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German Pages 207 [217] Year 2014
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanisms and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (Tübingen) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin) Matthias Pohlig (Münster), Eva Schlotheuber (Düsseldorf)
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Christopher Voigt-Goy
Potestates und ministerium publicum Eine Studie zur Amtstheologie im Mittelalter und bei Martin Luther
Mohr Siebeck
C V-G, geboren 1972; Studium der Ev. Theologie in Frankfurt, Cambridge und Göttingen; 2001 Promotion; 2011 Habilitation; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am LeibnizInstitut für Europäische Geschichte, Abteilung Abendländische Religionsgeschichte.
ISBN 978-3-16-152762-3 / eISBN 978-3-16-158616-3 unveränderte ebook-Ausgabe 2019 ISSN 1865-2840 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Kirchheim/Teck gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2011/12 von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel als Habilitationsschrift für das Fach Kirchengeschichte angenommen. Der Text wurde für den Druck geringfügig überarbeitet. Prof. Dr. Martin Ohst hat die Entstehung dieser Arbeit maßgeblich gefördert. Über lange Jahre hinweg durfte ich bei ihm Assistent an der Bergischen Universität Wuppertal sein. Für seine fachliche, kollegiale Begleitung sowie seine persönliche, freundschaftliche Zuwendung danke ich ihm von Herzen. Neben Prof. Dr. Martin Ohst hat Prof. Dr. Hellmut Zschoch die Begutachtung der Arbeit übernommen. Ihm danke ich nicht nur dafür herzlich. Mein ebenso herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Claus-Dieter Osthövener, von dem ich in den gemeinsam veranstalteten Seminaren so viel gelernt habe. Bei den Korrekturen der Druckfassung der Arbeit haben mir Frau stud. theol. Katrin Bodschwinna und Herr Dr. Christian V. Witt geholfen. Vielen Dank. Prof. Dr. Volker Leppin und den übrigen Herausgebern danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Spätmittelalter, Humanismus, Reformation“. Das Buch ist meiner Frau Gudrun gewidmet. Frankfurt, im März 2013
Christopher Voigt-Goy
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.
Konzeptionen des kirchlichen Amts im Mittelalter: Problemgeschichtliche Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.2. 4.3.
Decretum Gratiani: Das Amt im Einflussbereich des Kirchenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konzeption der Amtsstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konzeption der parochialen Amtsausübung . . . . . . . . . Amt und potestas: Der allmähliche Aufstieg eines Problems Thomas von Aquin: Das Amt im Einflussbereich der Mendikanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sakramentaler Kirchenzweck und Weihegewalt . . . . . . . . . Jurisdiktionsgewalt und heilsfördernde Kirchenleitung . . . . Amt und potestates: Zur Gewichtung des Gewaltenverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Gerson: Das Amt im Umfeld des Konziliarismus . Die Struktur der Kirchengewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Institutionalisierung der Kirchengewalt . . . . . . . . . . . . Die Verteilung der institutionalisierten Kirchengewalt. . . . . potestas und ordo: Stabilisierungsversuche . . . . . . . . . . . . . Gabriel Biel: Das Amt im Umfeld spätmittelalterlicher Reformtheologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vielfalt der Amtsgewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sacerdos in persona ecclesiae. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Amt‘ zwischen Eigengesetzlichkeit und institutioneller Bindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
.8 10 15 20
. . 24 . . 28 . . 32 . . . . . .
. . . . . .
39 45 49 53 57 61
. . 68 . . 70 . . 76 . . 80
II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523 . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1.
Die Auseinandersetzung Luthers mit dem ‚kirchlichen Amt‘ bis 1520 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
VIII
2.
Inhaltsverzeichnis
1.1. Die frühen Vorlesungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Von der Ablasskritik bis zur Leipziger Disputation. . . . . . . 1.3. opus des Gläubigen und potestas des Priesters . . . . . . . . . . Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523) . . . . . . . . . . . . . 2.1. Erste Entfaltungen bis 1522 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Praktische Gemeindeordnung: ministerium publicum verbi (1522/23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. 87 104 124 136 137
. 157
III. potestates und ministerium publicum: Zusammenfassende Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. 2.
Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Einleitung Die vorliegende Studie verfolgt ein traditionelles kirchen- und theologiehistorisches Programm: Im ersten Teil wird anhand ausgewählter Positionen der Problemhorizont der mittelalterlichen kirchlichen Amtstheorie und -theologie eröffnet. Der zweite Teil schildert vor diesem Hintergrund die gedankliche Entwicklung der Vorstellung des ‚kirchlichen Amtes‘ bei Martin Luther vom Jahr 1513 an bis in das Jahr 1523 hinein. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf dem zweiten Teil. Sie ist damit ein Beitrag zu derjenigen Reformationsund Lutherforschung, die darum bemüht ist, das Verhältnis Luthers zum mittelalterlichen ‚System kirchlicher Katholizität‘ zu konturieren.¹ Angesichts der umfangreichen Literatur zu Luthers Amtsverständnis liegt die Annahme nahe, dass das hier vorgelegte Programm längst erschöpfend abgehandelt worden ist. Das ist aber nicht der Fall, nicht zuletzt deshalb, weil die Umsetzung dieses Programms den forschenden Rückgang in die mittelalterliche Amtstheorie voraussetzt. Dieser Rückgang ist notwendig, soll die Darstellung dem ebenso einleuchtenden wie anspruchsvollen Charakter genügen, den Berndt Hamm für solche Mittelalterdeutungen gefordert hat: „Vor allem ist dabei auf die Vielfalt im Mittelalter, auf seine Neuaufbrüche und Kontinuitäten zu achten. Erst sie können uns zeigen, inwiefern die Reformation in das Mittelalter eingebettet ist und in welchem Sinn sie als Umbruch verstanden werden kann“.² Der Versuch, eine Schneise in das Dickicht des mittelalterlichen Nachdenkens über das ‚kirchliche Amt‘ zu schlagen, ist in dieser Studie gemacht. Angesichts des zu beschreibenden problemgeschichtlichen Weges versteht es sich, dass die Darstellung in vielfältiger Weise auf die reichhaltige Literatur der Dogmen-, Rechts- und politischen Ideengeschichte zurückgreift und auf ihr ¹ Vgl. zu diesem Begriff und der konzeptionellen Erfassung des Forschungsproblems durchgehend: B H, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: D. u. a. (Hg.), Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57–127. Siehe zur komplexen Entwicklung der Reformationshistoriographie nach 1945 für die deutschen Verhältnisse: T K, Die deutsche Reformationsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg, ARG 100 (2009), 15–47. ² B H, Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers – ein Beitrag zur Bußgeschichte (1998), in: D., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 1–24, hier: 1.
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aufbaut. Sie setzt mit der als Zusammenfassung des geltenden kirchlichen Rechts rezipierten Normensammlung Gratians (um 1140) ein und rückt durchgängig die juristisch-rechtstheologischen Aspekte des mittelalterlichen Amtsdenkens in den Vordergrund. Denn das beträchtliche Anspruchsniveau, das die mittelalterliche Amtstheorie und -theologie erreichte, war untrennbar mit der mittelalterlichen Kirche in ihrer konkreten Rechtsgestalt und damit auch ihrer Ämterstruktur verbunden. Die kirchlichen Eliten wollten dafür sorgen, dass diese Kirche das blieb, was sie nach allgemeinem kirchlichen Selbstverständnis schon immer gewesen war: Aufgrund ihrer exklusiven und autoritativen Stiftung durch Jesus Christus die alleinige Vermittlerin des Heils. Dafür waren diese Eliten in der wechselvollen Geschichte der mittelalterlichen Kirche bereit, die institutionellen Regelungsbedürfnisse, Steuerungsinteressen und Orientierungsbemühungen in immer wieder neuer, das ihnen je überkommene System kirchlicher Katholizität in bis auf den Grund herausfordernder Art und Weise denkerisch anzugehen. Nicht umsonst entfaltet sich die mittelalterliche Theorie des ‚kirchlichen Amtes‘ in einem anhaltenden Deutungskonflikt über die Vorstellung der in der Kirche institutionalisierten bzw. ihre Ämter durchwaltenden potestas. Und es ist das Decretum Gratiani, das diesem Begriff seine anhaltende Zentralstellung in der Diskussion zuweist und zugleich die Grundlinie des potestas-Verständnisses der folgenden Jahrhunderte festlegt, indem in ihm grundsätzlich davon ausgegangen wird, dass nicht das ‚Amt‘ etwa eines Priesters, Bischofs oder des Papstes die potestas, sondern umgekehrt die potestas das ‚Amt‘ eines Priesters, Bischofs oder des Papstes bestimmt. Auf dieser im eigentlichen Sinn des Wortes amtstheoretischen Ebene bildet sich bis in das spätere Mittelalter hinein eine interpretationsoffene und kirchenrechtlich selbst nie normierte Vielgestaltigkeit von Begriffen, Fragestellungen und Deutungsoptionen aus: Thomas von Aquin, Johannes Gerson und Gabriel Biel bieten dafür hinreichend Anschauungsmaterial. Es ist die Aufgabe des zweiten Teils, Luthers Stellung zu den aus dem ersten Teil gewonnenen Begriffen, Fragestellungen und Deutungsoptionen zu rekonstruieren und danach zu fragen, wie sich in der Auseinandersetzung mit ihnen Luthers eigenes Amtsverständnis bildet. Die Entwicklung von Luthers Amtsverständnis bis zum Jahr 1520, die bislang sporadisch berücksichtigt wurde, rückt dadurch in ein anderes Licht. Sie kommt hier nicht als die bloße Vorgeschichte von Luthers ‚eigentlichem‘ Amtsverständnis zu stehen, das er mithilfe des Motivs des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ ab 1520 lehrhaft ausbuchstabiert.³ Viel³ Das ist letztlich auch die Perspektive der einzigen die Entwicklung bis 1520 berücksichtigenden monographischen Arbeiten von: J A, Die Lehre Martin Luthers über das Amt in der Kirche. Eine genetisch-systematische Untersuchung seiner Schriften 1512 bis 1525, Helsinki 1972 sowie W S, Das kirchliche Amt bei Luther, Wiesbaden 1974 (VIEG 73).
Einleitung
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mehr legt sie offen, dass Luther bereits von seinen ersten Vorlesungen an einen ganz eigenständigen Blick auf das Verhältnis des Gläubigen zur kirchlichen Institution und damit zum ‚Amt‘ hat, aus dem heraus sich unter anderem ein Motiv wie das des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ bildet. Es ist dann noch einmal eine eigene – den zweiten Abschnitt des zweiten Teils leitende – Frage, welchen Deutungen dieses Motiv unterliegt und wie es sich verändert. Den Schlusspunkt bildet in der folgenden Studie die gedankliche Figur des ministerium publicum verbi, in der Luther seine Überlegungen über das ‚kirchliche Amt‘ am Ende des Jahres 1523 bündelt und sein Amtsverständnis in feste institutionelle Bahnen lenkt. Da schon diese programmatische Übersicht über den zweiten Teil zeigt, dass in ihm sowohl von der Eigentlichkeitsemphase, welche das Motiv des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ oft begleitet, als auch von der Ausklammerung der gedanklichen Entwicklung Luthers bis 1520 Abstand genommen wird, obwohl beides die Debatten über Luthers Amtsverständnis nun seit gut 50 Jahren dominiert, ist eine klarstellende Bemerkung nötig: Einen zwingenden sachlichhistorischen Grund für die dogmatische Zentralstellung des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ sowie die methodische Ausblendung des frühen Luther gibt es nicht. Beides ist vielmehr als Ausdruck jener „fortschreitenden Entfremdung der kirchenhistorischen von der systematisch-theologischen bzw. ökumenischen Lutherforschung“ anzusehen, welche Thomas Kaufmann jüngst diagnostizierte,⁴ und die hinsichtlich des Amtsverständnisses Luthers mit der Wiederbelebung der Lutherdeutungen des konfessionellen Luthertums des 19. Jahrhunderts als Referenzsystem der Forschung nach 1945 einsetzt.⁵ Die konfessionalistischen Lutherdeutungen aber konnten den frühen Luther noch gar nicht im Blick haben, weil sie die entsprechenden Vorlesungen schlicht nicht kannten, und sie hatten auch gar kein Interesse an einer wirklich historischen Lutherforschung, weil sie sich in hoher Ausschließlichkeit an der dogmatisch ‚richtigen‘ Verhältnisbestimmung von ‚Priestertum aller Gläubigen‘ und ‚ordiniertem Amt‘ abarbeiteten.⁶ Die Entwicklung nach 1945 ist hier im Einzelnen nicht darzulegen, weil sie ein ganz eigenes theologiegeschichtliches Thema darstellt, das sich mit der rasanten normativen Aufwertung der ‚Reformation‘ nach 1945 als dogmatischer Orientierungsgröße bestimmter kirchlicher sowie ökumenischer Protestantismusmilieus auseinanderzusetzen hat.⁷ Das trägt aber für das hier verfolgte Programm nichts weiter aus. Als bemer⁴ K, Die deutsche Reformationsforschung, 39. ⁵ Wegweisend hierfür: W B, Das geistliche Amt bei Luther, Berlin 1959,
9–33. ⁶ Vgl. zu diesen Debatten H F, Bekenntnis, Kirche und Amt in der deutschen konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts, Uppsala / Wiesbaden 1952 (UUA 1952:9). ⁷ Vgl. M O, „Reformation“ versus Protestantismus, ZThK 99 (2002), 441–479.
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kenswert an dieser Entwicklung ist allerdings festzuhalten, dass selbst dort, wo der konfessionalistische Deutungsrahmen für die gegenwärtigen Diskussionen nicht als „prototypisch“ hingenommen,⁸ sondern als Ursache „stereotype[r] Interpretationsmuster“ kritisiert wird,⁹ eine Neukalibrierung der historischen Perspektive nicht als Aufgabe empfunden wird, sondern eine dogmatische Reparatur der vorgegebenen Deutungen eben des Verhältnisses von ‚Priestertum aller Gläubigen‘ und ‚ordiniertem Amt‘ als anzustrebendes Ziel erscheint. Einer damit verbundenen vehementen Verteidigung der Nichtberücksichtigung des frühen Luther, der nichts besseres einfällt, als zu ihrer Begründung einen quantitativ umfänglichen Konsens der Sekundärliteratur nach 1945 herbeizuzitieren,¹⁰ müssen wir uns daher nicht eigens widmen. Allerdings heißt das nicht, dass die seit 1945 ins beinahe Unüberschaubare anwachsende Literatur zu Luthers Amtsverständnis nicht hilfreich ist und zu berücksichtigende Aspekte enthält. Das wird sich im Verlauf der Studie zeigen. Einen durchgängigen, begrifflich formulierbaren Leitfaden hat die Darstellung des zweiten Teils nicht. Bereits das kann als Indiz für den mäandernden, immer wieder neu einsetzenden und terminologisch weitgehend unsteten Denkprozess angesehen werden, dem es auf die Spur zu kommen gilt. Der Gefahr einer ausufernden Darstellung habe ich durch zwei Konzentrationsprozesse zu wehren gesucht: Das besondere Augenmerk liegt, einmal, auf den positivkonstruktiven Aspekten von Luthers Überlegungen zur Amts- und Kirchentheorie. Die polemischen Ausführungen Luthers finden nur dort Berücksichtigung, wo sie für die Schilderung der Entwicklung Luthers von Bedeutung sind. Sodann habe ich auf Querverweise innerhalb des Werkes Luthers weitgehend verzichtet – außer sie tragen für das Verständnis der Interpretation Wesentliches bei – und die Anführung der Sekundärliteratur stark reduziert. Statt der Anhäufung der Verweise und Belege habe ich also den Weg der Selektion der Quellen und der Literatur gewählt. Es ist auch nicht die Aufgabe einer historischen Darstellung, die Arbeit an den Quellen und der Literatur zu dokumentieren, sondern die Ergebnisse dieser Arbeit zu präsentieren. Dadurch gewinnt das insgesamt sich ergebende Bild relativ scharfe Konturen: Denn trotz des ihm überkommenen weiten Problemhorizontes tritt Luther von seinen uns fassbaren frühen Überlegungen an in einen kontinuierlich sich vergrößernden zunächst inneren und dann äußeren Abstand zum Amtsverständnis der mittelalterlichen päpstlichen Sakramentskirche, der schlussendlich in ein religiöstheologisch eindeutiges Widerspruchsverhältnis, institutionell aber durchaus ⁸ So D W, Das bischöfliche Amt, ZevKR 51 (2006), 534–555, hier: 539 Anm. 19. ⁹ So K P V, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums. Seine gemeindetheologische Aktualisierung in der Reformationszeit, Wuppertal / Zürich 1990, 10. ¹⁰ H G, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997 (MTS 46), 29 f.
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ambivalentes Transformationsverhältnis zum System kirchlicher Katholizität übergeht. In der Schlussbetrachtung werden wir uns diesem Bild noch einmal widmen.
I. Konzeptionen des kirchlichen Amts im Mittelalter: Problemgeschichtliche Perspektiven Am 15. Juli 1563 verabschiedete das Konzil von Trient auf seiner 23. Sitzung die Doctrina de sacramento ordinis.¹ Damit wurde nach heftigen und bis 1551 zurückreichenden Diskussionen das erste Mal in der Geschichte eine Amtstheologie zur theologisch wie juristisch verbindlichen Norm katholischer Kirchlichkeit erhoben.² Zu dieser Zeit war der Dissens im Amtsverständnis zwischen katholischer Papstkirche und lutherischem Reformationskirchentum schon längst erklärt. Dieser bekannte Umstand wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf den jungen Römischen Katholizismus, der die Vielgestaltigkeit der theologischen und kirchenrechtlichen Traditionen in der mittelalterlichen katholischen Kirche in doktrinäre Geschlossenheit überführte. Er legt auch nahe anzunehmen, dass jene mittelalterlichen Traditionen, wie Kurt-Victor Selge formulierte, „unter dem Anstoß neuer Fragen in vielfältigen Gegensatz zueinander geraten können und … dann das Material für den Aufbau ganz gegensätzlicher neuer Ordnungen hergeben“.³ Ob Luther solche neuen Fragen stellte und daraus dann das entstand, was wir als ‚reformatorisches Amts- und Kirchenverständnis‘ zu bezeichnen gewohnt sind, wird uns später beschäftigen. Doch die Klärung dieses Problems setzt voraus, dass wir einen Einblick in die Vielgestaltigkeit der Amtstheorie mittelalterlicher Katholizität gewinnen. Das ist das Anliegen dieses ersten Teils. Zu diesem Zweck greife ich mit dem Dekret Gratians, der Amtslehre des jungen Thomas von Aquin und den Positionen von Johannes Gerson und Gabriel Biel auf vier Konzeptionen zurück, die natürlich nur einen kleinen Ausschnitt aus der Debatte repräsentieren, die von der Mitte des 12. Jahrhunderts an über das ‚kirchliche Amt‘ geführt wurde. Doch auf Umfänglichkeit kommt es hier nicht an, sondern darauf, die Grundlinien des mittelalterlichen kirchlichen Amtsgedankens und seine wesentlichen Entwicklungsstufen zu erfassen. ¹ DH 1763–1778. ² Vgl. dazu den Überblick bei L O, Das Weihesakrament, Freiburg u. a. 1969
(HDG IV / 5), 119–127. ³ K-V S, Das Autoritätengefüge der westlichen Christenheit im Lutherkonflikt 1517 bis 1521, HZ 223 (1976), 591–617, 595.
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I. Konzeptionen des kirchlichen Amts im Mittelalter
1. Decretum Gratiani: Das Amt im Einflussbereich des Kirchenrechts Das Ende des Investiturstreits läutete für die Vorstellung des ‚kirchlichen Amtes‘ eine neue Phase ein. Mit der Unterscheidung geistlicher und weltlicher Kompetenzbereiche strafften sich die Züge der organisatorischen Eigenständigkeit der mittelalterlichen Papstkirche, so vielschichtig, territorial differenziert und mit einer schier unübersehbaren Vielfalt von Zwischenlösungen versehen sich die kirchliche Selbstabgrenzung gegenüber den territorialpolitischen Kräften auch gestaltete. Jedenfalls vertiefte sich in diesem Prozess der Graben zwischen Klerus und Laien, der vielleicht in der „gelebte[n] Wirklichkeit des Katholizismus“ nicht so gravierend war wie in der „theoretischen Ekklesiologie“, wie Gerd Tellenbach hervorhob.⁴ Doch die wohl aus dem 11. oder frühen 12. Jahrhundert stammende berühmte Definition, nach der es zwei genera von Christen gebe, die clerici und devoti auf der einen Seite und die laici bzw. der populus auf der anderen, hatte sich erfolgreich in die Konzeption und das Selbstverständnis der sich autonomisierenden Institution der Kirche eingeschrieben: Mit dieser kirchenrechtlichen Norm wurden die innerkirchlichen Belange allein den Inhabern eines divinum officium als regentes übergeben.⁵ Spiegelbildlich zu dieser nach außen gerichteten Unterscheidung schärfte sich das Profil der mittelalterlichen Papstkirche, in dem die gregorianische Reformpartei mit ihren päpstlichen Protagonisten, um noch einmal Tellenbach zu zitieren, eine „Ausgestaltung der innerkirchlichen Über- und Unterordnungsverhältnisse“ in Angriff nahm.⁶ Wirkungsvoll implementierte Gregor VII. den Gedanken einer hierarchischen Kirchenorganisation u. a. damit, dass er die Notwendigkeit (s)einer Papstherrschaft mit einer dadurch garantierten institutionellen Verfahrenssicherheit koppelte: Es sei für jede einzelne Amtsverrichtung in der Kirche förderlich, wenn es einen Vorgesetzten gäbe, der in strittigen Fällen als Entscheidungsinstanz angerufen werden könne. So verwirkliche sich in der Ämterordnung der Kirche, wie Gregor VII. 1079 an renitente Bischöfe von Rouen, Tours und Sens mit den Worten seines Amtsvorgängers Gregor I. schrieb, die gottgewollte Einheit der Kirche in pax und concordia.⁷ ⁴ Vgl. G T, Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert, Göttingen 1988 (KIG 2 / F1), 262–264, Zitat 264. ⁵ Duo sunt genera: C. 12 q. 1 c. 7 (ed. F I, 678). Zu diesem Text, seiner Datierung und weiteren Wirkung vgl. R J. C, A Study of the Juridic Status of Laymen in the Writing of the Medieval Canonists, Washington 1959 (CLSt 395), 21–26. ⁶ Vgl. G T, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, Stuttgart 1936 (FKGG 7), 164. ⁷ Gregor VII. an die Bischöfe von Rouen, Tours und Sens vom 20. 04. 1079, in: Quellen zum Investiturstreit. Erster Teil: Ausgewählte Briefe Papst Gregor VII. Übersetzt von FJ S, Darmstadt 1978 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe XIIa), Nr. 103: 317– 321, bes. 316 f. (lt.).
1. Decretum Gratiani: Das Amt im Einflussbereich des Kirchenrechts
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Es ist ein wohlbekannter Sachverhalt, dass für den gesamten Prozess der institutionellen Autonomisierung der Kirche die Entwicklung einer gesamtkirchlichen Rechtsordnung das erfolgsverbürgende Instrument darstellte. Von den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts an nahm diese Rolle das Werk Concordia discordantium canonum des Magisters Gratian ein, das um 1140 in Bologna entstanden war, und in der Fassung durch seine Schüler als Decreta Gratiani bzw. Decretum Gratiani bekannt wurde.⁸ Ursprünglich wohl zum Zweck des akademischen Unterrichts und der kirchlichen Gerichtspraxis verfasst, verdrängte es in kurzer Zeit vorherige Kompilationen der katholischen Kirchenrechtsquellen und wurde als Sammlung des gültigen Kirchenrechts rezipiert.⁹ Über den Autor wissen wir so gut wie nichts. Die öfter zu findende Einschätzung, dass Gratian dem benediktinischen Reformorden der Kamaldulenser angehörte, ist fraglich, und seine manchmal betonte Zugehörigkeit zum Kreis der kirchenpolitischen Partei von Honorius II. (1124–1130), der noch als Kardinal maßgeblich am Wormser Konkordat von 1122 mitwirkte, ist kaum zu belegen.¹⁰ Doch der immense Erfolg des Werks zeigt, wie sehr es den administrativen und legitimatorischen Bedürfnissen entgegenkam, die der jüngst vergangene Investiturstreit und der von der gregorianischen Partei ausgeübte binnenkirchliche Konsolidierungsdruck ausgelöst hatten. Gratians Dekret erfüllte diese Bedürfnisse sowohl in dem immensen Umfang des kompilierten Materials wie mit seiner Methode, die auf die Einheit der teilweise widersprüchlichen Überlieferung abzielte.¹¹ Gleichwohl ist zu unterscheiden. Denn so sicher die Autoritätenkompilation des Dekrets als geltendes Recht aufgenommen wurde, so gilt das für die in den dicta Gratiani niedergelegten Rechtsinterpretationen nicht im gleichen ⁸ Siehe P L, Art. „Gratian (von Bologna)“, in: TRE 14 (1985), 124–130. Die unterschiedlichen Rezensionen des Werks werden nun in den Blick genommen von A W, The making of Gratian’s Decretum, Cambridge 2000 (CSMLT 49). Dass ich für meine Überlegungen auf die bekannte Edition des Werks von Emil Friedberg zurückgreife, bedarf keiner weiteren Begründung. Zu einer kritisch-würdigenden Einschätzung dieser Edition vgl. W, The making, 10 f. ⁹ Vgl. P L, Die Durchsetzung neuen Rechts im Zeitalter des klassischen kanonischen Rechts, in: G M (Hg.), Institutionen und Geschichte. Theoretische Aspekte und mittelalterliche Befunde, Köln u. a. 1992 (Norm und Geschichte 1), 137–155, bes. 139 f. Eine Übersicht über die vorgratianischen Rechtssammlungen bei G M, Art. „Kirchenrechtsquellen I. Katholische“, in: TRE 19 (1990), 1–44, bes. 16–23. ¹⁰ Vgl. die übersichtliche Präsentation und vorsichtige Interpretation der biographisch relevanten Quellen von T L, Die Exkommunikations- und Depositionsgewalt der Häretiker bei Gratian und den Dekretisten bis zur Glossa Ordinaria des Johannes Teutonicus, St. Ottilien 1987 (MThS.K 42), 3–7. Interpretatorisch großräumig hingegen S C, Christian Political Theory and Church Politics in the Mid-Twelfth Century. The Ecclesiology of Gratian’s Decretum, Berkley u. a. 1972, 47–64. ¹¹ Vgl. S K, Harmony from Dissonance: An Interpretation of Medieval Canon Law (1956), in: D., The History of Ideas and Doctrines in the Middle Ages, London 1980 (Collected Studies Series; CS 113), I 1–16.
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I. Konzeptionen des kirchlichen Amts im Mittelalter
Maß. Diese haben zwar in vielerlei Hinsicht späteren Interpretationen den Weg gewiesen, insofern hatten sie eine bedeutsame Weichenstellerfunktion, doch sie selbst waren oft nicht minder interpretationsbedürftig. Im Decretum Gratiani bündelte sich so die rechtliche Überlieferung der Kirche und entließ zugleich die Problemstränge, deren Bearbeitung den nachfolgenden Generationen von Juristen und Theologen aufgegeben war. Dies ist auch in dem uns beschäftigenden Bereich der rechtlichen Amtskonstruktion merklich, was hier anhand einer kurzen Analyse der Konzeption der Amtsstellung am Anfang des Tractatus ordinandorum¹² und anhand der Konzeption der Amtsausübung, wie sie im Dekret an dem Problem der Seelsorge der Mönchspriester erarbeitet wird, aufgezeigt werden soll. Inmitten der vom Investiturstreit ausgelösten Dynamik zur Klerikalisierung und binnenkirchlichen, verfahrensrechtlichen Zentralisierung der kirchlichen Amtsvorstellung umreißt das Decretum Gratiani damit den ideenpolitischen Kampfplatz, auf dem ein Jahrhundert später die Amtsvorstellung eine neue Gestalt gewinnen sollte. 1.1. Die Konzeption der Amtsstellung Die Ausbildung einer festen Terminologie zur Bezeichnung des Amts steckt im Dekret noch in den Anfängen. Es bereitet die Durchsetzung der später meist üblichen Begriffe officia und officia ecclesiastica aber vor, was sich gerade am Anfang des Tractatus ordinandorum in den Distinktionen 21 bis 25 zeigt. Wie eine „Grundnorm der Kirchenverfassung“, darauf wies Peter Landau hin,¹³ behandelt Gratian dabei Dist. 25 c. 1, einen angeblichen Brief von Isidor von Sevilla an den Bischof Leufredus; ein Text, der durch die pseudoisidorischen Fälschungen seit dem 9. Jh. Verbreitung fand. Im Anschluss an ihn hält ein Diktum fest: „Ex hac epistola liquet, quid cuiusque offitii sit“.¹⁴ Der Text selbst handelt davon, „qualiter(que) ecclesiastica offitia ordinentur“.¹⁵ Er unterscheidet neun solcher officia ecclesiastica vom Ostiarier bis zum Bischof, wobei jedem gradus bestimmte liturgische Aufgabenbereiche zugewiesen werden. Neben diesen ordines et ministeria clericorum werden noch weitere Ämter erwähnt, vom Archidiakon und Archipresbyter bis zum Thesaurarius, die mit ihren Funktionen den klerikalen Weihegraden zu- und untergeordnet werden. Wie Landau feststellte: „Die Epistola ad Leufredum und ihm folgend Gratian ¹² Vgl. zur Gliederung des Dekrets durchgehend H E F, Gliederung und Aufbau des Decretum Gratiani, STGra 1 (1953), 353–370. ¹³ P L, Officium und Libertas christiana, München 1991, 9. Hier auch weitere Hinweise und Literatur zu diesem Autoritätsstück. ¹⁴ Dict. Grat. post Dist. 25 c. 1 (ed. F I, 91). ¹⁵ Dist. 25 c. 1 (ed. F I, 90).
1. Decretum Gratiani: Das Amt im Einflussbereich des Kirchenrechts
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kennen kein von der Weihehierarchie getrenntes Amtsrecht. Die Officia sind hier im Ansatz liturgische Ämter“.¹⁶ Die Verbindung von ordo und officium, wie sie in diesem Abschnitt erscheint, ist für das Amtsverständnis des Dekrets von zentraler Bedeutung. Das werden wir noch später sehen. Dennoch bildet diese Verbindung nur einen Aspekt der Grundbestimmungen des Amtes, sie beschließt nämlich die in den Distinktionen 23 und 24 niedergelegte Ordnung des jeweiligen Weihevollzugs und der Überprüfung der Weiheberechtigung für jede Weihestufe. Die Differenzierung der ordines bzw. officia liegt dieser Rechtsverordnung also bereits voraus. Entsprechend hält das Diktum zur Eröffnung von Dist. 23 fest: „Wir haben kurz aufgezeigt, welcher Unterschied zwischen den ecclesiastica offitia besteht. Nun legen wir nach den Autoritäten der Heiligen dar, vom Höchsten anfangend und bis zur letzten Stufe absteigend, wie jedes einzelne von ihnen geweiht werden soll“¹⁷
Dieses Diktum, in dem übrigens das erste Mal überhaupt im Dekret der Begriff officium ecclesiasticum erscheint, schließt einen umfänglichen und für die Konzeption der Amtsstellung ebenfalls wichtigen Erörterungsgang ab. Wir betrachten ihn, indem wir ihn zunächst in seine Einzelelemente zerlegen. Die erste Autorität, die im Tractatus ordinandorum Dist. 21 c. 1 angeführt wird, stammt von Isidor von Sevilla. Hier werden neun gradus voneinander unterschieden, die den ‚Klerus‘ ausmachen: „Allgemein werden alle Kleriker genannt, die in der Kirche Christi dienen, deren Stufen und Namen folgende sind: Ostiarier, Psalmist, Lektor, Exorzist, Akolyth, Subdiakon, Diakon, Presbyter, Bischof.“¹⁸
In den darauf folgenden Erläuterungen treten zwei Ordnungskriterien für die Stufenbildung innerhalb dieses klerikalen Personenverbandes hervor. Einmal wird zwischen denen unterschieden, die „das Heilige geben“, und denen, die mal näher, mal ferner dem Altarsakrament dienen. Die erste Gruppe bilden die Opferpriester, sacerdotes – Presbyter und Bischof –, die zweite alle anderen. Sodann wird der ordo episcoporum – unterteilt in Patriarchen, Erzbischöfe, Metropoliten und Bischöfe –¹⁹ von den Presbytern unterschieden. Sind sie auch gemäß der ersten Unterscheidung als Opferpriester gleich, so unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer dignitas: „Unde et apud veteres idem episcopi et ¹⁶ L, Officium, 10. ¹⁷ Dict. Grat. Dist. 23 pr. (ed. F I, 76): „Breviter que inter offitia ecclesiastica sit
differentia montravimus. Nunc a summo incipientes, et usque ad ultimum gradum descendentes, qualiter quisque eorum debeat ordinari, sanctorum auctoritatibus ostendamus“. ¹⁸ Dist. 21 c. 1 (ed. F I, 67): „Generaliter autem clerici nuncupantur omnes, qui in ecclesia Christi deseruiunt, quorum gradus et nomina sunt hec: Hostiarius, psalmista, lector, exorcista, acolithus, subdiaconus, diaconus, presbiter, episcopus“. ¹⁹ Ebd.: „§ 1. Ordo episcoporum quadripartitus est, id est patriarchis, archiepiscopis, metropolitanis atque episcopis“.
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presbiteri fuerunt, quia illud nomen dignitatis est, et non etatis“.²⁰ Das Auseinandertreten des sacerdotium wird als Produkt eines historischen Differenzierungsprozesses verstanden, welcher die Standesgleichheit des sacerdotium in Bezug auf seine kirchlich-religiöse Bedeutung nicht betrifft.²¹ Isidor von Sevilla nimmt damit eine von Hieronymus wirkungsvoll vertretene und im gesamten Mittelalter unvergessene Tradition auf; das Dekret hat diese Tradition an anderer Stelle überliefert.²² Der Vorrang an dignitas und honor, welcher den Bischöfen und in gesteigertem Maß dem alle noch einmal überragenden Pontifex²³ zugewachsen ist, verleiht ihren Ämtern Leitungsbefugnisse für die kirchlichen Belange des ihnen je obliegenden Verwaltungsbezirks und hinsichtlich der ihnen untergebenen Ämter. Dignitas bezeichnet in diesem Kontext dabei am ehesten das, was schon die römische Rechtssprache damit verbunden hat: Eine auf besonderen Leistungen für die Gesamtgesellschaft, hier also die Kirche, beruhende Anerkennung, die höhere politische Kompetenz und Autorität des Amtsinhabers zur Folge hat.²⁴ Einen ganz anderen Ton schlagen die folgenden zwei Traditionsstücke an: In Dist. 21 c. 2 („In Novo“), dem berühmten pseudoisidorischen Traditionsstück, wird die göttliche Einstiftung des ordo sacerdotalis durch die Petrus von Christus verliehene Schlüsselgewalt betont, die Petrus als erstem den pontificatus in der Kirche Christi überantwortet habe. Im Anschluss an das Zitat Mt 16, 18 führt der Text aus: „Er [Petrus] also erhielt als erster die Gewalt zu binden und zu lösen, und als erster führte er durch die Kraft seiner Predigt das Volk zum Glauben. Die übrigen Apostel
²⁰ Dist. 21 c. 1 (ed. F I, 68). Friedberg notiert zu dieser Stelle: „Et non etatis: In originali est: hoc aetatis, et ita apud Hieronymum in epist. 83 ad Oceanum; sed ob glossam non est mutatum“. ²¹ Vgl. zu dem Problem L Ö, Bishops, Presbyters and Priesthood in Gratian’s ‚Decretum‘, Gregorianum 44 (1963), 788–826, zur Stelle 811–813. ²² Dist. 93 c. 24 (ed. F I, 327–329). Zur weitreichenden Bedeutung von Hieronymus für die mittelalterliche Theologie über die Frage des Verhältnisses von Priestertum und Episkopat grundlegend: A M L, Die Lehre vom Episkopat als Ordo (1951), in: D., Dogmengeschichte der Frühscholastik III / 2, Regensburg 1955, 277–302. Vgl. weiterhin: P W, Das Verhältnis von Episkopat und Presbyterat von der Alten Kirche bis zum Reformationsjahrhundert, in: D S / G W (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge II: Ursprünge und Wandlungen, Freiburg u. a. 2006 (Dialog der Kirchen 13), 39–96, bes. 55–58. ²³ Dist. 21 c. 1 (ed. F I, 68): „§ 8. Pontifex princeps sacerdotum est, quasi via sequentium. Ipse et summus sacerdos, ipse et pontifex maximus nuncupatur. Ipse enim sacerdotes et Leuitas efficit: ipse omnes ordines ecclesiasticos disponit: ipse quid unusquisque facere debeat ostendit. Ante autem pontifices et reges erant. Nam maiorum hec erant consuetudo, ut rex esset et sacerdos et pontifex. Unde et Romani imperatores pontifices dicebantur“. ²⁴ Zum Begriff der dignitas und seiner rechtlich-politischen Bedeutung vgl. die Übersicht zum Römischen Recht V P, Art. „Würde I. ‚Würde‘ im antiken Rom“, in: GGB 7 (1992), 637–645.
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nun erhielten mit ihm gleich Gemeinschaft an Ehre und Gewalt, und sie wollten, dass er ihr Haupt sei …“.²⁵
Diese durch Stiftung Christi mit Ehre und Gewalt versehene Gruppe der Apostel stellt die normative Grundstruktur der Kirche dar, weil die Binde- und Lösegewalt auf die Nachfolger der Apostel an ihren jeweiligen Orten übergegangen sei. Sie bildet ebenso die Keimzelle der weiteren historischen Ausgestaltung, da die Apostel bzw. ihre Nachfolger zur Verbreitung des Evangeliums dann nach dem Vorbild der 72 Jünger presbiter in der Kirche erwählt hätten. Der Primat Petri wird in der folgenden Autorität Dist. 21 c. 3 – einem auf Gelasius zurückgehenden Text – ebenfalls mit Mt 16, 18 belegt, der hier allerdings auf die Romana ecclesia catholica et apostolica angewandt wird, deren Vorrangstellung sich nicht irgendeiner Synode, sondern eben der direkten Einsetzung durch Christus verdanke. In den drei zitierten Autoritäten finden sich ganz unterschiedliche Auffassungen des Amts und der Amtstellung auf engem Raum. Doch es ist nicht zu übersehen, wie sich in der Reihung der drei Autoritäten die Argumentation immer mehr auf den Primatsanspruch Petri zuspitzt und ‚römisch‘ verfestigt: Aus der in c. 1 dem Pontifex zugeschriebenen Kompetenz: ipse omnes ordines ecclesiasticos disponit,²⁶ wird in c. 2 die göttliche Herkunft der kirchlichen Schlüsselgewalt aus dem von Petrus geführten Apostelkreis, die in c. 3 zur göttlichen Unmittelbarkeit der Romana ecclesia aufsteigt. Zugleich, und das ist nun für uns besonders interessant, wird der in c. 1 zentrale Gedanke der Standesgleichheit der sacerdotes bei gleichzeitigem Würdeunterschied zurückgeschoben. Die in c. 2 erwähnte honor et potestas Petri und der Apostel ruht ja gerade nicht auf einer historisch erworbenen dignitas auf, so wie der Pontifex in c. 1 quasi via sequentiam seine imperatorengleiche Kompetenz erwirbt, sondern ist dem Papst- und Bischofsamt göttlich eingestiftet. Dies wird bereits im Einleitungsdiktum zu Dist. 21 breit erörtert und geschichtstheologisch ausgedeutet, was allerdings sachlich nicht weiterführt.²⁷ An die Vorstellung einer vom Pontifikat über die Bischöfe zu den Priestern und dann auf die niederen Dienste ausgehenden Ordnungsstruktur schließt dann unmittelbar die allgemeine Folgerung des nächsten Diktums Gratians an:
²⁵ Dist. 21 c. 2 (ed F I, 69): „Hic ergo ligandi atque soluendi potestatem primus accepit a Domino, primusque ad fidem populum uirtute suae predicationis adduxit. Ceteri uero apostoli cum eodem pari consortio honorem et potestatem acceperunt, ipsumque principem eorum esse uoluerunt …“. ²⁶ Vgl. oben Anm. 23. ²⁷ Zu diesem Abschnitt vgl. L B, Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter, Köln u. a. 1982² (FKRG 2), 44 f.
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„In diesen Allen erscheint je höher der Grad desto größer die Autorität. In jenen Großen ist die Gewalt (potestas) zu regieren und befehlen, in den Niedrigen die Notwendigkeit zu gehorchen“.²⁸
Neben der oben erwähnten Verbindung von ordo und officium bildet dieser Satz, der formal als allgemeines Prinzip formuliert ist, den zweiten zentralen Aspekt des rechtlichen Amtsverständnisses des Dekrets. Erst er führt den Gedanken einer straffen Ämterhierarchie ein. Peter Landau hat auf die weitreichenden Implikationen dieses Prinzips aufmerksam gemacht.²⁹ Denn aus ihm gewinnt Gratian den verfahrensrechtlichen Grundsatz: „Maiores a minoribus iudicari non possunt“.³⁰ Dieser stellt, wie Landau hervorhob, „als verfassungsähnliches Rechtsprinzip eine Neuerung des 12. Jahrhunderts“ dar.³¹ Vollends verabschiedet ist damit in der Gratianischen Rechtsinterpretation die ursprüngliche, und am ehesten als sozialmoralische Größe zu bezeichnende dignitas der kirchlichen Leitungsämter. Sie ist in eine formal-juristische auctoritas bzw. potestas umgebogen worden.³² In diesem Sinn hat Gratian schon zu Eingang der Distinktion 20 die päpstliche Schlüsselgewalt als eine potestas bestimmt, die im Unterschied zu wissenschaftlichen Auslegungen der heiligen Schriften einen Streitfall als rechtssetzende Instanz entscheiden kann.³³ Es ist also dieser ganze Erörterungsgang, der dem einfachen gliederungstechnischen Hinweis von Dist. 23 vorausliegt. Verglichen mit der Zuordnung von ordo und officium in Dist. 25 c. 1 steht in ihm nicht die in der liturgischen Aufgabe sich konkretisierende Differenzierung des klerikalen Personenverbandes, sondern dessen hierarchische Einheit im Vordergrund. Bezeichnend für den vor allem durch das Dictum Gratiani inmitten von Distinktion 21 herauspräparierten Einheitsgedanken ist es, dass er zumindest virtuell eine Beschreibung des Amtes ermöglicht, die auf jede Zuordnung von ordo und officium verzichten könnte: Jeder Amtsstufe käme demnach im Gesamtverband der Ämter eine Autoritätsposition zu, die in einem eindeutigen und unumkehrbaren Befehl-Gehorsam-Gefälle beschreibbar ist. Doch eine Abtrennung jenes ²⁸ Dict. Grat. post Dist. 21 c. 3 (ed. F I, 70): „In his omnibus, quanto celsior gradus, tanto maior auctoritas inuenitur. In maioribus siquidem est regendi et iubendi potestas, in minoribus obsequendi necessitas“. ²⁹ Vgl. dazu P L, Wandel und Kontinuität im kanonischen Recht bei Gratian, in: J M / K S (Hg.), Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994, 215–233, 226 f. ³⁰ Dict. Grat. ante Dist. 21 c. 8 (ed. F I, 72). ³¹ L, Wandel und Kontinuität, 227. Dist. 22 ermittelt dann die Rangfolge der traditionellen Patriatskirchen, was für uns von keiner weiteren Bedeutung ist. ³² Vgl. zu den Bedeutungen von auctoritas im Dekret S K, On „Auctoritas“ in the Wirting of Medieval Canonists: the Vocabulary of Gratian (1982), in: D., Studies in the History of Medieval Canon Law, Norfolk 1990 (Collected Studies Series; CS 325), VII 69–80. ³³ Dict. Grat. Dist. 20 pr. (ed. F I, 65).
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eher materialen, an Weihe und Liturgie orientierten Amtsverständnisses, und dieses eher formal-verfahrensrechtlichen liegt gar nicht in der Absicht dieser Erörterung. Vielmehr wird offenkundig jene traditionelle Ämterordnung mit dieser neuen systematisch amalgamiert. Gerade darin offenbart sich die Argumentation als zutiefst gregorianisch imprägniert, arbeitet sie doch jeder binnenkirchlichen Dezentralisierung entschieden entgegen und leitet – das ist zumindest umrisshaft erkennbar – die Machtkonzentration im Papstamt ein. Doch diese spannungsreiche Amalgamierung verschiedener Amtsverständnisse in der Konzeption der Amtstellung bzw. des officium ecclesiasticum stellt wiederum nur einen Teil des Gesamtkomplexes dar, der im Dekret mit dem ‚Amt‘ vorliegt. Von einer ganz anderen Seite als der bislang betrachteten Einbettung der Verbindung von ordo und officium in ein von der Schlüsselgewalt des Papstes abhängiges, durch potestas und auctoritas ausgezeichnetes Ordnungsgefüge zeigt sich nämlich die Amtsvorstellung des Dekrets, wenn es um die praktische Betätigung des Priesteramtes in einer Parochie geht. Auch in diesem Kontext verhandelt das Dekret ein Problem, das höchst aktuell ist. Nur zeigt hier die ‚klassische‘ Vorstellung, dass Weihe und liturgische Aufgabe zueinander gehören, eine erheblich größere Beharrungskraft. 1.2. Die Konzeption der parochialen Amtsausübung Im zweiten Teil des Decretum Gratiani, der durch seinen an Einzelfällen orientierten Zuschnitt am ehesten ein Handbuch für die kirchliche Rechtsfindungsbzw. Gerichtspraxis darstellt, wird die parochiale Amtsausübung des Priesters besonders plastisch in Causa 16 verhandelt, die sich um die Frage der von Mönchspriestern ausgeübten Seelsorge dreht. Der Ausgangspunkt für diese Erörterung ist ein (fiktiver) Fall, an dem Gratian seine Problemstellung entwickelt: „Irgendein Abt hatte eine Parochialkirche; er setzte dort einen Mönch ein, um das offitium für das Volk auszuüben; er besetzte es für vierzig Jahre ohne irgendeine Unterbrechung; doch endlich wurden Klagen gegen den Abt laut von den Klerikern der Taufkirche, in deren Diözese jene Parochialkirche lag“.³⁴
Diese karge Fallschilderung lässt leicht die angespannte Situation übersehen, in welcher Gratian das Problem der Mönchsseelsorge verhandelt. Auch wenn es kein Indiz dafür gibt, dass Gratian hier die neuen im ersten Drittel des ³⁴ Dict. Grat. C. 16 pr. (ed. F I, 761): „Quidam abbas habebat parrochitanam ecclesiam; instituit ibi monachum, ut offitium celebraret populo; possedit eam per quadraginta annos sine aliqua interpellatione; tandem querela aduersus abbatem mouetur a clericis baptismalis ecclesiae, in cuius diocesi parrochitana ecclesia illa consistebat“.
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12. Jahrhunderts sich regenden Kräfte innerhalb des Mönchtums vor Augen hat, die mit ihrem Ideal der apostolischen Nachfolge aus der Abgeschiedenheit des Klosters allmählich und zuerst nur versuchsweise herausdrängten,³⁵ so barg bereits der Konflikt zwischen den etablierten Orden und den Bischöfen als Hütern der gewachsenen kirchlichen Parochialstruktur Zündstoff genug: Der immense Anstieg der Pfarrkirchen unter klösterlicher Aufsicht, also der klösterlichen Eigenkirchen, der sich vom 10. Jahrhundert ungemindert ins frühe 12. Jahrhundert fortsetzte, hatte neben der klassischen Parochie in ein und demselben Gebiet eine zweite dauerhafte Möglichkeit der Versorgung mit kirchlichen Leistungen eröffnet, die sich allerdings dem ordnenden Zugriff der Diözesanbischöfe weitgehend entzog.³⁶ Natürlich ging es in den daraus resultierenden Konflikten zwischen Welt- und Mönchsklerus auch um Geld; doch in erster Linie war es ein Konflikt um das Verhältnis zwischen den historisch gewachsenen Rechten des Weltklerus und der Möglichkeit der Klöster, an ihnen partizipieren zu können, ohne sich in die Diözesanstruktur einzubinden. Diesem Ansinnen stellten sich die Bischöfe schon seit langem auf verschiedenen Ebenen des kirchlichen Synodalwesens entgegen, um Regelungen zu erwirken, die die pfarramtliche Betätigung der Klöster einschränken sollten.³⁷ Der erste Höhepunkt der bischöflichen Bemühungen war der Beschluss des I. Laterankonzils 1123, der Äbten und Mönchen die öffentliche Ausübung pfarramtlicher Tätigkeiten verbot.³⁸ Um den Kanon Interdicimus des I. Lateran ist Gratian auffallend unbekümmert, das Verbot wird in der Sammlung als Dekretale von Kalixt II. ausgewiesen – ein sprechendes Zeugnis über die ausstrahlende Normierungskraft ‚ökumenischer‘ Entscheidungen wohl nicht nur im 12. Jahrhundert. Doch schon das deutet auf die in der Forschung immer wieder hervorgehobene ‚mönchsfreundliche‘ Tendenz der Gratianischen Lösung hin. Dabei wird aber leicht übersehen, dass die Mönchsseelsorge von Gratian ebenfalls bischofsfreundliche Tendenzen in sich trägt. Diese werden in der für uns entscheidenden ersten ³⁵ Vgl. den Klassiker von H G, Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Darmstadt 1977⁴ (= ND der Ausgabe Berlin 1935), 38–50. ³⁶ Vgl. nur die Beschreibung für Deutschland bei A H, Kirchengeschichte Deutschlands. Vierter Teil, Berlin 1958⁹, 55–57. Zum Verhältnis zu den Bischöfen sehr vorsichtig und differenziert T, Die westliche Kirche, 100–102. Vgl. auch mit weiteren Literaturhinweisen: I U-S, Die Mendikanten als Konkurrenz zum Weltklerus zwischen Gehorsamsgebot und päpstlicher Exemtion, WiWei 66 (2003), 190–227, bes. 199–202. ³⁷ Vgl. die Übersicht bei P H, Mönchtum und Seelsorge bis zum 13. Jahrhundert, SMGB 65 (1953), 209–273, bes. 242–247. ³⁸ C. 16 q. 1 c. 10 (ed. F I, 763): „Interdicimus etiam abbatibus et monachis publicas penitencias dare, infirmos uisitare, et unctiones facere, et publicas missas cantare. Crisma et oleum, consecrationes altarium, ordinationes clericorum ab episcopis eccipiant, in quorum parrochis manent“. Die Textüberlieferung ist schwierig, vgl. COD 2, 193.
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von insgesamt sieben mitunter langen Quastiones entwickelt: „So ist zuerst zu fragen, ob es Mönchen erlaubt ist, die offitia für das Volk zu feiern, Buße aufzuerlegen und zu taufen“.³⁹ Die Antwort wird in einem klassischen Schlussverfahren präsentiert: Im ersten Teil (C. 16 q. 1 cc. 1–20) führt das Dekret die Zeugnisse an, die den Mönchen die Ausübung der offitia verbieten. Der zweite Teil (cc. 21–36) legt dann die Zeugnisse vor, die den Mönchen die Ausübung der offitia zusprechen. Der dritte Teil (cc. 37–41) führt die widerstreitenden Autoritäten zusammen. Sachlich ist für die Lösung des Problems die Einführung der in der kanonistischen Tradition bislang unbekannten Unterscheidung von potestas und executio potestatis konstitutiv.⁴⁰ Gratian entwickelt diese Unterscheidung in drei aufeinander aufbauenden Dicta, die im Folgenden kurz kommentiert werden sollen. Das erste lautet: „Wenn auch Mönche in ihrer Priesterweihe wie die anderen Priester die Gewalt (potestatem) zu predigen, zu taufen, Buße aufzuerlegen, Sünden zu vergeben und kirchliche Benefizien zu genießen, rechtskonform (rite) erhalten, damit sie mehr und vollkommener tun, was nach den Anordnungen der heiligen Väter zu den sacerdotaliis offitiis gehört: so haben sie dennoch nicht die Ausübung ihrer Gewalt (executionem suae potestatis), außer sie sind vom Volk gewählt und vom Bischof mit Zustimmung des Abtes ordiniert worden“.⁴¹
Hier begegnet uns jenes oben bereits geschilderte Amtsverständnis, das ordo und officium miteinander verbindet, das nun allerdings – so die Hauptabsicht dieses Diktums – einmal ergänzt und sodann eingeschränkt wird. Die Ergänzung dieses Amtsverständnisses liegt in der Bestimmung vor, dass die Verbindung von ordo und officium eine potestas beinhaltet. Die Einschränkung besteht darin, dass diese Verbindung von ordo, officium und potestas nur dann ³⁹ Dict. Grat. C. 16 pr. (ed. F I, 761): „Hic primum queritur, utrum monachis liceat offitia populis celebrare, penitenciam dare et baptizare?“. ⁴⁰ Vgl. dazu vor allem A Z, „Executio Potestatis“. Zur Lehre Gratians von der geistlichen Gewalt, St. Ottilien 1975 (MThS.K 33). Mit einem Forschungsüberblick: T L, Der Begriff „executio“ in der Summa Decretorum des Huguccio, AKathKR 150 (1981), 5–44 und 361–420, hier bes. 7–10. Weiterhin (bei Lenherr ungenannt): C, Christian Political Theory, 172–178. Auf die theologiegeschichtlichen Hintergründe machen aufmerksam R L. B, The Bischop-Elect. A study in medieval ecclesiastical office, Princeton 1968, 50 f. L H, Die Geschichte der scholastischen Literatur und der Theologie der Schlüsselgewalt. 1. Teil: Die scholastische Literatur und die Theologie der Schlüsselgewalt von ihren Anfängen bis zur Summa des Wilhelm von Auxerre, Münster 1961 (BGPhMA 28), 166–172. ⁴¹ Dict. Grat. post C. 16 q. 1 c. 19 (ed. F I, 765 f.): „Monachi autem, et si in dedicatione sui presbiteratus (sicut et ceteri sacerdotes) predicandi, baptizandi, penitenciam dandi, peccata remittendi, beneficiis ecclesiasticis perfruendi rite potestatem accipiant, ut amplius et perfectius agant ea, que sacerdotalis offitii esse sanctorum Patrum constitutionibus conprobantur: tamen executionem suae potestatis non habent, nisi a populo fuerint electi, et ab episcopo cum consensu abbatis ordinati“.
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gegeben ist, wenn der Einsetzungsakt ‚rechtskonform‘, rite, vollzogen wurde. Damit unterscheidet Gratian die Ausführungen zu den Mönchspriestern von der Problemlage, die durch die absolute Ordination gegeben ist, d. h. einer Weihe, die ohne eine Anstellung zu einem bestimmten Tätigkeitsfeld (wofür ein Titel ausreichte) vollzogen wurde, und die im Dekret als ordinatio irrita erscheint.⁴² Als absolut Ordinierte gelten die Mönchspriester nicht, da das von Gratian rigide aufrecht erhaltene Verbot der absoluten Ordination des Nizänischen Konzils, das zur Zeit Gratians schon merklich erodierte, den Mönchen die Möglichkeit zum Weiheempfang zugestand.⁴³ Der Näherbestimmung der potestas ist das zweite Diktum gewidmet: „Durch all diese Autoritäten wird deutlich gezeigt, dass Mönche Buße auferlegen und taufen, auch übrige sacerdotalia offitia erlaubterweise verwalten können (licite administrare). Dass sie aber ihre Gewalt nur auszuüben vermögen (suam potestam exequi ualeant) auf Grund der Wahl durch das Volk, der Einsetzung durch die Bischöfe und durch die Zustimmung des Abtes, ist durch die Autorität von Hieronymus, Gelasius und Gregor bewiesen.“⁴⁴
Diese Ausführung will, sehe ich richtig, einem möglichen Missverständnis vorbeugen: Denn es wäre nach dem ersten Diktum noch vorstellbar, dass die potestas als eine formale Bedingung verstanden würde, die allerdings erst zusammen mit der Erlaubnis zur Ausübung der potestas effektiv wird. Das Verhältnis von ordo, potestas und officia wird von Gratian hingegen denkbar eng geschnürt: Mit der Weihe werden eben nicht nur Aufgaben sondern auch die Vollmacht zur Aufgabenausübung dem Geweihten überantwortet. Dies hat Adam Zirkel dahingehend präzisiert, dass die potestas auch das tatsächliche Tun, also den Vollzug der officia, einschließt.⁴⁵ Diese Amtsvollzüge umfassen konkret das komplette Funktionsbündel der liturgischen und sakramentalen Handlungen der priesterlichen Tätigkeit, wie Gratian etwa mit c. 24 anführt: „predicare, baptizare, communionem dare, pro peccatoribus orare, penitenciam inponere, atque peccata solvere“.⁴⁶ Der Abschluss dieses gesamten Gedankengangs stellt nun die Bedingungen ins Zentrum, nach denen eine rechtskonform (rite) empfangene potestas, die erlaubterweise (licite) die Amtsverwaltung umschließt, zur vollgültigen Amtsausübung wird. Der Satz selber ist aus den obigen Dikta bekannt:
⁴² Dist. 70 c. 2 (ed. F I, 257). ⁴³ Dist. 70 c. 1 (ed. F I, 257). ⁴⁴ Dict Grat. post C. 16 q. 1 c. 25 (ed. F I, 767 f.): „His omnibus auctoritatibus
perspicue monstratur, monachos posse penitenciam dare, baptizare, et cetera sacerdotalia offitia licite administrare. Quod uero populi electione, episcoporum institutione, et abbatis consensu suam potestam exequi ualeant, Ieronimi, Gelasii et Gregorii auctoritate probatur“. ⁴⁵ Vgl. Z, „Executio Potestatis“, 101–105. ⁴⁶ C. 16 q. 1 c. 24 (ed. F I, 767).
