interpolationum" erfaßten Codices im Haupttext

X V . Flickverse

365

Sollte der Satz: ... ne quis duo numina credat durch einen Infinitiv ergänzt werden, so mußte jedenfalls der dann von credat abhängige Accusativus c. inf. die Ansicht Marcions ebenso wiedergeben wie der bloße Objektsakkusativ duo numina. Nun entspricht es aber keineswegs marcionitischer Theologie, daß die beiden Götter in den leeren Räumen des Kosmos ihre Herrschaft ausüben, wie denn auch davon bei Prudentius nirgends die Rede ist. Wenn er dem Häresiarchen vorhält (harn. 56f.): 56

haec tibi, Marcion, via displicet, hanc tua damnat secta fidem dominis caelum partita duobus,

so ist darin nicht eigentlich eine Ortsangabe involviert, sondern bloß die Tatsache umschrieben, daß Marcion die Existenz zweier Götter lehrt. Dieses Grunddogma des Dualismus hatte er schon eingangs, noch in allgemeiner Wendung gegen den fleischlichen Menschen (gleich Cain), fälliger ausgedrückt (ham. 6ff.): 6

terrarum tibi forma duplex obludit, ut excors dividuum regnare deum super aethera credas. bina boni atque mali glomerat discrimina sordens hie mundus, domino sed caelum obtemperat uni.

Der Dualist beansprucht für seine beiden Götter den "Himmel", also eine Existenz außerhalb und oberhalb der geschaffenen Welt. Super aethera bedeutet: über der Region des Äthers und der Sterne, und V. 9 scheidet klar zwischen mundus und caelum; letzteres nimmt der Verblendete zu Unrecht für jenen zweiten, falschen Gott in Anspruch. In Wahrheit treibt allerdings der böse Feind tatsächlich unterhalb der Sonnenregion sein Unwesen. Denn auf ihn zielt die Periphrase ham. 503: qui regit aerio vanas sub sole tenebras3. Aber das ist die Richtigstellung der Irrlehre vom Standpunkt des orthodoxen Dichters aus. Prudentius schreibt weiter (ham. 517ff.): 517

520

scilicet hoc medium, caelum inter et infima terrae quod patet et vacuo nubes suspendit hiatu, frena potestatum variarum sustinet ac sub principe Belia rectoribus horret iniquis.

geführt, dazu von acht weiteren am Rande, teils in der oben ausgeschriebenen Form: imperitare vagis ...formis, teils in der Fassung: imperitare vagas ...formas. Β fällt hier aus. 3 Der vorhergehende Vers (ham. 502) ist interpoliert; vgl. dazu oben S. 256/61.

Prudentiana I. Critica

366

Es ist die Lehre des Prudentius, daß der böse Gott, den die dualistischen Theologien voraussetzen, d.h. der Teufel, innerhalb des mundus - genauer gesagt: in einem bestimmten Teil des mundus - lebt und webt, aber es ist weder die Lehre des Prudentius noch die Marcions, daß beide: Gott und Teufel bzw. guter Gott und böser Gott, in den Räumen der Schöpfung walten, noch dazu vagis ...formis oder gar vagas ...formas, "als schweifende Gestalten"4. Palla, der in seinem Kommentar der Besprechung des problematischen Verses viel Platz einräumt, hat die inhaltliche Unstimmigkeit, die zuungunsten der Zeile entscheidend ins Gewicht fällt, nicht berührt5. Er nennt, im Anschluß an Pelosi6, einige Passagen aus Prudentius, die den Fälscher inspiriert haben mögen. Dabei zeigt sich, in welchen Zusammenhang die Vorstellung der vagae formae eigentlich gehört: in die Charakteristik des heidnischen Götterwahns. Prudentius klagt, an Kaiser Theodosius erinnernd (c. Symm. 1, 9ff.):

10

inclytus ergo parens patriae moderator et orbis nil egit prohibendo, ν a g a s ne pristinus error crederet esse deum nigrante sub aere f o r m a s aut elementorum naturam ... eqs.?

Bemerkenswert ferner, wie Palla zu Recht betont, dieselbe Stellung des Ausdrucks im Vers c. Symm. 1, 446: 445

sed nec virtutes hominum Deus aut animarum spirituumve v a g a e tenui sub imagine f o r m a e .

Prudentius verarbeitet seinerseits Vergil Aen. 6,292f.: Et ni docta comes tenuis sine corpore vitas Admoneat volitare cava sub imagine formae ... eqs. Aber was zur Beschreibung des Polytheismus taugt, das taugt noch lange nicht zur Charakteristik der häretischen Theologie. In der Verschwommenheit zeigt 4 Das sind die handschriftlichen Varianten, vgl. oben Anm. 2. 5 Und wohl auch nicht gesehen, wie der folgende Satz nahelegt (Palla 155): "II motivo e l'origine dell' interpolazione possono forse essere ricercati nel fatto che nei precedenti versi dell' Hamartigenia Prudenzio ha giä espresso, e non solo una volta, l'immagine di due d6i che regnano n e l c i e 1 o" [Sperrung von mir]. Ja, das tat Prudentius, aber das tut eben nicht der Verfasser der Zeile 69! 6 Pelosi 171. Er bemerkt anläßlich dieses Falls: "Bisognerebbe perciö supporre un interpolatore abile e fedelissimo alio stile e alia lingua di Prudenzio". An einen solchen wollte er freilich nicht glauben, weshalb er denn, getreu seiner allgemeinen Anschauung, das Elaborat für prudentianisch erklärte. Wie es in Wahrheit um die abilitä des Poetasters steht, ist oben ausgeführt.

XV. Flickverse

367

sich der Interpolator: in einer Unklarheit nicht des Worts, sondern des Gedankens. Der interpolierte Vers trifft weder christlich-katholische noch marcionitische noch heidnische Theologie, wie Prudentius sie sah; denn auch zur letzteren paßt der Einschub nicht: vgl. [harn. 69] mundiper inania gegenüber c. Symm. 1,11 nigrante sub aere\ Die Annahme, dieser Hexameter stamme von Prudentius, ist mithin nicht nur "molto difficile" (Palla), sondern durchaus "impossibile"7. Den Eindruck der Flickschusterei vervollständigt das Verbum imperitare. Palla erinnert daran, daß das von den klassischen Dichtern gemiedene Wort8 bei Prudentius immerhin sechsmal vorkommt, einmal sogar zusammen mit dem Substantiv formas einen Hexameter rahmt (apoth. 1031 f., über die Erschaffung der Welt): 1031

... omnia iussu i m p e r i t a n t e novas traxerunt edita f o r m a s .

Der Fall beweist, wie die Fälscher ihr Material aus verschiedenen Werken des traktierten Autors zusammenholen, wie sie klittern und kleben, aber über der Wortklauberei den Faden verlieren, den der Dichter spinnt. Dem Motiv nach gehört diese Eindichtung wieder in den weiten Bereich der syntaktischen Interpolation9. Prudentius verbindet credere in der Bedeutung "glauben an" durchaus mit dem Akkusativ, sagt also deum credere, Christum credere, omnipotentem credere (apoth. 367; per. 5, 348; c. Symm. 2, 104f.; vgl. apoth. 579f.), aber dem Textbearbeiter sagte offenbar die vollere Konstruktion mit dem Infinitiv mehr zu, und deshalb verlängerte er den Text um eine Zeile. Dem Typ nach ungefähr vergleichbar ist eine Versinterpolation im ersten Buch Contra Symmachum. Unter der Tyrannei des Maxentius wurden Frauen und Töchter der Senatoren geraubt, aber Verlobte und Gatten mußten sich hüten, ihren Unwillen zu zeigen (c. Symm. 1,470/75), und nicht besser erging es den Vätern (477/80): 477

plena puellarum patribus ergastula saevi principis; abducta genitor si virgine mussans tristius ingemuit, non ille inpune dolorem

7 Ich wiederhole hier, wörtlich, das Urteil, das ich im Gnomon 58 (1986) 31 ohne weitere Begründung abgab. 8 Vgl. Bertil Axelson, Unpoetische Wörter, Lund 1945, 28. 9 Vgl. oben S. 184. 237. 260.

368

Prudentiana I. Critica

480 prodidit aut confessa nimis suspiria traxit 480a vim libertatis nimiam patriumque dolorem. Auch hier ist Heinsius in der Athetese vorangeschritten, die modernen Editoren seit Obbarius folgen ihm alle, und in der Tat sticht ja die Unverträglichkeit des Zusatzes förmlich ins Auge. Bei Prudentius steht confessa (sc. suspiria) etwa im Sinne von manifesto}0, der Redaktor aber wollte dem Partizip ein eigenes Objekt geben11 und scheute nicht die gröbste Wiederholung des Wortbestands, um dieses Ziel zu erreichen (nimis - nimiam, dolorem - dolorem). Daß ihm der Ausdruck: vim libertatis nimiam außerdem recht nebelhaft geriet, sei nur nebenbei vermerkt. Die beiden spätantiken Handschriften fallen hier aus, aber sechs der zehn Codices des neunten und zehnten Jahrhunderts, die Bergman für die Textkonstitution heranzieht12, und noch vierundzwanzig weitere etwa gleichen Alters, deren Zeugnis er in seiner "Tabula interpolationum" verzeichnet, führen den Vers im Haupttext13, was abermals daran erinnert, daß die Qualität des interpolatorischen Produkts und das Gewicht seiner urkundlichen Bezeugung nicht unbedingt in ein rationales Verhältnis zu bringen sind. 2.

Die keusche Vestalin im Amphitheater, die, fortgerissen von wilder Leidenschaft für das blutige Fechterspiel, aufspringt, wenn ein Gladiator getroffen wurde, und converse pollice den Todesstoß fordert, gehört zu jenen Gestalten des christlichen Juvenal, die sich dem Leser unauslöschlich einprägen14. Wohl gerade darum hat sie eine Fälscherhand angelockt, die dem Bilde 10 Vgl. Min. Fei. 17,4: quid enimpotest esse tarn apertum, tarn confessum tamqueperspicuum ... eqs.?; Arnob. nat. 5, 30: confessis maledictionibus. Weiteres im ThLL 4, 232, 44ff. Der Übergang in diese Bedeutung läßt sich an den Prudentiusversen besonders schön ablesen, π Ein ähnlicher Fall im Euripidestext: Jachmann, Studien 556f. 12 Bergman, Ausgabe 237: hier im Apparat weitere Einzelheiten (libertatis, v.l. pubertatis). Cunningham 202 pflegt hinsichtlich der Mitteilungen zum Befund seine radikale, in ihren Prinzipien undurchsichtige Beschränkung. 13 Bergman, De codicum virtute 30/32: zehn der insgesamt 62 Handschriften fallen hier aus, sieben zeigen den Vers am Rande. Es sei nochmals erwähnt, daß Bergmans Tafel nur für einige ausgewählte Interpolamente solche Übersicht bietet. 14 Vgl. Juv. 3, 36f. (quondam hi comicines) Munera nunc edunt et, ν er so pollice vulgus Quom iubet, occidunt populariter. Über diese formale Gleichheit hinaus sind beide Darstellungen durch den Ton des Sarkasmus verbunden, der freilich beim christlichen Autor einem ganz anderen Zweck dient.

XV. Flickverse

369

eigene Tünche anzukleistern suchte (c. Symm. 2, 109Iff.): 1091 inde ad consessum caveae pudor almus et expers sanguinis it pietas hominum visura cruentos congressus mortesque et vulnera vendita pastu spectatura sacris oculis. sedet illa verendis 1095 vittarum insignis faleris firuiturque lanistis. Ο tenerum mitemque animum! consurgit ad ictus et, quotiens victor ferrum iugulo inserit, illa delicias ait esse suas pectusque iacentis virgo modesta iubet converso pollice rumpi, 1100 ne lateat pars ulla animae vitalibus imis, altius inpresso dum palpitat etise secutor. hoc illud meritum est, ... eqs. Im handschriftlichen Befund findet die Athetese keine Stütze15, und doch sollte es eigentlich genügen, die Verse wortlos in Klammern zu schließen. Nach rumpi muß Satzschluß sein: weil damit ein Ende erreicht ist, das eine Fortsetzung nicht leidet; weil die Wucht des schrecklichen Schlusses durch genüßliches Schwelgen im blutrünstigen Detail unsäglich gemindert wird; weil der Todesstoß, nicht aber ein Wühlen in den inneren Organen gefordert ist, der Finalsatz also geradezu unsinnig anmutet16. Aber der Fall ist wiederum lehrreich, weil er uns Einblick in die Arbeitsweise der Redaktoren gewährt. Denn auch hier zeigt sich das interpolatorische Verfahren, den Autor zu plagiieren und aus den echten Elementen eine schillernde Mischung zusammenzubrauen. Prudentius vertritt die Unkörperlichkeit der Seele, und aus diesem Grunde sind gleich Subjekt u n d Prädikat des Finalsatzes auf einmal schief: ne lateat pars ulla animae ... eqs. Die Seele besteht nicht aus sichtbaren Partikeln, die sich irgendwie zeigen könnten, wenn der Leib des Menschen geöffnet wird. Von Seelenteilen darf man nur im geistigen Sinne reden, das ist bei Prudentius nicht anders als bei Piaton (vgl. c. Symm. 2, 627: animi

15 Für diesen Teil des Gedichts fällt außer den beiden spätantiken Textzeugen (A und B) auch der Sangallensis (S) fort. 16 Nicht als ob solche Scheußlichkeiten der Arena fremd seien! Vgl. Lact. inst. 6, 20, 12: quin etiam percussos iacentesque repeti iubent et cadavera ictibus dissipari, ne quis illos simulata morte deludat. Aber es kommt auf die Situation an. Im Zustand höchster Erregung fordert die Vestalin den Todesstoß (Prud.: pectus ... rumpi), nicht die Prüfung des eingetretenen Todes (Lact.: cadavera ... dissipari).

370

Prudentiana I. Critica

... partes). Dennoch hat der Fälscher nicht erfanden, sondern eben gemischt: er hat Aussagen, die an bestimmter Stelle ihren Sinn haben, in einen Zusammenhang übertragen, wo sie fehl am Platze sind. Wir folgen seiner Spur und schlagen die Psychomachie auf. Das Tugendvolk (vgl. psych. 797f. omnis Virtutum populus) wird dort von Fides und Concordia zu einer Versammlung einberufen (psych. 740ff.): 740

745

concurrunt alacres castris ex omnibus omnes, n u l l a l a t e t p a r s m e n t i s iners, quae corporis ullo intercepta sinu per conceptacula sese degeneri languore tegat, tentoria apertis cuncta patent velis, reserantur carbasa, ne quis marceat obscuro stertens habitator operto. auribus intentis expectant contio ... eqs.

Daher also stammt der Begriff des Seelenteils, daher rührt die Vorstellung, ein Seelenteil könnte sich verbergen, ja auch der finale Sinn scheint hier in gewisser Weise vorgegeben (744f.: ne quis Marceat). Aber in der Psychomachie regieren die Gesetze des allegorischen Epos. Wie das Lager, die Zelte und, vorher (726ff.), der Feldherrenhügel, die Rednerbühne, so gehören auch die Angaben der Tätigkeit des Tugendvolks und seiner Königinnen zur Szenerie des geistlichen Epos: das Zusammenlaufen, Hervortreten, Öffnen der Zelte usw. Ja, sogar gewisse veristische Züge sind ins Bild gesetzt (vgl. 745: stertens habitator), und es ist klar, daß die Verben latere, se tegere zu dieser Kulissenmalerei gehören. Ein anthropologischer Sinn liegt freilich auch ihr zugrunde. Denn Prudentius sieht die Seele mit dem Leib eng verbunden: sie hat ihren Sitz im gesamten Körper, durchströmt mit dem Blut, das sie belebt und wärmt, den ganzen Menschen17. Hier, scheint es, setzte der Redaktor an. Wir treffen jedenfalls in solchem Zusammenhang abermals auf seine Fährte (c. Symm. 2, 379ff.): 379 380

17

contra animas hominum venis v i t a l i b u s i n t u s sic interfusas intellego, sanguis ut ex his aeeipiat motumque levem tenerumque vaporem, unde pererratis vegetet praecordia membris, frigida succendat, riget arida, dura relaxet.

Hierzu vgl. Gnilka, Studien Iff., bes. 15f.

XV. Flickverse

371

Man bemerkt jetzt, wie der gefälschte Vers 1100 aus den beiden Hexametern psych. 741 und c. Symm. 2, 379 zusammengestoppelt wurde. Der Gedanke an die Seele als Trägerin vegetativen Lebens mochte hierfür den verschwommenen Hintergrund bilden18. Aber indem jene Elemente der allegorischen Verräumlichung zur Ausgestaltung der Tötungsszene in der Arena mißbraucht werden, gerät die Psychologie des Dichters ins Zwielicht19. Denn daran, daß die Seele geistige Substanz sei - mens, spiritus, flatus, halitus - hat er überall festgehalten. Man sieht die Seele nicht, und wenn sie sich wunderbarerweise doch einmal zeigt, dann in Gestalt einer Taube (per. 3,161/75). Dem widersprechen auch nicht die Worte des Präfekten an die Folterknechte per. 10,446ff.: Statis, ministri ?... Animam nec intus ab dit am rimamini, Erumpit unde vox profana in principem? Die Rede nimmt auf die Seelenlehre Bezug, die der Märtyrer zuvor erteilt hatte: Liquidis videndis aptus est animae liquor ... eqs. (438ff.). In der Geistseele, von der ihm der Märtyrer spricht, erblickt der Beamte ganz richtig den verborgenen Herd des Widerstands; ihn will er durch die Folter 'ausfindig machen'. Der Sarkasmus gibt hier guten Sinn. Ähnlich, aber mit anderer Pointe, heißt es cath. 12, 112: animasque rimatur novas, gesagt vom Schergen, der die bethlehemitischen Kinder mordet. Hier liegt der Ton darauf, daß das Schwert nur mühsam seinen Weg in die kleinen Körper der Neugeborenen findet (vgl. ebd. 113ff.). Beim echten Dichter steht jedes Wort am rechten Platz. Immerhin deuten auch solche Äußerungen den Vorstellungsbereich an, in dem sich der Redaktor bewegte. Auch in der zweiten Zeile zeigt sich die fremde Handschrift. Die Verletzung des Isokrateischen Gesetzes durch die Junktur ense secutor fiele an anderer Stelle nicht ins Gewicht, da auch beste Autoren bisweilen das Zusammentreffen gleicher Silben beiderseits der Wortgrenze zulassen20. Hier aber sticht der Flecken grell hervor, weil schon das Wort secutor überraschend

18 Aus der Verbindung der Seele mit dem Blut erklärt sich auch die Art, wie der Tod durch Erwürgen bei Prudentius psych. 592ff. geschildert wird: (vincla lacertorum) faucibus artis Extorquent animam, nullo quae vulnere rapta Ρ alp it at... eqs. Ich halte es nicht fiir unmöglich, daß wir hier einen weiteren Flicken der interpolierten Zeilen entdeckt haben: c. Symm. 2, 1101p a Ip i t a t. 19 Als Psychologie allein der Vestalin läßt sich die Aussage in V. 1100 kaum rechtfertigen, da die Form des Finalsatzes nicht ausreicht, die pure Subjektivität solcher Vorstellung so deutlich zu machen, daß die Distanz zur abweichenden Anschauung des Autors gewahrt bleibt. 20 Vgl. Norden Aen. VI zu Aen. 6, 88; Börner zu Ov. Met. 2, 97; Vollmer zu Stat. silv. 3, 3, 12; Werner Taegert, Claudius Claudianus. Panegyricus dictus Olybrio et Probino consulibus, München 1988 = Zetemata 85,98 zu Vers 23. Bei Prudentius fällt mir auf cath. 3,30: laude dei; apoth. 81: unde deus, nach guten Vorbildern: Verg. Aen. 5,467: cede deo; Tib. 1, 10, 20: aede

372

Prudentiana I. Critica

kommt. Der Satz: quotiens victor ferrum iugulo inserit (1097) ist im allgemeinen, iterativen Sinne gesprochen, die Zuweisung von Sieg oder Niederlage an eine bestimmte Fechterart daher unpassend21. Aber es mag sein, daß der Dichterling durch eine Anspielung des Dichters selbst angeregt wurde, den Namen dieses Gladiatorentyps in den Text zu bringen. Im Anschluß an die oben ausgeschriebene Versreihe rundet Prudentius die Behandlung der die Vestalinnen betreffenden Beschwerde des Symmachus durch eine sarkastische Doppelfrage ab, die sich, mehrfach gegliedert, über zwölf Zeilen hin erstreckt (1102/13). Er fragt, worin das Verdienst der Priesterinnen eigentlich bestehe, weshalb man sie für Hüterinnen des Gemeinwohls halte, und kehrt, solchen Grund erfragend, zu ihrem Besuch der Fechterspiele zurück (c. Symm. 2, 1109ff.): 1109 an quoniam podii meliore in parte sedentes 1110 spectant aeratam faciem, quam crebra tridenti inpacto quatiant hastilia, saucius et quam vulneribus patulis partem perfundat harenae, cum fugit, et quanto vestigia sanguine signet? Der Dreizack ist die Waffe des Netzfechters, und sein Gegner mit dem Visierhelm (vgl. 1110 aeratam faciem) ist der secutor22. Möglich, wie gesagt, daß der Textbearbeiter hierdurch auf den Gedanken kam, diesen Namen ins Spiel zu bringen und seinerseits etwas Schauderhaftes zu produzieren. Im übrigen lehrt der Vergleich der beiden interpolierten Verse und der prudentianischen Schilderung, wie der Dichter hier das grausame Geschehen zu wahrer Anschauung erhebt, ohne sich in dunkle seelisch-körperliche Anatomie zu verlieren.

deus; Ov. ars 3, 244: in aede deae. Diese Beispiele bei Alfred Biese, De iteratis syllabis observatiuncula: Rhein. Mus. 38 (1883) 634/37. Der Fall Prud. psych. 839 senä senätus ist wegen des Quantitätenwechsels nicht gleichartig, s. Gnilka, Studien 102. Dagegen scheint Juvencus eine gewisse Vorliebe für die Silbenwiederholung zu besitzen, vgl. etwa morte tenebris, credentum tumulo, consistere rebus (4, 334. 364. 381). Diese Beobachtung gehört meinem Schüler Guido Gunderloch. 21 Man findet sich dadurch fast zu der absurden Annahme gedrängt, als sei die Vestalin und zwar jede Vestalin! - innerhalb des Parteiwesens im Amphitheater notorische Gegnerin dieser Gattung von Gladiatoren. Vgl. Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 2, Leipzig 1922'°, 75f. 22 Er heißt deswegen auch contraretiarius, s. K. Schneider, Art. Gladiatores: PW Suppl. 3 (1918) 777f., Nr. 14; vgl. Juv. 6, 107ff. samt dem Scholion zu V. 108 (p. 80 Wessner): Attritus galea: apparet eum secutorem fuisse.

XVI. EINE GEFÄLSCHTE STROPHE IM ROMANUSHYMNUS

Folterknechte als Plutones zu bezeichnen, war der Fehlgriff eines Pseudo-Prudentius, der ein Fehlgriff bleibt, selbst wenn man die Prosodie Plutones außer Acht läßt; denn der appellativische Gebrauch des Eigennamens ruht auf schiefer Grundlage1. Es wurde aus diesem Anlaß auch schon daraufhingewiesen, daß sich durch einen ähnlichen Fehler, durch mißbräuchliche Verwendung des Appellativums Nestores, eine ganze Strophe des Romanushymnus als Fälschung zu erkennen gibt2. Doch wird man vielleicht der Athetese aufgrund eines einzelnen Indizes nicht ohne weiteres zustimmen, und so greife ich den Fall hier nocheinmal auf. Nachdem er die Geißelung erlitten, hält der Märtyrer Romanus eine bittere Hohnrede gegen den Götterkult (per. 10,123/390). Der Präfekt Asclepiades kocht vor Wut (391/95) und macht endlich seiner Empörung Luft (396/ 425) - ich numeriere die Strophen mit fetten Zahlen: 80

400

'Pro Iuppiter! quid est, quod ex hoc audio? stat inter aras et deorum imagines et, quod fateri cogor, in medio foro tacente memet ac perorat perditus, quidquid sacrorum est ore foedans inpio.

405

Ο fas priorum, moris ο prisci status! inventa regum pro salute publica Pompiliorum nostra carpunt saecula. quis hos sofistas error invexit novus, qui non colendos esse divos disputent?

81

1 2

Oben S. 245/50. Vgl. oben S. 247, Anm. 69.

374

Prudentiana I. Critica

82

410

Nunc dogma nobis christianum nascitur post evolutos mille demum consules ab urbe Roma, ne retexam Nestoras. quidquid novellum surgit, olim non fuit. vis summa rerum nosse? Pyrram consulel

415

Ubi iste vester tunc erat summus deus, divum favore cum puer Mavortius fundaret arcem septicollem Romulus? quod Roma pollet auspicato condita, Iovi Statori debet et dis ceteris.

420

Hoc sanctum ab aevo est, hoc ab atavis traditum: placanda nobis pro triumphis principis delubra, faustus ut secundet gloriam procinctus utque subiugatis hostibus ductor quietum frenet orbem legibus.

83

84

85

Accingere ergo, quisquis es, nequissime, pro principali rite nobiscum deos orare vita vel, quod hostem publicum pati necesse est, solve poenam sanguine: 425 sprevisse templa respuisse est principem.'

Der Richter zeigt sich fassungslos ob der dreisten Beleidigung der Götter (Strophe 80), führt dann, immer noch höchst erregt, den Beweis zugunsten des Götter- und Kaiserkults, wobei er sich ganz auf der Linie hält, wie sie etwa Symmachus' berühmte Relatio zeichnet: Tradition und Erfolg heiligen die alte Religion3 (81-84); schließlich zieht er die Konsequenz, indem er den Märtyrer vor die Wahl stellt, entweder nach der Sakralordnung (rite) für das Leben des Kaisers zu beten oder wie ein Staatsfeind den Tod zu erleiden (85). Unsere Aufmerksamkeit muß sich besonders auf den argumentierenden Mittelteil der Rede richten. In einem ersten Schritt (81) erinnert Asklepiades an

3 Symm. rel. 3, 8f.; vgl. Prud. c. Symm. 2, 488ff., bes. 488f. 564f. 578/82 (Ansicht des Symmachus). Für den weiteren Hintergrund kann ich auf Chresis II 9/26 verweisen.

XVI. Eine gefälschte Strophe im Romanushymnus

375

die Begründung der römischen Religion durch Numa Pompilius. Denn er ist hier natürlich zu allererst gemeint, er gilt auch Prudentius als Schöpfer des Kults4. Daß der Name im Plural erscheint (vgl. V. 402f.: regum ... Pompiliorum, mit Längung der zweiten Silbe), erklärt sich nicht aus appellativischem Gebrauch, wie Arevalo meint5. Die Übersetzung: "kings like Numa" ist falsch6. Der römische Gentilname im Plural läßt nur an verschiedene Angehörige derselben gens denken, als Appellativum und Typenbezeichnung einer unbestimmten Mehrzahl römischer Könige wäre er kaum verständlich und auch wenig sinnvoll. Es handelt sich um einen echten Plural, Prudentius denkt an Numa und seinen Enkel Ancus Marcius, den Sohn der Pompilia; denn der erneuerte die Kulte, die Numa eingerichtet hatte, veröffentlichte die sakralen Satzungen und stiftete, so weiß es jedenfalls Livius7, das Priesterkollegium der Fetialen. Da Prudentius hier den Heiden die rationalistische Auffassung vertreten läßt, die Kulte seien zum Zwecke des Staatswohls "erfunden" (vgl. V. 402: inventa ... pro salute publica)*, paßt es durchaus, wenn er gerade diese beiden Könige in Erinnerung ruft. Eine gewisse Kühnheit liegt allerdings darin, daß er den Enkel der gens Pompilia zurechnet, obwohl man von seinem Vater nichts wußte9. Aber das mochte als poetische Freiheit durchgehen oder sogar als besondere Gelehrsamkeit gelten. In der übernächsten Strophe (83) geht der Redner noch einen Schritt weiter zurück in die Vergangenheit: er beruft sich auf den Stadtgründer Romulus, den Sohn des Mars, und seine berühmten Auspizien; der Götterkult wird so in seiner Verbindung mit den Uranfängen Roms gezeigt. Auch daß gerade Iuppiter Stator genannt wird (415), hat seinen Grund, sollte doch Romulus ihm den Tempel geweiht haben10. Prudentius stellte also Romulus und die reges Pompilii zusammen. Darin erkennt man die

4 Prud. c. Symm. 2, 45/48; vgl. etwa Liv. 1, 20; Tac. ann. 3, 26. 5 Arevalo (PL 60,479 C) zu per. 10,408, wo er, sehr unglücklich, als Beispiele für diesen Sprachgebrauch Pompilios, Deucaliones, Nestoras zusammenstellt; zu den beiden letzteren Appellativa s. unten S. 558/62 und S. 377f. 6 Thomson 2, 257. 7 Liv. 1, 32. 8 Ebenso Liv. 1, 19; Polyb. 6, 56, 7; vgl. Konrad Glaser, Art. Numa Pompilius: PW 17 (1936) 1242/52, hier 1248, 58ff.; Klaus Thraede, Art. Erfinder II: RAC 5 (1962) 1191/1278, hier 1218f. 9 Was Laelius und Scipio bei Cie. rep. 2, 33 lebhaft bedauern. Vielleicht fühlte sich Prudentius durch Horazens Prägung: Pompilius sanguis (ars 292) angeregt. 10 Cie. Catil. 1, 33: Tu, Iuppiter, qui iisdem quibus haec urbs auspieiis a Romulo es constitutus, quem Statorem huius urbis atque imperi vere nominamus ... eqs.; vgl. Liv. 1, 12, 6; Ov. fast. 6, 793f.

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alte Paarung des Stadtgründers und des Religionsstifters wieder. Sonst gilt allerdings der eine als Kriegsherr, der andere als Friedensfürst11. Hier liegt der Ton mehr auf ihrem gemeinsamen Wirken für die Religion, welche Roms Größe erst ermöglichte. Unter dieser Perspektive hat man wohl auch ihre Syzygie im Laurentiushymnus zu betrachten. Der Märtyrer betet dort (per. 2, 443f.): Fiatfidelis Romulus Et ipse iam credat Numa. Die beiden gelten als Repräsentanten urrömischen Heidentums, und als solche erscheinen sie auch in der Asclepiadesrede. Die Pompilierstrophe (81) und die Romulusstrophe (83) werden nun allerdings in den Handschriften - die spätantiken Codices fallen beide aus durch das bunte Knäuel getrennt, das die Strophe 82 in gedanklicher Hinsicht darstellt. Der Verfasser - ihn auch nur probeweise Prudentius zu nennen, wäre ein Unrecht - empfand offenbar den Reiz, die Chronologie nach unten wie nach oben über Romulus und die Könige hinaus zu verlängern. Er meinte, nach den reges auch die consules erwähnen zu sollen, um den langdauernden Bestand des heidnischen Kults vor Augen zu führen, wollte dann aber auch rückwärts in die griechische Sagenwelt, ja zu den Anfängen des Menschengeschlechts vorstoßen. Bis zur Strophenmitte (408 Roma) kam er einigermaßen durch. Aber auch nur einigermaßen. Daß schon die Zahlangabe: mille... consules (407) von Trübnis umflort ist, lasse ich vorerst aus dem Spiel (s. dazu unten S. 383), und was von der Versparung: ab urbe Roma statt: ab urbe {Roma) condita zu halten ist, mag jeder für sich selbst beurteilen12. Auch der Praepositionalausdruck: post evolutos... consules erreicht nicht die volle Klarheit meisterlicher Sprache. Das Partizip steht hier im zeitlichen Sinne, aber

11 Hör. carm. 1,12, 33f.: Romulum post hos prius an quietum Pompiii regnum memorem ... eqs.; vgl. Liv. 1, 21, 6. 12 Bei Livius finden sich ähnliche Ellipsen, vgl. Liv. 21, 38, 1: in Italiam perventum est quinto mense a Carthagine, "d.h. im 5. Monate nach dem Abmärsche von C." (Kühner-Stegmann 1,494); Liv. 22, 19, 5: altero ab Tarracone die. O.W. Heick, The Ab urbe condita construction in Latin, Lincoln 1936 = The University Studies of the University of Nebraska 36, 67f. notiert einige wenige Fälle für die Auslassung des Partizips in ähnlichen Konstruktionen; es handelt sich durchweg um Verbindungen mit den Präpositionen post und ante, wie Sen. epist. 3, 2: post amicitiam credendum est, ante amicitiam iudicandum, i.e. post (ante) amicitiam factam. Aus der späteren Latinität vgl. Sulp. Sev. Mart. 13, 9: et vere ante Martinumpauci admodum... Christi nomen receperant, i.e. ante adventum, antepraedicationem Martini; Aug. conf. 7, 2, 3: illud, quod iam diu ab usque Carthagine a Nebridioproponi solebat, i.e. ab usque tempore apud Carthaginem acto. Bei guten Stilisten sind solche Brachylogien zugleich Ausdruck der Prägnanz; ein Beispiel aus Prudentius ist andernorts behandelt: "Verkannte Genitive bei Prudentius": Illinois Classical Studies 19 (1994) 253/60, hier 253/55. Lavarenne, itude § 1391f. bringt nichts voll Vergleichbares.