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„Durch alle diese Autoritäten ist gezeigt worden, dass Mönche, die vom Volk gewählt und vom Bischof mit Zustimmung ihres Abtes geweiht worden sind, rechtmäßig (legitime) ihr Gewalt auszuüben vermögen.“⁴⁷
Besondere Aufmerksamkeit erheischt vor dem Hintergrund des oben skizzierten Konflikts nicht der wiederholte Hinweis auf das Mitbestimmungsrecht des Volkes, das zumindest nominell das ganze Mittelalter in vielen Gegenden Bestand hatte, oder der Hinweis auf den Abt, da sich das für einen Mönchspriester ohnehin von selbst versteht, sondern die Notwendigkeit, dass der Mönchspriester auf die Einsetzung der Bischöfe angewiesen ist, selbst dort, wo es sich um – wie ja der ganze Fall voraussetzt – eine Eigenkirche eines Klosters handelt. Dass Gratian diese bischöfliche Einsetzung einmal als institutio und ein anderes Mal als ordinatio bezeichnet, ist dabei eine nicht ins Gewicht fallende terminologische Undeutlichkeit.⁴⁸ Von Gewicht ist hingegen die Rechtsregel, die Gratian in schlichter Eleganz aus dem Sachverhalt gewinnt: Wenn sich nämlich der durch die Weihe konstituierte Zusammenhang von ordo, officium und potestas bei Welt- und Mönchspriestern durch nichts unterscheidet, so ist eben dasselbe auch für die legitime Ausübung dieses Zusammenhangs anzunehmen. Das heißt: Beide sind gleichermaßen auf die bischöfliche Erlaubnis angewiesen: „Ceterum absque episcoporum licentia non solum monachis, sed etiam omnibus generaliter clericis potestatis executio interdicitur“.⁴⁹ Oder, wie Gratian kurz darauf formuliert: „Sacerdotalia offitia sine permissu episcoporum non agant presbiteri“.⁵⁰ Die gesamte Unterscheidung von potestas und executio potestatis zielt also auf eine einheitliche, gesamtkirchlich brauchbare Regelung der priesterlichen Amtsausübung ab. Sie erhält den Zusammenhang von ordo, officia und licentia so aufrecht, dass die Ausübung der officia auf die bischöfliche licentia verwiesen ist, ohne dass für die Ausübung der officia der ordo als Voraussetzung wegfällt. Zugleich bietet das genug Spielraum, die Mönchsseelsorge ohne eine zusätzliche, grundsätzlich und dauerhaft von dem Normalfall abweichende Regelung zu ermöglichen. Die Durchbrechung dieses Regelungszusammenhangs wird im Dekret allein dem unmittelbaren göttlichen Eingreifen⁵¹ und Notsi⁴⁷ Dict Grat. post C. 16 q. 1 c. 36 (ed. F I, 771): „His omnibus auctoritatibus monstratur, quod monachi, qui a populo sunt electi, et ab episcopo cum consensu sui abbatis sunt ordinati, legitime potestatem suam exequi ualent“. ⁴⁸ Entschieden überinterpretiert bei C, Christian Politcal Theory, 171 f. ⁴⁹ Dict. Grat. post C. 16 q. 1 c. 40 (ed. F I, 773). ⁵⁰ Dict. Grat. ante C. 16 q. 1 c. 41 (ed. F I, 773). ⁵¹ Dict. Grat. post C. 16 q. 1 c. 40 (ed. F I, 773): „Ostendit ergo Ieronimus, quod simpliciter monachis nichil liceat agere sine consilio presbiterorum. Nec offitium docendi sibi assumere liceat sine auctoritate clericorum, nisi forte diuina gratia intus conmoniti, sicut B. Gregorius refert in dialogo de B. Benedicto, qui homines montis Cassini fidem adduxit, et aram Apollinis, que ibi erat erecta, subuertit; et de quodam Equicio, cui angelus in somniis apparuit, et eum ad predicandum misit, qui, cum de uicio linguae conquereretur, angelus flebotomo linguam eius tetigit, et totum uicium illud curauit“.
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tuationen⁵² zugestanden, in denen das individuelle Seelenheil akut gefährdet ist und der Gläubige dafür notwendige kirchliche Sakramentshandlungen nicht erreichen kann, weshalb Gratian die Nottaufe⁵³ und auch eine Notbeichte⁵⁴ kennt. Doch das nur am Rand. Für das Problem der Mönchsseelsorge formuliert Gratian jedenfalls für seine Zeit einen kirchenpolitischen Kompromiss, der sowohl den relativ neuen Betätigungsinteressen der Mönche wie den alten Rechtsansprüchen der Bischöfe gerecht werden sollte: Die Erlaubnis der pfarramtlichen Betätigung der Mönchspriester geht mit einer Stärkung der bischöflichen Aufsichtskompetenz und der Einbindung der Mönchsseelsorge in die Diözesanstruktur einher. Dass Gratian sich bohrende Fragen nicht stellt, die die spätere Kanonistik so beschäftigen, wie etwa nach einer Näherbestimmung des Verhältnisses von potestas und executio oder nach dem Charakter der licentia episcopi, hat einen einfachen Grund: Sie sind für die juristische Lösung des hier verhandelten Hauptproblems unerheblich, weil dafür die Rechtsregelungen und die zuständigen Rechtsinstanzen hinreichend bestimmt sind. Da allerdings im Dekret solche Fragen nicht behandelt werden, bleibt offen, wie eine Verbindung der Konzeption der parochialen Amtsausübung zu der am Anfang des Dekrets vorgelegten Konzeption der Amtsstellung aussehen könnte. Gerade hierin liegt der problemgeschichtliche Anstoß, den das Dekret der späteren kirchlichen Amtstheorie gab. 1.3. Amt und potestas: Der allmähliche Aufstieg eines Problems Ein in sich geschlossenes Amtsverständnis lässt sich dem Decretum Gratiani nicht entnehmen. Zwar gehen die Konstruktionen des Dekrets sowohl im Be⁵² Hier gilt der naturrechtliche Grundsatz: „necessitas non habet legem, sed ipsa sibi facit legem“, zitiert Dict. Grat. post C. 1 q. 1 c. 39 (ed. F I, 374). ⁵³ Vgl. nur Dict. Grat. post C. 24 q. 1 c. 39 (ed. F I, 982). Im Dekret findet sich zudem die Bestimmung der Taufe durch Ungetaufte, was im kanonischen Recht eine junge Tradition war, und erst 1215 auf dem vierten Laterankonzil dogmatisiert wurde: De cons. Dist. 4 cc. 23–24 (ed. F I, 1368). Vgl. dazu L, Wandel und Kontinuität, 228. ⁵⁴ Diese Notbeichte kennt Gratian einmal als ‚Laienbeichte‘: De poen. Dist. 1 c. 88 (ed. F I, 1187–1189, bes. 1188). Vgl. zu dem gesamten Thema der Buße im Dekret: E H F, Bussgewalt, Pfarrzwang und Beichtvater-Wahl nach dem Dekret Gratians, STGra 4 (1956), 185–230, bes. 193 f. zur genannten Stelle. Eine andere Stelle dazu in C. 24 q. 1 c. 40 (ed. F I, 982 f.) ist umstritten, vgl. L, Die Exkommunkationsund Depositionsgewalt, 179–181. Weiterhin leitet Gratian aus dieser die Möglichkeit ab, dass im Notfall ein Priester auf die Einholung der bischöflichen licentia verzichten kann, um das Bußverfahren vollgültig zu vollziehen; die licentia wird durch den Umstand, dass diese Beichte ex desiderio episcopi vollzogen wird, ersetzt: Dict. Grat. post C. 26 q. 6 c. 11 (ed. F I, 1039) und dann die darauf folgenden Bestimmungen und dicta. Vgl. F, Bussgewalt, 216 f.
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reich der Amtsstellung wie im Bereich der Amtsausübung von dem Zusammenhang von ordo und officium aus. Doch die in den dicta Gratiani niedergelegten Rechstinterpretationen weisen von da an in verschiedene Richtungen. Wir können uns das anhand des Leitbegriffes deutlich machen, der in den dicta in beiden Kontexten eine hervorgehobene Rolle spielt, nämlich dem der potestas. In praktischer Hinsicht bezeichnet potestas eine priesterliche Handlungsvollmacht bezüglich eines umfassenden Bündels parochialer Aufgaben und steht in unmittelbarer Nähe zum Begriff des officium. Im Zusammenhang mit der Konzeption der Amtsstellung hingegen fasst der Begriff den viel schlichteren Sachverhalt eines hierarchischen Über- und Unterordnungsverhältnisses zusammen und ist mit dem Begriff der auctoritas austauschbar. Der potestasBegriff ist also einmal Ausdruck der in der Verbindung von officium und ordo vorliegenden Kompetenz, das andere Mal Ausdruck des Verhältnisses der ordines untereinander. Die auseinanderstrebenden Tendenzen des potestas-Begriffs legen nahe, dass Gratian nicht von der Einheit der potestas, also: ‚Amtsgewalt‘, ausgeht, sondern von zwei Amtsgewalten: Einer, die im Weiheträger nach der Weihe ruht, und einer anderen, welche die Verbindung der Gewaltenträger untereinander bestimmt.⁵⁵ Und es ist offensichtlich: Eine Klärung des Verhältnisses dieser beiden Amtsgewalten zueinander würde die Brücke zwischen den Regelungsbereichen der Amtsstellung und der Amtsausübung bereitstellen und einen gewichtigen Schritt zur rechtssystematischen Einheit der kirchlichen Amtskonzeption machen. Dieser Schritt liegt im Dekret allerdings nicht vor, was ein bezeichnendes Licht auf die Rechtseinheit wirft, die Gratian mit seiner Methode erstrebt: Erst einmal bedeutet diese Einheit nämlich nur die Einheitlichkeit der rechtstechnischen Bestimmungen für einen bestimmten Regelungsbereich, und ist nicht
⁵⁵ Nicht überzeugend ist der Versuch Stanley Chodorows eine Einheit der potestas-Vorstellung im Dekret zu sichern, indem diese mit der „Schlüsselgewalt“ identifiziert wird. Vgl. nur zur Plausibilität des Arguments die Ausführung Chodorows, die an die völlig zustimmungsfähige Beobachtung anschließt, dass der Bischof durch seine licentia keine „substantive power“ dem Geweihten übergibt: „The sacerdos has already received his power in his consecration. And his power is the power of the keys. Gratian is within the tradition of new scholastic theology of his time. He did not deviate from the tradition when he considered the source of sacerdotal power; there is no reason to suppose that he deviated from it by not equating sacerdotal power with the keys“; C, Christian Political Theory, 171. Richtiger wäre es darauf hinzuweisen, dass die als Bußgewalt verstandene Schlüsselgewalt ein Teil der officia sacerdotalis darstellt, sie ist aber nicht mit der potestas, die sich auf alle officia bezieht, identisch. Natürlich steht, wie oben unter 1.1. auch angemerkt, die Schlüsselgewalt in unmittelbarer Beziehung zur auctoritas und wird an anderer Stelle auch mit noch weiteren Kompetenzen verbunden. Das alles führt aber nur zu einer nochmaligen Verkomplizierung und auf keinen Fall zur Einheit der potestas. Vgl. dazu vor allem H, Die Geschichte der scholastischen Literatur, 172–175.
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mit einem umgreifenden ‚organischen‘ Rechtssystem zu verwechseln.⁵⁶ Der praktische Vorteil, der besonders im Bereich der Amtskonzeptionen im Dekret damit erreicht ist, ist kaum zu überschätzen: Denn einerseits bietet die rechtstechnische Einheit eines konkreten Regelungsbereichs genug Stabilität und Rechtssicherheit, ohne andererseits die Flexibilität der Amtsvorstellung dadurch einzuschränken, dass alle möglichen für das ‚Amt‘ relevanten Beziehungen schon vorab geregelt werden. Diesem Vorteil entsprechend konnte Gratian in dem Dekret den verfahrensrechtlichen Bedürfnissen der sich etablierenden kirchlichen Hierarchie ebenso gerecht werden, wie er die Seelsorgeinteressen des etablierten Mönchtums mit dem traditionellen bischöflichen Aufsichtsrecht versöhnte. Freilich setzt eine solche um Interessenausgleich bemühte Haltung ein gewisses Maß an Kompromissfähigkeit voraus bzw. zumindest die Bereitschaft, die eigenen milieu- und weltanschauungsbedingten Denk- und Lebensstile zugunsten eines übergeordneten Zieles hintanzustellen. Bei allen Grauzonen im Einzelnen formuliert das Decretum Gratiani ein solches Ziel in wünschenswerter Klarheit. Denn es entwickelte rechtliche Integrationsmechanismen für eine Zeit, in der es darum ging, die einzelnen Amtsträger mit ihren Befugnissen einem autonomen kirchlichen Rechtswesen zu unterstellen, damit auf diesem die libertas ecclesiae realisierenden Fundament eine umfassende Institution unter Führung des Papstes aufgebaut werden konnte. Mit dem zunehmenden Gelingen dieses Unterfangens traten dann allerdings die von Gratian und seinen Schülern mühsam zusammengehaltenen Einzelelemente der Amtskonzeption und die flexible Handhabung der Vorstellung der Amtsgewalt neu in den Fokus der konzeptionellen Bemühungen, die von unterschiedlichen Seiten unternommen wurden. Auch wenn die aufblühende Scholastik den Amtsgedanken weitgehend der Kanonistik überließ, so erhob sie in Aufnahme und Anlehnung an die von Gratian überlieferte isidorische bzw. pseudoisidorische Tradition das sacerdotium zur theologischen Leitidee ihres Nachdenkens über den ordo:⁵⁷ Nach der ⁵⁶ Jüngst hat Paolo Prodi dieses angebliche organische Rechtssystem Gratians wieder auf den Schild gehoben: P P, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat. Aus dem Italienischen v. Annette Seemann, München 2005², 52–54. Dass das römische Recht nach Prodi dem Decretum als Skelett dient und für das organische System verantwortlich zeichnet, ist zwar höchst anschaulich formuliert. Doch gerade mit Blick auf das römische Amtsrecht wird man kaum von einem organischen System reden können: Vgl. J B, Zum Begriff der römischen Amtsgewalt. auspicium – potestas – imperium, Göttingen 1981 (NAWG 1981:9), 257–300. Gerade Bleickens eindrucksvolle Studie legt nahe, dass die Unbekümmertheit Gratians um die Systematik des Amts- und potestas-Begriffs römischen Ursprungs sein könnte, was freilich noch näherer Untersuchung bedarf. ⁵⁷ Vgl. vor allem L H, Die kirchlichen Ämter, Dienste und Gewalten, FS 43 (1961), 1–21. Auch L, Die Lehre vom Episkopat; W, Das Verhältnis.
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wirkungsreichen Definition von Petrus Lombardus bedeutet der ordo nicht nur die Übertragung einer spiritualis potestas, sondern auch die Verleihung eines character spiritualis.⁵⁸ Mit dem nach dem Magister Sententiarum sich durchsetzenden Verständnis dieses Charakters in Analogie zur Taufe und zur Firmung als einer unverlierbaren Eigenschaft des Geweihten wurde auch die in der Weihe übergebene geistliche Gewalt als unverlierbar verstanden, ohne dass allerdings diese Gewalt näher bestimmt wurde. Wichtiger war es den Theologen, wie Ludwig Hödl gezeigt hat, die religiöse excellentia des ordo-Trägers von der administrativen dignitas der kirchlichen Leitungsämter abzusetzen. Als Kristallisationspunkt bot sich der Bezug des ordo-Gedankens auf die Konsekration der Eucharistie an, womit der Episkopat aus der Reihe der sakramentalen ordines ausgegliedert wurde; der Bischof besaß, zugespitzt formuliert, einen Würdevorrang vor dem Priester ohne religösen Exzellenzvorrang. Mit der „Verankerung im sakramentalen Charakter“ wurde, so Hödl, „die Eigengesetzlichkeit und Eigenständigkeit der Weiheordnung noch stärker betont“.⁵⁹ Gegenläufig zu dieser theologischen Betonung des ordo wertete das neue kirchliche Ämterrecht die officia dignitatis auf. Mit diesem Titel erstellte Bernhard von Pavia vor 1179 auf der Grundlage apokrypher Rechtsnormen eine Systematik weiheunabhängiger officia der Kirche, welche – wie die von Peter Landau untersuchten und edierten Texte zeigen – vormals noch als ministeria (hier wohl am ehesten zu übersetzen mit ‚Hilfsämter‘) bezeichnet wurden.⁶⁰ Schlaglichtartig erhellt schon dieser Umstand die Bedeutung, die Bernhard diesen Ämtern zukommen ließ, und die sich an der Stellung des ‚Archidiakons‘ exemplarisch ablesen lässt: Bei Gratian war dieses Hilfsamt des Bischofs, das in dessen Abwesenheit die administrativen Kompetenzen des Bischofs verwaltete, noch unter das Amt des Archipresbyters gestellt, das die religiös-liturgischen Kompetenzen des abwesenden Bischofs übernahm. Bernhard ordnete den Archidiakon, für den eine kirchliche Weihe nicht notwendig war, nun aber dem Archipresbyter, der die Priesterweihe haben musste, mit der Begründung unter: „Sed maioritas dicitur hic non ordinis, sed dispensationis, sicut Petrus ceteris discipulis praefuit non ordine, sed dispensatione“.⁶¹ Die Vorrangstellung der jurisdiktionellen und administrativen Kompetenzen vor der Weihe wird also hier durch die Analogie zu Petrus und dem Petrusprimat begründet. Was bei Gratian nur andeutungsweise vorliegt, ist damit eine Generation später schon weitgehend vollzogen: Der Begriff der dignitas geht in der ⁵⁸ P L, Sent. IV 24, 13: „Si autem queritur, quid sit quod hic vocatur ordo, sane dici potest signaculum quoddam esse, id est sacrum quiddam, quo spiritualis potestas traditur ordinatio et officium. Character igitur spiritualis, ubi fit promotio potestatis, ordo vel gradus vocatur“. ⁵⁹ H, Die kirchlichen Ämter, 16. ⁶⁰ L, Officium und Libertas christiana, 5–54, die Texte ebd., 50–54. ⁶¹ Zit. ebd., 45 Anm. 123.
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Vorstellung einer jurisdiktionellen auctoritas auf und führt zu einer für Gratian undenkbaren möglichen Trennung von officium und ordo. Im Liber extra von 1234 wurde sie gesamtkirchliches Recht.⁶² Dass diese gegenläufigen Dynamiken in der Bewertung des ordo und des officium auf die Vorstellung der kirchlichen Amtsgewalten durchschlug, muss vor dem oben ausgeführten Hintergrund des Decretum Gratiani nicht mehr expliziert werden. Die tastenden und um Orientierung bemühten Versuche zur Lösung der damit gegebenen Schwierigkeiten im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts sind trotz der intensiven Bemühungen vor allem der rechtsgeschichtlichen Forschung bislang nur schemenhaft bekannt.⁶³ Jedenfalls schält sich in der Kanonistik jener Zeit allmählich eine Differenz von ordo und iurisdictio heraus, wobei jenem eine unverlierbare potestas und dieser eine kirchlich entziehbare potestas zugeschrieben werden. Da diese Differenz allerdings in vielfacher und komplexer Weise mit den aus dem Dekret Gratians bekannten Zuordnungen von ordo, officium und executio potestatis vermengt wird, gewinnt die Vorstellung der kirchlichen Amtsgewalten im Vergleich zu Gratian erst im Verlauf der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts festere Form und Gestalt. Im nächsten Abschnitt wenden wir uns deshalb der theologischen Amtstheorie zu, die schon die Ergebnisse dieser Diskussionen kennt und die Unterscheidung von Weihe- und Jurisdiktionsgewalt zu einer weitgehend geschlossenen Systematik der kirchlichen Amtsvorstellung ausbaut.
2. Thomas von Aquin: Das Amt im Einflussbereich der Mendikanten Die systematische Durchbildung der amtstheologischen Gewaltenlehre vollzog sich vor dem Hintergrund der Aufwertung des parochialen Priestertums und den daraus hervorgehenden binnenkirchlichen Interessenkonflikten. Beides, Aufwertung und Interessenkonflikte, wurde vom Papsttum maßgeblich befördert. Die bedeutsame Stellung der Pfarrer als, wie Albert Hauck formulierte, „Organ für die religiöse Einwirkung der Kirche auf das Volk“⁶⁴ hat Innozenz III. durch das IV. Laterankonzil (1215) im Kampf gegen die Ketzer normativ ausbauen lassen, indem er die von den Priestern vor Ort zelebrierte Eucharistie zum religiösen Zentrum des gottesdienstlichen Lebens der Kirche dogmatisierte: Allein von denjenigen, die institutionell mit der im Papsttum konzentrierten Schlüsselgewalt verbunden sind, kann die eucharistische Um⁶² X.1.23–32 (ed. F II, 149–195). ⁶³ Die klassische Studie dazu: M V K, La notion de jurisdiction
chez les décrétistes et les premiers décrétalistes (1140–1250), EtFr 49 (1937), 420–435. Besondere Beachtung verdienen hier die Arbeiten von L, Der Begriff „executio“, und ., Die Exkommunikations- und Depositionsgewalt, bes. 194–252. ⁶⁴ H, Kirchengeschichte IV, 21.
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wandlung so vollzogen werden, dass sie in einzigartiger Weise dem Gläubigen ermöglicht, in der kirchlichen Eucharistiegemeinschaft die objektive Heilspräsenz Christi zu erleben.⁶⁵ Die eucharistische Zentrierung der Ekklesiologie, die in der ersten Konstitution des IV. Lateran formuliert wurde, hat Innozenz in der zehnten durch die Forderung ergänzen lassen, dass die Bischöfe in ihren Diözesen für die dem Heilsverlangen der Gläubigen angemessene Versorgung mit kirchlichen Leistungen durch geeignete Priester zu sorgen haben.⁶⁶ Beiden Beschlüssen war unterschiedlicher Erfolg beschieden: Während der erste geschickt die seit langem ansteigende Intensivierung der Mess- und Eucharistiefrömmigkeit aufnahm und ein ebenso klares wie praktikables Kriterium vorlegte, das die Kirche von der Ketzerei unterschied, blieb die Durchführung des zweiten erst einmal ein Torso, weil er die Existenz einer beträchtlichen Anzahl von geeigneten Priesterkandidaten voraussetzte.⁶⁷ Gleichwohl wies gerade dieser Beschluss den Mendikanten, allen voran den Dominikanern und Franziskanern, den Weg zum Aufstieg zu einer bestimmenden Größe des gesamten kirchlichen Lebens. Denn sie verfügten über genügend zumindest ausreichend motiviertes Personal, um die kirchenreformerische Forderung auch umzusetzen. Die in der mendikantischen Bewegung vorliegende Chance zur Durchsetzung päpstlicher Kirchenpolitik haben sich die Nachfolger von Innozenz III. ebenso wenig entgehen lassen wie die neuen Orden ihre Chance auf kirchlichen Einflussgewinn. Die Päpste haben dafür gerade gegenüber den Franziskanern auch in Kauf genommen, ihre eigene kirchenpolitische Linie zu durchbrechen, die neuen Orden eigentlich nur die Möglichkeit bot, sich in den vorhandenden Bestand der überlieferten Mönchsregeln einzuordnen.⁶⁸ Allerdings haben sie im Gegenzug die Verkirchlichung der Mendikanten durch die breite Ausschöpfung der päpstlichen Exemptionsmöglichkeiten um so nachhaltiger betrieben, weil dadurch die Orden gezwungen wurden, so Ingo Ulpts-Stöckmann, „einen Großteil ihrer informellen Ordensstrukturen zu institutionalisieren“.⁶⁹ Durch das Instrument der Exemption wuchsen die Medikantenorden ⁶⁵ Die zentrale Aussage des ‚Innocentianum‘ in dieser Hinsicht COD 2, 230: „Una vero est fidelium universalis ecclesia, extra quam nullus omnino salvatur, in qua idem ipse sacerdos et sacrificium Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter continentur, transubstantiatis pane in corpus et vino in sanguinem potestate divina, ut ad perficiendum mysterium unitatis accipiamus ipsi de suo, quod accepit ipse de nostro. Et hoc utique sacramentum nemo potest conficere, nisi sacerdos, qui fuerit rite ordinatus secundum claves ecclesiae, quas ipse concessit apostolis et eorum successoribus Iesus Christus“. ⁶⁶ COD 2, 239 f. ⁶⁷ Vgl. G, Religiöse Bewegungen, 138–140. ⁶⁸ G, Religiöse Bewegungen, 140–156. ⁶⁹ U-S, Die Mendikanten als Konkurrenz zum Weltklerus, 196. Zum Folgenden die Übersicht und mit Hinweisen auf weitere Literatur ebd., 205–211.
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(ab etwa 1220) nach und nach zu einer vom Bischof und seinen Diözesanrechten unabhängigen, kirchlich höchst einflussreichen Größe heran, mit eigener kirchlicher Gerichtsbarkeit, umfangreichen Privilegien in Bezug auf den Kultus, die Seelsorge und die Übernahme von Pfarrrechten. Und die Päpste ebneten den Mendikantenorden auch mit allem Nachdruck den Weg in die Städte sowie die Universitäten. Der Widerstand des Weltklerus gegen die Mendikanten und die päpstliche Politik war abzusehen. Es wäre allerdings missverständlich, den Konflikt zwischen Welt- und Mönchsseelsorge im 13. Jahrhundert einfach als Neuauflage des hier schon im Zusammenhang mit dem Dekret Gratians behandelten Streitfalls des 11. / 12. Jahrhunderts zu betrachten. Das liegt nur zum Teil an dem ungleich dynamischeren Ausbreitungsprozess, der die von den Mendikanten getragene Seelsorgetätigkeit von der früheren Entwicklung unterschied. Viel wichtiger ist, dass sich seit der Zeit Gratians die „Tendenz der Bistümer und Kirchen Europas auf korporationsrechtliche Durchbildung und organisatorische Konsolidierung hin“, so Jürgen Miethke,⁷⁰ ungebrochen fortgesetzt hatte. Insofern wurde der Streit zwischen Welt- und Mönchsklerus nun nicht bloß um den Ab- und Ausgleich traditioneller Pfarr- und Bischofsrechte geführt, sondern spitzte sich auf die Frage nach der zukünftigen Gestalt der kirchlichen Ordnung insgesamt zu, zu deren traditioneller Verfassung die neuen Ordensorganisationen quer standen. Der Konflikt zwischen Säkularen und Mendikanten wurde an der Universität von Paris offen ausgetragen. Wir brauchen ihn hier nicht darzustellen.⁷¹ Warum die Zuordnung der unterschiedlichen Gewalten von iurisdictio und ordo, wie sie die zeitgenössische Kanonistik umrissen hatte, in ihm eine zentrale Rolle spielte, dürfte deutlich sein: Wer das Verhältnis von kirchlich entziehbarer jurisdiktioneller Amtsgewalt und der durch die Weihe verliehenen unverlierbaren Amtsgewalt theoretisch bestimmte, der hatte auch im Konflikt über die Zukunft der Kirchenverfassung alle Trümpfe in der Hand. Es waren die Mendikanten, welche die Unterscheidung von iurisdictio und ordo wenn auch nicht für sich vereinnahmten, so doch besetzten.⁷² Bemerkenswert daran ⁷⁰ Diese Bemerkung in: J M, Die Rolle der Bettelorden im Umbruch der politischen Theorie an der Wende zum 14. Jahrhundert, in: K E (Hg.), Stellung und Wirksamkeit der Bettelorden in der städtischen Gesellschaft, Berlin 1981 (Berliner Historische Studien 3 / Ordensstudien II), 119–153, 132. Vgl. zur Gesamtsituation auch J M, Geschichtsprozess und zeitgenössisches Bewusstsein – Die Theorie des monarchischen Papats im hohen und späten Mittelalter, HZ 226 (1978), 564–599. ⁷¹ Der Klassiker in der Darstellung dieses Streits: Y C, Aspects écclesiologiques de la querelle entre medicants et séculiers dans la seconde moitié du XIII siècle et le début du VIX, AHDL 36 (1961), 35–151. Die Theorien der Säkularkleriker werden eingehend beleuchtet von J T M, The Ecclesiology of the Parisian Secular Masters 1250– 1320, PhD Thesis Cornell University 1972 (masch.). ⁷² So die zusammenfassende Beobachtung von M, The Ecclesiology, 84 Anm. ge-
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ist, dass gerade sie diese Unterscheidung dazu verwendeten, das Verhältnis der Amtsgewalten in der Instanz des Priesters zu analysieren, und schon dadurch die Position der Säkularkleriker unterliefen, die wie der große intellektuelle Exponent der Säkularen, Wilhelm von St. Amour, das parochiale Priestertum allein als untergeordnetes Element der Diözese betrachteten.⁷³ Zugute kam den Mendikanten dabei zweifelsohne, dass sie sich – und hier vor allem die Dominikaner – der neuen durch die Rezeption des Aristoteles eröffneten wissenschaftlichen Methoden und Theorien zu bedienen wussten, denen sie schon allein deshalb aufgeschlossener gegenüber standen, weil sie selbst noch keine intellektuellen Traditionen zu verteidigen hatten.⁷⁴ In der akademischen Qualifikationsschrift des jungen Dominikaners Thomas von Aquin, dem Kommentar zu den Sentenzen von Petrus Lombardus,⁷⁵ bündelte sich die Theorieentwicklung, welche die mendikantische Theologie bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts in Bezug auf das kirchliche Amt und die es bestimmenden Amtsgewalten genommen hatte.⁷⁶ Der Aquinate gab dieser Entwicklung zugleich eine Richtung, die noch im 20. Jahrhundert Willibald M. Plöchl feststellen ließ, dass das Verhältnis von Weihe- und Jurisdiktionsgegen Congar: „It is true that William [Wilhem von St. Amour, CVG] and later secular masters did not use these terms as often as the friars but instead used much older terminology as ‚cura animarum‘, ‚potestas‘, or ‚regimen animarum‘. However, William and later secular theologians nevertheless accepted this distinction and on occasion employed it in the common fashion“. ⁷³ M, The Ecclesiology, bes. 84–92. ⁷⁴ Zum Vordringen des Aristotelismus in die Analyse des Amtsgedankens bei den Dominikanern siehe L H, Das scholastische Verständnis von Kirchenamt und Kirchengewalt unter dem frühen Einfluß der aristotelischen Philosophie („Per actus cognoscuntur potentiae“), Scholastik 36 (1961), 1–22. ⁷⁵ Ich benutze die beste derzeitige, weil verschiedene frühere Ausgaben zusammenführende Edition des Sentenzenkommentars (wie des Gesamtwerks des Aquinaten): www.corpusthomisticum.org [April 2011]. Vgl. zu den verwendeten Editionen: www.corpusthomisticum. org / reoptedi.html [April 2011]. Ich habe den Text auch verglichen mit: T A, Opera omnia. Ed. S. E. F et P. M. Ed. nova, 34 Bde., Paris 1839–95, hier Bde. 711 (Paris 1882) sowie ., Scriptum super quattuor libros sententiarum, ed. P M, Paris 1929. Eine kritische Ausgabe des Sentenzenkommentars ist bislang nicht in Sicht. ⁷⁶ Die Überschneidungen mit anderen mendikantischen Theologen, vor allem Bonaventura, dokumentiert ausführlich C Z, Aquinas’ Conception of the Papal Primacy in Ecclesiastical Government, AHDL 48 (1973), 97–134. Für das derzeitige katholische Interesse an einer historischen Situierung des Aquinaten und seiner Institutionenvorstellung ist bezeichnend, dass es so gut wie gar nicht stattfindet: Vgl. die um alles Jurisdiktionelle völlig unbekümmerte Studie von G S, Thomas Aquinas’ Vision of the Church. Fundaments of an Ecumenical Theology, Mainz 1987 (Tübinger theologische Studien 27), sowie das Fehlen einer Beschäftigung mit der Ekklesiologie des Aquinaten in N K (Hg.), The Cambridge Companion to Aquinas, Cambridge 1993. Vgl. hingegen die ältere insgesamt sehr informative Studie von A D, De Juridische Structuur van de Kerk volgens Sint Thomas van Aquino, Leuven 1949.
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walt von Thomas von Aquin ‚geklärt‘ sei.⁷⁷ Selbst wenn man dieser theoretischen Objektivitätsanmutung nicht folgt, so steht fest, dass die im Sentenzenkommentar lehrhaft zusammengeführten Überlegungen die ausführlichste Erörterung dieses Problemzusammenhangs im Werk des Aquinaten darstellen, von denen spätere Generationen von Theologen und Juristen gezehrt haben – nicht zuletzt deshalb, weil sie in Überarbeitung zur Ergänzung der Summa theologiae herangezogen wurden. Nach dem Dekret Gratians bilden diese Ausführungen eine weitere zentrale Weichenstellung des kirchlichen Amtsgedankens im Mittelalter. Der Sentenzenkommentar, den Thomas von Aquin an der Universität Paris zwischen 1252 und 1256 verfasste,⁷⁸ legt nämlich jene theoretische Dynamik offen, die zur allmählichen Verdrängung des parochialen Priestertums aus dem Fokus der kirchlichen Amtstheorie beitrug; wir werden darauf noch zurückkommen. 2.1. Sakramentaler Kirchenzweck und Weihegewalt Die wissenschaftlich-kritische Sichtung der theologischen Tradition und der akute Konflikt an der Universität Paris sind im Denken des Aquinaten untrennbar miteinander verbunden. Das zeigt schon die Eingangspassage zur Distinktion 24 des vierten Buchs, in der – den Üblichkeiten der literarischen Gattungstradition des Sentenzekommentars folgend – vom ordo gehandelt wird. Den Ausgangspunkt der Erörterungen stellt bei Thomas nämlich nicht eine Besprechung der vorfindlichen Ämterordnung der Kirche dar, sondern die allgemeinere Frage, ob es einer Ordnung innerhalb der Kirche überhaupt bedürfe. Diese Frage ist nur scheinbar rhetorisch. Denn der Aquinate verhandelt damit die Bedeutung und Reichweite der theologischen Autorität von Pseudodionys, dessen Hierarchienlehre bei den Säkularen hoch im Kurs stand. Wilhelm von St. Amour hatte sie aufgenommen und die Analogie von Engelshierarchie und Hierarchie der sichtbaren Kirche behauptet, was er mit einer kirchenpolitischen Spitze gegen die Mendikanten verband: Er verwies sie mit Pseudionys wie alle Mönche in den ordo perficiendorum, die zusammen mit den gläubigen Laien und den Katechumenen dem ordo perficientium, den Bischöfen, Priestern und Diakonen, in der „Passivität des Empfangens und Gehorchens“ unterstellt sind, und durch ihn allererst der Vervollkommnung zugeführt werden.⁷⁹ Dieser ⁷⁷ W M. P, Geschichte des Kirchenrechts Bd. II: Das Kirchenrecht der abendländischen Christenheit 1055–1517, Wien u. a. 1962², 50. ⁷⁸ Vgl. zu den überlieferungs- und literarhistorischen Fragen nach wie vor M G, Die Werke des hl. Thomas von Aquin. Eine literarhistorische Untersuchung und Einführung. Dritte stark vermehrte Auflage, Münster 1949, bes. 286–290. ⁷⁹ Zitat: M, Die Rolle der Bettelorden, 138. Vgl. ebd., 137–140 mit einer Zusammenfassung der Position von Wilhelm von St. Amour und der Säkularen in Beziehung auf Ps. Dionys mit weiterer Literatur. Vgl. ferner C, Aspects écclesiologiques, 114–123.
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Ordnungsvorstellung, in der die naturhaften bzw. gnadenhaften Stufendifferenzen des Seienden durch Vermittlung der jeweils nächsthöherliegenden Stufe mit dem höchsten Seienden – dem Ziel und Zweck von allem – verbunden sind, stimmt der junge Aquinate allerdings nur insoweit zu, als er sie als Ausdruck des Schöpferwillens Gottes wertet: „Gott wollte seine Werke zur Ähnlichkeit mit sich geleiten, soweit es möglich war, damit sie vollendet würden, und er durch sie erkannt werden könne. Und deswegen, damit er in seinen Werken nicht nur repräsentiert werde, wie er in sich ist, sondern auch wie er Anderes beeinflusse, hat er allen dieses natürliche Gesetz auferlegt, dass die letzten durch die mittleren vollendet werden und die mittleren durch die ersten, wie Dionysius sagt“.⁸⁰
In dieses Bild einer aufsteigenden Vervollkommnung zeichnet Thomas die Kirche ein, die die Mitte zwischen dem status naturae et gloriae bilde⁸¹ und durch die Austeilung der Sakramente andere Menschen Gott angleiche.⁸² Doch mehr als eine Bestimmung des Beitrags der Kirche in der heilsgeschichtlichen Entelechie lässt sich für Thomas aus Pseudionys nicht gewinnen, allzumal kein binnenkirchliches Ordnungsprinzip für die Ämter. Während nämlich der Unterschied der Engel nach ihren Unterschieden der (naturhaft vermittelten) Gnade gegeben sei, sei bei Menschen der Unterschied untereinander weder nach der allen Menschen gemeinsamen Natur noch nach dem Unterschied der gratia gratum faciens zu bemessen, da diese dem Menschen verborgen bleibe. Damit lehnt Thomas eine Interpretation des ordo-Gedankens ab, die gesellschaftliche und binnenkirchliche Verhältnisse nur als statische Strukturverhältnisse auffasst, was Wilhem von St. Amour in seiner antimendikantischen Pseudodionysinterpretation ja durchaus bezweckte.⁸³ Dort zit. (ebd., 120) die Unterscheidung der beiden ordines bei Wilhelm von St. Amour aus De periculis: „Cum igitur in ecclesiastica hierarchia, quae ad instar coelestis hierarchiae ordinata est, … non sint nisi duo ordines, scilicet ‚ordo perficientium‘, qui est superior, habens tres gradus, scilicet ‚episcopos, persbyteros et diaconos‘ sive ministros, et ‚ordo perficiendorum‘, qui est inferior, habens similiter tres gradus, ‚viros‘, scilicet ‚regulares‘, qui et ibi ‚monachi‘ appellantur, et ‚fideles laicos et catechumenos‘ …“. ⁸⁰ Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 1 a. 1 qc. 1 co: „… Deus sua opera in sui similitudinem perducere voluit, quantum possibile fuit, ut perfecta essent, et per ea cognosci posset; et ideo ut in suis operibus repraesentaretur non solum quod in se est, sed etiam secundum quod aliis influit, hanc legem naturalem posuit omnibus, ut ultima per media perficerentur, et media per prima, ut Dionysius dicit“. ⁸¹ Vgl. Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 1 a. 1 qc. 1 s. c. 2: „… status Ecclesiae est medius inter statum naturae et gloriae“. ⁸² So die Fortsetzung von Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 1 a. 1 qc. 1 co: „Et ideo, ut ista pulchritudo Ecclesiae non deesset, posuit ordinem in ea, ut quidam aliis sacramenta traderent, suo modo Deo in hoc assimilati, quasi Deo cooperantes, sicut etiam in corpore naturali quaedam membra aliis influunt“. ⁸³ Vgl. zur Auseinandersetzung des Aquinaten mit Ps. Dionys die Studie von D E. L, Thomas Aquinas and Conceptions of Hierachy in the thirteenth Century, in: A Z (Hg.), Thomas von Aquin. Werk und Wirkung im Licht neuerer For-
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Gleichwohl fordert die heilsgeschichtliche Rolle der Kirche, dass die binnenkirchliche Ordnung ihrem sakramentalen Endzweck funktional entspricht. Für Thomas wird das dadurch sicher gestellt, dass die Kirche nicht selbst Stufen der Gnade abbildet, sondern den Menschen die Partizipation an den sakramentalen Gnadenmitteln ermöglicht. Genau dies ist nun für ihn das gliedernde Prinzip der kirchlichen ordines: „Aber die ordines der streitenden Kirche betreffen die Partizipation an den Sakramenten und die communicatio, welche die Ursache der Gnade sind und gewissermaßen der Gnade vorangehen. Und so ist die gratia gratum faciens nicht hinsichtlich der Notwendigkeit unserer ordines erfordert, sondern allein die potestas, die Sakramente zu verteilen. Und demgemäß wird der ordo nicht nach dem Unterschied der gratia gratum faciens bemessen, sondern nach dem Unterschied der potestas.“⁸⁴
Schon Reinhold Seeberg war es ein Rätsel, warum Thomas später dennoch die Weihe als Eingießung der gratia gratum faciens ansah.⁸⁵ Die Frage nach der Gnadenteilhabe des Geweihten spielt bei Thomas in den Ausführungen über die Weihestufen nämlich überhaupt keine weitere Rolle. Denn die sich darin abzeichnende Vorstellung erfordert nur eine Beschreibung der unter den ordines herrschenden Gewaltenunterschiede, wofür der Aquinate zwei Tätigkeiten unterscheidet: „Jeder beliebige ordo hat sowohl eine Tätigkeit in Bezug auf das Sakrament selbst als auch eine, die auf die Austeilung der Sakramente hingeordnet ist“.⁸⁶ Die materiale Durchführung dieses Gedankens engt diesen relativ weiten Begriff des ordo, der in Bezug auf die kirchlichen Sakramentshandlungen überhaupt bestimmt ist, sichtlich ein. Bereits lange vor Thomas hatte sich, wie wir am Ende des letzten Abschnitts bereits vermerkt haben, in der Schultheologie die Konsekration der Eucharistie als Zentrum des ordo-Gedankens herausgeschält. Doch erst Alexander von Hales, der zum Franziskaner gewordene Pariser Universitätslehrer, hatte die dogmatische Tendenz des IV. Lateran aufnehmend dieses Zentrum zum Prinzip erhoben: „Ordo est sacramentum spiritualis potestatis ad aliquod officium ordinatum in Ecclesia ad sacramentum communionis“.⁸⁷ Diese Definition erfreute sich zumindest unter den mendischungen, Berlin / New York 1988 (Miscellanea Mediaevalia 19), 261–277, bes. 265–270 für den hier skizzierten Kontext. ⁸⁴ Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 1 a. 1 qc. 1 ad 3: „Sed ordines Ecclesiae militantis respiciunt participationem sacramentorum, et communicationem, quae sunt causa gratiae, et quodammodo gratiam praecedunt; et sic non est de necessitate nostrorum ordinum gratia gratum faciens, sed solum potestas dispensandi sacramenta; et propter hoc etiam ordo non attenditur per distinctionem gratiae gratum facientis, sed per distinctionem potestatis“. ⁸⁵ R S, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Dritter Band: Die Dogmenbildung des Mittelalters, Darmstadt 1959⁶ (Unveränderter ND der Ausgabe Leipzig 1930⁴), 554 f. ⁸⁶ Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 1 a. 2 qc. 2 ad 1: „… quilibet ordo vel habet actum circa ipsum sacramentum, vel ordinatum ad sacramentorum dispensationem …“. ⁸⁷ Zit. O, Das Weihesakrament, 76.
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kantischen Theologen zunehmender Beliebtheit. Der Lehrer des Aquinaten, Albertus Magnus, nahm sie in seinen Sentenzenkommentar auf, und dieser Spur folgt auch Thomas: „Denn die potestas ordinis erstreckt sich entweder auf die Konsekration der Eucharistie selbst, oder auf irgendeinen darauf hingeordneten Dienst“.⁸⁸ Für die Rangabfolge der Weihegrade ist dabei die erste Tätigkeit ausschlaggebend, da die Nähe der Weihestufe zum Vollzug der Eucharistie ihre Position innerhalb dieser Stufenreihe bestimmt. In dieser Tätigkeit erweist sich, vom Ostiarier aufsteigend, jede niedere Stufe von der Gewalt einer höheren abhängig. Es ist nun nicht nötig, von hier aus die Konstruktion des Aquinaten der sieben Weihestufen – ein Konsens über die Anzahl der ordines bildet sich in dieser Zeit erst allmählich heraus – im Einzelnen nachzuzeichnen. Das offensichtliche Problem dieser Konstruktion ist die Stellung des Priesters, der als höchster ordo die unmittelbare Gewalt über die Konsekration der Eucharistie besitzt, was nahelegen könnte, dass die potestas ordinis dem Priesters immer den Vollzug des Sakraments für die Gläubigen ermöglicht. Gerade das ist dem Aquinaten zufolge aber nicht der Fall; die potestas ordinis ist hinsichtlich ihres praktischen Vollzugs eingeschränkt. Das liegt nach Thomas an der sekundären Tätigkeit des Priesters, welche die Verteilung der Sakramente betrifft. Denn die Konsekrationsgewalt des Priesters allein versetzt die Empfänger der Eucharistie noch nicht in die Lage, an der Eucharistie auch wirklich teilzuhaben. Die Herstellung der notwendigen Bedingung des Eucharistieempfangs, die Sündlosigkeit, weist Thomas nämlich als sekundäre Tätigkeit des Priesters aus. Nur sind dafür andere sakramentale Vollzüge erforderlich. Über sie hat der Priester eine potentielle Verfügungsgewalt, insofern die auf die Sündlosigkeit des Empfängers zielenden Sakramente auch mit dem Opfer Christi verbunden sind, das wesenhaft in der Eucharistie präsent ist.⁸⁹ Damit hat der Aquinate in seiner Konzeption der Weihegewalt die Möglichkeit eröffnet, den höchsten sakramentalen ordo der Kirche einer noch höheren kirchlichen Gewalt zu unterstellen: „Der Priester hat zwei Tätigkeiten: eine prinzipielle, nämlich das wahre Corpus Christi zu konsekrieren; und eine sekundäre, nämlich das Volk zur Aufnahme dieses Sakraments vorzubereiten … Insoweit es die erste Tätigkeit betrifft, ist diese Tätigkeit des Priesters nicht von irgendeiner höheren Gewalt abhängig außer der göttlichen. Aber insoweit es die zweite betrifft, ist sie von irgendeiner Gewalt abhängig auch einer menschlichen. Jede Gewalt nämlich, die die Tätigkeit nicht ausführen kann außer durch ⁸⁸ Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 2 a. 1 qc. 2 co: „… potestas ordinis aut est ad consecrationem Eucharistiae ipsius, aut ad aliquod ministerium ordinandum ad hoc …“. Vgl. zu Albertus Magnus: H, Die kirchlichen Ämter, 16 f. ⁸⁹ Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 2 a. 1 qc. 2 ad 3: „… quod ordines ordinantur principaliter ad sacramentum Eucharistiae, ad alia autem per consequens; quia etiam alia sacramenta ab eo quod in hoc sacramento continetur, derivantur; unde non oportet quod distinguantur ordines secundum sacramenta“.
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gewisse vorausgesetzte Anordnungen, ist von der Gewalt abhängig, die jene Anordnungen gibt. Der Priester aber kann nicht lösen und binden außer durch die vorausgesetzte Jurisdiktion des Vorgesetzten, durch die ihm jene unterstellt werden, die er absolviert“.⁹⁰
Die hier von Thomas geschilderte Einschränkung der potestas ordinis durch die Jurisdiktionsgewalt ist dabei nicht zu verwechseln mit dem bei Gratian geschilderten Problem von potestas und executio potestatis. Denn im ordo-Traktat geht es dem Aquinaten allein darum, die innere Beschränkung der potestas ordinis darzulegen. Diese Beschränkung ist freilich bereits in der Konzentration der Defintion der potestas ordinis als Wandlungsgewalt angelegt. Jedoch treten dieser inneren Beschränkung der potestas ordinis in der Explikation der Jurisdiktionsgewalt der Kirche noch weitere Begrenzungen des priesterlichen ordo zur Seite. 2.2. Jurisdiktionsgewalt und heilsfördernde Kirchenleitung Gegenüber der klar eingegrenzten Weihegewalt stellt bei Thomas von Aquin die Jurisdiktionsgewalt ein weit weniger klar begrenztes Konzept dar. Denn es umfasst sowohl architektonische wie genetische Aspekte der gesamtkirchlichen Ordnungsstruktur, wobei die ersten noch der Logik des Sentenzenkommentars folgend im Rahmen der Distinktionen 24 und 25, die zweiten jedoch verstreut durch den gesamten Sentenzenkommentar entwickelt werden. In architektonischer Hinsicht, darauf weist schon die zuletzt zitierte Äußerung des Aquinaten hin, wirkt die iurisdictio durch Anordnung und Recht. Obwohl sie, auch das ist dem letzten Zitat zu entnehmen, nicht direkt in den Bereich der sakramentalen Heilsvermittlung eindringt, zieht sie dieser Grenzen. In diesem Sinn wird sie von Thomas von Aquin als die ‚höhere‘ Gewalt bezeichnet, da sie die einzelnen heilsvermittelnden Akte zu einem größeren Ganzen arrangiert und ordnet, letztlich also die kirchliche Gesamtverfassung. Damit steht die kirchliche Jurisdiktionsgewalt in deutlicher Analogie zur politischen Staatskunst, wie Thomas an dem Verhältnis der ordines zum bischöflichen Vorgesetzten ganz aristotelisch markiert:
⁹⁰ Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 3 a. 2 qc. 1 co.: „… sacerdos habet duos actus: unum principalem, scilicet consecrare verum corpus Christi; alium secundarium, scilicet praeparare populum ad susceptionem hujus sacramenti, ut prius dictum est. Quantum autem ad primum actum actus sacerdotis non dependet ab aliqua superiori potestate, nisi divina; sed quantum ad secundum dependet ab aliqua superiori potestate, et humana. Omnis enim potestas quae non potest exire in actum nisi praesuppositis quibusdam ordinationibus, dependet ab illa potestate quae illas ordinationes facit. Sacerdos autem non potest absolvere et ligare nisi praesupposita praelationis jurisdictione, qua sibi subdantur illi quos absolvit …“.
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„Die Gewalt des Bischofs verhält sich zu der Weihegewalt der Niederen wie die politische, die sich auf das bonum commune richtet, sich zu den niederen Künsten und Kräften verhält, die sich auf irgendein bonum speciale richten … Die Politik nämlich, wie es im ersten Buch der Ethik heißt, erlässt das Gesetz für die niederen Künste: nämlich, wer welche ausüben muss, sowohl wie oft und welcher Art“.⁹¹
Doch die potestas iurisdictionis, durch welche die Bischöfe die potestas ordinis der einzelnen Priester in ihrer Diözese verwalten, nimmt sich in gesamtkirchlicher Perspektive selbst als die Ausrichtung auf ein bonum speciale aus. Deshalb, so führt Thomas aus, muss eine Instanz angenommen werden, die mit einer „potestatem regitivam universalem respectu boni communis“⁹² ausgestattet ist und so die Einheit der Kirche und ihre Ausrichtung am gesamtkirchlichen Gemeinwohl garantiert: „Und das ist die Gewalt des Papstes. … Und zwischen dem einfachen Bischof und dem Papst gibt es andere Würdestufen, die den Stufen der Vereinigung entsprechen, gemäß denen eine congregatio oder communitas eine andere einschließt“.⁹³
Die Sonderstellung des Papstes als einer allen anderen Gewalten übergeordneter Gewalteninstanz wird in diesem ‚architektonischen‘ Zusammenhang also nach dem Umfang ihres Rechts- und Anordnungsbereiches bemessen. Ganz anders hingegen erscheint die Instanz des Papstes, wenn der Aquinate den genetischen Aspekt der Jurisdiktionsgewalt erörtert: Grundlegend dafür ist die Theorie der Gewaltenübertragung, die der Aquinate schon im zweiten Buch des Sentenzenkommentars entwickelt. Während die potestas ordinis in der Weihe gottunmittelbar verliehen wird, so ist die potestas iurisdictionis durch institutionelle Delegationen von Kompetenzen bestimmt. Thomas unterscheidet dabei zwei Möglichkeiten, wie sich höhere und niedere Gewalten aufeinander beziehen können. In dem ersten Fall verursacht die höhere die niedere Gewalt, weshalb diese ihre Kraft ganz aus der höheren gewinnt: ⁹¹ Super Sent., lib. 4 d. 25 q. 1 a. 1 co: „… potestas episcopalis se habet ad potestatem ordinum inferiorum sicut politica, quae conjectat bonum commune, ad inferiores artes et virtutes, quae conjectant aliquod bonum speciale, ut ex dictis patet. Politica autem, ut dicitur in 1 Ethic., ponit legem inferioribus artibus, scilicet quis quam debeat exercere, et quantum et qualiter“. ⁹² Die ganze Begründung in Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 3 a. 2 qc. 3 co: „… ubicumque sunt multa regimina ordinata in unum, oportet esse aliquod universale regimen supra particularia regimina: quia in omnibus virtutibus et artibus, ut dicitur in 1 Ethic., est ordo secundum ordinem finium. Bonum autem commune divinius est quam bonum speciale; et ideo super potestatem regitivam quae conjectat bonum speciale, oportet esse potestatem regitivam universalem respectu boni communis, alias non posset esse colligatio ad unum; et ideo cum tota Ecclesia sit unum corpus, oportet, si ista unitas debet conservari, quod sit aliqua potestas regitiva respectu totius Ecclesiae supra potestatem episcopalem, qua unaquaeque specialis Ecclesia regitur“. ⁹³ Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 3 a. 2 qc. 3 co: „… et haec est potestas Papae; … Et inter episcopum simplicem et Papam sunt alii gradus dignitatum correspondentes gradibus unionis; secundum quos una congregatio vel communitas includit aliam“.
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„und so verhält sich die Gewalt Gottes zu aller geschaffenen Gewalt; und so verhält sich auch die Gewalt des Kaisers zu der Gewalt des Prokonsuls; und so verhält sich auch die Gewalt des Papstes zu der ganzen geistlichen Gewalt in der Kirche; weil durch den Papst selbst die unterschiedlichen Würdestufen in der Kirche sowohl verteilt als auch geordnet werden; weshalb jene Gewalt eine Art Fundament der Kirche ist, wie es in Matthäus 16 [Mt 16, 18 f.] erscheint“.
Im zweiten Fall können sich höhere und niedere Gewalt so aufeinander beziehen, dass ihnen jeweils aus einer ihnen noch einmal überlegenen Gewalt Kraft zukommt: „und auf diese Weise verhalten sich die Gewalten der Bischöfe und der Erzbischöfe zueinander, die aus der Gewalt des Papstes herabsteigen“.⁹⁴
Die Instanz des Papstes ist, von hier aus gesehen, nicht bloß quantitativ, sondern vor allem qualitativ allen anderen kirchlichen Gewalteninstanzen überlegen, weil aus ihrer Gewalt alle anderen kirchlichen Jurisdiktionsgewalten fließen. Die umfassende Machtausdehnung des Papstes erscheint so als die äußere Seite der ausschließlichen jurisdiktionellen Machtkonzentration im Papstamt selbst. Mit dieser Erörterung schließt der Aquinate an die zeitgenössische Theorie der plenitudo potestatis des Papstes an, die von der Kanonistik in die Theologie gedrungen ist. Auch wenn er den Begriff selbst eher selten in seinem Sentenzenkommentar verwendet,⁹⁵ so ist die sachliche Übereinstimmung des Aqui⁹⁴ Die gesamte Passage lautet, Super Sent., lib. 2 d. 44 q. 2 a. 3 expos: „potestas superior et inferior dupliciter possunt se habere. Aut ita quod inferior potestas ex toto oriatur a superiori; et tunc tota virtus inferioris fundatur supra virtutem superioris; et tunc simpliciter et in omnibus est magis obediendum potestati superiori quam inferiori; sicut etiam in naturalibus causa prima plus influit supra causatum causae secundae quam etiam ipsa causa secunda, ut in Lib. de causis dicitur: et sic se habet potestas Dei ad omnem potestatem creatam; sic etiam se habet potestas imperatoris ad potestatem proconsulis; sic etiam se habet potestas Papae ad omnem spiritualem potestatem in Ecclesia: quia ab ipso Papa gradus dignitatum diversi in Ecclesia et disponuntur et ordinantur; unde ejus potestas est quoddam Ecclesiae fundamentum, ut patet Matth. 16. Et ideo in omnibus magis tenemur obedire Papae quam episcopis vel archiepiscopis, vel monachus abbati, absque ulla distinctione. Potest iterum potestas superior et inferior ita se habere, quod ambae oriantur ex una quadam suprema potestate, quae unam alteri subdit secundum quod vult; et tunc una non est superior altera nisi in his quibus una supponitur alii a suprema potestate; et in illis tantum est magis obediendum superiori quam inferiori: et hoc modo se habent potestates et episcopi et archiepiscopi descendentes a Papae potestate“. ⁹⁵ Vgl. Super Sent., lib. 4 d. 20 q. 1 a. 4 qc. 3 co: „Ad tertiam quaestionem dicendum, quod Papa habet plenitudinem pontificalis potestatis, quasi rex in regno; sed episcopi assumuntur in partem solicitudinis, quasi judices singulis civitatibus praepositi: propter quod etiam solos eos in suis litteris fratres vocat, reliquos autem omnes vocat filios. Et ideo potestas faciendi indulgentias plene residet in Papa, quia potest facere quod vult, causa tamen existente legitima; sed in episcopis est taxata secundum ordinationem Papae; et ideo possunt dare secundum quod eis taxatum est, et non amplius“. Ferner Super Sent., lib. 4 d. 24 q. 3 a. 3 arg. 8: „Praeterea, potestatis plenitudo residet penes Romanum pontificem“; Super Sent., lib. 4 d. 25 q. 1 a. 1 ad 3: „Ad tertium dicendum, quod Papa, qui habet plenitudinem potestatis pontificalis, po-
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naten mit der dekretalistischen Theorievariante der plenitudo potestatis nicht zu übersehen. Während nämlich das dekretistische Verständnis die plenitudo potestatis des Papsttums im Unterschied zu der plena potestatis des Bischofs als die Diözesangrenzen noch einmal umfassende Jurisdiktionszuständigkeit definierte,⁹⁶ also so, wie der Aquinate den hier architektonisch genannten Aspekt der Jurisdiktionsgewalt beschreibt, so hatte die Dekretalistik diesen Begriff um den hier genetisch genannten Aspekt erweitert; eine Position, die Sinibaldus Fieschi (später: Papst Innozenz IV.) in seinem Kommentar zu den päpstlichen Dekretalen des Liber extra endgültig zur herrschenden Meinung der Kanonisten ausgebaut hatte.⁹⁷ Vor Thomas hatten bereits Alexander von Hales, Bonaventura und auch Albertus Magnus diese Theorie aufgenommen und als Ordnungsprinzip für die kirchliche Hierarchie verwendet.⁹⁸ Die Vorstellung der absoluten jurisdiktionellen Papstmonarchie ist mit dieser Lehre der plenitudo potestatis nach den tastenden Anfängen des Decretum Gratiani, wo sie sich noch in dem Zusammenhang von auctoritas und potestas gleichsam versteckte, weitgehend abgeschlossen. Für das Amtsverständnis bedeutet sie Folgendes: Wenn die jurisdiktionelle Gewalt aus dem Amt des Papstes auf alle untergeordneten Instanzen fließt bzw. vom Papst nach unten delegiert wird, so betrifft das auch die dem Priester zukommende Jurisdiktionsgewalt in seiner Parochie. Normalerweise wird diese als cura animarum terminologisch gefasste parochiale Jurisdiktionsgewalt durch den Diözesanbischof delegiert, und stellt insoweit eine weiterdelegierte Jurisdiktionskompetenz des Papstes dar. Theoretisch steht bei Thomas von Aquin allerdings nichts mehr der Möglichkeit im Weg, dass die parochiale Jurisdiktionsgewalt auch direkt vom Papst delegiert werden kann und der übliche Instanzenweg umgangen wird. Denn zutiefst einschneidend für das Amtsverständnis ist die dem Papst durch dieses Verständnis der plenitudo potestatis zuwachsende Fähigkeit, faktisch alle einzelnen kirchlichen Handlungen, für welche die Jurisdiktionsgewalt erforderlich ist, zu steuern. Und diese Möglichkeit ist darin begründet, dass die Jurisdiktest committere non episcopo ea quae ad episcopalem dignitatem pertinent“; Super Sent., lib. 4 d. 38 q. 1 a. 4 qc. 2 co: „Ad secundam quaestionem dicendum, quod plenitudo potestatis in dispensando residet penes summum pontificem; alii autem participant de hac potestate quantum eis concessum est, ut quia omnes ad unum recurrere non possunt, per inferiores dispensationem recipere possint; unde in votis illis quae non de facili dispensationem recipiunt, nec frequenter, sed raro, sicut votum religionis et alia hujusmodi vota perpetua, solus Papa dispensare potest; in aliis autem temporalibus votis, sicut peregrinationum et jejuniorum et hujusmodi, possunt etiam episcopi dispensare, nisi aliquod horum sibi Papa reservaverit, sicut dispensatio in voto terrae sanctae“. ⁹⁶ Vgl. B T, Foundations of the Conciliar Theory. The Contribution of the Medieval Canonists from Gratian to the Great Schism. Enlarged new Edition, Leiden u. a. 1998 (SHCT 81), 129–134. ⁹⁷ T, Foundations, 134 f. Vgl. J. A. W, The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century, Traditio 20 (1964), 179–317, bes. 250–268. ⁹⁸ W, The Theory, 264 f.
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tionsgewalt aufgrund ihrer Delegierbarkeit auch devoluierbar ist, d. h. sie ist entziehbar. Mit den umfassenden Möglichkeiten der Gewährung einer Handlung sowie der Verweigerung einer Handlung ist es dem Papst daher möglich, die Jurisdiktionskompetenzen der niederen Instanzen nach seinem am bonum commune orientierten Gutdünken zu ordnen und gegebenenfalls umzuverteilen. Wie tief sich die Jurisdiktionsgewalt des Papstes damit in die sakramentalen Handlungsvollzüge der Kirche eingräbt, schildert der Aquinate in seinen Ausführungen zu den einzelnen Sakramenten. In diesen Zusammenhängen wird auch deutlich, wie seine Vorstellung von der iurisdictio von der bei Gratian zu findenden Unterscheidung von potestas und executio potestatis abweicht. Denn die plenitudo potestatis der päpstlichen Jurisdiktion bedeutet viel mehr als eine Steigerung der bischöflichen licentia. Die licentia, die einem Geweihten die executio seiner potestas erlaubt, ist eine rein formal-juristische Rechtmäßigkeitsbestimmung, die der potestas aber nichts mehr weiter hinzufügt als eben den Umstand ihrer erlaubten executio. Genau dieser Punkt ist beim Aquinaten anders, wie es besonders prägnant im Kontext seiner Ausführungen zum Bußsakrament und der hierfür erforderlichen executio clavis, also der Ausübung der sakramentalen Schlüsselgewalt des Priesters, zu Tage tritt: „der Schlüssel wird mit der Weihe gegeben. Aber die executio clavis braucht eine gebührende Materie, welche das durch die Jurisdiktion untergebene Volk ist. Und so hat er [der Priester], bevor er die Jurisdiktion hat, die Schlüssel, aber er hat nicht die Ausübung der Schlüssel“.⁹⁹
Die Jurisdiktionsgewalt ist demnach nicht bloß eine administrative Ausführungsbestimmung, sondern eine Ergänzung der sakramentalen potestas clavium, denn sie liefert allererst die Materie, auf die sich das sakramentale Handeln beziehen kann.¹⁰⁰ Diese Ergänzung ist in diesem Fall nötig, weil die Einzelakte des Bußsakraments (Reue, Bekenntnis und Genugtuung) die Mittätigkeit des Büßenden erfordern: „Aber unsere Tätigkeiten, weil sie in uns ihr Prinzip haben, können uns nicht von einem anderen verwaltet werden außer durch Befehl. Und daher ist es nötig, dass jener, der zur Verteilung dieses Sakraments bestimmt wurde, so beschaffen ist, dass er befehlen kann irgend etwas zu tun. Der Befehl irgendeines aber über einen anderen reicht nicht aus, außer er hat die Jurisdiktion über ihn.“¹⁰¹ ⁹⁹ Super Sent., lib. 4 d. 18 q. 1 a. 1 qc. 2 ad 2: „… clavis cum ordine datur; sed executio clavis indiget materia debita, quae est plebs subjecta per jurisdictionem; et ideo antequam jurisdictionem habeat, habet claves, sed non habet actum clavium …“. ¹⁰⁰ Vgl. dazu Z, Aquinas, 101 u. ö. ¹⁰¹ Super Sent., lib. 4 d. 17 q. 3 a. 3 qc. 4 co: „Actus autem nostri, cum in nobis principium habeant, non possunt nobis ab alio dispensari nisi per imperium; unde oportet quod ille qui dispensator hujus sacramenti constituitur, sit talis qui possit imperare aliquid agendum. Imperium autem non competit alicui in alium, nisi qui habet super eum jurisdictionem …“.
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Nun ist die hervorstechende Bedeutung der Jurisdiktion im Rahmen des Bußsakraments, die auch das von Gratian noch vertretene Institut der ‚Laienbeichte‘ zu seinem Ende bringt, natürlich selbst Ausfluss eines langen theologischen Deutungsprozesses, der angefeuert von der Einführung einer periodischen Bußpflicht im IV. Laterankonzil die ‚Verrechtlichung‘ der bußsakramentalen Vorstellung vorangetrieben hatte.¹⁰² Gleichwohl bildet auch in den anderen sakramentalen Zusammenhängen das Zusammenwirken von Jurisdiktionsund Weihegewalt beim Aquinaten das Kriterium, inwiefern ein kirchlicher Sakramentsvollzug heilswirksame Gültigkeit für sich beanspruchen kann. Allein der Umstand, dass der Aquinate dies in den Kontexten der einzelnen Sakramente in hoher kasuistischer Kunst durchspielt, weist den kategorialen Unterschied der potestas iurisdictionis zur licentia episcopi aus: Denn diese bezog sich auf das komplette Kompetenzbündel der potestas sacerdotalis und hat gerade keinen Unterschied zwischen deren Einzelakten gemacht. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass die Jurisdiktionsgewalt bei Thomas von Aquin auch quasisakramentale Kompetenzen an sich zieht, gerade im Bereich der Schlüsselgewalt und auch hier in Zuspitzung vorlaufender Transformationsprozesse. Dazu führt Thomas neben der priesterlichen Schlüsselgewalt, die sich auf das forum conscientiae bezieht – ein zuerst von Thomas verwendeter Begriff¹⁰³ –, noch eine andere Schlüsselgewalt in der Kirche ein: „Die andere Schlüsselgewalt erstreckt sich nicht unmittelbar zum Himmel selbst, sondern wird durch die streitende Kirche vermittelt, durch die jemand zum Himmel schreitet, indem durch sie jemand ausgeschlossen und zugelassen wird zur Gemeinschaft der streitenden Kirche durch die Exkommunikation und die Absolution. Und diese wird clavis jurisdictionis in foro causarum genannt“.¹⁰⁴
Dieser rein jurisdiktionellen Schlüsselgewalt ordnet Thomas den Ablass und die Exkommunikation zu.¹⁰⁵ In beiden Bereichen wirkt die gesamtkirchenleitende Jurisdiktionsgewalt, faktisch also das Papsttum, am Gesamtzweck der ¹⁰² Vgl. zu dem Deutungsprozess die Zusammenfassung bei H, Die Geschichte der scholastischen Literatur, 376–391. Zur Beichtpflicht des IV. Lateran und der dadurch in Gang gesetzten Entwicklung vgl. M O, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, Tübingen 1995 (BHTh 89), bes. 14–49 und 131–138. ¹⁰³ Vgl. dazu K M, Der Rechtscharakter der iurisdictio fori interni (1973), in: D., Schriften zum Kanonischen Recht, Hg. von Winfried Aymans u. a., Paderborn u. a. 1989, 548–560, bes. 555 f. ¹⁰⁴ Super Sent., lib. 4 d. 19 q. 1 a. 1 qc. 3 co: „Alia clavis est quae non directe se extendit ad ipsum caelum, sed mediante militante Ecclesia, per quam aliquis ad caelum vadit, dum per eam aliquis excluditur vel admittitur ad consortium Ecclesiae militantis per excommunicationem et absolutionem; et haec vocatur clavis jurisdictionis in foro causarum …“. ¹⁰⁵ Für die Exkommunikation vgl. die in der vorigen Fußnote genannte Stelle. Für den Ablass vgl. Super Sent., lib. 4 d. 20 q. 1 a. 3 qc. 2 ad 1: „Sed clavis jurisdictionis non est quid sacramentale, et effectus ejus arbitrio hominis subjacet; et hujus clavis effectus est remissio quae est per indulgentias …“.
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Kirche heilsfördernd mit. Dies geschieht im Ablass,¹⁰⁶ indem die Gesamtkirche die Unzulänglichkeiten der Strafbemessung und der Straferfüllung im Bußsakrament kompensiert. Denn der Ablass wirkt „zur Nachlassung der nach Reue, Absolution und Bekenntnis übriggebliebenen Strafen, seien sie auferlegt oder nicht“.¹⁰⁷ Dazu bedient sich die Jurisdiktionsgewalt der überschüssigen verdienstvollen Werke, welche die Kirchenmitglieder erbracht haben, mit denen die auf ein bonum privatum gerichteten Werke gleichsam aufgewogen werden. Damit entlastet der Ablass sowohl den Priester, der das Sakrament vollzieht, wie den Pönitenten.¹⁰⁸ Denn eine ungenügende Bemessung der Genugtuungsstrafen verliert ihre das Seelenheil gefährdende Dimension damit ebenso wie die Unzulänglichkeit des Pönitenten, eine auferlegte Strafe zu erfüllen. Die Exkommunikation¹⁰⁹ hingegen wirkt heilsfördernd, indem sie die Feststellung einer besonders schweren Schuld durch eine gesamtkirchliche Strafe vertieft. Da Strafen nach Thomas Arzneien sind, ist es das Ziel der Exkommunikation, die Beschämung des Sünders durch Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft und dem gesellschaftlichen Miteinander der Christen zu steigern, um damit bei ihm Bußbereitschaft und tiefe Zerknirschung hervorzurufen. Mit dem Ausspruch der Exkommunikation dient die Jurisdiktionsgewalt dem kirchlichen Gesamtzweck dadurch, dass sie den Sünder zur Rückkehr bewegen will, um dann durch ihre sakramentale Gnadenvermittlung ihm das ewige Seelenheil zu sichern. Natürlich werden Ablass und Exkommunikation nach der Auffassung des Aquinaten nicht stets und ständig in der Kirche gebraucht. Allerdings stehen sie als Instrumente bereit, um im Bedarfsfall dem Gläubigen bzw. schweren Sündern beizustehen. Thomas von Aquin legt in diesem Zusammenhang größten Wert darauf, dass diese Instrumente gerade nicht in den üblichen Zuständigkeitsbereich der Parochialpriester fallen, sondern kraft Gewaltendelegation aus der plenitudo pontificalis potestatis durch kirchliche Richter, Legaten usf. angewandt werden – von Nichtgeweihten also genauso, wie von jeder dazu in Stand gesetzten Weihestufe.¹¹⁰ Überblickt man den Umfang und die vielfältigen Bezüge der Jurisdiktionsgewalt im Denken des Aquinaten, so wird man das Urteil wagen können, dass sie bei ihm nicht nur im Vergleich mit der Weihegewalt die höhere Gewalt in ¹⁰⁶ Super Sent., lib. 4 d. 20 q. 1 a. 3–5. ¹⁰⁷ Super Sent., lib. 4 d. 20 q. 1 a. 3 qc. 1 co: „… valent et quantum ad forum Ecclesiae, et
quantum ad judicium Dei ad remissionem poenae residuae post contritionem et absolutionem et confessionem, sive sit injuncta, sive non“. ¹⁰⁸ Vgl. zur Geschichte des Ablasses O, Pflichtbeichte, 103–117 (112–117 zu Aquin). ¹⁰⁹ Super Sent., lib. 4 d. 18 q. 2. ¹¹⁰ Vgl. nur für die Exkommunikation: Super Sent., lib. 4 d. 19 q. 1 a. 1 qc. 3 co: „… haec vocatur clavis jurisdictionis in foro causarum; et ideo hanc etiam non sacerdotes habere possunt, sicut archidiaconi vel clerici, et alii qui excommunicare possunt“. Für den Ablass: Super Sent., lib. 4 d. 20 q. 1 a. 3 qc. 2 ad 1: „… et ideo etiam legati non sacerdotes indulgentias concedere possunt“.
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dem zu Anfang dieses Abschnitts erwähnten aristotelischen systematischen Sinn darstellt, sondern auch die für das kirchliche Leben insgesamt ungleich bedeutsamere. Die weiheunabhängige Jurisdiktionsgewalt legt sich um alle Tätigkeiten, die überhaupt von kirchlichen Amtsträgern ausgeübt werden können, und stellt diese damit der päpstlichen Gewalt zur steuernden Verfügung bereit. Insofern erweist sich die Jurisdiktionsgewalt beim Aquinaten als das gestaltende Prinzip der gesamtkirchlichen Ordnung, wohingegen der Weihegewalt mit ihrem Bezug auf die seit dem IV. Lateran dogmatisierte religiöse Mitte der Kirche eine gewisse Statik nicht abzusprechen ist. Auch hier sind die kirchenpolitischen Implikationen der Gewaltenlehre bei Thomas mit Händen zu greifen, was allerdings – wie nun dargestellt werden soll – nicht der einzige problemhistorische Ertrag ist, den der Aquinate dem späteren kirchlichen Amtsgedanken mit auf den Weg gab. 2.3. Amt und potestates: Zur Gewichtung des Gewaltenverhältnisses Die Ausbildung der kirchlichen Gewaltenlehre, wie wir sie hier bei Thomas von Aquin beobachtet haben, hat in vielerlei Hinsicht an kirchliche Transformations- und theologische Deutungsprozesse angeschlossen und sie hat im Bereich der Praxis einzelner amtlicher Regelungen, wenn überhaupt, nur graduelle Veränderungen hervorgebracht. Für das erste ließe sich natürlich auf die im kanonistischen und scholastischen Denken auseinandertretenden Gewichtungen von ordo und iurisdictio sowie deren Abkopplung im neuen kirchlichen Ämterrecht verweisen, und für das zweite wird anzunehmen sein, dass die Frage, wie die Jurisdiktionsgewalt zur Weihegewalt in der executio hinzutritt, für die praktisch relevante Gültigkeitsbestimmung von kirchlichen Sakramentshandlungen keinen effektiven Unterschied machte – auch bei Gratian blieben die außerhalb der Kirche vollzogenen Sakramentshandlungen heilsunwirksam. Doch insgesamt hat die Gewaltenlehre die Vorstellung vom kirchlichen Amt grundlegend umgebaut. Ihr theoretischer Charme liegt dabei nicht zuletzt in ihrem abstrakteren, aber zugleich einfacheren Zugriff auf den Problemkomplex des kirchlichen Amts. Denn sie erfasst das ‚Amt‘ nicht mehr über die Zusammenhänge von ordo, officium und auctoritas bzw. potestas, wenn es um die Amtststellung geht, oder über die Zusammenhänge von ordo, officium, potestas und licentia, wenn es um die Amtsausübung geht, sondern so, wie es Uwe Wolter zusammenfasst: „Kirchenämter sind zu unterschiedlichen Zwecken eingerichtet, und demgemäß sind sie in unterschiedlicher Weise mit den einzelnen Elementen der potestas ordinis und der potestas iurisdictionis ausgestattet“.¹¹¹ ¹¹¹ U W, Art. „Verwaltung, Amt, Beamte V.–VI.“, in: GGB 7 (1992), 26–47, hier:
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Für die legitimatorischen Strukturen und steuerungspraktischen Verfahrensregeln, die für die kirchlich-organisatorischen Ordnungsbemühungen hinsichtlich des Amtes relevant sind, bedeutet das einen kaum zu überschätzenden Gewinn an institutioneller Praktikabilität und insoweit auch theoretischer Plausibilität. Allerdings hat dieser Gewinn auch Kosten – zumindest im Einflussbereich der Mendikanten. Denn die Gewaltenlehre des Aquinaten kann ihren aggressiven Antitraditionalismus kaum kaschieren. Geprägt wird seine Gewaltenlehre ja von zwei Konzentrationsprozessen, die von einer gegenläufigen Dynamik bestimmt sind: Die potestas ordinis wird allein über die Konsekration der Eucharistie definiert, in einen rein sakramentalen Verweisungszusammenhang hineingestellt und so sektorial beschränkt. Die potestas iurisdictionis hingegen wird in der Instanz des Papsttums gebündelt und mithilfe der Lehre von der plenitudo potestatis institutionell entschränkt – einzig und allein der primäre Akt der priesterlichen Konsekrationsgewalt bleibt ihrem Zugriff entzogen. Die Wirkung dieser gegenläufigen Dynamiken auf die bei Gratian zu findende ‚traditionelle‘ Amtskonzeption ist aus deren Sicht desaströs: Für die kirchliche Amtstellung fällt einmal die Eingliederung in den Verband der ordo-Träger als notwendige Bedingung weg, die organisatorische Bedeutung einer Amtsstufe wird unabhängig von ihrer religiösen Funktion allein über die ihr kraft Jurisdiktionsgewalt zuwachsende Autoritätsposition bestimmt. Sodann wird hinsichtlich der parochialen Amtsausübung das Funktionsbündel der potestas sacerdotalis in seine Einzelbestandteile zerlegt. Und zuletzt wird der Zusammenhang von parochialer Amtsausübung und bischöflicher licentia durchlöchert, weil diese licentia, wie es noch die Bestimmungen Gratians nahelegten, kein genuines Eigenrecht der Bischöfe mehr darstellt, sondern Ausfluss der päpstlichen Alljurisdiktion ist. Sicher: Diese Auflösungen der traditionellen Einzelelemente der Amtsvorstellung und ihrer Zusammenhänge wird beim Aquinaten als eine Analyse der in ihnen ohnehin obwaltenden Gewalten präsentiert. Gleichwohl ist diese Analyse ein höchst konstruktives und gerade in dieser Hinsicht völlig neues Verfahren. Denn jedes kirchliche Amt erscheint unter diesen Bedingungen letztlich als Ausfluss, Schnittstelle und Repräsentation der unpersönlichen kirchlichen Gewaltenprinzipien von ordo und iurisdictio. Und diese sind selbst Mittel, den übergeordneten heilsgeschichtlichen Zweck der kirchlichen Gesamtinstitution umzusetzen, wobei sich die Erwartung des Aquinaten, wie seine Ausführungen zum Ablass und der Exkommunikation zeigen, sichtlich auf die iurisdictio richtet. Die kirchenpolitischen Implikationen dieses theoretischen Antitraditionalismus habe ich schon angedeutet. Dem Eindringen der Mendikanten in die Bereiche der seelsorgerlichen und parochialen Praxis werden alle Türen geöffnet, zumindest wenn das Papsttum dies will. Denn die Errichtung eines von
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den klassischen Diözesanrechten unabhängigen, von kirchlich legitimierten Ämtern getragenen sakramentalen Leistungsangebots erscheint unter den hier waltenden Voraussetzungen nicht einmal mehr als eine Ausnahme von der Regel, sondern bloß als ein anderer Anwendungsfall der Regel, die auch die klassischen Diözesanstrukturen durchwirkt. Freilich ist das sehr zugespitzt formuliert und an der ideenpolitischen Begriffsdynamik der mendikantischen Gewaltenlehre orientiert. Das ändert aber nichts daran, dass die Gewaltenlehre in den Händen der Mendikanten die Spielräume für deren Anliegen extrem erweitert, wobei das gerade durch eine Straffung der Theorieelemente des ‚kirchlichen Amtes‘ sowie der prinzipientheoretischen Bereinigung ihrer Verhältnisse erreicht wird. Mit der Ausrichtung der Amtsvorstellung an Gewaltenprinzipien, deren Einbettung in einen gesamtkirchlichen Organisationszweck und der systematischen Geschlossenheit der theoretischen Perspektive, verband sich die mendikantische Ekklesiologie in der Mitte des 13. Jahrhunderts mit den in der Entwicklung begriffenen dekretalistischen Korporationstheorien und ihren Vorstellungen der plenitudo potestatis.¹¹² Dieses Amalgam der Interessenkonvergenz von Mendikanten- und Papsttum verlagerte die theoretische Gewichtung der kirchlichen Gewaltenverhältnisse nachhaltig zu Ungunsten der potes¹¹² Vgl. dazu auch M, Geschichtsprozeß, 594. Ein zentrales Theorieelement für diesen Übergang war die Beziehung der plenitudo potestatis des Papstes auf das corpus mysticum, das von der plenitudo potestatis Christi über das corpus verum der Kirche, das in den sakramentalen Akten präsent ist, unterschieden wird. Vgl. dazu nur die Stelle bei Thomas mit Bezug auf Christus, Super Sent., lib. 4 d. 2 q. 1 a. 4 qc. 4 co: „Sed quia institutio sacramentorum videtur ad potestatem plenitudinis in sacramentis pertinere quam sibi Christus reservavit in sacramentis, cum ex institutione sacramenta habeant quod significent; ideo aliis probabilius videtur, quod sicut hominis puri non est sacramenta mutare, vel a sacramentis absolvere, ita nec nova sacramenta instituere; et ideo omnia sacramenta novae legis ab ipso Christo institutionem habent“. Mit Bezug auf den Papst vgl. Super Sent., lib. 4 d. 7 q. 3 a. 1 qc. 3 co: „Et quia gratia sacramentalis descendit in corpus mysticum a capite, ideo omnis operatio in corpus mysticum sacramentalis, per quam gratia datur, dependet ab operatione sacramentali super corpus domini verum; et ideo solus sacerdos potest absolvere in foro poenitentiali, et baptizare ex officio. Et ideo dicendum, quod promovere ad illas perfectiones quae non respiciunt corpus domini verum, sed solum corpus mysticum, potest a Papa, qui habet plenitudinem pontificalis potestatis, committi sacerdoti, qui habet actum summum super corpus domini verum; non autem diacono, vel alicui inferiori, qui non habet perficere corpus domini verum, sicut nec absolvere in foro poenitentiali. Non autem potest simplici sacerdoti committere promovere ad perfectionem quae respicit aliquo modo corpus domini verum; et ideo simplex sacerdos ex mandato Papae non potest conferre ordinem sacerdotii: quia ordines sacri habent actum supra corpus domini verum, vel supra materiam ejus“. Zur Entwicklung der Unterscheidung von corpus mysticum und corpus verum ist noch immer unübertroffen E K, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, 194–206. Die beste Gesamtdarstellung der mittelalterlichen Korporationslehren ist auch noch immer O G, Das Deutsche Genossenschaftsrecht. Dritter Band: Die Staats- und Korporationslehren des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, Darmstadt 1954 (ND der Ausgabe Breslau 1881), bes. 238–351 (die Lehre der Kanonisten). 416–501 (Kanonisten und Legisten). 502–644 (Publizisten).
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tas ordinis. Ihrer eigenen Binnenlogik folgend wurden nach Thomas von Aquin die ekklesiologischen Entwürfe von der Frage dominiert, was passieren sollte, wenn der Papst die Kirche gerade nicht im Sinn des bonum commune leitet und also die heilsgeschichtliche Rolle der Kirche gefährdet. Die daran anschließende breit debattierte Möglichkeit der Begrenzung und Regulierung der plenitudo potestatis pontificalis, die nur von den rigidesten Papalisten ignoriert wurde,¹¹³ war eine Debatte über die administrative Struktur der Kirche. Zunehmende politische Bedeutung kam diesem Problem ab dem Zeitpunkt zu, als Coelestin V. (1294), wie es boshaft hieß, „non de plenitudine potestatis sed simplicitatis“¹¹⁴ regierend, alsbald von seinem Amt zurücktrat und ihm der ungleich konfliktfreudigere Papst Bonifaz VIII. (1294–1303) folgte, der sich von Anfang an gewillt zeigte, die plenitudo potestatis in realpolitisches Kapital umzumünzen. In diesem theoretischen Problemkomplex, den Jürgen Miethke ausführlich geschildert hat,¹¹⁵ war die Frage nach den sakramentalen Amtsträgern funktionslos, und wurde zusammen mit der Rolle der potestas ordinis für die Kirche zusehends eingeklammert. Die Analysen der potestas iurisdictionis hingegen erreichten mit den durch die Rezeption der aristotelischen Politik bereitgestellten Kategorien und Theorien eine immense Verfeinerung. Dabei bildete sich ein Kritikpotential aus, das bei Gelegenheit die mendikantische Tendenz zur papstfreundlichen Interpretation der Gewaltenlehre in ihr Gegenteil verkehren konnte. Deutlich trat das zu Tage, als der Versuch der endgültigen kirchlichen Machtausdehnung des Papsttums den Franziskanern ins Gehege kam, die Interessenkonvergenz dieses Ordens mit dem Papsttum zerbrach und das franziskanische Ideal der apostolischen Nachfolge und Armut seine trotz aller Verkirchlichung des Ordens nie vollständig verdrängte fromme Konkurrenz zur päpstlichen Heilsanstalt geltend machte. Der wohl bedeutendste franziskanische Opponent zum Papsttum Johannes’ XXII., Wilhelm von Ockham, hat in seinen kirchenpolitischen Schriften fast alle Probleme der zeitgenössischen Korporationslehren angerissen, mit seiner eigenen Sozialphilosophie der plenitudo potestatis des Papstes die Grenzen aufzuweisen gesucht und sogar die Möglichkeit der Veränderung der Kirchenverfassung sowie eine – zeitweise – ohne den Papst auskommende Ordnung der Kirche in Betracht gezogen.¹¹⁶ Doch in all diesen Überlegungen spielte die sakramentale Heilsvermittlung der ¹¹³ So etwa bei Aegidius Romanus, vgl. J M, De potestate papae. Die päpstliche Amtskompetenz im Widerstreit der politischen Theorie von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2000 (SuRNR 16), 96–102. ¹¹⁴ Zit. bei J H, Das Papsttum. Idee und Wirklichkeit, Bd. 5: Der Einsturz, Stuttgart 1965, 74 mit 254 (Anm.). ¹¹⁵ M, De potestate papae. ¹¹⁶ Eine glänzende Übersicht bieten die von Miethke übersetzten Teile des Dialogus von Ockham: W O, Dialogus. Auszüge zur Politischen Theorie. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Miethke, Darmstadt 1992.
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Kirche, die hierzu nötigen Amtsträger und die ihnen eigene potestas ordinis keine Rolle, selbst wenn Ockham diese Dimension der Kirche und ihrer Ordnung vorausgesetzt und ihre Rolle nie in Abrede gestellt hat.¹¹⁷ Nur ein produktives Interesse haftete nicht an ihr. Allerdings war das Zurücktreten der potestas ordinis – und damit ihrer zentralen Trägerschicht des parochialen Priestertums – aus dem Interessenfokus der Ekklesiologie in den Generationen nach Thomas von Aquin nicht bloß das kirchenpolitische und ideologische Werk der großen Koalition von Mendikanten und papsttreuen Dekretalisten. So wie es sich bisher beurteilen lässt, haben dieser Konstellation die Vertreter des Säkularklerus ebenso zugearbeitet, indem sie sich zunehmend auf die Verteidigung der eingesessenen Bischofsrechte versteiften.¹¹⁸ Auf die Frage, wie die traditionellen bischöflichen Rechte das vom Papsttum auf dem IV. Laterankonzil formulierte Ziel befördern könnten, nämlich eine Intensivierung der sakramentalen Versorgung der Gläubigen zu erreichen, fiel den Exponenten des Weltklerus ganz im Unterschied zu den Mendikanten offensichtlich wenig ein. Und es steht außer Zweifel, dass die Päpste mit ihrer Förderung der neuen Orden gegen die Widerstände des Weltklerus dieses gesamtkirchliche Ziel erreicht haben. Dafür gaben ihnen die mendikantischen Theologen mit ihrer Verwendung der Unterscheidung von potestas ordinis und potestas iurisdictionis praktische Begründungsmöglichkeiten an die Hand. Eine alternative Deutung dieser Unterscheidung boten die Säkularen allein deshalb nicht an, weil sie diesen theoretischen Komplex den Mendikanten recht kampflos überließen. Insofern haben sie den vom IV. Laterankonzil formulierten Zielen auch nicht wirklich konstruktiv Rechnung getragen. Das vorläufige Ende des Konflikts zwischen Mendikanten und Weltklerus hat wiederum das Papsttum eingeläutet. Die von Bonifaz VIII. erlassene Bulle Super cathedram (1300) hat ihrer Umstrittenheit zum Trotz – erst nach langen Hin und Her wurde sie durch ihre Aufnahme in die Clementinen (1317)¹¹⁹ ge¹¹⁷ Das hat schon betont: G L, La naissance de l’Esprit laique au décline du moyen âge. Bd. 5: Guillaume d’Ockham. Critique des structures ecclésiales, Louvain u. a. 1963, 33–36. Bezeichnend für die argumentative Abstinenz Ockhams auf diesem Gebiet ist die Eröffnung in: W O, III Dialogus II iii, c. 1 (ed. G 926), in der Ockham erörtert, inwiefern dem Kaiser Gewalt super personas spirituales zukommt: Wie eigentlich immer wird bei Ockham hier die Möglichkeit erörtert, inwiefern das christliche Gesetz, die lex spiritualis, auch zur Verfügung nichtkirchlicher Instanzen steht; das ist aber von vorneherein eine Frage, die nur die potestas iurisdictionis betrifft – auf Fragen der Weihe und des Ordinationsrechts geht er nicht ein. ¹¹⁸ M, The Ecclesiology, passim, zeigt, wie sich die Position der Säkularen im Auslegunskampf von Dist. 21 c. 2 des Dekrets Gratians verhärtet; immer und immer wieder betonen sie, dass Petrus zwar als Erstem, aber in gleicher Gemeinschaft mit den Aposteln die Schlüsselgewalt verliehen worden ist, woraus dann deren Kompetenz zur Entsendung der 72 Jünger erwuchs. ¹¹⁹ Aufgenommen in: Clementinae, lib. III, titulus 7: De sepulturis, c. 2 (ed. F II, 1162–1164).
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meinkirchliches Recht – erreicht, dass die Reibereien zwischen beiden Gruppen auf lokale Ausmaße zurückgeschraubt wurden.¹²⁰ In ihr wurde ein Kompromiss zwischen Welt- und Mönchsklerus formuliert:¹²¹ Auf der einen Seite hatte die Bulle ein generelles Verbot der Mönchsseelsorge untersagt, wie es in der Hochzeit des Konflikts zwischen Säkularen und Mendikanten von den traditionellerweise bischofsrechtsfreundlichen Provinzialsynoden erlassen worden war, und räumte den Mendikanten grundsätzlich die Möglichkeit zur Seelsorge, Predigt und das Begräbnisrecht ein. Auf der anderen Seite jedoch sollten die Mendikanten die klassischen Parochialrechte berücksichtigen; während der normalen Gottesdienstzeiten durften sie nicht predigen und sie mussten ein Viertel der Einkünfte aus ihrer Begräbnistätigkeit an den Ortsklerus abführen. Weiterhin wurden den Mendikanten Seelsorgeprivilegien nicht generell erteilt, sondern sie waren territorial spezifiziert. Die Mendikanten hatten dabei auf geeignete Seelsorger zurückzugreifen, über deren Eignung und damit Gleichstellung zum sacerdos proprius der Parochie der Diözesanbischof des entsprechenden Gebietes befand; die licentia episcopi war insofern noch als allgemeines Aufsichtsrecht erhalten worden. So labil die von der Bulle Super cathedram hervorgerufene Stabilisierung des Verhältnisses zwischen Mendikanten und Weltklerus auch in der Folgezeit blieb, so haben die späteren Konflikte um die Bulle auf den Amtsgedanken keine Auswirkungen gehabt. Deshalb brauchen wir die Entwicklung dieses Konflikts hier nicht weiter zu verfolgen.¹²² Anders verhält es sich natürlich mit den durch diese Diskussion in die Amtstheorie eingeführten Elementen, nämlich der Ausrichtung der Amtsvorstellung an einem die gesamte kirchliche Institution umgreifenden Organisationszweck und der Unterscheidung von potestas ordinis und potestas iurisdictionis, die aus jeder Amtstheorie der folgenden Jahrhunderte nicht mehr wegzudenken waren. Wie schon im Übergang vom Dekret Gratians zu der Amtstheorie des jungen Aquinaten sparen wir uns die Schilderung der vielen Zwischenstufen und wenden uns statt dessen im nächsten Abschnitt der Amtskonzeption des Universitätskanzlers von Paris, Johannes Gerson, zu, welche die Ergebnisse der im 13. Jahrhundert angeschobenen Entwicklung in natürlich individueller Ausformung prägnant vor Augen stellt.
¹²⁰ Vgl. A H, Kirchengeschichte Deutschlands. Fünfter Teil, erste Hälfte Teil, Berlin 1958⁹, 330–332. ¹²¹ Vgl. auch U-S, Die Mendikanten als Konkurrenz zum Weltklerus, 218 f. ¹²² Vgl. dazu den Überblick bei U-S, Die Mendikanten als Konkurrenz zum Weltklerus, 220–222.
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3. Johannes Gerson: Das Amt im Umfeld des Konziliarismus Eins der zentralen Theoreme, welches die durch die mendikantische und dekretalistische Gewaltenlehre im 13. Jahrhundert angestoßene Debatte über die plenitudo potestatis hervorbrachte, war das der ‚Repräsentation‘. Diesem Gedanken kam während der Zeit der Papstkrise, die mit dem ‚Großen Schisma‘ von 1378 die Kirche erfasste, im sogenannten ‚Konziliarismus‘ eine tragende Rolle zu.¹²³ Denn der Repräsentationsgedanke stützte die älteren Überlegungen zu einer Verbesserung und Ausweitung der Regelungsmechanismen, die der Alljurisdiktion des Papstes ein institutionelles Gegengewicht zur Seite stellen sollten:¹²⁴ Ihm zufolge bildet das Papstamt die Schnittstelle zweier Repräsentationsverhältnisse. Auf der einen Seite stellt der Papst in seiner kraft der petrinischen Schlüsselgewalt gottunmittelbar verliehenen Funktion als vicarius Christi sichtbar die Herrschaft Christi über die Gesamtkirche dar.¹²⁵ Auf der anderen Seite steht der Papst in figura ecclesiae, d. h. er repräsentiert in seinem Amt, das bereits Sinibaldus Fieschi in seinem Dekretalenkommentar in dieser Hinsicht als ministerium ecclesiae bezeichnet hat, die Einheit der congegratio bzw. universitas fidelium.¹²⁶ Weil der Papst in diesem zweiten Verhältnis allerdings den Zusammenschluss Einzelner zu einer Körperschaft repräsentiert, legte es sich in Analogie zur weltlichen Herrschaft und ihrer Analyse nahe, dass den vom Papst Repräsentierten in der einen oder anderen Weise einen Einfluss auf dieses Verhältnis zugestanden werden muss, soll seine Herrschaft allgemein anerkannten Legitimitätsstandards entsprechen. Gestalt und Form eines institutionalisierten Gegengewichts war Gegenstand umfänglicher Debatten, weil je nach Akzentuierung des einen oder des anderen Repräsentationsverhältnisses unterschiedliche Möglichkeiten der Konzeption des Umfangs und des Ausmaßes dieses Gegengewichts eröffnet waren.¹²⁷ In diesem Kontext hat der Pariser Universitätskanzler Johannes Gerson einen Lösungsweg vor- und eingeschlagen, der die Hierarchie der kirchlichen Weiheträger zum Ausgangspunkt der Regeneration der gesamten kirchlichen ¹²³ Vgl. J M, Konziliarismus – die neue Doktrin einer neuen Kirchenverfassung, in: I H / A (Hg.), Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), Konstanz-Prager Kolloquium (11.–17. Oktober 1993), Konstanz 1996, 29–59. ¹²⁴ Vgl. die Übersicht bei A P, Art. „Repräsentation“, in: GGB 5 (1984), 509–547, bes. 510–514. ¹²⁵ Vgl. zu diesem Titel: M W, The Problem of Sovereignity in the later Middle Ages. The Papal Monarchy with Augustinus Triumphus and the Publicists, Cambridge 1964, 354–407. Ferner: H G. W, Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität, München 1976, 58–61. ¹²⁶ Zit. G, Das Deutsche Genossenschaftsrecht III, 249. Zu diesem Problemkomplex vgl. W, Imperiales Königtum, 194–205. ¹²⁷ Vgl. A H, Gegensätze im Kirchenbegriff des späteren Mittelalters, Das Luthertum 49 (1938), 225–240.
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Körperschaft machen sollte. Dass Gerson damit in vielerlei Hinsicht quer zu anderen Tendenzen innerhalb des ‚Konziliarismus‘ stand, macht schon die in der Forschung immer wieder notierte Schwierigkeit deutlich, ihn einer der vielen konziliaren Richtungen zuzuordnen, die die lexikalische Kartographie aufzuzählen pflegt.¹²⁸ Gerade dieses die Historiker des Konziliarismus irritierende Merkmal macht Gerson für die Problemgeschichte des mittelalterlichen Amtsverständnisses besonders interessant. Wie Gerson seine Insistenz auf die Weihe mit dem zeitgenössischen Repräsentationsgedanken zusammenbrachte, stellt dabei das zentrale systematische Problem seiner Konzeption wie den genuinen Beitrag Gersons zur Problemgeschichte der mittelalterlichen Amtsvorstellung dar. Für die Rekonstruktion der Amtstheorie Gersons greife ich auf die berühmte Schrift De potestate ecclesiastica zurück, die Gerson am 6. Februar 1417 dem Konzil von Konstanz präsentierte.¹²⁹ Wie alle Äußerungen Gersons zur Ekklesiologie und Amtstheorie steht De potestate ecclesiastica in einem konkreten kirchenpolitischen Zusammenhang, in dem der Pariser Universitätskanzler um theologisch begründete Orientierungsleistungen bemüht ist. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Gersons Schrift hatte das Konzil von Konstanz (1414–1418)¹³⁰ nur eine seiner drei causae, zu deren Bearbeitung es 1413 einberufen worden war, erfolgreich abgeschlossen. Mit der Verdammung der Meinungen Wyclifs und der Überantwortung von Johannes Hus an den höchsten Richter war die causa fidei, also die Herstellung der Glaubenseinheit durch Abwehr von Häresie, Mitte 1415 erledigt. Nun stand die kirchenpolitisch zentrale, allerdings ungleich kompliziertere causa unionis, die Wiederherstellung der äußeren Einheit der Papstkirche, an. Dazu drang das Konzil zuerst auf eine Deposition der drei bisher miteinander konkurrierenden Päpste, um den Weg zu Neuwahlen eines gesamtkirchlichen Papstes zu ebnen. Allein Benedikt XIII. (Avignonesische Obedienz) verharrte auch angesichts unsanften machtpolitischen Druckes hartnäckig auf seinen Ansprüchen auf das Papstamt, nachdem Johannes XXIII. (Pisaner Obedienz) am 29. Mai 1415 vom Konzil abgesetzt worden und Gregor XII. (Römische Obedienz) am ¹²⁸ Vgl. C R, Discretio spirituum. Kriterien geistlicher Unterscheidung bei Johannes Gerson, Würzburg 2001 (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 33), 107 f. Zu den lexikalischen Erfassungen des ‚Konziliarismus‘: M, Konziliarismus, 29 f. ¹²⁹ J G, Tractatus de potestate ecclesiastica et de origine juris et legum, D P II, 226–260. Über die Ausgaben der Werke Gersons und ihren Wert vgl. C B, Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986 (BHTh 70), 7–9. Zum Traktat vgl. vor allem G H M P M, Jean Gerson – Apostle of Unity. His Church Politics and Ecclesiology, translated by J. C. Grayson, Leiden 1999 (SHCT 94), 247–313. Ferner J B. M, Gerson and the Great Schism, Manchester 1960, 100–109. ¹³⁰ Ausführliche Literaturangaben zu diesem Konzil bei M, Konziliarismus, 56 f.
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4. Juli desselben Jahres von seinen Ansprüchen zurückgetreten war. Die damit entstehende Verschleppung, verbunden mit dem Eintritt der Spanier in das Konzilsgeschehen, katapultierte die schon zuvor erörterten prinzipiellen Fragen nach der Legitimität und Autorität des Konzils wieder in den Vordergrund der konziliaren Auseinandersetzungen. Am 1. Oktober 1416 ließ Kardinal Pierre d’Ailly, der Lehrer Gersons am Collège de Navarre und dessen Vorgänger im Amt des Universitätskanzlers von Paris, dem Konzil einen Tractatus de potestate ecclesiastica¹³¹ verlesen, um – wie Paul Tschackert formulierte – „der öffentlichen Meinung zur Klarheit zu verhelfen“.¹³² Gersons gut vier Monate später publizierter gleichnamiger Traktat ist eine Antwort auf diese Ausführungen d’Aillys. Es war die von d’Ailly vertretene Grundauffassung der Kirchengewalt, die Gerson herausfordern musste, basierte sie doch auf einer Vorstellung, der Gerson schon früher widersprochen hatte: D’Aillys Rekapitulation der Argumente für die Autorität und Legitimität des Konzils mündete, wie der gesamte Traktat den Gedanken von William von Ockham verpflichtet, in der sogenannten ‚Restkirchenlehre‘.¹³³ Allgemein besagt sie, dass die Kirche selbst unter den Bedingungen, dass die regulären Leitungsinstanzen von ihr abfallen oder sterben, dem Versprechen Christi gemäß (Mt 28, 20) notfalls in einer einzigen Person weiterbesteht. Doch in dieser Person bleiben, und das ist das korporationstheoretische Implikat dieser Lehre, alle Rechte der Kirche, ihre Ordnung sowie der Bezug der Kirche auf ihre weiteren Mitglieder virtuell vorhanden. Diese ‚Kirche‘ als persona ficta bzw. persona repraesentata fällt der letztverbliebenen Instanz als ihrem realen Repräsentanten zu. Wie Ockham geht d’Ailly dabei nicht davon ¹³¹ Hier nach der Ausgabe von D P II, 925–960. Überliefert ist er hier unter dem Titel: Tractatus de Ecclesiae, Concilii Generalis, Romanis Pontificis, et Cardinalium Autoritate. D’Ailly selbst hat aber für ihn den Titel: De potestate ecclesiastica verwendet; vgl. dazu F O, The Political Thought of Pierre d’Ailly. The Voluntarist Tradition, New Haven / London 1964, 49. ¹³² P T, Peter von Ailli (Petrus Alliaco). Zur Geschichte des grossen abendländischen Schisma und der Reformconcilien von Pisa und Constanz, Amsterdam 1968 (ND der Ausgabe Gotha 1877), 247. Eine Zusammenfassung der Schrift ebd., 248–256. Zur öffentlichen Meinung auf den Konzilien vgl. J M, Die Konzilien als Forum öffentlicher Meinung, DA 37 (1981), 736–773. ¹³³ Das Argument in D P II, 960. Zur Verbindung d’Aillys mit Ockham vgl. M, Konziliarismus, 53 f. (Rezeption am Collège de Navarre) und Oakley, The Political Thought, bes. 20–209. Zu Ockhams ‚Restkirchenlehre‘ vgl. V L, Die Aufwertung theologischer Laienkompetenz bei Wilhelm von Ockham, in: E S (Hg.), Dilettanten und Wissenschaft. Zur Geschichte und Aktualität eines wechselvollen Verhältnisses, Amsterdam / Atlanta 1996 (Philosophie & Repräsentation 4), 35–48; J M, Repräsentation und Delegation in den politischen Schriften Wilhelms von Ockham, in: A Z (Hg.), Der Begriff der repraesentatio im Mittelalter. Stellvertretung, Symbol, Zeichen, Bild, Berlin u. a. 1971 (Miscellanea Mediaevalia 8), 163–185; ., Konziliarismus, bes. 50–52. Vgl. zur kanonistischen Tradition dieses Modells auch G, Das Deutsche Genossenschaftsrecht III, 350 f.
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aus, dass dieses Repräsentationsverhältnis ‚absorptiv‘ zu verstehen ist, also Repräsentant und Repräsentiertes identisch sind,¹³⁴ auch wenn die Realrepräsentation in uno solo die notwendige Bedingung der Subsistenz der Kirche darstellt. Weil aber eine Differenz zwischen Repräsentant und Repräsentiertem besteht, so verfügt jener nach d’Ailly zwar nicht in vollem Umfang über die in der von ihm repräsentierten Kirche vorliegenden Rechte, allerdings über hinlängliche und ausreichende Kompetenzen, die Regeneration der kirchlichen Körperschaft durch die Verwendung geeigneter Mittel (wie ein Konzil) wieder in Gang zu setzen.¹³⁵ Anstößig für Gerson war an dieser kontrafaktischen Argumentation die Annahme, dass der letzte Realrepräsentant der Kirche ein getaufter ‚Laie‘ sein könnte.¹³⁶ Denn das würde, so hat Gerson bereits in verschiedenen Kontexten vor 1417 dargelegt, gerade dem Sinn der ‚Restkirchenlehre‘ widersprechen, die ja die Erhaltung nicht irgendeiner Kirche, sondern der real existierenden durch Gott zur Geltung bringen will. Den Hintergrund für diesen Einwand bildet die Auffassung vom Spender des Weihesakraments, der nach scholastischer Lehre selbst im äußersten Notfall ein Weiheträger von mindestens Priesterrang sein muss.¹³⁷ Sollte also die letzte Repräsentationsinstanz der Kirche ein ‚Laie‘ sein, so wäre nach Gerson eine Weitergabe der sakramentalen Gewaltendimension nicht mehr gewährleistet und die völlige Destruktion der Kirche unausweichlich: „Ecclesia deficere posset in suis gradibus & Officiis Hierarchicis; in suis etiam Sacramentis usque ad finem“.¹³⁸ Dabei hält Gerson nichts von den gedanklichen Szenarien, dass im Extremfall Gott selbst die Ordnung der Kirche in Bezug auf ihr sakramentales Heilshandeln wieder herstellen würde, indem er auf wunderbare Weise Priester hervorruft. Denn das käme, wie Gerson dem entgegenhält, der Errichtung einer neuen Institution mit einem neuen Sacerdo¹³⁴ Vgl. D P II, 960A: „Et si quaeratur: si Papa in his casibus recuset judicari [scil. seine Absetzung wegen Häresie, CVG], Concilium quid faciat? Respondetur, quod in hoc casu, si hoc recuset, sufficienter requisitus, faciendum esse sicut si, Sede vacante, similis occurreret necessitas. Et ad hoc evidens ratio, quia nisi vacante Sede, vel etiam renuente, Concilium celebrari posset, & per Ecclesiam remedium adhiberi, sequeretur quod Ecclesia non haberet sufficientem foecunditam & foecundam virtutem, ad se conservandum & continuandum, & sic posset penitus deficere Politia Christiana, quod est contra dictum Christi [Mt 28,20]“. Zu d’Aillys Repräsentationsverständnis vgl. O, The Political Thought, 146–154. ¹³⁵ Vgl. D P II, 960C: „ex quo datur intelligi, ad salutem Ecclesiae, posse congregationem ad salutem fidelium fieri, si illi ad quos regulariter pertinet, non possint, aut velint hoc exequi“. ¹³⁶ Zur Taufe als notwendige Voraussetzung vgl. O, I Dialogus V, c. 35 (ed. G 506, 40–45); dazu L, Die Aufwertung, 42. ¹³⁷ Vgl. den Überblick bei F G, Zur Lehre der Scholastik vom Spender der Firmung und des Weihesakraments, Paderborn 1920, bes. 137–146 zum Anfang des 15. Jahrhunderts. ¹³⁸ So in seiner aus akademischen Kommentaren entstandenen, auf dem Konzil von Konstanz (1415) distribuierten Schrift: De Auferabilitate Papae ab Ecclesia, D P II, 209–224, hier: 213A. Dazu vgl. M, Gerson, 88–93.
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tium und weiteren neuen hierarchischen Graden in der Kirche gleich, ungeachtet dessen, dass Gott dies könnte.¹³⁹ Ebenso absurd ist für Gerson die Meinung, dass Gott unter extremen Bedinungen den restgläubigen Laien die Fähigkeit zur Weihe übergäbe, oder „si per casum mortui essent omnes Sacerdotes“.¹⁴⁰ Die im Vergleich zu solchen Auffassungen plausiblere Annahme ist für Gerson, dass Gott in der Bindung an die von ihm gesetzte Ordnung dafür sorgt, dass bis zum Ende der Welt mindestens ein Bischof oder Priester im Glauben verharrt.¹⁴¹ Bereits in diesem Einwand Gersons klingt seine Kritik an der mittlerweile selbst klassisch gewordenen Trennung von potestas ordinis und potestas iurisdictionis durch. In seinem Traktat De potestate ecclesiastica legt er eine alternative Interpretation der potestas-Vorstellung und ihrer Verbindung mit der kirchlichen Institution vor. Dafür bedient er sich der Unterscheidungen von Struktur der Kirchengewalt, der Institutionalisierung der Kirchengewalt und der praktischen Verteilung der institutionalisierten Kirchengewalt. Auf diese Aspekte richten wir in der folgenden Analyse des vielschichtigen Traktats unser Augenmerk. Inwiefern die Gedankengänge Gersons den Ruf des ‚Konservativismus‘ verdienen, der ihnen in der Forschung manchmal zukommt, werden wir zusammen mit der Bilanz des problemgeschichtlichen Ertrags der Position Gersons am Ende des Abschnitts diskutieren. 3.1. Die Struktur der Kirchengewalt Gewöhnlich bezeichnet der Begriff potestas ecclesiastica die Summe aller in der Kirche vorliegenden unterschiedlichen Amtsgewalten, an denen je nach hierarchischer Stellung die kirchlichen Amtsträger in unterschiedlicher Weise Anteil haben. Dieser Vorstellung, die uns hier bei Thomas von Aquin schon begegnet ist,¹⁴² stellt Gerson ein Konzept entgegen, in dem die Amtsgewalten nurmehr die Erscheinungsformen, die potestates ecclesiasticae in specie, der ihnen vorgängigen einen Kirchengewalt, der potestas ecclesiastica in genere, bilden. Deren Definition am Anfang des Traktats Gersons lautet: ¹³⁹ D P II, 213A: „Additum est, non facta divinitus nova: quia Spiritu sancto dictante & operante nova praestari posset autoritas qualis nondum collata est; quemadmodum priusquam Deus instituisset Sacerdotium novum surpremum & alios inferios gradus Hierarchicos in Ecclesia, non dubium quin hoc potuerit“. ¹⁴⁰ Ebd. Vgl. zu diesen Szenarien auch die Ausführungen in d’Aillys früher Schrift: Utrum Petri Ecclesia Rege gubernetur, D P I, 672–693, bes. 687–690. ¹⁴¹ So schon 1408 in seiner Schrift: Propositio facta coram Anglicis, D P II, 123–130, hier 128B: „Congregatio Ecclesiastica ad unum caput Christum, Lege stante, non remanebit in sola muliere, immo nec in solis laicis; sed erunt usque ad consummationem seculi Episcopi & Sacerdotes aliqui fideles“. Das hier mitschwingende Problem von potestas absoluta und potestas ordinata, das für unseren amtstheoretischen Zusammenhang nicht ausschlaggebend ist, lassen wir beiseite. ¹⁴² Ihr folgt auch d’Ailly, vgl. D P II, 927C–928B.