XVI. Eine gefälschte Strophe im Romanushymnus

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in Verbindung mit dem folgenden Verbum narrandi retexere bildet sich eine leichte Unsicherheit: post evolutos ... consules ... ne ret ex am ... eqs. - das klingt beinahe so, als wolle der Autor sagen: post enarratos (enumerates) consules, ne retexam ... eqs. Denn es heißt ja auch: annates, fastos, saecula evolvere, i.e. legere, perquirere, enumerare etc.13. Die Ausdrucksweise ist wegen des voraufgehenden Verses 406 nicht geradezu mißverständlich, läßt aber doch stocken. Derlei mag nun freilich noch hingehen. Doch im folgenden bewahrheitet sich die Erfahrungstatsache, daß die Strophen der antiken Dichtung den Dichterlingen oft zu lang sind, weil ihre Kraft nicht ausreicht, ein größeres Gebilde mit Sinn zu füllen und dabei den Stil des bearbeiteten Grundtexts zu treffen14. Ne retexam Ν est or asl Der trisaeclisenex galt der Antike als Urbild der Langlebigkeit, und wenn sein Name appellativisch verwandt wird, dann steht er für den Wert hohen Lebensalters. At me ab amore tuo deducet nulla senectus, Sive ego Tithonus sive ego Nestor ero, verspricht Properz seiner Cynthia (2, 25, 9f.), und Juvenal (12, 128) ruft, um auszudrücken, daß er dem Erbschleicher den Erfolg nicht neide: vivat Pacuvius quaeso vel Nestor a totum ... eqs.15. Die Vorstellung der longaevitas, die sich mit dem Namen verbindet, läßt sich auch hier, wo von Zeit und Alter die Rede ist, kaum fernhalten, und doch ist klar, daß der Interpolator etwas anderes gemeint haben muß. Nicht auf das Greisenalter will er ja verweisen, sondern auf das Altertum, nicht hochbetagte Männer sollen Nestores sein, sondern Männer grauer Vorzeit, nicht senes hat er im Sinn, sondern "antiquissimos" - wie Bergman im Index erklärt16. Aber damit nicht genug! Da der Redaktor dichtete: ...ab urbe Roma, ne retexam Nest oras, wollte er offenbar in der Form der Praeteritio auf Vertreter griechischen Altertums aufmerksam machen. Was ihm vorschwebte, war der Gedanke, daß die Griechen noch älter seien als die Römer, und so fließen in dem Appellativum die Begriffe der senectus und der antiquitas zusammen, wobei der letztere Wert wiederum in der Beschränkung auf die antiquitas Graeca verstanden werden muß. Das eben ist ein schiefer Gebrauch der 13 In diesem Sinne auch Claud. IV cons. 399: antiquos evolve duces. Vgl. ThLL 5, 2, 1068, 82ff.; 1069, 33ff. Unsere Stelle richtig unter der Rubrik "de tempore", ebd. 1067, 75f. 14 Vgl. oben S. 148. 15 Vgl. August Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890, S. 242, Nr. 1223. 16 Bergman, Ausgabe 478 s.v. Nestoras.

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Antonomasie, die doch gerade dadurch zustandekommt, daß ein bekannter Eigenname, ein Name aus Geschichte, Mythologie oder Gesellschaft, wegen einer bestimmten Eigenschaft des Trägers zur allgemeinen Bezeichnung des Typos erhoben wird17. Manche Notizen der mittelalterlichen Erklärer sind dadurch interessant, daß sie mit entwaffnender Naivität die unsinnigen Konsequenzen ziehen, die uns interpolatorische Redeweise aufdrängt18. So bemerken hier die alten Prudentiusglossen, die wohl auf Remigius von Auxerre zurückgehen19: Nestoras antiquos reges. Nestor rex Graecorum antiquissimus [!], qui coluit deos; et inde excrevit illa nefanda consuetudö20. In der Tat, darauf etwa wird man geführt, und damit erübrigt sich jedes weitere Wort. In der vierten Zeile (409) erschlafft die Rede vollends: Quidquid novellum surgit, olim non fiiit. Läßt sich eine banalere Sentenz denken? Ein überflüssigerer Zusatz? Ein schärferer Gegensatz zu den höhnischen Worten, die der Dichter dem Heiden in den Mund legt: Quis hos sofistas error invexit novus ... eqs. (404)? Doch zum Schluß rafft sich der Poetaster noch zu einer rechten Absonderlichkeit auf, wohl von dem Streben geleitet, das eigene Strophengebilde mit einem Geistesblitz zu beenden: Vis rerum summa nossel Pyrram consulel (410). Pyrrha soll der Delinquent befragen! Wie albern! Und wonach soll er sich erkundigen? Ein Teil der Handschriften bietet summam statt summa - contra metrum, was aber bei interpolatorischer Produktion durchaus möglich ist, wie der zu V. 302 desselben Gedichts überlieferte Dublettenvers lehrt, wo derselbe Fehler gleich zweimal begangen wurde21. Aber ob summa oder summam: weder trifft der Ausdruck das Thema des Disputs - denn es geht nicht um Altertumsforschung schlechthin, sondern um die Altehrwürdigkeit

π Vgl. oben S. 247, Anm. 69 und S. 324, Anm. 70. Im Zusammenhang mit einem Problem der Juvenalkritik ist die sog. "Vossianische Antonomasie" (Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 19903, S. 301f. § 581) in der Rivista di Filologia Classica 96 (1968) 52f. behandelt. 18 Vgl. oben S. 225. 19 Dazu Johannes Duft, Die Abtei St. Gallen 2, Sigmaringen 1991, 114f. Die Zuweisung an Iso von St. Gallen, der ich früher folgte (in diesem Bande S. 71; 99, Anm. 16; 152; 192, Anm. 20; 201, Anm. 63; 224), ist entsprechend zu korrigieren. 20 Abgedruckt bei Arevalo (PL 60, 479 Β zu V. 408), der selbst das Phantastische mindert, aber im Ergebnis, wie kaum anders möglich, zustimmt: "Per Nestoras intelligit tempora heroica" (479 C). 21 Vgl. oben S. 240. Der Ausdruck summa rerum (Lavarenne: "le fond des choses", Thomson: "the ultimate source of things") mag gebildet sein nach dem Muster solcher Wortfügungen wie tuarum mira laudum (per. 10, 4), naturae summa supemae (apoth. 557), die allerdings durch die schöne geschlossene Stellung anders wirken.

XVI. Eine gefälschte Strophe im Romanushymnus

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römischer Religion - , noch läßt sich erraten, was Pyrrha zu diesem Thema sagen könnte22. Das Spiel mit Frage und Antwort soll wohl witzig wirken, wirkt aber in Wahrheit abgeschmackt. Das Ethos der Rede wird dadurch gestört, ja im Grunde zerstört. Denn die christliche Religion konnte und mußte der Präfekt lächerlich machen, aber die Begründer des eigenen Kults konnte und durfte er nimmermehr ins Lächerliche ziehen. Das aber geschieht, wenn zwischen die Könige und Romulus ausgerechnet Pyrrha gestellt und als letzte Instanz des Heidentums empfohlen wird. Hieran zeigt sich, wie sehr eine Fälschung dem Kunstwerk schadet, ja wie sie, soweit eben ihre Wirkung reicht, die Schöpfung des Dichters förmlich vernichtet. Daß sich gerade durch die letzte Zeile (410) ein unschöner Gleichklang zwischen den Versenden consules (407) - consule (410) ergibt und ein ebenso mißliches Zusammentreffen der Ausdrücke summa rerum (410) - summus deus (411) beiderseits der Strophengrenze, sei nur noch am Rande vermerkt. Alle diese Unzuträglichkeiten räumt die Athetese der eingefälschten Strophe aus dem Wege:

81

401

405 83

411

415

Ο fas priorum, moris ο prisci status! inventa regum pro salute publica Pompiliorum nostra carpunt saecula. quis hos sofistas error invexit novus, qui non colendos esse divos disputent? Ubi iste vester tunc erat summus deus, divum favore cum puer Mavortius fundaret arcem septicollem Romulus? quod Roma pollet auspicato condita Iovi Statori debet et dis ceteris.

22 Im Gedicht contra Symmachum (2, 335ff.) lehrt Prudentius unter Berufung auf die Bibel, daß schon zur Zeit der Sintflut oder noch früher (338: iam tunc diluvii sub tempore vel prius) das Menschengeschlecht nur Einen Gott verehrt habe, und schließt den weiteren Gedanken an, daß auch die Römer (343f.: ipsum Sanguinis Hectorei populum) lange Zeit den Polytheismus nicht gekannt hätten. Hier dient der Rückgriff auf die Zeit der ersten Menschen nach der Flut dem Erweis der antiquitas des Monotheismus. Dem Verfasser der gefälschten Strophe schwebte wohl eine entgegengesetzte Beweisführung aus der Sicht des Heidentums vor, die er allerdings nur in rudimentärer Andeutung hervorbrachte.

Prudentiana I. Critica

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Man sieht jetzt, wie überlegt die Rede komponiert ist, indem Asclepiades diejenigen Herrscher, die tatsächlich am Anfang der römischen Religionsordnung stehen und diese Ordnung geschaffen haben, zusammenstellt: die 'Pompilier' und Romulus - in rückschreitender, steigernder Reihenfolge (vgl. oben S. 375f.). Nichts lenkt ab von Rom, vom Gedanken an den mos priscus, von der Stadtgründung als seinem Beginn. In zweifacher, kunstvoll variierter Antithese wird in je einer Strophe die alte Zeit der neuen, der römische Kult der christlichen Lehre gegenübergestellt: das Lob der alten Religion eröffnet die erste Strophe (401) und beschließt die zweite (414f.), die Abwehr der frechen Neuerung tritt in die Mitte, und die Fragesätze rücken um die Strophengrenze zusammen (404f.; 411/13), so daß sich im Ganzen ein absichtsvoller Chiasmus ergibt. Verschwunden ist das zeitliche Hin und Her, das dem Leser wilde Sprünge durch die Weltgeschichte abnötigte: von den römischen Königen hinab zu den tausend Consuln, seitwärts zu unbestimmten Vertretern einer griechischen Frühzeit und weiter hinauf bis zur Sintflut, dann wieder hinunter zu Romulus. Verschwunden ist die unpassende Witzelei, ein gleichmäßiges, feierliches Pathos schließt die Sätze auch innerlich zusammen. Bei aller Empörung ist die Rede des Richters ernst und klar, ein Meisterstück rhetorisch gestalteten Affekts. Wir haben unsere Aufmerksamkeit bisher allein auf die Asclepiadesrede der Verse 396ff. gerichtet und die Anstöße, welche die eingefälschte Strophe bietet, nur aus dem unmittelbaren Zusammenhang heraus beleuchtet. Aber auf dieses Interpolament fällt von einer späteren Gedichtpartie her neues Licht, das den ganzen Fall auf überraschende Weise erhellt. Asclepiades kommt nämlich noch einmal auf den Vorwurf der Neuheit des Christentums zurück. Er befiehlt den Feuertod (573ff.), nicht ohne sich über die Tollheit zu verwundern, welche die neue Lehre erzeuge (58Iff.): 117

581

585

Quis hunc rigorem pectori iniecit stupor? mens obstinata est, corpus omne obcalluit, tantus novelli dogmatis regnat furor: hic nempe vester Christus haud olim fuit, quem tu fateris ipse suffixum cruci.

Der Märtyrer bleibt ihm die Antwort nicht schuldig, wobei er diesmal auch den angeblichen Traditionsmangel des Christentums aufgreift. Er entwickelt

XVI. Eine gefälschte Strophe im Romanushymnus

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eine Kreuzestheologie, die den Alterswert in der ewigen Gottheit des Gekreuzigten begründet. Im engeren Sinne apologetisch sind die folgenden Strophen (V. 606/25): 122

606

610

Congressa mors est membra gestanti Deo; dum nostra temptat, cessit inmortalibus. stultum putatis hoc, sofistae saeculi, sed stulta mundi summus elegit pater, ut stultus esset saeculi prudens Dei.

615

Antiquitatem Romuli et Mavortiam lupam renarras primum et omen vulturum. si res novellas respuis, nil tarn recens: vix mille fastis inplet hanc aetatulam cursus dierum conditore ab augure.

620

Sescenta possum regna pridem condita proferre toto in orbe, si sit otium, multo ante clara, quam capellam Gnosiam suxisse fertur Iuppiter, Martis pater. sed illa non sunt, haec et olim non erunt.

625

Crux ista Christi, quam novellam dicitis, nascente mundo factus ut primum est homo, expressa signis, expedita est litteris, adventus eius mille per miracula praenuntiatus ore vatum consono.

123

124

125

Man sieht sofort, daß die hier ausgeschriebenen Strophen - die zur Asclepiadesrede gehörige (117) und die folgenden aus der Antwort des Romanus (122125) - mit der vorhin behandelten, früheren Rede des Präfekten in Zusammenhang stehen, und zwar mit dem echten Text wie mit dem unechten, womit bereits gesagt ist, daß der Zusammenhang im einen Falle nicht derselben Art sein kann wie im anderen. Bleiben wir zunächst bei den antwortenden Strophen 122-125! Sie replizieren einerseits auf den Schluß der unmittelbar voraufgehenden Asclepiadesrede (117); denn der Satz: si res novellas respuis

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Prudentiana I. Critica

(613) geht ebenso wie V. 621: crux ista Christi, quam novellam dicitis auf den kurz zuvor erhobenen Vorwurf: tantus no ν e Iii dogmatis regnat furor (583). Und ganz deutlich antwortet V. 620: sed illa non sunt, haec et olim non erunt auf des Präfekten Behauptung: hic nempe vester Christus haud olimfuit (584). Andrerseits soll die Antwort, die Romanus hier erteilt, sichtlich auch für jene frühere Scheltrede des Heiden gelten. Schon der Ausdruck sofistae saeculi in V. 608, der das Wort des Apostels von der sapientia huius mundi (1 Cor. 1, 20) umbildet, gibt die verächtliche Bezeichnung der Christen als "Sophisten" (404) zurück, wie denn überhaupt die ganze Verstrias 608/10 den Anspruch der Weltweisheit auf neutestamentlicher Grundlage (vgl. Mt. 11, 25) abweist. Deutlicher noch greift dann die folgende Strophe (123) mit den Versen 611/12 auf die Romulusstrophe 83 (411/15) zurück. Aber zu unserer Überraschung - oder vielmehr: zur Überraschung eines jeden, der sich nicht schon vorher Klarheit über den wahren Charakter der Strophe 82 verschafft hat - wird dieselbe Rechnung, die dort Asclepiades anstellt, um das römische Altertum zu heben (406/08), hier wie eine neue aufgemacht, um die Vergangenheit Roms zu drücken (613/15): die tausend Jahre seit der Gründung Roms, die dort als eine gewaltige Zeitmasse erscheinen, werden nun vom Christen zum Erweis des geraden Gegenteils benannt. Aber eben nicht im Sinne erklärter Widerrede, die bewußt verkleinert, was der Heide als groß darstellte: solcher Rückbezug ist gar nicht zu erahnen. Vielmehr wird die Sache mit V. 613 eingeführt, als sei davon noch gar nicht die Rede gewesen: Si res novellas respuis, nil tarn recens ... eqs. Was folgt, kann nur ein Faktum sein, dessen bisher noch nicht gedacht ward, ein Umstand, der geeignet ist, dem Präfekten klar zu machen, wie kurzsichtig sein historischer Rückblick in Wahrheit geriet. Dieses Ziel war aber natürlich keinesfalls zu erreichen, indem die frühere Rechnung des Heiden plötzlich seitens des Christen wie eine neue präsentiert und dieselbe Summe der mille consules bzw. mille fasti nun einfach auf der anderen, negativen Seite der Bilanz verbucht wurde. Kurzum: zwischen dieser Strophe (123) und der von uns beargwöhnten Strophe (82) obwaltet nicht dasselbe Verhältnis wie zwischen dieser Strophe (123) und der Romulusstrophe (83), nicht das Verhältnis eines sinnvollen Rückbezugs, sondern das umgekehrte: jene gefälschte Strophe nimmt sinnwidrigerweise vorweg, was erst später gesagt wird und nur dort am Platze ist. Und weiter: auch der in der Rede des Märtyrers (124) folgende Hinweis auf die dem römischen Imperium voraufgehenden Weltreiche, der ja erst die über die Stadtgründung

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hinausreichende zeitliche und geschichtliche Dimension eröffnen soll, verlöre jede Berechtigung, wenn der Präfekt seinerseits schon an früherer Stelle ähnliche Gedanken konzipiert, wenn der Gegner selbst schon längst seine historische Linie bis auf die griechische Sagenwelt, ja bis zur Sintflut und damit bis zu den Uranfängen des Menschengeschlechts ausgezogen hätte. Auch in der Diktion zeigt sich, wo der direkte Vergleich möglich ist, ein deutliches Gefalle: 407 408

post evolutos mille demum consules ab urbe Roma, ne retexam Nestoras.

614 615

vix mille fastis inplet hanc aetatulam cursus dierum conditore ab augure.

Die Metonymie des Dichters: mille fastis (614) ist kühner als die des Dichterlings: mille consules (407)23, kühner und zugleich unverfänglicher, weil es nun einmal im ersten Viertel jenes Jahrtausends keine Consuln gab - über den entsprechenden Anachronismus der fasti sieht man leichter hinweg. Und ν ix mille fastis, gesagt mit schöner rhetorischer Übertreibung, macht deutlich, daß an eine wirkliche Zahl gedacht ist, während mille in V. 407 auch als 'finitus numerus pro infinito' stehen könnte, also ambivalent wirkt24. Ausdrucksvoll ist das abschätzige Deminutivum aetatula (614)25, einwandfrei in Kraft und Klarheit die Wendung: conditore ab augure (615) - man schaue zurück auf die prosaische Versparung: ab urbe Roma, sc. condita (408), und man wird in dieser Einzelheit das Ganze finden! Durch diese Romanusrede also empfing der Redaktor den Anstoß, die frühere Asclepiadesrede mit einer selbstgemachten Strophe auszustaffieren,

23 Im Thesaurus s.v. 1. fastus (Emil Vetter), fasti 'i.q. annus' fehlt die Prudentiusstelle (ThLL 6,1,327, 65ff.), desgleichen bei R.P.H. Green, The Works of Ausonius, Oxford 1991, 236 zu Auson. praef. 1,23. Sie liefert aber den deutlichsten Beleg für diese Wortbedeutung, weil hier die Zahlangabe (vix mille) hinzutritt. Zur Metonymie consul 'i.q. annus' vgl. ThLL 4 s.v. consul (Ernst Lommatzsch) 568, 4ff., wo per. 10, 407 angegeben ist. 24 Ein Blick auf die ausgeschriebenen Strophen lehrt sofort, wie klar der Dichter den Gebrauch des Zahlworts unterscheidet: mille per miracula (624) wie sescenta regna (616), dagegen vix mille fastis (614), wo tatsächlich gerechnet werden soll. 25 Mit ganz anderem Ausdruckswert später (677) wiederholt: innocenti aetatulae (i.e. infanti), woran man schön die Bedeutungsbreite des Deminutivums erkennt und die Genauigkeit des Dichters in seiner Verwendung. Vgl. auch Antonio Salvatore, Studi Prudenziani, Napoli o.J. [1958] 207/22: "Diminutivi espressivi in Prudenzio", wo dieses Beispiel jedoch nicht berührt wird.

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Prudentiana I. Critica

und so kann es auch keinen Zweifel geben, wie die äußerlich auffälligste Gleichheit zwischen seinem Falsifikat und dem echten Text zu beurteilen ist: hic nempe vester Christus haud olim fuit, läßt der Dichter den Präfekten sagen (584), und sed illa (sc. regna) non sunt, haec et olim non erunt, entgegnet der Märtyrer (620); aus diesem Wortwechsel hat sich der Interpolator seine banale Sentenz gezimmert (409): quidquid novellum surgit, olim non fuit. Sie nimmt verallgemeinernd vorweg, was der Dichter erst später seinem Asclepiades in den Mund legt, und so wird aus dem spitzen Disputieren ein stumpfes Repetieren. Infolgedessen zeigt sich hier einmal in vollkommener Klarheit, wie eine Interpolation nicht nur in der unmittelbaren Umgebung stört, in der sie auftritt (s. oben S. 379f.), sondern wie sie unter Umständen weitreichenden Schaden stiftet, der auch andere, entferntere Werkteile in Mitleidenschaft zieht.

XVII. ERWEITERTE KATALOGE Aufzählungen reizen zu Änderungen. In der Poesie werden katalogartige Partien bisweilen als lästig empfunden und durch Streichungen oder verkürzende Ersatzfassungen ausgeräumt1. Aber auch das Umgekehrte kommt vor, die Ergänzung2. Es dürfte freilich zu den Seltenheiten der Überlieferungsgeschichte gehören, daß ein Gedicht von solchen Ergänzungen in dem Maße betroffen wurde wie das "Carmen saeculare der Stadt Saragossa" (per. 4)3. Prudentius hat es gewagt, dieses sapphische Gedicht durch zwei Kataloge zu beleben, die er geschickt auf den Anfang und den Schluß verteilte. Eine Bürde sind sie für das lyrische Lied erst dadurch geworden, daß fremde Hand sie nachträglich um jeweils ganze Strophenreihen erweiterte. Die Athetese hat in diesem Fall vielleicht etwas Erschreckendes, und auch ich bin bei einer früheren Behandlung des Gedichts vor diesem Mittel zurückgeschreckt: nur die beiden schon von Bergman getilgten Strophen 46 und 47 sind dort ausdrücklich für unecht erklärt, die sechzehnte wurde entschieden beargwöhnt, zwei weitere (11 und 12) versah ich bei der Kommentierung mit leichtem Fragezeichen4. Inzwischen hat sich mir aber die Überzeugung gefestigt, daß alle ι Jachmann, Schriften 398/401. Mitten in der prachtvollen Schilderung der Truppen des Teufels, die Prud. ham. 409/23 im Anschluß an die sieben Feindvölker los. 24, 11 gibt, steckt der wässerige Vers: eminus hiferiunt, confligunt comminus illi (harn. 415). Vielleicht war er als Ersatz gedacht, etwa für die folgenden sechs Verse (ham. 416/21); denn er nimmt verallgemeinernd vorweg, was kurz darauf über die Feinde gesagt wird, die teils mit Pila teils mit Pfeilen kämpfen dispare ferro (ham. 419/21). Der Verdacht, daß die schwierigen Namen störten, liegt nahe. 2 Beide Typen der Bearbeitung, die kürzende und die erweiternde, sind gewissermaßen zeitlos, weshalb auch in der Textgeschichte mittelalterlicher Autoren mit der einen wie mit der anderen zu rechnen ist. Die Schilderung des locus amoenus, die Matthaeus von Vendöme als Mustergedicht seiner Ars versificatoria einverleibt hat, ist in einer Kurzfassung und in einer Langfassung überliefert. In der längeren Fassung sind die Kataloge der Kräuter und Bäume an mehreren Stellen erweitert (Mathei Vindocinensis opera, ed. Franco Munari, vol. ΙΠ: Ars versificatoria, Roma 1988,116/26). Es liegt wohl "mehrwisserische Zudichtung" vor: so Paul Klopsch: Gnomon 63 (1991) 68. 3 Der Ausdruck stammt von Isidora Rodriguez-Herrera, Poeta Christianus. Prudentius' Auffassung vom Wesen und von der Aufgabe des christlichen Dichters, Diss. München, Speyer 1936,72. 4 Christian Gnilka, Der Gabenzug der Städte bei der Ankunft des Herrn. Zu Prudentius, Peristephanon 4,1-76: Iconologia sacra. Festschrift Karl Hauck, hrsg. von Hagen Keller und Nikolaus Staubach, Berlin/New York 1994,25/67, hier 43 Anm. 105; 64f.; 62 (s. unten S. 398) und 63 (s. unten S. 403, Absatz am Ende).

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diese Strophen unecht sind, ja daß der Schaden noch weiter reicht, als ich damals ahnte: der Gabenzug der Städte (per. 4, 1/48) birgt vier unechte Strophen (7.10.11.12 = V. 25/28 und 37/48), die anschließende Synkrisis mit Saragossa (49/76) ist um eine Strophe (16 = V. 61/64) erweitert, der Katalog der achtzehn Märtyrer am Schluß (145/76) wurde durch vier angehängte Strophen (45.46.47.48 = V. 177/92) verlängert5. Diese Gedichtteile sind also von Fälschungen förmlich verkrustet. Der Hymnus bekundet somit auf ungewöhnliche Art die spätantike Diaskeuase des Prudentiustexts; denn Α enthält die unechten Strophen mit Ausnahme der beiden Strophen 48 und 49, Β führt sie sogar allesamt mit, und für Strophe 7 tritt noch das Zeugnis Isidors v. Sevilla hinzu (orig. 19, 33, 3). Der Befund ist besonders geeignet, uns selbst den ältesten Textzeugen, ja der gesamten handschriftlichen Tradition gegenüber kritisch zu machen, und er gewöhnt uns ab, den Umfang größerer Interpolamente ungläubig anzustaunen. Für das Ausmaß der Fälschung ist, wie gesagt, zunächst der Reiz verantwortlich, der von Listen ausgeht: sie enthalten den Appell zur Ergänzung. Aber es gibt zu denken, daß das große sapphische Gedicht des Paulinus v. Nola, das Propempticon für Nicetas (carm. 17) - ein metrisches Gegenstück zum prudentianischen Hymnus - ebenfalls von unechten Strophen durchsetzt ist6. Im folgenden bespreche ich unter Nr. 1 (S. 386/ 404), Nr.2 (S. 404/09) und Nr.3 (S. 409/29) die drei interpolierten Partien des Prudentiusgedichts. In einem vierten Kapitel (S. 429/33) soll die Wirkung des gereinigten Schlußstücks beleuchtet werden.

1. Der Gabenzug der Städte Zu Beginn des vierten Märtyrerlieds schildert Prudentius den Zug der Städte, wie sie dem Weltenrichter einst entgegengehen werden, um ihm die Gebeine der Märtyrer, die sie beherbergten, als Gaben darzubringen. Die Szene ist eine der großartigsten im ganzen Prudentius und beweist, was aus Namenslisten unter der Hand eines Dichters werden kann, der wirklich einer ist. Die Darstellung zielt darauf ab, Saragossa mit seinen achtzehn Märtyrern

5 An der Strophe 7 ( = 25/28) nahm zuerst mein Schüler Jochen Walter Anstoß. Ihm und den anderen Teilnehmern am Oberseminar des Wintersemesters 1997/98 danke ich für empfangene Anregungen. 6 Hierzu verweise ich auf eine Münstersche Dissertation: Robert Kirstein, Paulinus Nolanus, Carmen 17. Text, Einleitung und Kommentar (im Druck).

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über alle anderen Städte zu erheben. Zugrundeliegt also die uralte Form der Beispielreihe, der sogenannten Priamel, deren Sinn es ist, durch Aufzählung vergleichbarer Größen die Überlegenheit einer einzigen herauszustellen7. Ich numeriere außer den Versen auch die Strophen (im Fettdruck): 1

2

Bis nouem noster populus sub uno martyrum seruat cineres sepulcro, Caesaraugustam uocitamus urbem, res cui tanta est. 5

3 10

4 15

5

20 6

Plena magnorum domus angelorum non timet mundi fragilis ruinam tot sinu gestans simul offerenda munera Christo. Cum deus dextram quatiens coruscam nube subnixus ueniet rubente gentibus iustam positurus aequo pondere libram, orbe de magno caput excitata obuiam Christo properanter ibit ciuitas quaeque pretiosa portans dona canistris. Afra Carthago tua promet ossa, ore facundo Cypriane doctor, Corduba Acisclum dabit et Zoellum tresque coronas. Tu tribus gemmis diadema pulchrum offeres Christo, genetrix piorum Tarraco, intexit cui Fructuosus sutile uinclum.

7 Gnilka, Gabenzug 42. Ich greife im folgenden öfters auf diesen Aufsatz zurück, fasse mich daher in der Sacherklärung kurz.

Prudentiana I. Critica Nomen hoc gemmae strofio inligatae est, emicant iuxta lapides gemelli ardet et splendor parilis duorum igne corusco. Parua Felicis decus exhibebit artubus sanctis locuples Gerunda, nostra gestabit Calagurris ambos, quos ueneramur. Barchinon claro Cucufate freta surget et Paulo speciosa Narbo, teque, praepollens Arelas, habebit, sancte Genesi. Lusitanorum caput oppidorum urbs adoratae cineres puellae obuiam Christo rapiens ad aram porriget ipsam. Sanguinem lusti, cui Pastor haeret, ferculum duplex geminumque donum ferre Conplutum gremio iuuabit membra duorum. Ingeret Tingis sua Cassianum, festa Massylum monumenta regum, qui cinis gentes domitas coegit ad iuga Christi. Singulis paucae, tribus aut duobus, forsan et quinis aliquae placebunt testibus Christi prius hostiarum pignere functae. Tu decern sanctos reuehes et octo, Caesaraugusta studiosa Christo, uerticem flauis oleis reuincta, pacis honore.

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Die Einholung des Kyrios wird also hier als Prozession der πόλεις δωροφοροΰσαι vorgestellt8. Die Gaben sind die Gebeine der Märtyrer, aber der Dichter zeigt sie uns auch im Bilde der Kränze (20) und des edelsteinbesetzten Diadems (21/24). Er hat mit dem Brauch des occursus die Sitte der Kranzdarbringung verbunden, wie auch im Leben das Kranzgold (aurum coronarium, στεφανικόν, στεφανωτικόν) mitunter bei der Ankunft eines Herrschers überreicht wurde9. Dadurch erzielt der Autor eine dem Wert der Gabe angemessene Ästhetik. Kränze sind nun einmal schöner als Knochen. Außerdem verschaffte er sich die Möglichkeit, viele Personen in seinen Strophen unterzubringen, ohne alle Namen nennen zu müssen. Man erkennt das gleich an der ersten Strophe der aufzählenden Partie (5). Nur zwei der fünf Märtyrer Cordubas werden beim Namen genannt (Acisclus und Zoellus), die übrigen drei es sind wohl Faustus, Ianuarius und Martialis10 - im Bilde der Kronen vorgestellt (vgl. 20: tresque coronas). Dem Dichter ging es ja in diesem Katalog nicht hauptsächlich um die Namen der Märtyrer, sondern um ihre Zahl, da auf der Anzahl der Blutzeugen, die jede einzelne Stadt aufzuweisen hat, der Vergleich mit Saragossa beruht (s. unten S. 404/06). Er konnte daher den Vorteil der Bildlichkeit nutzen und seine Liste um einige Eigennamen erleichtern. Auf diese Weise gelang es ihm, die Stadt Corduba und ihre fünf Helden in einer einzigen Strophe zusammenzudrängen. Noch vorteilhafter wirkte sich der Kunstgriff in der nächsten Strophe aus (6). Denn zwei der drei Märtyrer Tarragonas, Augurius und Eulogius, hätten wegen der daktylischen Silbenfolge ihrer Namen im sapphischen Elfsilbler nicht Platz finden können; der Vers wäre zu einer cäsurlosen Mißgeburt entartet". Aber mit Hilfe des Bildes der Edelsteine meistert Prudentius die metrische Schwierigkeit und führt wiederum in einer einzigen Strophe die Namen einer Stadt und eines Märtyrers sowie zwei weitere ungenannte Märtyrer vor. Schon die beiden ersten Strophen des Katalogs erzeugen also den Eindruck der Fülle: den Eindruck eines festlichen Gedränges und einer Vielzahl der Gaben. Und diesen Eindruck vertiefen die beiden Strophen 8 und 9 - die siebte übergehe ich zunächst. Die 8 Bei Greg. Naz. or. 4, 80 (SC 309, 204) unter den Bildmotiven genannt, die imperiale Größe ausdrücken; vgl. Gnilka, Gabenzug 38. Über die Sache in Leben, Kunst und Literatur ebd. 26/42, wo die Beobachtungen Erik Petersons weitergeführt sind (Die Einholung des Kyrios: Zeitschrift für systematische Theologie 7, 1930, 682/702). 9 Gnilka, Gabenzug 33/42, bes. 35f. 10 So Theodoricus (Thierry) Ruinart, Acta martyrum S. 495 Anm. 3 in der von mir benützten Ausgabe (Regensburg 1859). 11 Gnilka, Gabenzug 45; vgl. unten S. 396.

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Namen der beiden Soldatenmärtyrer aus dem heimatlichen Calagurris mußte der Autor zwar umschreiben (31); denn Emeterius und Chelidonius waren im Vers kaum unterzubringen12. Aber immerhin ist auch diese Strophe (8) mit zwei Städtenamen, einem Personennamen und insgesamt drei Märtyrern prall gefüllt. Dasselbe gilt erst recht von der Strophe 9, wo die Zahl der Namen auf sechs anschwillt, drei Städte und drei Heilige zusammentreten. Gewiß sind die Strophen des Katalogs durch die Verteilung der Namen, durch Wahl und Stellung der Wörter, durch Wechsel der Bilder, Einsatz der Apostrophe und andere Mittel kunstvoll variiert, aber es läßt sich doch nicht verkennen, daß der Dichter mit Energie darauf hingearbeitet hat, uns die Anschauung einer dichten Prozession, ja eines festlichen Gewoges dahineilender Frauen zu vermitteln13. Strophe 7 Faßt man nun die Strophe 7 ins Auge, die zwischen den beiden bewegten, vor Namen und Personen strotzenden Strophenpaaren 5/6 bzw. 8/9 sitzt, so stößt man auf ein Gebilde ganz anderer Art. Hier ist das Vorwärtsdrängen und Dahineilen des Zugs unterbrochen, ohne daß wir etwas Neues erführen. Das Bild des Diadems und der Edelsteine aus Strophe 6 wird ausgeführt, ohne daß die Ausführung etwas hinzubrächte, was wir zum Verständnis des Bildes brauchten. Nun darf ein Dichter vielleicht auch einmal etwas Überflüssiges sagen. Nicht daß Strophe 7 dem Inhalt nach überflüssig ist, macht sie schlecht, sondern daß sie stört. Und sie stört, weil sie eben den occursus hemmt, weil sie den Eindruck froher Eile beeinträchtigt (vgl. 14f.: properanter ibit Civitas quaeque), weil sie unseren Blick auf dem Schmuckstück festhält, weil sie, während der Dichter unverwandt in die Zukunft schaut, um die Ereignisse am Jüngsten Tage zu vergegenwärtigen (vgl. 14 ibit, 17 promet, 19 dabit, 22 offenes, 29 exhibebit, 31 gestabit, 34 surget, 35 habebit), in eine Beschreibung sich verliert (nomen hoc ... est, emicant, ardet), welche vom zukünftigen Geschehen ablenkt. Dazu wirkt der erste Vers (25) überaus steif und prosaisch: nomen hoc gemmae strofio inligatae est. Nichts mehr ist übrig vom Schwung des Hymnus, es scheint, als sei der Sänger zum Kommentator des 12 Gnilka, Gabenzug 45f. 13 In die Betrachtung der Variationskunst dürfen die unechten Strophen 7.10.11.12 freilich nicht einbezogen werden - womit ich die früheren Bemerkungen (Gabenzug 47f.) korrigiere.