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„Die Kirchengewalt ist eine Gewalt, welche von Christus übernatürlich und speziell den Aposteln und ihren legitimen Nachfolgern übergeben ist bis zum Ende der Welt zum Aufbau der streitenden Kirche gemäß der Evangelischen Gesetze zur Erlangung der ewigen Glückseligkeit“.¹⁴³
Mit seiner Definition strebt Gerson einen Mittelweg zwischen einem rein politischen Begriff der Kirchengewalt und einer Auffassung an, die die Kirchengewalt zu einer allgemeinen christlichen Gnadengabe erklärt. Anders als ein allgemeiner Begriff der potestas sei, so führt Gerson aus, die Kirchengewalt nicht durch natürliche Ursachen veranlasst und nicht mit den menschlichen Fähigkeiten zu verwechseln, durch die Orientierung am Naturrecht bzw. menschlich gesetztem Recht ein natürliches Ziel zu erreichen.¹⁴⁴ Daraus zieht Gerson den Schluss, dass der Bereich, auf den sich die potestas ecclesiastica erstreckt, gegenüber der allgemein menschlichen Herrschaftskompetenz beschränkt ist. Ihrer übernatürlichen Qualität entsprechend, die ihr durch die Stiftung Christi zukommt, gewinnt die Kirchengewalt nur auf die Menschen Einfluss, die auch durch eine übernatürliche Gabe für sie empfänglich gemacht worden sind. Das ist die Taufe und der durch sie empfangene Charakter, durch den die Menschen zu Pilgern (viatores) der streitenden Kirche werden:¹⁴⁵ „Unde potestas secularis convenit aliis quam Christianis baptizantis“.¹⁴⁶ Das heißt allerdings nicht, dass die Kirchengewalt eine jener übernatürlichen Gaben ist, die allen ‚Pilgern‘ gemeinsam sein können.¹⁴⁷ Als eine durch Christus speziell den Aposteln und ihren legitimen Nachfolgern zukommende Gewalt ist sie an die Weihe und den dadurch konstituierten klerikalen Personenverband – die ecclesia im engeren Sinn – gebunden, an dessen Spitze der Papst steht.¹⁴⁸ Insofern ist die Kirchengewalt auch von den anderen durch die Taufe ermöglichten Gna¹⁴³ D P II, 227A: „Potestas Ecclesiastica, est potestas quae a Christo supernaturaliter & specialiter collata est suis Apostolis & Discipulis, ac eorum successoribus legitimis, usque in finem seculi ad aedificationem Ecclesiae Militantis, secundum Leges Evangelicas pro consecutione felicitas aeternae“. Hervorhebung im Original, CV. ¹⁴⁴ D P 227C: „Fallor si non sit haec descriptio propria, competens omni & soli Ecclesaisticae potestati; quoniam omnis alia potestas, vel est naturaliter indita, quoad causam efficientem; vel est secundum Leges naturales aut humanas regulata, quoad causam formalem; vel est ad finem naturalem immediate & principaliter ordinata; vel denique quoad causam subjectivam radicatur in habentibus eam, secundum dona naturalia“. ¹⁴⁵ D P II, 227C: „Potestas autem Ecclesiastica de necessitate fundatur in dono supernaturali, sicut est character Baptismalis, de communi lege, qui character in viatoribus eos de Ecclesiae Militante reddit, facit insuper idoneos & capaces Ecclesiasticae potestatis“. ¹⁴⁶ D P II, 227C. ¹⁴⁷ D P II, 227B: „Additum est hoc adverbium, specialiter, ad exclusionem Donorum supernaturalium, quae omni viatori possunt esse communia, sicut sunt Fides, Spes, Charitas, Prophetia, timor, pietas, & similia“. ¹⁴⁸ D P II, 227B: „Unde, & Ecclesiae, contracte sumitur, dum loquimur hic de Ecclesiastica potestate; pro illis videlicet qui speciali quodam signaculo dedicati sunt ad divinum servitium, a Clericatura quae infimum tenet gradum, usque ad supremum quo Papa decoratur“.
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dengaben unabhängig und schließt damit schon strukturell die Möglichkeit aus, dass etwa die gratia gratum faciens – wie Gerson mit Blick auf die ‚Ketzereien‘ der Waldenser und Wycliffiten notiert – auf sie Einfluss hat.¹⁴⁹ Die Kirchengewalt erweist sich also angesichts dieser Erläuterungen erst einmal als ein Differenzierungsprinzip. Sie grenzt weltlichen und geistlichen Herrschaftsbereich voneinander ab und sondert innerhalb des geistlichen Herrschaftsbereiches die Weiheträger als die Führungselite aus. Zugleich ist die Kirchengewalt aber auch ein Einheitsprinzip, weil sie die Gesamtheit aller Getauften der Gesamtheit der Weiheträger unterstellt. An diese Eingangserörterung schließt Gerson vier Abschnitte an, in denen er die potestates ecclesiasticae in specie durchgeht, also die Amtgewalten, in denen die potestas ecclesiastica in genere in Erscheinung tritt. Dabei nimmt Gerson die Unterscheidung von potestas ordinis und potestas iurisdictionis auf, unterteilt diese aber weiter: Die potestas ordinis zerfällt in die potestas ordinis super Corpus Christi verum, d. i. die eucharistische Konsekrationsgewalt,¹⁵⁰ und die potestas ordinis super Corpus Christi mysticum, d. i. die Fähigkeit zur Spendung der anderen Sakramente.¹⁵¹ Die potestas iurisdictionis erstreckt sich einmal in foro exteriori, durch die nach Maßgabe der lex evangelica oder der positiven kirchlichen Rechtsordnung die Kirche ihre jurisdictio spiritualis über die Gläubigen ausübt,¹⁵² und das andere Mal in foro interiori, durch welche die Kirche kraft freiwilliger Unterordnung oder kraft Befehl die Gläubigen den sakramentalen Heilsmitteln unterstellt.¹⁵³ Für die Erfassung der zentralen Pointe des Gersonschen Verständnisses der Amtsgewalten ist ein detaillierter Durchgang durch seine Erläuterungen zu den einzelnen Amtsgewalten, die uns alle zumindest ansatzweise schon bei Thomas von Aquin begegnet sind, nicht nötig.¹⁵⁴ Denn die Pointe ist bereits durch die Eingangsdefinition der Kirchengewalt angebahnt. Durch sie steht fest, dass alle potestates ecclesiasticae in specie durch Weiheträger ausgeübt werden, was die mendikantische und dekretalistische Gewaltenlehre, die in Gersons Unterscheidungen der potestates ordinis und iurisdictionis präsent ist, fundamental umdeutet. Sie kann nämlich unter den Definitionsbedingungen Gersons nicht mehr zur Begründung zweier voneinander unabhängiger binnenkirchlicher Ordnungsreihen herhalten, die durch voneinander unabhängigen Gewaltenprinzipien konstituiert werden.¹⁵⁵ Vielmehr stellen die Amtsgewalten bei Gerson zwar durch ihren jeweiligen sakramentalen oder jurisdiktionellen Rege¹⁴⁹ ¹⁵⁰ ¹⁵¹ ¹⁵² ¹⁵³ ¹⁵⁴ ¹⁵⁵
D P II, 227D. D P II, 228 f. D P II, 229 f. D P II, 230–232. D P II, 232–234. Das kann man nachlesen bei: M, Jean Gerson, 253–259. Siehe oben 2.3.
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lungsbereich voneinander unterschiedene Handlungskompetenzen dar, sie bleiben aber immer Handlungskompetenzen des ordo, durch den sich die Kirchengewalt in eine differenzierte Funktionseinheit auseinanderfaltet. Nimmt man zu diesem Sachverhalt noch hinzu, dass Gerson den potestates ecclesiasticae in specie je spezifische Aufgaben bzw. officia zuordnet, so wird deutlich, dass die damit von Gerson umrissene amtstheoretische Grundkonstellation sich – problemgeschichtlich betrachtet – in unmittelbarer Nähe zum Decretum Gratiani aufhält. Jedoch unterscheidet sich Gersons Konzeption von der des Dekrets vor allem in der Fassung des Verhältnisses von ordo und potestas. Denn wie wir gesehen haben, verband das Dekret Gratians mit dem Begriff der potestas zwei ganz unterschiedliche Auffassungen, weil die potestas sowohl als im Weiheträger zum Vollzug bestimmter officia vorliegend angesehen als auch als Ausdruck der auctoritas, d. h. zur autoritativen Relationierung der Weiheträger untereinander, begriffen wurde. Dabei ist aus der Äquivokation beider Auffassungen aber nicht der Schluss gezogen worden, dass es sich um ein und dieselbe potestas handelt.¹⁵⁶ Doch genau so versteht Gerson die potestas ecclesiastica, wobei ihm die dekretalistische Gewaltentheorie allein zur Illustration ihrer inneren Differenziertheit dient: Jede einzelne Amtsgewalt, das führt er in engmaschigen, einander überlappenden und mit allen Tugenden scholastischer Kunst ausgestatteten Argumentationen vor, setzt eine andere voraus, damit sie den ihr eigenen Regelungsbereich und die in ihm jeweils vorliegenden officia wirklich ausfüllen kann. Und da die executio potestatis in diesem Gefüge als Element vorhanden ist,¹⁵⁷ sind auch die zu deren Gewährung notwendigen autoritativen Über- und Unterordnungsverhältnisse in der Funktionseinheit der Kirchengewalt angelegt.¹⁵⁸ Freilich: Bei allen institutionentheoretischen und kirchenrechtlichen Versatzstücken, die er gebraucht, ist Gersons Exposition der Struktur der Kirchengewalt eine rein dogmatische, welche die Probleme erst einmal ausklammert, die mit der Frage nach der möglichen institutionellen Realisierung der Kirchengewalt verbunden sind. Doch es gehört zu den bemerkenswertesten Eigenarten von Gersons Traktat, dass die mit der Exposition aufbrechende Spannung thematisiert wird und Gerson in seinen weiteren Ausführungen den Brückenschlag zwischen dogmatischer Vorstellung und institutioneller Regelung wagt. Die Leitgesichtpunkte, die Gerson seiner dogmatischen Theorie für die¹⁵⁶ Siehe oben 1.3. ¹⁵⁷ Vgl. dazu Gersons Erläuterung zur potestas iurisdictionis in foro interiori, D P II,
233D: „Addita est, seu potius confirmata potestas praedicandi cum potestate conferendi Baptismum, vel potius jam datae potestatis executio jussa est“. Kurz darauf wird diese Bestimmung noch einmal auf den Vollzug der anderen Sakramente erweitert, D P II, 234A. ¹⁵⁸ Vgl. dazu die Ausführungen zur potestas ordinis super corpus mysticum, bes. D P II, 229CD, wo Gerson den unterschied zwischen Episkopat und Sacerdotium anhand der römischen Rechtsmaxime „Illud possumus quod de Iure possumus“ erläutert.
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sen Übergang entnimmt, ergeben sich nachgerade analytisch: Die institutionelle Gestalt der Kirchengewalt muss deren dogmatische Einheit und Funktionalität widerspiegeln. 3.2. Die Institutionalisierung der Kirchengewalt Den gedanklichen Weg von der dogmatischen Vorstellung zur institutionellen Gestalt der Kirchengewalt beschreitet Gerson mithilfe der Unterscheidung der potestas ecclesiastica in drei Betrachtungsebenen, die für ihn die Klärung zwischen den verschiedenen Auffassungen von der Kirchengewalt verspricht, welche zwischen den Theologen und den Kanonisten herrschen.¹⁵⁹ Die theologiegeschichtlich zwar vorbereitete, in ihrer Anwendung durch Gerson aber neue perspektivische Differenzierung¹⁶⁰ setzt bei der Betrachtung der Kirchengewalt in se formaliter et absolute ein: Mit ihr bildet Gerson die Einheit und Funktionalität der Struktur der Kirchengewalt in den Begriff der kirchlichen Institution als Summe der ihr essentiellen Ämter und Amtsstufen um. Diese sind: „Papatus, Cardinalatus, Patriarchatus, Archiepiscopatus, Episcopatus, Sacerdotium“.¹⁶¹ Die Relation von Kirche und Ämtern ist nach Gerson, wir lassen seine gelehrten Ausschmückungen zur Begriffstheorie weg, invariabel. Das heißt: Sollte eines der Ämter aus dem Begriff der Kirche entfernt werden, so wird die Integrität des Begriffs nicht mehr gewährleistet. Sichtlich richtet sich Gerson damit gegen eine in Konstanz nicht unpopuläre Auffassung, die das Papsttum als für die Kirche unerheblich ansieht,¹⁶² wenn er hervorhebt: „so dass, wenn das Papsttum kraft Imagination von den übrigen niederen Gewalten abgeschnitten wird, das, was übrig bleibt, nicht die Kirche genannt würde“.¹⁶³ Dies soll nach Gerson aber nicht dahingehend falsch verstanden werden, dass die Existenz der Kirche von dem Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein eines Papstes abhängt. Vielmehr handelt es ¹⁵⁹ D P II, 234B: „Proficit haec consideratio quae distinguit & resolvit modos loquendi varios, tam Theologorum quam Canonistarum de Ecclesiastica potestate, cujus resolutionis ignorantia vel inadvertentia falli plerumque facit & fallere“. ¹⁶⁰ Vgl. mit Hinweisen auf die Hintergünde M, Jean Gerson, 260 f., der allerdings in dieser Differenzierung nichts Neues sieht. Doch die Überprüfung der von Meyjes angeführten Stellen zeigt, dass die Anleihen über terminologische Nähen nicht hinauskommen. Vgl. weiterhin die ebenso kurze wie treffende Charakterisierung der Unterscheidung bei G, Das Deutsche Genossenschaftsrecht II, 586 f. Anm. ¹⁶¹ Der gesamte Satz D P II, 235C: „Ecclesia siquidem, dum sic consideratur in suis partibus essentialibus & permanentibus quae sunt Papatus, Cardinalatus, Patriarchatus, Archiepiscopatus, Episcopatus, Sacerdotium, habet integrari ex his omnibus …“. ¹⁶² Vgl. dazu knapp Y C, Die Lehre von der Kirche. Vom Abendländischen Schisma bis zur Gegenwart, Freiburg u. a. 1971 (HDG III / 3d), 13 f. ¹⁶³ D P II, 235C: „ut si Papatus per imaginationem praescindatur a reliquis potestatibus inferioribus, id quod superest non dicetur Ecclesia“.
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sich um ein rein begriffliches Konstrukt, so dass zwar das Papsttum, aber nicht irgendein konkreter Papst die Integrität der Kirche sichert.¹⁶⁴ Die Unterscheidung von Papsttum und Papst berührt schon die zweite von Gerson eingeführte Betrachtungsebene, welche respective et quodammodo materialiter die Relation von Amt und Amtsträgern in den Blick nimmt. Hier ist, anders als in der ersten Perspektive, mit einer vielfältigen Variabilität zu rechnen. Gleichsam aktiv werden Veränderungen „nunc per novam consecrationem, nunc per novam electionem vel institutionem Ministrorum“ hervorgerufen; gleichsam passiv werden sie durch den natürlichen Tod von Amtsträgern oder deren Deposition bewirkt, wobei letzteres von Gerson als ‚ziviler‘ Tod bezeichnet wird.¹⁶⁵ Diese Veränderlichkeit ist für die im ordo ruhende Kirchengewalt insofern problembehaftet, da eine unkontrollierte Ein- und Absetzung von Amtsträgern die Funktionalität des gesamten Amtsgefüges in Frage stellen kann. Weil nun alle von einer fehlerhaften Amtsbesetzung betroffen wären, müssten eigentlich immer alle an diesen Entscheidungsprozessen beteiligt werden, was durch eine Versammlung aller Betroffenen geschieht. Hier hat das Konzil seinen ‚Sitz im Leben‘. Gerson bedient sich zur Begründung einer historischen Reflexion:¹⁶⁶ Petrus, der von Christus eingesetzte Leiter der Urkirche, konnte aufgrund der geringen Ausbreitung des Christentums bei der Einsetzung von Amstinhabern – etwa der Wahl von Matthias zum Apostel (Apg 1, 23–26) – noch leicht auf ein Generalkonzil zurückgreifen und auf positive Rechtsregelungen verzichten, was bei weiterer Ausbreitung der Gläubigen schon nicht mehr möglich war.¹⁶⁷ Die Petrus nachfolgenden Päpste beschränkten sich dann auf die notwendigsten Amtsgeschäfte und setzten für das Weitere Andere ein.¹⁶⁸ Gleichwohl wird damit die Einbeziehung der bestehenden Amtsträger in den Entscheidungsprozess nicht hinfällig. Gerson dedu¹⁶⁴ D P II, 235C: „Proinde sequitur quod si generale Concilium repraesentet Universalem Ecclesiam sufficienter & integre; necesse est ut includat autoritatem Papalem, sive Papa sit, sive desierit esse per mortem naturalem aut civilem“. ¹⁶⁵ D P II, 236B. ¹⁶⁶ Auch wenn Gerson in diesem Zusammenhang nicht auf den hierher gehörenden, im Rahmen des Konziliarismus als ‚Credo‘ dienenden Satz aus dem römischen Recht eingeht, der als Rechtsregel in das Kirchenrecht aufgenommen wurde: „Quod omnes tangit debet ab omnibus approbari“ (Liber Sextus, De regulis iuris 29, ed. F II, 1122), so ist die sachlogische Verbindung seiner Ausführungen zu diesem Diskussionskontext den zeitgenössischen Hörern und Lesern seines Traktas wohl kaum verborgen geblieben. Bereits im Umkreis des Konzils von Vienne (1311) hat Wilhelm Durand d. J., einer der kanonistischen Ahnherren des ‚Konziliarismus‘, die Einberufung eines Konzils dann gefordert, „quandocumque aliquid esset ordinandum de tangentibus communem statum ecclesiae vel ius novum condendum“ (zit. T, Foundations, 176). Zur Maxime ‚Quod omnes tangit‘ vgl. mit reichlich weiteren Literaturhinweisen C F, Quod omnes tangit ab omnibus approbari debet: The Words and the Meaning, in: S B u. a. (Hg.), In Iure Veritas. Studies in Canon Law in Memory of Schafer Williams, Cincinnati 1991, 21–55. ¹⁶⁷ D P II, 236D–237A. ¹⁶⁸ D P II, 237A.
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ziert hieraus die Notwendigkeit der Abhaltung von regelmäßigen Konzilen und Synoden, die für ihn die besten institutionellen Instrumente darstellen, das Architectoris officium zwar nicht selbst auszuüben, aber zu kontrollieren. Andernfalls würde der päpstlichen Tyrannis Vorschub geleistet werden: „Autoritas itaque nulla erit si solus Summus Pontifex omnia velit inferiorum Ecclesiasticorum usurpare institutiones, jura, status, gradus & officia“.¹⁶⁹ Dies leitet zum zentralen Aspekt der Betrachtung der Kirchengewalt respective et quodammodo materialiter über: Die variable Relation von Amt und Amtsträger fordert nach Gerson eine Verfassung der kirchlichen Institution, die genau dieser Gefahr der Tyrannei wehrt. Und das ist, wie Gerson mit der seit Thomas von Aquin beliebten Mixtur festhält, die ‚mosaische Mischverfassung‘, in der Monarchie, Aristokratie und Demokratie so verteilt werden, dass sie sich gegenseitig ausbalancieren: „Regali in Moyse; Aristocratia in. (sic!) LXII. senioribus, & in Tymocratia dum de populo & singulis tribubus sub Moyse rectores sumebantur“.¹⁷⁰ Den Einwand gegen dieses Verfassungsmodell, dass die Einmischung von Vielen die Instabilität noch erhöhen würde, lässt Gerson nicht gelten, weil es sich hier einzig und allein um die Institutionalisierung einer Korrekturinstanz handelt.¹⁷¹ Die institutionelle Stabilisierung der Einheit und Funktionalität der im ordo ruhenden Kirchengewalt erweist sich dann noch einmal als schwieriger, wenn die Kirchengewalt quoad usum vel exercitium betrachtet wird: als die Relation von Amtsinhaber und Amtausübung. Auf dieser dritten Betrachtungsebene kommen Fragen nach erlaubten und gültigen Amtshandlungen auf. Dennoch widmet sich Gerson auch hier nicht einzelnen Kriterien oder positiven Rechtsregelungen, sondern rückt die Verfahrensordnung der kirchlichen Institution in den Mittelpunkt, die sich angesichts der hohen Variabilität und Veränderlichkeit des – wenn man so will – amtsgewaltlichen Tagesgeschäfts empfiehlt. Analog zur zweiten Betrachtungsebene bedient sich Gerson dazu einer historischen Reflexion, weil wie die Einsetzung von Amtsträgern so auch die Gewährung der Amtsausübung mit zunehmender Ausbreitung des Christentums unüberschaubarer geworden sei. Gleichwohl sei, so führt Gerson aus, bereits ¹⁶⁹ D P II, 237C. ¹⁷⁰ D P II, 237C / D. Vgl. zu diesem Modell der mosaischen Mischverfassung die Aus-
führungen bei M, De potestate Papae, 38 f. sowie B T, Religion, law, and the growth of constitutional thought 1150–1650, Cambridge u. a.: UP 1982, 90 f. ¹⁷¹ D P II, 237D: „Sed opponunt plurimi nolentes ad Ordinarios remitti Ministrorum Ecclesiasticorum institutiones, neque per electionem neque per collationem. Expertum est, inquiunt, quod turbarent omnia, venderent, disparent, partim cupiditate carnali, partim saeculari potestate tracti, de litterarum quoque studiis actum esset. Verum in promptu est responsio, corrigeret Summus Pontifex abusus hujusmodi, & autoritatis severitate suprema vigilanter adhibita, poneret aspera in vias planas, deponeret potentes intrusos de sede & exalteret humiles sine prece vel munere: hoc est enim Architectoris officium, dum vero peccat in his Summus Pontifex, quis ministrorum corrigere vel praesumet vel poterit?“.
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„durch Petrus gemäß dem Konsens der ganzen ersten Kirche oder des Generalkonzils“ zur Vermeidung von Spaltung und zum Vorbild für die Späteren eine Begrenzung der von Christus übergebenen Gewalt und deren Gebrauch eingeführt worden: „so dass nicht jeder Beliebige über jeden Beliebigen seine Gewalt gebrauchen könnte, nachdem er auf die erste Anordnung Christ aufmerksam geworden ist, die wollte, dass seine Kirche grundsätzlich unter und von einem Monarchen regiert werde, damit ein Glaube, eine Taufe und eine Kirche durch die Einheit des Hauptes sowohl des Vornehmsten als des Stellvertreters besteht; weil ja dieser die höchste Instanz, besonders in den geistlichen Dingen, zur Erhaltung der Einheit des Glaubens ist, zu der alle verpflichtet sind“.¹⁷²
Die Einschränkung der christusunmittelbar verliehenen Gewalt betrifft also die Apostel, die mit Petrus gemäß der Grunddefinition der Kirchengewalt zwar in gleicher Weise an ihr Anteil haben, die aber ihre durchaus mögliche eigenständige und von Petrus unabhängige Ausübung der Kirchengewalt der sichtbaren Institutionalisierung der Glaubenseinheit unterordneten und damit den göttlichen Willen erfüllten. Von ihnen wurde die Aufgabe der Gewährung des Vollzugs der in der gesamten Kirche verteilten Amstausübungen auf das Papsttum konzentriert. Der Weg von der dogmatischen Vorstellung zur institutionalisierten Gestalt der Kirchengewalt bedeutet (insgesamt betrachtet) in erster Linie, dass die in der dogmatischen Vorstellung der Kirchengewalt angelegten Möglichkeiten zur funktionalen Differenzierung sowie zur Hierarchisierung der Amtsgewalten historisch realisiert werden. Die dadurch zunehmende Variabilität der Verhältnisse führte nach Gerson zu einer zunehmenden Konzentration der Führung dieses amtgewaltlichen Gefüges in einer Instanz, die letztlich allein die gottgewollte Einheit und Funktionalität des Gesamtgefüges garantieren und zum Ausdruck bringen kann: dem Papsttum. Doch diese in der monarchischen Stellung des Papstes mündende Tendenz der institutionellen Machtkonzentration geschieht nach Gerson nicht ungeregelt. Auf seiner Rückseite sind diesem Konzentrationsprozess institutionelle Ausgleichsmechanismen einge¹⁷² Der gesamte Passus D P II, 238C / D: „Usum similiter [scil. zu der Einsetzung der Amtsinhaber, CV] vel exercitium receperunt atque recipiunt mediate per humanum ministerium vel concessionem. Et forte quoad usum vel exercitium potestatis Ecclesiasticae, sic evenit ipsis etiam Apostolis & Discipulis quod post immediatam concessionem utriusque, scilicet potestatis & usus factam a Christo; postmodum crescente numero fidelium fuit, ad tollendum schisma, & ad exemplar dandum posteris, limitatio facta talis potestatis quoad usum, & hoc per Petrum Summum Pontificem, de consensu totius Ecclesiae primitivae vel generalis Concilii; ut non quilibet posset in quemlibet uti potestate sua, attenta Christi ordinatione primaria, qua voluit Ecclesiam suam regi principaliter sub uno & ab uno Monarcha sicut est una Fides, unum Baptisma, & una Ecclesia, unitate capitis tam Primarii quam Vicarii; quoniam iste est optimus Principatus, praesertim in spiritualibus, ad conservationem Fidei, ad quam obligantur omnes“.
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schrieben, die hauptsächlich vom Generalkonzil wahrgenommen werden, setzt doch nach Gerson ein verantworliches päpstliches Handeln Konsultation und Konsens der Gesamtkirche voraus. Damit ist freilich die Frage verbunden, die Gerson seinen Traktat beschließend in Angriff nimmt: Wie ist in der institutionellen Spannung von Papsttum und Konzil die Kirchengewalt in der Kirche verteilt und wie wird diese Verteilung praktisch umgesetzt? 3.3. Die Verteilung der institutionalisierten Kirchengewalt Mit dem Problem der institutionellen Machtverteilung betritt Gerson endgültig das Feld der spätmittelalterlichen Repräsentationstheorie. Dass erst in diesem Zusammenhang der Begriff der plenitudo potestatis abgehandelt wird, ist nicht bloß eine arbiträre These Gersons.¹⁷³ Denn damit wird dieser Begriff als Beschreibung des Wesens der Papstgewalt, näherhin: der nur dem Papst zukommenden, qualitativ allen anderen überlegenen Jurisdiktionsgewalt, durch einen rein institutionellen Begriff der plenitudo potestatis abgelöst, den Gerson in eine weitere Differenzierung überführt: Da das Papsttum als konstitutiver Teil der kirchlichen Ämterordnung die Architektur der Ämterordnung vornimmt und die Amtsausübungen gewährt, ruht in ihm die plenitudo potestatis „formaliter & subjective“¹⁷⁴ oder, wie es bei Gerson gleichlautend heißt, die supremitas der Kirchengewalt.¹⁷⁵ So besehen ist die Papstgewalt „superior & major … ad reliquas“,¹⁷⁶ und das heißt: in Bezug auf jede einzelne Amtsgewalt, die in der Kirche vorliegt. Dazu muss aber der Papst selbst ein Weiheträger sein, ein Umstand, den Gerson deshalb besonders erwähnt, weil die kanonistische Tradition betonte: Papa est nomen iurisdictionis et non ordinis.¹⁷⁷ Freilich ist die Ablehnung dieser kanonistischen Tradition bereits in der Eingangsdefinition der Kirchengewalt von Gerson angelegt. Doch wenn Gerson ausdrücklich hervorhebt, dass aus dieser kanonistischen Auffassung zwingend die Absurdität folge, „dass ein reiner Laie, und sogar eine Frau, Papst sein und die plenitudinem Ecclesiasticae potestatis haben könnte“,¹⁷⁸ wird die Verbindung seiner Ausführungen zu dem eingangs skizzierten Diskussionkontext der sog. ‚Restlehre‘ ersichtlich: Denn nicht nur die im Notfall greifende Restrepräsentation der Kirche, sondern auch ihre im Normalfall vorliegende Repräsentation Die Einführung dieses Begriffs erfolgt erst in consideratio decima, D P II, 239B / C. D P II, 239B / C. D P II, 243D. D P II, 243D: „Si vero consideretur haec plenitudo in sua supremitate, tunc absque ulla dubitatione, plenitudo Ecclesiasticae potestatis Papalis superior & major est ad reliquas“. ¹⁷⁷ Vgl. zu dieser Tradition den ‚Klassiker‘ der Forschung: M W, Papa est nomen iurisdictionis: Augustinus Triumphus and the Papal Vicariate of Christ, JThS.NS 8 (1957), 71–91 und 256–271. ¹⁷⁸ D P II, 239D. ¹⁷³ ¹⁷⁴ ¹⁷⁵ ¹⁷⁶
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durch den Papst setzt die reale Fähigkeit voraus, auch die sakramentale Dimension der Kirchengewalt vollziehen zu können, weil der Papst sonst nicht in der Lage wäre, die Kontinuität der sakramentalen kirchlichen Heilsvermittlung zu sichern, da er keine Priester weihen könnte. Aber im Gegenzug zu Gersons Charakterisierung der supremitas gilt auch: Das Papstamt ist ein Teil der kirchlichen Ämterordnung, sein Architectoris officium ist auf den Rat der ihm untergeordneten Instanzen angewiesen und die Stellung als höchste Instanz zur Gewährung der Amtsvollzüge ruht auf dem Konsens der Gesamtkirche auf. Das nennt Gerson die plenitudo potestatis, die „in Ecclesia sicut in fine, & sicut in regulante applicationem & usum“ liegt,¹⁷⁹ oder die latitudo der Kirchengewalt, die im Konzil repräsentiert wird: „Die latitudo potestatis beinhaltet nämlich kollektiv in sich die verschiedenen Kirchengewalten, von der höchsten in einem fort abwärts: Und unter diesen ist die päpstliche plenitudo Ecclesiasticae potestatis, gleichwie ein unversehrter Teil in seinem Ganzen; und so ist sie nicht größer oder mächtiger als die ganze Kirche, so wie ein Teil auch nicht größer als das Ganze ist“.¹⁸⁰
Mit dieser Auffassung von supremitas und latitudo liegen die Grundzüge von Gersons kirchlicher Repräsentationstheorie vor Augen: Papst und Konzil sind beide Träger der Kirchengewalt, repräsentieren aber immer nur einen ihrer Aspekte – wohlgemerkt: das Konzil umfasst bei Gerson zwar die Papstgewalt, aber eben nicht die supremitas; eine Absorption des einen durch das andere Repräsentationsorgan ist (außer im Fall der päpstlichen oder konziliaren Tyrannei) undenkbar. Praktisch bedeutet das, wie bereits Gersons historische Kurzreflexionen nahelegten, dass eine vollständige und umfassende Wahrnehmung der kirchlichen Leitung nur von beiden Instanzen gemeinsam geleistet werden kann, weil nur in diesem Fall die plenitudo potestatis in ihrem vollen Umfang repräsentiert ist. Da dies allerdings nicht durchgängig praktikabel war und ist, wird nach Gerson aus Gründen der Vereinfachung dem Papst und seiner Kurie die Kirchenregierung übertragen:¹⁸¹ Die supremitas geht damit letztlich aus der latitudo der Kirchengewalt hervor. Dem Konzil kommt in der Folge die Rolle zu, Missbräuche in der Kirchenregierung abzustellen, weil ja weder der Papst noch seine Kurie vor Fehlern oder dem Abfall in die Sünde gefeit sind. Der Katalog der Fälle, in denen das Konzil dazu aufgerufen ist, die päpstliche Gewalt zwar nicht „in se, quae semper eadem est, sed in usu suo moderanda, regulandaque“,¹⁸² ist bei Gerson ¹⁷⁹ D P II, 243A / B. ¹⁸⁰ D P II, 243D: „Haec enim latitudo potestatis complectitur in se alias potestates
Ecclesiasticas collective, a summo usque deorsum: & est in eis plenitudo Ecclesiasticae potestatis Papalis, tanquam pars integralis in suo toto; & ita non est major vel superior ad totam Ecclesiam, sicut nec pars major toto“. Vgl. auch die frühere Ausführung D P II, 235C. ¹⁸¹ D P II, 240A. ¹⁸² D P II, 240D.
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lang. Allerdings lässt er sich auf zwei Prinzipien reduzieren, die vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten keiner Erläuterung bedürfen: Einmal muss die Papstgewalt die Erhaltung der Einheit der Kirche zum Ziel haben¹⁸³ und sodann dem „Aufbau der streitenden Kirche“,¹⁸⁴ anders formuliert: der kirchlichen Funktionalität dienen. Wo diese Prinzipien verletzt werden oder der Papst nicht in der Lage ist, sie umzusetzen, darf das Konzil der päpstlichen Kirchenregierung in den Arm fallen bzw. ihr helfend unter die Arme greifen. Der Repräsentant der latitudo der Kirchengewalt revoziert im Notfall den zur Ausbildung der supremitas erforderlichen Konsens. Mit dieser Zuordnung von latitudo und supremitas und ihren Repräsentationsorganen lehnt sich Gerson sichtlich an das Ideal der französischen politischen Ständeverfassung seiner Zeit an.¹⁸⁵ Bis in die Terminologie hinein sind Gersons Anleihen daran auf den letzten Seiten seines Traktats zu bemerken. Auch für Gersons Amtsverständnis, um das es uns vor allem geht, hat dies kaum zu überschätzende Folgen. Denn wenn er das Konzil als Standesvertretung der Geweihten konzipiert, in dem allein dem status hierarchicus der höheren und niederen ‚Prälaten‘, d. h. den Bischöfen und Parochialpriestern,¹⁸⁶ ein votum definitivum zukommt, wohingegen die Laien sich mit einem votum consultativum begnügen müssen,¹⁸⁷ so zeigt seine oben erwähnte ‚mosaische‘ Verfassungsidee für die Kirche weniger konstitutionell ‚demokratische‘ als vielmehr ‚aristokratische‘ Züge, die dem Konzil als legitimatorische Basis für seine Eingriffsmöglichkeiten in die päpstliche Kirchenleitung die Wahrung der klerikalen Standesrechte zuspricht. Mit einem Zitat eines Schreibens der Pariser ¹⁸³ Mehrfach zitiert Gerson Augustin (etwa D P II, 231D u. ö.): „Claves Ecclesiae datae sunt unitati“. Dieses Zitat stammt aus der 295. Predigt Augustins (MPL 38, 1348–1352). Der Kontext ist aufgrund seiner zumindest in spätmittelalterlichen Ohren repräsentations- und korporationstheoretischen Bezüge zu beachten (a. a. O., 1349): „Dominus Iesus discipulos suos ante passionem suam, sicut nostis, elegit, quos Apostolos appellavit. Inter hos pene ubique solus Petrus, totius Ecclesiae meruit gestare personam. Propter ipsam personam, quam totius Ecclesiae solus gestabat, audire meruit: Tibi dabo claves regni coelorum. Has enim claves non homo unus, sed unitas accepit Ecclesiae. Hinc ergo Petri excellentia praedicatur, quia ipsius universitatis et unitatis Ecclesiae figuram gessit, quando ei dictum est: Tibi trado, quod omnibus traditum est“. ¹⁸⁴ So bereits in der Eingangsdefinition, die auf 2. Kor 10, 8 anspielt. ¹⁸⁵ Ganz deutlich hat Gerson das schon am 21. Juli 1415 in der Predigt Prosperum iter dargelegt, D P II, 273–280, bes. 279B. Vgl. zum Ideal der Ständepartizipation im Gesetzgebungsverfahren im Frankreich des 15. Jahrhunderts mit weiterer Literatur L S, Normsetzung in der Krise. Zum Gesetzgebungsverständnis im Frankreich der Religionskriege, Frankfurt a. M. 2005 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 197), bes. 139–149. ¹⁸⁶ D P II, 249C / D. Als Begründung führt Gerson hier Dist. 68 c. 5 (ed. F I, 255) an. ¹⁸⁷ D P II, 249D–250A. Das ist freilich eine offene Attacke gegen das auf dem Konzil herrschende Abstimmungsverfahren, vgl. dazu kurz P, Geschichte des Kirchenrechts II, 120 f.
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Theologischen Fakultät, an dessen Entstehung er maßgeblich beteiligt war, führt Gerson aus: „Domini Curati sunt in Ecclesia minores Praelati & Hierarchae, ex primaria institutione Christi; quibus competit ex statu jus praedicandi, jus Confessiones audiendi, jus Sacramenta Ecclesiastica, secundum exigentiam sui status & parochianorum ministrandi, jus sepulturas dandi, jus insuper Decimas & alia jura parochialia recipiendi“.¹⁸⁸
Wichtiger als der Umfang der Bestimmung ist in diesem Zitat der Umstand, dass hier traditionell als officia firmierende Aufgaben als iura bezeichnet werden. Brian Tierney hat auf die damit einhergehenden Implikationen aufmerksam gemacht.¹⁸⁹ Denn ius versteht Gerson als „potestas, seu facultas propinqua conveniens alicui secundum dictamen primae Justitia“ und setzt es von lex als „regula conformitatem habens ad dictamen rectae rationis“ ab.¹⁹⁰ So wenig neu diese Unterscheidung ist, so hat Tierney die Originalität Gersons an ihrem Gebrauch hervorgehoben: „For Gerson lex was objective law; ius was a subjective power or right inhering in individual persons“¹⁹¹ – wobei als ‚individual person‘ im Kontext des hier behandelten Traktats freilich keine menschliche Person, sondern der status als Rechtssubjekt zu verstehen ist, weil nur diesem die iura unmittelbar zukommen. Ausgeführt heißt das, denken wir an die dogmatische Exposition der Kirchengewalt Gersons zurück: Der im jeweiligen status hierarchicus vorliegende durch die potestas ecclesiastica in genere hervorgerufene Zusammenhang von ordo, potestates ecclesiasticae in specie und die mit ihm verbundenen officia stellen einen vorpositiven Rechtskomplex dar, der nicht nur dem Zugriff der institutionellen Realisierungsgestalt der Kirchengewalt schlechterdings entzogen bleibt, sondern der vielmehr als Grund und Norm der institutionellen Realisierung der Kirchengewalt zu gelten hat.¹⁹² Denn dieser Rechtskomplex bildet die Keimzelle aller institutionellen Konsensverfahren,¹⁹³ in deren Verlauf zwar der aktuelle Träger auf bestimmte Aspekte seiner Amtsgewalt zugunsten der korporativen Durchbildung der Kirchengewalt verzichten kann, so wie die Apostel aufgrund göttlicher Weisung zugunsten der supremitas Petri auf ihre unabhängige Amtsausübung verzichtet ¹⁸⁸ D P II, 250A / B. Der Hintergrund dieses Schreibens bildet die 1409 geführte Auseinandersetzung um den Franziskaner Gorell, vgl. dazu prägnant B, Aedificatio, 160 f. ¹⁸⁹ Vgl. B T, The Idea of Natural Rights. Studies on Natural Rights, Natural Law, and Church Law 1150–1650, Grand Rapids u. a. 1997 (Emory University Studies in Law and Religion 5), 207–235. ¹⁹⁰ Beide Zitate D P II, 250D. ¹⁹¹ T, The Idea, 211. Vgl. ebd., 104–130 zur Geschichte der Begriffe ius und lex. ¹⁹² Das kann Gerson auch so ausdrücken, D P II, 250C: „Potestas Ecclesiastica, sicut & alia quaelibet, originatur a prima Justitia, secundum quam Jura omnia, Leges, Jurisdictiones atque Dominia pulchra Ordinis varietate fundatur“. ¹⁹³ An einer Stelle weist Gerson als Rechtsfigur, die das Konzil konstituiert, sogar den ‚Vertrag‘ aus, vgl. D P II, 243D.
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haben. Dennoch verliert damit der Amtsträger – wie die Apostel – diese Aspekte seiner Amtsgewalt nicht dauerhaft, wenn er sie von einer anderen institutionellen Instanz wie etwa dem Papsttum wahrnehmen lässt. Bei aller Betonung der hierarchischen Über- und Unterordnungsverhältnisse, die im klerikalen Personenverband herrschen, weist Gersons Amtsverständnis, das aus seiner Theorie der institutionellen Machtverteilung erwächst, damit einen zutiefst egalitären Zug auf: Indem nämlich alle Ämter der Kirche auf je ihre Weise an der christusunmittelbaren potestas ecclesiastica partizipieren, sind sie ihrer gottgesetzten und institutionell ausgeprägten Differenzen zum Trotz als Rechtssubjekte gleich. Darüber hinaus steht jeder Amtsträger in einer doppelten Bindung: Auf der einen Seite in der Bindung an die ihm vorgängigen, allein seinem jeweiligen ordo zukommenden iura. Auf der anderen Seite in der Bindung an den institutionellen Konsens sowie die durch ihn hervorgebrachte faktische Realisierungsgestalt der Kirchengewalt. Jedes ‚Amt‘ der Kirche ist also zugleich Ausdruck der übernatürlichen Herrschaft Christi und der institutionellen Herrschaft der Kirche. Allerdings bedeutet dieses ‚zugleich‘ auch, dass die von der früheren Gewaltenlehre säuberlich auseinanderdividierten Bereiche sakramentaler und jurisdiktioneller Ordnungen und Zuständigkeiten der Kirche ineinanderfließen und sich im ‚kirchlichen Amt‘ nahezu nahtlos verbinden. Dass nicht nur dies eine zentrale Weichenstellung ist, die Gersons Theorie für das Amtsverständnis des späten Mittelalters dokumentiert, wollen wir nun im Rahmen einer Zusammenfassung des problemgeschichtlichen Ertrags der Gersonschen Amtstheorie ausführen. 3.4. potestas und ordo: Stabilisierungsversuche Für Gerson war die spätmittelalterliche Papstkrise auch Ausdruck der Grenzen jener amtstheoretischen und ekklesiologischen Gewaltenlehre, die – wie wir es an Thomas von Aquin beobachten konnten – auf die Begründung einer hohen Elastizität der papstkirchlichen Institution abzielte. Gersons Kritik an der von Ockham wirkungsvoll in die theologische und politische Publizistik eingeführten ‚Restkirchenlehre‘ ist durch die Analyse motiviert, dass die von der dekretalistischen Gewaltenlehre hervorgebrachte Gewichtung des Verhältnisses von potestas ordinis und potestas iurisdictionis den institutionellen Zweck der Kirche – ihre sakramentale Heilsvermittlung – legitimatorisch letztlich nicht abzustützen vermag, weil sie die Jurisdiktionsgewalt übergebührlich betont. Eine Verabschiedung der Gewaltenlehre und der potestas-Vorstellung überhaupt kommt für den Pariser Universitätskanzler allerdings gar nicht in Frage. Deshalb geht Gerson den entgegengesetzten Weg. In seinen differenzierungsreichen Ausführungen zur Struktur, Institutionalisierung und institutionellen Verteilung der Kirchengewalt wertet Gerson die potestas-Vorstellung normativ
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massiv auf und verbreitert ihre institutionelle Basis durch Verankerung im gesamten Klerus. Doch die dem potestas-Begriff eingeschriebenen Spannungen, die ihn von seinen rudimentären Anfängen im Dekret Gratians an begleiten, wird Gerson nicht los. Vielmehr überträgt er diese Spannungen, indem er alles aus der potestas als Prinzip hervorgehen lässt, auf seine ganze Kirchen- und Amtstheorie. Problemgeschichtlich betrachtet schöpft Gerson den ihm vorgebenen theoretischen Rahmen zwar in einer Thomas von Aquin in nichts nachstehender Weise aus, erschöpft aber auch die potestas-Vorstellung durch Überdetermination: Strukturell wird sie bei Gerson sowohl für eine Handlungskompetenz wie für konkrete Aufgabenbereiche verwendet. Sie umfasst begriffstheoretisch alle hierarchischen Elemente der kirchliche Institution. Institutionell begründet sie die Gestaltungsvollmacht des Papsttums und bindet dieses zugleich an die konsultativen und konsensualen Willensäußerungen des gesamten Klerus zurück. Schließlich steht sie kirchenpolitisch für die wechselseitige Legitimation und Limitation von Papst und Konzil ein, die letztlich auf den vorpositiven Eigenrechten des Klerus beruhen. Angesichts dieses komplexen Bedeutungsbündels der potestas liegt es nahe, in der Verwendung dieses Begriffs bei Gerson ein kirchliches Einheitsbekenntnis zu sehen, das steuerungspraktisch betrachtet zumindest ambivalent ist: Auf der einen Seite übertüncht Gerson die Probleme, die in der ihm vorgängigen Diskussion erheblich differenzierter betrachtet wurden, durch den potestas-Begriff. Das ist etwa, ich habe darauf schon hingewiesen, in seiner Grundkonstruktion der potestas ecclesiastica der Fall, in der er durch seine Ablehnung der dekretalistischen Gewaltenlehre bzw. ihres prinzipientheoretischen Status’ die amtstheoretischen und ekklesiologischen Probleme wiederkehren lässt, die geschichtlich gerade zu einer analytischen Trennung der Gewalten geführt haben. Die Keimzelle dieser Entwicklung war die Frage nach der Vereinbarkeit derjenigen potestas, die als dem ordo zugehörig gedacht wurde und daher ein Prinzip der binnenkirchlichen Hierarchie darstellte, mit derjenigen potestas gewesen, die dem officium zugeschlagen wurde und eine weitgehende autonome Handlungsvollmacht des Weiheträgers bezeichnete.¹⁹⁴ Und gerade dieses Problem wird von Gerson großzügig übermalt, indem er die potestas ecclesiastica in genere als rein formale autoritative Handlungskompetenz beschreibt und die im Begriff der potestas ecclesiastica in specie aufgenommene Unterscheidung von potestas ordinis und iurisdictionis faktisch zu Sammelbegriffen von officia degradiert, die dann den Bereichen super Corpus Christi verum, super Corpus Christi mysticum, in foro exteriori bzw. interiori ordnend zugeschlagen werden können. Um es noch einmal zu wiederholen: Klarer ist ¹⁹⁴ Siehe oben 1.3.
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Gersons Fassung des Problems verglichen mit dem Dekret Gratians oder mit Thomas von Aquin nicht. Auf der anderen Seite verdeckt Gerson durch seine ubiquitäre Verwendung des potestas-Begriffs das Potential anderer von ihm vorgelegter Lösungsvorschläge, die in ihrer Konsequenz von nicht geringerem Antitraditionalismus zeugen, als die Anwendung der Unterscheidung von potestas ordinis und iurisdictionis bei Thomas von Aquin. Nachgerade radikal erscheinen in dieser Hinsicht Gersons Fassung der plenitudo potestatis und deren Absicherung durch die im ordo vorliegenden iura. An diesen beiden zusammengehörigen Argumentationskomplexen wird deutlich, dass Gerson an der Schwelle eines tendenziell (früh)neuzeitlichen, auf jeden Fall aber rein innerweltlichen kirchlichen Institutionen- und Amtsverständnisses steht: Denn sowohl das Hervortreten der supremitas aus der latitudo der Kirchengewalt als auch die Rückbindung der Papstherrschaft an die vorpositiven Eigenrechte derjenigen, die diese latitudo kollektiv stellen, lässt sich unproblematisch in rein naturrechtliche und politische Verfahrensformen überführen und als Herrschaftsvertrag bzw. in Analogie zur Ausbildung eines ständischen Berufsverbandes begreifen, welcher sich auch zum Zweck der dauerhaften Sicherung seiner je spezifischen Berufstätigkeit und der mit ihr verbundenen Privilegien – wie etwa des Einkommens – bildet. Dabei ist es für diese naturrechtlich-politische Genese des gesamten Standes- und Herrschaftsverbandes unerheblich, dass sich seine Mitglieder durch ihr Standeszeichen mit einem übernatürlich begründeten institutionellen Sonderbewusstsein ausstatten, weil das zwar den inneren Zusammenhalt des Standes stärken mag, sich gegenüber den Vergesellschaftungsmechanismen aber gänzlich indifferent verhält. Doch, wie gesagt, bei Gerson treten diese Konsequenzen nicht hervor, sondern werden durch die eigentümlich normative Überformung des potestas-Begriffs überdeckt, der bei ihm mit dem Anspruch versehen ist, das Naturrecht noch einmal religiös zu überbieten.¹⁹⁵ Und Gerson selbst wäre es sicher nie in den Sinn gekommen, die Kirche gänzlich in Analogie zu menschlichen societates zu sehen, weil sie für ihn aufgrund ihrer das göttliche Gebot realisierenden hierarchischen Struktur und ihrer heilsautoritären Zweckbestimmung eine „Communitas perfecta“ darstellt.¹⁹⁶ Trotz solcher Ambivalenzen besteht die Leistung der Gersonschen potestasKonzeption zweifelsohne darin, dass sie eine Trennung von sakramentaler und jurisdiktioneller Dimension der kirchlichen Zuständigkeiten und amtlichen Tätigkeiten unterläuft. Sie balanciert die amtsgewaltliche Unwucht aus, die im 13. Jahrhundert die potestas ordinis in ihrer institutionellen Bedeutung zu Gunsten der potestas iurisdictionis hintanstellte.¹⁹⁷ Insofern lässt sich Gersons ¹⁹⁵ Siehe oben Anm. 192. ¹⁹⁶ Der Begriff D P II, 240A. ¹⁹⁷ Siehe oben 2.3.
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Vorstellung als Fortbildung eben dieser Lehre ansehen, die ja auf korporativinstitutionelle Durchbildung der kirchlichen Gewalten drang und die Ausrichtung aller Gewalten auf das bonum commune einforderte, was in Gersons Ausführung in Form der Betonung der Funktionalität und Einheit der institutionalisierten Kirchengewalt wiederkehrt. Deshalb lässt sich das Hervortreten des ordo als ausschließlicher soziologischer Bezugspunkt der potestas ecclesiastica bei Gerson nicht bloß als weltanschaulich motivierte Repristination jener ekklesiologischen Traditionen verstehen, welche die Pariser Säkularkleriker im Konflikt mit den Mendikanten anderthalb Jahrhunderte zuvor in Anspruch genommen haben. Natürlich lassen sich solche ideengeschichtlichen Verbindungslinien ziehen, wie die Forschung ausführlich an Gersons Verwendung der Autorität von Dionysius Areopagita und seiner Lehre von der Analogie zwischen himmlischer Engelshierarchie und kirchlicher Hierarchie gezeigt hat.¹⁹⁸ Doch in Gersons Traktat De potestate ecclesiastica, in dem der Areopagite zwar bemüht wird,¹⁹⁹ ihm aber keine tragende argumentative Rolle zukommt,²⁰⁰ wird das gebrochene Verhältnis Gersons zu diesen Traditionen deutlich, das durch den spätmittelalterlichen Repräsentationsgedanken erzeugt wird. Das sachlich ausschlaggebende, wieder in Gersons Ablehnung der traditionellen Fassung der ‚Restkirchenlehre‘ angebahnte Problem, das Gersons Kleruszentrierung der Kirchentheorie motiviert, ist ja die Frage, wer das die gesamte Institution durchwaltende Prinzip der potestas ecclesiastica korporativ vertreten kann. Und das kann unter den von Gerson gepflegten Denkvoraussetzung eben nur der durch die Weihe mit der kirchlichen Sakraments- und Institutionengewalt ausgestattete Klerus sein, der allein die historische Kontinuität des durch die Kirche vermittelten göttlichen Heilshandelns gewährleisten kann: Ansonsten müssten – wie Gerson es formulierte – schon alle Menschen Priester sein. Mit dieser Auffassung lässt sich aber, darin hat Gerson wohl Recht, eine legitimatorische Stabilisierung der Papstkirche nicht erreichen, zumindest dann nicht, wenn man ihr sakramentale Heilsexklusivität zuspricht.
¹⁹⁸ Vgl. nur C B, Pastor and Laity in the Theology of Jean Gerson, Cambridge 1987, bes. 38–41; D E. L, John Gerson and Hierarchy, in: I W / G A. L (Hg.), Church and Chronicles in the Middle Ages. Essays presented to John Taylor, London 1991, 193–200; L B. P, Jean Gerson: Principles of Church Reform, Leiden 1973 (SMRT 7), bes. 17–48. ¹⁹⁹ Vgl. nur D P II, 239A / B. ²⁰⁰ In seiner magistralen Arbeit über den Traktat De potestate ecclesiastica hat M, Jean Gerson, bes. 252–286, das freilich immer wieder behauptet; die Begründung dafür ist er aber schuldig geblieben. Nachgerade typisch für seine völlige Überbetonung der Rolle des Areopagiten ist, dass Meyjes die ‚mosaische Mischverfassung‘ mit der Dionysischen Hierarchienlehre überblendet (ebd., 266), was Gerson gerade nicht macht.
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Gersons Kleruszentrismus mag man, wie es manchmal in der Forschung geschieht, ‚konservativ‘ nennen.²⁰¹ Doch eine solche Bezeichnung setzt Alternativen in Gersons Zeit voraus, die diesem Verdikt gerade nicht verfallen. Ob eine solche Alternative im konziliaren Diskussionskontext von Gersons Traktat durch die Einbeziehung der sog. ‚Laien‘ in das Konzil gestellt wurde, ist trotz der darin waltenden manchmal ‚demokratisch‘ bzw. ‚parlamentarisch‘ genannten Züge fraglich.²⁰² Denn die Dauerdebatten über das konziliare Abstimmungsrecht, die bereits in Konstanz geführt wurden und sich auf dem Konzil von Basel (1431–1445) noch einmal ausweiteten, zeigen nur allzu deutlich, wie bei denen, welche die Gesamtrepräsentation der Kirche im Konzil als eine Versammlung aller Christen konzipierten, der dogmatische Repräsentationsanspruch und die Möglichkeit auseinanderklafften, aus ihm ein konziliares Organisationsprinzip abzuleiten. Hier setzten auf dem Konzil von Basel die Vertreter des wiedererstarkenden Papsttums an und nutzten die sich ihnen bietenden argumentativen Angriffsflächen effektvoll aus.²⁰³ Vor diesem Hintergrund kommt Gersons Vorschlag zum konziliaren Abstimmungsmodus als Versuch zu stehen, dogmatischen Anspruch und praktische Organisation der Konzilsrepräsentation zusammenzuführen. Diesem Vorschlag ist man zwar in der Konzilsorganisation nicht gefolgt,²⁰⁴ er wirkte aber, wie viele andere Überlegungen Gersons zu Repräsentation und Konsens, in der späteren Konzilstheorie fort.²⁰⁵ ²⁰¹ Jüngst hat das wiederholt R, Discretio spirituum, 106 u. ö. Zuerst ist diese Einschätzung wohl von P, Jean Gerson, 211 f. geäußert worden. Wenn P, ebd., Gersons Ansinnen der „reassertion of the authentic church structures combined with deep moral renewal of both hierarchy and laity“ als konservativ bezeichnet, gibt er aber nur den Gehalt des damaligen Begriffs von ‚reformatio‘ wieder, vgl. E W, Art. „Reform, Reformation“, in: GGB 5 (1984), 313–360, bes. 321–324. ²⁰² Vgl. zu diesen Bewertungen H H, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 (Studien zur Verfassungsgeschichte 22), 272–275. ²⁰³ H, Repräsentation, 275. Vgl. weiterhin H G. W, Die Gegner Ockhams: Zur Korporationslehre der mittelalterlichen Legisten, in: G G . . (Hg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen, Opladen 1990, 113–139. ²⁰⁴ Vgl. zur Gesamtentwicklung des mittelalterlichen Konzilstypus A H, Die Rezeption und Umbildung der allgemeinen Synode im Mittelalter, HV 10 (1907), 465–482. ²⁰⁵ Vgl. zum Abstimmungsverfahren: K W N, Kirche und Konzil bei Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus), Köln / Graz 1964 (FKRG 4), 164 f. Gersons Wirkung auf die Repräsentationstheorie wird vor allem bei Nikolaus von Kues greifbar, vgl. die prägnante Studie von R H, Wort und Leitidee der „repraesentatio“ bei Nikolaus v. Kues, in: Z (Hg.), Der Begriff der repraesentatio, 139–162; W, Imperiales Königtum, 237–243. Zur Fortentwicklung der Repräsentationstheorie insgesamt vgl. A B, Monarchy and Community. Political Ideas in the later Conciliar Controversy 1430– 1450, Cambridge 1970 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought III / 2), bes. 7–22; W K, Konsens und Rezeption. Verfassungsprinzipien der Kirche im Basler Konziliarismus, Münster 1980 (BGPhMA.NF 19), bes. 326–337.
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Das Verdikt des ‚Konservativismus‘ lässt darüber hinaus leicht übersehen, dass Gersons Abstellen auf den ordo der Kleriker durchaus lebensweltliche Plausibilitäten für sich hatte, die der Pariser Universitätkanzler nicht nur als kirchlicher Pfründeinhaber sondern vor allem durch seine vielfältigen kirchenpolitischen Aktivitäten auf Provinzialsynoden gut kannte: Dass der Klerus in den Gemeinden am Anfang des 15. Jahrhunderts noch von einer relativ stabilen Kirchlichkeit ausgehen konnte und einer sich teils intensivierenden Frömmigkeit gegenüber sah, die – etwa in Gestalt der devotio moderna²⁰⁶ – mehr in die Kirche hinein als aus ihr heraus drängte, oder sich ohne allzu große Anstrengung kirchlich integrieren ließ – wie etwa die Entstehung des Fronleichnamfests zeigt²⁰⁷ –, kann mittlerweile als ein gesichertes Ergebnis der Forschung gelten.²⁰⁸ Auch die gesellschaftliche Anerkennung der kirchlichen Amtsträger war, insofern ihre sozioökonomische Situation dafür als Indiz gewertet werden kann, besonders in den Städten auf relativ hohem Niveau stabil. Wolfgang Petke hielt jüngst fest: „Pfarrherren, Altaristen und auch Vikare an inkorporierten Kirchen dürften bei erheblichen Abweichungen im Einzelnen in der Regel auskömmlich befründet gewesen sein“. Ähnliches ist für diejenigen Kleriker anzunehmen, die „auf die im 15. Jahrhundert stark im Zunehmen begriffenen Votivmessen, Messstipendien oder Gesellpriesterstellen angewiesen waren“.²⁰⁹ Freilich bieten weder kirchliche Frömmigkeitsorientierung noch die ausreichende Versorgung der kirchlichen Amtsträger im sozial ausdifferenzierten Niederklerus einen Anlass, die für das 15. Jahrhundert allzu bekannten Spannungen und Krisenphänomene zu marginalisieren. Die nun auch durch ihre Stiftungen am Kirchenwesen beteiligten ‚Laien‘, besonders die territorialen Obrigkeiten, übten zunehmenden Einfluss auf die Schicksale ihrer Pfarrge²⁰⁶ Vgl. dazu die glänzende prägnante Übersicht der Entwicklung dieser Bewegung bis an das Ende des 15. Jahrhunderts mit weiterer Literatur von G F, Gabriel Biel und die Brüder vom Gemeinsamen Leben, Tübingen 1999 (SuRNR 11), 7–59. ²⁰⁷ Vgl. die sehr überzeugende Argumentation von W G. B, Corpus Christi im mittelalterlichen England, in: J L (Hg.), Frömmigkeitsformen in Mittelalter und Renaissance, Brühl 2004 (Studia humaniora 37), 247–262. ²⁰⁸ Eine Übersicht bei H B / H D, Konzilien, Kirchenund Reichsreform (1410–1495), Stuttgart 2005 (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. 10., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 8), 228–240. Vgl. auch: B M, Frömmigkeit in Deutschland um 1500 (1965), in: D., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze, hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, 73–85. ²⁰⁹ W P, Die Pfarrei. Ein Institut langer Dauer als Forschungsaufgabe, in: E B . . (Hg.), Klerus Kirche und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen SchleswigHolstein, Neumünster 2006, 17–49, hier: 33. Vgl. auch D K, Der niedere Klerus in der sozialen Welt des späten Mittelalters (1970), in: D., Klerus, Ketzer, Kriege und Prophetien. Gesammelte Aufsätze, Warendorf 1996, 1–36. Zur Finanzierung der mittelalterlichen Kirchen und des Klerus insgesamt vgl. W P, Oblationen, Stolgebühren und Pfarreinkünfte vom Mittelalter bis ins Zeitalter der Reformation, in: H B (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, Göttingen 1994 (AAWG.PH 206), 26–58.
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meinden aus, was der Klerus teils heftig als ungebührliche Einmischungen beklagte.²¹⁰ Die Unzufriedenheit der ‚Laien‘ artikulierte sich spiegelbildlich dazu in der kleruskritischen Literatur des späten 14. und des 15. Jahrhunderts, wobei es in dieser Literaturgattung schwer ist, die verschiedenen Ebenen des Konflikts sauber voneinander zu scheiden; methodisch ist an ihrer Bewertung schwierig, wie bereits Albert Hauck für das 13. Jahrhundert notierte, dass wir über die Priester, die ihre Arbeit anerkennenswert verrichteten, kaum literarische Zeugnisse vorliegen haben, was jedoch keinesfalls heißen kann, dass es solche Priester nicht gab.²¹¹ Ebenso sind viele ‚antiklerikale‘ Äußerungen neben sozialen Konflikten zwischen Klerus und ‚Laien‘ sowie wirklichen Missständen des Kirchenwesens auch von dem normativen Klerusbild geprägt, welches vom 11. Jahrhundert an durch das Papsttum offenbar erfolgreich verbreitet wurde.²¹² Alles in Allem zeigen solche Phänomene, dass die religiösen Erwartungen an die Heilsanstalt Kirche und an den für ihre sakramentale Heilsvermittlung vorgesehenen Klerus ungebrochen vorhanden waren. Gersons Betonung des Klerus als Zentrum seiner Theorie kann man daher auch so begreifen, dass er die Legitimitätserosion der Papstkirche durch eine Stabilisierung der gesellschaftlich vorhandenen Institutionenerwartungen an die Kirche und ihre Amtsträger zu kompensieren gedachte. Ein Indiz für diese Überlegung bilden nicht zuletzt Gersons vielfältige Versuche, die vorhandenen kirchlichen Spannungen und Krisen durch ein Reformprogramm zu überwinden, das die Frömmigkeit der Laien kirchlich vertiefen und die Leistungen des Klerus verbessern sollte. Wir brauchen die hierher gehörenden Reformimpulse, die Gersons Schriften durchziehen, nicht aufzuzählen; Christoph Burger hat dies bereits anschaulich und überzeugend getan.²¹³ Gersons umfangreiche Reformplädoyers beförderten jedenfalls zusammen mit den durch den entstehenden Buchdruck ²¹⁰ Vgl. für Deutschland B / D, Konzilien, 240–246. Zur zunehmenden Einflussnahme der territorialen Obrigkeit vgl. die Studie von M S, Fürsten und Reformation. Geistliche Reformpolitik weltlicher Fürsten vor der Reformation, Tübingen 1991 (SuRNR 2). ²¹¹ H, Kirchengeschichte IV, 920–923. ²¹² Vgl. H Z, Die Christenheit im Hoch- und Spätmittelalter, Göttingen 2004, 291. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zur ‚Antiklerikalismus-Debatte‘ bei B / D, Konzilien, 229 f. ²¹³ Vgl. dazu mit weiterer Literatur C B, Theologie und Laienfrömmigkeit. Transformationsversuche im Spätmittelalter, in: H B . . (Hg.), Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien und Kommissionen zur Erforschung des Spätmittelalters 1983–1987, Göttingen 1989 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse. Dritte Folge, Nr. 179), 400–420; ., Direkte Zuwendung zu den ‚Laien‘ und Rückgriff auf Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur, in: B H / T L (Hg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001 (SuRNR 15), 85–109.
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wachsenden Kommunikationsmöglichkeiten nachhaltig den Aufschwung auch von pastoraltheologischen Handbüchern, in denen der Niederklerus über die Inhalte, den angemessenen Vollzug und teilweise auch die theologischen Hintergründe seiner Tätigkeit unterrichtet wurde.²¹⁴ Welches Amtsverständnis in diesem praktischen Bereich vorzufinden ist, wollen wir im nächsten Abschnitt anhand von Gabriel Biels Messkanonkommentar betrachten. An ihm lassen sich auch die Wirkungen der Vorstellungen von der Kirchen- und Amtsgewalt, wie sie auf dem Konzil von Konstanz zwischen Pierre d’Ailly und Johannes Gerson zur Debatte standen, ablesen.
4. Gabriel Biel: Das Amt im Umfeld spätmittelalterlicher Reformtheologie Die Betrachtung der Amtsvorstellung in Gabriel Biels Canonis Misse Expositio²¹⁵ bildet die letzte Etappe unseres problemgeschichtlichen Durchgangs durch die mittelalterlichen Amtskonzeptionen. Mit ihr betreten wir die Bildungswelt Martin Luthers.²¹⁶ Biels Ausführungen sind hier aber nicht bloß als Vorbereitungen der auf ihn folgenden Entwicklung zu betrachten, sondern als der Versuch, die amtstheoretischen Vorstellungen seiner Zeit als Hintergrund der praktischen Tätigkeit des Klerus aufzuzeigen und bildend zu vertiefen. Aus Vorlesungen zwischen 1484 und 1488 hervorgegangen, ist Biels Erläuterung der priesterlichen Messhandlung ebenso ein Dokument der spezifischen Umstände, die Biels letzte Lebensphase prägten, wie ein Ausdruck des ²¹⁴ Vgl. P A. D, Handbooks for Pastors: Late medieval Manuals for Parish Priests and Conrad Porta’s Pastorale Lutheri (1582), in: R J. B / A C. G (Hg.), Continuity and Change. The Harvest of Late Medieval and Reformation History. Essays Presented to Heiko A. Oberman on his 70th Birthday, Leiden 2000, 143–162, bes. 144– 151. Die dieser Zusammenfassung zugrundliegende Doktorarbeit Dykemas: „Conflicting Expectations: Parish Priests in Late Medieval Germany“ (University of Arizona, 1998) stand mir nicht zur Verfügung. ²¹⁵ Ich verwende die geläufige Edition: Canonis misse expositio. Ed. H A. O / W J. C. 4 Bände, Wiesbaden 1964–1967 (VIEG 31–34), im Folgenden zitiert mit den Vorlesungen (Lect.) sowie Band- und Seitenzahlen der Edition in Klammern, und das dazu gehörige Register: Canon misse expositio. Dispositio et conspectus materiae cum indice conceptuum et rerum. Curavit W W, Wiesbaden 1976 (VIEG 79). Zur Kritik an dieser Edition, die freilich ihren Wert nicht mindert, weil sie – anders als eine bessere – nicht bloß eine Forderung ist: W W, Gabriel Biel als spätmittelalterlicher Theologe, in: U K / S L (Hg.), Gabriel Biel und die Brüder vom gemeinsamen Leben. Beiträge aus Anlaß des 500. Todestages des Tübinger Theologen, Stuttgart 1998 (Contubernium 47), 25–34, bes. 31. ²¹⁶ Vgl. dazu die Zusammenfassung des Materials bei V M, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005 (SuRNR 26), 160 f.
4. Gabriel Biel: Das Amt im Umfeld spätmittelalterlicher Reformtheologie
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reformtheologischen cantus firmus, der seine gesamte Biographie durchzog.²¹⁷ Gleich nach Abschluss seines Erfurter Theologiestudiums (1457) ging Biel nach Mainz auf eine der Dompredigerstellen, die es ihm erlaubte „in größter Öffentlichkeit an der Reform von Kirche und Gesellschaft“²¹⁸ mitzuwirken. Hier erhielt er auch von seinem Studienfreund Engelin Becker, der dort neben dem von Biel wahrgenommenen officium predicandi das zur Ausbildung des Klerus vorgesehene officium legendi innehatte, die Vorlage für seine spätere Vorlesung.²¹⁹ Sowohl seine Treue zum Papsttum, das sich nach der Wiederherstellung der kirchlichen Einheit durch die Wahl Martin V. (1417) auf dem Weg der Besserung befand, als auch seine ausgesprochen guten Kontakte zu territorialen Herrschaften ermöglichten es Biel, seine kirchlichen Reformbemühungen immer weiter auszudehnen. In der devotio moderna fand Biel von 1469 an seine lebenserfüllende Wirkungsstätte, wobei er sich, vielleicht aus Resignation über die Vergeblichkeit seiner ersten Reformbemühungen, eigentlich von der Welt in Gebet und wissenschaftlicher Arbeit zurückziehen wollte. Doch mit seiner Berufung nach Württemberg (1477) avancierte er, mittlerweile etwa 67jährig, zum einflussreichen und wohl bedeutendsten Organisator der Brüdergemeinschaft. Das maßgeblich von ihm geschaffene „oberdeutsche Modell der Devotio moderna“²²⁰ baute die am Ideal der Urkirche orientierte Frömmigkeitsgemeinschaft von Klerus und Laien, die ihr Zusammenleben mit quasimonastischer Disziplin regulierten, zur treibenden Kraft der territorialen Kirchenreform aus. Sowohl der württembergische Landesherr Eberhard im Bart als auch Biel sahen, wie Gerhard Faix in seiner eindrucksvollen Studie formulierte, „in der Verbindung von spirituellem Gemeinschaftsleben, theologischer Wissenschaft und deren praxisorientierter Umsetzung ein probates Mittel zur Verbesserung der Seelsorge und ein Modell zur Reform des Weltklerus“.²²¹ Die Einbindung der Brüder vom Gemeinsamen Leben in die territoriale Bildungspolitik und besonders in die theologische Ausbildung an der 1477 neugegründeten Tübinger Universität ermöglichten es Biel, ab 1484 die Erklärung des Messkanons auszuarbeiten. Dass in Biels Ausführungen das ‚kirchliche Amt‘ vornehmlich in Gestalt des Priesteramts fassbar wird, ist aufgrund des praktisch-theologischen Kontextes seiner Schrift klar. Wichtig für das Folgende ist, dass Biel für seine Ausführungen nicht auf eine eigene, ausgearbeitete Amtskonzeption zurückgreifen konnte. Das gleichzeitig mit seinem Kommentar zur Messe entstehende theoreti²¹⁷ Vgl. zur Biographie neben F, Gabriel Biel, bes. 33–51 (mit reichlich weiterer Literatur) auch I C, Gabriel Biel – eine Karriere zwischen vita contemplativa und vita activa, in: K / L (Hg.), Gabriel Biel, 1–24. ²¹⁸ C, Gabriel Biel, 6. ²¹⁹ Ebd. ²²⁰ F, Gabriel Biel, 201. ²²¹ Ebd., 50.
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schen Hauptwerk Biels, sein Kommentar zum Sentenzenkommentar von William Ockham,²²² drang wie der Sentenzenkommentar Ockhams nicht bis zum ordo-Traktat im vierten Buch vor und blieb unvollendet. In den für uns relevanten, die Amtsvorstellung und -theorie betreffenden Passagen verweist Biel auch nicht, wie er es anderer Stelle tut, auf seine Überlegungen aus dem Collectorium in IV libros sententarium Guillemi Occam. Deshalb können wir dieses Werk für unsere Betrachtung außer Acht lassen und konzentrieren uns ausschließlich auf Biels Expositio. Deren amtstheoretische Konzeption entfalten wir, indem wir uns zuerst Biels Überlegungen über die Amtsgewalten vornehmen, die er im Rahmen der Voraussetzungen des Messvollzugs anstellt. Sodann analysieren wir die Stellvertreterrolle des Priesters, wie sie von Biel in seiner Erläuterung des Anfangs des Kanonteils der Messe entwickelt wird. Den problemgeschichtlichen Ertrag der Position Biels resümieren wir, dieses gesamte Kapitel beschließend, indem wir die eingangs zitierte Äußerung von Kurt-Victor Selge über die innere Gespanntheit der spätmittelalterlichen Traditionselemente vor dem Hintergrund unserer Betrachtungen der Vorstellung vom ‚kirchlichen Amt‘ noch einmal aufgreifen. 4.1. Die Vielfalt der Amtsgewalten Heiko A. Oberman hat darauf hingewiesen, dass Gabriel Biels Überlegungen gerade bei Themen der praktischen Theologie ihn, obwohl seit seiner Studienzeit in Erfurt ein Vertreter der auf Ockham aufbauenden via moderna, in die Nähe zu und teils sogar in die Übereinstimmung mit Auffassungen der stärker thomistisch geprägten via antiqua führen.²²³ Sieht man einmal davon ab, dass solche schultheologischen Zuordnungen im Rahmen der mittelalterlichen Ekklesiologie nicht ganz zu Unrecht auf Bedenken stoßen,²²⁴ so bestätigt der Blick auf die Ausführungen zur Amtsgewalt, mit denen Biel seinen Messkanonkommentar eröffnet,²²⁵ die Beobachtung Obermans voll und ganz. Denn die im späten 15. Jahrhundert als Schulautoritäten der via moderna geltenden Theologen Johannes Gerson und Pierre d’Ailly werden zwar von Biel ausdrücklich mit ihren in den Traktaten De potestate ecclesiastica niedergelegten Ausführungen genannt;²²⁶ worüber hinaus zu beachten ist, dass beide in der ²²² Zur Chronologie der Schriften Biels vgl. H A. O, Spätscholastik und Reformation. Bd. 1: Der Herbst des Mittelalters, Zürich 1965, 22–24. ²²³ H A. O, Spätscholastik und Reformation. Bd. 2: Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf, Tübingen 1977 (SuR 2), 35. ²²⁴ C Z, The Relationship of Theories of Universals to Theories of Church Government in the Middle Ages: A Critique of Previous Views, JHI 36 (1975), 579–594. ²²⁵ Lect. 1–3 (ed. I, 10–30). ²²⁶ Lect. 1 C und D (ed. I, 11 f.) mit direkten Verweisen auf deren Traktate De potestate ecclesiastica.
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devotio moderna auch aufgrund ihrer Verteidigung dieser Lebensform auf dem Konstanzer Konzil hohes Ansehen genossen.²²⁷ Doch ein wirklich theoretisches Interesse Biels haftet an ihnen nicht. Schon in seiner ersten kurzen Überlegung zur Amtsgewalt zeigt Biel, dass er konzeptionell auf andere Bahnen einlenkt. Hier definiert Biel die für den Messvollzug des Priesters konstitutive potestas ordinis so, dass sie super Corpus Christi verum die potestas consecrandi, offerendi, fidelibus dispensandi umfasst und super Corpus mysticum die potestas ligandi, solvendi, docendi, confortendi. Die Weihegewalt beinhaltet also zwei hier ebenfalls potestates genannte Tätigkeiten, wobei die erste auf die eucharistische Konsekration ausgerichtet ist, die zweite hingegen dazu dient, die Gläubigen in den Zustand zu versetzen, der ihnen den heilsbringenden Empfang der Eucharistie ermöglicht. Diese beiden potestates, und das fasst sie nach Biel zur potestas ordinis zusammen, werden dem ordo sacerdotalis, der die Bischöfe und Presbyter bezeichnet, in der Weihe als unverlierbarer Charakter eingeschrieben.²²⁸ Strukturell ist damit der Begriff der potestas ordinis der mendikantischen Scholastik des 13. Jahrhunderts nachgebildet, wie wir ihn hier bei Thomas von Aquin betrachtet haben. Diese Vorstellung der potestas ordinis spielte aber bei Gerson und bei d’Ailly keine Rolle. Die Bedeutung beider Theologen beschränkt sich in den folgenden Ausführungen dann auch darauf, das terminologische und motivische Material herbeizubringen, mit dem Biel die bislang nur rudimentär skizzierte Struktur auffüllt und ausleuchtet, wobei sich ganz eigenständige Differenzen von Biels Auffassung sowohl zur klassischen Gewaltenlehre als auch zu Gerson und d’Ailly einstellen. Die Übernahme von Überlegungen der Schulautoritäten der via moderna fällt hingegen mager aus. An Gersons Definition der Kirchengewalt, die er zitiert, ist für Biel eigentlich nur die Abgrenzung zur weltlichen Gewalt wichtig, womit er offensichtlich den seelsorgerlich-geistlichen Grundzug seiner Auffassung von der Kirchengewalt betonen will; die Gersonsche Differenzierung zwischen Kirchengewalt und Amtsgewalten lässt er aber völlig außer Betracht. Sein terminologisches Material bezieht Biel vor allem aus der knappen Aufzählung von sechs Kirchen- bzw. Amtsgewalten im Traktat d’Aillys. Diese sind: „Potestas consecrationis, sacramentorum administrationis, predicationis, iudiciarie correctionis, dispositionis ministrorum ecclesiae, accipiendi vite necessaria ab his quibus spiritualia administrant“.²²⁹ ²²⁷ Vgl. dazu F, Gabriel Biel, 14 f. ²²⁸ Lect. 1 B (ed. I, 11). Explizit schließt Biel an dieser Stelle an die Auffassung von Hiero-
nymus an, dass Bischöfe und Priester in der Frühzeit der Kirche keine voneinander unterschiedenen Ämter waren, wofür Biel auf Dist. 93 c. 24 (ed. F I, 327–329) hinweist. Vgl. dazu oben bei Anm. 22. ²²⁹ Lect. 1 D (ed. I, 12). Vgl. zu dieser Aufzählung die von d’Ailly: D P II, 927C–928A, siehe oben bei Anm. 142. Die eigentliche Pointe dieser Aufzählung d’Aillys vollzieht Biel aber
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Mit Hilfe dieser Aufzählung fasst Biel die potestas ordinis in der Folge klarer und noch traditioneller als in seiner Eingangsüberlegung, indem er ihr sowohl die potestas consecrationis als auch die potestas sacramentorum administrendi, die er – wie d’Ailly – mit der potestas clavium identifiziert, zuschlägt.²³⁰ Doch Biel rückt zugleich von der ordo-Vorstellung der Hochscholastik ab. Denn diese hatte, wie wir beim Aquinaten gesehen haben, die sakramentale Konsekrations- und Schlüsselgewalt so miteinander verknüpft, dass beide auf das Opfer Christi bezogen wurden, womit sie trotz ihrer Differenzen als eine Gewalt angesehen werden konnten. Biel betont hingegen die Unterschiedlichkeit der Gewalten: „Diese zwei Gewalten der Konsekration und der Schlüssel werden potestates ordinis sacerdotalis genannt. Weder sind sie gleich, noch zur gleichen Zeit den Aposteln übergeben. Von ihnen betrifft die erste die Konsekration des wahren Leibes Christi, da ja wer sie hat, den wahren Leib und das Blut Christi kraft der sakramentalen Worte konsekrieren kann. Die zweite betrifft den mystischen Leib Christi oder seine Glieder, weil wer sie hat, die Sünder lösen und binden kann. Die Gläubigen werden, sofern sie Glieder der Kirche der Zahl nach und sofern nicht den Verdiensten nach sind, wahrlich durch die Lösung auch Glieder dem Verdienst nach. Die erste, wie gesagt, ist den Aposteln beim Mahl vor der Passion Christi übergeben worden [Lk 22,19], die zweite nach der Auferstehung [Joh 20,23]“.²³¹
Die Ursprungsdifferenz zwischen Konsekrations- und Schlüsselgewalt, die Biel in der kirchlichen Weihehandlung nachvollzogen sieht, begründet für ihn sogar die Unabhängigkeit beider Gewalten voneinander. Sollte nämlich, so führt Biel aus, im Weiheakt der Bischof dem Weihekandidaten zwar Brot und Kelch nicht mit. Zwar referiert er die Ausführung Pierre d’Aillys: „Legitur autem in evangelio sextuplex potestas a christo data apostolis, discipulis, pro se et eorum successoribus, ministris scilicet ecclesie quales sunt episcopi et presbyteri“ (Lect. 1 D [ed. I, 12]). Allerdings werden daraufhin nicht wie bei d’Ailly die einzelnen Bibelstellen zu den einzelnen Amtsgewalten aufgelistet, sondern Biel führt – etwas überraschend – Dist. 21 c. 2 an, wo von sechs Amtsgewalten gar nichts steht und allein die Abkunft des Pfarrklerus von den Bischöfen nach dem Vorbild der apostolischen Sendung der 72 Jünger thematisiert wird (siehe oben bei Anm. 25). Biel unterstreicht gegen die Intention d’Aillys damit sowohl den kanonistischen Rechtscharakter der Amtsgewalten, sowie deren Abhängigkeit von den kirchlichen Leitungsämtern. Nicht nur diese Stelle hat M, Zwei Schwerter, 149 in seinen Ausführungen zur Lect. 1 Biels gründlich missverstanden – siehe bes. ebd., Anm. 122 –, weil er sich von den zitierten Schulautoritäten hat blenden lassen und meint, Biel würde sich ihnen einfach anschließen. ²³⁰ Lect. 1 D (ed. I, 12 f.). ²³¹ Lect. 1 E (ed. I, 13): „Hee due potestates consecrationis et clavium dicuntur potestates ordinis sacerdotalis, neque eedem sunt, neque simul tempore collate apostolis, quarum una respicit consecrationem corporis christi veri, quoniam habens eam consecrare potest verum corpus et sanguinem christi virtute verborum sacramentalium. Secunda respicit corpus christi mysticum seu membra eius, quia habens eam potest solvere et ligare peccatores, fideles tamen qui sunt membra ecclesie numero si non merito, licet solutione fiant, etiam membra merito, prima ut dictum est collata est apostolis in cena ante christi passionem, secunda post resurrectionem“.
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mit der entsprechenden Weiheformel überreichen, schritte dann aber nicht mehr bis zur Handauflegung fort, so könnte der so Geweihte zwar die Eucharistie konsekrieren, aber eben nicht absolvieren.²³² Die Implikationen dieser Ausführung sind für die Auffassung von der Weihegewalt beträchtlich. Denn Biel kritisiert damit nicht bloß die klassische These, dass die Vollmacht zur Konsekration der Eucharistie eine potentielle Verfügungsgewalt über die anderen Sakramente beinhaltet, sondern er sprengt den innersakramentalen Verweisungszusammenhang der klassischen Konzeption der potestas ordinis grundsätzlich auf. Buß- und Konsekrationsgewalt erscheinen als zwei voneinander getrennte, nur noch durch den Akt der Weihe miteinander vebundene, auf ganz bestimmte Aufgaben restringierte Vollzugskompetenzen. Insofern setzt Biel die schon bei Gerson zu beobachtende Tendenz der Identifikation der einzelnen potestates mit einzelnen officia fort,²³³ allerdings nicht mit der Absicht, sie in einer prinzipiellen und normativen Einheit wieder zusammenzufassen. Ihr Zusammenhang wird allein durch den kirchlich-institutionellen Rahmen sichergestellt. Eine irgendwie erkennbare steuerungspraktische Bedeutung kommt der Differenzbestimmung innerhalb der potestas ordinis nicht zu. In dieser Hinsicht verbleibt Biel ganz in den Spuren der klassischen Gewaltenlehre: Die Ausübung der Weihegewalten wird durch eine weiheunabhängige Jurisdiktionsgewalt reguliert, was in erster Linie die potestas clavium betrifft. Zwar bezeichnet Biel diese Jurisdiktionsgewalt, die er mit der potestas dispositionis ministrorum ecclesiae von d’Ailly gleichsetzt,²³⁴ mit Gersonscher Terminologie als potestas iurisdictionis in foro interiori.²³⁵ Er wendet aber sogleich gegen Gerson ein, der diese Gewalt „radicaliter … in potestate Ordinis Sacerdotalis & Episcopalis“ begründet ansah,²³⁶ dass sie weder eine Weihegewalt ist noch in der Weihe mitverliehen wird. Sie kann nach Biel nur insoweit als in der priesterlichen Weihegewalt ‚begründet‘ angesehen werden, als sie – faktisch – niemandem außer denen übergeben wird, die die sakramentale potestas clavium in der Weihe empfangen haben: „Es wird nämlich durch die Jurisdiktionsgewalt nicht eine neue Gewalt für die sakramentale Absolution gegeben, sondern die Materie unterworfen, in der aufgenommen die potestas clavium ausgeübt werden kann“.²³⁷ Wir können uns Ausführungen zum daran anschließenden ²³² Lect. 1 E (ed. I, 14): „Et si collata prima scilicet potestate consecrandi non procederet episcopus ad collationem aliarum, non esset ille perfecte in sacerdotem ordinatus. Possetque conficere corpus christi, non tamen ligare et solvere peccatores, quia ad hoc nondum fuisset sibi collata potestas“. ²³³ Vgl. oben bei Anm. 194. ²³⁴ Lect. 3 A (ed. I, 22). ²³⁵ Lect. 3 B (ed. I, 23). ²³⁶ D P II, 232D–233A. ²³⁷ Der ganze Abschnitt Lect. 3 B (ed. I, 23): „Hec potestas iurisdictionis in foro anime interiori non est potestas ordinis, nec confertur in ordinis suspectione. Nam eoipso quo aliquis
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Problem der executio potestatis bei Biel sparen, weil wir dies schon bei Thomas von Aquin behandelt haben.²³⁸ Erwartungsgemäß liegt diese Jurisdiktionsgewalt nach Biel im Papsttum gebündelt vor. Bemerkenswert daran ist allerdings, wie Biel den Topos der plenitudo potestatis in seinen Kommentar einführt. Da sich an dieser Stelle²³⁹ ein charakteristischer Eindruck von der gesamten Vorgehensweise Biels gewinnen lässt, gehen wir sie kurz durch: Nachdem er die Kompetenz zur Amtsbesetzung mit der Kompetenz zur Gewährung der executio potestatis verbunden hat, weil mit der Zuweisung einer Parochie dem Geweihten die ‚Materie‘ zur Ausübung der Schlüsselgewalt übergeben wird, führt Biel aus: „Diese Jurisdiktionsgewalt liegt in ihrer Fülle im höchsten Pontifex vor, welchem für die ganze allgemeine Kirche aufgrund seiner Einzigkeit obliegt, insgesamt die Rektoren und Prälaten in der kirchlichen Hierarchie einzusetzen, weil ihm allein gesagt ist: Weide meine Schafe [Joh 21,17]. Wo Christus nicht zwischem diesen und jenen unterscheidet, sondern ihm allgemein die Sorge für Alle aufträgt“.²⁴⁰ Die prinzipielle Gestalt der päpstlichen plenitudo potestatis wird von Biel im nächsten Satz deutlich gemacht: „Von ihm steigt also mittelbar oder unmittelbar die ganze kirchliche Jurisdiktion in die niedrigeren Vorsitzenden ab, welche er neben sich in Teilverantwortung (in partem sollicitudinis) beruft, weil er selbst zur plenitudo potestatis berufen ist“, woran Biel einen Hinweis auf eine Dekretale von Innozenz III. aus dem Liber extra anfügt.²⁴¹ Im folgenden Satz ordinatus est presbyter non est constitutus prelatus nec curator alicuis persone vel plebis. Presupponit tamen eam et fundatur in potestate ordinis sacerdotalis, quia nulli committitur nisi sacerdoti potestatem clavium ex ordine habenti. Non enim per potestatem iurisdictionis datur nova potestas absolvendi sacramentaliter, sed materia subiicitur, in quam accepta potestas clavium valeat exerceri“. Notierenswert an dieser Ausführung ist noch, dass Biel hier ganz selbstverständlich von der Praxis der absoluten Ordination ausgeht (vgl. dazu oben bei Anm. 42). Wir lassen die Frage beiseite, warum Biel die Auffassung Gersons ablehnt; sehe ich richtig und Biels kurz darauf zu findende Ausführungen deuten es an (Lect. 3 E [ed. I, 26 f.]), dient die Abkoppelung der potestas iurisdictionis in foro interiori von der potestas ordinis der Begründung der Bußreservationen, die Gerson durch eine Verknüpfung beider Gewalten so weit es geht zu minimieren suchte. Zu Gersons diesbezüglicher Stellung vgl. B, Pastor, 71 f. ²³⁸ Siehe oben bei Anm. 99. ²³⁹ Lect. 3 A (ed. I, 22 f.). ²⁴⁰ Lect. 3 A (ed. I, 22): „hec potestas iurisdictionis in sua plenitudine residet in summo pontifice, quo ad totam ecclesiam universalem [korr. nach B] quia ipsius solius est universaliter instituere rectores et prelatos in ecclesiastica hierarchia, cum ipsi soli dictum est: Pasce oves meas. Ubi christus non distinxit inter has et illas, sed generaliter omnium curam sibi commisit“. ²⁴¹ Lect. 3 A (ed. I, 22): „Ab eo ergo descendit mediate vel immediate omnis ecclesiastica iurisdictio in inferiores presidentes, quos vocat ad se in partem sollicitudinis, cum ipse vocatus sit in plenitudinem potestatis, ut in cap. Ad honorem, DE USU PALLII, Innocentii III.“. Die entscheidende Stelle X.1.8.4 lautet (ed. F II, 101): „Sane solus Romanus Pontifex in missarum solemniis pallio semper utitur et ubique, quoniam assumptus est in plenitudinem ecclesiasticae potestatis, quae per pallium significatur; alii autem eo nec semper, nec ubique, sed in ecclesia sua, in qua iurisdictionem ecclesiasticam acceperunt, certis debent uti diebus, quoniam vocati sunt in partem sollicitudinis, non in plenitudinem potestatis“.
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kommt das Verhältnis von Papsttum und Episkopat zur Sprache: „In den niedrigeren Prälaten also ist diese Gewalt gemäß dem vernünftigen Willen des höchsten Priesters begrenzt. Weshalb ein Bischof niemanden binden und lösen kann außer von seiner Diözese“.²⁴² Das belegt Biel wieder mit einer Dekretale.²⁴³ Und dann wird unter ausgeschriebener Anführung einer (pseudoisidorischen) Autorität aus dem Dekret Gratians²⁴⁴ die pfarramtliche Konsequenz gezogen: „So hat auch ein Parochialpriester für andere, seiner Parochie nicht Untergebene keine Absolutionsgewalt“.²⁴⁵ Inhaltlich bleibt hier einiges undeutlich. Betont man nämlich das ‚Herbsteigen‘ der Papstgewalt auf die niederen Amtsränge und den ‚vernünftigen Willen‘ des Papstes, der die Gewalt der niederen Ämter begrenzt, so liegt die Annahme nahe, dass Biel komplett dem Verständnis der plenitudo potestatis folgt, wie es die Mendikanten und die Dekretalistik entwickelt haben. Betont man hingegen, dass die vom Papst ausgehende Gewaltenbegrenzung der anderen Ämter nur dem Übergriff in andere Zuständigkeitsbereiche wehrt, so könnte man zu der Annahme gelangen, dass Biel hier sehr wohl Eigenrechte der Bischöfe und Parochialpriester annimmt, also einem eher dekretistischen Verständnis der plenitudo potestatis folgt.²⁴⁶ Formal ist an Biels Ausführungen aber deutlich, dass die plenitudo potestatis für ihn ein kirchlich-positives Faktum ist. Sie wird aus dem im späteren Mittelalter entscheidenden locus classius des Papsttums, Joh 21, 17,²⁴⁷ und dem Kirchenrecht schlicht und einfach deduziert. Mit Biels Ausführung zur potestas dispositionis ministrorum ecclesiae sind alle für den Messvollzug wesentlichen Gewalten behandelt. Die übrigen sind für Biel von keinem weiteren Interesse. Sie werden der Vollständigkeit halber noch von ihm angeführt.²⁴⁸ Aus den knappen Erläuterungen zu ihnen verdient allein die zur Predigt Aufmerksamkeit, die Biel – wieder d’Ailly aufnehmend – als potestas apostolatus bzw. auctoritas predicandi bezeichnet.²⁴⁹ Ausdrücklich hebt Biel ihre Unabhängigkeit von der Priesterweihe hervor und unterstreicht, dass die Predigtgewalt in erster Linie und allgemein den Bischöfen als Nach²⁴² Lect. 3 A (ed. I, 22): „In inferioribus vero prelatis est hec potestas limitata, secundum summi sacerdoti rationabile arbitrium. Unde episcopus nullos potest ligare et solvere nisi de sua diocese“. ²⁴³ X.3.29.3 (ed. F II, 554 f.). ²⁴⁴ C. 13 q. 1 c. 1 (ed. F I, 717 f.). Im Text wird fälschlicherweise auf Causa 15 verwiesen. Der Apparat hat aber die richtige Stelle. ²⁴⁵ Lect. 3 A (ed. I, 22): „Sic etiam curatus in alienos sue parrochie non subiectos absolvendi nullam habet potestam“. ²⁴⁶ Zu dieser Unterscheidung oben bei Anm. 95. ²⁴⁷ Die Stelle Mt 16, 18 ist zwar im Dekret Gratians ausschlaggebend, wurde aber – wie wir bei Gerson angemerkt haben – zur Zeit Biels von den Konzilstheoretikern in Anspruch genommen, vgl. oben Anm. 183. ²⁴⁸ Lect. 3 G–I (ed. I, 28–30). ²⁴⁹ Lect. 3 G (ed. I, 28 f.).
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folgern der Apostel, dann auf deren Geheiß – die einzige Ausnahmen ist die unmittelbare Berufung durch Gott – und für bestimmte Orte den Priestern als Nachfolgern der 72 Jünger zukommt, sonst aber von keinem Weiherang ausgeübt werden kann.²⁵⁰ So markant hier das Selbstbewusstsein der spätmittelalterlichen priesterlichen Predigerelite zutage tritt, der Biel selbst einmal angehört hat, so zeigt eine solche Bemerkung wiederum, dass Biel in seinen einleitenden Ausführung zu den Amtsgewalten keinen Wert auf eine sie verbindende Systematik legt. Alles ist auf die institutionelle Zuweisung von einzelnen Aufgabenausübungen gestimmt. Die Einbettung dieser Zuweisungen in ein Gesamtgefüge der kirchlichen Ämterordnung und -strukturen ist hingegen in den einleitenden Passagen der Expositio nur ansatzweise vorhanden. Erst in seinen späteren Ausführungen kommt Biel auf diesen Apekt noch einmal zurück. 4.2. Sacerdos in persona ecclesiae Der Anlass für Biel, die Stellung des Priesters im institutionellen Gesamtgefüge einer zumindest skizzenhaften Betrachtung zu würdigen, ist der Beginn des Kanonteils der Messe, in dem liturgisch die Messe in die priesterliche Opferhandlung übergeht.²⁵¹ Dabei bedarf es einmal der Klärung, in welcher Funktion der Priester das Messopfer sowohl vollzieht als auch an die Gläubigen austeilt. Und sodann muss dem opfernden Priester dargelegt werden, für den die Expositio schließlich gedacht ist, ob bzw. inwiefern sein individueller Gnadenstand das Messopfer beeinträchtigt. Die Leitthese zur Behandlung beider Aspekte ist, dass der Priester in persona ecclesiae agiert,²⁵² womit Biel einen in der zeitgenössischen institutionellen Repräsentationstheorie prominenten Begriff aufnimmt.²⁵³ Doch die entsprechenden Theoriebildungen klammert er fast vollständig aus. Das zeigt schon seine Näherbestimmung des Begriffs in persona ecclesiae, der für ihn gleichbedeutend ist mit in merito ecclesiae.²⁵⁴ Die ²⁵⁰ Die zentrale These Lect. 3 G (ed. I, 28): „Hec potestas non confertur ex vi ordinationis sacerdotalis, nec par est in omnibus, sed duntaxat est primum apostolis collata, quos misit predicare toti orbi in loco iam allegato. Concessa est et septuagintaduobus discipulis non per totum orbem, sed tantum per loca ad que christus erat personaliter venturus. … Horum tipum et figuram gerunt modo in ecclesia episcopi et curati. Apostolorum episcopi, septuagintaduorum discipulorum curati, ut in can. In novo, 21 dist.“. Zu Dist. 21 des Dekrets vgl. oben bei Anm. 25. ²⁵¹ Der hier im Vordergrund stehende Abschnitt reicht insgesamt von Lect. 22 bis 28. Vgl. zur liturgischen Funktion des Kanons in der Messe mit weiterer Literatur W S, Die Messopfertheologie Martin Luthers, Tübingen 2003 (SuRNR 22), 63–65. ²⁵² Lect. 22 A (ed. I, 196). ²⁵³ Vgl. zur Orientierung G, Das deutsche Genossenschaftsrecht III, 425–436. ²⁵⁴ Lect. 22 A (ed. I, 196): „quia non in merito sacerdotis, sicut nec in persona sed in merito ecclesie eiusque persona offertur …“.
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Rolle des Priesters wird von ihm also allein in Bezug auf den heilsbringenden Verdienst bestimmt. Was den ersten Aspekt angeht, zerfällt die Funktion des Priesters in zwei Dimensionen. In der Darbringung des Messopfers, das heißt: in der Bitte um die Annahme des Opfers und durch die Wandlung der eucharistischen Elemente, bezeichnet Biel den Priester als „nuntius“, „instrumentum“ und „organum“ der merita ecclesiae.²⁵⁵ Insofern vertritt der Priester also gleichsam passiv die an verdienstvollen Werken nur durch Christus selbst zu übertreffende kirchliche Heilsgemeinschaft, die durch ihn und seine Handlungen sichtbar und wirksam wird. Eine nähere Analyse dieses Stellvertretungsverhältnisses interessiert Biel ebenso wenig, wie eine Näherbestimmung des Kirchenbegriffs. Wenn Biel in dem hier in den Blick genommen Kontext einen breiten an Ockham angelehnten lexikalischen Befund zum Wort ecclesia vorlegt,²⁵⁶ bleibt das nicht nur ohne jede Folge für das Verständnis der Vorstellung in persona ecclesiae, sondern lässt sich auch nicht zu einer Bestimmung der Kirchenvorstellung Biels heranziehen.²⁵⁷ Hinsichtlich der zweiten Dimension, nämlich der Austeilung der Gnade an die Gläubigen, ist Biel etwas gesprächiger. Der Priester agiert hier nach Biel als „minister“ und „dispensator“ der kirchlichen merita.²⁵⁸ Und in dieser Funktion wird die priesterliche Rolle von Biel nun in das Gesamtgefüge der kirchlichen Ämter, die policia ecclesiastica,²⁵⁹ eingeordnet: „in der kirchlichen Hierarchie sind unterschiedliche status und ordines, mit denen der Dienst Christi durchgeführt, die Kirche regiert und Gnade sowie Gaben verteilt werden“. Diesen Sachverhalt konkretisiert Biel, indem er sich auf den thesaurus ecclesiae und den Ablass bezieht, die ihm wie selbstverständlich zur Explikation für die Wirkung des Bußsakraments dienen. An erster Stelle steht die Austeilung des Kirchenschatzes aufgrund seiner supremitas dem Papst zu. Dieser verteilt Ablässe nach Maßgabe dessen, „was der Einheit der Kirche und der Frömmigkeit des Volkes nötig scheint“. Die Bischöfe haben aufgrund ihrer im Vergleich zum Papst niederen Stellung einen restringierten Zugriff auf den Kirchenschatz und daher eine eingeschränkte Kompetenz für die Gewährung von Ablässen. Und die einfachen Priester „spenden von diesem Schatz durch das Bußsakrament einen Ablass von den Strafen, durch die Zuwendung des Kirchenschatzes auf diese oder jene Personen gemäß der übertragenen Gewalt.“²⁶⁰ ²⁵⁵ Ausführlich kommt Biel darauf in Lect. 26 B bis Lect. 27 G zu sprechen (ed. I, 240– 263), hier: Lect. 26 E (ed. I, 243) und dann vor allem Lect. 27 G (I, 262 f.). ²⁵⁶ Lect. 22 C–G (ed. I, 197–202). ²⁵⁷ Die Aufzählung wird argumentativ überbelastet etwa bei O, Spätscholastik und Reformation. Bd. 1, 386. ²⁵⁸ Lect 26 E (ed. I, 243). ²⁵⁹ Der Begriff Lect. 26 B (ed. I, 241) u. ö. ²⁶⁰ Der ganze Abschnitt Lect. 26 D (ed. I, 242): „sunt in ecclesiastica hierarchia diversi status et ordines, secundum quos christi ministerium peragitur, ecclesia regitur, gratie et dona
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Sichtlich schließt Biel mit dieser Bemerkung, wie mit der doppelten Charakterisierung des Priesteramtes als nuntius und minister insgesamt, an seine oben dargestellten Ausführungen zu den potestates ordinis an. Er selbst weist auf diese Verbindung aber nur vage hin,²⁶¹ was vor allem daran liegt, dass er diesem ganzen Erläuterungszusammenhang ein noch einmal allgemeineres Verständnis des ordo unterlegt. Mit Duns Scotus wird nämlich der ordo hier als gradus excellentiae in ecclesiae definiert, der diese zwei Stellungen als „nuntius et organum“ bzw. „minister et dispensator“ umfasst.²⁶² Solche Einschärfungen der institutionellen Verankerung des Priesteramtes und der damit verknüpften Handlungskompetenzen durchziehen den gesamten Abschnitt. Gleichwohl liegt genau auf dieser immer wieder betonten institutionellen Verankerung des Priesteramtes in Biels Behandlung des zweiten Aspekts die Begründungslast, wenn Biel das Verhältnis der priesterlichen Handlungen zum individuellen Gnadenstand des Priesters bedenkt. Das ist freilich nicht neu. Denn schon Thomas von Aquin und Gerson haben – bei allen zwischen ihnen waltenden Unterschieden – die institutionell vermittelte und durch ihre institutionelle Gewährung gültige potestas des Priesters gegen die diesem persönlich zukommende gratia gratum faciens abgegrenzt und damit die Unabhängigkeit der durch die priesterliche sakramentale Handlung ausgeteilten Gnadengabe von dessen individuellen Verfehlungen behauptet.²⁶³ Natürlich galt bei ihnen, falls der Priester in Sünde die Eucharistie konsekriert, dass er sich damit selbst schädige. Die sakramentale Messfrucht werde aber dadurch nicht beeinträchtigt. Wenn Biels Position im Ergebnis zwar damit übereinstimmt,²⁶⁴ so weicht seine Auffassung an einem gewichtigen Punkt vom Aquinaten und von Gerson ab: Denn für Biel ist eine völlige Absonderung der potestas consecrationis von der Person des Amtsträgers nicht möglich. Deshalb kommt es bei ihm allein der ecclesia militans zu, das Messopfer gegen den Gnadenstand des Priesters zu isolieren. Wieder in Aufnahme von Duns Scotus formuliert Biel das so: dispensantur. Unde sicut papa ratione supremitatis potestatem habet dispensandi thesaurum ecclesie, conferendo nunc plenissimam remissionem peccatorum, nunc partem tertiam penarum auferendo, nunc certi numeri dierum vel annorum indulgentiam conferendo secundum quod viderit ecclesie unitati et populorum devotioni expedire, ceteri quoque episcopi certos indulgentiarum dies concedunt, immo et simplices sacerdotes de eodem thesauro per penitentie sacramentum indulgentiam a penis largiuntur, per applicationem thesauri ecclesie ad illas vel illas personas secundum concessam potestatem“. ²⁶¹ Zu Eingang von Lect. 22 A (ed. I, 196). ²⁶² Lect. 26 E (ed. I, 243). Zur ordo-Konzeption von Duns Scotus vgl. O, Das Weihesakrament, 76 f. ²⁶³ Vgl. oben bei Anm. 33 und Anm. 149. ²⁶⁴ Das wird bereits am Anfang von Lect. 22 A (ed. I, 196) in einem klassischen Bild hervorgehoben: „Non ergo sacerdotis iniquitas impedit sacramenti effectum, sicut nec medici infirmitas virtutem impedit medicine“.
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„Es gibt aber einen zweifachen Opfernden, nämlich den unmittelbar und persönlich Opfernden, und den anderen mittelbar und grundsätzlich Opfernden. Der erste ist der Priester, der das Sakrament konsekriert und verwendet, der es so in persona sua gleichwohl durch die göttliche Autorität vollzieht, dass kein Anderer mit ihm als dergestalt Opfernder gleichkommt. Der mittelbar und grundsätzlich Opfernde ist aber die streitende Kirche, in deren persona der Priester darbingt, und deren Diener er als Opfernder ist“.²⁶⁵
Für die Verdienstlichkeit des Messopfers hat das im ersten Fall die Konsequenz, dass das Opfer des Priesters, obwohl durch göttliche Autorität vollzogen, „nicht immer Gott angenehm [ist], noch gefällt es ihm immer, weil er [scil. der Priester, CV] häufig ein Sünder ist“. Nur im zweiten Fall „ist es immer angenommen, weil die Kirche immer heilig und die alleinige Braut Christi ist, keusch, unschuldig und ohne jeden Makel“.²⁶⁶ Faktisch ist damit bei Biel die Eigengesetzlichkeit und -mächtigkeit der traditionellen Weihegewalt fast vollständig relativiert bzw. institutionell mediatisiert. Denn der aus der Messe fließende Verdienst ergibt sich wiederum nur aus der Stellung des Priesters als minister, was nach dem vorher von Biel dargelegtem Verständnis eine jurisdiktionell delegierte Position bezeichnet. Zugespitzt formuliert: Die Verdienstlichkeit der Messe liegt damit rein in ihrer formalen institutionellen Legalität. Die eventuelle Sündhaftigkeit des Priesters ist für Biel deshalb zwar nicht hinsichtlich der Wirkung der von ihm vollzogenen Messe, insofern sie ja das Opfer der Kirche ist, aber in einer ganz anderen Richtung religiös höchst bedrohlich. Denn sie gefährdet potentiell die gesamte aktuale Gottesdienstgemeinschaft, indem sie das quantitative Ausmaß an im Messgeschehen vorhandenen merita der Kirche schmälert, wenn der Priester sündig ist. Da nämlich, so führt Biel aus, „das meritum der Kirche kein platonisches Universale oder ein abstraktes meritum außerhalb der einzelnen Menschen für sich Seiendes ist“, gilt: „Weil aber zu einer Zeit mehr gute und tugendhafte Menschen als zu einer anderen sind, folgt, dass die Kirche zu einer Zeit mehr angenommen ist als zu einer anderen“.²⁶⁷ Biels Immunisierung der potentiellen priesterlichen ²⁶⁵ Lect. 26 H (ed. I, 245): „Est autem duplex offerens, scilicet offerens immediate et personaliter, alius offerens mediate et principaliter. Primus est sacerdos consecrans et summens sacramentum, qui ita in persona sua auctoritate tamen divina hec perficit, quod nemo alius in sic offerendo secum concurrit. Offerens vero mediate et principaliter est ecclesia militans in cuius persona sacerdos offert, et cuius est in offerendo minister“. Zu Duns Scotus’ Theorie der merita ecclesiae und der doppelten Rolle des Priesters, die Biel im Wesentlichen nur nachschreibt vgl. S, Die Messopfertheologie, 95–100. ²⁶⁶ Ebd.: „Primus offerens non semper gratus est deo, nec semper sibi placet, quia sepe peccator est. Secundum offerens deo est semper acceptum, quia ecclesia semper sancta est et unica sponsa christi pudica, casta, maculam nesciens, neque rugam …“. ²⁶⁷ Die ganze Stelle Lect. 26 I (ed. I, 246): „Et regulariter quod missa sacerdotis boni existentis in gratia cuius personale meritum est partiale meritum ecclesie, melior est quam si ipse sacerdos esset extra gratiam. Patet, quia hoc modo missa est accepta, quia ecclesia sacrificium misse offerens est accepta, ecclesia autem accepta est propter membrorum suorum et gratia-
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I. Konzeptionen des kirchlichen Amts im Mittelalter
Handlungsinkompetenz durch einen höchst formalen kirchlichen Positivismus schlägt an dieser Stelle in einen recht kruden meritorischen Objektivismus um.²⁶⁸ Sicher ist diese Ausführung von Biel dazu bestimmt, die moralische Anforderung für den Priester deutlich zu machen, der die Messe vollzieht, und kann insofern als Ausdruck jener reformtheologischen Bestrebungen gewertet werden, die Biels gesamten Lebenslauf durchzogen. Allerdings legt die hier von Biel gezogene Konsequenz auch offen, dass seine Vorstellung, der Priester handle im Messopfervollzug in persona ecclesiae, zum Aufbau von Differenzen – der Priester als nuntius bzw. minister – und zur Formulierung von Gegensätzen – in sua persona und in persona ecclesiae – dient. Allein sie kommt darüber nicht hinaus, sondern verfestigt nurmehr die Differenzen und Gegensätze und objektiviert sie dogmatisch. Warum damit eine neue Entwicklungstufe der Amtsvorstellung des Mittelalters erklommen ist, betrachten wir nun abschließend. 4.3. Das ‚Amt‘ zwischen Eigengesetzlichkeit und institutioneller Bindung Solange Studien noch nicht vorliegen, die einen Vergleich von Biels Canonis Misse Expositio mit anderen zeitgenössischen Messkanonkommentaren ermöglichen, ist eine Einordnung von Biels Ausführungen in die reformtheologischen Bemühungen des ausgehenden 15. Jahrhunderts nur ansatzweise möglich. Natürlich stimmt Biel in das allgemeine, von den breiter angelegten Pastoraltheologien seiner Zeit angestrebte Ziel ein, wie Peter A. Dykema formulierte, „to supply the literate – but inexperienced – priests with reliable resources to address relevant questions and solve problems, thus marking an important step towards the professionalization of the parish clergy“.²⁶⁹ Die in Biels Expositio oft zu findenden lexikalischen Auffächerungen wichtiger Begriffe und die teils ausgeschriebenen Anführungen der Rechtsquellen, die für den parochialpriesterlichen Messvollzug unmittelbar wichtig sind, gehören zu dieser Zielbestimmung hinzu und geben Biels Expositio den Charakter eines rum in eis existentium merita, quoniam ecclesie meritum non est universale platonicum seu meritum abstractum extra homines particulares per se existens, sed est personarum et membrorum ecclesiam constituentium. Cum autem uno tempore sint plures homines boni et virtuosi quam alio, sequitur quod ecclesia uno tempore magis accepta est quam alio“. Auf diese Stelle weist schon hin O, Werden und Wertung der Reformation. Bd. 2, 31 f. mit Anm. 16 – ob man aus der hier betonten individuellen Zurechnung und notwendig individuellen Zurechenbarkeit der merita ein ‚ockhamistisches Kirchenverständnis‘ herauslesen kann, scheint mir jedoch fraglich. ²⁶⁸ S, Die Messopfertheologie, 100 Anm. 268 zitiert diese Stelle (er hat nur den Quellennachweis vergessen) und wertet sie als Ausdruck eines „anthropologischen Optimismus“ und einer „selbstbewussten Ekklesiologie“. Wie er darauf kommt, erläutert er nicht und geht auf den Kontext dieser Stelle, die sich genau an Biels Ausführungen zu dem doppelten ‚Opfernden‘ anschließen, gar nicht ein. ²⁶⁹ D, Handbooks, 151.