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eigenen Lieds geworden. Die varia lectio: inligatum est (mit Bezug auf nomeri), die Arevalo und Dressel in den Text nehmen, beruht auf einer Verderbnis, deren Entstehung Meyer einleuchtend erklärt hat14. Aber die Zeile wirkt nicht nur prosaisch, sie erzeugt auch einen Riß im Bilde. Eben hörten wir noch: ihr, der Stadt Tarraco, "windet Fructuosus den Kranz" (23f.) - und nun soll es so fortgehen: "Dies ist der Name des Edelsteins, der in den Stirnreif eingebunden ist" (25). Was ist nun richtig? Ist Fructuosus Kranzbinder oder Edelstein im Kranze? Gewiß: auch der Dichter handhabt die Bildrede nicht pedantisch, was man schon daran merkt, daß er die Märtyrer einmal als Kränze (20), dann als Gemmen im Diadem (21) vorstellt. Aber hier, im Übergang von Strophe 6 zu Strophe 7, wird doch eine Sinnfuge fühlbar, weil Vers 25: nomen hoc ... eqs. geradezu e r k l ä r e n soll, die Erklärung aber den nachdrücklichen letzten Strich ignoriert, mit dem der Dichter seinem Bilde Kontur gab. Es ist aber nun gerade dieser Riß, der auf das Motiv der fremden Zudichtung führt, als die wir Strophe 7 anzusehen haben, ja selten trägt die Erkenntnis des Motivs so viel zur Feststellung einer Interpolation bei wie in diesem Fall. Wenn Prudentius sagt, daß Fructuosus der Stadt Tarraco den Kranz flicht, so meint er damit, daß der Bischof seinen beiden Diakonen im Martyrium vorausging, wie es per. 6, lOff. geschildert wird: 10

Dux et praevius et magister illis ad tantum decus ex episcopali clarus nomine Fructuosus ibat, ... eqs.

In den Kerker geworfen, stärkte er seine Gefährten (per. 6, 22): Mecum state, viri, ... eqs. Darauf nimmt der Dichter hier Bezug und drückt den Sachverhalt in schönem Bilde aus; denn ohne Fructuosus gäbe es vielleicht die Krone Tarracos gar nicht. Aber der bildhafte Ausdruck: intexit... sutile vinclum hat etwas Unbestimmtes. Es ist ihm nicht ohne weiteres zu entnehmen, welchen Anteil der Bischof am Martyrium hat. Wenn von drei Edelsteinen im Kranz 14 Meyer, Prudentiana 337f.: aus der Schreibung inligataest (für inligatae est, A) entstand durch falsche Abtrennung inligata est (B, Isid. orig. 19, 33, 3), was dann - weil der Konstruktion nicht fügsam - die Angleichung an nomen zur Folge hatte: inligatum est (E etc.). Für die genaueren Angaben verweise ich auf Bergmans Apparat. Übrigens bietet die gleiche Zeile den einzigen Fall der Elision einer langen Silbe in diesem Gedicht: strofio inligatae (sonst nur 19: Corduba Acisclum und 23: Tarraco intexit). Auch in dem anderen sapphischen Gedicht (cath. 8) kommt Elision langer Silbe nicht vor.

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die Rede ist, ohne daß Namen fallen; wenn es dann weiter heißt, Fructuosus habe den Kranz gewunden, dann konnte - so urteilte jedenfalls der Redaktor - das Mißverständnis aufkommen, als sei mit Fructuosus eine vierte Person gemeint, als gehöre er nicht zu den drei Gemmen. In der Tat läßt ja der durch intexere (vinclum) ausgedrückte Akt der Deutung solchen Spielraum. Es wäre vielleicht sogar der Irrtum möglich, daß Fructuosus selbst nicht Märtyrer sei. Er könnte bloß Lehrer dreier Blutzeugen sein, könnte sie nur erzogen und ermutigt und so der Stadt den Kranz verschafft haben, ohne selbst das Martyrium zu erleiden. Auch Vinzenz wurde ja durch seine Erziehung in Saragossa, durch seine Zugehörigkeit zum Klerus und seine Herkunft aus dem bischöflichen Hause der Valerii auf das Martyrium vorbereitet: Inde, Vicenti, tuapalma nata est, ... eqs. (per. 4, 77ff.) - ein Bild in ähnlicher Sache. Und wenn auch solche Folgerung sich zu weit vom Text entfernte, weil man im Katalog der Städte und ihrer Märtyrer kaum einen anderen Personennamen wird erwarten dürfen als den eines veritablen Märtyrers: den Fructuosus zu den drei Edelsteinen ins rechte Verhältnis zu setzen, mochte nachrechnendem Verstände schwierig erscheinen. Der Pedanterie war hier jedenfalls Anlaß zur Korrektur geboten, davon zeugt die eingefälschte Strophe. Es sollte geklärt werden, daß Fructuosus selbst einer der drei Edelsteine ist, und gleich die erste Zeile erledigte das auf höchst trockene Art, der Rest der Strophe wurde mit kostbaren Worten aufgefüllt. Es gab ja auch nicht mehr zu sagen, als was sich von selbst versteht: daß es noch zwei funkelnde Steine gibt, daß sie sich neben dem einen Stein, der Fructuosus heißt, befinden, daß sie gleichen Glanz besitzen. Letztere Angabe (27: ardet et splendor parilis duorum) könnte aus dem sechsten Hymnus gewonnen sein (per. 6, 15Iff.): 151

Laudans Augurium resultet hymnus mixtis Eulogium modis coaequans, reddamus paribus pares camenas.

Auf dieses Gedicht hat der Redaktor sicherlich geschaut, wie sein Adoneus: igne corusco zu erkennen gibt. Der Hymnus auf die drei Märtyrer von Tarragona setzt nämlich mit folgender Strophe ein (per. 6, Iff.): 1

Felix Tarraco, Fructuose, vestris attollit caput ignibus coruscum leuitis geminis procul relucens.

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Durch den Ausdruck: uestris ... ignibus fand er hier zudem klar ausgesprochen, was ihm an der anderen Stelle unklar schien: daß Fructuosus selbst zum edelsteinbesetzten Diadem Tarragonas gehört. Nimmt man noch hinzu, daß der Satz: nomen hoc gemmae ... est (25) nichts weiter ist als der schwache Abklatsch des kraftvollen Ausdrucks: ex episcopali clarus nomine Fructuosus aus der oben S. 391 zitierten Strophe des sechsten Lieds (per. 6 , 1 lf.), vervollständigt sich das Bild, das wir uns von dieser Zudichtung machen müssen.

Strophe 10 Was bedeutet ad aram ... ipsam (39f.)? Zwei Möglichkeiten sind denkbar. In Frage kommt der Altar in der Basilika zu Emerita, unter dem die Gebeine der hl. Eulalia ruhen (vgl. per. 5, 212: die ganze Strophe ist unten S. 396 ausgeschrieben). Aber dann wäre die Situation des Gabenzugs aufgegeben. Denn die Städte eilen ja, als Inbegriff aller Einwohner gestalthaft vorgestellt, dem ankommenden Christus entgegen: Obviam Christo properanter ibit Civitas quaeque (14f.). Und auch die im Partizip obviam rapiens (39) ausgedrückte Bewegung scheint etwa das Gleiche zu sagen. Die Anschauung, die der ganzen Szene zugrundeliegt, ist ja gerade n i c h t die, daß die Gläubigen, um den Altar in der Kirche versammelt, den einziehenden Weltenrichter erwarten. Bleibt die zweite Möglichkeit: der Altar vor dem Throne Gottes: altare aureum quod est ante thronum Dei (Ape. 8,3f.). Aber dort befinden sich die S e e l e n der Märtyrer: vidi subtus altare animas interfectorum propter verbum Dei et propter testimonium ... eqs. (Ape. 6,9). Sollen wir uns denken, daß die Gebeine der Heiligen dorthin gebracht werden, wo ihre Seelen schon weilen - so versuchte ich mir die Sache zurechtzulegen15 - , dann hätte solche seltsame Aktion doch deutlicher gemacht werden müssen. Denn sie paßt nicht zum Bild. Es handelt sich ja hier eben um einen Adventus Gottes. Christus wird k o m m e n , auf einer Wolke: (deus) nube subnixus ν e η iet rubente (10), wie es im Evangelium steht: et tunc videbunt Filium hominis venientem in nube cumpotestate magna et maiestate (Lc. 21, 27; vgl. Mt. 24, 30; 26, 64; Mc.13, 26; 14, 62; Apc.l, 7 und Dan.7, 13). Und daher heißt es ja auch an der entscheidenden Paulusstelle, die dem dichteri-

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Gnilka, Gabenzug 29.

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sehen Entwurf zugrundeliegt16: rapiemur ... in nubibus obviam Christo in a era (1 Thess. 4, 17). Es findet eine Begegnung statt, und zwar in der Luft. Die Luft kann nicht einfach durch den Altar vor dem Throne Gottes ersetzt werden - also ad aram ipsam statt είς άέρα - , denn dann gibt es weder einen adventus noch einen occursusl Ganz passend führt Paulinus v. Nola das Geschehen aus17, wobei er voll frommer Furcht an das Schicksal der eigenen Seele denkt (carm. 10, 304/15): huius in aduentum trepidis mihi credula fibris corda tremunt gestitque anima id iam cauta futuri, praemetuens ne uineta aegris pro corpore curis ponderibusque grauis rerum, si forte recluso increpitet tuba uasta polo, non possit in a u r a s regis ad o c c u r s u m leuibus se tollere pinnis, inter honora uolans sanctorum milia caelo, qui per inane leues neque mundi conpede uinetos ardua in astra pedes facili molimine tollent et teneris uecti per sidera nubibus ibunt, caelestem ut m e d i o uenerentur i n a e r e regem claraque adorato coniungant agmina Christo.

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Die Verehrung des Himmelskönigs findet medio ... in aere statt (314), dort kommt die άπάντησις zur Ruhe, indem sich die Heiligen um Christus scharen (315). Der Altar vor dem Throne Gottes wäre hier ganz fehl am Platze, und er ist es natürlich auch in unserem Prudentiusgedicht. Die Störung entstand, weil der Verfasser dieser unechten Strophe 10 eine Wortfügung des Dichters, die an anderer Stelle ihren Sinn hat, falsch in die Szenerie des Gabenzugs übertrug. Prudentius preist die Kinder, die Herodes zu Bethlehem hinmorden ließ (cath. 12, 125/32): 125

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Salvete, flores martyrum, quos lucis ipso in limine Christi insecutor sustulit ceu turbo nascentes rosas!

Gnilka, Gabenzug 26/29. Dazu s. wieder Gabenzug 32f.

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Vos, prima Christi victima, grex inmolatorum tener, aram ante ipsam simplices palma et coronis luditis.

Die Kleinen, d.h. ihre Seelen, spielen "geradewegs vor dem Altar"18, dort natürlich, wo alle Märtyrer sich nach Apc. 6,9 aufhalten, und es ist eine rührende Erfindung des Dichters, die Knäblein vor dem Altar zu Füßen Gottes mit den Zeichen ihres Triumphs spielen zu lassen. Das Pronomen ipsam, das beim Interpolator hohl und phrasenhaft wirkt: hier steht es völlig zu recht, wie sich eben der Unterschied zwischen Echt und Unecht oftmals im Gebrauch der Pronomina offenbart. Ein echtes, ein prudentianisches i p s e bringt etwa der Adoneus einer späteren Strophe unseres Gedichts: Pectus (sc. Encratis) abscisa patuit papilla Corde sub ipso (123f.)19. Kurzum: der falsche Prudentius hat die Situationen nicht geschieden und eine Ortsangabe in die Szene des Gabenzugs interpoliert, die dort Verwirrung stiftet. Es kann kaum Zufall sein, daß es eine Unklarheit in gleicher Sache ist, welche die Strophe 48 diskreditiert (vgl.unten S. 424f.). Der Dichter selbst spricht sich über diese Dinge, über Leib und Seele der Märtyrer, stets mit vollständiger Klarheit aus. Das bezeugt gerade sein Eulalia-Lied mit der Schlußstrophe (per. 3, 211/15):

18 Zum Hiat aram ante \ ipsam vgl. oben S.105, Anm.10. Im römischen Brevier, das Teile dieses Hymnus für das Fest der unschuldigen Kinder am 28. Dezember bestimmt, lautet die Stelle: aram sub ipsam (nach Apc. 6,9 subtus altare); vgl. Joh. Kayser, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der ältesten Kirchenhymnen 1, Paderborn 1881", 298 Anm. 2. Die Revision der Hymnen nach dem Zweiten Vaticanum hat diese Fassung ausdrücklich bestätigt: Consilium ad exsequendam Constitutionen! de sacra liturgia: Hymni instaurandi Breviarii Romani, Cittä del Vaticano 1968, Nr. 227, Anm. 1. Arevalo las sie in einer der jüngeren Handschriften und urteilte: "quam lectionem praeferrem, si codd. mss. suffragarentur" (PL 59,909 C zu V. 131). Aber es erscheint sehr fraglich, ob man die Kasusvertauschung sub aram (sc. luditis) statt sub ara für Prudentius annehmen darf (vgl. per. 10, 150f.: lam si sub aris ad sigillorum pedes Iaceatis ... eqs.). Das einzige Beispiel dafür bietet vielleicht psych. 591f.: conpressa ligantur Vincla lacertorum sub mentum; s. Lavarenne, Etude § 453. Erasmus' Vorschlag: aram ante cuius (Weitz, Sylloge p. 183 zu V. 131) überzeugt nicht, da so der sinnstiftende Bezug auf die Apokalypse gelöscht wird. Fabricius (Ausgabe, Basel 1564) konjizierte: aram ante et ipsam (vgl. Dressel, Ausgabe p. 76 im Apparat zu V. 131). Meyer, Prudentiana 255/57 bemerkt hierzu nichts, hat aber die Lesung immolatorum (130) gegen immaculatorum (Bergman mit den beiden spätantiken Codices) erfolgreich verteidigt. 19 Ein anderes Beispiel: per. 11, 183f.: Ipsa, illas animae exuvias quae continet intus, Aedicula argento fulgurat ex solido. In ausdrucksvoller Nachbarschaft der Pronomina, wie sie das Lateinische liebt, wird die Aedicula von den Reliqujen, die sie birgt, abgehoben (ipsa illas), zugleich auch von der voraufgehenden Beschreibung der Örtlichkeit, besonders des Altars (169ff.), abgesetzt: ipsa leitet die Beschreibung der Aedicula ein, die sechs Verse umfaßt (183/88).

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Sic venerarier ossa libet ossibus altar et inpositum, ilia dei sita sub pedibus prospicit haec populosque suos carmine propitiata fovet.

Die Gebeine der Heiligen ruhen unter dem Altar in der Basilika, sie aber (illa) - ihre Seele also, die den Leib in Gestalt einer schneeweißen Taube verließ (ebd. 161/65) - weilt zu Füßen Gottes. Daß Prudentius die Stadt Emerita mit der hl. Eulalia im Gabenzug nicht aufmarschieren ließ, dürfte sich daraus erklären, daß beide Namen dem Metrum nicht fügsam sind. Der Daktylus würde die Caesurstelle nach der fünften Silbe überdecken. Dieselbe Schwierigkeit bereiteten ja die Namen der beiden Diakone aus Tarraco, Augurius und Eulogius, aber Prudentius half sich dort (21/24), wie bemerkt (oben S. 389), auf elegante Weise, indem er gerade für den Bischof Fructuosus und seine Diakone das Bild des edelsteinbesetzten Diadems wählte, und die unbequemen Namen der beiden Soldatenmärtyrer des heimatlichen Calahorra vermied er durch Periphrase (31 f.). Ein weiteres Mal wollte er sich nicht in solche Notlage begeben, und er brauchte das ja auch nicht, da seine Reihe eben nur aus Beispielen besteht und Vollständigkeit weder beabsichtigt noch möglich war. Der Redaktor hingegen vermißte Eulalia. Vielleicht las er die Gedichte in der gleichen Anordnung, die unsere Ausgaben bieten, d.h. per. 4 nach dem EulaliaHymnus (per. 3); es ist das die Reihenfolge des Puteanus und der Handschriften der Bergmanschen Klasse Aa, d.h. der Codices A,C,D. Ging also das Gedicht für Eulalia dem Hymnus auf Saragossa und damit der Prozession der Städte unmittelbar vorauf, mochte die Auslassung gerade dieser Heiligen besonders auffallen. Außerdem war Eulalia die einzige unter den von Prudentius gefeierten Märtyrern Spaniens, die in diesem patriotischen Liede nicht vorkam, und schon das konnte zur Komplettierung reizen. Um sich dem Metrum anzupassen, griff der Interpolator gleich zweimal zum Mittel der Periphrase (37f.), aber während er so die prosodischen Klippen der Namen Emerita und Eulalia umschiffte, achtete er nicht einer anderen und maß die zweite Silbe in Lusitanorum kurz 20 . Auch glückte es ihm nicht, die Umschreibungen der

20 Lang bei Sen. epigr.=Anth. 405, 11 (Anthologia Latina, ed. Shackleton Bailey, 1 p. 314) und Sil. 3, 354. Die abweichende Messung zeugt allerdings, für sich genommen, nicht gegen die Echtheit; vgl. per. 3, 186f.: Nunc locus Emerita est tumulo, Clara colonia Vettöniae,

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beiden Namen sauber zusammenzusetzen: urbs an der Versspitze 37 hängt über. Das Wort ist überflüssig und verunsichert die Syntax. Betroffen ist nicht nur das Verhältnis zwischen caput oppidorum und urbs, sondern auch die Beziehung des Genitivs adoratae ... puellae, der, obwohl gewiß zu cineres gehörig, doch auch von dem blanken Substantiv urbs als Ergänzung beansprucht wird, ohne daß wiederum ein absichtsvolles άπό κοινού erkennbar würde. Mit porriget hat sich der Verfasser um Variation bemüht (vgl. 17 promev, 22 offeres; 29 exhibebit; 32 gestabif, 35 habebit), aber dafür caput und cineres in gleicher Stellung übernommen (vgl. 2.13) und mit der Wortverbindung obviam Christo das entsprechende Versstück aus V. 14 wiederholt. Die Metapher caput oppidorum verdirbt die Anschauung, die das Detail caput excitata, sc. civitas quaeque (13) erzeugte. Beachtung verdient, daß der Diaskeuast, obwohl er mit dem Altar einen Mißgriff tat, das paulinische Vorbild des occursus anscheinend erkannt hat. Denn die Fügung: obviam Christo rapiens (39) läßt zu deutlich 1 Thess. 4, 17 anklingen: rapiemur ... obviam Christo, als daß man Gleichheit in solcher Sache dem Zufall zuschreiben könnte. Aber das darf uns an der gewonnenen Einsicht nicht irre machen. Interpolatoren, die christliche Dichter bearbeiten, kennen nicht bloß Vergil, sondern auch Paulus, wofür unten S. 450f. ein Beispiel geboten wird21. Wir dürfen dem Interpolator des Märtyrerlieds durchaus zutrauen, daß er die Wendung, die der Dichter in V. 14 gebraucht: obviam Christo... ibit (civitas), 'bibelgemäß' variierte zu obviam Christo rapiens (urbs).

Strophe 11 Es mag uns widerstreben, die Namen ehrwürdiger Städte und ihrer Märtyrer aus dem Hymnus zu verbannen, aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß es gerade solche Ehrfurcht gewesen ist, die sie dem Katalog nachträglich anfügte. In der Complutum-Strophe (11) verrät sich die fremde Hand durch wohlklingende, aber leere Wiederholungen. Daß eins und eins zwei macht, braucht uns niemand zu sagen, hört man es gar dreimal, ist man zu recht verstimmt. Nach der variierten, durch Chiasmus betonten Angabe ... eqs. Lucan mißt (4, 9): Vettönesque leves (vgl. auch Sil. 3, 378; 16, 365). In unserem Gedicht fällt auf: Väleriorum (per. 4, 80; vgl. 11, 2 Väleriane; 13, 35 Välerianus). 21 Über Bibelkenntnis der Redaktoren s. auch oben S. 75. 120. 314.

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der Zweizahl in V. 42, die an sich schon abundant ist, weil ja die Namen der beiden Märtyrer in V. 41 sofort genannt werden, wirkt der dritte Hinweis im Adoneus: membra duorum (44) nur noch als bloßes Füllsel. Ja, wenn sich wenigstens ein Grund zeigte, weshalb die Zahl Zwei so stark sollte hervorgehoben werden! "Man hat den Eindruck, als habe der Gedanke nur knapp gereicht, um eine ganze Strophe zu füllen", urteilte ich vor Jahren22: aber er hat in Wahrheit eben n i c h t gereicht, und wieder erhalten wir eine Bestätigung dafür, daß die Strophen der Dichter den Dichterlingen zu lang sind (vgl. oben S. 148. 377). Wie anders sind die Zahlen in den echten Strophen eingesetzt! In Strophe 5 und in Strophe 8 zu dem Zweck, um auf ungenannte Märtyrer durch bloße Zahl zu verweisen (20. 31). Ähnlich in Strophe 6, wo zwei der drei Namen (vgl. 21: tribus gemmis) nicht fallen konnten. Dagegen verrät sich die fremde Hand in der folgenden Strophe (7) auch durch die müßige Wiederholung der Zweizahl (26f.: gemelli... duorum). Zwar sind die Zahlen in diesem Katalog von entscheidender Bedeutung, denn auf ihnen beruht die Synkrisis zwischen Saragossa und den übrigen Städten (vgl. unten S. 404f.), aber der Dichter bringt die Zahlwörter nicht in den Text, wo sie sich von selbst verstehen. Der Interpolator hingegen füllt mit den Zahlen seine Verse auf, einen Hendekasyllabus (42) und den Adoneus (44), und darum ist die bemerkenswerte Variation im Ausdruck der doppelten Gabe auch nicht eigentlich ein Vorzug; denn die Worte dienen nicht dem Gedanken, sondern sollen ihn ersetzen. Und auch der Geschmack ist nicht der des Dichters. Prudentius sucht die Gaben aus Asche und Gebein dichterisch zu veredeln die Wendung pretiosa ... dona (15f.) gibt den Ton an. Infolgedessen hat er die Ausdrücke, welche im eigentlichen Sinne die sterblichen Überreste bezeichnen, sparsam verwandt und auf die ganze Partie verteilt (2: cineres; 17: ossa; 30: artubus), vor allem aber durch das aurum coronarium die Szene stark aufgehellt: Kränze (20), Diadem und Edelsteine (21/28) verbreiten gleichsam glänzendes Licht und erzeugen den Eindruck des Kostbaren und Schönen (vgl. 21: diadema pulchrum). Auch die beiden folgenden Strophen sind auf solche Wirkung abgestimmt. Die Ausdrücke: Felicis decus (29), artubus ... locuples Gerunda (30), Paulo speciosa Narbo (34) sollen den Eindruck der Kranzdarbringung erneuern und die Darstellung auf dem ästhetischen Niveau halten. Dieser Zug des Schönen setzt sich in den interpolierten Strophen nicht

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Gnilka, Gabenzug 62 zu V. 41ff.

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fort (vgl. 38: cineres, 41: sanguinem, 47: cinis), insbesondere V. 41 bekundet einen Mangel feinerer Empfindung. Mit sanguinem stellte der Verfasser, wieder um Variation bemüht, ein Wort an die Spitze, das auch der echte Dichter andernorts metonymice für die Reliquien gebraucht (per. 2, 470; 13, 4), das aber im Gabenzug schlecht unterzubringen war. Schon die Wortfolge: sanguinem ...ferre... gremio (!) erzeugt kein stimmiges Bild - Blut transportiert man nicht im Schoß23. Aber die Fügung: sanguinem Iusti, cui Pastor hae ret grenzt sogar an das μιαρόν. Denn gleich, ob man cui grammatisch zu sanguinem oder zum Eigennamen zieht, so oder so läßt sich die unliebsame Vorstellung zusammengeklebten Bluts kaum fernhalten. Haeret ist häßlich. Der Interpolator will das Wort gebrauchen wie der Dichter psych. 163f.: nam proximus lob Haeserat invictae dura inter bella magistrae (i.e. Patientiae), also zum Ausdruck enger und ständiger Gemeinschaft24, doch gleitet er unversehens in eine andere, unpassende Anschauung hinüber, wie sie etwa den Versen psych. lOOf. zugrundeliegt: (gladius) sanies cui rore rubenti Haeserat et nitidum macularat vulnere ferrum. Paulinus Nolanus hat das Verbum in ähnlichem Context. Er zählt die Heiligen auf, die durch Reliquien in seiner Kirche gegenwärtig sind, und nachdem er Andreas, Johannes Baptista, Thomas und Lucas genannt hat, fährt er fort (carm. 27, 428f.): 428

his socii pietate fide virtute corona martyres Agricola et Proculo Vitalis

adhaerens.

Die Namen stehen teils als echte nomina propria für die Personen, teils bezeichnen sie συνεκδοχικώς die Reliquien. Die Bedeutungen fallen sozusagen zusammen, und deshalb fühlt man in der Wortverbindung Proculo Vitalis adhaerens keinerlei Anstoß. Man denke sich hier sanguis irgendwie mit adhaerens verbunden, und man wird sogleich empfinden, worin die gerügte Schwäche der Complutum-Strophe liegt25. Die Athetese der Strophe wird im 23 Ein Gemälde in der Hippolytusgruft zeigte das Martyrium des Heiligen, der von Pferden zu Tode geschleift wurde (Prud. per. 11, 123ff.). Darauf waren auch die Gläubigen zu sehen, wie sie die Stücke des zerfetzten Leibs im Gelände sammeln. Einer von ihnen birgt das Haupt molli ...in gremio (137f.), das Blut jedoch nehmen sie auf, indem sie Kleider und Schwämme damit tränken (141/44)! 24 Haerere mit dem Dativ nach dem Muster von inhaerere: Norden, Aen VI zu Aen. 6, 350; im Zusammenhang mit dem comes-Motiv etwa Verg. Aen. 10, 779f.: (Mezentius figit) Herculis Antoren comitem, qui missus ab Argis Haeserat Euandro; Stat. Theb. 11, 357f.: senior comes haeret eunti Actor; vgl. ThLL 6, 3 s.v. haereo (Vinzenz Bulhart) 2496, 8/19. 25 Die Metonymie sanguis statt corpus kennt auch Paulinus, was nicht verwundert. Bemerkenswert ist aber, daß er sie gerade für die Gebeine der beiden complutensischen Märtyrer

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übrigen durch das Urteil, das über die nächste Strophe zu fällen ist, bestätigt; denn nach Tilgung der zwölften Strophe kann die elfte nicht stehen bleiben, weil dann die Zahlwörter duorum, duobus am Ende der Verse 44 und 49 in häßlichster Weise aufeinanderfolgten. Das heißt: Strophe 11 verliert ihre Daseinsberechtigung zugleich mit Strophe 12 und, von allem anderen abgesehen, allein schon aus diesem Grunde.

Strophe 12 Die angestrengten Versuche, die ich unternahm, den Sinn dieser Verse zu klären26, sind nicht geglückt, und die Athetese ist meine Konsequenz des Mißerfolgs. Diese Strophe ist ebenso obskur wie die vorhergehende leer. Die Schwierigkeiten resultieren vor allem aus V. 46, genauer gesagt: aus der Wendung monumenta regum, deren Bezug unsicher und deren Sinn zweifelhaft bleibt. Sie erzeugt einen Anklang an Horaz carm. 1, 2, 15f.: (vidimus Tiberim) Ire deiectum monumenta regis Templaque Vestae. Der parallele Ausdruck steht an gleicher Stelle im gleichen Vers: am Schluß des sapphischen Elfsilblers. Doch die formale Übernahme hilft in der Sache nicht weiter: Horaz meint die Regia auf dem Forum, das Amtslokal der Pontifices. Gemeinhin wird monumenta (Nom.) als Apposition zu Tingis gezogen, und zwar im Sinne von sepulcra (Bergman, Ausgabe 492 und 538 s.v.). Entsprechend übersetzt Lavarenne (4, 65): "Tanger, mausolee solennel des rois massyliens", etwas unbestimmter Thomson (2,159): "Tingis, memorial of Massylian kings" und Guillen (543): "Tänger, magnifico monumento de los reyes africanos". Aber neben den Gräbern und Reliquien der Heiligen nehmen sich die numidischen Königsgräber gar seltsam aus. Welchen Sinn hat es hier, Tingis als Grablege oder Gedenkstätte numidischer Könige auszugeben? Wo doch jede Stadt aus keinem anderen Grunde als wegen ihrer Märtyrergräber gepriesen wird und allein um solchen Vorzugs willen ihren Platz im Katalog verdient! Und dazu noch festa monumental Als ob sich ausgerechnet hier, im Zusammenhang der άπάντησις am Jüngsten Tage, der Gedanke an Feier oder Festesfreude zu Ehren der numidischen Könige einstellen könnte! Wo verwendet; vgl. unten S. 454. Denn Complutum und seine Märtyrer kommen in der altchristlichen Literatur, soweit wir sehen, nur an diesen beiden Stellen vor (ThLL Onomasticon C 552, 72ff.). 26 Gnilka, Gabenzug 62f.

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doch der Kult der maurischen Könige den afrikanischen Vätern von Tertullian bis Lactanz als Muster heidnischer Verirrung galt27! Mochte auch inzwischen die Christianisierung Mauretaniens fortgeschritten sein28, so erinnerte sich doch Prudentius deutlich der früheren Verhältnisse: Novit et Atlantis pridem plaga perfida Mauri Dedere crinitos ad Christi altaria reges (apoth. 433f.). Niemals hätte er also einen Platz oder einen Bau, eine Stadt oder ein Grab im schlechthinnigen Sinne als Denkmal der massylischen Könige rühmen können, da ja eben solcher Preis die vergotteten Herrscher des alten afrikanischen Heidentums notwendig einschließt29. Hinzukommt, daß bei solcher Auffassung der Apposition die Teile des Satzes recht locker verfugt erscheinen. Monumenta muß über Cassianum hinweg auf Tingis bezogen werden, was wegen der ambivalenten Casusendung (Nominativ zu Tingis bzw. Accusativ zu Cassianum) schon einige Unsicherheit verbreitet. Und noch spürbarer: qui cinis (47) springt über einen ganzen Hendekasyllabus (46) zurück auf Cassianum (45). Wohl um diese Härten zu lindern, zogen ältere Erklärer monumenta (Acc.) als Apposition zum Namen Cassianum30, schufen aber damit neue Schwierigkeiten. "Bringen wird sein Tingis den Cassianus Als ein Festdenkmal der Massylerfürsten", übersetzte ein deutscher Schulmann des vorigen Jahrhunderts, der sich an solcher Konstruktion orientierte31. Monumentum kann durchaus im weiteren Sinne den Gegenstand bezeichnen, der eine bestimmte Erinnerung auslöst: aber wie können Cassians Gebeine an die Numiderkönige erinnern? Sinnvoller Weise doch nur, wenn man ein fehlendes Gedankenelement ergänzt: weil sie die Bekehrung der heidnischen Herrscher bewirkten. Aber das muß aus den folgenden Versen erraten werden, und die Idee, daß die Asche ein Siegesmal darstelle - an sich schon ziemlich verstiegen - , wäre höchst unzulänglich hervorgebracht32. Dazu bildet die Abfolge der Wörter: 27 Tert. apol. 24, 8: unicuique etiamprovinciae et civitati situs deus est, ... utMauritaniae reguli sui; ferner Min. Fei. 24, 1; Cypr. idol. 2 (CSEL 3, 1, 20); Lact. inst. 1, 15, 6 und 8 (CSEL 19, 56); vgl. auch Arnob. nat. 1, 3 6 , 5 (Text unsicher) und dazu Henri Le Bonniec in der Bud6-Ausgabe, Livre I, Paris 1982, 297f. 28 Dazu wieder: Gabenzug 63 mit den Literaturangaben. 29 Massyli heißen alle Numidae seit Vergil (vgl. Norden, Aen. VI zu Aen. 6, 59), auch die Völker des äußersten Westens (Verg. Aen. 4, 480ff., bes. 483: Massylae gentis). 30 Dieser Lösung Schloß ich mich zögernd an (Gabenzug 63), was ich hiermit zurücknehme. 31 Johann Gottlob Dölling, Die erste und vierte Hymne aus den Siegeskronen des Prudentius: Jahresbericht über das Gymnasium zu Plauen: Schuljahr 1845-1846, S. 5/18, hier S. 12. 32 Abgesehen von der Schwierigkeit, die in monumenta liegt: man empfindet auch, daß der folgende Relativsatz (47f.) mehr sagt, als der Dichter sagen würde. Die Reliquien haben dämonen-

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Cassianum, monumenta, qui cinis, die ja dann jeweils für dieselbe Sache, die Reliquien, stehen, einen begrifflichen Rösselsprung, den selbst ein grüblerisch veranlagter Leser nur schwer mitmachen kann. "Mihi locus nonnihil obscurus est", urteilte Arevalo", minderte jedoch den heuristischen Wert seines Bekenntnisses durch den läppischen Zusatz: "sed poetae mens satis intelligitur". Man vergleiche nur die echten Strophen 5.6.8.9: die dichte Namensfolge, die das Gedränge des Festzugs spiegelt; die lebhafte, durch Apostrophen aufgelockerte Diktion; die luzide Bildung der Sätze und ihre stets durchschaubare Verteilung auf die Verse! Dagegen begegnete uns ein loses Element, das sich nicht ohne weiteres dem Satz einordnen läßt, auch in Strophe 10 - ich erinnere an urbs (38) - , und hier zeigt sich dieselbe Schwäche, nur noch deutlicher, weil es nun nicht ein einzelnes Wort, sondern ein ganzer Vers ist (46), der im syntaktischen Schwebezustand verbleibt. Die Art wiederum, ganze Zeilen durch Appositionen zu füllen, trafen wir schon in der vorhergehenden Strophe an (11). Während aber jene Zutaten dort nur überflüssig sind (42. 44), ist diese hier störend, weil sie vom Sinn der ganzen Szene ablenkt. Prudentius bietet ja nicht einen epischen Katalog, der als besondere Form des Erzählens seinen Sinn in sich selbst trägt, so daß jedes Glied der Reihe sein eigenes Daseinsrecht besitzt, sondern er zählt die Städte auf, um eine einzige größer zu machen als alle anderen: seine Liste ist auf eine Synkrisis hin konzipiert. Daher hat er alles vermieden, was von dem Punkt des Vergleichs, der Zahl der Märtyrer, hätte wegführen können, und infolgedessen die Städte nur mit sparsamen Attributen ausgestattet. Die schlichte Angabe Afra Carthago (17) setzt die Stadt von der Metropolis der spanischen Provinz Carthaginiensis ab (Carthago novä)\ parva ... Gerunda steht in Gegensatz zur Qualifikation artubus sanctis locuples (29 f.), betont also gerade das Kriterium des Vergleichs, und dem gleichen Zweck dienen die Adjektive Paulo speciosa Narbo (34) und praepollens Arelas (35); denn auch bei praepollens ist an die geistliche Macht gedacht, die Genesius der Stadt verleiht34; nostra... Calagurris (31) läßt die innige Verbindung

abwehrende Kraft (per. 2,469f.; 4,65/68), und von der Passion des hl. Laurentius kann Prudentius sagen, daß sie die Macht des Heidentums in Rom gebrochen habe (per. 2, 505/28). Aber die Feststellung: qui cinis (!) gentes domitas coegit (!) ad iuga Christi geht über das eine wie das andere hinaus. Man spürt hier etwas von der Neigung der Textbearbeiter, das Original zu übertrumpfen. In diesem Sinne müssen meine Bemerkungen: Gabenzug 63 zu V. 47f. modifiziert werden. 33 Arevalo zu per. 4, 46: PL 60, 365 B. 34 Gnilka, Gabenzug 62 zu V. 35f.