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Nachschlagewerks für die priesterliche Praxis. Und es ist sicher ein typisches Merkmal der literarischen Gattung von Pastoraltheologien, dass auf der Bereitstellung von Sachinformationen mehr Gewicht liegt als auf deren reflexiver Begründung und ihrer Verankerung in einer – notwendigerweise strittigen – wissenschaftlichen Diskussion. Doch die Aufnahme solcher reformtheologischen Zielbestimmungen und der damit gegebenen pädagogischen Gestaltungsanforderungen in Biels Expositio macht nur zu einem Teil verständlich, warum die von Biel vorgelegte Amtskonzeption sich zwar in ganz freizügiger Weise höchst unterschiedlicher Versatzstücke der theologischen und kanonistischen Traditionen bedient, deren theoretisches Anspruchsniveau aber beiseite lässt, um statt dessen bei jeder sich bietenden Möglichkeit die Bedeutung der papstkirchlichen Institution hervorzuheben. Die Selbstverständlichkeit, mit der Biel die Kirche als rechtliche, dogmatische und religiöse Autorität in Anspruch nimmt, legt es vielmehr nahe, Biels Expositio als ein Dokument einer Zeit aufzufassen, in der die Legitimitätsbedürftigkeit der kirchlichen Institution im Denken der kirchlichen Reformeliten nahezu vollständig zurückgetreten ist. Dieser Eindruck wird auch durch all die Auslassungen von Überlegungen verstärkt, denen Biel offensichtlich keinen für die priesterliche Praxis bedeutsamen Sach- und Informationswert zugesteht. Das gilt in erster Linie für diejenigen konsensualen und auf das Eigenrecht des Parochialpriesters abgestimmten Ansichten Gersons (und d’Aillys), aber auch für die ‚papalistische‘ Gewaltentheorie der Mendikanten und Dekretalisten, die das Papsttum nicht bloß dogmatisch verfestigen, sondern es theoretisch zu einer Instanz ausbauen wollten, die den sich wandelnden Zeiten Rechnung zu tragen in der Lage ist. Biels Desinteresse an den auf Stabilisierung bzw. Elastizität der kirchlichen Institution ausgerichteten Theorieelementen wirft dabei ein bezeichnendes Licht auf die Wahrnehmung der Papstkirche im ausgehenden 15. Jahrhundert, die offenkundig jenseits aller früheren Etablierungskämpfe und der erst jüngst vergangenen Führungskrise ihren Anspruch als unhinterfragbares Faktum katholischer Frömmigkeit erfolgreich durchsetzen konnte. Biels kirchlicher Positivismus führt dabei die seit dem Dekret Gratians wirksame Vorstellung der korporativen Durchbildung der Kirche, welche auf eine Straffung und Bereinigung der binnenkirchlichen Ordnungsverhältnisse zielte, zu einem gewissen Abschluss. Dies geschieht nun allerdings so, dass Biel faktisch diejenige Amtsstellung aushöhlt, die sich durch Berufung auf die ihr zukommende Eigengesetzlichkeit einer vollständigen Vereinnahmung durch die kirchlichen jurisdiktionellen Leitungsorgane bislang nachhaltig sperrte, nämlich den priesterlichen ordo bzw. dessen potestas ordinis. Diese Aushöhlung umfasst, wie wir gesehen haben, bei Biel zwei Schritte: Einmal sprengt er die in der potestas ordinis üblicherweise verbundenen sakramentalen Hand-
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lungsvollzüge von Eucharistie und Buße auf. Das hat zur Folge, dass die potestas consecrationis und die potestas clavium nurmehr als zwei weitere, wenn auch auf die Priester beschränkte, potestates bzw. officia der Kirche erscheinen, die wie alle anderen officia auf die sie legitimierende und legalisierende Handlungsanweisung der im Papsttum konzentrierten kirchlichen Regierungsgewalt angewiesen sind. Das ist natürlich für sich genommen nicht völlig neu. Deshalb ist die sodann zu dieser Auffassung hinzutretende religiöse Entwertung der letzten verbliebenen Reste der Selbstständigkeit der potestas consecrationis entscheidend: In sua persona agiert der Priester, selbst wenn das aufgrund göttlicher und in der Weihe begründeter Autorität geschieht, schlicht unzuverlässig. Kurzum: Der ordo sacerdotalis besitzt als Amtsinstanz keine, wie es in der früheren Scholastik hieß, religiöse excellentia. So gesehen ist der bei Biel zu bemerkende Bedeutungszuwachs der papstregierten ecclesia militans vor allem einer fehlenden institutionellen als auch religiösen Alternative geschuldet, die im Geflecht der status und ordines der kirchlichen Hierarchie ein Gegengewicht zum kirchlichen Papstzentrismus ausbilden könnte. Es mag ironisch wirken, dass das sakramentale Priestertum gerade in einer Schrift, die sich an eben dieses Priestertum wendet, auf legalistische Formen reduziert und ganz der kirchlichen Institution einverleibt wird. Doch wie gesagt, so etwas wie eine Fehlentwicklung der mittelalterlichen katholischen Kirchen- und Amtsauffassung ist das nicht, sondern es ist vielmehr ein konsequenter Ausgang des von Gratian eröffneten Weges. Nur ist in den seither vergangenen dreihundert Jahren die religiöse Ehrfurcht vor der Gestalt des Priesters einem nüchtererem theoretischen und schon bei Johannes Gerson zu findenden Blick auf den Klerus als Berufsstand gewichen. Einer durch höchstes religiöses Verlangen geprägten Erwartung an die von dem Priester vollzogenen Handlungen widerspricht das nicht. Vielmehr dürfte das verständlich machen, warum gerade der Reformklerus um 1500 so lebhaft einen Gegensatz zwischen Leben und Kompetenz des Priesters und der Heiligkeit seiner Handlungen empfand. Mit dem von Biel vollzogenen Schritt in der Auffassung des sakramentalen Priestertums verändert sich auch der Charakter der juristisch-administrativen Kirchenleitung fundamental. Sie steigt von einer heilsfördernden zu einer heilsbringenden Instanz auf. Und in dieser Hinsicht lässt Biel alle von uns bisher betrachteten Konstellationen weit hinter sich und fügt den institutionellen Antitraditionalismen des Aquinaten und Gersons einen weiteren hinzu. Denn sowohl im Dekret Gratians als auch beim Aquinaten wie noch bei Gerson stand fest, dass die jurisdiktionelle Kirchenleitung ihre Autorität allein dazu zu verwenden hat, die Gläubigen den sakramentalen Heilsmitteln zuzuführen. Doch ihre Autorität war von den im Sakrament den Gläubigen zukommenden Gnadengaben qualitativ unterschieden; allenfalls zur Kompensation von Un-
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zulänglichkeiten des sakramentalen Vollzugs, besonders im Bußwesen, stand mit dem Ablass eine Möglichkeit zum seelsorgerlichen Eingriff bereit. Bei Biel werden hingegen die Sakramente zu einem Mittel unter anderen (wie etwa dem Ablass) den Gläubigen den im Kirchenschatz vorliegenden Heilsbesitz der Kirche beizulegen. Insofern dürfte es nicht zufällig sein, dass Biel die bei Gerson noch sakramental verstandene potestas iurisdictionis in foro interiori zum Ort der päpstlichen Universalgewalt erklärt: Denn die durch sie ausgeübte Kirchenregierung ist nicht mehr bloß quasisakramental wirksam, sondern sie ist das an den sakramentalen Vollzügen eigentlich Wirksame. Das bedeutet natürlich umgekehrt, dass bei Biel – um bei dem von ihm selbst gebrachten Beispiel zu bleiben – die Wirksamkeit des Ablasses nahtlos zu der des Bußsakraments aufschließt, weil in diesem nichts anderes geschieht als in jenem, nämlich dass durch Zuweisung des Papstes dem Gläubigen ein Teil des kirchlichen Heilsschatzes zukommt. Grundsätzlich steht damit einer reinen hierokratischen Heilsbürokratie nichts mehr im Weg. Die Zuteilung des Gnadenschatzes ist versachlicht und funktioniert, worauf Biel selbst aufmerksam macht,²⁷⁰ ganz analog zu der Herrschaftsausübung politischer Ordnungsverbände. Die strukturelle Heteronomie des Priesteramts, die grundsätzlich der religiösen Unzuverlässigkeit verdächtige Person des Priesters und die alles überragende Heilsautorität der Papstkirche: Welchen Bildungseindruck Biel mit diesen drei Kernvorstellungen seiner Amts- und Kirchenkonzeption bei einem angehenden Priester hinterließ, lässt sich wohl nicht mit Sicherheit sagen. Was sich aber sicher sagen lässt, ist, dass ein Leser von Biels Expositio nicht mit der Amtstheorie und -vorstellung des späteren Mittelalters vertraut gemacht wurde, sondern mit einer ganz zugespitzten Interpretationsoption des weiten Feldes von amtskonzeptionellen Prinzipien und Theorieelementen, auf dem noch über keine einzige Frage abschließend entschieden worden war. Was Biels kirchlicher Positivismus anderen Amtskonzeptionen in pädagogischer Hinsicht allerdings voraus hatte, war der Umstand, dass er die Rahmenbedingungen dieses Diskussionsfeldes nachdrücklich in Erinnerung rief: Die unhinterfragbare Heilsnotwendigkeit der Kirche, das die Kirche und ihr Recht regierende Papsttum und das zur kirchlichen Heilsvermittlung nötige Priestertum. Ob die Heilsnotwendigkeit der Kirche dabei auf der ihr eingestifteten christusunmittelbaren Sakramentsgewalt oder auf dem vom Papst kraft seiner Jurisdiktionsgewalt zu verteilenden Kirchenschatz beruht; ob das Papsttum autokratisch verfasst oder als Organ einer konsensualen Repräsentationskirche zu verstehen ist; und ob das Priestertum seine heilsvermittelnde Stellung einer jeder Rechtsregelung enthobenen Eigengesetzlichkeit oder der institutionellen Bindung an die Kirche verdankt – innerhalb der ganz formalen Rahmenbedingun²⁷⁰ Lect. 27 G (ed. I, 262 f.).
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I. Konzeptionen des kirchlichen Amts im Mittelalter
gen war das Material zu gegensätzlichen Ordnungsvorstellungen in einer seit dem Dekret Gratians lebhaft geführten Diskussion bereitgestellt worden. Vor diesem Hintergrund lässt sich die am Eingang des Kapitels zitierte Äußerung Kurt-Victor Selges noch einmal aufgreifen und präzisieren.²⁷¹ Denn wenn Selge meint, dass unter dem ‚Anstoß neuer Fragen‘ die Vielzahl der mittelalterlichen Traditionselemente das Material zum ‚Aufbau ganz gegensätzlicher neuer Ordnungen‘ bereit stellten, dann setzt das für die Ordnung generierenden Fragen voraus, dass sie das formal umrahmte Feld mittelalterlicher Katholizität verlassen und bezogen auf die Amts- und Kirchenvorstellung ihre formalen Rahmenbedingungen sprengen mussten. Berndt Hamm hat dafür den Begriff des Systembruchs eingeführt, den Martin Luther mit dem formalen System des ‚Gradualismus‘ der spätmittelalterlicher Frömmigkeits- und Kirchenkultur vollzog.²⁷² Wie es dazu kam, und das heißt: Welche neuen Fragen Luther an die mittelalterliche Amts- und Kirchenvorstellung richtete, die nicht mehr „als eine ausgefallene Position innerhalb der Variationsbreite kirchlich tolerierter mittelalterlicher Theologie, Frömmigkeitsformen und Reformmodelle“²⁷³ integriert werden konnten, ist im nächsten Teil zu erörtern.
²⁷¹ Siehe oben Anm. 3. ²⁷² Vgl. dazu B H, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Refor-
mation zur Reformation machte, in: D. u. a. (Hg.), Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57–127, bes. 64– 85. Weiterhin vgl. den in mehreren Versionen erschienenen Aufsatz (ich nenne die jüngste): D., Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: R S / J R. V (Hg.), Normative Zentrierung – Normative Centering, Frankfurt u. a. 2002 (Medieval to Early Modern Culture 2), 21–63. ²⁷³ H, Einheit und Vielfalt, 64.
II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523 Eine systematisch geschlossene Amtslehre hat Martin Luther nicht entworfen. Eine Vorstellung des ‚kirchlichen Amtes‘, die zu seiner Erkenntnis der sich dem Sünder durch das Evangeliums frei schenkenden Gnade Gottes passte, bildete sich in seinem Denken auch nur allmählich heraus. In diesem Kapitel betrachten wir den von folgenschweren Verwerfungen und inneren Umschichtungen geprägten Prozess von Luthers frühen Vorlesungen bis in das Jahr 1523 hinein, in dem Luther im Zug seiner Überlegungen zur praktischen Durchführung reformatorischer Gemeindebildungen seine amtstheoretischen Überlegungen in der Vorstellung des ministerium publicum verbi bündelt. Das Material, das zur Rekonstruktion von Luthers Entwicklung zur Verfügung steht, ist für eine alle Äußerungen und Gedanken Luthers berücksichtigende Darstellung zu umfangreich. Wir halten uns deshalb an die schon früher formulierte und im ersten Kapitel erprobte Devise, dass es auf die Ansammlung von Belegstellen (oder gar Sekundärliteratur) nicht ankommt, sondern einmal mehr darum, die zentralen Entwicklungsstufen zu erfassen, in denen sich Luthers Amtsauffassung bildete. Auf die Perspektive der folgenden Rekonstruktion habe ich bereits am Ende des vorigen Kapitels hingewiesen: Wir fragen zunächst danach, wie Luthers Vorstellung eines ‚Amtes‘ in seiner frühen Vorlesungstätigkeit in Verbindung bzw. Reibung zum überlieferten Problemhorizont der Amtsvorstellung steht, um von hier aus die Ausbildung derjenigen amtstheoretischen Problemkonstellationen im Denken Luthers zu betrachten, die über kurz oder lang nicht mehr mit der Variationsbreite des spätmittelalterlichen Systems papstkirchlicher Katholizität vereinbar waren.
1. Die Auseinandersetzung Luthers mit dem ‚kirchlichen Amt‘ bis 1520 Bekanntlich war Martin Luther kein Kirchenrechtsexperte. Er hat kein schultheologisches Werk hinterlassen, das dem Sentenzenkommentar des Thomas von Aquin vergleichbar wäre. Und Luther war weder, wie Johannes Gerson, auf Konzilen kirchenpolitisch tätig, noch hat er, Gabriel Biel gleich, ein Handbuch zur Unterweisung des pfarramtlichen Nachwuchses verfasst. Dem ‚kirch-
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lichen Amt‘ im Sinn eines institutionalisierten Handlungs- und Zuständigkeitskomplexes, der nach Eigenlogik und Regulierungserfordernissen bedacht sein will, hat Luther besonders in seinen Anfangsjahren kein eigenständiges Sachinteresse entgegengebracht. Es zog auch nur selten die Aufmerksamkeit des Augustinereremiten und Priesters Luther auf sich und stand meist am Rand seines Denkens, das sein Gravitationszentrum in der theologischen Erfassung religiöser Innerlichkeit hatte.¹ Den offenen und öffentlichen Bruch mit dem Amtsverständnis der Papstkirche hat Luther, auch das ist bekannt, erst vollzogen, als sich im wechselseitigen Verwerfungsakt das Einverständnis artikuliert hatte, dass es nicht mehr seine Kirche war, gegen die er sich wendete. In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation, die zur Zeit der Verfassung der päpstlichen Bannandrohungsbulle (15. Juni 1520) in Arbeit war und im August 1520 ausging, hat Luther die Vorstellung des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ in den Vordergrund gerückt.² Damit unterschied Luther sein Amts- und Kirchenverständnis prägnant und publikumswirksam von dem der Papstkirche, welche Luther schon vorher als Wohnsitz des ‚Antichrist‘ vermutet und bezeichnet hatte. Wie so viele Prägungen Luthers aus seinem „Wunderjahr“³ literarischen Schaffens bildete auch das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ nicht den Einsatzpunkt von Luthers Kritik an den vorfindlichen Amts- und Kirchenstrukturen, sondern bündelte bereits entwickelte Kritikmomente. Denn selbst die Randlage im Denken Luthers schützte die Amtsvorstellung nicht davor, von den tektonischen Verschiebungen betroffen zu sein, die seit den ersten Vorlesungen von Luthers Neubestimmung des Glaubensbegriffs ausgingen. Über die fundamental neue Bedeutung des ‚Glaubens‘ im Denken des frühen Luther brauchen wir nicht eigens zu handeln.⁴ Die dadurch provozierten Veränderungen zeichnen wir in diesem Abschnitt nach, indem wir zuerst anhand der frühen Vorlesungen Luthers die Auswirkung von Luthers Vorstellung vom ‚Glauben‘ auf die Anschauung der in Kirche und Amt institutionalisierten Autorität betrachten und dann die allmähliche Zuspitzung von Luthers Anschau¹ Vgl. vor allem K H, Der Neubau der Sittlichkeit (1919), in: D., Gesammelte Aufsätze. Bd. I: Luther, Tübingen 1932⁶, 155–287, bes. 155–217 für die Zeit vor 1517; E H, Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen (1941), in: D., Lutherstudien Bd. 1. Hg. von Hans-Martin Müller, Waltrop 1998 (= Gesammelte Werke 1), bes. 109–171. ² Vgl. unten 2. ³ T K, Martin Luther, München 2006, 52. ⁴ Vgl. dazu B H, Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens? (1988), in: D., Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, Tübingen 2010, 65–89, 66. Ausführlich und detailliert: R S, Fides, Spes und Caritas beim jungen Luther. Unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, Berlin 1962 (AKG 34); ., Vorgeschichte der reformatorischen Busstheologie, Berlin 1968 (AKG 41).
1. Die Auseinandersetzung Luthers mit dem ‚kirchlichen Amt‘ bis 1520
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ung in den Blick nehmen, die auf seine Ablasskritik und die durch sie hervorgerufenen Reaktionen erfolgt. Am Ende dieses ersten Abschnitts ist der Übergang zu Luthers Vorstellung des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ darzustellen. 1.1. Die frühen Vorlesungen Ferdinand Kattenbusch hat für die frühen Vorlesungen Luthers die schöne Formulierung gefunden, „daß wir Luthers Gedankenwelt nur in einer Art von Verzettelung kennen lernen“.⁵ Neben den philologischen Problemen, welche die Überlieferung der frühen Texte aufwirft, ist damit von Kattenbusch die fehlende Systematik in Luthers Gedankenführung angesprochen worden. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, ein flächiges Bild der vielfältigen Äußerungen Luthers zur Amtsthematik in seiner frühen Zeit zu entwerfen, sind bekannt.⁶ Dennoch ist ein Blick in die an Motiven und Bruchstücken überreiche Gedankenwerkstatt Luthers nicht bloß reizvoll, sondern auch nötig: Denn angefangen bei den Dictata super Psalterium (1513–15) über die Vorlesung über den Römerbrief (1515 / 16) bis schließlich in die Vorlesung über den Hebräerbrief (1517 / 18)⁷ hinein lässt sich an ausgewählten Beispielen beobachten, wie Luther zentrale Probleme der überlieferten Kirchen- und Amtsvorstellung umdeutend aufgreift, indem er sie in die Verbindung zum ‚Gläubigen‘ bringt, welcher im Denken Luthers immer stärker den Bezugspunkt der kirchlichen Autorität und der Wirksamkeit der Handlungen der kirchlichen Amtsträger darstellt. Diese Tendenz arbeiten wir in fünf Schritten heraus, die für uns den Vorteil haben, dass wir uns auf bereits aus dem ersten Kapitel bekannte Problemlagen beziehen, weshalb die Differenz der Lutherschen Anschauung zum überlieferten Problemhorizont besser erfassbar wird. ⁵ F K, Die Doppelschichtigkeit in Luthers Kirchenbegriff, ThStKr 100 (1927 / 28), 197–347, 222. ⁶ Vgl. dazu die frühen Arbeiten: K H, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff (1915), in: D., Gesammelte Aufsätze. Bd. I: Luther, 288–325, bes. 289–306; W W, Die Kirche als Corpus Christi Mysticum beim jungen Luther, ZkathTh 61 (1937), 29–98; J H, Recht und Gesetz, Kirche und Obrigkeit in Luthers Lehre vor dem Thesenanschlag von 1517. Eine juristische Untersuchung, ZRSG.K 26 (1937), 285–375, bes. 346–351. Ganz auf das Amt konzentriert J A, Die Lehre Martin Luthers über das Amt in der Kirche. Eine genetisch-systematische Untersuchung seiner Schriften 1512 bis 1525, Helsinki 1972, bes. 21–81; W S, Das kirchliche Amt bei Luther, Wiesbaden 1974 (VIEG 73), 5–27. ⁷ Die erste Vorlesung über den Galaterbrief (1516 / 17) ist für unseren Zusammenhang nicht interessant, vgl. zu dieser Vorlesung, die vor allem zur näheren Analyse des 1519 erschienenen sog. ‚Kleinen Galaterkommentars‘ (dazu siehe unten 1.2.) dient, vor allem K H, Der Streit zwischen Petrus und Paulus zu Antiochien in seiner Bedeutung für die innere Entwicklung Luthers (1920), in: D., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. III: Der Westen, hg. von Hans Lietzmann, Tübingen 1928, 134–146.
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
(a) In den Dictata super Psalterium wird gemeinsam mit der Betonung des spiritus hominis als des innerlichsten Ortes des menschlichen Gottesverhältnisses⁸ von Luther der homo spiritualis⁹ zur normativen Größe rechter und wahrer Kirchenmitgliedschaft erhoben. Dies geschieht im Scholion zu Ps 118, 98– 100 (Vg.), wo sich Luther dem Problem der Differenz zwischen den Menschen zuwendet, „qui sunt extra Ecclesiam, vel fidelem populum sive numero sive merito“.¹⁰ Den Hintergrund für dieses Problem bildet im Auslegungsverlauf des Psalms die Frage, auf wen die drei Leitbegriffe der Psalmstelle: die inimici, docentes und senes zu beziehen sind (Ps 118, 98), denen gegenüber sich der Psalmbeter durch seine meditatio des göttlichen Gesetzes (Ps 118, 97) weiser und klüger weiß. Den im gesamten Psalmenkommentar als hermeneutisches Prinzip wirksamen Gegensatz von Geist und Buchstabe aufnehmend,¹¹ kommt Luther zu dem Schluss, dass als inimici all diejenigen mit dem falschen Verständnis der Gesetze Gottes bzw. Christi gelten müssen, ungeachtet ihres sozialhierarchischen Status: „Deshalb bildet das Nachsinnen über die Gesetze Christi, das geistlich ist, über all diejenigen hinaus, die das Gesetz buchstäblich untersuchen, seien sie Lehrer (docentes) oder Alte (senes)“.¹² Ihnen allen, die „menschliche Traditionen gegen geistliche treiben“,¹³ steht der homo spiritualis gegenüber, dem Luther mit 1. Kor 2, 15 die seit langer Zeit allein dem Papst zugestandene Kompetenz zuschreibt, dass er „alles richtet und selbst von niemandem gerichtet wird“.¹⁴ Wie die Feinde Christi, so ist auch der homo spiri⁸ Siehe H, Drei Kapitel, 111 mit Belegstellen. ⁹ Vgl. mit weiteren Belegstellen und einer ausführlichen Diskussion der Literatur S
H. H, Ecclesia in via. Ecclesiological Developments in the Medieval Psalms Exegesis and the Dictata super Psalterium (1513–1515) of Martin Luther, Leiden 1974 (SMRTh 8), 180–187. ¹⁰ WA 55 / 2, 957,1877 f.: „Sed dicitur ad differentiam eorum, qui sunt extra Ecclesiam vel fidelem populum siue numero siue merito“. Vgl. zu dieser Unterscheidung 1. Kapitel bei Anm. 231 und J H, Initia Iuris Ecclesiastici Protestantium (1949), in: D., Das blinde, undeutliche Wort Kirche. Gesammelte Aufsätze von Johannes Heckel. Hg. von Siegfried Grundmann, Köln u. a. 1964, 132–242, 142. ¹¹ Vgl. dazu vor allem: J V, Fidelis Populus, Wiesbaden 1968 (VIEG 48), 12–18. Weiterhin: H, Ecclesia in via, 179 f.; K-V S, Ekklesiologischesheilsgeschichtliches Denken beim frühen Luther, in: K H (Hg.), Augustine, the Harvest, and Theology (1300–1650). Essays dedicated to Heiko Augustine Oberman in Honor of his Sixtieth Birthday, Leiden u. a. 1990, 259–285, bes. 262–269. ¹² WA 55 / 2, 957,1900 f.: „Igitur meditatio legis Christi, que est spiritualis, erudit super omnes, qui legem litere querunt, siue sint doctores siue senes“. Zu der Vorstellung von (drei) sozialhierarchischen Ständen in den Dictata vgl. V, Fidelis Populus, 168–185. ¹³ So die auf die senes gemünzte, gleichwohl den gesamten Gedankengang WA 55 / 2, 957,1901–958,1912 zusammenfassende Bemerkung WA 55 / 2, 958,1910–1912: „Sed quia humanas traditiones exercent contra spirituales vel preter, ideo Omnes sunt inimici …“. ¹⁴ WA 55 / 2, 958,1912 f.: „Quia ‚Spiritualis [homo] omnes iudicat et ipse a nemine Iudicatur‘ [1. Kor 2, 15]“. Zu dieser Stelle mit weiteren Belegen und Hinweisen auf die mittelalterliche Verwendung von 1. Kor 2, 15 siehe H, Ecclesia in via, 185.
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tualis in allen sozialen Ständen und Rängen zu finden. Der Gegensatz von Geist und Buchstabe scheidet deshalb nicht bloß Juden und Häretiker aus der Kirche aus, sondern geht auch quer durch die Kirche selbst hindurch: „Moralisch wissen aber nun heutzutage viele, welche die Salbung [scil. durch Gottes Geist, nach 1. Joh 1, 27] lehrt, mehr als die pontifices und Lehrenden und Buchstabenchristen“.¹⁵ Inhaltlich ist dieser Gegensatz durch das Verständnis der ‚Heiligen Schrift‘ qualifiziert, deren Aussagen auf der einen, gläubigen Seite als Zeugnisse der zukünftigen Heilsgüter Gottes erkannt, auf der anderen, buchstäblichen Seite aber mit temporalia identifiziert werden.¹⁶ Bedeutsam ist für uns vor allem die Unterschiedslosigkeit, mit der Luther hier die nicht durch den Geist gelehrten Kirchenführer, Lehrer und Buchstabenchristen zu den Juden und Häretikern in die Gruppe der Feinde einreiht.¹⁷ Der institutionellen Kirchenzugehörigkeit kommt für diese Eingruppierung keinerlei Gewicht zu. Das liegt hingegen ganz auf dem individuellen Heilsstand des Kirchenmitglieds. Allerdings erwähnt Luther nicht die Möglichkeit einer kraft der Amtsgewalt der Priester vollzogenen bußsakramentalen Umwandlung der, wie es bei Gabriel Biel hieß, membra ecclesiae numero in solche merito.¹⁸ Zwar bleibt festzuhalten, dass die durch den Glauben qualifizierte Zugehörigkeit zum populus fidelis für Luther dabei nur innerhalb der formalen Zugehörigkeit zur Kirche zu erlangen ist. Doch nachgerade überdeutlich erwächst in diesem Scholion der Autorität der kirchlichen Institution im geistbelehrten gläubigen Subjekt eine Gegenautorität. Ihre Einordnung in die Institution steht quer zu den durchgängig üblichen Kategorien katholischer Kirchlichkeit, deren institutionelle Erfassung durch Luthers Vorstellung des Glaubens verflüssigt wird. (b) Die Vergleichgültigung institutioneller Binnendifferenzierungen setzt sich in den Dictata fort, wenn Luther der souveränen Urteilskompetenz des Glaubens eine ebenso souveräne Erschließungskompetenz zur Seite stellt, die dem Gläubigen die innere Verbindung der ecclesia militans zur ecclesia triumphans eröffnet. In seinem Scholion zu Psalm 121, 4¹⁹ wendet sich Luther anlässlich ¹⁵ WA 55 / 2, 958,1914 f.: „Moraliter autem Nunc quoque multi, quos vnctio docet [1. Joh 1, 27], sapiunt super pontifices et doctores et literales Christianos …“. Zu den ‚Buchstabenchristen‘ vgl. S, Ekklesiologisches-heilsgeschichtliches Denken, 267. ¹⁶ Vgl. WA 55 / 2, 959,1933–1937: „Sic super docentes sapuit [scil. homo spiritualis], Quia meditatio eius testimonia Dei. Illi autem Insipientes, quia testimonia sua meditantur. Quia Scripture verba torquent in testimonia falsa sue sapientie, qua sapiunt temporalia. Nos autem torquemus nostrum sensum in testimonia Dei, quibus nobis futura bona testatur, Vt hic nihil diligamus, sed in celo“. ¹⁷ S, Das kirchliche Amt, 19 mit Anm. 77 will anhand anderer Stellen zeigen, dass Luther sehr wohl diesen Unterschied kennt. Das ist freilich nicht zu bestreiten, trifft aber die hier betrachtete Stelle nicht. ¹⁸ Vgl. 1. Kapitel bei Anm. 231. ¹⁹ WA 55 / 2, 1018,101–1020,160.
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des im Psalmvers erwähnten Begriffs testimonium dieser zentralen Legitimationsfigur für die kirchliche Autorität zu und bettet sie in eine geschichtstheologische, von Augustin geprägte Deutung ein:²⁰ Die allererst im Werden begriffene Kirche, ecclesia in via, ist und bleibt im Weltenlauf ein „Teil und Zeugnis“ der civitas, die zukünftig sein werde.²¹ Das Ganze, das noch nicht ist, ist daher in dem gegenwärtig existenten Teil und Zeugnis ‚verborgen‘. Allein dem Glauben ist nach Luther der Zusammenhang zwischen den beiden Stadien der Kirche strukturell erschlossen, weil er selbst – wir haben das in der zuerst betrachteten Stelle bereits vermerkt – auf die zukünftigen Heilsgüter Gottes ausgerichtet ist: „die streitende Kirche ist noch nicht, was die zukünftige triumphierende ist, sondern ist ein Zeichen, eine Figur, verborgen und allen Gläubigen Zeugnis ihrer selbst“.²² Im Widerspiel von zeichenhafter Gegenwart und manifester Zukunft, dessen interner Verweisungszusammenhang nur dem Gläubigen zugänglich ist, zersetzt sich nun, wie der weitere Verlauf der Argumentation Luthers zeigt, nachhaltig die Grundlage für einen irgendwie objektivistisch eingefärbten Repräsentationsgedanken der Kirche. Denn, das führt Luther in einer Gedankenvolte vor, auch auf die Vorstellung der ecclesia militans als eines in der Gegenwart präsenten Zeugnisses lässt sich diese Struktur von Aufdeckung und Verdeckung anwenden: „auch ist die Kirche ein Zeugnis, und das nicht real, weil sie sich nicht derart zeigt, wie die Versprechen in ihr und von ihr sind, sondern es ist allein das Zeugnis gegeben. Denn ihre Heilsgüter sind zukünftig, welche sie in der Gegenwart nicht zeigen kann, gegenwärtige Heilsgüter aber kennt sie nicht: Also verbleibt sie selbst ein Zeugnis für die Ungläubigen und die Gläubigen, aber für die Ungläubigen zum Zeugnis und zum Fall, für die Gläubigen aber zum Zeugnis und zum Aufstehen [Lk 2, 34]. Durch sie nämlich bezeugt Gott der ganzen Welt die zukünftigen Heilsgüter“.²³ ²⁰ Vgl. vor allem H, Ecclesia in via, 216–232. Weiterhin: W M, Kirche und Geschichte nach Luthers Dictata super Psalterium (1958), in: D., Kirche und Geschichte. Gesammelte Aufsätze Bd. 1: Luther und das evangelische Bekenntnis, Göttingen 1970, 38–61. ²¹ WA 55 / 2, 1020,133 f.: „Et nondum quidem est [scil. ecclesia militans] Ciuitas, Sed pars et testimonium, quod sit futura ciuitas“. ²² Die ganze Stelle WA 55 / 2, 1019,122–127: „Quia Ecclesia militans nondum est, quod futura est triumphans, Sed est signum, figura, absconditum et omnino fidele testimonium sui ipsius. Quia in enygmate est, quod futura est in specie: in signo est, quod futura est in re; in absconso est, quod futura est in manifesto; in fide est, quod in futura est in visione; In testimonio est, quod futura est in exhibitione; In promissione est, quod in futura est in impletione“. ²³ WA 55 / 2, 1020,136–142: „Etiam est Ecclesia testimonium et non reale quid, Quia non exhibet se talem, qualia promissa sunt in ea et de ea, Sed solum testimonium dat. Quia futura sunt eius bona, que non potest in presentia exhibere, presentia autem bona ignorat; ergo ipsa remanet testimonium incredulis et credulis, Sed incredulis in testimonium et scandalum, Credulis autem in testimonium et surrectionem [Lk 2, 34]. Per eam enim Deus testatur toti mundo futura bona“.
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Diese Wendung ist für jeden Gedanken schlicht tödlich, der auf eine institutionelle Legitimation der ecclesia militans durch eine strukturelle und autoritative Kontinuität zu der ihr vorgängigen ecclesia triumphans aufbaut. Denn weder lässt sich aus dem ‚bloßen Zeugnischarakter‘ der Kirche ein Kriterium für eine auf Gewaltenunterschieden gründende kirchliche Hierarchie gewinnen, wie es Thomas von Aquin in seiner Behandlung des Verhältnisses von triumphierender Kirche und streitender tat,²⁴ noch zwischen christusunmittelbarer Autorität und ihrer repräsentativen institutionellen Ausformung unterscheiden, was Johannes Gerson in das Zentrum seiner Überlegungen stellte.²⁵ Nach den von Luther eingeschärften Vorgaben fällt vielmehr, zugespitzt formuliert, die gesamte ekklesiologische Legitimationsfigur in die Innenwelt des Gläubigen, der im Glauben für den Glauben der äußeren Institution religiöse Bedeutsamkeit abgewinnt. (c) Es ist nun aber gerade diese Erlebnisqualität des urteils- und erschließungssouveränen Glaubens, die zu einer massiven religiösen Aufwertung der äußeren institutionellen Autorität beiträgt. Weil nämlich dem Glauben bzw. dem Gläubigen das Widerspiel von Zeichenhaftigkeit und Manifestation erschlossen ist, vermag er allein durch die gegenwärtigen Zeichen und Zeugnisse auf die in ihnen als Zeichen und Zeugnisse präsenten Manifestationen der zukünftigen Heilsgüter zu blicken. Anders formuliert: Für den Gläubigen ist in der Kirche als Zeugnis im Glauben das göttliche (Heils-)Handeln bzw. dessen Inbegriff, Christus, gegenwärtig.²⁶ In dem gleich an das gerade Geschilderte anschließenden Scholion zu Psalm 121, 5²⁷ wird der damit umrissene religiöse Erlebnisraum von Luther ausgemessen. Warum auch dies in den Zusammenhang der Zersetzung überkommener institutionen- und amtstheoretischer Vorstellungen gehört, wird schnell deutlich: Im kirchlichen Amtsträger personifiziert sich nach Luther die zeichenhafte Präsenz Christi, der in ihnen „nicht sichtbar und verborgen, durch den Glauben im Glauben“, dennoch „gegenwärtig, ja sogar am gegenwärtigsten“ ist, weshalb Luther die Amtsträger als vicarii Christi bezeichnet.²⁸ Dabei überblendet Luther in der Folge die herkömmliche monastische Verwendung von vicaVgl. 1. Kapitel bei Anm. 84. Vgl. 1. Kapitel bei und nach Anm. 192. Vgl. H, Ecclesia in via, 227. WA 55 / 2, 1020,161–1023,264. Der ganze Passus, der als Erläuterung der im Psalmwort erwähnten ‚sedes in iudicio‘ formuliert ist, WA 55 / 2, 1021,166–172: „Sedes sunt in ipsa [ecclesia militans] et manifeste sunt (i. e. potestates et principatus Episcopatuum, sacerdocii etc.), Sed sessor ipse Christus non apparet estque absconditus per fidem et in fide, et tamen in ipsis sedet et presens est, immo presentissimus, cum sint isti sedes eius. Idcirco ipse per se non preest Ecclesie et populo suo corporaliter, Sed Vicarii eius, sacerdotes; hii enim sedent et principantur et regnant in populo corporaliter …“. ²⁴ ²⁵ ²⁶ ²⁷ ²⁸
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rius Christi²⁹ mit dem kirchlich-institutionellen Gebrauch dieses Begriffs, der üblicherweise nur für den Papst vorgesehen war.³⁰ Luther kennzeichnet nämlich mit dem Begriff vicarius Christi die religiöse Dimension der äußerlich-hierarchischen Befehl-Gehorsam-Relation, die im Glauben ergriffen wird. Denn für den Glauben ist im Amtsträger Christus als Ursprung und Wesen aller kirchlichen Autorität tätig, weshalb dem Vorgesetzten ex vero corde mit Furcht, Verehrung und vor allem Demut (humilitas) begegnet sein will;³¹ das ist von Luther ganz monastisch gedacht. Diese ausschließlich religiös konnotierte Bestimmung des vicarius-Begriffs überträgt Luther nun aber auch auf die gesamte kirchliche Hierarchie, weil nicht bloß die Relation von regierendem Amtsträger und ihm untergebenen Gläubigen, sondern jede binnenkirchliche hierarchische Abstufung der ordines dieser Logik folge: Jeder Amtsträger sei für den ihm jeweils Untergebenen, sei er Amtsträger oder Gläubiger, Stellvertreter Christi. Und unmgekehrt gilt: Jeder Untergebene steht in seiner Relation zum Vorgesetzten vor Christus.³² Analog zu den vorigen Ausführungen Luthers stellt sich auch in diesem – für uns hier allein ausschlaggebenden – Gedankengang der Effekt ein, dass traditionelle institutionelle Begriffe und mit ihnen verbundene Differenzen ins Schwimmen geraten. Der Effekt der Überblendung der monastischen und der kirchlichen vicarius Christi-Vorstellung ist dabei zweifach: Einmal lässt sich in der von Luther eingenommenen Perspektive nämlich kein Unterschied mehr zwischen Papst, Bischof und einfachem Priester in ihrer je eigenen religiös-autoritativen Kompetenz gegenüber dem Gläubigen angeben. Und sodann wird durch die Ausdehnung des vicarius Christi-Verständnisses auf die innere Hierarchie der Kirche faktisch auch der seit langer Zeit so zentrale Unterschied zwischen Klerus und Laien verwischt; die hierarchieinternen wie -externen Beziehungen haben die selbe religiöse Qualität. Doch wohlgemerkt: Für Luther ist das alles keine ‚objektiv-realistische‘ Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse der kirchlichen Institution, sondern das dem Gläubigen eröffnete wahre Verständnis ihres – modern ausgedrückt – Wesens. (d) In die bislang betrachtete Reihe von Luthers Umprägungen institutioneller Probleme und Begriffe gehören auch seine Überlegungen zur vocatio hinzu, die er in seiner Römerbriefvorlesung (1515 / 16) vorlegt.³³ Sie bilden systema²⁹ Vgl. dazu mit Belegstellen und weiterer Literatur M O, Reformatorisches Freiheitsverständnis, in: J D / A S (Hg.), Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus, Tübingen 2005 (RPT 16), 13–48, hier: 16 f. ³⁰ Vgl. zu dieser Stelle auch S, Vorgeschichte, 179 f. ³¹ Vgl. WA 55 / 2, 1021,186–190. ³² Vgl. WA 55 / 2, 1021,192–1022,199. ³³ Die beste Rekonstruktion dieses Gedankens bietet H, Recht und Gesetz, 351–356. Eine Zusammenfassung der wichtigen Passagen aus der Vorlesung bei S, Das kirchliche
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tisch betrachtet das Seitenstück zur vicarius Christi-Vorstellung Luthers, nur dass in diesem Fall der Amtsträger sich und seine Position gegenüber dem Gläubigen im Glauben erfasst. Hatte Luther in den Dictata noch eher allgemein pastoraltheologisch auch vom Amtsträger die humilitas in seiner Haltung gegenüber den Gläubigen eingefordert,³⁴ so erscheint ihm nun in seiner Auseinandersetzung mit der Autorität des Apostel Paulus die humilitas als Kennzeichen des gläubigen Amtsträgers zu unspezifisch zu sein. Denn wenn Paulus sich selbst als „Knecht Jesu Christi“ (Röm 1, 1) bezeichnet, so kann das nach Luther nicht die allen (gläubigen) Menschen gegenüber Christus ohnehin eigene Unterordnung meinen.³⁵ Vielmehr versteht Luther die paulinische Selbtsbezeichnung als ‚Knecht‘ als eine Selbstunterscheidung, mit der Paulus seine eigene Person von seinem Amt trennt³⁶ und damit die notwendigerweise zu ihm als Amtsträger gehörende und mit klugem Nachdruck auch anzuwendende äußere Autorität³⁷ in ihrer reinen religiösen Funktionalität für den Gläubigen erfasst. Ein ‚Knecht‘ ist Paulus nach Luther demzufolge sowohl als Christus unterworfene individuelle Person, d. i. eine durch humilitas und subiectio gekennzeichnete servitus,³⁸ sowie als den Untergebenen zu ihrem Heil zugeordnete Autorität, d. i. eine servitus, die in ihrer eigenen Amtsautorität den Grund aller religiösen Autorität zum Vorschein bringt: „Er [Paulus] aber nennt sich gänzlich ‚Knecht‘, … weil er bekennt, dass er von Gott ein officium über andere empfangen hat, d. h.: Ich nämlich predige das Evangelium und lehre die Kirche, taufe und tue andere Werke, welche allein Gottes Werke sind. Aber ich handle nicht so wie ein über euch eingesetzter Herr, sondern wie ein Knecht, dem diese Dinge zu tun für euch aufgetragen sind. Und so bin ich ein Knecht, nämlich um euretwillen, und meine ‚Knechtschaft‘ sorgt sich um nichts anderes, als was ich für euch tun kann“.³⁹
In diese Unterscheidung zweier servitutes fügt Luther den Gedanken der vocatio ein. Denn nur ein wahrhaft durch Gott berufener Amtsträger ist zur Selbstunterscheidung von individueller Person und seiner eigenen Heilsbedürftigkeit einerseits, herrschaftlichem Amt und religiösem Autoritätsgrund andererseits Amt, 27–37. Vgl. weiterhin H, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 306–309. Zur Geschichte des Begriffs vocatio vgl. K H, Die Geschichte des Worts Beruf (1924), in: D., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte III: Der Westen, Tübingen 1928, 189– 219. ³⁴ Vgl. die Hinweise bei S, Vorgeschichte, 182. ³⁵ WA 56, 156,8. ³⁶ WA 56, 161,10–13. ³⁷ WA 56, 160,15–22. ³⁸ WA 56, 162,21 f. ³⁹ WA 56, 162,11–17: „Sed omnino Seruum se dicit, vt dictum est, quia acceptum officium confitetur a Deo super alios, q. d.: Ego quidem euangelium predico et Ecclesiam doceo, baptiso et alia opera facio, que sunt Dei solius opera. Sed non ego hec ago vt dominus super vos constitutus, Sed vt seruus, cui hec agere in vobis comissa sunt. Et ita seruus sum sc. propter vos, et mea seruitus non alia respicit, quam que in vos operari debeo“.
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fähig. Das unterscheidet ihn, wie Luther ausführt,⁴⁰ von den pseudoapostoli, die ihre eigene Person als religiösen Autoritätsgrund ihrer äußeren Herrschaft gebrauchen, den mercenarii, die aus bloß eigennützigen Motiven die Amtsgewalt anstreben, sowie denen, die „per violentiam“ in ein Amt eindringen oder „sine favore subditorum“ im Amt agieren, „und sie sind schlimmer als die zweiten, aber noch nicht so schlimm wie die ersten“.⁴¹ Mit dieser Konzentration der vocatio auf die sich in der Amtsausübung bemerkbar machende servitus geht bei Luther eine terminologisch ebenso wie inhaltlich bemerkenswerte Bestimmung einher: Das konkrete Amt, im Fall von Paulus also das Apostelamt, erhöht die dignitas des ministerium (was in unserem Kontext von Luther gleichbedeutend mit servitus und officium verwendet wird) und flößt größere reverentia ein.⁴² Es stellt aber in keinem Fall selbst den Legitimationsgrund für die ihm zukommende Autorität bereit, sondern ist eine bloße Konkretion der vocatio, die sich in einem funktional differenzierten Bereich unterschiedlicher vocationes zu kirchlichen Ämtern vorfindet.⁴³ Die Nähe dieser Ausführung Luthers zu der auf Hieronymus aufbauenden mittelalterlichen Differenzierung des sacerdotium in Priester und Bischöfe, die sich nur durch ihre dignitas unterscheiden, fällt ins Auge.⁴⁴ Die Distanz zu ihr allerdings auch, denn von einem kirchlich vermittelten ordo ist bei Luther im Rahmen dieser Überlegung gar keine Rede. Faktisch arrangieren sich vocatio, servitus (ministerium) und officium hingegen zu einer Legitimationsfigur der Amtsausübung, in der ein kirchlich-instutioneller Legitimierungsakt des Amtsträgers durch die Weihe gar nicht nötig ist und sein kann, weil schlechterdings alles auf die Selbstunterscheidung des Amtsträgers von seinem persönlichen Heilsstand, also seine servitus ankommt. Einmal mehr verlegt Luther damit ein traditionellerweise institutionelles Problem in das gläubige Subjekt, hier also den Amtsträger hinein. Alle mit dem Problem der Amtsausübung üblicherweise verbundenen Regelungsüberlegungen zum Verhältnis von ordo, potestas und licentia bzw. executio potestatis resp. zwischen potestas ordinis und jurisdictionis⁴⁵ ziehen die Aufmerksamkeit Luthers auch in der Folge nicht auf sich. Die Vereinbarkeit seiner Vorstellung mit der kirchlichen Weihe scheint ihm ebenso evident, wie er an einer Stelle sogar darauf hinweist, dass es die Praxis ⁴⁰ Vgl. die ganze Stelle zur Erläuterung des Wortes vocatio WA 56, 162,34–163,18. ⁴¹ WA 56, 163,16–18: „Horum similes sunt Tercii, qui per violentiam intrudunt se vel per
alios intruduntur, etiam sine fauore subditorum, et ii sunt peiores quam secundi, Sed nondum sicut primi“. ⁴² Zur Erläuterung von „Vocatus Apostolus“ (Röm 1, 1) WA 56, 163,26–29: „Secundo verbo, sc. ‚Apostolus‘, exaggerat dignitatem ministerii sui et maiorem inducit Reuerentiam subditis et auditoribus. Quia si omnem seruum Dei cum Reverentia et amore oportet recipere …, quantomagis apostolum!“. ⁴³ WA 56, 165,9–15. ⁴⁴ Vgl. 1. Kapitel Anm. 22. ⁴⁵ Vgl. im 1. Kapitel vor allem 1.2. und 2.2.
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der katholischen Kirche sei, in seinem Sinn mit servitus ausgezeichnete Menschen in Ämter zu berufen.⁴⁶ Über lange Strecken seiner Vorlesungen legen solche Bemerkungen Luthers nahe, zumindest die funktionale Differenzierung der Ämter bzw. die Amtsstellung innerhalb der Kirche als einen äußerlichen und institutionell vermittelten Umstand zu betrachten.⁴⁷ Ganz in diesem Sinn lässt sich zumindest die Definition Luthers am Anfang seiner Vorlesung verstehen, dass die amtsqualifizierende servitus eine auf bestimmte Aufgaben innerhalb von bestimmten Grenzen beschränkte Tätigkeit darstellt, die sine gratia (im Sinn der den individuellen Heilsstand bedingenden gratia gratum faciens) vollzogen werden kann, im strukturellen Unterschied zu der allen gläubigen Menschen zukommenden servitus, die nach Luther nie sine gratia sein kann.⁴⁸ Doch auch diese Unterscheidung wird gegen Ende der Vorlesung Luthers, näherhin in seiner Auslegung des zwölften Kapitels des Römerbriefs, undeutlich. Von Paulus auf den Ausdruck mensura fidei aufmerksam gemacht (Röm 12, 3), lehnt Luther es ab, das ‚Maß des Glaubens‘ auf die Art und Weise zu verstehen, „gemäß welcher der Glaube selbst gegeben wird unter Ausschluss anderer Gaben“. Dies wäre freilich genau die Annahme, welche die oben skizzierte Unterscheidung der beiden servitutes vollends stützen würde. Nun führt Luther aber aus: „Daher ist das ‚Maß des Glaubens‘ … in dem Sinn zu verstehen, dass es das Maß, nämlich der Gaben des Glaubens, ist, das heißt, im Glauben sind viele Gaben, und diejenigen, die Gläubige sind und in diesem Glauben leben, haben doch ein verschiedenes Maß an Gaben. Dieses Maß aber nennt er [Paulus] das des Glaubens, weil diejenigen, die außerhalb des Glaubens handeln, diese Gaben und das Maß nicht haben“.⁴⁹
In einer direkt seiner monastischen Lebenswelt entspringenden Weiterführung dieses Gedankens bestimmt Luther die Abschattungen der mensura fidei als gradus oboedientiae, nach welchem „der eine auf dieser, der andere auf jener [Stufe] gehorcht und glaubt und doch sind wir alle eins im Glauben“.⁵⁰ Strukturell ist diese Überlegung mit Luthers Bestimmung der vocatio weitgehend identisch, nur auf das gesamte Glaubensleben ausgedehnt: Der von ⁴⁶ ⁴⁷ ⁴⁸ ⁴⁹
WA 56, 423,13 f. Diesen Gedanken verfolgt vor allem H, Recht und Gesetz, 352–354. WA 56, 162,25–27. WA 56, 451,13–20: „‚Mensura fidei‘ primo intelligi potest, vt sit idem, quod mensura seu modus, secundum quem ipsa fides datur exclusis aliis donis. Et ita non potest capi hic, vt patet, quia ponit diuersa dona dari secundum mensuram. Igitur Secundo accipitur ‚Mensura fidei‘ pro eo, quod est Mensura sc. donorum fidei, Idest, in fide sunt multa dona, et qui fideles sunt in eadem fide viuentes, diuersam tamen donorum habent mensuram. Vocat autem mensuram hanc fidei, Quia extra fidem agentes non habent has donationes et mensuram“. ⁵⁰ Die ganze Stelle WA 56, 451,25–28: „Quia fides nihil alius est quam obedientia spiritus. Obedientie autem spiritus diuersi sunt gradus. Quia alius in illi, alius in alio obedit et credit, et tamen omnes in vna fide sumus“.
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Gott eingesenkte Glaube evoziert eine bestimmte Glaubens- bzw. Gehorsamshaltung, die dem Gläubigen im Gesamtgefüge aller Gläubigen eine bestimmte Position zuordnet. Neu ist, dass diese Glaubens- bzw. Gehorsamshaltung mit bestimmten dona, die Luther auch gratiae nennen kann, identifiziert wird. Diese gottgewirkten Gaben reichen von der nur Wenigen gegebenen Prophetie (Röm 12, 6)⁵¹ bis zu der jedem Christen aufgegebenen, in humilitas sich vollziehenden Nächstenliebe, die Luther von Röm 12, 8b an behandelt.⁵² In diesem Spektrum steht auch das kirchliche ministerium (Röm 12, 7), das Luther in Anschluss an eine Eingangsbemerkung in all diejenigen officia teilt, die „mit den heiligen Dingen“ umgehen, wovon er das Lehr- und Predigtamt noch einmal besonders abhebt.⁵³ Für dieses betont Luther: „Es genügt nämlich nicht, gelehrt und verständig zu sein, sondern es ist auch die Gnade erforderlich, dass man von Gott zur Lehre erwählt sei“.⁵⁴ Diese Bemerkung Luthers, wie auch eine etwas später zu findende,⁵⁵ lässt nun zwei Deutungen zu: Entweder kann das heißen, dass nur das Lehr- und Predigtamt unter den ministeria mit einem donum ausgestattet wird. Das würde zwar noch zur Eingangsüberlegung – die servitus kann ja die gratia mit sich führen –, nicht aber zum Kontext dieser Ausführungen passen. Oder Luther betont hier nur, dass, obwohl alle ministeria auf bestimmten dona aufruhen, die gratia docendi nicht automatisch eingeschlossen ist. Dies würde nun zum Kontext passen, aber eben nicht zur Eingangsüberlegung, weil dann auch die amtsqualifizierende servitus immer von der Gnade begleitet sein müsste. Doch auf jeden Fall bleibt festzuhalten, dass in diesem Gedankengang die eingangs voneinander unterschiedenen servitutes am Ende der Römerbriefvorlesung bis zur Unkenntlichkeit ineinander geschoben werden. Amtlicher und allgemein christlicher Pflichtenkreis sind nicht mehr strukturell, sondern nurmehr graduell voneinander unterschieden. Konsequent ist damit auch in der Perspektive des qualifizierten Glaubens die Amtsstellung eines kirchlichen Dienstes, und sei es ‚bloß‘ die des von Luther in seiner hohen Bedeutung akzentuierten Predigtamts, institutioneller Zuständigkeit entzogen und auf Gott als die allein wirksame Ursache aller den Glauben betreffenden Ordnungen zurückgeführt worden.
⁵¹ WA 56, 451,32–453,22. ⁵² Ab WA 56, 458,24 – vgl. den Hinweis auf die unnütze Gliederung der ‚guten Werke‘ bei
Lyra WA 56, 458,27–459,4. ⁵³ WA 56, 453,24–454,3: „Grece enim Est ‚Diaconiam In Diaconia‘ i. e. ‚in ministerio‘. Ministri sunt omnes, Qui Ecclesiasticis officiis seruiunt, Ut Sacerdos, Diaconus, subdiaconus Et quotquot cum sacris habent agere, preter verbi Dei tractatum, etiam qui docenti seruiunt, Ut Apostolus de suis ministris sepe loquitur“. Bezeichnenderweise fällt auch in dieser Definition der Hinweis auf die Ordination weg. ⁵⁴ WA 56, 454,5 f.: „Non enim satis est esse doctum et intelligentem, Sed gratia etiam requiritur, vt sit ex Deo electus ad docendum“. ⁵⁵ WA 56, 454,16 f.
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(e) Ganz auf dieser Linie strikter Verinnerlicherung aller äußerlich-institutionellen Beziehungen bei gleichzeitigem Ausschluss aller glaubensexternen Instanzen kommen auch Luthers Überlegungen zum Priestertum in seiner Hebräerbriefvorlesung (1517 / 18) zu stehen.⁵⁶ Luther tritt dabei endgültig in das Problemzentrum spätmittelalterlicher Katholizität ein, indem er dem Sakrament, wie Wolfgang Simon formulierte, „keine ihm eigene Logik oder Handlungsstruktur“ zugesteht und es „in die eine große Bewegung Gottes zum Menschen“ hineinstellt, „die der Mensch allein im Glauben wahrnimmt“.⁵⁷ Mit dieser fundamentalen sakramentstheologischen Veränderung stellt sich das Problem ein, wie dem sakramentalen Handlungsvollzug des Priesters überhaupt noch heilsvermittelnde Bedeutung zukommen kann. In den Scholien zu Hebr 5, 1 und 7, 12 führt Luther seine Antwort auf dieses Problem aus.⁵⁸ Den Ausgangspunkt für Luther stellt das Hohepriesteramt Christi dar, das ebenso Zentrum wie Quelle aller heilsbringenden Sündenvergebung ist. Christus ist, darauf legt Luther in seinem Scholion zu Hebr 5, 1 größten Wert, pro hominibus⁵⁹ gesetzt und zwar dergestalt, dass er von allen, die an ihn glauben, die Sünde nimmt.⁶⁰ Dies geschieht in zwei Akten, für deren Erläuterung Luther auf die alttestamtentliche Antitypik von Mose als Inbegriff des Gesetzes und Aaron als Inbegriff der Gnade zurückgreift: „Er [Christus] zeigt nämlich nicht nur wie Mose allein die Sünde an, sondern auch wie Aaron trägt er die Sünden und nimmt sie weg“.⁶¹ Für das Heil ist natürlich das zweite entscheidend, „weil die ‚Erkenntnis der Sünde‘ durch Mose, d. i. ‚durch das Gesetz‘ [Röm 3, 20] niemanden zum Leben führt, es sei denn durch ihren Erlass und ihre Vergebung durch Aaron, d. i. die Gnade“,⁶² was zur Beruhigung des Gewissen des Gläubigen führt.⁶³ Wir können es bei dieser knappen Exposition der dogmatisch-christologischen Kernaussage Luthers belassen, weil für uns die Frage wichtig ist, wie dieses Hohepriesteramt Christi den heilsbedürftigen und -verlangenden Menschen erreicht. Wie nach dem bisher Dargestellten ⁵⁶ Für eine Übersicht des Gehalts dieser Vorlesung vgl. nach wie vor E V, Luthers Hebräerbriefvorlesung 1517–1518, Tübingen 1930 (SGV 143). ⁵⁷ W S, Die Messopfertheologie Martin Luthers. Voraussetzungen, Genese, Gestalt und Rezeption, Tübingen 2003 (BHTh 22), 202. Vgl. ebd., 199–220 zu den sakramentstheologischen Dimensionen von Luthers Hebräerbriefvorlesung. ⁵⁸ Vgl. auch K B, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, Tübingen 1998 (BHTh 106), 74–81. ⁵⁹ WA 57 / III, 165,15: „Emphasis huius orationis [scil. Hebr 5, 1] in illo verbo consistit ‚pro hominibus‘ …“. ⁶⁰ WA 57 / III, 165,21–23. ⁶¹ WA 57 / III, 165,21 f.: „Ipse enim non ut Moyse solummodo ostendit peccatum, sed etiam ut Aaron portat et tollit peccata“. ⁶² WA 57 / III, 166, 2–4: „quia ‚cognitio peccati‘ per Moysem i. e. ‚per legem‘ neminem perducit ad vitam, nisi sit et remissio et ablutio eius per Aaron i. e. gratiam“. ⁶³ WA 57 / III, 166,25 f.: „Istud autem servare non est aliud quam ostensione sui conscienciam trepidam confirmare“.
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nicht anders zu erwarten, erläutert Luther das in einer perspektivischen Brechung: In seinem Hohepriesteramt hat Christus nach Luther – im Scholion zu Hebr 5, 1a – die Natur und das Amt des Priestertums (sacerdotii natura et officium) präfiguriert.⁶⁴ Das kirchliche Priesteramt ist in dem Sinn imitatio Christi, dass „alle Priester … nicht sich, sondern Anderen Priester sind, dass sie die Sünden und Nöte der Anderen tragen, damit sie nicht zu ihrem und der Anderen Verderben in leitender Stelle stehen“.⁶⁵ Sichtlich schließt Luther hier an den servitus-Gedanken der Römerbriefvorlesung an. Allerdings spitzt er ihn – etwa zwei Jahre später – noch einmal erheblich zu: Nicht bloß der Amtsträger in seiner Person, sondern alle seine zur Führung der Gläubigen verwendeten Mittel stehen nun unter dem Vorbehalt, pro hominibus gesetzt zu sein. Darunter fallen auch die Sakramente. Exemplarisch hebt Luther die Eucharistie hervor, deren res deshalb eben nicht der Leib Christi sondern der populus Christi bilde.⁶⁶ Das formuliert Luther in Aufnahme Augustins⁶⁷ und doch unterscheidet er sich von ihm, weil Luthers Bestimmung ein bloßes ‚Wofür‘ der zeichenhaften Handlung des Priesters meint. Die Handlung selbst besitzt von ihren Rezipienten abgekoppelt überhaupt keine eigene Realität. Das wird vollends klar, wenn sich Luther im Scholion zu Hebr 5, 1b der Seite der Gläubigen zuwendet. Die Gläubigen ‚erreicht‘ nämlich das vom Hohepriesteramt Christi ausgehende Heil der Sündenvergebung in einem mehrstufigen Aneignungsprozess, der sich in die Abfolge zweier Glaubensstufen zergliedert. Zuerst muss der Mensch glauben, dass Gott ihm (durch Christus) Sünden vergeben, Gnade verleihen und Herrlichkeit schenken kann. Darüber hinaus muss er aber glauben, dass Gott ihm selbst tatsächlich die Sünden vergibt, die Gnade verleiht und die Herrlichkeit schenkt.⁶⁸ Der Ort des Umschlags des Glaubens erster in den Glauben zweiter Ordnung ist das Gewissen⁶⁹, in dessen Zeugnis sich der Heilige Geist dem menschlichen Geist erschließt.⁷⁰ Zu ⁶⁴ WA 57 / III, 166,8. ⁶⁵ WA 57 / III, 166,26–167,2: „Hunc ergo pontificem imitari debent omnes sacerdotes et
scire se non sibi, sed aliis sacerdotes esse, ut ferant peccata et iniquitates aliorum, ne forte presint in perdicionem suam et aliorum“. ⁶⁶ WA 57 / III, 166,24–168,1: „Ad hoc ipsum monentur sacerdotes, quod pre ceteris Christianis inunguntur in digitis, non tam, ut digni sint tangere sacramentum corporis Christi, quam ut suaviter tractent rem eiusdem sacramenti (i. e. populum Christi)“. ⁶⁷ Vgl. die Verweise in der deutschen Übersetzung von E V, Luthers Hebräerbrief-Vorlesung von 1517 / 18, Berlin / Leipzig 1930 (AKG 17), 80 Anm. 1. ⁶⁸ WA 57 / III, 169,15–18: „Oportet, ut credas Deum posse remittere tibi peccata. conferre graciam et dare gloriam. Nec hoc satis est, nisi tibi remissa peccata, collatam graciam et donandam gloriam certissime credas“. ⁶⁹ Zur Fortführung der Vorstellung des spiritus hominis der Dictata zum Gewissen in der Hebräerbriefvorlesung vgl. H, Drei Kapitel, 117–19. ⁷⁰ WA 57 / III, 169,18–20: „Et hoc est testimonium consciencie nostre, quod perhibet spi-
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diesem Zeugnis des Gewissens gehört für Luther unverbrüchlich sein Empfangscharakter hinzu. Denn erst er vermittelt die Gewissheit, dass das Gottesverhältnis nicht bloß der Projektion des heilsverlangenden Gewissens entspringt, also in Luthers Terminologie „nobis ex nobis“⁷¹ verfasst ist. Und genau hier haben nun auch die priesterlichen Amtshandlungen inklusive der Sakramente im Leben des einzelnen Gläubigen ihren äußerlichen Ort und ihre alleinige Wirksamkeit: In der äußerlichen priesterlichen Handlung erschließt sich dem Gläubigen, dass die Gnade Gottes dem eigenen Gewissen von außen zukommt. Sie bietet den Anreiz zur innerlichen Aneignung des göttlichen Gnadenempfangs – des Glaubens zweiter Ordnung –, was allerdings voraussetzt, dass sich der Gläubige der priesterlichen Handlung im Vertrauen auf ihre religiöse Wirksamkeit – also im Glauben erster Ordnung – unterstellt: „Daher kommt es, dass niemand die Gnade zuerteilt wird, weil er die Absolution, die Taufe, die Kommunion oder die Ölung empfängt, sondern weil er glaubt, dass die Absolution, die Taufe, die Kommunion und die Ölung ihm Gnade zuteilen“.⁷² Damit knüpft Luther an die bereits in den Dictata zu findende Bestimmung des Glaubensbegriffs an, die dem ‚Gläubigen‘ eine ganz eigene religiös-erlebnishafte Erschließungskompetenz zuspricht. Doch im Scholion zu Hebr 5, 1b ist der Amtsträger als vicarius Christi noch einmal weiter zurückgedrängt worden und der Akzent liegt ganz auf seiner zeichen- und worthaften Tätigkeit. Auch das steht in Kontinuität zu den Dictata, in denen Luther die Kirche als ein reines Zeugnis des Heilshandeln Gottes, das in diesem Zeugnis ‚nicht real‘ vorliegt, bezeichnet hat. Das ist aber noch nicht das letzte Wort Luthers zur Bedeutung des Priesters im Heilsvermittlungsprozess. Im Scholion zu Hebr 7, 12 (‚Wo das Priestertum verändert wird, da ist es Not, dass auch das Gesetz verändert wird‘) kommt er noch einmal auf das Priestertum zu sprechen. In seiner Erläuterung, wie das Priesteramt Christi das Gesetz verändert hat, knüpft Luther an seine frühere Unterscheidung von Buchstabe und Geist an. Er erläutert zuerst ein niederes Verständnis, welches das ‚Gesetz‘ mit coeremonialia identifiziert, d. h. „Gewänder und äußeren Priesterschmuck, auch Schlachtopfer und Opfer von Tierfleisch, auch Urteile und Lehren von Aussatz und Unreinheit durch Berührung der Toten und ähnliches“.⁷³ Diese coeremonialia sind durch Christus abgeritus Dei spiritui nostro, de quo Apostolus 2. Cor 1.: ‚Gloria nostra, hoc est testimonium consciencie nostre‘ [2. Kor 1, 12]“. ⁷¹ WA 57 / III, 169,19 f. ⁷² WA 57 / III, 169,23–170,1: „Inde fit, ut nullus consequatur graciam, quia absolvitur aut baptizatur aut communicatur aut inungitur, sed quia credit sic absolvendo, baptizando, communicando, inungendo se consequi graciam“. ⁷³ WA 57 / III, 190,19–23: „Primum secundum inferiorem intelligentiam, qua significat coeremonialia tantum, scilicet vestes et ornamenta externa sacerdotum, item hostias et sacrificia carnalium pecorum, item iudicia et doctrinas leprae et immunditiarum ex tactibus mortuorum et similia“.
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schafft, obwohl sie durch das Gesetz geboten wurden,⁷⁴ und durch die – uns aus der Römerbriefvorlesung bekannte – graduell differenzierte Einheit des Glaubens ersetzt worden: „Denn im neuen Gesetz unterscheidet sich der Priester vom Volk nicht durch die Verschiedenheit der Gewänder oder des Gehabes, sondern durch eine größere Exzellenz in Heiligkeit und Gerechtigkeit“.⁷⁵ Eine Abwendung vom Gehorsamsideal der früheren Zeit muss eine solche Anforderung Luthers an die Amsträger nicht bedeuten. Denn nach monastischem Verständnis sind Heiligkeit und Gerechtigkeit ja gerade die äußerlich-moralische Seite tieferer Demut und stärkeren Gehorsams. Interessanter ist aber sodann Luthers Überlegung zum höheren Verständnis. Hier bedeutet Gesetz nämlich all das „was göttlich oder menschlich vorgeschrieben ist, sei es zeremoniell oder rechtlich und moralisch“.⁷⁶ Dieses Gesetz hat Christus nach Luther erfüllt und das heißt, das Gesetz hat seine äußerlichzwanghafte Verpflichtungskraft für den Gläubigen verloren. Dies betrifft alle, die im Einflussbereich des Priestertums Christi leben, die ‚Gerechten‘⁷⁷ – wie Luther nun die homines spiritualis seiner frühen Psalmvorlesung nennt. Das hat Folgen für die priesterliche Funktion: „Daher ist es eigentlich nicht das Amt (officium) des neuen Priesters, das Gesetz zu lehren, sondern auf die Gnade Christi zu verweisen, welche die Fülle des Gesetzes (plenitudo legis) ist“.⁷⁸ Das Gewicht des Satzes Luthers liegt auf dem ‚eigentlich‘. Mitnichten sind ja schon alle Menschen gerecht und gläubig. Hier nimmt Luther den Gedanken der erst allmählich werdenden Kirche aus den Dictata auf und stellt der ecclesia in via die fideles in via zur Seite, auf deren gläubiger Vervollkommnung der Priester zweierlei Einfluss ausübt: „Tatsächlich ist diese Veränderung [des Gesetzes] noch nicht vollendet wie die vorige, sie vervollkommnet sich aber Tag auf Tag. Daher lehrt der neue Priester teils [das Gesetz], teils weist er mit Johannes dem Täufer [auf Christus], denn so einen Gerechten, dem das Gesetz nicht auferlegt wäre, gibt es in dieser Zeit nicht außer im Anfangsstadium“.⁷⁹
Merkwürdigerweise wird in dieser Überlegung die imitatio Christi des Priesters durch Luther gar nicht mehr angesprochen. Die ‚Sünden und Nöte der Ande⁷⁴ WA 57 / III, 190,22–24. ⁷⁵ WA 57 / III, 190,27 f.: „Nam in nova lege sacerdos non differt populo vestium vel habi-
tus diversitate, sed potius excellentia sanctitatis et iusticiae“. ⁷⁶ WA 57 / III, 192,16–18: „Secundo potest ‚lex‘ accipi iuxta superiorem intelligentiam, … ubi [Paulus im Römer- und Galaterbrief] ‚legem‘ simpliciter intelligit, quicquid divinitus et humanitatus praecipitur, sive sit ceremoniale sive iudiciale et morale“. ⁷⁷ WA 57 / III, 190,21–23. ⁷⁸ WA 57 / III, 23–25: „Ideo sacerdotis novi officium proprie non est docere legem, sed monstrare gratiam Iesu Christi, quae est plenitudo legis“. ⁷⁹ WA 57 / III, 193,5–8: „Verum haec translatio nondum est perfecta sicut prior, perficitur autem de die in diem. Ideo partim docet, partim monstrat cum Ioanne Baptista sacerdos novus, cum iustus ille, cui lex non sit posita, in hoc tempore nullus sit nisi inchoative“.
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ren zu tragen‘, wie es im Scholion zu Hebr 5, 1 noch hieß, hat sich in eine durch Gesetzeslehre und Gnadenverweis umrissene pädagogische Aufgabe des Priesters verwandelt, für die sich der Priester unterschiedlicher Mittel – unter anderem der Sakramente – bedienen kann. Gleichwohl wäre selbst unter der Bedingung, dass alle Menschen ‚Gerechte‘ wären, das Priestertum nicht hinfällig. Denn auch dann bedürfte das gläubige Gewissen einer ihm äußerlich vorgeordneten Instanz, an der es sich vergewissern kann, dass die Aneignung des göttlichen Heilsgutes keine bloße Fiktion darstellt. Dass Luther diese Instanz ganz selbstverständlich mit dem Priestertum der Papstkirche identifiziert, ruft dabei noch einmal ins Gedächtnis, was Luther schon in den Dictata für den Gläubigen formuliert hatte: Der Heilsbesitz ist nur innerhalb der äußeren Rahmenbedingungen möglich, welche die institutionalisierte Kirche darbietet. An diesem Umstand hat auch die Verknüpfung verschiedener seit den Dictata super Psalterium wirksamer Motive und die damit eintretende Verdichtung der Verinnerlichungs- und Zentrierungsdynamik der kirchlichen, institutionalisierten Autorität um den Gläubigen herum nichts geändert. In seinen frühen Vorlesungen geht Luther wie selbstverständlich davon aus, dass seine Uminterpretationen der kirchlichen Autorität und ihrer Kategorien umstandslos mit dem bestehenden System kirchlicher Katholizität vereinbar wären. Diese Einschätzung Luthers ist zutiefst ambivalent. Sicher ist sie dadurch motiviert, dass Luther die institutionelle Verortung des ‚Gläubigen‘, wie die zu ihrer Beschreibung immer wieder herangezogene Begrifflichkeit zeigt, an seiner monastischen Lebenswelt und ihrem prototypisch für die ‚eigentliche‘ christliche Existenz geltenden Lebensstil bildet.⁸⁰ Doch genau das ist mit der überkommenen Vorstellung katholischer Kirchlichkeit unvereinbar, weil sie nicht auf die religiöse Selbstbeteiligung des Individuums bei der Aneignung und Vergewisserung des eigenen Gnadenstandes gestimmt ist. Eher das Gegenteil ist der Fall: Die religiöse Wirksamkeit der kircheneigenen sakramentalen und jurisdiktionellen potestates entfaltet sich ja gerade in ihrer strukturellen Unabhängigkeit von den Einstellungen und Überzeugungen der Kirchenmitglieder, unabhängig von der bei ihnen vermeint oder tatsächlich vorhandenen gratia gratum faciens.⁸¹ Luther lehnt hingegen eine auf rein formal-äußerlicher Partizipation beruhende Kirchenmitgliedschaft, der dennoch Heil und Gnade zukommt, durchgängig ab. Und spätestens in der Römerbrief⁸⁰ Vgl. zur Bedeutung des Mönchtums für die Entwicklung Luthers die Hinweise bei H, Neubau der Sittlichkeit, 203. Grundlegend B M, Die frühe Reformation als neues Mönchtum (1998), in: D., Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, Göttingen 2001, 141–155. Nun mit weiterer Literatur: B H, Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung (2007), in: D., Der frühe Luther, 25–64. ⁸¹ Vgl. 1. Kapitel bei Anm. 149.
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vorlesung attackiert er auch offen die Differenz von potestas und gratia, womit er einen höchst sensiblen Bereich mittelalterlicher Katholizität berührt. Der hier formulierte Gedanke der servitus des Amtsträgers deutet den in der Hebräerbriefvorlesung vollends aufbrechenden Gegensatz zur überkommenen Vorstellung an: Die priesterlichen Handlungen sind für Luther nur dann als religiöse Handlungen qualifiziert, wenn sie sich direkt – pro hominibus – auf das Gewissen des Kirchenmitglieds beziehen, das bereits durch die allen priesterlichen Handlungen vorauslaufende Eingießung der gratia gratum faciens durch Gott bestimmt ist. Die Handlungen selbst legen dem Gläubigen keine Gnade bei, sondern folgen nach monastischem Vorbild – darauf hat schon Karl Holl aufmerksam gemacht – einem religiösen Erziehungsideal.⁸² Bezeichnenderweise ist das Aufbrechen dieses Gegensatzes im Denken Luthers durch das leise Verschwinden derjenigen institutionellen Bezugsgröße begleitet, die klassischerweise den Schnittpunkt von institutioneller potestas und individueller gratia bildete, nämlich den kirchlichen ordo-Gedanken.⁸³ Luthers bemerkenswert unbekümmerter Umgang mit tragenden Begriffen der überlieferten Amts- und Kirchentheorie hat allerdings für seine Sicht auf die prototypisch verwendete monastische Vorstellungswelt Konsequenzen. Das an ihr gebildete Ideal des ‚Gläubigen‘ sprengt von den Dictata an die soziale, institutionelle und lebensstilbegründete Exklusivität monastischer Existenz auf.⁸⁴ Der innere religiöse Elitarismus ist nicht von einem äußeren begleitet, weil eben alles auf die dem einzelnen Gewissen im Glauben zugeeigneten Urteils-, Erschließungs- und Erlebnisdimensionen ankommt. Oder anders: Die elitäre Konzeption des ‚Gläubigen‘ hat in Bezug auf soziale, institutionelle und lebensstilbegründete Differenzen einen egalitären Zug. In der Römerbriefvorlesung tritt Luthers Distanz zur Anerkennung religiös ausgezeichneter institutioneller Sonderwelten deutlich zutage: Mit seiner die spätere Berufsethik präludierenden Ausweitung der vocatio-Vorstellung lassen sich äußerlich-institutionelle Ordnungsgesichtspunkte für das christliche Leben nurmehr als kontingente Gestaltungen der ihnen vorauslaufenden, im Glauben ergriffenen Allwirksamkeit Gottes begreifen.⁸⁵ In der Hebräerbriefvorlesung wird dieser ⁸² Vgl. H, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 300. ⁸³ Weil M K, Ordination in Wittenberg. Die Einsetzung in das kirchliche
Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation, Tübingen 2007 (BHTh 141), ebenso wenig auf die Äußerungen Luthers vor 1519 / 20 eingeht, wie er die Arbeiten Johannes Heckels zur Kenntnis genommen zu haben scheint, verpasst er dieses Phänomen, dessen Bedeutung für die Entwicklung von Luthers Ordinationsverständnis wohl schwer in Abrede zu stellen sein wird. ⁸⁴ Vgl. H, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 300. Zum Selbstverständnis des Mönchtums zur Zeit Luthers, siehe jetzt auch C B, Leben als Mönch und Leben in der ‚Welt‘ – monastischer Anspruch und reformatorischer Widerspruch, in: A L .. (Hg.), Reformation und Mönchtum. Aspekte eines Verhältnisses über Luther hinaus, Tübinge 2008 (SMHR 43), 7–27. ⁸⁵ Vgl. auch H, Initia Iuris, 145–148.
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Gedanke dann angewandt und zugespitzt: Alle äußerlichen Vorschriften für die individuelle Lebensführung verlieren an normativ-religiösem Gewicht und werden, da sie noch in vergeistigter, gesetzeslehrender Form zur pädagogischen Vervollkommnung des Gläubigen nötig sind, als auf Dauer gestellte ‚Übergangsordnung‘ gekennzeichnet. All diese Elemente des Lutherschen Denkens bilden aus der Sicht mittelalterlicher Katholizität, zurückhaltend formuliert, einen theologischen Affront. Daran ändert Luthers Identifikation seiner Vorstellungen mit denen der katholischen Kirche nichts, auch wenn nicht daran zu zweifeln ist, dass Luther von der Richtigkeit dieser Identifikation überzeugt war. Die von ihm in ihrer Notwendigkeit gar nicht geleugnete äußere kirchliche Ordnung lässt sich aber in der Interpretation Luthers weder mit der geläufigen Institutionenerwartung an die Papstkirche noch mit dem geläufigen Institutionensinn ihrer Autorität abgleichen, nämlich der Entlastung des gläubigen Subjekts in der Konstitution seines Gottesverhältnisses. Dies geschieht dadurch, dass dem Einzelnen das Heil und sein religiöser Urgrund lehrhaft und sakramental vergegenwärtigt werden, ohne durch das Subjekt angeeignet werden zu müssen. Bei Luther hingegen sind die äußere Ordnung und Autorität der Kirche ganz darauf abgestellt, den inneren Prozess des vom Glauben in den Glauben fortschreitenden Gewissens zu befördern, also auf die Aneignung des Heils und seines religiösen Urgrunds zu dringen.⁸⁶ Genau an diesem Punkt tritt nun auch das Problempotential zutage, das Luther zeitlich und sachlich parallel zu seiner Hebräerbriefvorlesung veranlasste, sich in der Öffentlichkeit gegen die Ablasspraxis der Papstkirche zu stellen: Die durch den Ablass eröffnete Möglichkeit, die Unzulänglichkeiten des eigenen Glaubenslebens durch die institutionelle Autorität der Kirche aufzuwiegen,⁸⁷ musste für Luther als dem Wesen des Glaubens, aber auch der Kirche und deren Autorität widersprechend empfunden werden. Und es waren die hellsichtigen Köpfe des damaligen Papsttums, die erkannten, dass sich in Luthers Widerstand gegen die kirchliche Ablasspraxis eine Vorstellung frommer Kirchlichkeit artikulierte, die der überkommenen diametral entgegengesetzt war und die weit über eine Kritik von einzelnen Misständen der Ablasspraxis hinauswies.
⁸⁶ Vgl. dazu U B, Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis (1992), in: D., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27–51, bes. 49 f. ⁸⁷ Vgl. 1. Kapitel bei Anm. 106. Die Bandbreite der spätmittelalterlichen Ablasslehren wird eindrücklich rekonstruiert von B A R. F, Die Ablaßtheologie Kardinal Cajetans (1469–1534), Leiden 1998 (SMRT 46), bes. 11–71.
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1.2. Von der Ablasskritik bis zur Leipziger Disputation Die Amts- und Kirchentheorie mittelalterlicher Katholizität war nicht normativ fixiert. Dass die Vorstellung der potestas clavium ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Theorielagen war, und dass die Schlüsselgewalt dabei grundsätzlich in sakramentale als auch jurisdiktionelle Bestandteile differenziert werden muss, war dennoch Konsens, weil diese Differenzierung die rechtliche Einbettung der heilsbringend ausgeübten Schlüsselgewalt in den institutionellen Rahmen der Papstkirche plausibilisieren konnte. Ob Luther mit seinen berühmten 95 Thesen über den Ablass diesen Konsens aufrecht erhielt, also eine weitere theologische Variation kirchlicher Katholizität artikulierte, war von Anfang an strittig. Denn Luthers Thesenreihe nährte den Verdacht, dass bei Luther der gesamtkatholische Konsens zumindest unbetont und die rechtliche Einbettung unbeachtet blieb. So sahen es jedenfalls Johann Tetzel, Johannes Eck und Sylvester Prierias, ohne dass sie Luthers frühe Vorlesungen kannten.⁸⁸ Luthers Vorstellung der Schlüsselgewalt und des dazu gehörenden locus classicus Mt 16, 18 f. in ihrer konstruktiven Bedeutung für Luthers Amts- und Kirchentheorie zu erfassen, nehmen wir uns in diesem Abschnitt vor. Damit haben wir zugleich einen roten Faden in der Hand, der uns durch die vielschichtige Entwicklung Luthers bis hin zur Leipziger Disputation zu leiten vermag. Uns interessiert dabei im Folgenden mehr, was Luther positiv unter der ‚Schlüsselgewalt‘ verstand, als das, was er negierte. Und um es vorneweg zu sagen: Das Urteil Johannes Heckels, Luthers Äußerungen zur potestas clavium wären in den Jahren 1517 / 18 durch und durch „kanonistisch korrekt“,⁸⁹ ist – wie schon Tetzel, Eck und Prierias bemerkten – unrichtig. Luthers Beschäftigung mit diesem amtstheoretischen Zentralkomplex wuchs nicht wie bisher aus seiner exegetischen Arbeit heraus,⁹⁰ sondern wurde ihm von außen zugetragen. Natürlich war die Ursache dafür Luthers eigener Gebrauch des Begriffs der claves in seinen Ablassthesen. Der ist zwar sporadisch, aber insofern signifikant, weil Luther stets auf Einschränkungen verweist, die sich mit den ‚Schlüsseln‘ verbinden: So behauptet er in These 25 die grundsätzliche Gleichheit der potestas aller Amtsträger in Bezug auf deren Wirkung im Fegefeuer, um in These 26 hervorzuheben, dass diese Wirkung nicht in der potestas clavis, sondern per modum suffragii besteht. Die Schlüsselgewalt der Amtsträger erstreckt sich demnach nicht in das Fegefeuer hi⁸⁸ Eine gelungene knappe Übersicht über die ersten Auseinandersetzungen Luthers – zu der die Literatur ja Legion ist – bietet S H. H, Luther and the Papacy. Stages in Reformation Conflict, Philadelphia 1981, 32–52. ⁸⁹ H, Initia Iuris, 189 f. ⁹⁰ Vgl. zu Luthers frühen Beschäftigungen mit Mt 16, 18 f. F R, Das Petrusbild Luthers. Ein Beitrag zu seiner Auseinandersetzung mit dem Papsttum, Diss. theol. Heidelberg 1967 (masch.), 1–11.
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nein.⁹¹ Eine andere Einschränkung formuliert Luther bei seiner zweiten und letzten Verwendung der ‚Schlüssel‘ in den Ablassthesen: In These 60 identifiziert Luther die claves ecclesiae mit dem thesaurus ecclesiae, um in der folgenden These darauf zu verweisen, dass zum Strafnachlass allein die potestas Papae ausreicht. Der kirchliche Strafnachlass ist also keine Heilszuwendung.⁹² Die Begründungen für diese einschränkenden Hinweise bleiben aufgrund ihres Thesencharakters allerdings opak.⁹³ Wohl auch deshalb diagnostizierten Tetzel und Eck fast gleichzeitig bei Luther ein falsches Verständnis der claves. Gleichermaßen identifizierten sie als den systematisch springenden Punkt den ersten Teil von Luthers sechster These: „Papa non potest remittere ullam culpam nisi declarando et approbando remissam a deo“.⁹⁴ Und einhellig warfen Tetzel (in seinen zusammen mit Konrad Wimpina verfassten 106 Frankfurter Thesen vom Januar 1518) sowie Eck (in seinen ebenfalls um diese Zeit verfassten Obelisci)⁹⁵ Luther vor, dass diese Bestimmung der potestas der kirchlichen Amtsträger als declaratio das Wesen des christlichen Priestertums verzeichne, weil es dessen Sakramentalität ignoriere und folglich die sakramentale Wirksamkeit sowie Wirklichkeit der priesterlichen Handlungen missachte.⁹⁶ Es war diese Kritik, die Luther dazu bewegte, die Vorstellung der claves ausführlicher aufzunehmen. Das geschah zunächst in seinen unveröffentlichten Asterisci Lutheri adversus Obeliscos Eckii (März 1518), die Luther dann als Steinbruch für seine Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (Mai 1518) benutzte,⁹⁷ in denen er öfter auf die Schlüsselgewalt zu sprechen kommt.⁹⁸ Dennoch brauchen wir uns nur relativ kurz bei Luthers Ablassresolutionen aufzuhalten, weil wir deren amtstheoretische Grundkonstellation bereits aus unserer Betrachtung der Hebräer⁹¹ WA 1, 234,25–28. ⁹² WA 1, 236,18–21. ⁹³ In dem Augsburger Verhör durch Kardinal Cajetan werden diese beiden Punkte dann
zu zentralen Streitgegenständen, vgl. dazu und zu weiteren Hintergründen von Luthers Auffassung des ‚per modum suffragii‘ sowie des Kirchenschatzes: F, Die Ablaßtheologie, bes. 280–327. ⁹⁴ WA 1, 233,20–21. ⁹⁵ Ich benutze in beiden Fällen die Edition: P F / E I (Hg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517–1521). 1. Teil: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen (1517–1518), Münster 1988 (CCath 41), 310 f. und 377–380 zu den jeweiligen Datierungen. ⁹⁶ So Tetzel / Wimpina in ihren Thesen 11–13 (A. a. O., 324) und Eck in seiner Besprechung der 6. These Luthers (A. a. O., 408–411). ⁹⁷ Das ist ganz auffällig in Luthers Resolution zur 7. These, deren Abschlusspolemik (bes. WA 1, 544,29–33) fast wortwörtlich auf Luthers Asterisci zurückgreift (vgl. WA 1, 286,25–32), wobei dies wiederum deutliche Anleihen bei Luthers Scholion zu Hebr 7, 12 nimmt (vgl. oben bei Anm. 73). ⁹⁸ Keine Rolle spielt hingegen die ‚Schlüsselgewalt‘ in Ein Sermon von Ablaß und Gnade (März 1518) und im Sermo de poenitentia (wohl Ostern 1518), die Luther zur Erläuterung seiner Ablassthesen hielt.
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briefvorlesung kennen, die Luther ja zeitgleich hielt.⁹⁹ Die Einschränkungen, auf die er in den Ablassthesen hinweist und die Tetzel und Eck kritisieren, werden von Luther in den Resolutionen dahingehend präzisiert, dass es sich um Einschränkungen handelt, die aus der Differenz zwischen objektiver Wirksamkeit der kirchlichen Autorität und ihrer subjektiven Wirklichkeit für den Gläubigen erwachsen. Dass Luther hierfür eine andere Terminologie als in der Hebräerbriefvorlesung gebraucht, tut der Sache keinen Abbruch, wie wir an einer knappen Zusammenfassung der für uns entscheidenden Gedankengänge¹⁰⁰ merken können: Die priesterliche declaratio der göttlichen Sündenvergebung (für die Luther immer wieder auf Mt 16, 19 verweist) kommt in den Ablassresolutionen am Umschlagspunkt zwischen Gottes ‚fremdem Werk‘, durch das der einzelne Gläubige den Heilswillen Gottes sub forma irae abscondita erlebt, in das Gott ‚eigene Werk‘ zu stehen, durch das das Gewissen in der pax conscientiae Gottes Heilszusage als es selbst betreffende Wirklichkeit erfasst.¹⁰¹ Was Luthers Erläuterung so ausführlich werden lässt, ist dem Versuch geschuldet, zwei mögliche Missverständnisse seiner Position auszuräumen: Einerseits ist nach Luther die declaratio nicht so zu verstehen, dass sie die göttliche Gnade dem Gläubigen beilege oder in ihm wirke. In dieser objektivierend zu nennenden Richtung betont Luther, dass die priesterliche ‚Kraft der Schlüssel‘ dem göttlichen Handeln strikt, zeitlich wie sachlich, nachgeordnet ist. Schon der sich in Unruhe und Ungewissheit befindende Glaube (der ja durch Gottes Heilswillen hervorgerufen wird) partizipiert für Luther in gar nicht weiter ergänzungsbedürftiger Weise am Heil und allen Heilsgütern.¹⁰² Andererseits ist die volle Entfaltung der subjektiven Wirklichkeit des Heils im Glauben auch nicht unabhängig von der declaratio vorzustellen: „Igitur remissio dei gratiam operatur, ⁹⁹ Dieser Zusammenhang wird herausgearbeitet von B, Christus – König und Priester, 84–90. ¹⁰⁰ Sie finden sich – wie Bornkamm bereits überzeugend vorlegt – in den Resolutionen zu den Thesen 6 und 7 (WA 1, 538,36–545,8) bzw. 37 und 38 (WA 1, 584,20–586,5). ¹⁰¹ WA 1, 540,7–541,11. Einigermaßen irritierend ist in diesem Zusammenhang Bornkamms Ansicht, dieser Umschlag sei nicht als „bloße[r] Bewußtseinsumschlag zu interpretieren“, weil Luther sich ausdrücklich davon distanziere, den „Gewissensfrieden in der inneren Erfahrung zu suchen“ (B, Christus – König und Priester, 86). Die zum Beleg angeführte Stelle (WA 1, 541,6–11) zielt aber auf etwas anderes ab: Hier hebt Luther nämlich bloß hervor, dass die res des Glaubens nicht in einer inneren Erfahrung bestehen kann, weil sie keine Gewissheit gibt. Das kann eben nur der Glaube selbst. Damit ist aber nicht abgelehnt, dass der Glaube eine innere Erfahrung ist; vgl. zur Charakerisierung des Erlösungsbegriffs Luthers C-D O, Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004 (BHTh 128), 48 f. ¹⁰² Vgl. bes. WA 1, 593,32–34: „quod virtute clavium … haec participatio [an den Heilsgütern Christi und der Kirche] non datur, sed potius ante et sine illis datur a solo deo, sicut remissio ante remissionem, absolutio ante absolutionem, ita participatio ante participationem“.
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sed remissio sacerdotis pacem, quae et ipsa est gratia dei et donum, quia fides remissionis et gratiae praesentis“.¹⁰³ Freilich bestätigen solche Ausführungen den Verdacht Tetzels und Ecks, dass Luther mit der Sakramentalität des christlichen Priestertums und dessen Handlungen nichts anzufangen weiß. Ein Hinweis auf den priesterlichen ordo, dessen character oder eben die besondere Wirksamkeit bestimmter priesterlicher Handlungen, fehlt in den gesamten Ablassresolutionen. Und was für die Sakramentalität zu beobachten ist, ist auch für die anderen Elemente zu konstatieren, die sich traditionell um den potestas-Begriff legen: All die Differenzierungen, die schon seit Jahrhunderten das Geschäft derjenigen sind, die sich um das Leben der Kirche und das Heil der Menschen sorgen, kommen in den gesamten Ablassresolutionen einfach nicht vor. Vielmehr zeigen gleich mehrere Stellen in den Resolutionen, dass Luther den Begriffsausdruck potestas clavium (bzw. die Stelle Mt 16, 19) recht schlicht als Sammelbezeichnung für alle Tätigkeiten der kirchlichen Amtsträger nimmt:¹⁰⁴ potestas clavium, potestas sacerdotalis, potestas Papae und potestas Ecclesiae laufen bei Luther völlig undifferenziert ineinander.¹⁰⁵ Der sich hier andeutende weite Gebrauch des Begriffsausdrucks potestas clavium baut nun sicherlich auf den früheren Überlegungen Luthers auf, weil er auch in seinem Scholion zu Hebr 7, 12 das eine in Gesetzeslehre und Gnadenverweis bestehende officium sacerdotalis hervorhob. Doch der weite Begriffsgebrauch ergibt sich nicht aus der sonst konstitutiven Unterscheidung von objektiver Wirksamkeit und subjektiver Wirklichkeit. Vielmehr zeigt er an, dass bei Luther in den Ablassresolutionen die Perspektiven verschwimmen: Denn es ist ja das Eine, zu sagen, dass für den Gläubigen alle Handlungen der institutionalisierten kirchlichen Autorität auf ein und dieselbe Beförderung der Aneignung der göttlichen Heilszusage zielen und insofern in ihrer potestas gleich sind. Es ist aber etwas ganz Anderes zu sagen, dass alle Handlungen der ¹⁰³ WA 1, 542,7–9. Dass in diesem Satz die ganze eigentümliche Verschränkung von gottgegebener Wirklichkeit des Heils und priesterlicher ‚Bewirkung‘ des Heils aufleuchtet, dürfte ersichtlich sein. Doch auch hier betont Bornkamm die Wirksamkeit der priesterlichen Gnadenverkündigung übergebührlich: „Das priesterliche Wort führt die Situation herbei, in der die Rechtfertigung aus Glauben am Menschen geschehen kann“ (B, Christus – König und Priester, 87). Viel präziser formuliert hingegen Karl Holl in seiner Interpretation der Ablassresolutionen „daß die Gewißheit der Sündenvergebung für den einzelnen Gläubigen erst dann gegen alle Zweifel (auch gegen allen Mißbrauch) sichergestellt sei, wenn ein anderer – der Priester – ihm den Trost des Evangeliums verkündige“ (H, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 310 f.). ¹⁰⁴ Bes. WA 1, 615,29: „quando sacerdotali officio excommunicat, absolvit, ordinat, deordinat, statuit, abrogat, praecipit, prohibet, dispensat, mutat, interpretatur. In hiis omnibus agitur virtute istius verbi: Quodcumque etc. [Mt 16, 19]“. ¹⁰⁵ Diese Beobachtung machten schon – mit weiteren Belegstellen – H, Initia Iuris, 189 sowie K-V S, Normen der Christenheit im Streit um Ablaß und Kirchenautorität. Erster Teil: Das Jahr 1518, Heidelberg 1968 (Habil. masch.), 26.
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institutionalisierten kirchlichen Autorität auf ein und derselben potestas beruhen. Doch diese Ungenauigkeit Luthers, die sich vor dem mittelalterlichen theologischen und kanonistischen Problemhorizont nachgerade institutionell naiv ausnimmt,¹⁰⁶ weist ziemlich deutlich darauf hin, dass Luther der Vorstellung der potestas clavium nach Mt 16, 19 trotz seines ständigen Verweises darauf kein wirklich eigenständiges Sachinteresse entgegen bringt. Er setzt hingegen den Begriffsausdruck und den biblischen Beleg bloß in seine aus der frühen Vorlesungszeit erwachsene Vorstellungswelt ein.¹⁰⁷ An dieser Position ändert sich bis zum Augsburger Verhör durch Kardinal Cajetan im Oktober 1518 nichts. Wiederholt verteidigt Luther sowohl die uns mittlerweile hinlänglich bekannte Differenz zwischen kirchlich institutioneller Handlung und ihrer religiösen Deutung durch den Gläubigen,¹⁰⁸ wie er seinen weiten Gebrauch des Begriffsausdrucks potestas clavium weiterführt: Mit dem Wort Mt 16, 19 sei, so führt Luther in seiner Auseinandersetzung mit Prierias aus, ein „allgemeines und unwidersprechliches Gesetz nicht nur Petrus gegeben, sondern darüber hinaus allen Priestern und der ganzen Kirche“.¹⁰⁹ Das ist ¹⁰⁶ Dies ist gegen H und S (vgl. vorige Anm.) festzuhalten. ¹⁰⁷ Die Bedeutung des Hebräerbriefs für Luthers Auslegung von Mt 16, 19 belegt auch:
WA 1, 657,17–22. ¹⁰⁸ Dies passiert besonders in Luthers Sermo de virtute excommunicationis (gehalten im Mai 1518), von dem wir bekanntlich nur eine von Luther selbst überarbeitete Version haben (WA 1, 638–643). Diese Predigt wird in ihrer Bedeutung für Luthers Kirchenverständnis immer wieder hervorgehoben. Aber mitnichten kommt es hier bei ihm zu einer scharfen Scheidung von innerer und äußerer Kirchengemeinschaft, die über das bisher Dargelegte hinausführt: Denn welchen Sinn würde es dann für Luther machen, von einer gerechten Exkommunikation zu sprechen? Luthers Ausführungen zielen vielmehr darauf ab: Sowenig wie die priesterliche Sündendeklaration das Heil im Gläubigen bewirkt, sowenig bewirkt eine Exkommunikation die Trennung vom Heil. Gleichwohl ist die Exkommunikation in der Lage – wie die Heilsdeklaration – einen ihr vorauslaufenden Tatbestand anzuzeigen (im Fall der Exkommunikation: die Abwendung von Gott durch die Sünde des Menschen, 639,9 f.) und dessen Aneignung zu befördern (im Fall der Exkommunikation: durch den Einsatz von Strafen als Medizin mit dem Ziel der Besserung). Ob eine Exkommunikation gerecht ist, das liegt nicht weniger als die Aneignung des Heils an der Deutung durch das betroffene Subjekt selbst. Was Luther dann noch alles zur Unwirksamkeit einer ungerechten Exkommunikation äußert, ist mittelalterlich völlig unumstritten: Luthers Ausführungen lassen sich ohne Weiteres mit der – bloß herrschende Meinung zusammenfassenden – Vorstellung eines Thomas von Aquin koordinieren (Super Sent., lib. 4 d. 18 q. 2.). Auf diese Übereinstimmungen mit der Tradition hat schon mit Verweis auf das Decretum Gratiani aufmerksam gemacht S, Normen der Christenheit, 28. ¹⁰⁹ Die ganze Stelle, in der es um die Ansicht geht, die besondere Wirkung der Papstgewalt sei ein gottgegebenes privilegium WA 1, 655,9–12: „Nam ego non capio, quomodo in isti verbo Christi: Quodcunque solveris &c. Petro sit datum privilegium. Non enim privilegium, sed lex generalis et irrefragibilis data est non Petro tantum, sed omnibus prorsus sacerdotibus et toti ecclesiae“. Vgl. auch die – ziemlich ungewöhnliche – Bezeichnung der potestas clavium als bonum commune der Kirche (WA 1, 658,24 f.), mit der Luther offensichtlich nicht – wie es nach scholastischer Terminologie nahe liegen würde – den Institutionenzweck, sondern den Allgemeinbesitz bezeichnet. Vgl. zur Prierias Auseinandersetzung vor allem H A.
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natürlich eine ganz traditionelle Formulierung. Aber Luthers bisherige Ausführungen zur Schlüsselgewalt begünstigen nicht gerade die Ansicht, dass er sie auch traditionell versteht. Es wäre nicht das erste Mal, dass Luther sich klassischer Terminologie bedient, um etwas ganz anderes damit zu meinen.¹¹⁰ Genau das schält sich, angestoßen durch die Begegnung mit Cajetan, bis hin zur Leipziger Disputation in drei Schritten heraus. Im ersten Schritt scheidet bei Luther die Papstmonarchie als notwendiger Bestandteil des kirchlichen Priestertums aus. Sie ist, wie Scott H. Hendrix trocken formulierte, Luthers „first major casualty“.¹¹¹ Ausschlaggebend für die Entwicklung dieser Ansicht Luthers ist die kritische Zuspitzung der Autoritätenfrage während der Augsburger Debatte um die Dekretale Unigenitus.¹¹² In einer markanten Umformung der überkommenen Vorstellung der kirchlichen Autoritätenhierarchie macht Luther unter Berufung auf 1. Kor 14, 30 und Gal 2, 11 geltend, dass einerseits die kirchliche Lehrautorität nur dann den Gläubigen bindet, wenn sie die Stimme Christi zu Gehör bringt, und andererseits die Stimme Christi, wenn sie sich auch nur durch einen einzigen Gläubigen Gehör verschafft, die Geltungsansprüche der kirchlichen Lehrinstanzen außer Kraft setzt.¹¹³ Umgekehrt heißt das: Jede Autorität, die nicht Christus, sondern sich selbst zum Gegenstand kirchlicher Lehre erhebt, ist für den Gläubigen nichtig.¹¹⁴ Aus diesem Grund verwirft Luther schon während des Augsburger Verhörs die papstkirchliche Dekretalenhermeneutik in Bezug auf die Dekretale Unigenitus. In der Nachbereitung des Augsburger Verhörs überprüft Luther Obermann, Wittenbergs Zweifrontenkrieg gegen Prierias und Eck. Hintergrund und Entscheidungen des Jahres 1518 (1969), in: D., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1980, 113–143; H, Luther and the Papacy, 46–52. ¹¹⁰ Eine erste kryptische Andeutung für ein ganz eigenes Verständnis der ‚Schlüsselgewalt‘ findet sich in einer am 1. August 1516 gehaltenen (uns nur bruchstückhaft fassbaren) Predigt, WA 1, 69,9–24, bes. 11–13: „Quaecunque ligaveritis super terram &c. [Mt 18, 18] Nisi Christus omnem potestatem suam dedisset homini, nulla fuisset Ecclesia perfecta, quia nullus ordo, cum quilibet vellet dicere, se ex Spititu S. tactum“. Vgl. dazu R, Das Petrusbild Luthers, 11 f. ¹¹¹ H, Luther and the Papacy, 70. ¹¹² Vgl. zur Augsburger Begegnung kurz H, Luther and the Papacy, 52–70. Ausführlich und bislang unübertroffen sind F, Die Ablaßtheologie und S, Normen der Christenheit. ¹¹³ Vgl. dazu C V-G, „dictum unius privati“. Zu Luthers Verwendung des Kommentars der Dekretale Significasti von Nicolaus de Tudeschis, in: P M (Hg.), Orientierung für das Leben. Kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit. FS Manfred Schulze, Berlin 2010 (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 13), 93–114. ¹¹⁴ Darauf, dass sich damit die in den Dictata bereits umrissene Situation des Widereinander von geistbegabtem Gläubigen einerseits und der auf temporalia fixierten Auslegung der Gottesfeinde andererseits (vgl. oben bei Anm. 8) für Luther nun konkretisiert, macht aufmerksam H, Luther and the Papacy, 176 Anm. 103.
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stichprobenartig an der kirchlichen Rechtstradition die Frage, ob die von Cajetan nachdrücklich verteidigte Dekretalenhermeneutik ein Einzel- und Sonderfall ist. Dass Luther dabei sein Augenmerk just auf die Dekretale Translato sacerdotio¹¹⁵ und den Kanon Quamvis¹¹⁶ richtet, in denen Hebr 7, 12 resp. Mt 16, 18 f. in Anspruch genommen werden, ist sicher alles andere als ein Zufall. Denn diese beiden Bibelstellen sind ja für Luthers Verständnis der potestas ecclesiae wesentlich.¹¹⁷ Das Ergebnis von Luthers Prüfung ist negativ. Die Gründe für diese Diagnose fassen wir kurz zusammen:¹¹⁸ Die kanonistische Auslegung der Dekretale Translato sacerdotio kennt Luther aus dem Dekretalenkommentar des von Luther öfter angeführten Rechtsgelehrten Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus), die er so wiedergibt: „Das Priestertum ist von Mose auf Christus übertragen worden und von Christus auf Petrus“.¹¹⁹ Dem unterliegt nach Luther ein Missverständnis des Wortes translatio in Hebr 7, 12. Sollte nämlich das Wort translatio im Fall des Übergangs von Mose auf Christus und von Christus auf Petrus im selben Sinn verwendet werden, wäre – so führt Luther aus – der Schluss unvermeidbar, Petrus sei „sacerdos et legislator amoto Christo“.¹²⁰ Doch selbst ohne gleich den Kanonisten diese für ihn sichtlich gottlose Ansicht zu unterstellen, läuft für Luther die wörtliche kanonistische Interpretation des Begriffs translatio auf jeden Fall darauf hinaus, dass das Priestertum allein Petrus übergeben worden sei, „als ob die übrigen Apostel Laien geblieben wären und erst von Petrus durch die Weihe zu Priestern und Aposteln würden“.¹²¹ Das ist zugleich die erste explizite und öffentliche Kritik Luthers an der kirchlichen Weihevorstellung. Sie ist vor dem Hintergrund seiner frühen Vorlesungen zwar sachlich wenig überraschend, nimmt allerdings nun eine ganz neue Färbung an, weil sie sich bei Luther sogleich zu einer prinzipiellen Verwerfung der gesamten Theorie der kirchlichen Gewaltenübertragung thetisch zuspitzt: „Das Priestertum Christi ist weder auf Petrus noch den Papst übertragen worden“.¹²²
¹¹⁵ X.1.2.3 (ed. Friedberg II, 8). ¹¹⁶ Dist. 21 c. 3 (ed. Friedberg I, 70). ¹¹⁷ Neben diesem Sachzusammenhang ist der Entdeckungszusammenhang zu erwähnen,
durch den Luther gerade auf diese beiden Rechtsnormen kommt: Wie S, Normen der Christenheit, 174 und Anhang zeigt, werden beide Normen von Panormitanus im Kommentar zur Dekretale Significasti angeführt, den Luther in Augsburg zitiert und offensichtlich zur Verfügung hat. ¹¹⁸ Vgl. vor allem S, Normen der Christenheit, 174–176 zu beiden Rechtsnormen. ¹¹⁹ WA 2, 19,7 f. ¹²⁰ WA 2, 19,13. ¹²¹ Die ganze Stelle WA 2, 19,17–19: „scilicet in solum Petrum a Christo fuisse translatum sacerdotium Christi, quasi caeteri Apostoli, remanserint laici aut a Petro ordinati fuerint sacerdotes et Apostoli“. ¹²² WA 2, 19,20: „Sacerdotium Christi nec in Petrum nec in Papam translatum est“.
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Nicht weniger grundsätzlich ist Luthers Verwerfung des Kanon Quamvis, der aus Mt 16, 18 f. den Primat der Römischen Kirche begründet,¹²³ was Luther verneint: „Mit diesen Worten lässt sich nicht beweisen, dass die Römische Kirche den übrigen Kirchen auf der ganzen Erde vorgesetzt ist“.¹²⁴ Dafür argumentiert Luther nicht nur historisch,¹²⁵ sondern führt auch die figurative patristische Auslegung von Mt 16, 18 f. an: In der Übergabe an Petrus sind die Schlüssel pro omnibus in der Kirche gesetzt. Das wird für Luther zudem durch Mt 18, 18 bestätigt, wo das Schlüsselwort von Jesus an alle Jünger gerichtet wird.¹²⁶ An diesem Punkt weiß sich Luther dann wieder einig mit seiner Vorlage von Panormitanus, der dies ganz im Sinn des spätmittelalterlichen ‚Konziliarismus‘ verteidigte, und von dem Luther noch einige andere Argumente zur Verstärkung seiner Kritik übernimmt.¹²⁷ Die Bedeutung dieser beiden Kritikmomente für Luthers Amts- und Kirchenvorstellung ist schwer zu überschätzen. Denn mit ihnen wird den ganz selbstverständlich mitgeführten, aber eben nie zur Überlegung erhobenen Identifikationen vom Priestertum Christi im Sinn Luthers und bestehendem papstkirchlichen Priestertum sowie Luthers letztlich frömmigkeitstraditionalen Ehrbekundungen in Richtung des Papstes der Boden entzogen: Sie beruhen ja in Luthers Perspektive auf falschen Auslegungen der Schrift! Und genau dadurch löst sich nun für Luther das Papsttum vom kirchlichen Priestertum ab. Symptomatisch dafür ist Luther neue Betrachtung des Papsttums als Obrigkeit nach Röm 13, 1: Noch in den Ablassresolutionen hat Luther, obwohl er keinen Unterschied zwischen potestas sacerdotalis und potestas Papae benannte, die Papstgewalt zum Gegenstand besonderen Gehorsams erklärt, der jedweden Widerstand selbst gegen deren missbräuchliche Ausübung ausschließt. Dass Luther zur Be¹²³ Vgl. 1. Kapitel bei Anm. 25. ¹²⁴ WA 2, 19,30 f.: „Istis verbo [Mt 16, 18 f.] non potest probari, Romanam Ecclesiam esse
caeteris per totum orbem Ecclesiis praelatam“. Dass Luther stets von einem Kanon von Pelagius spricht – die Rechtsnorm geht aber auf Gelasius zurück – mag andeuten, dass Luther ein Exemplar des Dekrets mit dieser Zuschreibung vor sich hatte, vgl. dazu R, Das Petrusbild Luthers, 269 Anm. 95. ¹²⁵ WA 2, 20,6–17. Dazu vgl. R, Das Petrusbild Luthers, 19 und 269 Anm. 99, wo Rickers auf die historischen Schwierigkeiten verweist, die Luthers Ausführungen aufwerfen. ¹²⁶ WA 2, 20,18–23. Das ist natürlich eine ganz geläufige und mittelalterlich bekannte Auslegungstradition, zur auf Augustin zurückgehenden figurativen Deutung von Petrus und Mt 16, 18 f. vgl. nur 1. Kapitel Anm. 183 (Gerson), sowie zur rechtlichen Diskussion B T, Foundations of the Conciliar Theory. The Contribution of the medieval Canonists from Gratian to the Great Schism. Enlarged new Edition, Leiden u. a. 1998 (SHCT 81), bes. 27 f. und ., Origins of Papal Infallibility 1150–1350, Leiden 1972 (SHCT 6), 262–264 für ein Beispiel einer papalistischen Deutung dieser Stellen. ¹²⁷ Die Übereinstimmung bezieht sich auf die Erwähnung des Pfingstfestes Apg 2 und die Deutung von Joh 20, 22 f. in WA 2, 20,23–26. Vgl. Nicolaus de Tudeschis, Commentaria ad c. Translato sacerdotio, zit. bei K W N, Kirche und Konzil bei Nicolaus de Tudeschis (Panormitanus), Köln / Graz 1964, 25 f. Anm. 1.
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gründung dieses Widerstandsverbots in seiner Erläuterung der 69. These auch auf Röm 13, 1 f. verweist,¹²⁸ ist öfter so verstanden worden, als ob Luther damit das Papsttum nur als eine weltliche Autorität ansehe.¹²⁹ Allein dies trifft den Sachverhalt nicht ganz. Denn daneben und darüber hinaus gilt für den Papstgehorsam nach Luther hier ebenso Lk 10, 15 (‚Wer euch verachtet, verachtet mich‘) wie Mt 5, 25, Mt 5, 39 und Röm 12, 19 – alles Stellen, in denen die christliche Widerstandslosigkeit hervorgehoben wird.¹³⁰ Und das will Luther nicht als consilium, d. h. nur den Religiosen zur Befolgung auferlegte Norm, verstanden wissen, sondern als allgemeine Pflicht für einen jeden Christen der Kirche gegenüber: „Wenn dies nämlich ein Ratschlag wäre …, so wäre es erlaubt, mit derselben Freiheit dem Papst in seinen Lasten und ungerechten Entscheidungen zu widerstehen, wie dem Türken oder anderen Widersachern“.¹³¹ Deshalb ist, wie Luther dann in der Erläuterung der 73. These formuliert, ganz unabhängig von der „persönlichen Intention des Papstes“ die potestas clavium noch „mehr“ zu fürchten als jede andere potestas dei.¹³² Anders fällt das Urteil in den Acta knapp ein halbes Jahr später aus: Jetzt ist das Papsttum, genauer: die Herrschaftsform des Papsttums als Papstmonarchie, für Luther lückenlos in die Reihe aller anderen Obrigkeiten eingerückt: „Aber wenn man die Papstmonarchie beweisen kann, wird sie eher durch jenes [Wort] des Apostels Röm 13, 1 bewiesen. … Durch dessen Kraft … sind wir (recht verstanden) dem Römischen Stuhl unterworfen, solange es Gott gefällt, der allein, nicht aber der Papst, Herrschaften überträgt und auch begründet“.¹³³
So sehr für Luther die schriftwidrige Vereinnahmung von Hebr 7, 12 und Mt 16, 18 f. Befürchtungen der möglichen Antichristlichkeit der römischen Kurie aufkeimen lässt – sie ist jedenfalls schlimmer als ‚die Türken‘¹³⁴ –, so wenig schließt Luthers gesamte Kritik in den Acta aus, dass die Papstmonarchie zum Gegenstand besonderer religiöser Verehrung und religiösen Gehorsams werden kann. Denn es bleibt nach wie vor möglich, dass sich die Papst¹²⁸ WA 1, 618,24–26. ¹²⁹ So vor allem H, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, 313. Dagegen macht
S, Normen der Christenheit, 25 f. zu Recht darauf aufmerksam, dass Mt 16, 18 f. ohnehin von Luther nie als besonderer Grund für die papstkirchliche Autorität angesehen wird, weshalb die Ablehnung dieser Stelle (WA 1, 619,4) als Begründung der besonderen päpstlichen Autorität wenig überrascht. ¹³⁰ WA 1, 619,4–7. ¹³¹ WA 1, 619,7–9: „Si enim hoc esset consilium …, tunc liceret eadem libertate resistere Papae in suis oneribus et sententiis iniustis, qua Turco vel aliis adversariis“. ¹³² WA 1, 621,4–7. ¹³³ Die ganze Stelle WA 2, 20,28–32: „Quod si monarchia Papae probari potest, potius ex illo Apostoli Ro: xiij. probabitur: Omnis potestas a deo est, et quaecunque sunt, a deo ordinata sunt. huius, inquam, virtute (proprie loquendo) subiicimur sedi Romanae, donec deo placuerit, qui solus, non etiam Romanus Pontifex, transfert regna atque constituit“. ¹³⁴ WA.B 1, 270,11–14; Nr. 121 (an Link vom 18. Dezember 1518).
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monarchie mit der potestas clavium zu verbinden in der Lage ist. Doch – und das ist das Neue – nun wird diese Verbindung von Papstkirche und potestas clavium für Luther zum Problem, freilich einem, das sachlich seit der Römerbriefvorlesung, vor allem seiner Auslegung von Röm 12, 3 ff.,¹³⁵ schwelt. Im zweiten Schritt der allmählichen Herausarbeitung seines Verständnisses der potestas clavium knüpft Luther an die in der Römerbriefvorlesung aufbrechende Problemstellung von einer allein auf Gottes Handeln zurückzuführenden inneren Ordnung und ihrer äußeren Gestaltwerdung an, wobei Luther jetzt von einem bruchlosen Übergang von der inneren zur äußeren Ordnung nicht mehr ohne Weiteres ausgeht. Im sog. Kleinen Galaterkommentar,¹³⁶ den Luther gleich in Anschluss an die Augsburger Begegnung ins Auge fasst und in den Anfangsmonaten des Jahres 1519 ausformuliert, nimmt Luther vielmehr den möglichen Konfliktfall von innerer und äußerer Ordnung in den Blick. Dabei ist für Luther seine Augsburger Entdeckung eines Zusammenhangs von 1. Kor 14, 30 und Gal 2, 11 ff. von zentraler Bedeutung, nämlich die gegenüber jeder institutionellen Autorität schlechterdings normative Instanz der sich durch den Heiligen Geist im Gewissen bekundenden Stimme Christi (d. i. eine ‚Offenbarung‘), die im Konflikt zwischen Paulus und Petrus in Antiochien historisch manifest wurde. Allerdings wird die Schärfe des Strukturproblems, die Luther in seiner Auslegung von Gal 2 dann vor Augen führt, bereits am Anfang seines Kommentars angelegt, wo sich Luther in spezifisch anderer Weise als in der Römerbriefvorlesung der Frage der Apostelautorität des Paulus widmet. Anlass und Gelegenheit für die umakzentuierende Deutung der Apostelautorität bietet für Luther die Selbstbezeichnung des Paulus in Gal 1, 1 als ‚Apostel‘ im Unterschied zum ‚Knecht‘ des Römerbriefs (Röm 1, 1). Damit rückt die Bedeutung der vocatio bzw. missio des Apostels in den Vordergrund, was nun aber zur Folge hat, dass Luther den in der Römerbriefvorlesung noch stark betonten Aspekt der besonderen humilitas des Apostels ganz anders füllt: Die dem Apostel eigene dignitas ruht demnach nicht mehr in der die vocatio des Apostels äußerlich bekundenden servitus, sondern wird von Luther ausschließlich auf die missio gestellt.¹³⁷ Die ist wiederum einzig Gottes Tat, durch welche Gott zusammen mit bestimmten Menschen sein heilsames Wort sendet.¹³⁸ Was über die Autorität eines Apostels entscheidet, ist allein die Wirkung sei¹³⁵ Vgl. oben bei Anm. 49. ¹³⁶ Eine Übersicht zu Forschung und Literatur gibt in dem Kapitel zum Galaterkommen-
tar, das auch das Verhältnis zur früheren Vorlesung mitbedenkt, T J, „Christen heißen Freie“. Luthers Freiheitsaussagen in den Jahren 1515–1519, Tübingen 1997 (BHTh 101), 168–239. ¹³⁷ WA 2, 452,16–24. ¹³⁸ WA 2, 452,34–453,1: „Misit verbum suum, nempe deus, et sic sanavit eos. Venit homo et verbum suum …“.