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zur Heimat fühlen, ähnlich noster populus zu Beginn des Lieds (1). Der Interpolator dagegen - ich gebrauche die Einzahl, ohne fest behaupten zu wollen, daß die gefälschten Strophen alle einunddenselben Autor haben verläßt diese Linie: in Strophe 10 mit V. 37, in Strophe 12 mit V. 46 und besonders auffällig später in Strophe 16 mit V. 61 und 62 (s. unten S. 408). Er fuhrt auf Nebengleise, bringt laudative Elemente, wie sie etwa zum Städtelob in Ausonius' Ordo urbium nobilium gehören, lenkt von Saragossa ab, schwächt die Priamel35. Man erkennt jetzt auch, daß schon die bloße Länge des Katalogs ein Nachteil ist. Durch die eingeschalteten Strophen ist die Liste zu lang geworden. Sie steigert nicht das Lob Saragossas, sondern zerstreut die Aufmerksamkeit, die sich doch auf dieses eine Ziel richten soll. Die ursprüngliche, vom Dichter beabsichtigte Wirkung seiner Beispielreihe erfaßt man sofort, wenn man die Strophen 5.6.8.9 im Übergang zu resümierenden Strophe 13 verfolgt: nichts geht verloren vom Eindruck der Fülle, und doch behält die Aufzählung gewissermaßen ihre innere Richtung. Und auch eine äußere zeichnet sich jetzt ab. In weitem Schwung zieht der Dichter eine Linie von Carthago über Corduba zu den Städten der heimatlichen Tarraconensis und dann weiter hinauf zu den südgallischen Provinzen Narbonensis und Viennensis (Arles). So kommen die Städte der Heimat in die geographische und kompositorische Mitte zu stehen: Tarraco, Gerunda, Calagurris, Barchinon. Sie bilden zusammen mit Caesaraugusta das Zentrum. Mit seinen beiden Enden springt der Bogen der Städte im Norden und Süden ins nichtspanische Land hinaus und deutet damit die ökumenische Weite an, die durch die Sache gefordert ward: Ο r b e de magno ... Obviam Christoproperanter ibit Civitas qua e q u e ... eqs. (13f.). Ob der Verfasser der Strophe 12 von Tanger als Königstadt wirklich mehr wußte als wir, mag dahingestellt bleiben36. Vielleicht hat er auch nur die Nachrichten über die maurischen Könige vage assoziiert und mit dem Vers35 Dieselbe Tendenz zur unpassenden Ausmalung zeigt eine unechte Strophe im sapphischen Lied des Paulinus (carm. 17). Als Repräsentanten des Nordens (245: plaga tota Borrae) genügte dem Interpolator der Skythe nicht (246), und so fügte er noch Geten und Daker an (249/ 52), wobei er durch eine umständliche und teilweise auch dunkle Erklärung des Begriffs uterque Dacus (nach Hör. carm. 2, 2, 11: uterque PoenusY) vom Hauptgedanken ablenkt. Durch Zitat der Verse 250/52 bei Isidor orig. 9, 2, 91 ist der spätantike Ursprung dieses ganzstrophigen Interpolaments gesichert. Der Fall wurde von Kirstein (wie Anm. 5) aufgedeckt. 36 Vgl. Michel Ponsjch, Tanger antique: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II, Bd. 10,2 (1982) 787/816. Über Mausoleen (gleich monumenta reguml) gerade dort scheint nichts bekannt zu sein; vgl. auch Gabenzug 62 zu V. 45ff.

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stück aus der Horazode geschmückt. Was das Motiv der Eindichtungen angeht, braucht man nicht viel zu spekulieren. Kataloge werden eben gerne erweitert, und hier mochten lokale Interessen mitspielen. Es bedarf nicht unbedingt besonderer Gründe, wie wir sie für die Zudichtung der zehnten Strophe vermuteten (oben S. 396). Aber es ist doch andrerseits auch nicht auszuschließen, daß alle drei Strophen 10,11 und 12 einem einzigen Streben ihre Existenz verdanken, daß die Erweiterung also planmäßig erfolgte. Richtet man nämlich das Augenmerk auf die verwaltungsrechtliche Ordnung Spaniens, wird man gewahr, daß in jeder der drei eingefälschten Strophen mit der neuen Stadt jeweils auch eine neue Provinz hinzukommt, so daß jetzt fast alle Provinzen Hispaniens im Katalog vertreten sind: außer der Baetica (Corduba) und der Tarraconensis nun auch Lusitania (Emerita), Carthaginiensis (Complutum) und Mauretania Tingitana (Tingis). Es fehlt Gallaecia. Andrerseits ist gerade das Hinzutreten von Tingis auffällig. Da die Mauretania Tingitana seit der diokletianischen Neuordnung zur Diözese Hispania gehörte37, ließe es sich unter dem politischen Gesichtspunkt erklären, daß die Wahl eines Redaktors auf Tingis fiel. Es war ja leicht zu sehen, daß die Eingangsstrophen des Hymnus ein Lob Spaniens enthalten, und an diesem Preislied, so mochte es Gerechtigkeitssinn, Heimatliebe oder auch bloß Vollständigkeitsdrang des Interpolators verlangen, sollten möglichst alle Provinzen Anteil haben.

2. Die Synkrisis Es sei daran erinnert, daß der Vergleich Saragossas mit den übrigen Städten ganz auf der Z a h l der Märtyrer aufgebaut ist, nicht etwa auf ihrer Berühmtheit oder auf dem Grad ihrer Verehrung. Sonst könnte nicht Carthago mit dem gefeierten Cyprian an dem Zug teilnehmen (17f.): Afra Carthago tua promet ossa, Ore facundo Cypriane doctor. Denn gerade Cyprian hat der Dichter in einem Maße gepriesen, das kaum überboten werden kann (per. 13,1/14), und auch hier ist ihm die erste Stelle in der Reihe gewiß als Ehrenplatz zugedacht. Aber der Dichter wertet nicht eigentlich, sondern er zählt: er unterscheidet hier die Zahl der Märtyrer, nicht den Rang der einzelnen Gestalten. Deshalb ist die Angabe der entscheidenden Zahl Achtzehn gleich 37

Hinweise dazu: Gabenzug 48, Anm. 125.

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an den Anfang des Lieds gerückt (per. 4, lf.): Bis novem noster populus sub uno Marty rum servat cineres sepulcro. Und deshalb wird dann im Katalog der Städte die Anzahl ihrer Märtyrer durch Name oder Zahl (20: tresque coronas·, 21: tribus gemmis; 31: ambos) genau registriert. Abschließend wird Bilanz gezogen (ich nehme die Strophen 13 und 14, die schon oben S. 388. ausgeschrieben wurden, hier nochmal auf): 13 50

14 55

15

60 16

17

Singulis paucae, tribus aut duobus, forsan et quinis aliquae placebunt testibus Christi prius hostiarum pignere functae. Tu decern sanctos revehes et octo, Caesaraugusta studiosa Christo, verticem flavis oleis revincta, pacis honore. Sola in occursum numerosiores martyrum turbas domino parasti, sola praedives pietate multa luce frueris. Vix parens orbis populosa Poeni ipsa vix Roma in solio locata te, decus nostrum, superare in isto munere digna est.

65

18 70

Omnibus portis sacer inmolatus sanguis exclusit genus invidorum daemonum et nigras pepulit tenebras urbe piata. Nullus umbrarum latet intus horror; pulsa nam pestis populum refugit, Christus in totis habitat plateis, Christus ubique est.

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Die Zahlen des Katalogs werden zunächst in einer Strophe (13) zusammengefaßt: die anderen Städte können am Jüngsten Tag mit nur je ein oder zwei Märtyrern, mit dreien, vielleicht auch mit fünfen aufwarten; überhaupt sind es nur wenige, die solches Pfand, d.h. die Reliquien, zu verwalten hatten (49/ 52)38. Dann werden, wiederum in einer ganzen Strophe (14), diesen Zahlen die Achtzehn von Saragossa gegenübergestellt; eine dritte Strophe (15) hält das Ergebnis ausdrücklich fest: Sola ... numerosiores martyrum turbas ... parasti (57f.). Damit ist die Synkrisis endgültig abgeschlossen. Die nächste Strophe (16) stört unsäglich. Indem sie das Resultat noch zu verbessern sucht, schwächt, ja diskreditiert sie die ganze Rechnung39. Carthago hatte den Zug eröffnet (17f.). Was soll es heißen, wenn nun, nachdem ein klarer Vergleich gezogen wurde, der ja Carthago einschließt, noch einmal gesagt wird, sogar "die volkreiche Metropole" des punischen Teils der Welt, also eben wieder Carthago, habe es "kaum" bzw. "nicht" (vix kann Negation sein) verdient, Saragossa zu übertreffen? Soll damit auf weitere, nicht genannte Märtyrer Carthagos angespielt sein? Etwa auf die dreihundert, die dort der Legende nach auf einmal in die Kalkgrube sprangen (per. 13, 83ff.)40? Dann war die voraufgehende Rechnung falsch (49/52). Oder soll abermals in Erinnerung gebracht werden, daß das große Carthago nur den einen Cyprian hervorgebracht habe? Dann würde die Synkrisis vom zahlenmäßigen Vergleich auf die Person gelenkt, würde der Blick auf den hochverehrten Cyprian gerichtet einzig zu dem Zweck, um zu betonen, daß er nicht mehr wert sei als die Achtzehn von Saragossa. Überhaupt führt die Ausdrucksweise: vix ... superare ... digna est ins Allgemeine, Unverbindliche und damit fort von der sicheren Berechnung, die dem ganzen Katalog zugrunde liegt und derzufolge ja die Sache Saragossas im Verhältnis zu Carthago längst entschieden ist. Erst recht befremdlich die Erwähnung Roms! Auch Roma soll "kaum" oder "nicht" würdig sein, Saragossa zu übertreffen in isto munere (63f.), womit nur die bestimmte, in V.53 nochmals klar bezeichnete Gabe gemeint sein kann: also auch Rom hätte demnach nicht mehr zu bieten als Saragossa mit seinen Achtzehn! Nun kann man gewiß den Feststellungen überlegenen Werts der

38 Zur Erklärung: Gabenzug 63f. 39 Die wesentlichen Argumente sind schon in der früheren Studie vorgebracht worden (Gabenzug 64f.). Ich greife die Formulierungen zum Teil wörtlich auf. 40 Nach Prud. per. 13, 70f. waren das Einwohner Carthagos, doch für Paulinus carm. 19, 144/46 gehört die Candida massa der Stadt Utica. Dazu stimmt Aug. serm. 311, 10 (PL 38, 1417): Uticensis Massa Candida.

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Reliquienstätten nicht durch kleinliche Kontrollen beikommen: die Freude am Hymnus drängt jeweils zu höchstem Lob; so wird Tarraco im Preislied auf seine Märtyrer über alle Städte Spaniens gestellt: (caput) cunctis urbibus eminens Hiberis (per. 6, 144). Aber da ja der Dichter hier seinerseits zählt und jetzt Rom in diesem Kalkül einbezogen werden soll, wird man unweigerlich angehalten, die Sache nachzurechnen. Prudentius selbst berichtet (per. 11, lf.): Innumeros eine res sanctorum Romula in urbe Vidimus ... eqs., und darunter befand sich ein Polyandrium mit sechzig Leibern (per. 11, 13/16). Es wäre gewiß eine vergebliche Ausflucht, wollte man dagegen geltend machen, der Dichter selbst habe die haltlose Rechnung, die Strophe 16 insinuiert, zu einem früheren Zeitpunkt, vor seiner Romreise, aufgemacht; denn immerhin erreichte ihn die Kunde von der Fülle der Märtyrergräber Roms auch in der spanischen Heimat (per. 2, 541/44). Der Interpolator ging da weiter, wo der Dichter Halt gemacht hatte. Er wollte nachtragen, daß auch die größten Städte sich mit Saragossa nicht messen können, und war töricht genug, dabei Rom ins Spiel zu bringen, wo doch die Apostelfürsten liegen und ungezählte andere Märtyrer. Den unmittelbaren Anlaß dazu bot ihm gewiß die vierte Strophe des Gedichts, die dem Katalog der Städte voraufgeht (per. 4, 13ff.): 4

13 15

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orbe de magno caput excitata obviam Christo properanter ibit civitas quaeque pretiosa portans dona canistris. Afra Carthago tua promet ossa, ore facundo Cypriane doctor, ... eqs.

Jede einzelne Stadt, für sich und der Reihe nach, eilt Christus entgegen, jeweils mit einer besonderen Gabe. Das Ganze, das auch individualisierendes quisque stets voraussetzt, ist hier zwar nicht die Gesamtheit aller Städte, die es auf der Welt gibt, aber doch die Gesamheit aller Städte in allen Teilen der Oikumene, die ein Märtyrergrab - oder mehrere - besitzen und infolgedessen an der Gabenprozession teilnehmen werden. Nach solcher Ankündigung gerade Rom n i c h t genannt zu finden, erschien dem Interpolator unerträglich, zumal doch Carthago den Zug eröffnet, und dem Reiz, die Sache in

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seinem Sinne in Ordnung zu bringen, konnte er nicht widerstehen. Er griff auf Carthago zurück, Schloß aber diesmal Rom an. Zugleich verschob er die Gewichte. Der Vergleichspunkt liegt für Prudentius, wie gesagt, in der Zahl der Märtyrer, nicht im Rang der Personen und schon gar nicht in der äußeren Bedeutung der Städte41. Der Redaktor aber schielt auf solche Nebensachen. Seine fällige Periphrase des Städtenamens: parens orbis populosa Poeni (61) sticht ab von der schlichten Angabe des Dichters: Afra Carthago (17) und erweckt die seltsame Vorstellung, als stünde die Einwohnerzahl in irgendeiner Relation zur Zahl der Märtyrer. Das Bild der thronenden Roma (62) ist ebenso verbreitet wie nichtssagend; denn man weiß nicht recht, warum Rom gerade hier so vorgestellt wird. Sollte etwa gar auf die Apostelgräber angespielt sein, wäre der Mißgriff offenkundig42; sollte bloß die politische oder historische Rolle Roms gemeint sein, wäre wieder ein Moment betont, das hier ganz gleichgültig ist. Man stößt eben immer wieder an eine neue Ecke. Die Strophe hat ihre Eleganzen43, aber es ist dem Redaktor nicht gelungen, seine Zudichtung in gedanklicher Hinsicht dem Zusammenhang genau anzupassen. Man hat den Eindruck, als sei er sich selbst seiner Sache nicht ganz sicher gewesen, da die schwächliche Repetitio vix ... vix (61f.) die Aussage zu mildern, die kühne Behauptung der Einzigheit Saragossas (57ff.: sola ... sola) wieder einzuschränken scheint und zudem der vage Hinweis: in isto munere (63f.) die bestimmte Zahl geflissentlich meidet. Ganz anders der Dichter! Da er den Vergleich nicht überzogen hatte, konnte er mit völliger Sicherheit auftreten. Scheidet Strophe 16 aus, schließen sich die Strophen 14, 15, 17 und 18 fugenlos zur ursprünglichen Einheit zusammen. Mit der Anrede Tu (53) wird Saragossa emphatisch den anderen Städten gegenübergestellt, und fortan bleibt der Blick ausschließlich auf diese eine Stadt gerichtet: die Anaphora sola (57)... sola (59) schärft die Antithese, und in den folgenden Strophen wird die vollständige Heiligung Saragossas, 41 Anders Paul. Nol. carm. 19, 45/163, wo eine gottgewollte Beziehung zwischen der Größe der Städte und der Bedeutung ihrer Märtyrergräber angenommen wird. Aber unter diesem Blickwinkel betrachtet Prudentius die Verhältnisse hier gerade nicht. 42 Vgl. Paul. Nol. carm. 13, 29f. über Roma: Quae prius imperio tantum et victricibus armis, Nunc et apostolicis terrarum est prima sepulchris! 43 Dazu gehört die Apostrophe te, decus nostrum (63), die Vergil Aen. 6, 546 anklingen läßt. Allerdings ist decus als rühmende Bezeichnung des Märtyrers eines der Lieblingswörter des Dichters (in diesem Gedicht noch V.29), das sich einem nachahmenden Pseudo-Prudentius einprägen mußte, und daher fehlt es auch in der Großinterpolation am Schluß des Gedichts (183) nicht; vgl. Gnilka, Gabenzug 61 zu V. 29 und 66 zu V. 63f., außerdem unten S. 419.

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welche die Reliquien der Achtzehn bewirken, vorgestellt: omnibus portis ... eqs. (65ff.); Christus in totis habitat plateis, Christus ubique est (71f.) Der absichtsvolle Kontrast von Licht und Finsternis tritt im direkten Übergang von Strophe 15 zu 17 und 18 unvermindert hervor: multa luce frueris (59f.), nigras pepulit tenebras (67), nullus umbrarum latet intus horror (69). Der tiefe Bezug zwischen den Wendungen praedives ρ i et ate (59) und urbe ρ i at a (68) wird erst jetzt überhaupt kenntlich.

3. Die Namen im Himmelsbuch Die achtzehn Märtyrer werden nicht gleich namentlich genannt. Eingeschoben sind zunächst Preislieder auf den hl. Vinzenz (77/108) und die hl. Encratis (109/43). Nach Sache und Gedanke steht ihr Lob in engem Zusammenhang mit dem Hymnus auf die Stadt und jene Achtzehn, in kompositorischer Hinsicht erreicht der Dichter dadurch eine weite Trennung der beiden Namenskataloge und eine erhöhte Spannung44. Die Strophen über Vinzenz und Encratis bilden retardierende und zugleich steigernde Momente, welche die bezüglich der achtzehn Märtyrer erregte Erwartung stauen, so daß der Dichter schließlich diese Erwartung erfüllen und, kräftig atemholend, zum Preis der Achtzehn übergehen kann, ohne durch die neue Namensreihe den lyrischen Schwung seines Gedichts zu brechen (145ff.). An letzter Stelle nennt er die vier Saturnini, obwohl ihr Name nicht ins Metrum paßt (161/64). Aber gerade indem der Dichter diese 'Lizenz' rechtfertigt45, bereitet er den gedanklichen Gipfel des Hymnus vor (165ff.):

44 Hierzu verweise ich wieder auf die frühere Studie: Gnilka, Gabenzug 43f. 45 Über diesen schönen Fall vertiefender Nutzung eines poetischen Mittels, das vorchristliche Dichter scherzend einsetzen, s. Gnilka, Gabenzug 46f., wo auch die Nachahmung bei Sidonius Apollinaris (epist. 9, 16, v. 77) besprochen ist. Sie wurde schon von Arevalo bemerkt (proll. cap. XXIV, nr. 211: PL 59,731 A/B) und von Gustav Meyer, Zu Prudentius: Philologus 93 (1938) 377/403, hier 380/82 behandelt, was ich a.O. übersah. Meyer meint allerdings, die Frage, ob Prudentius die Lizenz als prosodische oder als metrische wertete, ob er also gegen die Silbenquantität Sätuminus maß oder gegen das Metrum Säturninus, lasse sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Zu Unrecht. Der ganze Sinn der Stelle führt eindeutig darauf, daß für den Dichter der heilige Name das Primäre ist, vor dem die carminis leges (V. 165) zurücktreten müssen. Es liegt eben eine Umbiegung des "scherzhaften Topos" (Meyer) vor.

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Carminis leges amor aureorum nominum parvi facit et loquendi cura de sanctis vitiosa non est nec rudis umquam. Plenus est artis modus adnotatas nominum formas recitare Christo, quas tenet caeli liber explicandus tempore iusto. Octo tunc sanctos recolet decemque angelus coram patre filioque urbis unius regimen tenentes iure sepulcri. Quin ad antiquum numerum trahetur viva post poenae specimen puella morsque Vincenti, cui sanguis hinc est fans et honoris additis Gaio - nec enim silendi teque, Crementi, quibus incruentum ferre provenit decus ex secundo laudis agone. Ambo confessi dominum steterunt acriter contra fremitum latronum, ambo gustarunt leviter saporem martyriorum. Haec sub altari sita sempiterno lapsibus nostris veniam precatur turba, quam servat procerum creatrix purpureorum.

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Nos pio fletu, date, perluamus marmorum sulcos, quibus est operta spes, ut absolvam retinaculorum vincla meorum. Sterne te totam generosa sanctis civitas mecum tumulis, deinde mox resurgentes animas et artus tota sequeris.

Die beiden Strophen 46 und 47 ( = V. 181/88) sind von Bergman in Klammern geschlossen worden, und ich wage die Unterstellung, daß das niemals geschehen wäre, wenn sie nicht im Puteanus fehlten. Pelosi schmückt den Fall romanhaft aus46: Prudentius vergaß die beiden Bekenner, wurde von einem Glaubensbruder aus Saragossa, der den Hymnus während der liturgischen Feier hörte, an das Versäumnis erinnert und dichtete die beiden Strophen hinzu, wobei er allerdings vergaß zu ändern, was er zuvor in V. 113/16 über Encratis gesagt hatte, nämlich daß sie als einzige unter allen Märtyrern weiterlebte terns ... nostris (114). Der Zusatzcharakter der Strophen, so Pelosi, offenbare sich deutlich an der Formulierung in V. 181, besonders an der Parenthese nec enim silendi - dies eine richtige, wenn auch keineswegs überraschende Erkenntnis. Der Annahme einer Erweiterung von des Dichters Hand widerspricht Lazzati: "... tutte le ragioni adotte dal Pelosi stanno a dire che trattasi di aggiunta posteriore e non di mano prudenziana ..." usw47. Die Leseausgaben bieten kein einheitliches Bild. In Klammern erscheinen die Strophen bei Lavarenne und Guillen, ohne Klammern bei Thomson. Cunningham schwankt: "In Pe. 4 de versibus 181-188 dubito" (praef. p. XXVI nr. 105). Bergmans Klammern sind in seinem Text verschwunden, im Apparat liest man: "seclusit Bergman fort, recte". Doch neigt er zur entgegengesetzten Entscheidung. Den Befund in Α erklärt er sich, wie Pelosi, aus liturgischen Rücksichten, aber im umgekehrten Sinne: "homo quidam" habe den Text für den Gesang herrichten wollen und sei der Meinung gewesen, die Verehrung gebühre nur Märtyrern, nicht Bekennern - habe also die Strophen gestrichen 46 47

Pelosi 177f. Lazzati 233.

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(praef. ebd.)· Die Saat des Zweifels geht in der neueren Literatur auf. Wo das Textproblem nicht überhaupt übergangen wird48, streift man es leichthin und achselzuckend, so als sei das Non liquet hier eine schicksalhafte Notwendigkeit49. Aber nach den Maßstäben unserer Wissenschaft ist die Frage, ob zwei Strophen zu Recht in einem Gedicht stehen oder nicht, keine Kleinigkeit, und Resignation ist hier um so weniger angebracht, als noch niemals der Versuch gemacht wurde, den Fall aufgrund innerer Kriterien zu lösen, ja die ganze Partie philologisch nicht im mindesten durchleuchtet ist. Ich kündigte daher in dem früheren Aufsatz eine Behandlung des Problems an, wobei ich allerdings zunächst nur das inkriminierte Strophenpaar im Auge hatte50. Es ist aber schon oben S. 385f. bemerkt, daß der Schaden nicht in der Weise begrenzt werden kann, wie das der Text des Puteanus andeutet. Auch die voraufgehende Strophe (45) und die folgende (48) sind unecht: das ganze vierstrophige Supplement (V. 177/92) muß ausgeschieden werden. Daß das Fehlen der Verse 181/ 88 in Α ein Faktum darstellt, das sein Gewicht hat, wird man keinesfalls leugnen dürfen 51 , aber es wäre falsch, sich allein darauf zu verlassen. "Selbst dort, wo uns eine Handschrift ... unechte Verse kenntlich macht ..., muß

48 So bei John Petruccione, The Persecutor's Envy and the Rise of the Martyr Cult: Peristephanon Hymns 1 and 4: Vigiliae Christianae 45 (1991) 327/46. Er führt in seiner Liste der benutzten Ausgaben (341, Anm. 1) Bergmans Edition gar nicht mehr auf. Daraus erklärt sich wohl, daß er auf das textkritische Problem der beiden Bekennerstrophen nicht aufmerksam wurde; denn bei Cunningham sah er ja keine Klammern. Cunninghams Ausgabe scheint manchen amerikanischen Forschern überhaupt als der Weisheit letzter Schluß zu gelten: s. die folgende Anmerkung. 49 Michael Roberts, Poetry and the Cult of the Martyrs. The Liber Peristephanon of Prudentius, Ann Arbor 1993, 34 Anm. 70 referiert die divergierenden Urteile Bergmans und Cunninghams ohne wirkliche Entscheidung. Eingangs erhält man in diesem Buch die Information, der Verfasser zitiere die Gedichte "in the most recent edition, of Maurice P. Cunningham ..., though with some changes in punctuation" (p. X). Erwartungen des Textkritikers werden daher von vorneherein gedämpft. Mit solchem Interesse des Lesers wird freilich auch kaum gerechnet, da auf der Rückseite des Titelblatts zu lesen steht, wie man sich den Prudentiustext via Computer besorgen könne aus einer älteren Ausgabe "because of copyright restrictions". Aber auch Garcia begnügt sich damit, hinter die Verse per. 4, 181/88 gleichsam ein Fragezeichen zu setzen, vgl. Garcia 145: "... si los versos 181-188 son realmente aut6nticos". Die kompromißlerische Haltung, die er gegenüber der Echtheitskritik an den Tag legt (S. 236, Anm. 662), wirkt sich hier aus. 50 Gnilka, Gabenzug 43, Anm. 105. Da dort der Verdacht auf die umgebenden Strophen noch nicht ausgeweitet wurde, sind die Verse per. 4,189 und 191f. fälschlich in die Interpretation (S. 29 bzw. 51) einbezogen. 51 Der Ausfall der Verse 102/05 in Α dürfte auf Versehen beruhen - der ähnliche Strophenanfang mit Noster (101) und Noverat (105) führte dazu, daß der Schreiber nach V. 101 mit V. 106 fortfuhr - und diskreditiert das Zeugnis des Puteanus im Falle der Verse 181/88 ebenso wenig wie die Unleserlichkeit der Zeilen, die von späterer Hand ergänzt wurden (118f.; 157/60; 177/79), da Buchstabenreste von erster Hand erkennbar sind.

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damit gerechnet werden, daß in unmittelbarer Nachbarschaft weitere Fremdkörper sitzen, ohne daß dies durch Divergenzen im Versbestand ... angezeigt würde"52. Diese Feststellung, aus ganz anderem Anlaß getroffen, bewahrheitet sich in unserem Fall vollkommen. Der Zustand des Texts im Puteanus markiert nur gleichsam das Zentrum des parasitären Gewebes, während die Randzonen ohne äußeres Kennzeichen blieben. Schon eine einfache Beobachtung führt darauf, wie unzureichend Bergmans kritische Operation geriet: nach Ausscheidung allein der beiden Strophen 46 und 47 schlösse sich die Feststellung: Haec... Turba, quam s er ν at procerum creatrix Purpureorum (189/92) unmittelbar an die Erwähnung des hl. Vinzenz an, auf den sie erklärtermaßen (179f., vgl. 93/100) gar nicht zutrifft! Gerade Vinzenz liegt ja eben in Saragossa nicht begraben. Nur in diesem Sinne ist aber das Verbum servat zu verstehen; man denkt sogleich an den Gedichtanfang: Bis novem noster populus sub uno Marty rum servat cineres sepulcro (lf.). Solche Ungereimtheit wäre aber in dem Hymnus keine Kleinigkeit, da hier auf den Ort des Grabes viel, ja in gewisser Weise: alles ankommt. Die Störung bleibt zwar auch noch fühlbar, wenn die Strophen 46 und 47 ihren Platz im Text behaupten, ja im Grunde ist schon durch dieses Mißverhältnis der ganzen vierstrophigen Zudichtung (45 - 48) das Urteil gesprochen, aber der Widersinn tritt, wie gesagt, noch krasser hervor, wenn die Strophen 45 und 48 aufeinanderfolgen, wie das Bergmans Text suggeriert. Allein diese Tatsache rechtfertigt im Falle der Serie 45.46.47.48 die Devise des Alles oder Nichts. Eine nähere Betrachtung der Strophenfolge bestätigt den Verdacht gegen das ganze Additamentum. Der Lobpreis der achtzehn Märtyrer gipfelt in Strophe 44. Ihre Namen wird der Engel beim Jüngsten Gericht verlesen, und zwar coram patre filioque (173f.). Das ist der Höhepunkt des Gedichts, die Aussicht auf solche Ehrung faßt alles zusammen, was sich zu ihrem Ruhme sagen läßt53. Zugleich kehrt der Dichter, den Katalog schließend, zur Zahl Achtzehn zurück, die das Gedicht eröffnete und die an wichtigen Plätzen des Hymnus in Erinnerung gebracht 52 Otto Zwierlein, Zur Kritik und Exegese des Plautus IV = Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1992, Nr. 4, 261. 53 Zum Bild des Himmelsbuchs (vgl. Lc. 10,20; Apc. 20,12) vgl. Leo Koep, Das himmlische Buch in Antike und Christentum, Bonn 1952 = Theophaneia 8, hier 51f., 79f., 121f. zu Prudentius; Gnilka, Gabenzug 45f. mit Anm. 114.

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wird: beim Vergleich mit den übrigen Städten, im Zusammenhang ihrer Bedeutung als Vorbild für den hl. Vinzenz, zu Beginn der Aufzählung ihrer Namen: 1

Bis novem noster populus sub uno martyrum servat cineres sepulcro ... eqs

53

Tu decern sanctos revehes et octo, Caesaraugusta ... eqs.

105

Noverat (sc. Vincentius) templo celebres in isto octies partas deciesque palmas, ... eqs.

145

Ergo ter senis sacra candidatis dives Optato simul et Luperco perge (sc. Caesaraugusta) ... eqs.

173

Octo tunc sanctos recolet decemque angelus ... eqs.

Man bemerkt die kunstvolle Variation in der Wiedergabe der Zahl. Gewechselt wird in der Auflösung der Achtzehn, in der Art der Numeralia und in der Stellung der Zahlwörter. Die Zahl Achtzehn bildet die Achse, um die der Hymnus kreist. Zu Beginn des Lieds wird diese Zahl noch zusätzlich hervorgehoben durch den Gegensatz zu dem einen Grab, in dem ihre Gebeine allesamt ruhen: bis novem ... sub uno ... sepulcro (lf.). Eine ähnliche Antithese schärft die Zahl hier in Strophe 44 ein; die Achtzehn sind Lenker einer einzigen Stadt: urbis unius regimen tenentes (175). Sie gebieten über die Stadt als πολιούχοι "aufgrund des Grabrechts", iure sepulcri (176), d.h. aufgrund des göttlich sanktionierten Rechtsverhältnisses, das ihre Grabstätte begründet. Damit hat der Dichter schon den Übergang zur Situation der Stadtbewohner und zum Anlaß seines Lieds angebahnt; vollzogen wird er im echten Text durch den asyndetischen Anschluß: Nos piofletu, date, perluamus Marmorum sulcos ... eqs. (193f.) - dazu unten S. 429f. Durch die interpolierten Strophen 45. 46 und 47 wird diese Gedankenlinie zunächst unterbrochen, während die ebenfalls unechte Strophe 48 zu ihr zurücklenken soll.

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Strophe 45 Der Redaktor sucht mit dem Futur trahetur (v.l. trahentur) Anschluß an das Dichterwort in V. 173: recolet, sc. angelus, aber nur formal. Denn das Bild des Engels, wie er das Himmelsbuch aufschlägt und daraus vorliest, verblaßt schlagartig. Der Ausdruck: ad antiquum numerum löst überdies Unsicherheit aus. Antiquus numerus im Sinne von numerus perfectus - so Vitruv 3 , 1 , 8 über die von den Alten approbierte Zehnzahl - paßt hier nicht, da nicht eine Eigenschaft der Zahl als einer mathematischen Größe gemeint sein kann, sondern nur eine Qualität der Personen, welche die Zahl bilden. Man kann nur verstehen "ancient number" (Thomson). Damit aber ist ein zeitliches Verhältnis vorausgesetzt. Das Martyrium der Achtzehn einerseits und die Martyrien der hl. Encratis und des hl. Vinzenz andrerseits müßten verschiedenen Verfolgungen und weit getrennten Epochen angehören, damit der Abstand mit dem Begriff der antiquitas erfaßt werden kann. Davon hören wir sonst jedoch nichts. Zwar sagt Prudentius, daß Vinzenz sich die Achtzehn zum Vorbild nahm (per. 4, 105/08), aber eine große zeitliche Distanz läßt sich aus dieser Äußerung nicht ableiten. Man glaubt denn auch, daß die Achtzehn ebenso wie Vinzenz der beginnenden Verfolgung unter Diocletian zum Opfer fielen54. Der numerus antiquus ist vermutlich aus dem Dichtertext flüchtig herausgelesen, vgl. 81f.: Saevus antiquis quotiens procellis Turbo vexatum tremefecit orbem ... eqs.; 163f.: Quos Saturninos memorat vocatos Ρ rise a ν etustas . An der letzteren Stelle werden die Saturnini, und damit indirekt alle Achtzehn, tatsächlich der alten Zeit zugewiesen, aber natürlich gilt diese - rhetorisch gesteigerte - Zeitbestimmung nur vom Standpunkt des Dichters aus; für eine 'relative Chronologie' der Martyrien besagt sie nichts. Und weiter: daß Encratis hier wie eine supernumeraria den Stadtpatronen zugerechnet wird, mutet seltsam an, weil nicht recht einzusehen ist, weshalb sie nicht ebenso regiert iure sepulcri (176) wie jene. Sie hat ja ihr Grab ebenfalls in der Stadt (Prud. per. 4, 109f.; Eugen, carm. 9, 7f.). Der Dichter hat solche Collision geschickt vermieden. Im echten Text ist der Hym54 So jedenfalls Pius Bonifatius Gams, Die Kirchengeschichte von Spanien 1, Regensburg 1862 [Graz 1956] 325. Zu Vinzenz vgl. Victor Saxer, La Passion de S. Vincent diacre dans la premiere moitie du Ve si6cle. Essai de reconstitution: Revue des Etudes Augustiniennes 35 (1989) 275/97.

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nus auf Encratis mit einem feierlichen Preis sowohl der Märtyrerin als auch der Stadt Saragossa endgültig abgeschlossen (141/44), und ebenso bildet dann Strophe 44 den Schluß des Lobs der Achtzehn, verbunden wieder mit einem Lob der Stadt. Man empfindet keinerlei Mißverhältnis der korrespondierenden, aber getrennten Teile. Die Störung entsteht erst durch das Zusammentreten der Strophen 44 und 45. Und wie steht es mit Vinzenz und Saragossa? Die Antwort ergibt sich von selbst. Denn es ist schlechterdings unverkennbar, daß die Behauptung, der hl. Vinzenz werde beim Jüngsten Gericht den Achtzehn von Saragossa hinzugezählt, über das hinausgeht, was der Dichter erwartet. Zwar meldet er im Hinblick auf die Herkunft des Heiligen den Anspruch an: noster est (97), noster et nostra puer in palestra... unctus (lOlff.)55, aber innerhalb des Gabenzugs der Städte, die dem Weltenrichter die Gebeine ihrer Märtyrer zum Geschenk machen, erscheint Saragossa nur mit den Reliquien der Achtzehn (53/56). Mit denen des hl. Vinzenz kann die Stadt jedenfalls nicht kommen, da er fem von Saragossa begraben liegt (per. 4, 97/100; 5, 505/20). Diese Tatsache mag innerhalb des Hymnus vorübergehend vernachlässigt oder heruntergespielt werden, läßt sich aber nicht einfach aufheben, so daß das ius sepulcri (vgl. 176) außer Kraft gesetzt würde und in diesem Fall nicht mehr gälte, was sonst überall gilt: nämlich daß die Städte in den Gebeinen ihrer Märtyrer ein Pfand besitzen, das sie bei Gott einlösen (51 f.). Wenn Vinzenz bei der Parusie tatsächlich zugunsten Saragossas zu Buche schlägt, wenn plötzlich vor dem göttlichen Richter die Heimat mehr zählt als das Grab, dann ist die Rechnungsgrundlage, die uns Prudentius im Gabenzug der Städte bildhaft vor Augen führt, vernichtet. Im Falle der hl. Encratis ist also das Additamentum ungeschickt, im Falle des hl. Vinzenz ungerecht. Und natürlich kann auch nicht ganz Saragossa vor dem Grabe des hl. Vinzenz niedersinken (vgl.l97ff.), da dieses sich nun einmal nicht dort befindet. Es ist aber solche Verdrehung der Tatsachen, welche die Interpolation erzwingt, da haec ... Turba (189ff.) unweigerlich Vinzenz miteinschließt, und Strophe 50 nicht von Strophe 48, diese nicht von Strophe 45 getrennt werden kann. Nur die Streichung der ganzen Appendix 45/48 löst, wie bereits bemerkt, die mißliche Konsequenz.

55 Mit ähnlicher Freiheit wird Cyprian, der doch hier (per. 4, 17f.) unzweifelhaft der Stadt Carthago zugerechnet ist, für Spanien beansprucht (per 13, 3f.): Est proprius patriae martyr,

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Noch einige Kleinigkeiten. An der Spitze des Verses 179 bietet der Puteanus statt morsque Vincenti die Apostrophe tuque, Vincenti. Die Editoren, auch Bergman, entscheiden sich hier gegen A. Die andere Fassung besticht durch die glatte Konstruktion und die Antithese: Viva ... puella Mors que Vincenti. Die sekundäre Entstellung des Interpolaments läßt sich durch die Ambivalenz der Form Vincenti (Genitiv und Vokativ) erklären, vielleicht auch durch eine frühe, dem Textzustand in A, wo ja die beiden folgenden Strophen fehlen, voraufgehende Angleichung an die Apostrophe in V. 182: Teque, Crementi (Versanfang!). Aber auch die Genitivform Vincenti fällt auf. Prudentius bevorzugt bei den nomina communia ausschließlich -ii, selbst da, wo i metrisch möglich wäre (z.B. per. 2, 8: inponis imperii iugum), von den Eigennamen auf -ius, -ium begegnen die Genitive Marii (c. Symm. 1, 524) und Laurentii (per. 2, 15), aber auch Latii ... palati (Versende: c. Symm. 2, 1103), Chelidoni (Versende: per. 11, 237) und Capitoli (in Synaloephe: c. Symm. 2, 688); für Palati und Capitoli gibt es klassische Vorbilder56. Bemerkenswert ist nun aber, daß diese Genitive überhaupt sehr selten sind. Prudentius meidet sie offenbar. Er hat Laurentius zehnmal beim Namen genannt, aber nur einmal im Genitiv (Laurentii), zweimal im Vokativ (Laurenti: per. 2, 527. 549). Den Namen des hl. Vinzenz setzt er - per. 4, 179 beiseite - dreimal in den Vokativ Vincenti (per. 4, 77. 89; per. 5, 4), zweimal in den Nominativ (per. 5, 29. 273). Überhaupt wählt der Dichter gerade in unserem Gedicht gerne den Vokativ für solche Namen, neben Vincenti vgl. Genesi (36), Evoti (156), Apodemi (160). Als Genitiv begegnet die Form Vincenti außer in der hier behandelten Strophe nur im Titel zu per. 5 (v.l. Vincentii) und bei Venantius Fortunatas (carm. 1, 9, 5; 8, 3, 154). Eugenius (carm. 10, 1) stellt den Namen in den Vokativ. Ein echtheitskritisches Moment bildet die Genitivform Vincenti in V. 179 zumindest dann, wenn man sie im Zusammenhang mit dem folgenden Vokativ Crementi (182) betrachtet. Denn es ist kaum glaublich, daß Prudentius selbst die Abfolge der gleichen Formen verschiedener Casus, dazu noch an derselben Versstelle vor der Caesur, sed amore et ore no s t e r. Incubat in Libya sanguis, sed ubique lingua pollet. Im Grunde beweisen aber diese abweichenden Ansprüche, wie ernst und genau das Besitzverhältnis genommen wird. 56 Neue-Wagener, Formenlehre 1, 148 geben als Beispiel für Genitiv eines Eigennamens auf-/ bei Prudentius nur Capitoli. Mehr bei Lavarenne, Etude § 89, wo man aber nichts über die griechischen Namen erfährt (Chelidoni!); auch fehlen die Gegenbeispiele: Genitive auf -ii bei Lateinischen Eigennamen. Capitoli hat Verg. Aen. 9, 448; Palati Ov. met. 14, 333 u.ö.

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geduldet hätte. Der ganze Ausdruck: morsque Vincenti ahmt überdies ein Stück des echten Katalogs nach: mors et Urbani (150). Einen trüben Flecken bildet schließlich sanguis (179). Lavarenne verweist auf V. 89ff.: Nonne, Vincenti, ... tenui notasti Sanguinis rore speciem futuri... eqs.57? Die Stelle wird durch Eugenius erklärt: man verehrte zu Saragossa eine Blutreliquie, die einem Nasenbluten des Heiligen verdankt wurde58. Aber wer soll das hier verstehen? Der Satz: cui sanguis hi η c est... eqs. dürfte als Herkunftsangabe gemeint sein; er greift auf V. 77ff. zurück: Inde, Vincenti, tua palma nata est, Clerus hic (v.l. hinc) tantum peperit triumfum, Hic (v.l. hinc) sacerdotum domus infulata Valeriorum. Dennoch wirkt die Diktion unklar. Da mors vorausgeht, wird man mit sanguis zunächst auf die Bedeutung "Märtyrerblut", "Martyrium" geführt (122. 157, vgl. per. 3, 9 sanguine martyriv, 5, 3 sanguinis merces), zumal der Adoneus fans et honoris dazu paßte. Auch für die Reliquien selbst kann sanguis i.q. membra, ossa stehen (s. oben S. 399). Der Dichter geht daher mit dem Wort überall sorgfältig um, beim Interpolator schillert es.

Strophe 46 Additis Caio ... eqs.: recht bürokratisch, besonders nach trahetur (177), alles mehr im Tone eines Chronisten als eines Hymnensängers. Die dürre Überleitung läßt zudem unausgesprochen, in welchem Verhältnis die neuen Personen zur Stadt Saragossa stehen. Gerade nach den Versen über Vinzenz, cui sanguis hinc est... eqs. (179f.), wirkt die pure Addition unklar. Und die Parenthese: nec enim silendi erweckt den Eindruck, als sollten dem Gerichtsengel nun gar Vorschriften gemacht werden. Als könne er etwas vergessen oder unterschlagen, was im Buch steht, und als müsse man dagegen Widerspruch anmelden. Wo doch nicht nur jeder Name, sondern auch jedes während der Passion gesprochene Wort und jede einzelne Wunde vom Engel genauestens verzeichnet werden (vgl. per. 10, 1121/35)! Der Redaktor hat aber wohl die Gerichtsszene, an die er durch das Futur trahetur (177) noch 57 Lavarenne, Ausgabe 4, 221, note 1 zu p. 70. 58 Eugen, carm. 10, 7/10 (MGH a.a. 14, 240); es handelt sich um ein blutgetränktes Gewand.

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lose anknüpfte, inzwischen ganz aus dem Auge verloren. Wendungen der Art wie: nec te silebo, nec silebere, nec reticebere, nec te taceam dienen seit jeher dazu, in enkomiastischem Zusammenhang den Willen des Autors auszudrücken, eine bestimmte Person zu preisen, sie nicht ungenannt zu lassen, nicht zu übergehen usw59. Beliebt sind solche Floskeln besonders in Katalogen, wo sie die Aufzählung beleben. Ausonius hat sie im Städtekatalog, im Fischkatalog, in den Katalogen der Götter, der Speisen und der professores, fast stets verbunden mit der Apostrophe60. Unser Interpolator fällt also mit seiner Phrase unversehens in den Katalogstil zurück und verdirbt das Bild, indem er mit der Rezitation aus dem Himmelsbuch eine Aufforderung verbindet, die ein Verfasser nur an sich selbst richten darf oder an sein Publikum. Was aber noch schwerer wiegt: nie und nimmer hätte Prudentius den Märtyrern so leichthin zwei Bekenner beigesellt. Denn um Confessoren handelt es sich, nicht um Märtyrer im eigentlichen Sinn. Die Angabe des Martyrologium Romanum, Caius und Crementius - dies eine andere Namensform für Clementius61 - hätten ein zweites Mal das Bekenntnis abgelegt und daraufhin den Märtyrertod erlitten, ist aus dieser Strophe falsch erschlossen, wie schon Arevalo sah62. Incruentum decus nimmt jeden Zweifel. Incruento palmam adeptus proelio, sagt Paulinus vom Bekenner Felix (carm. 21, 159), und Prudentius sieht die Götzen Roms besiegt martyris Laurentii Non incruento proelio (per. 2, 15f.). An dieser Sprachregelung orientiert sich auch der Redaktor. Der Ausdruck: ex secundo laudis agone (183f.) wird erklärt durch eine ähnliche Wendung in Pontius' Cyprianvita63: quis martyres tantos exhortatione divini sermonis erigeret? quis ... tot confessores frontium notatarum s e cun da inscriptione signatos et ad exemplum martyrii superstites reservatos incentivo tubae caelestis animaret'? Bekenner also sind gemeint, aber Bekenner hat Prudentius nicht gefeiert. Erst die durch den Tod voll-

59 Verg. Aen. 10, 793: Non equidem nec te, iuvenis memorande, silebo; Hör. carm. 1, 12, 21f.: neque te silebo, Uber ... eqs.; 4, 9, 30f.; Ov. fast. 3, 55f.: Non ego te, tantae nutrix Larentia gentis, Nec taceam vestras, Faustule pauper, opes. 60 Auson. opusc. 11, 46f. (p. 147 Peiper); 11, 98 (p. 150); 11, 107 (p. 150); 10, 115 (p. 123); 12, 51 (p. 161); 12, 57 (p. 162); 5, 18, 1 (p. 65). 61 ThLL Onomasticon C 488, 36ff.; ein Crementius hypodiaconus begegnet bei Cyprian (epist. 8, 1; 9, 1. 2; 20, 3). 62 Arevalo zu per. 4, 181. 183. 187: PL 60, 376 B/D. 63 Pont, vita Cypr.7, lOf. (Vite dei Santi a cura di Christine Mohrmann 3, 19893, 20 [ed. Bastiaensen]).

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endete Passion gilt dem Dichter als Martyrium64, und nur solche Helden sind es, die uns in der Poesie des Spaniers begegnen. In den vierzehn Gedichten περί στεφάνων feiert er insgesamt 42 Märtyrer mit Namensnennung65, ferner drei ungenannte (per. 4, 20), dazu den Knaben, der zusammen mit Romanus leidet (per. 10,696/845). Zum Vergleich herangezogen werden Stephanus (per. 2, 371), die sieben makkabäischen Brüder (per. 10, 751/80) und Isaias (per. 5, 523f.: neben den Makkabäern), dieser nach patristischer Tradition; erzählt wird die Legende von den Dreihundert, die bei Carthago in die Kalkgrube sprangen (s. oben S. 406), allgemein auf die Vielzahl der Märtyrergräber in Rom hingewiesen (per. 2, 541/44; 11, Iff.). Nirgendwo ein Heiliger, dessen Passion nicht durch den Tod gekrönt worden wäre - ausgenommen die eine Encratis66. Aber diese Ausnahme bestätigt wirklich einmal die Regel. Denn gerade Prudentius' Darstellung der Passio S. Encratidis per. 4, 109/44 beweist, daß er Bekenntnis, Leiden u n d T o d des Blutzeugen als Voraussetzungen der Anerkennung eines Martyriums annimmt. Er arbeitet daraufhin zu zeigen, daß die Heilige diese Voraussetzungen erfüllte, obwohl sie die Martern überlebte. Sie überlebte nämlich ihren eigenen Tod: Sola tu morti propriae superstes Vivis in orbe (115f.); Plena te, martyr, tarnen ut peremptam Poena coronat (135f.). Ja, der Lohn für einen vollendeten Tod, ist sogar geringer, meint Prudentius, weil er von den furchtbaren Nachschmerzen erlöst, die Encratis als Folgen der Folter aushalten mußte: Iam minus

64 Besonders aussagekräftig für diese Auffassung des Martyriums ist die Strophe per. 10, 131/35. Vgl. auch per. 5,291f.: Pulchroque mortis exitu Omnis peracta est passio. Daher steht per. 9, 55 Christi confessor fur martyr, richtig bemerkt von Willy Evenepoel, Le martyr dans le Liber Peristephanon de Prudence: Sacris Erudiri 36 (1996) 5/35, hier 13, Anm. 44. Auch das Verbum bezeichnet das Bekenntnis des Märtyrers, vgl. per. 10, 133 confitendi nominis testem probum (i.e. martyrem), ferner per. 5, 40; 13, 92. Das heißt: von 'Bekennern' im engeren Sinne ist sonst nirgends die Rede, die ganze Lehre vom agon secundus begegnet nur hier! Allein das ist befremdlich: daß eine so grundlegende Unterscheidung nur wie nebenbei sollte eingeführt sein, während doch alle wichtigen Motive der Märtyrerfrömmigkeit bei Prudentius mehrfach belegt sind. 65 Einschließlich des Emeterius, dessen Namen nur im Titel zu per. 1 erscheint! In der Liste bei Lavarenne, litude § 1084 sind außer den Namen der unechten Strophen (Iustus, Pastor, Cassianus [Tingitanus], Gaius, Crementius) auch die Valerii aus per. 4, 80 zu streichen, die unter die Märtyrer einzureihen kein Grund besteht. Vergessen hat er Peter und Paul (per. 12), bei der Addition der Namen sich verrechnet: "en tout quarante-trois noms de martyrs" - in Wahrheit zählt er 46 auf. 66 Den Ausnahmecharakter ihres Martyriums hätte Evenepoel (wie Anm. 64) 12 stärker betonen sollen. Auf eine schöne Parallele außerhalb des Prudentius weist Petruccione (wie Anm. 48) 346 Anm. 45 hin: auf den Titel ζώντες μάρτυρες bei Greg. Naz. or. 43, 5 (PG 36, 500). Zu Person und Verehrung der hl. Engracia s. Gams (wie Anm. 54) 327/29.

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mortispretiumperactae est... eqs. (125ff.)· Wenn der Dichter berichtet, ein Teil der Leber, durch die Eisenkrallen abgerissen, habe weitab (vom Leibe der Gefolterten) gelegen - wie alle sehen konnten so dient das scheußliche Detail eben dem Beweisziel: Mors habet pallens aliquid tuorum Te quoque viva (139f.)67. Prudentius ist sich bewußt, daß das Martyrium der hl. Encratis damit ein Novum darstellt (vgl. 141: novum titulum), aber das Neue liegt für ihn nicht darin, daß die Norm - der Tod des Märtyrers - aufgegeben würde, sondern darin, daß sie durch Christi Gnade auf unerhörte Weise verwirklicht wurde (vgl. 141/44). Daß nun die Strophen über Caius und Crementius mit dem voraufgehenden Hymnus auf Encratis unvereinbar sind, erkannte oder besser: fühlte Pelosi ganz richtig, wenn er auch den Kritikpunkt verfehlte68. Es ist die hohe Auffassung des Martyriums insgesamt, wie sie sich gerade in der Behandlung des Sonderfalls der hl. Encratis äußert, welche es dem Dichter hätte unmöglich machen müssen, seinen Hymnus so einfach auf zwei weitere Bekenner auszudehnen, für die keinesfalls gelten kann, was für Encratis gilt, da sie doch nur "leicht" (187: leviter) vom Martyrium kosteten. Damit stehen wir vor dem Problem der nächsten Strophe.

Strophe 47 Prudentius lebte zu einer Zeit, da man sich daran gewöhnte, den Bekenner, ja sogar den Aszeten, dem Märtyrer gleichzustellen. Aber wirklich: gleichzustellen. Gleichheit des Verdienste und des Lohns bildete die Voraussetzung dieser neuen Wertung. Ein gutes Beispiel bietet Paulinus v. Nola mit

67 Gian Biagio Conte, der sich in der beneidenswerten Lage befindet, in der Sammlung Peristephanon nicht vierzehn, sondern "vierundzwanzig Hymnen auf Heilige" zu lesen, stimmt in den verächtlichen Ton ein, der jetzt Mode zu werden scheint, wenn von solchen Zügen prudentianischer Poesie die Rede ist. Man bedauert besonders den Ort, an dem diese fehlerhafte und flüchtige Vorstellung des Dichters geboten wird: Einleitung in die lateinische Philologie, hrsg. von Fritz Graf, Leipzig/Stuttgart 1997, 283f. Zum Sinn der grausamen Details in den Märtyrerliedern s. Henke 88/132. 68 Pelosi legt, wie schon oben S. 411 bemerkt, den Finger auf die Verse 114f. und sieht einen Widerspruch zwischen der Feststellung, außer Encratis habe kein anderer der Märtyrer "hierzulande" (terris ... nostris wie V. 90 his terris, also in Saragossa) überlebt, und dem späteren Nachtrag zu Gaius und Crementius: "Prudenzio dimenticö di cambiare ciö che diceva di Encratide nella strafe 113-116". Doch ein solcher punktueller Widerspruch besteht genaugenommen nicht, weil ja Caius und Crementius in den interpolierten Strophen gar nicht als Märtyrer vorgestellt werden, die frühere Aussage des Dichters: mar ty rum nulli... contigit (113f.) folglich davon unberührt bleibt. Die Sache hängt überhaupt nicht an einer Einzelheit.

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seinem Felix. Er wird nicht müde, den Bekenner als sine sanguine martyr zu rühmen (so wörtlich carm. 12, 9; 14, 4). Seine Überzeugung ist es, daß die erwiesene Bereitschaft zum Martyrium der durch den Tod vollendeten Passion gleichzuachten sei: (deus) ferre paratos Aequiperat passis, lautet die Maxime (carm. 14, 7f.), die in immer neuen Variationen vorgetragen wird69. Nur weil der Bekenner für Paulinus dem Märtyrer gleich ist, kann er ihn auch in Purpur hüllen und mit rotem Lorbeer bekränzen70: die Bildlichkeit steht in voller Übereinstimmung mit der Grundanschauung, der sie Ausdruck verleiht. Ganz anders bei dem Pseudo-Prudentius. Er insinuiert sowohl Gleichheit als auch Verschiedenheit. Einerseits läßt er den Engel die Liste der Märtyrer kurzerhand um zwei Bekenner verlängern und rechnet die beiden ohne weiteres zur Schar, die vor dem "ewigen Altar" steht (189), wo sich doch nach der Apokalypse die Seelen derer befinden, die um des Namens Gottes willen g e t ö t e t wurden (vgl. unten zur Strophe 48), ja schließt sie auch unter dem Titel der proceres p u r p u r e i (vgl. 191 f.) mit den Märtyrern zusammen. Andrerseits bewertet er ihre Leistung nur als secundus agon (vgl. 183f.), versichert sogar, daß sie den Geschmack des Martyriums "leicht" kosteten (187f.), was, setzt man die Mitteilung in das Verhältnis zum vollen und wahren Märtyrertum, bedeuten muß: "nur leicht"71. Ihm sind also zwei verschiedene Bewertungen des Bekennerstandes durcheinandergeraten: die Unterordnung des Confessors unter den Märtyrer vermischt er mit der Gleichstellung des Märtyrers und des Bekenners. Der Fälscher verrät sich hier, wie oft, nicht so sehr durch technisches Versagen in der Behandlung der Sprache oder des Verses wie in der seltsamen Unschärfe des Gedankens. Sollten die Bekenner als unblutige Zeugen und Heilige 'zweiten Rangs' von den Märty-

69 Ansätze zu dieser Wertung schon bei Cypr. mortal. 17 (CCL 3A, 26): animus ad bonum deditus deo iudice coronatur.Vgl. etwa noch Paul. Nol. carm. 18, 145/53; 21, 145/64; daher kann auch das Felixgrab zu Nola hinsichtlich seiner segensreichen Wirkungen den Märtyrergräbern in aller Welt gleichgeachtet werden: carm. 19, 164ff. Ein Muster für die Gleichordnung des Aszeten und des Märtyrers bietet Sulp. Sev. epist. 2, 8/13 (SC 133, 328/30), vgl. bes. 2 , 1 2 : sed quamquam ista non tulerit (sc. Martinas), inplevit tarnen sine cruore martyrium. Ausführlich dazu Jacques Fontaine im Kommentar (SC 135, 1210/41); vgl. E.E. Malone, The Monk and the Martyr, Washington 1950. 70 Paul. Nol. carm. 18, 147. 150; 21, 161. 71 Es bildet sich etwa die Vorstellung, die in der Redewendung primis labris gustare (Otto, Sprichwörter Nr. 892) zum Ausdruck kommt, vgl. Fronto 62 Naber: Levit er et primoribus, ut dicitur, labiis delibasse. Zugrundeliegt dem Bilde hier vielleicht Mt. 20,22: potestis bibere calicem, quem ego bibiturus sum? Vgl. die Worte der Mutter bei Prud. per. 10, 736f.: Hic, hic bibendus, nate, nunc tibi est calix, Mille in Bethleem quem biberunt parvuli... eqs.

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rem unterschieden werden, durften sie nicht mit ihnen in der Weise zusammengeworfen werden, wie das in Strophe 48 geschieht; sollten sie für gleichrangig gelten, durften sie nicht von ihnen so stark abgesetzt werden, wie das die Strophe 47 vorführt. Ganz anders verfährt Paulinus, und auch der echte Prudentius im Falle der Encratis. Paulinus begründet die Gleichstellung durch die innere Bereitschaft zum Martyrium, Prudentius durch das ungeheure Maß des Leidens: hier wie dort wird aufgrund einer derart erklärten confessio ausdrücklich der Titel martyr an den Heiligen vergeben72. Klarheit in solcher Sache war beiden Autoren überaus wichtig, und eben solche Klarheit ist es, welche das Interpolament vermissen läßt. Das gilt auch dann, wenn man die Strophe 47 für sich allein betrachtet. Die Wendungen: Ambo ... steterunt Acriter und Ambo gustarunt leviter stehen parallel und antithetisch, aber was ist der Sinn? Daß mutiges Bekenntnis so viel ist wie ein bißchen Martyrium? Oder daß die beiden auch etwas gefoltert wurden? Lazzati fühlte den Anstoß, den gerade leviter enthält, richtig heraus, wenn er auch auf die Begründung keine Mühe verwandte: "C'e poi un avverbio che mi pare tradisca l'interpolatore; e quel leviter del V. 187"73. Den Adoneus hat der Interpolator in dieser und in der folgenden Strophe durch ein einziges Wort gefüllt, wie das auch der Dichter mehrmals tut (76. 80. 112. 152. 156. 192, dazu cath. 8, 80), und dafür den Plural martyriorum gebildet, der, hier etwa gleichbedeutend mit dem Singular, auch sonst belegt ist, bei Prudentius aber nicht vorkommt.

Strophe 48 Die kirchliche Lehre, daß die Seele nach dem Tode bis zur Auferstehung getrennt vom Leibe existiere, gilt moderner Theologie als Theorem antiker Philosophie, das in der Hl. Schrift keinen Anhalt finde, und da Prudentius solcher Fortschrittlichkeit des Denkens ganz und gar nicht entspricht, hat er

72 Zu martyr und confessor s. Hippolyte Delehaye, Sanctus. Essai sur le culte des saints dans l'antiquit6, Bruxelles 1927 (1979) = Subsidia Hagiographica 17, 74/121; Antoon A.R. Bastiaensen, Les ddsignations du martyr dans le Sacramentaire de V6rone: Fructus Centesimus. Melanges offerts a Görard J.M. Bartelink publi6s par Antoon A.R. Bastiaensen, Antonius Hilhorst, C.H. Kneepkens, Steenbrugge/Dordrecht 1989 = Instrumenta Patristica 19,17/36, bes. 17/21. 73 Lazzati 233. Er meint, durch leviter werde der Eindruck erweckt, als habe Prudentius, anders als im Falle der Encratis, u la qualitä di martiri" nicht erkannt oder nicht erinnert. Aber wie bereits gegen Pelosi zu bemerken war (oben Anm. 68): als Märtyrer werden die beiden hier ja gar nicht angesehen.

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sich allerlei tadelnde Bemerkungen gefallen lassen müssen74. Aber für ihn und seine Kirche steht die Lehre nun einmal fest, und auf ihr ruht die gesamte Märtyrerverehrung der Alten Kirche. Prudentius drückt sich daher auch stets sehr genau aus, wenn er das Schicksal von Leib und Seele nach dem Tode bespricht. Es genügt, den Grabhymnus zu lesen, etwa die Verse cath. 10,33ff.: Nam quod requiescere corpus Vacuum sine mente videmus ... eqs. Faßt man nun aber unter diesen Gesichtspunkt die Strophe 48 ins Auge, bemerkt man, daß die Scheidung von Leib und Seele hier nicht festgehalten, ja auf plumpe Art verwischt wird. Der Ausdruck: sub altari sita sempiterno, sc. turba kann kaum anders verstanden werden als aus dem Zusammenhang mit der Apokalypse: vidi subtus altare an i m a s interfectorum propter verbum Dei ... eqs. (Apc. 6, 9). Nur die Seelen können also gemeint sein75, nur sie können ja auch Fürsprache für die Sünder einlegen (vgl. 190)76. Was aber die Stadt Saragossa bewahrt: servat (191), das sind nicht die Seelen, sondern die Gebeine: Bis novem noster populus sub uno Marty rum servat c i η e r e s sepulcro ... eqs. (lf.). Mit anderen Worten: wir treffen hier auf dieselbe Vermengung der Tatsachen, die schon den Sinn des Ausdrucks ad aram ... ipsam (39f.) in der unechten Strophe 10 verschleierte (s. oben S. 393f.). In dem einen Wort turba (191) fallen dem Interpolator die Dinge zusammen, die Prudentius immer deutlich scheidet. Dem Hauptsatze nach sind das die Seelen: die "Schar" bittet unten am Altar in der Ewigkeit (sub altari sita wie per. 3,213: dei sita sub pedibus, sc. Eulalia). Der Nebensatz aber: turba, quam servat... eqs. zwingt uns, an die Leiber zu denken. Diese nebulose Verbindung, an der eigentlich die modernistischen Kritiker unseres Dichters Gefallen finden sollten, hat den redlichen P. Augustin Rosier zu dem verzweifelten Versuch verleitet, den "ewigen Altar" als den irdischen in der Basilika be-

74 Nämlich von Klaus Thraede, "Auferstehung der Toten" im Hymnus ante cibum des Prudentius: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrifit für Alfred Stuiber = Jahrbuch fiir Antike und Christentum, Erg.-Bd. 9 (1982) 68/78, bes. 75f. 78. Den Glauben der Christenheit bezeugen auch die Inschriften des Typs ILCV 3431: corpus humo animam Christo Petroni dedisti. 75 Das ist den Vätern selbstverständlich, vgl. Tert. orat. 5, 3 (CCL 1, 260): clamant ad Dominum invidia [codd.] animae martyrum sub altari: 'quonam usque non ulcisceris, Domine, sanguinem nostrum de incolis terrae? (Apc. 6, 9f.); scorp. 12, 9 (CCL 2, 1093): sed et interim sub altari martyrum animaeplacidum quiescunt... eqs.; Cypr. laps. 18 (CCL 3, 231): sub ara Dei animae occisorum martyrum clamant... eqs. 76 Im Versschluß veniam precatur klingt Verg. Aen. 3, 144 an: hortatur pater ire mari veniamqueprecari. Vergilisches findet sich eben im echten wie im unechten Textgut; vgl. oben S. 408 mit Anm. 43 (zu V. 63) und unten S. 429f. zur folgenden Strophe (V. 193).

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findlichen, auszugeben: "'Ewig' kann derselbe ... nur heißen wegen des darauf gefeierten (himmlischen) Opfers (Hebr. 7, lf.; 8, lf.), dessen Gegenstand der ewige eucharistische Gott ist. Zu beachten ist, daß hier dieselbe Bitte den bestatteten Gebeinen [!] der Martyrerschaar ebenso zugeschrieben wird, wie in Perist. III 213 der hl. Eulalia, die 'unter den Füßen Gottes liegt'"77. So wird nun einmal ausdrücklich die absurde Konsequenz gezogen, und das beweist, wozu die gefälschte Strophe verleiten kann, ja vielleicht gar verleiten muß. Jetzt bitten die Gebeine!78 Auf die Schlußstrophe des Eulalialieds darf man sich dafür allerdings keinesfalls berufen (s. oben S. 393). Aber selbst wenn man sich mit solcher Verschiebung der Tatsachen abfinden wollte: der "ewige Altar" hält uns fest in der eschatologischen Vision der Apokalypse, und Röslers Einfall vermag uns nicht davon zu lösen. Gewiß feiert auch Prudentius den tiefen Sinn der engen Nachbarschaft von Grab und Opfertisch (per. 5, 513/20; 11, 169/74). Aber es fällt ihm nicht ein, den Altar deswegen "ewig" zu nennen. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht seine Beschreibung der Hippolytusgruft (per. 11, 153/73), wo es von der sacramenti donatrix mensa (171) heißt: servat ad a e t e r η i spem ν i η d i c i s ossa sepulcro (173). Prudentius vergibt eben das Praedikat der Ewigkeit nicht leichtfertig. Und Paulinus auch nicht, wohl aber gehen die Redaktoren mit dem Begriff der Ewigkeit großzügiger um, bei Paulinus ebenso wie bei Prudentius. Eines der Epigramme, das Paulinus auf Clarus, den Gefährten des hl. Martin, machte, beginnt mit folgenden Versen79: 1

Clare fide, praeclare actu, clarissime fructu, qui meritis titulum nominis aequiperas, casta tuum digne velant altaria corpus, ut templum Christi contegat ara dei.

77 Rosier 445. Die Präposition in dem Ausdruck sub pedibus (per. 3, 213) faßt Rosier übrigens falsch auf. Nicht "unter den Füßen" Gottes befindet sich Eulalia, sondern Ihm "zu Füßen" (unten an den Füßen): sub pedibus wie sub monte, sub moenibus - und auch sub altari (189). Vgl. Kühner-Stegmann II 1, S. 570. 78 Ähnliches Verständnis deutet die folgende Paraphrase an: "(l'altare del tempio) che conserva le venerate ossa dei martiri (haec ... turba), che implorano 'pietä per i nostri peccati' (lapsibus nostris veniam precatur)". Auch hier bildet sich die Vorstellung, als könnten die Gebeine bitten, und die Junktur sub altari... sempitemo bleibt ganz unerklärt: Benedetto Riposati, La struttura degli Inni alle tre vergini martiri del "Peristephanon" di Prudenzio: Paradoxos Politeia. Studi patristici in onore di Giuseppe Lazzati a cura di Raniero Cantalamessa e Luigi Franco Pizzolato, Milano 1979, 25/41, hier 34. 79 Paul. Nol. epist. 32, 6 (CSEL 29, 281, Z. 16ff.). Ich gebe v. Harteis Text; erwähnenswert ist die Variante meritus statt meritis in V. 6.

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sed quia tu non hac, qua corpus, sede teneris, qui meritis superis spiritus involitas, sive patrum sinibus recubas dominive sub ara conderis aut sacro pasceris in nemore, qualibet in regione poli situs aut paradisi, Clare, sub a e t e r n a p a c e beatus agis.

In restloser Klarheit wird hier der irdische Altar (3f.), der den Leib, den Tempel Christi (vgl. 1 Cor. 6, 19), deckt, vom himmlischen Altar (7), der eine der möglichen Ruhestätten der Seele ist, unterschieden, und auch das Wort "ewig" steht am rechten Platze. Die erste der beiden kürzeren Versionen, die der Adressat des Briefs zur Auswahl erhält, lautet im überlieferten Zustand folgendermaßen80: 1

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nominis ut titulo, sic mentis lumine Clarus presbyter hoc tegitur; sed membra caduca sepulchro, libera corporeo mens carcere gaudet in astris pura probatorum sedem sortita piorum. saneta sub aeternis altaribus ossa quiescunt, ut dum casta pio referuntur munera Christi, divinis sacris animae iungantur odores.

Die angestückelten drei Verse bieten etwa die Anschauung, die Rosier in unserer Strophe zu entdecken glaubte, nur daß sich jetzt mit dem eucharistischen Opfer über den Gebeinen (!) der Wohlgeruch der Seele (!) verbinden soll. Eine krause Konstruktion. Von archäologischer Seite sind unlängst gerade diese drei Verse einer deutschen Übersetzung gewürdigt worden: "Die heiligen Gebeine ruhen unter den ewigen Altären, so daß während dem Frommen die reinen Opfergaben Christi dargebracht werden, den göttlichen Opfern die Düfte der Seele vereint werden"81. Wie sollte das möglich sein, fragt man sich. Aber wir brauchen darauf keine Antwort zu erteilen, weil solche 80 Ebd. (Z. Iff.). In V. 6 konjizierte Sacchini (Ausgabe Antwerpen 1622, vgl. CSEL 29, ρ. XXIIII) pie statt pio, was Giovanni Santaniello, Paolino di Nola, Le lettere, vol. 2, Napoli/ Roma 1992, 236 in den Text nimmt. Um mit aeternis (V. 5) fertig zu werden, schlägt der Übersetzer einen Haken: "Le sante ossa riposano in pace p e r s e m p r e sotto l'altare ..." usw. (Sperrung von mir). Vorexerziert hatte das schon Giuseppe Guttilla, I tituli in onore del presbyter Clarus e la datazione del carme 31 di Paolino di Nola: Bolletino di Studi Latini 19 (1989) 58/69, hier 61 (oben). 81 Hugo Brandenburg, Altar und Grab. Zu einem Problem des Märtyrerkultes im 4. und 5. Jh.: Martyrium in Multidisciplinary Perspective. Memorial Louis Reekmans, ed. by Μ.

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Fragen, an interpolatorische Auskünfte gerichtet, immer wieder ins Leere stoßen. Der Pseudo-Paulinus wollte dem Gedicht einen Gedanken hinzufügen, den er in diesem Epigramm vermißte - und der auch in den beiden anderen Variationen des Epigramms für Clarus nicht vorkommt. Er hatte davon bei Paulinus selbst andernorts (carm. 27, 403ff.) gelesen: 403 405

namque et apostolici cineres sub caelite mensa depositi placitum Christo spirantis odorem pulveris inter sancta sacri libamina reddunt.

Die "Asche" der Apostel (Andreas und Thomas), d.h. das Reliquiendeposit, liegt unter dem Altar der Basilica zu Nola, und infolgedessen kann es natürlich auch nur "der Christus wohlgefällige Geruch des heiligen S t a u b s" sein, den sie beim eucharistischen Opfer entsendet: placitum Christo spirantis odorem Pulveris (404f.). Der Interpolator des Epigramms hingegen ist mit den Tatsachen nicht ins Reine gekommen und faselt unpassenderweise vom Geruch der Seele (animae ... odores). Es ist die Verschwommenheit in gleicher Sache, die hier und in den beiden unechten Strophen des Prudentiusgedichts (10 und 48) die Aussage trübt. Vielleicht ist auch das Attribut der "Ewigkeit", das der falsche Paulinus dem Altar in der Kirche zuerkennt, durch die Bezeichnung des Altars als "Himmelstisch" angeregt, die Paulinus an der zuletzt zitierten Stelle wählt (carm. 27, 403: sub caelite mensa). Die erste Zeile des Einschubs: sancta sub aeternis altaribus ossa quiescunt (5) ist jedenfalls sichtlich dem Beginn eines der beiden Epigramme für die Basilica zu Fundi nachgebildet, dessen Wortlaut der Verfasser in demselben Brief (epist. 32, 17) mitteilt: Ecce sub accensis altaribus ossa piorum. Der musivische Charakter bestätigt hier, wie so oft, den Eindruck der Fälschung. Die Kritik der falschen Prudentiusstrophe (48) hängt freilich nicht an der Angabe sub altari... sempiterno als solcher, sondern eben daran, daß die Ortsangabe in Verbindung mit dem Subjekt turba immer nur auf eine der Lamberigts and P. van Deun, Leuven 1995 = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 117,71/98, hier 80. Brandenburg wundert sich (89), "daß keiner der Belege unmittelbar auf die Stelle in der Apokalypse des Johannes Bezug nimmt" (gemeint ist Apc. 6, 9). Der Bezug liegt aber bei Paulinus in dem oben S. 425f. zitierten längeren Epigramm auf Clarus vor (epist. 32, 6: CSEL 29, 281, Z. 22), wo allerdings Brandenburg (81) den Ausdruck dominive sub ara falschlich auf den Altar in der Basilica bezieht. Den Altar der Apokalypse hat Paulinus auch carm. 31, 550 im Auge: (illa regio) ignea qua sanctos protegit ara dei; desgleichen carm. 27, 208. In den zitierten Gedichten auf Clarus ist übrigens altaria, altaribus nicht echter Plural; so richtig Goldschmidt 96 zu epist. 32, 10 altaria.

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beiden Situationen zutrifft, die der Verfasser im Auge hat, nicht auf beide zugleich, wie das nötig wäre: sollte der Altar in der Kirche gemeint sein, kann die "Schar" (turba), die er deckt, nicht Fürsprache einlegen; sollte der Altar zu Füßen Gottes gemeint sein, wird die "Schar" (turba), die dort Fürsprache einlegt, nicht von der Stadt Saragossa behütet. Das Wort turba hat Prudentius selbst in V. 58: martyrum turbas. Die Periphrase für Saragossa: procerum creatrix purpureorum scheint angeregt durch V. 22f.: genetrix piorum Tarraco, wobei der Interpolator mit creatrix höher greift als der Dichter mit genetrix oder - an anderer Stelle - mit parens (vgl. per. 2, 1: Antiqua fanorum parens, gesagt von Rom). Man spürt den Unterschied im Vergleich zu per. 5, 473f.: Οpraepotens virtus dei, Virtus creatrix omnium ... eqs. Proceres gebraucht Prudentius für die Märtyrer nicht82, aber es soll damit vermutlich sein Bild des himmlischen Senats fortgeführt werden: Perge conscriptum tibimet senatum Ρ angere psalmis (147f. vgl. 75f.). Von ferne glaubt man das Flair damasianischer Inschriften zu verspüren, wie bei solcher Sache nicht verwunderlich. Das Epigramm in der Papstgruft von S. Callisto hebt an mit den Zeilen83: 1

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hie congesta iacet, quaeris si, t u r b a piorum: corpora sanctorum retinent veneranda sepulcra, sublimes animas rapuit sibi regia caeli. hie comites Xysti, portant qui ex hoste tropaea, hic numerus p r o c e r u m , servat qui altaria Christi, hic ... eqs.

Beachtung verdient jedoch, wie der Papst den in turba liegenden Gesamtbegriff durch zwei antithetische Hexameter entfaltet (2f.): bezüglich des verschiedenen Zustands der vom Leibe getrennten Seelen wird zunächst Klarheit geschaffen, bevor dann mit V. 4 die Aufzählung der Bestatteten folgt. Auch von hier aus erkennt man wieder, wo der Hauptfehler in der gefälschten Strophe 48 liegt. Über das Motiv des Redaktors braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Er fand, Encratis und Vinzenz seien zu Unrecht dort übergangen worden, wo vom Verlesen der Namen aus dem Himmelsbuch die Rede ist. Diesem 82 Wohl aber Paulinus, obschon er so vor allem die Apostel, namentlich die Apostelfürsten Petrus und Paulus bezeichnet (carm. 14, 65; 19, 51; 21, 29); nur einmal meint er damit die Märtyrer schlechthin: carm. 19, 10; s. auch die folgende Anm. 83 Damas. carm. 16. Der numerus procerum (5) geht hier wohl auf die dort beigesetzten Päpste; vgl. Antonio Ferrua, Epigrammata Damasiana, Roma 1942, 122 ad loc.

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Mangel wollte er abhelfen, dabei noch zwei bisher ungenannte Heilige mit dem Lob der vom Dichter gefeierten Märtyrer verbinden und so die himmlische Buchführung weiter zugunsten Saragossas verbessern. Daher setzte er die drei Strophen 45.46.47 an der Stelle in den Text, wo es am leichtesten schien, d.h. nach dem Schluß- und Höhepunkt des Katalogs; die vierte Strophe (48) brauchte er, um das eingeflickte Stück nach unten mit dem echten Text zu vernähen. Dem allgemeinen Motiv nach ist also diese vierstrophige Eindichtung mit den Texterweiterungen zu Beginn des Gedichts durchaus vergleichbar. Sie alle verraten eine Hand, die auf die Gedankenlinien des Dichters nur ungenau achtet und die verwaschenen Konturen der eigenen Aussagen mit rhetorischen Farben deckt. Immerhin verdanken wir der redaktionellen Arbeit die Kenntnis der Namen zweier tapferer Bekenner, die sonst für uns verloren wären84. Denn diese Mitteilung anzuzweifeln, besteht kein Grund. Aber indem der Interpolator die Zahl der Achtzehn durch seine trokkene Addition erhöhte, hemmte er den Schwung des Lieds, schadete er überhaupt der Wirkung des Gedichtschlusses auf vielfache Art.

4. Die echten Schluß Strophen Ist der ganze Zusatz ausgeräumt, gewinnt der Hymnus seinen flotten Fluß zurück, und die Begeisterung, die in Strophe 44 kulminierte, durchströmt das Lied ungebrochen bis zum Ende. Das asyndetisch an die Spitze der nächsten Strophe (49) gerückte Pronomen: nos (193) leitet ruckartig den Wechsel der Personen, Zeiten und Situationen ein, der doch durch den Adoneus der vorhergehenden Strophe bereits angedeutet war (176). Der ganzen Anlage nach wird hier Horazens Technik genutzt, der das lyrische Ich mit der Situation des Hymnus verbindet, also als Dichter und Meister unter den Chor der Sänger sich mischt und, indem er zum Lied auffordert, selbst es schafft 85 . Aber die alte literarische Form erhält durch die neue Sache, um die es geht, und durch die andere Gemeinschaft, die der Dichter anspricht, ihrerseits einen neuen Ernst und eine andere Realität. Die Aufforderung: Nos pio fletu,

84 Über sie Gams (wie Anm. 54) 1, 327; Gian Michele Fusconi, Art. Caio e Cremenzio: Bibliotheca Sanctorum 3, Roma 1963, 654f., dessen Bemerkungen freilich die ganze Unklarheit des Interpolaments widerspiegeln. 85 Hierüber Anne-Marie Palmer, Prudentius on the Martyrs, Oxford 1989, 77/83, die leider nur "influence" kennt (80), nicht den absichtsvollen usus iustus der Christen.

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date, perluamus Marmorum sulcos ... eqs. (193f.) erinnert an Vergil Aen. 4,683f.: date volnera lymphis Abluam... eqs. Peerlkamp, gefolgt von Forbiger und Pease, bemerkte den Anklang an das alte Epos86, der in den Spezialarbeiten nicht verzeichnet wird87. Anna will Didos Todeswunde waschen, der christliche Dichter das Märtyrergrab mit seinen Reuetränen netzen: wie verschieden ist die Situation, wie anders aber auch der Schmerz, wie anders die pietas\ Marmorum sulcos sagt Prudentius, nicht einfach 'Grab'. Wenn die Tränen über die Furchen des Meißels auf der Marmorplatte fließen sollen, so liegt darin ein feiner Rückverweis auf die aurea nomina der Helden88 - und wohl auch eine unauffällige Angabe der Quelle, auf die der Dichter sich beruft; denn mehr als die Grabinschrift sagte, wird er kaum gewußt haben, d.h. wohl nur Zahl und Namen der Achtzehn89. Voll, dichterisch und persönlich klingt, was der Autor über den Zweck der Grabesverehrung vorbringt: Wohlan, wir wollen mit frommen Tränen die Furchen des Marmors waschen, "von dem die Hoffnung bedeckt wird, daß ich die Bande meiner Fesseln löse". Das ist doch etwas ganz anderes als die vereinfachende Feststellung in V. 190f., die vorwegnimmt, was hier folgt. Spes steht konkret, gemeint ist das Gut, das die Hoffnung begründet90. Die vincla sind die Fesseln der Sünde, der Genitivus inhaerentiae retinaculorum vincla dient der Ausdrucksverstärkung, und auch das lange Wort ist deshalb absichtlich gewählt. Man denkt an die retinacula der Genußsucht, des Fallenstellers und des Vogelfängers, d.h. des Teufels,

86 P. Hofman Peerlkamp, Aeneisausgabe, Leiden 1843, Bd. 1,291f.; Albert Forbiger, Vergilausgabe, Leipzig 1873 , Bd. 2, 529; Arthur Stanley Pease, Spezialausgabe des vierten Buchs, Cambridge/Mass. 1935 (Darmstadt 1967) 523: jeweils zu Aen. 4, 683. 87 Nachzutragen bei Mahoney 162 und Schwen, in dessen Systematik die Stelle unter den "Phrasen" (70/121) hätte erscheinen sollen. 88 Vgl. 165f. Mit den Furchen auf dem Leib der gequälten Encratis (vgl. 119f.) haben die Furchen auf dem Marmor (194) nichts zu tun, geschweige denn mit der Drachensaat des Kadmos! Man muß Jill Ross hören, um die eigene Phantasie zu trainieren: "The fertile tombstone-texts jutting out from the earth like teeth recall the sowing of the dragon's teeth. However, instead of Spartan warriors emerging from the earth, the redeemed bodies of the martyrs will arise and lead all believers to salvation" (J. Ross, Dynamic Writing and Martyrs' Bodies in Prudentius' Peristephanon: Journal of Early Christian Studies 3, 1995, 325/55, hier 347). 89 Aus der Aufforderung 153ff.: Publium pangat chorus et revolvat, Quale Frontonis fuerit tropaeum. Quid bonus Felix tulerit... eqs. darf nicht gefolgert werden, daß es Akten oder Passionsberichte gab, die als schriftliche Zeugnisse zur Verfügung standen. Der Dichter, der auch sonst volkstümliche Tradition nicht verachtet, will das mündliche Gedenken fordern. 90 Andernorts das erhoffte Gut selbst, wie etwa Prud. cath. 5, 96: Nampraefixa cruci spes hominum viget; apoth. 371 f.: sed Christofeta (sc. lex) meamque Spemparitura utero; und so öfters im NT, z.B. Col. 1, 5 δια τήν έλπίδα την άποκειμένην ΰμίν έν τοΐς ούρανοΐς.

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von denen andernorts bei Prudentius die Rede ist91. Die Fesseln des Leibes, die der Dichter gleichfalls zu lösen hofft (vgl. praef. 44f.: Vinclis ο utinam corporis emicem Liber... eqs.), mögen ebenfalls gemeint sein, da sie es sind, die den Dichter in der sündigen Welt halten (per. 2, 583f.). Schön schließt die Strophe mit dem Possessivum: meorum (in leichtem Gegensatz zu nos am Strophenanfang), denn das Sündenbekenntnis kann immer nur ein persönliches sein. Mit dem Mi-Satz gleitet der Dichter daher sachte vom Plural nos, date, perluamus in den Singular absolvam, meorum. Die ganze Strophe 49 ist eingetaucht in den Geist christlicher Demut. Zum Schluß spricht Prudentius mit großer Zuversicht von der Erfüllung seiner Hoffnung (50). Doch verbreitet er keinen modernen Heilsoptimismus, weil die beiden parataktisch gestellten Sätze (Sterne te..., deinde mox ... sequeris) zueinander im inneren Verhältnis von Bedingung und Folge stehen: w e n n sich ganz Saragossa mit dem Dichter vor den Gräbern niederwirft, d a n n wird es zur Gänze den Märtyrern bei der Auferstehung folgen92. Die Verbindung der synonymen Zeitadverbien deinde mox (wie tum deinde per. 5, 205. 542; mox deinde per. 10, 739) dient der nachdrücklichen Einführung der erhofften Konsequenz, die sich aus der erfüllten Bedingung des Imperativischen Vordersatzes ergibt93. Durch das Attribut generosa wird der Schlußappell an die Stadt mit einem Lob verbunden und die Tonlage des Hymnus auch in der Ermahnung gewahrt. Gemeint ist die generositas martyrii. Es gibt einen Adel des Christen (vgl. per. 10, 125: generosa Christi secta nobilitat viros), der durch das Martyrium gesteigert wird (ebd. 131/35)94. Dieser durch das Martyrium erhöhte Adel wird hier auf die ganze Bürgerschaft der Stadt ausgedehnt; der Grund dafür war schon zuvor gelegt (73ff.):

91 Prud. ham. 136/48 (retinacula: 140); 804/23 (retinacula: 810); vgl. c. Symm. 2, 147f. 92 Über Imperativischen Vordersatz statt si-Satz s. Leumann-Hofmann-Szantyr 2, 656f.; vgl. Ov. am. 3, 9, 37f.: Vivepius: moriere; pius cole sacra, colentem Mors gravis a templis in cava busta trahet; fast. 1, 17: Da mihi te placidum, dederis in carmina vires. 93 Zur pleonastischen Verbindung zweier Zeitadverbien s. Leumann-Hofmann-Szantyr 2,799f., zu mox deinde ThLL 5, 1 s.v. deinde (Alfred Gudeman) 409, 17ff.; die Funktion der Adverbien ist aber hier nicht nur eine rein zeitliche, sondern auch eine logische, die Erfüllung des Verlangens betonende, vgl. die Grammatik 2, 481 (unter e) zum Gebrauch von et (iam, tum) nach Imperativen. 94 Dazu ausführlich Henke 152/70; im betonten Moment der Ganzheit: Sterne te totam ... tota sequeris kommt abschließend nocheinmal der Sinn der Stadtpersonifikationen zum Ausdruck: sie stehen jeweils für die gesamte Einwohnerschaft, an einen genius oder eine τύχη ist nicht mehr gedacht; vgl. Gnilka, Gabenzug 31.

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Martyrum credas patriam coronis debitam sacris, chorus unde surgens tendit in caelum niveus togatae nobilitatis.

Das Städtelob, das die antike Rhetorik pflegte, tritt damit in eine neue Dimension, in der die alte Werteskala nicht mehr gilt95. Wirkungsvoll rücken die Attribute generosa sanctis (197) zusammen. Wo sanctus bei Prudentius von Menschen gebraucht wird, bezeichnet es die Gerechten des Alten Bundes: die Patriarchen, Moses und die Propheten, sodann die Christen allgemein und im besonderen die Märtyrer sowie alles, was in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Person steht. Auf die SchlußStrophen unseres Gedichts ist das Wort so verteilt, daß es sich - nach Ausscheidung des Falsifikats - als Leitwort heraushebt: de sanctis (167), sanctos (173), sanctis ... tumulis (197f.). Daß er hier von den Gräbern in der Mehrzahl spricht, hat seinen guten Grund. Es ist das kein bloß poetischer Plural wie etwa marmorum (194), sondern ein echter. Denn die Tatsache, daß die Gebeine der Achtzehn in einem einzigen Grabe ruhen, war ihm ja wichtig genug, sie gleich in den ersten Zeilen des Gedichts zu erwähnen (lf.), und auch Eugenius übergeht sie nicht: unica ter senos continet urna viros (carm. 9, 4). Wenn er also zum Schluß sagt: sanctis ... tumulis (197f.), muß eine bestimmte Absicht obwalten. Und sie ist ja auch leicht zu erraten. Die Allgemeinheit der Forderung, die sich mit Emphase an die ganze Stadt richtet (Sterne te totam ... tota sequeris), hätte in Verbindung mit einem Singular wie sepulcro einen unpassenden Kontrast erzeugt, so als solle die Verehrung der ganzen Stadt nur diesem einen Grabe gelten und als sei die Erfüllung des Verlangens aller Frommen allein von diesem Grabe abhängig. So hat Prudentius die Perspektive am Schluß sachte erweitert. Ohne den Preis der Achtzehn zu mindern, ohne etwas von dem Licht zu nehmen, das er auf ihr Lob versammelte, wird die Ermahnung leise ins Allgemeine erhoben und vor allem still an das Grab der Encratis erinnert: Hic et, Encrati, recubant tuarum Ossa virtutum ... eqs. (109f.). Aber vielleicht ist es gerade dieser Plural der Schlußstrophe gewesen (tumulis), der die ganze Zudichtung herausgefordert oder doch begünstigt hat, weil die Mehrzahl der Gräber eine ausdrückliche Erklärung zu verlangen schien. Wenn ferner die Stadt die

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Gnilka, Gabenzug 50.

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Märtyrergebeine am Jüngsten Tage, wie es eingangs hieß, dem wiederkehrenden Christus entgegenträgt (53/60), hier aber den Märtyrern, deren Seelen mit den Leibern vereint sind - das meint die einfache Beiordnung animas et artus (199) - , bei der Auferstehung "folgt" (vgl. 200: tota sequeris), so darf aus den verschiedenen Bildern kein Gegensatz in der Sache gemacht werden. Durch die in sequi liegende Bewegung wird zudem erhellt, was der Dichter zuvor mit dem Lösen der retinacula ausdrücken wollte. Die Fesseln könnten ihn zurückhalten, so daß er dem von den Märtyrern angeführten Zuge der Auferstandenen nicht sich anzuschließen vermag96. Im Hintergrund steht wieder jene volkstümliche Vorstellung, die damals die Gläubigen bewog, ihr Grab in der Nähe eines Märtyrergrabs zu suchen. Aber die Aussicht auf solchen Schutz der Märtyrer wird hier gerade nicht von der Lage des eigenen Grabes abhängig gemacht, sondern von der demütigen und reuevollen Verehrung der Gräber der Stadtpatrone, die Prudentius mit dem Imperativ: Sterne te\ fordert. Solcher Auffassung hätte wohl auch Augustinus zustimmen können, der die Sache in der an Paulinus Nolanus gerichteten Schrift De cura pro mortuis gerenda recht kritisch bespricht.

96

Vgl. Paulinus an der oben S. 394 zitierten Stelle.

XVIII. ZU PAULINUS NOLANUS Da die redaktionelle Bearbeitung des Paulinustexts im vorigen Kapitel nur nebenbei zur Sprache kam (S. 425/27), lasse ich noch einige diesbezügliche Beobachtungen folgen, füge jedoch gleich hinzu, daß es sich auch hier nur um einzelne Beispiele handelt, die mir aus diesem oder jenem Grunde besonders merkwürdig erschienen - in einem Fall deswegen, weil die betreffende, durch Zusatz erweiterte Versreihe bei Paulinus in einer gewissen sachlichen Beziehung zu einer der unechten Strophen des Städtekatalogs in per. 4 stehen könnte (vgl. unten S. 454f.). Aufs Ganze gesehen steckt die echtheitskritische Arbeit am Text dieses zweiten großen Dichters der christlichen Latinität noch in den Anfängen, ja es wurde kaum mit ihr begonnen. Das muß man gerade im Hinblick auf die neue, erhöhte Beachtung, die diesem Dichter infolge der archäologischen Tätigkeit in Nola von verschiedener Seite zugewandt wird, lebhaft bedauern. Einen guten, das heißt hier - wie bei Prudentius - zunächst und vor allem: einen gereinigten, von Fälschungen befreiten Text des Paulinus herzustellen, bleibt eine Aufgabe, die mit der denkmalkundlichen Erforschung seiner Bauten Schritt halten sollte. Jachmann hat diese Aufgabe der Philologie schon vor Jahrzehnten gestellt, ohne freilich auch nur im geringsten Gehör zu finden. Er forderte, das Interpolationswesen durch vergleichende Studien zu verschiedenen Autoren zu durchleuchten und nannte in diesem Zusammenhang, von Ausonius ausgehend, Prudentius und Paulinus (vgl. oben S. 67. 178). Er beklagte die isolierte Behandlung gerade des Prudentius und erklärte, die Varianten im Prudentiustext, die zur falschen Annahme authentischer Doppellesungen verleitet hätten, seien "geringfügig und harmlos gegen das an diaskeuastischer Umformung dort [d.h. bei Ausonius und Paulinus] zu Beobachtende"1. Was Paulinus angeht, so lenkte Jachmann die Aufmerksamkeit besonders auf die Epitomierung des Propempticon (carm.

Durch bloßen Namen des Editors kürze ich im folgenden die Ausgabe im Wiener Corpus ab (CSEL 29 und 30: ed. Wilhelm von Härtel 1894) sowie die doppelsprachigen Ausgaben von Patrick G. Walsh, The Poems of St. Paulinus of Nola, New York 1975 = Ancient Christian Writers 40 und Andrea Ruggiero: Paolino di Nola, I carmi, 2 Bde, Napoli/Roma 1996. Auch Rudolf Carel Goldschmidt, Paulinus' Churches at Nola. Texts, translations and commentary, Amsterdam 1940 wird nur durch Verfassernamen zitiert. Weitere Abkürzungen sind im Verzeichnis S. 691/96 entschlüsselt. l Jachmann, Schriften 490.

XVIII. Zu Paulinus Nolanus

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17) im Codex vetustissimus (V = Vossianus 111, saec. IX"), wo z.B. zwei bzw. vier Strophen des sapphischen Gedichts zu jeweils einer einzigen zusammengezogen sind2. Er hätte leicht noch mehr vorbringen können.

1. Einen lehrreichen Fall bilden die drei unechten Verse carm. 14, 86/88. Sie liefern das Muster einer Konkordanzinterpolation. Die beiden Makarismoi der Stadt Nola in diesem und im vorhergehenden Gedicht (carm. 13) sollten einander angeglichen bzw. der eine (14) nach Maßgabe des anderen (13) vervollständigt werden. Im 13. Gedicht preist der Dichter die Stadt des hl. Felix selig, indem er ihr den zweiten Rang nach Rom zuerkennt (carm. 13, 26ff.): 26

30

ο felix Feiice tuo tibi praesule Nola, inclita cive sacro, caelesti firma patrono postque ipsam titulos Romam sortita secundos, quae prius imperio tantum et victricibus armis, nunc et apostolicis terrarum est prima sepulchris! sis bonus ο felixque tuis dominumque potentem exores, ... eqs.

Ein Redaktor fühlte sich bemüßigt, die Synkrisis mit Rom auch im folgenden Natalicium einzufälschen3. Dort geht es darum, daß Nola von Pilgern aus Latium, Campanien und Süditalien überfüllt ist, die zum Fest des hl. Felix zusammenströmen (carm. 14, 82ff.): 82

85

una dies cunctos vocat, una et Nola receptat, toto plena sui spatio spatiosaque cunctis, credas innumeris ut moenia dilatari hospitibus. sie, Nola, adsurgis imagine Romae, tu quoque post urbem titulos sortita secundos;

2 Vgl. v. Härtel in der Praefatio: CSEL 30, p. XVII sq. 3 Aber auch zu 13, 28 existiert eine bemerkenswerte Variantfassung. Statt: postque ipsam titulos Romam sortita (Nola) secundos überliefert T: postque ipsam titulis Romam dignata secundis. Es störte wohl das Moment des Schicksalhaften oder Zufälligen, das sortita zu enthalten schien, und so wurde unter Änderung der Konstruktion (titulis ... secundis) dignata eingefälscht: passivisch wie carm. 27, 602: vel modici dignatus amore catelli.

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90

nam prius imperio tantum et victricibus armis, nunc et apostolicis terrarum est prima sepulchris. tu quoque perpetuas duplici sub honore coronas, ante sacerdotis, post martyr is omne per aevum Felicis conplexa tui, gemino bene caelum contingis merito divini mater amici.

Der dreizeilige Zusatz 86. 87. 88 wird schon durch den urkundlichen Befund entlarvt; er fehlt in vier der sechs Handschriften, die v. Härtel für dieses Gedicht zugrundelegt, nur Β (saec. XII) und Τ (saec. XV) führen ihn mit. Die Ausgabe des Wiener Corpus zeigt denn auch das Stück in Klammern. Daß es hier tatsächlich fehl am Platze ist, lehrt ein Blick auf die vorhergehenden Verse 14, 65/70. Dort erfahren wir, daß Rom sich zu Ehren des Felixtages entvölkere, weil Tausende durch die Porta Capena die Stadt verließen und in dichtem Gedränge auf der Via Appia die hundertzwanzig Meilen bis Nola zurücklegten. Wenn Paulinus also, in feierlicher Apostrophe an die Stadt Nola sich wendend, feststellt (14, 85): sie, Nola, adsurgis imagine Romae, dann ist gemeint, daß Nola, von Pilgern überfüllt, an diesem einen Tage ein Bild biete wie sonst Rom, das die Apostelgräber beherbergt (vgl. carm. 14, 65ff.: Ipsaque caelestum sacris procerum monumentis Roma Petro Pauloque potens rarescere gaudet Huius honore diei... eqs.). Dazu paßt schlecht die allgemeine Feststellung aus carm. 13, daß Nola zweiten Rang nach Rom einnehme. Nola wird hier vielmehr für den einen Tag, an dem es alle aufnimmt (vgl. 82f.: cunctos ... cunctis), Rom gleichgestellt, dessen A b b i l d es aufgrund der Pilgerscharen ist. Das ist ein ganz anderer Gedanke! Als bewußte rezensorische Maßnahme gibt sich der Zusatz 14, 86/88 durch die Änderungen zu erkennen, die im Wortlaut gegenüber 13, 28/30 vorgenommen wurden, vor allem durch die Abänderung des Beginns: Postque ipsam titulos Romam (13, 28) - Tu quoque post urbem titulos (14, 86). Mit der Anrede ist der Anschluß an die προσφώνησις im echten Vers 14, 85 hergestellt, wozu der Versanfang Tu quoque aus 14, 89 wiederholt bzw. vorweggenommen wurde. Die Setzung von nam (14, 87) statt quae (13, 29) entspricht der Beliebtheit der Partikel bei Interpolatoren (vgl. oben S. 361, Anm. 14); sie sollte wohl die Konstruktion vereinfachen. Der Subjektswechsel (87f.): nam ... est prima (sc. Roma) zwischen den beiden Anreden: tu quoque (sc. Nola) wirkt jetzt freilich hart, und man wundert sich kaum, daß er die sinnwidrige Variante es prima (im Brüsseler Codex B) erzeugt hat. Für den Stand der

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philologischen Kritik bei Paulinus bezeichnend ist es, daß sogar diese drei Verse einen Anwalt gefunden haben, der ihre Echtheit verteidigt4.

2.

Wenn ein langes Gedicht im elegischen Distichon nicht auf e i n e n Pentameter endet, sondern auf v i e r , so sollte solche kuriose Fügung eigentlich größte Aufmerksamkeit erregen. Das ist aber nicht der Fall. Bei Paulinus erträgt man das formale Unikum bedenkenlos. In der alten Literaturgeschichte Bardenhewers etwa heißt es5: "Carmen 25 ... aus 119 Distichen und drei Pentametern bestehend, ist ein Epithalamium ..." usw. Damit finden sich auch die neueren Herausgeber und Übersetzer ohne weiteres ab. Den Anlaß des Gedichts, das nur durch die Ausgabe von Andreas Schott, Köln 1618, vollständig erhalten ist6, bildet die Hochzeit Julians, des späteren Bischofs von Aeclanum und Augustinusgegners. Sein Vater Memor, ein Bischof, übergibt das Paar zur Eheschließung dem Amtskollegen und Freunde Aemilius: das erfahren wir im vorletzten Teil des Werks (carm. 25, 209/28). Das Epithalamium endigt darauf mit einem feierlichen Gebetsanruf Christi. Der Autor wünscht (229/38), Christus möge die Bitten der sacerdotes, eben des Memor und des Aemilius, erhören, d.h. die Jungvermählten möchten entweder eine Ehe in geschlechtlicher Enthaltsamkeit führen - das wäre das Beste - oder aber Kinder zeugen, die ihrerseits im Stande der Jungfräulichkeit verharrten, so daß aus Memors Hause ein priesterliches Geschlecht hervorgehe (Paul. Nol. carm. 25, 229ff.) 7 : 229 230

Christe sacerdotes exaudi, Christe, precantes et pia vota sacris annue supplicibus. imbue, Christe, novos de sancto antistite nuptos perque manus castas corda pudica iuva,

4 Walsh 369, Anm. 15. Er verweist auf Wiederholungen bei Paulinus. Aber die Wiederaufnahme der Formulierung einer Bitte (carm. 12,10) nach Erfüllung der Bitte (carm. 13,5) von Walsh als Beispiel genannt - ist bewußtes Selbstzitat und dem behandelten Fall schlechterdings unvergleichbar. 5 Otto Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 3, Freiburg i.B. 19232, 577. 6 Die ersten 65 Verse sind außerdem durch zwei Codices des 9. bzw. 10. Jahrhunderts bezeugt, vgl. v. Härtel: CSEL 30, praef. p. XXI sq. 7 Julian selbst war zur Zeit der Eheschließung erst Lektor (carm. 25,144), durfte mithin heiraten. Zum sachlichen Hintergrund s. Stefan Heid, Zölibat in der frühen Kirche, Paderborn/ München/Wien 1997, bes. 168 zu den "Priesterdynastien", wo auch diese Stelle besprochen wird. Daß Titia, die Braut, ebenfalls Priesterkind gewesen sei, wie Heid meint, folgt aus dem Text nicht.

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235

240

ut sit in ambobus concordia virginitatis aut sint ambo sacris semina virginibus. votorum prior hie gradus est, ut nescia carnis membra gerant; quod si corpore congruerint, casta, sacerdotale genus, Ventura propago et domus Aron sit tota domus Memoris. Christorumque domus sit domus haec Memoris. esto et Paulini Therasiaeque memor, et memor aeternum Christus erit Memoris.

Zu den Kleinigkeiten der Textgestaltung sei folgendes bemerkt: iuva (232) halte ich mit v. Härtel gegen iuga (coni. C. Morelli, L'epitalamio nella tarda poesia latina: Studi italiani di Filologia Classica 18, 1910, 319/432, hier 420, Anm. 2). Christus wird angerufen, die Jungverheirateten mit dem Geist der Keuschheit zu erfüllen (231: imbue), und dazu paßt corda pudica iuv α (pudica Wirkungspraedikativum). Iuga wäre bloße Wiederholung aus V. 227: ille iugans capita amborum sub pace iugali. Anders entscheidet J.A. Bouma, Het Epithalamium van Paulinus van Nola, Assen 1968, 113f. - Das Komma, das v. Härtel nach V. 237 setzt, stört den Sinn. Der Ausdruck sacerdotale genus, von mir in Kommata geschlossen, ist, ebenso wie casta (sc. sit), Praedikatsnomen. Also: "Wenn sie sich aber leiblich vereinen (corpora, Schott; corpore Rosweyd), dann sei keusch, ein priesterliches Geschlecht, die künftige Nachkommenschaft..." usw.8. Die Konjektur ut statt et in V. 238, die v. Härtel erwägt, ist überflüssig. Was nun die drei Pentameter 239. 240 und 241 angeht, so hat der Kommentator Bouma (117) das schlechterdings Unübersehbare zwar gesehen - nämlich daß V. 239 eine Dublette zum vorhergehenden Vers abgibt - , dann aber diese Einsicht doch beiseitegeschoben, weil er unter solcher Voraussetzung mit den beiden folgenden Versen nichts anzufangen wußte. Er rechnet mit der Möglichkeit, V. 239 sei eine vom Autor selbst ("in haast?") entworfene Alternativfassung, hält es jedoch für wahrscheinlicher, daß wir es bei den drei Schlußversen mit einem metrischen Experiment des Dichters zu tun 8 Die Wortstellung erinnert an die parenthetische Apposition - das sog. schema Cornelianum (Verg. eel. 1, 57: raucae, tua cura, palumbes; ecl. 2, 3: inter densas, umbrosa cacumina, fagos; vgl. Otto Skutsch, Zu Vergils Eklogen: Rhein. Mus. N.F. 99, 1956, 191/201, hier 198f.), aber seiner Funktion nach steht der Ausdruck sacerdotale genus praedikativ zu sit.

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hätten. Aber derartige Experimente hat Paulinus sonst nirgends gemacht, weder in seinen Epigrammen noch in seinen größeren Gedichten. Die Polymetrie seiner Dichtung im allgemeinen, auf die Bouma verweist, reicht natürlich zur Erklärung des Phänomens nicht aus, und auch die Verwendung verschiedener Metra in den Carmina 10 und 11 ist etwas anderes. Überhaupt bliebe solches Experiment ohne wirkliche formgeschichtliche Parallele. Unregelmäßige Formen des elegischen Distichons kennen wir aus der epigrammatischen Dichtung, der griechischen wie der lateinischen9, aber keine literarische Großform ist von solcher Irregularität betroffen. Da kein Grund erkennbar ist, weshalb Paulinus sich gerade hier eine so seltsame Spielerei sollte erlaubt haben, bildet die Existenz der drei Pentameter bei solcher Betrachtungsweise ein wahres Rätsel. Aber das Rätsel schwindet, sobald man den Standpunkt ändert. Man muß sich nur vom Natürlichen und Augenscheinlichen führen lassen. Ein elegisches Gedicht endet mit einem Pentameter, sind noch drei weitere Pentameter angehängt, von denen einer sich sofort als Dublette des Schlußverses zu erkennen gibt, ist es das Nächstliegende zu prüfen, ob nicht auch die beiden anderen jeweils zu gleichem Zweck verfertigt wurden, ob also nicht "mehrfältige Interpolation" anzunehmen ist10, d.h. in diesem Fall: dreifacher Versuch, für den echten Vers 238 Ersatz zu schaffen. Und kaum hat man den Gedanken gefaßt, tritt auch schon der ganze Vorgang zutage: "Die Mehrfältigkeit der Interpolationen wurzelt in einem Revisionsbedürfhis, welches an der betreffenden Stelle bei verschiedenen Editoren sich besonders lebhaft und dringend geltend machte" (Mendner)11. Ausgelöst wurde es hier durch die Wendung domus Aronn. Sie ist biblisch und bezeichnet die Priester des Alten Testatments (Ps. 113 B, 10. 12; 117, 3; 134, 19). Da Aaron den Hohen Priester Christus praefiguriert, überträgt Paulinus seinen Namen illud principale in sacerdotibus nomen Aaron (epist. 29,7) - in den christli9 Vgl. Kirby Flower Smith, Some irregular forms of the elegiac distich: American Journal of Philology 22 (1901) 165/94. Beispiele finden sich aus allen Epochen. Herr Holger Gzella, dem ich für freundliche Hinweise zu danken habe, macht mich besonders auf eine griechische Inschrift (um 400 v.Chr.) aufmerksam, die aus zwei Distichen und einer Sphragis in Pentameterform besteht (CEG 819, III = Russell-Meiggs - David Lewis, A Selection of Greek Historical Inscriptions, Oxford 19882, S. 288, Nr. 95 c). 10 Der Ausdruck nach Siegfried Mendner, Der Text der Metamorphosen Ovids, Diss. Köln 1939, 5. 11 Mendner 41. 12 Vielleicht kam trotz V. 28: Aaroneis (aroneis, Schottus)pignoribus hier ein prosodisches Unsicherheitsgefiihl hinzu: vgl.Aron (Aroy, Schottus) gegenüber Aäron bei Prud. psych. 548. 884 und Aäron bei Ven. Fort. 9, 2, 25.

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chen Zusammenhang. Ebenso verfährt er mit dem biblischen Ausdruck filii Aaron (epist. 20,7; 44, 5), und an früherer Stelle unseres Gedichts wird diese biblische Prägung sogar dichterisch überhöht und auf die Brautleute gemünzt, Sohn und Schwiegertochter des Bischofs: Nunc igitur ... Foedus Aaroneis pignoribus geritur (carm. 25,27f.). Aber derlei konnte kaum Anstoß erregen. Anders der Schlußvers. Der durch die Stellung am Gedichtende hervorgehobene Wunsch, das ganze Haus Memors möge ein Haus Aarons sein, schien das christliche Priestertum dem jüdischen zu stark anzunähern. Denn das aaronitische Priestertum wurde ja durch Christus abgelöst, der Priester ist "nach der Ordnung des Melchisedech und n i c h t nach der Ordnung Aarons" (vgl. Hebr. 7,11). Seine Vollkommenheit steht geradezu in Gegensatz zur Sündhaftigkeit der aaronitischen Priester (Hebr. 7, 26/28). An dem tiefen, wesentlichen Unterschied zwischen dem christlichen und dem jüdischen bzw. alttestamentlichen Priestertum hat natürlich die Alte Kirche festgehalten13. Man lese nur, was Augustinus civ. 17, 5 über das Priestertum Aarons und sein Haus schreibt, und man wird leicht begreifen, wie groß der Reiz zur Änderung war, der von dem Schlußvers ausging. Augustinus deutet den Untergang des Hauses Heli und den Tod seiner Söhne (1 Reg. 2, 27/36): hoc ergo signum factum est mutandi sacerdotii de domo huius (i.e. Heli), quo signo significatum est mutandum sacerdotium domus Aaron, mors quippe filiorum huius (i.e. Heli) significavit mortem non hominum, sed ipsius sacerdotii defiliis Aaron". Hier also lag zweifellos der kritische Punkt des echten Gedichtschlusses. Das beweist der erste, offensichtliche Dublettenvers (239), der genau diesen Punkt zu erledigen sucht, indem er die biblische Junktur domus Aron durch die scheinbar unverfänglichere christorum domus ersetzt. Vermutlich wähnte der Verfasser, er sage dasselbe, nur eben besser. Denn der Priester heißt im Alten Testament der Gesalbte (Lev. 4, 5. 16: ό ιερεύς ό χριστός) - wie Christus selbst (vgl. Act. 4, 27). In Wahrheit geht dieser Kompromiß freilich auf Kosten der Klarheit, da der Plural christi terminologisch nicht festgelegt, ja als Bezeichnung christlicher Priester wohl gar singulär ist. Nach Augustinus tragen alle Getauften diesen Titel: omnes quippe unctos eius (sc. Christi) chrismate

13 Einen Überblick gibt George W.E. Nickelsburg, Art. Aaron: RAC Suppl. 1 (1985) 1/ 11. Zeugnisse dafür, daß das aaronitische Priestertum durch Christus seine Gültigkeit verloren hat, ließen sich leicht mehren; ich verweise noch auf Joh. Chrys. de sacerdotio 3, 4 (PG 48, 642); 3, 6 (644). 14 ' Aug. civ. 17, 5 (2, 214, 28ff. Dombart-Kalb).

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recte christospossumus dicere1S. Störend wirkt auch, daß der Plural christorum auf die dreifache Apostrophe Christe (229 bis; 231) folgt, Beginn und Ende des Gebets dadurch seltsam kontrapunktisch anmuten. Schließlich ist domus haec Memoris schwächer als tot α domus Memoris - schwächer und schlechter, weil das Pronomen nur als Füllsel dient. Schon das erste Ersatzprodukt fällt also gegenüber dem Original deutlich ab. Aber auch die beiden folgenden Verse können nicht den echten Gedichtschluß bilden, selbst wenn man vom Metrum absieht. Man darf sich nicht von der scheinbar absichtsvollen, rhetorischen Fügung: esto ... memor et memor ... erit Memoris täuschen lassen. Sie ist zufällig. Die Überlieferung hat hier dem Interpreten eine Falle gestellt. Die beiden Pentameter sind Einzelstücke und jeweils auf den Hexameter 237 hin berechnet. Schon Satzbeginn mit esto (240) wäre unklar. Die Übersetzer nehmen einen Imperativ der zweiten Person an: "preserve the memory" (Walsh); "sii anche memore" (Ruggiero). Aber der Übergang von der dritten Person (domus Memoris) zur zweiten (esto, sc. Memor) wäre hart, nicht minder der Bezug eines Imperativs der dritten Person auf domus, zumal nach dem voraufgehenden Optativ: domus sit - esto, sc. domus. Und wie soll sich mit diesem Imperativ (esto ... memor) die Feststellung des nächsten Verses gedanklich verbinden: et memor aeternum Christus erit Memoris (241)? Liest man die Verse zusammen, wird man dazu verleitet, ein Bedingungsverhältnis zu unterstellen: wenn Memor (Memors Haus?) an Paulinus und Therasia denkt, dann wird Christus auf ewig an Memor denken16. Welche Vermessenheit! Als Abschluß des Gedichts wäre solche Aussage doppelt unerträglich. Wir haben es hier eben mit einer interpolatorischen Drittfassung zu tun: 235

votorum prior hic gradus est, ut nescia camis membra gerant; quod si corpore congruerint, casta, sacerdotale genus, Ventura propago 238 et domus Aron sit tota domus Memoris. 238a=239 christorumque domus sit domus haec Memoris. 238b=240 esto et Paulini Therasiaeque memor. 238c=241 et memor aeternum Christus erit Memoris. 15 Aug. civ. 17, 4 (2, 211, 28f. Dombart-Kalb); vgl. civ. 20, 10 (2, 433, 19f.). 16 Parataxe statt si'-Satz, mit Imperativ im Vordersatz und et zur Einleitung der Apodosis (et memor ... erit)·. vgl. Leumann-Hofimann-Szantyr 2, 656f. 482. Aber das erste et (esto et) bleibt überflüssig.

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Der Ersatzvers 238a steht dem echten Vers 238 näher als die beiden anderen, die wiederum untereinander verwandt sind. Vielleicht ist V. 238b unabhängig von V. 238a entstanden; der Anstoß in dem echten Schlußvers konnte auch von einem zweiten Redaktor gefühlt werden. Vielleicht blickte er aber auch schon auf die erste Ersatzlösung und war mit Echt wie Unecht unzufrieden. Jedenfalls beschritt er einen anderen Weg und bereitete dem Problem der domus Aaron bzw. der christi kurzerhand ein Ende, indem er das Gedicht mit einer Art Sphragis schloß: Casta ... Ventura propago Esto et Paulini Therasiaeque memor. Die Anregung dazu holte er sich beim Dichter. Denn Paulinus fordert die Brautleute auf (carm. 25, 191f.): Ergo mei memores par inviolabile semper Vivite ... eqs. Das ist an passender Stelle und mit dem nötigen Wirklichkeitssinn vorgebracht. Denn das Hochzeitspaar mag sich zeitlebens an den Verfasser des Hochzeitsgedichts erinnern (vgl. mei memores ... vivite), von der Nachkommenschaft des Paares, die erst noch geboren werden muß (vgl. Ventura propago), dasselbe zu erwarten und noch mehr, insofern sie auch Therasia im Gedächtnis behalten soll, läuft auf eine Übertreibung hinaus, wie sie für das Unwesen der Interpolatoren bezeichnend ist. Darüberhinaus ist der Vers (238 b =240) fast zur Gänze dem echten Dichter gestohlen, nämlich aus dem dritten Epigramm auf Clarus epist. 32, 6 v. 27: ut sis Paulini Therasiaeque memor. Auch die dritte Alternativfassung 238c befestigt eine allgemeine Erkenntnis. Hier begegnet uns wieder die Vorliebe für vergröbernde Wortspiele, die wir schon andernorts (oben S. 77f.) antrafen. Mit dem Namen Memor hatte Paulinus selbst einige Verse vorher gespielt, aber auf dezente Weise (carm. 25, 225f.): Hinc Memor, officii non immemor, ordine recto Tradit... eqs. Der Fälscher greift nochmal zu diesem Mittel, um dem Werk einen volltönenden Abschluß zu geben. Er wollte offenbar das Elaborat des Vorgängers - die Fassung 238b - übertrumpfen. Doch die Art, wie Christus und die Ewigkeit in solches Wortspiel involviert werden, verrät wenig Geschmack. Nicht aber auf sein Konto setzen darf man die Ungeschicklichkeit, die sich ergibt, wenn auf die christorum domus (vgl. 238a) nun der Name Christus folgt (238c): diese Abfolge, die noch schwerer zu ertragen ist als die christorum domus im Verhältnis zur einleitenden προσφώνησις Christe (vgl. oben S. 441), ist ein Resultat der Überlieferung, das nur den alternativen Charakter der drei interpolierten Pentameter bestätigt. Die Form erit zeigt im übrigen, daß der dritte Interpolator congruerint (236) wohl als Futur exakt auffaßte, so daß sich auch in der Wahl der Formen

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von esse eine zunehmende Entfernung vom Original bekundet (sit, esto, erit). Mehrfältige Interpolationen sind eine seltene Erscheinung17. Mendner hat einige Beispiele bei Ovid besprochen18, darunter auch einen dokumentarisch bezeugten Fall dreier interpolierter Parallelfassungen. Es handelt sich um drei Zusatzverse zu Ov. met. 11, 57. Aber diese drei verschiedenen Zusätze sind nirgendwo zusammen überliefert19. Leider wissen wir nichts über die handschriftliche Grundlage der Ausgabe Schotts, aber es scheint doch so zu sein, daß er die vier alternativen Versionen des Schlußverses carm. 25, 238 bereits vereint vorfand. Solcher Befund erinnert uns an die Anlage antiker Ausgaben, wovon in diesem Band schon wiederholt die Rede war (s. oben S. 123f.; 130f. u.ö.). 3. Im Mutterleib legte Johannes der Täufer durch den Mund Elisabeths Zeugnis ab für den kommenden Erlöser (vgl. Lc. 1,41/45), und diesem Zeugnis wenigstens sollten die Juden glauben (carm. 6, 163ff.): 163 165

170

175

die age nunc, Iudaea nocens et sanguine regis conmaculata tui, verbis si nulla priorum est adhibenda fides, sacros si fallere vates creditis et Moysen ipsum, si fallere David inpia perversae putat inclementia gentis, credite non genitis; materna clausus in alvo quid videat, saneto matris docet ore Iohannes. quis, precor, hunc doeuit quem casto viscere virgo contineat, quantus maneat nova saecula partus? sed sanetis abstrusa patent nec visa profanis. verum egressa modum latos petit orbita campos atque oblita mei procurrere longius audet. spero ... eqs.

π Eur. Iph. Taur. 38/39 und 40/41 sind alternative Zusätze, die angeben sollen, was Iphigenie in V. 37 verschweigt. Zu diesem von Usener aufgedeckten Fall s. Jachmann, Studien 570, Anm. 3. Gilbert Murray (Euripidis fabulae 2, Oxford 19133) tilgt nur das Verspaar 38/39, James Diggle (Oxford 1981) läßt V. 40 stehen.. 18 Mendner 5/17. 19 Mendner 8f.

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Die argumentative Frage: quis, precor, hunc docuit... ? (170f.) ist von der Art, daß die Antwort nicht ausgesprochen zu werden braucht. Sollte sie aber ausgesprochen werden, dann durfte sie nie und nimmer in einer verallgemeinernden Sentenz bestehen. Vers 172 ist unerträglich. Das ungeborene Knäblein erkannte den Herrn und kündete ihn durch den Mund der Mutter an: dieses ebenso erhabene wie einmalige Ereignis, das alle früheren Prophetien, sogar die eines Moses und David, in den Schatten stellt, leidet die fade Generalisierung nicht, die uns der schlechte Vers zumutet20. Denn natürlich gilt nicht für alle sancti, was für Johannes gilt. Überhaupt verschieft die Antithese: sancti profani die Tatsachen, und auch der Gegensatz abstrusa - visa trifft nicht die Ausgangslage, d.h. den Unglauben der Juden gegenüber den Worten der priores (vgl. 164f.). Die mit quis eröffnete Wortfrage wird durch V. 172 im Grunde ja auch gar nicht beantwortet, und die Adversativpartikel sed nimmt auf den Gedanken keine Rücksicht, sie steht unlogisch. Der Autor will mit seiner Frage zwingend auf Gott hinführen, der den ungeborenen Johannes den ungeborenen Heiland schauen ließ, der Interpolator nimmt die Frage so auf, als müsse er das Wunder durch eine allgemeine Erkenntnis rechtfertigen. Daher sein "Aber". Lehrreich ist hier ein Vergleich mit einer Versreihe aus der unmittelbaren Umgebung. Elisabeth spricht (155ff.): 155

160

cur mihi non meritae nec tanto munere dignae officii defertur honos? cur gloria caeli in nostros delata Lares et vilia tecta obscuris tantum lumen penetralibus infert? sed mitis placidusque suis cultoribus adsit, praestet et hunc genitus quem praestitit ante favorem. dixit ... eqs.

In den Zeilen 155/58 verarbeitet der Dichter Lc. 1,43: Et unde hoc mihi ut veniat mater Domini mei ad me ? Mit den beiden folgenden Versen (159f.) löst er sich von dem Bibeltext. Auch hier wird nach den Fragen mit sed (159) fortgefahren, aber die Partikel hat hier ihren guten Sinn. Zwar erkennt Elisabeth nicht den Grund, weshalb sie der Ehre solchen Besuchs gewürdigt ward (cur... ? cur...?), aber sie erbittet, im Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit, die Gnade des ungeborenen Christus auch für die Zeit nach der Geburt (sed 20

Vgl. die Behandlung des Gedankens bei Prud. apoth. 589/93; dazu unten S. 517f.

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... adsit, praestet ... eqs.). Im Gebrauch der Partikel offenbart sich wieder einmal der Unterschied zwischen Echt und Unecht (zu sed s. unten S. 449f.). 4. Die Landleute, die zum Grab des hl. Felix zusammenströmen, verbrachten die Nächte in fröhlichem Gelage; sie glaubten, dem Heiligen damit eine Ehre zu erweisen. Es geht also um die Gedächtnismahlzeiten, die schon Ambrosius verboten hatte - man denkt etwa an das berühmte Confessionenkapitel (Aug. conf. 6, 2). Paulinus beurteilt die Verfehlung milde, ist aber in der Sache fest und klar (carm. 27, 563ff.)21: 563

... ignoscenda tarnen puto talia parvis gaudia quae ducunt epulis, quia mentibus error 565 inrepsit rudibus; nec tantae conscia culpae simplicitas pietate cadit, male credula sanctos perftisis halante mero gaudere sepulchris. ergo probant obiti quod damnavere magistri? mensa Petri recipit quod Petri dogma refutat? 570 unus ubique calix domini est, cibus unus et una mensa domusque dei. discedant vina tabernis; sancta precum domus est ecclesia; cede sacratis liminibus, serpens, non hac, male, ludus in aula debetur, sed poena tibi; ludibria misces 575 suppliciis, inimice, tuis. idem tibi discors tormentis ululas atque inter pocula cantas. Felicem metuis, Felicem spernis inepte, ebrius insultas, reus oras; ... eqs. Die beiden Fragesätze 568/69 stören empfindlich. Schon die Ironie ist fehl am Platze, da Paulinus bereits gesagt hat, wie er die Sache beurteilt: ablehnend, aber nachsichtig. Ergo, "ein Lieblingswort der Interpolatoren"22, stößt ins Leere. Der Gegensatz: obiti... magistri ist schief: denn Lehrer bleiben die Heiligen in gewissem Sinne immer, das intendierte Moment der Aussage ("zu

21 Zur Zeichensetzung in V. 573 s. unten Anm. 26. In V. 570 muß natürlich nach est interpungiert werden, nicht vor est (v. Härtel, Ruggiero). 22 Jachmann, Studien 822, Anm. 1.

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Lebzeiten") kommt nicht klar heraus, obiti wiederum, als Bezeichnung des gegenwärtigen Zustands der Lehrer, wirkt wenig glücklich. Der schwerste Anstoß liegt aber in V. 569. Im Gebrauch des Eigennamens hat der Verfasser den beliebten Wechsel in Quantität und Betonung des wiederholten Worts vorgeführt: Petri ... PetrP, doch gerade solche Emphase läßt die Störung noch deutlicher spüren. Unter der mensa Petri kann hier kaum ein Altar verstanden werden24, sondern nur ein Tisch, an dem Gedächtnismahlzeiten zu Ehren des Apostels stattfinden. Aber wie soll man hier, wo es doch um Nola und Felix geht, plötzlich auf Petrus verfallen? Der Vers bringt ein Beispiel, auf das man nicht gefaßt ist. Und mehr noch: es ist kaum möglich, den Gedanken an das G r a b - an das Petrusgrab! - fernzuhalten. Zwar brauchte eine mensa martyris durchaus nicht mit dem Grabe des Heiligen, ja noch nicht einmal mit einer Reliquie verbunden zu sein25, hier jedoch wird man gerade auf diesen Zusammenhang geführt. Denn das Bauernvolk Campaniens glaubt ja, heißt es zuvor, die Heiligen hätten Freude daran, wenn über ihren G r ä b e r n duftender Wein ausgegossen würde: perfusis ... sepulchris (567). Das ist eine Verallgemeinerung der Situation am Felixgrab, und zu ihr müßte passen, was mit ergo (568) eingeleitet wird. Aber eine Beziehung der campanischen Bauern zum Petrusgrab läßt sich nicht so ohne weiteres herstellen. Auch Reliquien Petri müssen natürlich außer Betracht bleiben. In der Basilica Nova zu Nola befanden sich Reliquien der Apostel Andreas und Thomas, des Evangelisten Lucas, des Täufers sowie der Märtyrer Agricola, Vitalis, Proculus, Euphemia, Nazarius (carm. 27, 403/39): die mensa Petri kommt hier, wie gesagt, völlig überraschend. Durch diesen Ausdruck ergibt sich überdies ein Gegensatz zur betonten Feststellung: una Mensa ... dei (570f.). Aber wieder ist der Gegensatz unscharf, weil ja in V. 569 die Existenz der mensa Petri hingenommen, der für die Antithese nötige Gedanke, daß es eine mensa Petri gar nicht gibt bzw. nicht geben dürfe, nicht genügend hervorgebracht wird. Die beiden sentenziösen Zeilen sind eben dem Context weder nach oben noch

23 Vgl. Andrew S.F. Gow, Theocritus 2, Cambridge 1952, 123 zu Theocr. 6, 19; Norden, Aen. VI zu Verg. Aen. 6, 791. 24 Augustinus bezeichnet allerdings mit mensa Cypriani nicht nur das Heiligtum am Orte des Martyriums, sondern auch den dort befindlichen Altar; vgl. Victor Saxer, Morts, martyrs, reliques en Afrique chretienne aux premiers sifccles, Paris 1980 = Theologie Historique 55, 191/97. Aber für den Vers 569 wäre damit nichts gewonnen. 25 Hierüber Yvette Duval, Loca sanctorum Africae. Le culte des martyrs en Afrique du IVe au Vile siecle 2, Rom 1982 = Collections de l'Ecole Franijaise de Rome 58, 526/42: "Les mensae martyrum", bes. 538/40 über die Bestimmung der mensae·, ebd. 675f. zur mensa Cypriani.

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nach unten wirklich eingepaßt. Welch gezwungene Kombination die Erwähnung Petri auslösen kann, beweist Adolf Buse (Paulin, Bischof von Nola und seine Zeit 2, Regensburg 1856, 83), der, dem alten Editor Heribert Rosweyd (1622) folgend, annimmt, Paulinus spiele auf entsprechende Mißstände in Rom an. Aber ein derart vager Hinweis wäre hier unverständlich. Die ganze Erörterung geht von den Nolaner Verhältnissen aus (546ff.): Quos agat hue saneti Felicis gloria coetus, Obscurum nulli... eqs. Nach der knappen Korrektur des Irrtums: unus ubique calix domini ... eqs. (570/72 ecclesiä) kehrt der Autor mit der Apostrophe an den Teufel: cede sacratis Liminibus, serpens, non h a c, male, ludus in aula Debetur, sed poena tibi... eqs. (572ff.) sogleich wieder zu seinem Gotteshaus zurück26, und es bleibt kein Zweifel, wo die teuflische Gaukelei stattfindet: Felicem metuis, Felicem spernis inepte (577). Dem Redaktor ging es offenbar darum, das Gedächtnismahl durch das Votum der gefeierten saneti selbst zurückweisen zu lassen. Nötig war solche Ergänzung nicht, weil die Unsitte von Paulinus sehr ernst und tief aufgefaßt wird, indem er sie auf den ludus (573, vgl. 574 ludibria) des Teufels zurückführt. Aber die gütige Entschuldigung des aus pietas (vgl. 566) erwachsenen Irrtums, die Paulinus zunächst vorbringt, genügte, um jenen ironischen Kommentar zu provozieren. Möglich, daß der Verfasser der beiden Zeilen mit dem dogma Petri auf 1 Petr. 4,3 anspielen wollte27: sufficit enim praeteritum tempus ad voluntatem gentium consummandam his, qui ambulaverunt in luxuriis, desideriis, vinolentiis, comessationibus, potationibus et illicitis idolorum cultibus. Vielleicht schwebte ihm aber auch vor, was Paulinus carm. 19,51ff. über die "Fürsten" (proceres) der Märtyrer und ihre Grabstätten sagt: 51

55

... at proceres deus ipsos moenibus amplis intulit et paucas funetos divisit in oras, quos tarnen a n t e o b i t u m toto dedit orbe m a g i s t r o s . inde P e t r u m et Paulum Romana fixit in urbe ... eqs.

26 Male in V. 573 ist Vokativ wie serpens im gleichen Vers und inimice (575). Gemeint ist ό πονηρός (Mt. 13, 19 usw.). Das Wort erscheint im Hartelschen Text nicht in Kommata geschlossen und wurde von Ruggiero (2, 283) verkannt - nicht aber von Goldschmidt (155). Auch carm. 24,416 occursu mali übersetzt Ruggiero (2, 147) falsch. Dagegen richtig (1, 269) zu carm. 16, 52 malus ille: "il maligno". 27 Diese Stelle wird in den Ausgaben beigeschrieben.

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Aus V. 53 könnte die ungeschickte Antithese obiti ... magistri entwickelt sein, und die Tatsache, daß hier als erster unter jenen magistri gleich Petrus genannt wird, hat den Interpolator vielleicht angeregt, seinerseits Petrus als Beispiel eines Magisters zu wählen.

5. Es geht um die leibliche Auferstehung. Paulinus sagt (carm. 31,147ff.): der auferstandene Herr ließ den Thomas seine Wunden betasten, weil er uns lehren wollte, daß wir in demselben Leibe, den wir zeit unseres Lebens hatten, auferstehen werden, und Seine Worte an den Zweifler (Joh. 20, 27f.) enthalten eine Lehre, die uns allen gilt. Folglich muß das Trauern aufhören (ich kürze ab). Wem aber das Herz so verfinstert ist, daß er der Hl. Schrift keinen Glauben schenkt, weil er nicht sieht, was sie lehrt, der möge seine Augen - die des Leibes und die der Seele - auftun und aus den sichtbaren Analogien, die der Schöpfer in die Natur gelegt hat, die unsichtbaren Tatsachen erschließen (carm. 31, 205ff.): 205

210

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quod si tanta animis nox caligantibus obstat et piger obtunso corpore sensus hebet, ut, quia corporeis oculis divina teguntur, nullam dicatis scripta tenere fidem: sed doceat Paulus quia non aeterno videntur, aeterno humanis abdita sunt oculis. insipiens, terrena vide, caelestia crede, obtutu mundum conspice, mente deum. hinc pretiosa fides; nam sicut gratia iam non gratia, si meritis adtribuatur, erit, sie et nulla fides nisi quae quod non videt illud credit et aeternam spe duce rem sequitur.

Die Aussagen der beiden Verse 209 und 210 sind untereinander tautologisch, im Verhältnis zum quodsi-S&Xz (205/08) widersprüchlich: wer der Hl. Schrift den Glauben verweigert (208), läßt sich durch Paulus ja gerade nicht belehren. Der Autor verweist den Zweifler, der dem Neuen Testament nicht glaubt,

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auf die eigenen Augen (212), der Redaktor wirft ihn zurück auf die Schrift: als ob er dort lernen könne, was er eben nicht lernen will: das für wahr zu halten, was er nicht sieht! Häßlich wirkt die Wiederholung des quia in verschiedener Funktion (207 "weil", 209 "daß"), hölzern die Antithese non aeterna ... aeterna, vor allem aber sprengt das mit der Adversativpartikel sed eröffnete Distichon die Syntax: der Zweizeiler legt sich wie ein Sperriegel zwischen Vordersatz und Hauptsatz der ursprünglichen Periode. Denn die Apodosis wird hier, wie oft bei Paulinus, durch einen Imperativischen Satz gebildet: quodsi... sensushebet, ut... nullamdicatisscripta tenerefidem: insipiens, terrena vide ... eqs.28. Hier einige Beispiele für solche Fügung bei Paulinus: carm. 6, 164ff.: ... verbis si nullapriorum Est adhibenda fides, ... credite non genitis (i.e. Ioanni in alvo matris clauso); 9, 24ff.: Si tarnen ... instas, Et si tantus amor..., sipergis me cogere..., Accipe ... eqs.; 9,50ff.: Sicupis extincta Babylonis Stirpe beari, In te ipso primis gliscentia crimina flammis Frangefide; 10, 272ff.: si... segnis iners obscurus ago, miserere sodalis ... eqs.; 10, 331: Si contra est, Christo tantum me linqueprobari; 31, 545f.: Si desiderium est Celsi sine fine fruendi, Sic agite, ut vobis aula eadem pateat. Ein Optativ im Hauptsatz nach quodsr. 27, 130ff.: Quod si mixta seges tribulis mihi germinat..., Velfestis domino studeam me offene diebus29. Diese Konstruktion löst der Interpolator auf, indem er dem quodsi-Satz eine neue Apodosis gibt, die er mit der Adversativpartikel anschließt. Aber sed, häufig nach konzessiven Sätzen (etsi, licet)30, ist nach anderen Vordersätzen (si) selten, bei Paulinus ohne Parallele31. Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit 28 Der Wechsel von Plural (ut dicatis) zum Singular (insipiens, vide) hat eine gewisse Parallele in der Passage 217/26: nach der Anrede mortales miseri (217) und den folgenden Imperativen exuite (218), commutate (221), dirumpite (221), sumite (223) steht die Aussage des Distichons 225f. im Singular: qui sequeris tenebras ... eqs. Der Wechsel in Person und Numerus gehört überhaupt zu den Stilmerkmalen dieser bewegten Paränese. 29 Desgleichen carm. 25, 236/38 - die folgenden Verse (239/41) sind unecht; vgl. oben S. 437/43. 30 Tert. adv. Marc. 1, 19, 1: immo, inquiunt Marcionitae, deusnoster, etsi non ab initio, etsi non per conditionem, sed per semetipsum revelatus est in Christo Iesu; 2, 25, 4: nam etsi Adam ... deditus morti est, sed spes ei salva est... eqs. Vgl. Heinrich Hoppe, Syntax und Stil des Tertullian, Leipzig 1903, 108; Leumann-Holimann-Szantyr 2, 487f. Im Index zu Paulinus verzeichnet v. Härtel (CSEL 30, 447 s.v. sed) vier Fälle für sed nach licet bzw. quamvis. 31 Für sed nach einem «-Satz bringt die Grammatik (Leumann-Hoftnann-Szantyr 2, 488 oben) drei spätlateinische Belege: Rufin. Greg. Naz. orat. 1 (Apologeticus), 111 (CSEL 46, 79, Z. lOff.): si enim hoc ... concedatur nobis, quod longe inferiores sumus quam sufficiat ad sacerdotium petjungendum, sed quid faciemus quod ex alia parte perniciosius inoboedientiae crimen incurrimusl Avell. 83, 86 (CSEL 35, 1, 253): si enim etfilius est, qui inhabitare dicitur: sed cum eo est etiam pater et inseparabiliter omnimodo adfilium esse ab omni creditur creatura

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Übersetzer und Herausgeber über die Störungen des Sinnes und der Grammatik hinweggleiten, die der Fremdkörper verursacht. Walsh (315) schreibt: "But if a thick darkness obscures your clouded hearts, and your thoughts are sluggish and dull through the crassness of your body, so that divine truths are hidden from your bodily eyes, and you say that the Scriptures have no reliability, then Paul must teach you that things visible are transient, and things eternal hidden from men's eyes. Foolish one, visualise the world with your eyes ..." etc. Er übersetzt, als ob nicht sed im Text stünde (209), sondern sic ("then")32. Aber trotz dieser Glättung der syntaktischen Fuge und trotz beschönigender Wiedergabe der plumpen Wortwiederholung non aeterno ... aeterno tritt der Unsinn unvermindert hervor. Nicht anders bei Ruggiero, der mit denselben Mitteln arbeitet33. Der Fälscher erkannte das paulinische Kolorit der ganzen Versreihe. Ihr gedankliches Fundament bildet das Wort aus dem Römerbrief: invisibilia enim ipsius (i.e. Dei) a creatura mundi per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur (Rom. 1, 20). Darauf nimmt V. 212 deutlich Bezug34: obtutu mundum conspice, mente deum. Die folgenden Verse 213/16: nam sicut gratia iam non gratia ... eqs. kombinieren Rom. 11,6 (si autem gratia, iam non ex operibus: alioquin gratia iam non est gratia) mit Christi Mahnung an Thomas Joh. 20, 29 (quia vidisti me Thoma, credidisti: beati, qui non viderunt, et crediderunt). Auch den Zeilen, die dem ausgeschriebenen Stück unmittelbar vorangehen, liegt paulinische Lehre zugrunde35. Dadurch fühlte sich der Redaktor angeregt, seinerseits Paulus zu zitieren, und zwar mit Namensnennung, während der Dichter die verschiedenen Anspielungen fein-

(aber hier mit deutlich konzessiven Sinn des Vordersatzes); Anthim. praef. p. 3, 16f. (CML VIII 3): si quis vero delectatus fuerit eibum qualemcumque manducare, sed inprimo bene factum eibumpraesumat... eqs. 32 Sic im Hauptsatz eines kondizionalen Gefüges: Leumann-Hofmann-Szantyr 2, 659; vgl. etwa Lact. inst. 6, 15, 14: si ergo laetitiae, quoniam vitiosamputabant, nomen aliut indiderunt, sie aegritudini, quoniam et ipsam vitiosam putant, aliut vocabulum tribui congruebat. 33 Ruggiero 2, 345: "Se poi ... la pigra sensibilitä nel corpo indebolito e estinta fino al punto di dire che ... i libri sacri non hanno alcuna attendibilitä, allora Paolo insegni che le realtä caduche sono visibili, mentre le cose eterne sono nascoste agli occhi degli uomini." Auch hier sed gleich "allora", derselbe Versuch stilistischer Besserung - und trotzdem derselbe Gedankenbruch. Wie der echte Paulinus seine Sätze bildet, zeigen die Verse carm. 22, 51/54: Si mentem caelo iacis altius et super astra Scire cupis quid sit vel quid fuerit prius aevo, Et mundo et saeclis docet ulteriora Iohannes. Principio verbum, inquit (loh. 1,1), erat... eqs. Die Partie erinnert an den Zustand des interpolierten Texts in carmen 31 ( q u o d s i . . . sed doceat Paulus), vielleicht arbeitete der Fälscher gar nach diesem Muster. 34 in den Ausgaben nicht notiert (v. Härtel, Ruggiero) bzw. falsch beigeschrieben (Walsh 413 zu V. 210). Überhaupt sind die Bibelstellen zu Paulinus nicht vollständig und nicht genau vermerkt. 35 V. 203f.: (credamus Christo nos) superfusa divini veste decoris Sumere mutatos

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sinnig ineinander wirkt. Aber er griff daneben. Denn während Paulinus, die Linie des Apostelworts im Römerbrief (1,20) verfolgend, zum glaubensgemäßen Gebrauch der seelischen und der leiblichen Augen auffordert (vgl. bes. 229f.: Namque et corporeis sua iam promissa revelat Visibus, sc. Christus), holt sich der Interpolator seine Weisheit aus einem Context, wo gerade umgekehrt die dem irdischen Schauen abgewandte Haltung des Christen eingeprägt wird: ... non contemplantibus nobis quae videntur, sed quae non videntur. quae enim videntur, temporalia sunt: quae autem non videntur, aeterno sunt (2 Cor. 4, 18). Indem er diese Worte aus ihrem Zusammenhang löste, brachte er eine Aussage von erbärmlicher Trivialität zustande, der auch der wichtigtuerische Zusatz des Apostelnamens keinerlei Tiefe zu geben vermag.

6.

Der Tod des Knaben Celsus bringt dem Autor die Erinnerung an sein eigenes Söhnchen zurück, das nur wenige Tage lebte (carm. 31, 605/14): 605

credimus aeternis illum tibi, Celse, virectis laetitiae et vitae ludere participem, quem Conplutensi mandavimus urbe propinquis coniunctum tumuli foedere martyribus, ut de vicino sanctorum sanguine ducat, 610 quo nostras illo spargat in igne animas. forte etenim nobis quoque peccatoribus olim sanguinis haec nostri guttula lumen erit. Celse, iuva fratrem socia pietate laborans, ut vestra nobis sit locus in requie.

Paulinus und Therasia hatten also, einer damals verbreiteten Sitte folgend, ihr Kind in enger Nachbarschaft der Märtyrer beisetzen lassen36. Sie hofften, die angelicam speciem - wozu 1 Cor. 15, 52 (nos immutabimur) und Lc. 20, 36 (aequales enim angelis sunt) zu vergleichen sind. 36 Später wurde dem Bischof von Nola der Sinn des frommen Brauchs zweifelhaft, und er richtete aus gegebenem Anlaß eine Anfrage an Augustinus, der wir den oben S. 433 erwähnten Traktat De cura pro mortuis gerenda verdanken. Die Sitte entbehrte einer festen dogmatischen Grundlage, und daher mag es rühren, daß Paulinus sich hier über ihren Zweck in dichterischem Bilde äußert.

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bevorzugte Grablege des Sohnes werde einst auch den Eltern zugutekommen. Die Verse 609/10 greifen auf das Gleichnis vom reichen Prasser und armen Lazarus zurück (Lc. 16,9/31), das Paulinus zuvor in demselben Gedicht (carm. 31,487/98) dichterisch gestaltet hatte. Sie geben der dort ausgesprochenen Idee des refrigerium (vgl. 496 und Lc. 16, 24) eine neue und recht gewagte Wendung, indem die Kühlung jetzt nicht mehr durch einen Tropfen Wasser vom Finger Abrahams (vgl. 495f.), sondern - dank der Vermittlung des Sohnes - durch das Blut der Heiligen bewirkt werden soll, die neben dem Kind ruhen37. Natürlich ist das Ganze eben nur ein Bild; der geistige Sinn ist ja schon durch das Objekt der refrigeratio: nostras ... animas (610) klargestellt. Demütig sieht der Autor sich selbst in der Rolle des Prassers, der Ausdruck: illo ...in igne (610) weist auf das Feuer, in dem der Reiche leidet (vgl. 488: dives in igne iacef, 491: gemit in ignibus ille). Allerdings erhofft er für sich, was dem Prasser verwehrt wurde (vgl. 495f.), ja mehr als das: weil eben Märtyrerblut mehr ist als Wasser, weil solche 'Erfrischung' ganz anderen Sinn trägt. In diesem einen Distichon (609/10) wirft Paulinus ein Bild hin voll Kraft und Kühnheit, aber nur zwei Zeilen, die beiden folgenden (611/12), genügen auch, um seine Wirkung wieder zu vernichten. Es ist nicht einmal sicher auszumachen, was dieses Verspaar eigentlich sagen will. Jedenfalls muß V. 612: sanguinis haec no st ri guttula irgendwie auf das jungverstorbene Söhnchen des Paulinus weisen. Aber es ist schon schwer erträglich, daß die Wendungen: sanctorum sanguine und sanguinis ... nostri so einfach hintereinander treten. Die Wirkung des Distichons 609/10 beruht ja darauf, daß sanguine zwischen eigentlicher und übertragener Bedeutung schwebt, Blut und Reliquie zugleich meint, und nichts schadet solcher Bildlichkeit mehr als die Wiederkehr desselben Worts in neuer Verwendung gleich im nächsten Verspaar. Schlimmer freilich, daß man über den Sinn der beiden Zeilen 611/12 nur rätseln kann. Sollen wir uns etwa denken, das Knäblein sauge im Grab

37 Es handelt sich um die kühne Variation eines Wunsches, den wir aus den Grabinschriften kennen; vgl. etwa ILCV 2020: refiigeret nos (sc. cui [= quil] potest omnia)·, s. dazu Heinz Fine, Die Terminologie der Jenseitsvorstellungen bei Tertullian, Diss. Frankfurt, Bonn 1958, 179/83; Charles Pietri, Art. Grabinschrift II (lateinisch): RAC 12 (1983) 561f. Paulinus schreibt an Sulpicius Severus (epist. 29, 14: CSEL29,261f.): det nobis in ilia die misericordiam dominus a domino (vgl. 2 Tim. 1,18) per hanc gratiam, cuius ipse auctor est, ut sicut nunc in visceribus caritatis tuae refrigeramur, ita ab ignibus mentis in tuae sortis digito refrigeremur. Die Sache ist vielbesprochen, vgl. noch A.M. Schneider, Refrigerium, Diss. Freiburg 1928; Alfred Stuiber, Refrigerium interim, Bonn 1957 = Theophaneia 11.

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das Märtyrerblut auf, um es dann nach vampirhafter Assimilation als eigenes Blut (sanguis nosterl) tropfenweise an den armen Vater im Fegefeuer abzugeben? Und selbst wenn wir dermaßen düstere Phantasien dem Bischof zutrauen wollten, die Junktur: guttula lumen erit bliebe dennoch, was sie ist: eine Bildermengung (κακοζηλία). Der Versschluß lumen erit ist aus früherer Stelle des Gedichts übernommen (carm. 31, 565f.): 565

cumque omnes in qua vixerunt carne revivent, non omnes verso corpore lumen erunt.

Hier geht es, im Anschluß an die Sätze aus dem ersten Korintherbrief (1 Cor. 15,40/51), um die Beschaffenheit des Auferstehungsleibs. Die Gerechten haben nach der Auferstehung Anteil an der Herrlichkeit Christi (carm. 31, 577f.), 577

vestitique suum divino 1 u m i n e corpus conformes Christo semper agent domino.

Vers 577 ergänzt die Aussage des Satzes 566, lumen trägt hier vollen, tiefen Sinn. In Vers 612 dagegen ist mit dem Wort wohl bloß ein vager Begriff von Heil oder Rettung assoziiert; vielleicht hat aber auch V. 593 gewirkt: Celse, amor et desiderium lumen que tuorum. Aus der Geschichte vom reichen Prasser stammt vermutlich guttula, vgl. 496: {nee) stillavit digito gutta refrigerii, während sanguis zur Bezeichnung der Blutsverwandtschaft durch den späteren Vers 624 könnte nahegelegt worden sein: nam tua (sc. Celsi) de patrio sanguine vena sumus. Aber es ist ziemlich unnütz, im Wortbrei des Verses 612 herumzustochern, um die einzelnen Ingredienzien auf ihre Herkunft hin zu untersuchen. Der Verfasser wollte das kühne Bild der Verse 609/ 10 irgendwie erläutern, vielleicht auch an seine Stelle etwas Einfacheres setzen - beides, Zusatz und Ersatz, kommt hier in Frage. Einfacher geriet ihm aber nur der Hexameter. Hier half er sich vermutlich durch eine Anleihe bei der römischen Liturgie. Denn die Übereinstimmung mit den berühmten Anfangsworten des Gebets Nobis quoquepeccatoribus wird kaum zufällig sein38.

38 Ruggiero (2, 371, Anm. 15) bemerkt sie, kann aber, da ihm Echtheitskritik fernliegt, nur die Frage stellen, ob hier ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Kanons eröffnet werde. Er zitiert Klaus Gamber, Das kampanische Messbuch ein Vorläufer des Gelasianum. Ist der hl. Paulinus von Nola der Verfasser?: Sacris Erudiri 12 (1961) 5/111, wo allerdings weder das Nobis quoque noch die Paulinusstelle berührt wird.

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Der Gedanke an die Gemeinschaft mit den Märtyrern und an ihre Hilfe (vgl. 608 martyribus) konnte leicht den Meßtext in Erinnerung rufen39: Nobis quoque peccatoribus famulis Tuis, de multitudine miserationum Tuarum sperantibus, partem aliquam et societatem donare digneris cum Tuis sanctis apostolis et martyribus ... eqs. In diesem Fall ergäbe sich ein ungefährer terminus post quem der Interpolation, da man mit der Hinzufügung des Nobis quoque zum Kanon kaum vor dem Ende des fünften Jahrhunderts wird rechnen dürfen40. Den Rest des Verses füllte der Fälscher mit Allerweltswörtern aus (forte, etenim, olim). Als es aber darauf ankam, etwas zu s a g e n - im Pentameter - , da erlahmte die gestalterische Kraft vollends. Unsere Handschriften führen das originale Distichon (609/10) und das gefälschte Produkt (611/12) hintereinander im Text, und wieder muß man sich wundern, daß die schwere Störung so lange widerspruchslos ertragen wurde. Erst Shackleton Bailey faßte sie ins Auge. Seine Lösung: nostri in V. 612 sei interpoliert anstatt eines ursprünglichen, aber ausgefallenen poenae, und unter dieser Voraussetzung lasse sich die Zeile folgendermaßen herstellen: sanguinis haec poenae gutta levamen erit. Selten zeigen sich die Klippen der Konjekturalkritik so deutlich wie in diesem Fall41. Auch der Heilungsversuch, den unlängst W.S. Watt unternahm: vivi statt nostri (612), überzeugt nicht42. Beiden Kritikern scheint die Möglichkeit der Versinterpolation hier gar nicht ins Bewußtsein gestiegen zu sein, was für die Arbeit am Paulinustext bezeichnend ist. Ob ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Versen über die complutensischen Märtyrer bei Paulinus und bei Pseudo-Prudentius per. 4 besteht (s. oben S. 399 Anm. 25), wird sich kaum mit Sicherheit entscheiden lassen. Die kühne Art, wie bei Paulinus die Metonymie sanguis ausgenützt wird, trägt das Gepräge der Originalität. Es zeigte sich ja, daß die Kühnheit dieser Erfindung zu interpolatorischer Weiterarbeit reizte. Die Möglichkeit, daß sie auch den

39 Leo Eizenhöfer, Canon missae Romanae, Rom 1954, S. 40, Nr. XII. 40 So V.L. Kennedy, The Saints of the Canon of the Mass, Cittä del Vaticano 19632 = Studi di antichita Cristiana 14, 195f. Vgl. Emil Lengeling, Art. Kanon in der hl. Messe: Lexikon für Theologie und Kirche (I960 2 ) 1284/86 - in der dritten Auflage des Lexikons (1996) ist der Artikel verschwunden! 41 David R. Shackleton Bailey, Critical Notes on the poems of Paulinus Nolanus: American Journal of Philology 97 (1976) 3/19, hier 18. Sein Grundsatz: "Paulinus' text is generally well preserved, but is often not easy to understand". Bei solcher Anschauung der Verhältnisse lassen sich dann freilich nur kleine Eingriffe rechtfertigen. Dagegen rechnete Gerhard Wiman, Till Paulinus Nolanus' carmina: Eranos 32 (1934) 98/130, hier 102f. immerhin mit Lücken im Text. 42 William S. Watt, Notes on the poems of Paulinus Nolanus: Vigiliae Christianae 52 (1998) 371/81, hier 380f.

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Verfasser der Complutum-Strophe bei Prudentius anregte, ist daher nicht von der Hand zu weisen43. Die Namen der Märtyrer, Iustus und Pastor, hätte er allerdings bei Paulinus nicht finden können44.

7. Ich schließe mit einem Fall aus der Prosa. Er entstammt dem Brief an Severus (epist. 32), der uns schon oben S. 425/27 aus anderem Anlaß beschäftigte. Paulinus schickt dem Freunde durch den Boten Victor eine Wiedergabe des Apsisbildes seiner neuen Basilika zu Nola samt den dazugehörigen Epigrammen. Da er außerdem gerade zu Fundi eine Basilika errichten läßt, fügt er auch das für die dortige Apsis bestimmte Bild und die betreffenden Inschriften bei. Severus, der seinerseits zu Primuliacum eine neue Kirche baut, erhält so zwei Vorschläge für die Ausgestaltung seines eigenen Neubaus. Den Entschluß, dem Adressaten auch Bild und Texte der Fundaner Apsis zu senden, begründet Paulinus folgendermaßen45: quod tarnen ea mihi maxime ratio persuasit, quia et in huius absida designatam picturam meus Victor adamavit et portare tibi voluit, si forte unam de duabus elegeris in hac recentiore tua pingere, in qua aeque absidam factam indicavit. sed de hac absida aut abside magis dicere debuerim, tu videris; ego nescire me fateor, quia hoc verbi genus nec legisse reminiscor. verum hanc quoque basiliculam de benedictis apostolorum et martyrum reliquiis sacri cineres in nomine Christi sanctorum sancti et martyrum martyris et dominorum domini consecrabunt. ipse enim testatus est se vicissim confessorum suorum confessorem futurum. Warum sollte sich Paulinus gerade hier zur Frage der Deklination eines Worts äußern, das er zuvor schon fünfmal in demselben Brief (p. 286, 4. 5; 288,14; 43 Ein umgekehrtes Verhältnis sieht Salvatore Costanza, Rapporti letterari tra Paolino e Prudenzio: Atti del convegno XXXI cinquantenario della morte di S. Paolino di Nola (4311981), Nola 1982 (Rom 1983) 25/65. Er glaubt, Prudentius sei von Paulinus beeinflußt; vgl. ebd. 60 zu den Versen über die Märtyrer von Complutum. Nach Erkenntnis der Unechtheit der Prudentiusstrophe stellt sich der Fall natürlich anders dar. 44 Inschriftlich belegt sind sie im siebten Jahrhundert (ILCV 1817b und 1817c vom Jahr 652; ibid. 2105 vom Jahr 630). 45 Paul. Nol. epist. 32, 17 (CSEL 29, 291, 20/292, 6). Si forte unam ist „Konjektur v. Harteis (earn, ea, etiam codd.). Im kursiv gedruckten Interpolament schwankt die Überlieferung

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291, 4f. 6 v. Härtel) gebraucht hatte? Gerade hier, wo er sich anschickt, in feierlicher Rede auf heiligste Gegenstände seiner Religion einzugehen! Unmittelbar vor der Erwähnung der Apostelreliquien und dem hymnischen Preis Christi als des "Heiligen der Heiligen" usw. soll der Autor eine grammatische quaestiuncula berühren? Nein. Nur ein Schulfuchs konnte in solchem Augenblick philologisch werden! Zieht man erst einmal die Möglichkeit der Interpolation in Betracht, ist der Weg frei für eine richtige Beurteilung des Verhältnisses der Sätze sed ... reminiscor zu Isidor orig. 15, 8, 7: absida Graeco sermone, Latine interpretatur lucida, eo quod lumine accepto per arcum resplendeat. Sed utrum absidam an absidem dicere debeamus, hoc verbi genus ambiguum quidam doctorum existimant. Daß ein Zusammenhang besteht zwischen beiden Texten, sah man längst. Aber solange man die Bemerkung im Brief Paulins dem Absender selbst zutraute, konnte man sich natürlich auch nur Isidor als den Nehmenden vorstellen46. In Wahrheit ist das Verhältnis ein umgekehrtes: der Interpolator des Paulinus, angeregt durch das zweimalige Vorkommen des Worts in den ausgeschriebenen Sätzen, das er wohl hintereinander in den verschiedenen Formen las, wie sie die Codices L und Μ zeigen (p. 291, 21 in huius absida-, 291, 24f. absidem factam), fühlte sich an Isidors Bemerkung erinnert und fügte sie in den Text, nachdem er sie dem Stil des Briefs grob angepaßt hatte. Daß die Beziehung so richtig erfaßt ist, folgt aus der beiden Stellen gemeinsamen Junktur hoc verbi genus. Bei Isidor ist sie einfach und klar, bei Pseudo-Paulinus schwierig und dunkel. Isidor: hoc verbi genus ambiguum quidam doctorum existimant. Er versteht unter verbi genus allgemein die "Wortart" und stellt fest, daß diese Wortart nach Ansicht gewisser Gelehrter (zwischen zwei Deklinationen) schwanke - das bedeutet hier ambiguum47. Gemeint sind griechische Wörter, die im Lateinischen nach der dritten und nach der ersten Dekli-

zwischen aut abside und aut absidine. Sowohl aut als auch -ne im zweiten Glied der indirekten Doppelfrage ist möglich (Leumann-Hofmann-Szantyr 2, 545) beides zusammen kaum; num, eingefugt bei v. Härtel nach aut abside, ist unnötig. 46 Vgl. etwa Friedrich Vollmer im Thesaurus s.v. apsis (ThLL 2, 322, 57) und Goldschmidt 120: "Hoc verbi genus proves that Isidorus had our Paulinus' place in mind". 47 Ähnlich Varro ling. 9, 103: die erste Person mancher Verba lasse nicht erkennen, unde sint declinata; fit enim, ut rectus casus nonnumquam sit ambiguus, ut in hoc verbo Volo, quod id duo significat, uruim a voluntate, alterum a volando ... eqs. Eine andere Definition der verba ambigua gibt Diom. gramm. I 346, 20ff.

XVIII. Zu Paulinus Nolanus

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nation gehen, also absis, -Tdis I abslda, -ae\ cassis, -idisl cassida, -ae; collyris I collyrida\ ephemeris I ephemerida\ herois I heroida\ lampas I lampada; lepis I lepida; magis I magida\ pyramis I pyramida·, parotis Iparotida usw.48. Es ist nicht leicht zu sagen, wer die Fachleute sind, auf die Isidor sich beruft. Die lateinischen Grammatiker behandeln die Sache anläßlich des Worts cassislcassida, das in beiden Formen bei den Dichtern vorkommt, vgl. Char, gramm. p. 131, 18ff.: cassidem dicimus nos ab eo quod est haec cassis; sed multi cassidam dicunt, ut Propertius 'aurea cui postquam nudavit cassida frontem' (Prop. 3, 11, 15) et Vergilius 'aurea vati Cassida' (Verg. Aen. 11, 774f.); Prise, gramm. II 218, 15ff.: cassida quoque accusativus est Graecus, ab eo quod est cassis, quo usus est pro nominativo cassis Virgilius: 'aurea vati Cassida'. Statius vero cassis protulit in II Thebaidos: 'Bellipotens, cui torva genis horrore decoro Cassis et asperso crudescit sanguine Gorgon' (Stat. Theb. 2, 716f.)49. Das also meint Isidor mit seinem verbi genus ambiguum. Was aber meint der falsche Paulinus? Quia hoc verbi genus nec legisse reminiscor. Goldschmidt rätselt - mit Hinweis auf den Thesaurus - , ob genus hier für casus stehen könne50. Aber was wäre damit gewonnen? Genus gleich casus ergäbe keinen Sinn, weil es doch um die Form geht, nicht um den Fall. Und selbst wenn man auch dieses Zugeständnis machen und unter verbi genus die Deklination verstehen wollte51, auch dann ließe sich dem Ausdruck in Verbindung mit dem Praedikat nec legisse reminiscor62 kein vernünftiger Sinn entlocken. W e l c h e Deklination sollte der Verfasser nicht gelesen haben? Abwegig wäre es schließlich, wollte man die "Wortart" in der allgemeinen Bedeutung fassen, die sie bei Isidor hat - abwegig, weil unglaubwürdig, jedenfalls wofern solches Bekenntnis aus dem Munde des Paulinus kommen 48 Vgl. Neue-Wagener, Formenlehre l 3 ,492/501, bes. 496 zu absida. Weitere Literatur zu diesem Wort bei Otto Hiltbrunner (Hrsg.), Bibliographie zur lateinischen Wortforschung 1, Bern/München 1981, 66f. s.v. absis. 49 Ähnliche Notizen zu cassis/cassida bei Sacerd. gramm. VI 479,15f.; Prob. cath. gramm. IV 28, 23f.; Prise, gramm. II 251, 3f. Zur schwierigen Quellenfrage bei Isidor (bezüglich der Grammatiker) s. Jacques Fontaine, Isidore de Seville et la culture classique dans l'Espagne wisigothique 1, Paris (Etudes Augustiniennes) 1959, 187f. 197; zu Charisius 195f. 50 Goldschmidt 120f.; vgl. ThLL 6, 2 s.v. genus (Oskar Hey) 1901, 7f., wo zu hoc verbi genus vermerkt ist "de abl.". 51 Ein Zugeständnis, das freilich schon weit ginge, weil es zwar genera declinationum gibt (Varro ling. 8, 9; Char, gramm. 1 173, 23), die genera verbi im technischen Sinne ja aber etwas anderes sind (ThLL 6, 2, s.v. genus 1901, 79ff.). 52 Goldschmidt 120 erklärt nec = non, vgl. Leumann-Holmann-Szantyr 2, 448f. Doch spricht die Stellung (nec legisse) für die Bedeutung ne ... quidem.

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soll. Kurzum: der Interpolator bemühte sich, die allgemeine Aussage der Etymologiae (ambiguum ... existimant) in die Form einer persönlichen Mitteilung des Briefschreibers zu bringen, doch er besaß nicht das Geschick, die angelesene Weisheit derart in ihr neues Gewand zu stecken, daß sie noch kenntlich bleibt. Aber versucht hat er es, und deswegen handelt es sich um eine Interpolation, nicht um eine Glosse. Nur durch ihre späte Entstehung (nach Isidor) fällt sie aus dem Rahmen des antiken Interpolationswesens.

XIX. UNECHTES IN DER APOTHEOSIS Kein Werk des großen religiösen Dichters hat unter den Eingriffen von fremder Hand so sehr gelitten wie die Apotheosis, hinsichtlich der Dichte interpolatorischer Bearbeitung rangiert sie sogar noch vor der Hamartigenie. Das dürfte am Thema liegen. Der moderne Leser fühlt sich von anderen Werken stärker angezogen, aber in einer Zeit, da die Kirche um die Festigung ihrer christologischen Lehren rang, mußte ein Gedicht wie die Apotheosis besondere Aufmerksamkeit erregen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Interpolationen stets theologischem Interesse entsprangen, aber die Beachtung, die gerade dieses Werk seitens der spätantiken Bearbeiter fand, hat gewiß darin ihren allgemeinen Grund. Denn die rezensorische Erweiterung und Umformung des Prudentiustexts gehört noch ins fünfte Jahrhundert1. Fast alles davon hatte die Überlieferung bereits absorbiert, als der Puteanus und der Ambrosianus entstanden, das Fremde ist nach außen unkenntlich in der Substanz des Dichtertexts versunken, und nur ganz selten zeugt eine Verwerfung an der Oberfläche der handschriftlichen Überlieferung von den mächtigen Erschütterungen, die der Text in seiner Frühphase durchmachte. Fast alles muß hier neu erarbeitet werden; denn die Apotheosis, das von der spätantiken Redaktion am meisten entstellte Gedicht, ist zugleich das von der modernen Forschung am stärksten vernachlässigte. Smolak, dem wir einen Kommentar zu den beiden sog. Praefationes und zu den ersten 216 Versen des Hauptgedichts verdanken, hat sich dort, wo die Handschriften eine echtheitskritische Stellungnahme erzwingen, richtig entschieden, sonst aber die Möglichkeit der Interpolation niemals erwogen2. Einen Vorstoß in die richtige Richtung unternahm einst Colombo; die vier Athetesen, die er für die Apotheosis vorschlägt,

ι Jachmanns allgemeine Erkenntnis, daß die interpolatorische Tätigkeit der Antike angehört und gerade die schwersten Entstellungen unserer Texte antiken Ursprungs sind, wird für die Klassikerhandschriften bestätigt auch von Michaela Zelzer, Die Umschrift lateinischer Quellen von Rollen auf Codices und ihre Bedeutung für die Textkritik, in: Alain Blanchard (Hrsg.), Les Debuts du Codex, Turnhout 1989 = Bibliologia 9 (1989) 157/67, bes. 166. Vgl. auch Deufert passim, z.B. 96 über die frühe interpolatorische Schädigung des Lucreztextes. 2 Vgl. unten S. 515. Smolak hat Schwierigkeiten bisweilen erkannt, sie jedoch aus der kontaminierenden, d.h. verschiedene Quellen vereinigenden Arbeitsweise des Dichters erklärt. Aber solche Anschauung dichterischer Technik darf nicht das Ergebnis literarischen Schaffens präjudizieren, so daß die Benutzung mehrerer Vorlagen jedes Resultat rechtfertigte und erklärte. Auf diese Weise würde 'Kontamination' zum Freibrief des Künstlers und zur Ungültigkeitserklärung jedweder Kritik; s. dazu unten S. 528. 529, Anm. 12.

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halte ich alle für treffend. Aber er gab sich mit der Begründung keine Mühe, verfiel in Irrtümer und schwächte seine Vorschläge durch die unbewiesene und auch unbeweisbare Hypothese, die unechten Verse seien aus Randglossen entstanden3. Jachmann bekämpfte diese Lehre heftig, doch findet sie nach wie vor ihre Anhänger. Selbst ein Editor wie James Willis, der in ausdrücklicher Anerkennung der Forschungen Jachmanns das Mittel der Athetese mit befreiender Frische handhabt, glaubt, nicht ohne sie auskommen zu können, und erklärt das Auftreten gewisser unechter Verse im Juvenaltext durch Glossen4. Tarrant entwickelt eine Systematik der "Interpolation", in der die Glosse sogar eine eigene Kategorie bildet5, und Deufert gibt das Kriterium der Absichtlichkeit für die Feststellung einer Interpolation überhaupt auf6. Aber selbst wenn man einräumt, daß eine in den Text 'eingedrungene' Glosse eine ähnliche Störung verursachen kann wie eine absichtsvolle Änderung des Originals, so sind das doch fundamental verschiedene Vorgänge, die auch verschieden benannt werden müssen, sonst werden wichtige Tatbestände der Textgeschichte verwischt. Jedenfalls bekenne ich, daß mir im Prudentiustext kein einziger unechter Vers begegnet ist, von dem ich mit Sicherheit sagen könnte, er sei eine Glosse oder aus einer solchen gebildet, daß ich mir aber zutraue, gleich reihenweise Interpolationen explizierenden Charakters anzugeben: 'glosse-

3 Über Colombo unten S. 503. 550. 603. In einem Falle begrenzte er seine Maßnahme falsch; unecht sind die beiden Verse apoth. [524/25], nicht nur [525]; s. unten S. 567. 4 Vgl. James Willis in der Juvenalausgabe, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1997, praef. p. XXII-XXV. 5 Richard J. Tarrant, Toward a Typology of Interpolation in Latin Poetry: Transactions of the American Philological Association 117 (1987) 281/98; ders., The Reader as Author: Collaborative Interpolation in Latin Poetry, in: John N. Grant (Hrsg.), Editing Greek and Latin Texts, New York 1989, 121/62. Die Termini "collaborative interpolation", "collaboration" sind höchst unglücklich gewählt. Natürlich ist ein Interpolator antiker Literatur selten ein Fälscher im moralischen Sinne. Er handelt nicht dolo malo, sondern will den Text nach eigenem Geschmack ummodeln und nach Kräften verbessern. Aber ein Fälscher ist er dennoch, kein Mitarbeiter. Jeder Autor, ob antik oder modern, würde sich solche Mitarbeit verbitten. Im übrigen entdecke ich in Tarrants Schema alte Jachmannsche Typen: die emendatorische Interpolation, die syntaktische und die explizierende, die Schlußinterpolation und die Konkordanzinterpolation. 6 Deufert 4/6. Die Folgen solcher Anschauung sind in der Theorie, d.h. in der Herleitung der Textverderbnisse, allenthalben merklich. Deufert hat sich eng an Tarrant angeschlossen. Aber mitten unter lauter "Lesern" und "Glossen" taucht dann ab und zu ein "Philologe" mit seinen kritischen Zeichen auf (208f.) oder ein "gelehrter Interpolator" (259) oder ein "coauthor" (266). Der Verfasser dieser in ihren Ergebnissen sehr tüchtigen Dissertation hat hinsichtlich der Grundlagen von Jachmann nicht lernen wollen. Existenz und Wirkung einer kritisch adnotierten Lucrezausgabe treten in den Hintergrund (316f., am Ende des Buchs), wie bei Tarrant, The reader 156f. - s. vorige Anmerkung. Zu Deuferts Theorie äußert sich auch Rainer Henke, Jägerlatein in Caesars Bellum Gallicum (6, 25-28). Original oder Fälschung?: Gymnasium 105 (1998) 117/42, hier S. 120 mit Anm. 13.

XIX. Unechtes in der Apotheosis

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matische' Interpolationen, aber eben Interpolationen, nicht Glossen. Die Bedeutung dieser Unterscheidung ist gewaltig. Sie erhellt u.a., wie schon öfters bemerkt, aus den Verirrungen des letzten Prudentius-Editors, dem nahezu alles, was die Überlieferung an rezensorischen Maßnahmen zu erkennen gibt, selbst die offensichtlichsten Ersatzfassungen, im Phantom des vom Rande her eingedrungenen 'locus similis' zusammenfiel. Denn derart ist die Konsequenz, auf die das Glossentheorem letzten Endes zusteuert, weil es die Tendenz zur willkürlichen Ausdehnung in sich birgt und im gleichen Maße, in dem es sich ausdehnt, die Einsicht in die wahren Ursachen der bewußten Textänderungen versperrt.

Die sogenannte erste Praefatio Wie die übrigen hexametrischen Gedichte wird auch die Apotheosis durch ein metrisch selbständiges Gedicht eingeführt; es ist in iambischen Distichen gehalten, im horazischen Epodenmaß ( = apoth. praef. 2). Anders aber als sonst ist in der Überlieferung diesem iambischen Gedicht noch ein weiteres Stück in zwölf Hexametern vorgeschaltet (= apoth. praef. 1). Ältere Herausgeber versuchten, den beiden Gedichten verschiedene Überschriften zu geben. Die Aldina scheidet einen Hymnus de Trinitate und einen Hymnus in infideles. Der zweite Titel ist frei erfunden; der erste besitzt einen gewissen Anhalt in den Handschriften', ist aber sachlich unzutreffend, weil das hexametrische Gedicht alles andere als einen Hymnus bietet: es ist ein Credo, und zwar, wie sich zeigen wird, ein ziemlich obskures. Bergman überschreibt das Gedicht Hymnus de trinitate, setzt den Titel jedoch in eckige Klammern und bemerkt im Apparat: "verba Hymnus de trinitate codicum auctoritate parum comprobata uncinavi". Das folgende iambische Gedicht nennt er 4 Um, v L « » I ^ u o i > i H v n ^ U i i H > \ n 1 1 * 1 /.< «.. I K C S l H I C l

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