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nes officium der Predigt auf die Gewissen der Menschen. Und markanterweise formuliert Luther das im Passiv, ohne die Person des Apostels überhaupt zu erwähnen: „so oft das Wort Gottes gepredigt wird, macht es fröhliche, weite und sichere Gewissen in Gott, weil es das gute und liebliche Wort der Gnade und Vergebung ist. So oft das Wort des Menschen gepredigt wird, macht es ein trauriges, enges und furchtsames Gewissen in sich selbst, weil es das Wort des Gesetzes, des Zorns und der Sünde ist, das anzeigt, was es nicht getan hat und wieviel es schuldet“.¹³⁹
Dieser einlinigen Zurückführung der apostolischen Autorität auf das Handeln Gottes entspricht im weiteren Fortgang des Kommentars zu Gal 1, 1 der Umstand, dass auch die äußere Berufung eines Menschen zu einem Apostel durch Luther jeder möglichen institutionellen Regelung entzogen wird. Das kennen wir schon aus der Römerbriefvorlesung, hier ist es aber noch einmal pointierter, wenn Luther hervorhebt, dass „Christus niemanden zum Apostel machen wollte durch Menschen oder durch menschlichen Willen, sondern allein durch seine Berufung“.¹⁴⁰ Als legitime Formen des Berufungsaktes kommen für Luther dabei entweder die individuelle, christusunmittelbare Sendung in Frage (wie bei Paulus), oder die vom Heiligen Geist bestätigte Sendung, die dann zur Wahl eines Apostels durch andere Berufene führt (wie in der Apostelgeschichte bei Matthias: Apg 1, 24).¹⁴¹ Gleichwohl berühren diese beiden Akte weder den Inhalt noch das Wesen der apostolischen Autorität, weil diese sich aus der einen gottgewirkten Quelle der allen Berufungsakten vorlaufenden vocatio speist. Kategorisch ist damit – und das ist ganz anders als in der Römerbriefvorlesung – eine Differenzierung von Ämtern mit unterschiedlichen ¹³⁹ WA 2, 453,2–6: „quoties verbum dei praedicatur, reddit laetas, latas, securas conscientiae in deum, quia est verbum gratiae, remissionis, bonum et suave, quoties verbum hominis, reddit tristem, angustam, trepidam conscientiam in seipsa, quia est verbum legis, irae et peccati, ostendens, quid non foecerit, et quanta debeat“. ¹⁴⁰ WA 2, 453,19 f.: „quod nullum voluit Christum Apostolum fieri ex hominibus seu hominum arbitrio, sed ex sua solius vocatione“. ¹⁴¹ WA 2, 453,20–26. Damit sind auch die beiden legitimen genera der Apostel benannt, die Luther in Anschluss an Hieronymus (vgl. MPL 26, 336C–D) von zwei falschen genera unterscheidet: WA 2, 454,3–27. Auch das kennen wir schon aus der Römerbriefvorlesung (siehe oben bei Anm. 40). Wenn Luther dabei die an Matthias exemplifizierte Berufung „a deo quidem, sed per hominem“ für die Jünger der Apostel geltend macht, sowie für all diejenigen, „qui in finem mundi legitime succedunt Apostolis ut Epsicopi et sacerdotes“ (WA 2, 454,6 f.), zeigt das bloß wieder einmal, dass Luther trotz aller Invektiven im Großen und Ganzen davon ausgeht, dass das kirchliche Priestertum aus in seinem Sinn Berufenen besteht. Mitnichten wird hier die „Notwendigkeit der kirchlichen vocatio … selbstverständlich vorausgesetzt“, wie Karin Bornkamm sich das vorstellt (K B, Luthers Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531. Ein Vergleich, Berlin 1963 [AKG 35], 6), noch nimmt er eine ‚apostolische Sukzession‘ in den Blick, wie Wolfgang Stein irrt (S, Das kirchliche Amt, 43); übrigens spielt auch bei Hieronymus weder eine kirchliche vocatio noch eine apostolische Sukzession eine Rolle.
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Kompetenzbereichen ausgeschlossen. Diese ganze Überlegung zum Apostolat zusammenfassend kann Luther dann auch formulieren: „Denn was auch immer die persona der Apostel sei, das officium ist sicher das selbe und ist für alle gleich: Sie lehren einen und denselben Christus, haben eine und dieselbe potestas und sie sind von einem und demselben gleicherweise gesandt“.¹⁴²
Mit diesem ersten Gedankengang seines Kommentars hat Luther die Weichen für seine Deutung des Konflikts zwischen Paulus und Petrus gestellt, die er in seiner Auslegung des ganzen Abschnitts von Gal 2, 3–14 vorlegt.¹⁴³ Unter den bislang formulierten Prämissen kann ein Streit zwischen zwei unbestritten von Christus berufenen Aposteln sich nämlich nicht um einen Konflikt kirchlicher Lehrbildungen handeln, wie es die mittelalterliche Exegese im Fall des Antiochiakonfliktes vertrat.¹⁴⁴ Denn das würde ja voraussetzen, dass es neben der Wirkung des apostolischen officium auf das Gewissen der Adressaten der Apostelpredigt noch ein anderes Kriterium gäbe, an der die Gültigkeit bzw. Wahrheit des verbum dei in mithin objektivierender Form zu überprüfen wäre. Doch davon ist bei Luther nie die Rede, und die mit der mittelalterlichen Exegese einhergehenden Probleme werden von ihm nachdrücklich sistiert.¹⁴⁵ Ebenfalls scheidet als Gegenstand des Apostelstreits ein Problem apostolischer Hierarchie aus. Vielmehr ist für Luther der Streit zwischen Paulus und Petrus derjenige Fall, in dem sich jeder Konflikt um die Geltung institutionalisierter Autoritätenhierarchien als bloß vordergründig erweist. So wenig Luther leugnet, dass Petrus im Urchristentum eine besondere Stellung als ‚Säule‘ der Jerusalemer Gemeinde hatte (Gal 2, 9), so sehr betont er deren religiöse Unverbindlichkeit: Was sich mit der persona eines Amtsträgers auch immer an dignitas verbinden mag, Gott achtet sie nicht, wie Luther in einer an die Dictata gemahnenden Wendung festhält: „Ita Episcopatus, sacerdotium et omnis ordo et status ecclesiae personae sunt, non res ipsa inaeternum (sic!)“.¹⁴⁶ Insofern ¹⁴² WA 2, 471,35–37: „Nam quaecunque sit persona Apostolorum, officium certe idem et aequale est omnium: eundem Christum docent, eandem potestatem habent, ab eodem aequaliter missi sunt“. ¹⁴³ WA 2, 477,1–495,18. ¹⁴⁴ Bereits der für die mittelalterliche Exegese formative und von Luther intensiv bearbeitete Deutungsstreit der Antiochiaszene zwischen Hiernoymus und Augustin geht von einem Problem der Geltung kirchlicher Lehrbildung aus, vgl. zu diesem Streit R, Das Petrusbild Luthers, 22–25. Das war wohl der Anstoß, dass die Antiochiaszene wie dann auch das Apostelkonzil zu loci classici der kanonistischen Debatten über die kirchliche Autoritätenhierarchie wurden, vgl. dazu vor allem B T, „Only the Truth Has Authority“: The Problem of „Reception“ in the Decretists and in Johannes Torquemata, in: K P u. a. (Hg.), Law, Church, and Society. Essays in Honor of Stephan Kuttner, Pennsylvania 1977, 69–96 und auch V-G, „dictum unius privati“. ¹⁴⁵ Vgl. etwa WA 2, 485,30 zur Frage, ob Petrus in Antiochien ‚gesündigt‘ habe. Vgl. dazu auch J, „Christen heißen Freie“, 198 f. ¹⁴⁶ WA 2, 483,1 f. Vgl. den ganzen Abschnitt WA 2, 482,31–483,9.
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entpuppt sich für Luther die Antiochiaszene als Musterfall eines Widerstreits, der amtstheoretisch zwischen potestas und persona verläuft¹⁴⁷ und – worauf wir hier nicht näher einzugehen brauchen – fundamentaltheologisch zwischen verbum dei und verbum hominis, sowie rechtfertigungstheologisch zwischen libertas und necessitas der Gesetzeswerke.¹⁴⁸ Die amts- und kirchentheoretische Pointe von Luthers Zuspitzung des Konflikts zwischen Paulus und Petrus liegt dabei in der Art und Weise, wie er gelöst wird. Denn dass sich Paulus gegen die Autorität des Petrus durchsetzt, wird von Luther allein auf die sich in der Predigt des Paulus bekundende und sich unaufhaltsam selbst zur Geltung bringende Wahrheit zurückgeführt. Indem Paulus in seiner öffentlichen Zurechtweisung des Petrus (Gal 2, 14) dieser Selbstdurchsetzung, sprich: potestas der freiheitsbegründenden Wahrheit des Evangeliums vertraute, decouvrierte er die institutionalisierte Autorität von Petrus, also: persona als religiös hohl und erwies sich damit, obwohl im Ansehen geringer, als der eigentlich Größere.¹⁴⁹ Und weil es sich bei dem Konflikt zwischen potestas und persona um eine Kollision von Antithesen handelt, ist der Ausgang des Konfliktes kompromisslos und schließt für Luther institutionelle Konsequenzen expressis verbis ein: „In dieser Situation [eines Glaubenskonflikts] ist die evangelische Wahrheit zu bewahren, und sie ist mit Grund vorzubringen, so wie Paulus das hier tut, indem er vor allen Petrus tadelt, und es für erlaubt erklärt, heidnisch zu leben. … Wenn aber darin die schwachen Juden nicht folgen wollen, sind sie aufzugeben. Es ist besser, einen Teil mit der Wahrheit des Evangeliums zu bewahren, als beide Teile zusammen mit dem Evangelium zu verlieren“.¹⁵⁰
In dieser Deutlichkeit ist das hiermit in das Blickfeld Luthers rückende ‚Schisma der wahrhaft Frommen‘ – wenn dieser Ausdruck einmal erlaubt ist – ein ganz neuer, in seiner ganzen Konsequenz offenbar von Luther aber noch nicht bedachter Gedanke.¹⁵¹ Für die Fortentwicklung von Luthers Vorstellung der ¹⁴⁷ Diese Antithese unterschätzt völlig S, Das kirchliche Amt, 46 f. ¹⁴⁸ Vgl. WA 2, 477,29 f.: „Caeterum tota vis huius controversiae consistit non in operibus
legis, quaecunque illa sint, sed in necessitate et libertate operum legis“. Weiterhin: WA 2, 485,1–16. ¹⁴⁹ WA 2, 488,13–24. ¹⁵⁰ Ich gebe die ganze Stelle mit dem Kontext wieder WA 2, 486,31–487,3: „Questio. Quando Petrus infirmorum scandalum veritus pia cogitatione se subtraxit, Quid faceret Paulus, si in eodem eventu utrinque essent infirmi, tam gentiles quam Iudei? Cui cederet? Nam seorsum singulis consentire, nullam habet perplexitatem. Si enim cum Iudeis ederet, gentiles offendet, sicut Petrus: si cum gentilibus, Iudeos offendet, sicut Petrus hic timuit. In hoc eventu euangelica veritas servanda est et reddita ratione exponenda, sicut Paulus hoc loco facit, coram omnibus arguens Petrum et licitum asserens gentiliter vivere, et supra, quando Titum gentilem non permisit circumcidi, nec cessit ad horam. Si autem hic Iudei infirmi nolint sequi, dimittendi sunt. Melius est unam partem cum Euangelii veritate servari quam utranque partem una cum Evangelio perire“. ¹⁵¹ Vgl. aber dazu unten 1.3.
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potestas clavium ist nämlich zunächst bloß die Anschauung wichtig, die diesem ‚Schisma‘ zugrunde liegt: Religiöse institutionelle Legitimität kann für Luther nicht von Ämtern und Ansehen erzeugt werden, sondern erzeugt sich selbst im Gewissen derjenigen, welche die Adressaten der Predigt des verbum Dei sind; nur deren fröhlich, weit und sicher werdende Gewissen bezeugen ja die potestas, das officium und die vocatio des Apostels als eines wirklichen Gottgesandten. Wie sich mit dieser Überlegung ein positiver Sinn verschiedener dignitates und personae der kirchlichen Institution verbinden lässt, auf die Luther mit den ordines und status ecclesiae ja auch einmal hinweist, bleibt in seinem Galaterkommentar indes völlig offen. Damit hat sich bei Luther der in den Acta bemerkbare Haarriss in der Identifikation seiner eigenen Amts- und Kirchenvorstellung mit dem kirchlichen Priestertum der Papstkirche zu einem offenbaren Sprung vergrößert. Im dritten Schritt fallen Luther die innere religiöse Wirklichkeit der kirchlichen Institution und ihre äußere institutionelle Autorität auseinander, und zwar in dem Moment, als er sein Verständnis der potestas clavium nach Mt 16, 18 f. neu durchdenkt. Das passiert in der Resolutio Lutheriana super propositione sua decima tertia de potestate papae, an der Luther sofort nach dem Galaterkommentar die Arbeit aufnimmt; gedruckt wird diese Vorarbeit zur in Aussicht stehenden Konfrontation Luthers mit Johannes Eck im Juni 1519.¹⁵² In seiner Auslegung von Mt 16, 18 f., die den ersten Argumentationsteil der Schrift eröffnet, verbindet Luther die in den Acta Augustana bereits entwickelten Kritikmomente an einer ausschließlich auf das Papsttum zielenden Vereinnahmung der Bibelstelle mit der ausschließlich an der inneren Glaubenswirklichkeit sich erweisenden kirchlichen Autoritätenvorstellung seines Galaterkommentars. Der Anknüpfungspunkt für Luther ist die figurative Auslegung der Person des Petrus in der exegetischen Tradition. Sie wird von Luther recht ausführlich rekapituliert, wobei er herausarbeitet, dass Petrus durchgängig in persona apostolorum und in persona ecclesiae die Schlüssel von Christus erhalten habe.¹⁵³ Seine eigene, von der Tradition deutlich abgesetzte Auslegung,¹⁵⁴ nimmt diese Ansichten zwar auf, lenkt sie aber in neue Bahnen: Zum Verständnisschüssel für die Schlüsselgewalt nach Mt 16, 18 f. wird bei Luther die ganze vorlaufende Szene Mt 16, 13–17,¹⁵⁵ die mit der Frage Jesu an die Jünger beginnt: ‚Wer sa¹⁵² Die beste Übersicht über den Argumentationsgang dieser Schrift bei L G, Martinus Noster. Luther in the German Reform Movement 1518–1521, Mainz 1994 (VIEG 155), 57–80. ¹⁵³ WA 2, 188,4–189,9. ¹⁵⁴ Vgl. WA 2, 189,10 f. ¹⁵⁵ WA 2, 189,12–190,26.
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gen die Menschen, dass der Menschensohn sei?‘ Diese Stelle bindet für Luther die Übergabe der Schlüssel an die Antwort des Petrus (Mt 16, 16: ‚Du bist Christus, der Sohn Gottes‘) und deren Bestätigung als diejenige Wahrheit durch Jesus selbst zurück, welche Petrus durch eine väterliche Offenbarung erschlossen wurde (Mt 16,17). Daraus gewinnt Luther zwei aufeinander aufbauende Überlegungen: Denn zunächst ist für Luther die Antwort des Petrus figurativ so zu verstehen, dass er hier als „commune organum“ aller Apostel das Christusbekenntnis ausspricht. Die besondere Hervorhebung des Petrus im Bibeltext habe allein die Bedeutung zu unterstreichen, dass das Bekenntnis des Glaubens als Ausdruck der „wahren Erkenntnis Christi in Einheit und Festigkeit“ besteht.¹⁵⁶ Mit dieser Bestimmung erweitert sich allerdings sodann die Bedeutung der figurativen Auslegung der Person des Petrus noch einmal erheblich, indem Luther den zuerst formulierten Gedanken plötzlich herumdreht. Denn so wie Petrus in seiner Antwort bloß die auf der Offenbarung Gottes fußende Einheit und Festigkeit des Christusbekenntnisses der Apostel zum Ausdruck bringt, woraufhin er von Christus die Schlüssel überantwortet bekommt, so gilt für Luther auch jeder, der durch eine Offenbarung Gottes zum Christusbekenntnis kommt, als in persona Petri Mitfigurierter. Und das heißt natürlich konsequent, dass damit die Trägerschaft der Schlüssel verbunden ist: „Nicht Simon, Sohn des Jona, nicht Fleisch noch Blut gibt diese Antwort, sondern der Hörer der väterlichen Offenbarung. … Demjenigen, der Hörer der väterlichen Offenbarung ist, dem werden die Schlüssel gegeben, nicht Petrus, nicht dem Sohn des Johannes, nicht Fleisch und Blut.“¹⁵⁷
Mit dieser Wendung der Auslegung von Mt 16, 18 f. erreicht Luther einen systematisch entscheidenden, zutiefst ambivalenten Punkt: Einerseits entgrenzt Luther hier die Frage, wer als Träger der Schlüsselgewalt angesehen werden kann, dergestalt, dass sie jeden Kontakt zu bestimmten kirchlich-institutionellen Bezugsinstanzen verliert und endgültig allein auf Gottes Handeln und Wirken durch den Glauben verweist. Andererseits aber droht diese – in den frühen Vorlesungen sich bereits abzeichnendende und im Galaterkommentar dann deutlicher durchformulierte – direkte Verbindung von Glaube und potestas clavium auf einen „haereticorum novorum et antiquorum Donatistarum erro¹⁵⁶ Die ganze Stelle WA 2, 189,21–26: „At ubi apostolos de se interrogat, ibi signatus unus certus respondet et constantem absolvit et pronunciat fidei confessionem, ut veram Christi cognitionem in unitate et firmitate consistere, non multorum opinionibus velut arundinem agitari doceret. Vides ergo adhuc nihil ad Petrum proprie pertinere, nisi quod commune organum est omnium Apostolorum“. ¹⁵⁷ WA 2, 190,8–12: „Non Simon Bariona haec respondet, non caro et sanguis, sed revelationis paternae auditor. … is qui auditor est paternae revelationis, huic dantur claves, non Petro, non filio Iohannis, non carni et sanguini“.
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rem“ hinauszulaufen, wie Luther an einer etwas späteren Stelle selbst bemerkt.¹⁵⁸ Dass er selbst in den Verdacht geraten könnte, mit dem Donatismusvorwurf konfrontiert zu werden, vermutet Luther allerdings nicht. Das liegt daran, dass er seine Auslegung von Mt 16, 18 f. mit einer nochmaligen Wendung versieht, die den ‚Donatismus‘ spiritualistisch überbietet. Dafür knüpft Luther sachlich an seinen Galaterkommentar an und nimmt die dortige Bestreitung des religiösen Eigenwerts der persona auf, der die potestas als Besitz nicht zuzurechnen ist. Auf dieser Grundlage bestreitet Luther nun auch hier die Voraussetzung des ‚Donatismus‘: Gar keinem einzelnen Menschen sind die Schlüssel gegeben, „weil wir von keinem einzelnen Menschen sicher sein können, ob er die Offenbarung des Vaters hat oder nicht“.¹⁵⁹ Ist die Schlüsselgewalt in dieser grundsätzlichen Weise aber nicht objektiv identifizierbar, so fällt der Zurechnungsakt der Schlüsselgewalt sowie die Instanz, der die Schlüsselgewalt zugerechnet wird, in den einzigen Bereich unverbrüchlicher Gewissheit, den Luther kennt: den Glauben. Und in diesem höchst voraussetzungsreichen Sinn kann Luther auch der mittelalterlichen Exegese zustimmen, dass Petrus in Mt 16, 18 f. in persona ecclesiae zu verstehen ist: „Die Kirche aber selbst ist es, an der man nicht zweifeln darf. Denn sie ist der Leib Christi, ein Fleisch, aus dem Geist lebend, der Christus ist. Sie selbst ist Petrus, der Hörer der Offenbarung und Empfänger der Schlüssel, weil hier das Bekenntnis fest steht: ‚Ich glaube an die Heilige Kirche, Gemeinschaft der Heiligen‘“.¹⁶⁰
In dieser knappen Überlegung spitzt sich Luthers Kritik an einer objektivierenden kirchlichen Repräsentationsvorstellung, die seit den Dictata sein Denken als cantus firmus begleitet,¹⁶¹ noch einmal entscheidend zu. Faktisch ist hier nämlich die gesamte Legitimation der kirchlichen Institution als religiöser Instanz und Autorität – d. i. als Schlüsselträgerin – völlig einseitig dem Glauben an die Kirche beigelegt, der ja nur im Vollzug des je einzelnen Gewissens vorliegt. Das heißt, etwas plakativer formuliert, dass nach Luther alle gegebenen Kirchentümer dann als religiös belangvolle Instanzen anzusehen sind, wenn sie als solche geglaubt werden.¹⁶²
¹⁵⁸ WA 2, 193,39 f. Vgl. 1. Kapitel bei Anm. 149. ¹⁵⁹ WA 2, 190,14 f.: „quia de nullo privato homine certi sumus, an habeat nec ne revela-
tionem patris“. Vgl. auch die ergänzende Argumentation in WA 2, 193,5–14. ¹⁶⁰ WA 2, 190,14–17: „Ecclesia autem ipsa est, de qua dubitari non licet, cum sit corpus Christi, una caro, eodem spiritu vivens quo Christus. Ipsa est Petrus ille auditor revelationis et acceptor clavium: quia hic symbolum stat firmiter ‚Credo ecclesiam sanctam, communionem sanctorum‘“. ¹⁶¹ Vgl. oben bei Anm. 19. ¹⁶² Vgl. E R, Luthers Anschauung von der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit der Kirche, ThStKr 73 (1900), 404–456, bes. 443 f.
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Das ist zwar nicht Luthers letzte These in seiner Auslegung von Mt 16, 18 f., aber die entscheidende. Denn im weiteren Verlauf seiner Überlegungen bereitet es ihm sichtlich Mühe, von diesem durch und durch spiritualisierten Kirchengedanken aus die Dimension äußerlicher kirchlicher Institutionalität wieder einzufangen. Das wird an der Frage der Delegation der Schlüsselgewalt besonders deutlich.¹⁶³ Gleich an drei Stellen kommt Luther auf diese Frage zu sprechen, nicht nur im Kontext seiner Auslegung von Mt 16, 18 f.,¹⁶⁴ sondern auch in der daran anschließenden Exegese von Joh 21, 15–17.¹⁶⁵ Eine schlüssige Antwort findet er allerdings nicht, was sicher mit daran liegt, dass je länger desto deutlicher die Polemik gegen die Papstkirche Luther die Feder führt und die positiv-konstruktive Weiterführung seiner Überlegungen weitgehend erstickt. Schemenhaft wird allerdings fassbar, wie Luther allmählich die Erfordernisse vor Augen treten, die mit einer institutionenbezogenen Amtsvorstellung verbunden sind. Vier in sich spannungsvolle Momente hebt Luther dabei hervor: So muss für ihn, erstens, das priesterliche Amt so vorgestellt werden, dass es die ‚Schlüssel‘ „non suo iure, sed ministerio“¹⁶⁶ gebraucht, weil die Schlüssel ja keiner einzelnen bestimmten persona als Besitz zugerechnet werden können. Zugleich erfolgt die Delegation der Schlüsselgewalt, zweitens, unter Absehung des Glaubens des Amtsträgers und bleibt darauf beschränkt, einen solchen Menschen zu einem Amt zu bestellen, der „coram hominibus“ sich als würdig erweist.¹⁶⁷ Allerdings ist ein von dem religiösen Innenleben des Amtsträgers absehendes Amt, durch das ein Mensch anderen Menschen vorsteht, – drittens – kein „euangelicum neque Christianum officium, sed humanum et mundanum“;¹⁶⁸ eine Differenz zwischen einem christlichen Vorsteheramt, für das bei Luther der Bischof steht, zu einem ‚Laien‘ oder ‚Türken‘ lässt sich von hier aus nicht mehr benennen.¹⁶⁹ Deshalb muss es, viertens, für Luther solche ‚Hirten‘ geben, die „per seipsos amantes et docentes“ sind,¹⁷⁰ ¹⁶³ Vgl. zum Delegationsproblem vgl. 1. Kapitel 2.2. und dann zum Begriff ministerium als einer delegierten Amtsfunktion bei Biel 1. Kapitel 4.2.: Der fundamentale Unterschied zwischen Luthers Verständnis dessen, was in persona ecclesiae bedeutet, zu dem Verständnis Biels bedarf hier keiner weiteren Ausführung. ¹⁶⁴ WA 2, 191,16–20 und 194,5–10. ¹⁶⁵ WA 2, 195,29–197,38. Diese Exegese Luthers ist ganz uneigenständig, weil sie noch einmal die in der Auslegung von Mt 16, 18 f. vertretene Ansicht analog nachbildet: Der Auftrag Christi, ‚Weide meine Schafe‘, ergeht an Petrus nicht eher, als bis er seine Liebe zu Christus bekannt hat, so wie er die Schlüssel erst aufgrund seines Christusbekenntnisses empfängt. ¹⁶⁶ WA 2, 191,19. ¹⁶⁷ WA 2, 194,10. In diesem Kontext ist auch der Brief Luthers an Spalatin vom 16. Mai 1519 zu sehen, wo Luther mit Verweis auf Tit 1, 7 ff. und 1. Tim 3, 2 ff. es für unnötig erklärt, sich weiter über die Erfordernisse des priesterlichen Lebens zu äußern: WA.B 1, 394,16–18; Nr. 175 (an Spalatin vom 16. Mai 1519). ¹⁶⁸ WA 2, 196,31. ¹⁶⁹ WA 2, 197,21–23. ¹⁷⁰ WA 2, 197,8 f.
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wobei ‚Lieben‘ und ‚Lehren‘ im Auslegungskontext von Joh 21, 15–17 bei Luther als Äquivalente für die Ausübung der Schlüsselgewalt stehen, also die Heilsverkündigung; Luther kann dafür auch einfacher von der Predigt des Wortes Gottes sprechen. Diese vier Momente spiegeln markant die Lage wider, in die sich Luther durch seinen spiritualisierten Kirchengedanken hineinmanövriert hat: Denn er entäußert jeden religiösen Eigenwert der institutionellen Kirche dergestalt (wie die ersten drei Momente zeigen), dass sie sich allen anderen äußerlichen Autoritätsinstanzen strukturell angleicht. Dies hat aber nicht bloß zur Folge, dass ein Kirchentum – wie Luther in seiner Schrift immer wieder mit Blick auf das päpstliche hervorhebt – wie diese anderen Autoritätsinstanzen iure humano besteht, d. h. als menschliche gleichwohl aufgrund Röm 13, 1 ff. Gehorsam fordernde Satzung.¹⁷¹ Vielmehr wird ganz und gar undeutlich, wodurch das Gewissen angesichts einer bestimmten äußeren Autoritätsinstanz überhaupt dazu veranlasst wird, gerade sie als ecclesia zu identifizieren und zum Anlass zu nehmen, sie als communio sanctorum zu glauben. Dass Luther von einem solchen, das Gewissen religiös provozierenden Differenzmoment ausgeht, ist anzunehmen. Seine gelegentliche Identifikation der ecclesia mit einer communitas¹⁷² und die Gleichsetzung der ecclesia mit der communio sanctorum¹⁷³ als einer real-konkreten Delegationsinstanz weisen jedenfalls ebenso in diese Richtung, wie der (im vierten Moment zu findende) Hinweis, dass ein wahrhaft christliches Amt auch nicht ohne die religiöse Ergriffenheit der Amtsperson vorzustellen ist. Gleichwohl bleibt in Luthers gesamtem Traktat rätselhaft, wie die konkrete ecclesia als communitas mit der geglaubten ecclesia als communio sanctorum verbunden werden kann, oder anders formuliert: wie sich die innere Wirklichkeit der kirchlichen Institution im Glauben mit ihrer äußeren institutionellen Kirchlichkeit in Zusammenhang bringen lässt. Mit dem Blick auf dieses Problem können wir unsere Betrachtung von Luthers Resolution über die Papstgewalt schließen. Denn was Luther im zweiten und dritten Teil seiner Schrift vorlegt, trägt zur Klärung des Verständnisses der potestas clavium bei Luther nichts weiter bei. Es ist auch einer anderen, viel engeren These verpflichtet: Sowohl in seiner rabiaten Kritik kirchlicher Rechtsnormen, in der Luther noch einmal umfänglicher als in den Acta Augustana das Kanonische Recht als schriftwidrig verwirft,¹⁷⁴ als auch in der abschließ¹⁷¹ Vgl. dazu nur WA 2, 187,8–31. R, Das Petrusbild Luthers, 55 f. weist auf die Entstehung dieses Problems der Entgegensetzung von ius hmanum und ius divinum im Kontext von Luthers Auseinandersetzung mit den Franziskanern von Jüterbog ausführlich und überzeugend hin. ¹⁷² WA 2, 191,18. ¹⁷³ WA 2, 194,7 f. ¹⁷⁴ WA 2, 198,1–225,28. Vgl. dazu die Übersicht bei G, Martinus Noster, 62–72. Inwiefern sich hier das Verhältnis Luthers zum Kanonischen Recht noch einmal grundlegend
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enden Auflistung von Traditions- und Vernunftargumenten¹⁷⁵ geht es Luther darum, die bereits in den Ablassresolutionen behauptete Gleichheit aller priesterlichen Gewalt nun iure divino aufzuweisen.¹⁷⁶ Das Problem der Delegation der Schlüsselgewalt stellt sich unter dieser Bedingung gar nicht in der Schärfe, die Luthers Exegese erreicht, weil in den späteren Gedankengängen Luthers bereits vorausgesetzt ist, dass das kirchliche Priestertum (irgendwie) als Träger der Schlüsselgewalt identifiziert werden kann; und auch hierfür kann Luther auf Mt 16, 18 f. verweisen, ohne dass diese Anführung irgend etwas mit der Eingangsexegese zu tun hat außer der auf Mt 18, 18 ruhenden Bestreitung des Sachverhaltes, dass diese Stelle ausschließlich auf Petrus zu beziehen sei.¹⁷⁷ Insofern bleiben diese Ausführungen Luthers ebenso der exegetisch sich herausschälenden Schwierigkeit äußerlich, wie sie Luthers spiritualisierenden Kirchengedanken überdecken. Dieser tritt nur noch gelegentlich an die Oberfläche. Dann zeigt sich aber, wie die von uns an der potestas clavium beobachtete Entwicklung das gesamte Leben der Kirche betrifft: „Daher ist, wo immer das Wort Gottes gepredigt und geglaubt wird, der wahre Glaube, jener unverrückbare Fels; wo aber der Glaube ist, dort ist die Kirche, dort die Braut Christi; wo aber die Braut Christi ist, dort sind alle Dinge, die dem Bräutigam sind. So hat der Glaube alles bei sich, was auf den Glauben folgt: Die Schlüssel, die Sakramente, die Gewalt und alles andere.“¹⁷⁸
Wir werden im nächsten Abschnitt die Folgen dieses spiritualisierenden Zuges in Luthers Amts- und Kirchenverständnis näher betrachten. Doch zunächst blicken wir noch einmal auf die bis zur Leipziger Disputation erfolgte Entwicklung der Amts- und Kirchenvorstellung Luthers zurück, die nirgends von einer bis in die Tiefe reichenden, wendegleichen Abkehr Luthers von seinen eigenen früheren Überzeugungen geprägt ist,¹⁷⁹ sondern von dem spannungsvollen Fortführen der in den frühen Vorlesungen umrissenen Vorstellungswelten.
ändert und wie es das tut, bedarf eigener Studien, die zugleich Luthers früheres Verhältnis zum Kanonischen Recht rekonstruieren; mit Bezug auf die Amts- und Kirchentheorie, sprich: das uns beschäftigende Thema, kann es bei der hier getroffenen Feststellung der Unproduktivität von Luthers Ausführungen bleiben, weil Luther nie an dem institutionellen Sinn der Rechtsnormen interessiert ist. ¹⁷⁵ WA 2, 225,29–239,35. ¹⁷⁶ So gut zu greifen im Abschluss des Traktats WA 2, 239,36–240,4. ¹⁷⁷ Vgl. bes. WA 2, 239,8–16. ¹⁷⁸ WA 2, 208,25–29: „Quare ubicunque praedicatur verbum dei et creditur, ibi est vera fides, petra ista immobilis: ubi autem fides, ibi ecclesia: ubi ecclesia, ibi sponsa Christi: ubi sponsa Christi, ibi omnia quae sunt sponsi. Ita fides omnia secum habet, quae ad fidem sequuntur, claves, sacramenta, potestatem et omnia alia“. Vgl. zum Bild des ‚bräutlichen Wechsels‘ B, Christus – König und Priester, 104–109. ¹⁷⁹ Vgl. zur neueren Diskussion H, Naher Zorn und nahe Gnade, der 25 f. auch weitere Literatur zur ‚reformatorischen Wende‘ Luthers bietet.
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Unübersehbar ist das der Fall in dem immer weiteren Ausbau der religiösen Selbstbeteiligung des Individuums in der Aneignung des äußerlich angereizten und kirchlich zeichen- und worthaft vermittelten Heilsglaubens bis zu einem Punkt, an dem die religiös produktive Subjektivität des Glaubens im Gewissen die entscheidende Prärogative in diesem Aneignungsprozess gewinnt. Dafür verknüpft Luther den Gedanken einer allein von Gott bewirkten durch den Glauben im Glauben sich entfaltenden subjektiven Wirklichkeit des Heils, den er bereits in der Hebräerbriefvorlesung entwickelte und an den er in seinen Ablassresolutionen anschließt, mit dem im Augsburger Verhör durch Cajetan unter Verweis auf 1. Kor 14, 30 aktualisierten Gedanken vom ‚Gläubigen‘ als einer Autorität sui generis der Dictata super Psalterium. Die damit erreichte Normativität des Gewissenszeugnisses für den Glauben führt dann der Galaterkommentar vor Augen: Einzig und allein dem Gewissen obliegt es, über die es selbst betreffende Wahrheit der Heilsbotschaft zu entscheiden, ohne dass diese Entscheidung durch einen äußerlichen Faktor wie Ansehen und Amtsautorität (persona) beeinflussbar wäre. Nur das in diesem Sinn von äußerem Einfluss absehende und die Wahrheit des Heils von selbst ergreifende Gewissen verdient es nach Luther, ein ‚starker‘ und religiöse institutionelle Legitimität erzeugender Glaube genannt zu werden. Damit ist ein Stadium erreicht, in dem die einst prototypisch am Klosterleben entwickelte Figur des ‚Gläubigen‘ mit seiner ihm eigenen religiösen Souveränität und Autonomie in ganz und gar neuer Weise zum normativen Bezugspunkt der äußeren kirchlichen Institution sich erhebt. Die bohrende Exegese von Mt 16, 18 f., die Luther gleich im Anschluss an seinen Galaterkommentar in den Resolutionen über die Papstgewalt liefert, legt dies offen: Wird nämlich die religiöse Legitimität äußerer institutioneller Autoritäten durch das im Gewissen sich bekundende Wort Gottes erzeugt, so muss all das, was an der Vorstellung von ‚Kirche‘ und ‚Amt‘ religiös von Belang ist, nicht der äußeren Institution, sondern eben dem Gewissen zufallen, das durch die göttliche Heilsbotschaft bestimmt ist. Damit ist Luthers ‚spiritualisierender‘ Kirchenbegriff – der in einigen modernen Beschäftigungen mit Luther gerne heruntergespielt wird¹⁸⁰ – eine sachlich zwingende Konsequenz der zentralen Bedeutung, die er dem Glauben als allein gottbestimmter und deshalb allein normativer religiöser Instanz einräumt. Sicher ist das Heraustreten dieses Zuges in Luthers Denken durch die Konflikte, in die ihn seine Ablassthesen führten, befördert worden. Doch zeigt diese Entwicklung, für die wir hier die potestas-Vorstellung als Leitfaden verwendet haben, dass sie ganz eigenständig vonstatten ging. Denn nirgends spielten ¹⁸⁰ So exemplarisch der Abschnitt bei G N, Apostolische Kirche. Grundunterscheidungen an Luthers Kirchenbegriff unter besonderer Berücksichtigung seiner Lehre von den notae ecclesiae, Berlin / New York 1997 (TBT 82), 203–207: „Der Vorwurf der Spiritualisierung der Kirche“. Warum das ein ‚Vorwurf‘ ist, bleibt allerdings ebenso offen wie die Frage, was Neebes Arbeit insgesamt zum Verständnis des Kirchenbegriffs Luthers austrägt.
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in ihr jene gerade im potestas-Begriff so gut fassbaren differenzierten Elemente der überlieferten Amts- und Kirchentheorie eine Rolle. Ebenso signalisierte Luther nirgends, dass seine Vorstellung der potestas clavium eine Interpretationsvariante der Vorstellung der Schlüsselgewalt darstellt oder darstellen soll, die seine frühen Gegner mit Recht als Eigenart des Systems kirchlicher Katholizität ansahen, nämlich der Schlüsselgewalt in ihrer auf dem priesterlichen ordo bzw. character beruhenden, vom Glauben des Kirchenmitglieds unabhängigen und in der Rechtsgestalt der Papstkirche fest verankerten, hier allein volle Gültigkeit und Wirksamkeit erlangenden Form. Dieser Sachverhalt legt nahe, dass Luthers bis zur Verwerfung sich steigernde Kritik an der Regierungs- und Rechtsgestalt kirchlicher Katholizität keineswegs bloß Ausdruck eines religiös und theologisch empfundenen Unbehagens an der kirchlichen Praxis seiner Zeit ist, sondern vielmehr ein Epiphänomen seines um den Glaubensbegriff normativ zentrierten neuen Gesamtverständnisses christlichen Lebens bildet. Mit welcher institutionellen Gestalt dieses neue Gesamtverständnis sich fruchtbar verbinden lässt, steht Luther Mitte 1519 allerdings nicht vor Augen. Derselbe Sachverhalt weist aber auch darauf hin, dass Luthers Amts- und Kirchenverständnis im Sommer 1519 nicht mehr in die Variationbreite des Systems kirchlicher Katholizität zu integrieren ist. Ein katholischer Kirchenbegriff, der auf seine theologische Deutungstradition und rechtlich-institutionelle Fixierung der Schlüsselgewalt verzichtet, war und ist eben undenkbar. Und wer dies bestreitet, der mag sich vom Donatismus oder den ‚neuen Häresien‘ eines Wyclif und Hus distanzieren. Ein Ketzer bleibt er allemal. Das hat Eck erkannt, Luther dieses Eingeständnis in Leipzig auch abgerungen, und deshalb hat er nach seinen Möglichkeiten dafür gesorgt, dass das, was Recht war, Recht blieb. 1.3. opus des Gläubigen und potestas des Priesters Bis zum Sommer 1520 setzt der „spiritualistische Zuschnitt“¹⁸¹ von Luthers Kirchenbegriff Perspektiven frei, die in nochmaliger Weiterführung und Umformung früherer Überlegungen die erste Entwicklungsphase von Luthers Amtsverständnis zu einem Ende bringen, welche mit dem eigentümlichen Inund Gegeneinander des Gläubigen als homo spiritualis und des Priesters als vicarius Dei in den Dictata super Psalterium ihren Anfang genommen hatte. Zugleich zeichnen sich in dieser Zeit die Umrisse bleibend wirksamer Problemkonstellationen ab, die von der Schrift An den christlichen Adel deutscher Na¹⁸¹ U B, Sichtbare und unsichtbare Kirche, in: K T (Hg.), Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung, Leipzig 2008 (Theologie-Kultur-Hermeneutik 9), 179–230, 201.
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tion (August 1520) an das Motiv des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ mitbestimmen werden. Wir rekonstruieren diesen Übergang, indem wir uns zunächst den Ausführungen zuwenden, die Luther in dem Exkurs zu Ps 13, 1 (Vg.) in seinen nach und nach erscheinenden Operationes in Psalmos (März / April 1520)¹⁸² vorlegt, welche wir, sodann, im Rückgriff auf Luthers sogenannte Sakramentssermone (Druck: Anfang Dezember 1519) und seine Schrift Von dem Papstthum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (Juni 1520) in eine Übersicht der Entwicklung von Luthers Amtsvorstellung einordnen. Luther hatte in seiner Resolution über die Papstgewalt die äußerlich institutionalisierte Autorität der Kirchentümer unter Verweis auf Röm 13, 1 ff. als allen anderen institutionalisierten Formen gesellschaftlicher Autorität gleich aufgefasst und einen Unterschied nur vage angedeutet, ohne ihn zu explizieren. Die weitere Klärung dieser Differenz zwischen allgemeiner gesellschaftlicher und kirchlicher Autorität vollzieht Luther prägnanterweise im Kontext seines Freiheitsverständnisses. Dessen Rückseite bildet die Frage nach dem Verhältnis des Gläubigen, der durch seine Gottesbeziehung allem werkhaften Verdiensterlangen entnommen ist, zur Sphäre des Sittlichen, also den Institutionen und Handlungen menschlicher Koexistenz.¹⁸³ Dazu bestimmt Luther in den Operationes¹⁸⁴ diese Sphäre als Komplex von cerimoniae bzw. opera externa, die in den Funktionszusammenhängen des politischen und des religiösen Lebens konstitutive Bedeutung, aber unterschiedliche Zweckbestimmungen haben: In politischen Zusammenhängen stabilisieren die cerimoniae jede vom ‚Haus‘ sowie der Familie bis zum Imperium reichende Ordnungsstruktur durch Ausdifferenzierung und Verbindung von Ämtern, Aufgaben etc.: „prophanis cerimoniis opus habent [scil. die Menschen, CV] saeculi huius perituram substantiam administrare“.¹⁸⁵ Den sacris cerimoniis hingegen, denen Luther erheblich mehr Aufmerksamkeit zukommen lässt, eignet keine ordnungspolitische sondern eine sozialisationstheoretische Funktion. Mit ihnen wird die religiöse Erziehung gestaltet. Unter diese Zeremonien sind für Luther alle individuellen sowie kultischen opera zu rechnen, neben „orare, ieiunare, vigilare, laborare manu, iuvare proximum“,¹⁸⁶ also der von Luther in diesem Kontext ¹⁸² Zur Datierung der einzelnen Psalmauslegungen der Operationes jetzt M L, Operationes in Psalmos 1519–1521. Teil I: Historisch-theologische Einleitung von G H, Köln u. a. 1991 (AWA 1), bes. 135–139. ¹⁸³ Siehe O, Reformatorisches Freiheitsverständnis, 31. ¹⁸⁴ Vgl. dazu vor allem W M, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei Untersuchungen zu Luthers Reformatonschriften 1520 / 21, Göttingen 1949, bes. 11–24. Weiterhin B, Christus – König und Priester, 152 f. ¹⁸⁵ WA 5, 402,32–33, Hervorhebung von mir, CV. Vgl. 401,22–33. ¹⁸⁶ WA 5, 402,2–3.
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in einzelne funktionale Bestandteile zergliederte Gottesdienst.¹⁸⁷ Bereits diese weite Bestimmung der heiligen Zeremonien deutet an, dass der Erziehungsprozess von Luther nicht exklusiv als priesterliche Aufgaben verstanden wird, sondern in der Familie beginnt. Dabei arbeiten die Autoritäten der Eltern und der ‚geistlichen Oberen‘ nach Luther idealiter gleichermaßen darauf hin, dass „wir lernen müssen, dass wir nicht zur Rechten noch zur Linken abweichen, das heißt: Dass wir die Zeremonien nicht allzusehr hochschätzen oder nicht allzusehr verachten, sondern auf der rechten Straße und in der Mitte gehend sie nach Zeitumstand mal befolgen und mal vernachlässigen“.¹⁸⁸ Freilich setzt das religiöse Sozialisationsziel, die Autonomie des religiösen Subjekts durch den freiheitlichen Gebrauch der Werke zu befördern, bei den Erziehungsautoritäten zwingend das durch den Glauben evozierte Freiheitsbewusstsein voraus. Damit legt Luther in den auf die Religion bezogenen gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen die Pflicht und Verantwortung in die Hände der im Galaterkommentar noch als ‚Starken im Glauben‘ bezeichneten, die er in den Operationes die spirituales nennt.¹⁸⁹ Für sie selbst sind die Werke „nicht notwendig“ und „überflüssig“,¹⁹⁰ was sie zu einem Dienst „in fide et charitate“¹⁹¹ befähigt, der sich ohne jede Irritation durch eine eventuell an ein Werk gerichtete Heilserwartung dem Nächsten zuwenden kann: „Siehe also, wie für uns alle Dinge frei sind im Glauben und dennoch alle Dinge gefügig sind durch die Liebe, so dass zugleich die Knechtschaft der Freiheit besteht wie die Freiheit der Knechtschaft, dass wir niemandem etwas schulden, außer dass wir einander lieben [Röm 13, 8]“.¹⁹² Aus der nach Röm 13, 8 erfassten Liebespflicht folgt für Luther allerdings auch, dass die spirituales als elterliche bzw. kirchliche Erziehungsautoritäten Rücksicht auf diejenigen Menschen nehmen, die den religiös nichtigen Charakter des äußerlichen Werks für ihre Gottesbeziehung nicht ergriffen haben: Die „parvuli et infirmi in Christo“ leben in den opera die ihnen (noch) angemessene Form des Heilsglaubens, „tanquam sub paedagogo legis corporalis alendi fovendique sunt, donec crescant et ipsi in cognitione domini nostri Ihesu Christi“.¹⁹³ ¹⁸⁷ WA 5, 401,8–12: „Certum est, in novo testamento unas tantum cerimonias esse divinitus institutas, scilicet sacramentum Eucharistiae, quod tamen et ipsum non alio fine factum est, nisi populus ad verbum dei et orationem conveniret, In quo simul, qui per verbum essent conversi et instructi, baptisarentur et accepto sancto pane confortarentur“. ¹⁸⁸ WA 5, 401,15–18: „discere debemus, ne ad dextram nec ad sinistram declinemus, hoc est ne ceremonias aut nimio aestimemus aut nimio contemnamus, sed recta via et medio incedentes pro tempore tum eas observemus tum deseramus“. ¹⁸⁹ Vgl. WA 5, 406,27. ¹⁹⁰ Vgl. WA 5, 402,24 resp. 403,15. ¹⁹¹ WA 5, 402,23. ¹⁹² WA 5, 407,42–408,3: „Vide ergo, quam omnia sunt libera nobis per fidem et tamen omnia serva per charitatem, ut simul stet servitus libertatis et libertas servitutis, quod nulli quicamquam debemus, nisi ut diligamus invicem“. ¹⁹³ WA 5, 402,33–35. Die sachliche Bedeutung von Luthers Traktat für die spätere termi-
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Für die Vorstellung des ‚kirchlichen Amtes‘ bedeuten Luthers Ausführungen zweierlei: Einmal nivellieren sie jeden auf einer möglichen materialen Bestimmung der potestas aufbauenden Unterschied zwischen den ‚einfachen‘ Gläubigen und denen in kirchlichen Ämtern. In religiöser Hinsicht gibt es nur ein opus, das allen Gläubigen gleichermaßen zur Pflicht gemacht ist, nämlich durch den in Glaube und Liebe am Nächsten versehenen Dienst ihresgleichen hervorzubringen. Was allein als Unterschied unter den Gläubigen in Betracht kommen kann, ist der mit den gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen selbst gegebene Unterschied von Familie und gottesdienstlichem Kultus bzw. dem elterlichen und kirchlichen Stand.¹⁹⁴ Dass Luther hier das bereits in seinen frühen Vorlesungen umrissene monastische Erziehungsideal in Anspruch nimmt, ist ebenso offensichtlich wie der Umstand, dass er dieses Ideal aus seiner früher noch exklusiven Bindung an die kirchliche Insitution als Erziehungsinstanz herausbricht. Damit entschränkt Luther auch das vormals als Kennzeichen der Amtsautorität entwickelte Ethos der servitus (in der Römerbriefvorlesung) bzw. die durch Christus präfigurierte Setzung des priesterlichen Amtes pro hominibus (in der Hebräerbriefvorlesung) zur allgemeinen Charakteristik christlicher Liebeszuwendung, weil ein jeder Christ dem Nächsten ein Christus werden soll: „Wie Christus nämlich aus Gott ausgegangen ist und uns herangezogen hat und in seinem ganzen Leben nichts suchte, was sein, sondern was unser ist, so müssen auch wir, sobald wir in den Glauben eingegangen sind, ausgehen, um andere heranzuziehen, und nichts suchen, außer dass wir allen dienen und viele mit uns selig machen“.¹⁹⁵
Gleichermaßen verschiebt Luther sodann in seinen Ausführungen den Grund für die religiöse Anerkennung der elterlichen und kirchlichen Autoritäten zu Gunsten seines spiritualisierenden Kirchengedankens. Die im Glauben zugeeignete Freiheit räumt den spirituales bislang unbekannte institutionelle Gestaltungsräume ein, die sie nicht bloß für den Nächsten, sondern auch für sich nologische „Formschöpfung“ (Gerdes) des unterschiedlichen ‚Gebrauchs des Gesetzes‘ dürfte offensichtlich sein, auch gerade in Hinblick auf die kontrovers diskutierte Frage, ob Luther einen usus paedagogicus des Gesetzes kennt. Dafür nach wie vor maßgeblich: G E, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie (1950), in: D., Wort und Glaube I, Tübingen 1960, 50–68 sowie H G, Luthers Streit mit den Schwärmern um das rechte Verständnis des Gesetzes Mose, Göttingen 1955, bes. 105– 116. ¹⁹⁴ Vgl. dazu im Sermon von den guten Werken die Auslegung des vierten Gebots: WA 6, 250,21–265,26. Zum historischen Hintergrund der daran gekoppelten Standesvorstellung siehe R J B, Honor Your Fathers. Catechism and the Emergence of a Patriachal Ideology in Germany, 1400–1600, Leiden u. a. 1997 (SMRT 63). ¹⁹⁵ WA 5, 408,10–13: „Sicut enim Christus exivit a deo et attraxit nos, nihil quarens in omni vita sua quod suum esset, sed quod nostrum, Ita ubi fide ingressi fuerimus, et nos exire oportet, attracturi et alios, nihil quaerentes, nisi ut omnibus servientes multos salvemus nobiscum“. Vgl. dazu auch M, Von der Freiheit, 14.
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dann zu nutzen imstande sind, sollten sie die Gefahr eines Rückfalls in den werkgerechten Zeremoniengebrauch befürchten. In Aufnahme des im Galaterkommentar geäußerten Gedankens des ‚Schisma der wahrhaft Frommen‘ stellt Luther ihnen die Möglichkeit vor Augen, die ihnen eigene Autonomie in Abkehr von den sacris cerimoniis und durch freiwillige Vergemeinschaftungen vorübergehend zu stärken, um sich dann wieder in den gesamtgesellschaftlichen Funktionszusammenhang einzugliedern. Wer merkt, dass er anfängt, auf die opera sein Vertrauen zu legen, so führt Luther aus: „der sei mutig und setze sie zeitweilig aus, und er ersuche dafür auch nicht die Erlaubnis oder Gewalt der kirchlichen Oberen (pontificum). In den Dingen nämlich, welche zum Glauben gehören, ist ein jeder Christ selbst der Papst und die Kirche, und er kann nicht irgendetwas als sicheren Bestand oder Beschluss hinnehmen, was für den Glauben in irgendeiner Art und Weise zur Gefahr werden könnte. Falls er in dieser Sache den Rat eines Nächsten einholen will, damit er mutiger sei, der handelt auf’s beste durch die Kraft jenes Wortes ‚Wenn zwei auf Erden über irgendeine Sache übereinkommen &c.‘ [Mt 18, 19]“.¹⁹⁶
Das christliche Freiheitsbewusstsein trägt so in das religiöse Institutionenverhältnis des Gläubigen Momente der Freiwilligkeit ein, die einer womöglich durch Zwang befestigten kirchlichen Observanz- und Partizipationskultur zutiefst widersprechen. Dies ist von prinzipieller Bedeutung, weil sich damit im Frühjahr 1520 eine weitreichende Verschiebung in Luthers Auffassung der institutionellen kirchlichen Autorität verdichtet: Bereits in dem Anfang 1520 erschienenen Sermon von dem Bann¹⁹⁷ hat Luther, anders als in dessen lateinischer Vorlage aus dem Jahr 1518, dem Sermo de virtute excommunicationis,¹⁹⁸ weitgehend darauf verzichtet, die Fügung unter eine ungerechte Exkommunikation als Haltung besonderer christlicher Demut zu charakterisieren.¹⁹⁹ Ein Widerstreben schließt Luther allein aus dem Grund aus, dass der Bann ohnehin das Gottesverhältnis im Gewissen nicht berührt; dass die zu Unrecht bannende kirchliche Autorität grundsätzlich hinzunehmen sei, heißt das allerdings nicht.²⁰⁰ Duch das Nadelöhr der Operationes geführt, wird Luthers Ansicht im Sermon von den guten Werken (Juni 1520), in dem er viele Überlegungen der Operationes in die Tradition der Dekalogsauslegung umgießend aufnimmt,²⁰¹ ¹⁹⁶ WA 5, 407,33–40: „Si quis sentiat, sese in operibus cerimoniarum fiduciam habere, aud sit et ea aliquando intermittat nec in hoc requirat pontificum dispensationem aut potestatem. In his enim, quae sunt fidei, quilibet Christianus est sibi Papa et Ecclesia, nec potest statui aut statutum tenere aliquid, quod in fidei periculum cedere quoquomodo possit. Quodsi consilium in hac re cum proximo voluerit communicare, quo audentior sit virtute verbi illius ‚Si duo super terram consenserint super quacunque re‘ &c. optime facit“. ¹⁹⁷ WA 6, 61–75. ¹⁹⁸ Siehe dazu oben Anm. 108. ¹⁹⁹ Vgl. nur WA 1, 642,29–30. ²⁰⁰ Vgl. WA 6, 69,7–35. ²⁰¹ Zu den Umarbeitungen vgl. M, Von der Freiheit, 14–20.
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deutlicher: Luthers Interpretation des vierten Gebots differenziert den gottgeforderten Gehorsam gegenüber den Eltern,²⁰² der „geistlichenn Mutter, der heyligen Christlichen Kirchen“²⁰³ und der politischen Obrigkeit²⁰⁴ in drei ‚Werke‘ dieses Gebots aus. Und er versieht, das ist nun entscheidend, diese drei Werke mit unterschiedlichen Gehorsamsqualitäten. Denn sowohl gegenüber den Eltern wie den kirchlichen Autoritäten zieht Luther eine Gehorsamsverweigerung in Betracht, sollten sie ihrer christlichen Erziehungsaufgabe nicht entsprechen, indem sie zur Weltlichkeit anhalten²⁰⁵ resp. die Werkgerechtigkeit befördern.²⁰⁶ Allein der politischen Obrigkeit gebührt selbst dann Gehorsam, wenn sie ungerecht ist, weil sie als ordnungspolitische Instanz mit dem Glauben nichts zu tun hat.²⁰⁷ Markanterweise appliziert Luther dabei den früher auch für die Kirchentümer gebräuchlichen Rekurs auf Röm 13, 1 ff. nur noch auf die politische Obrigkeit.²⁰⁸ Nicht bloß faktisch, sondern ebenso legitimatorisch ist damit der politischen Obrigkeit zur Gestaltung menschlicher Sozialität eine Prärogative eingeräumt, die Luther im Sermon bekanntlich auch dahingehend bedenkt, ob nicht diese Obrigkeit die aufgrund des von Luther breit wahrgenommenen Versagens des elterlichen und des kirchlichen Standes notwendige Sozial- und Kirchenreformen in Gang setzen müsse.²⁰⁹ Doch bedeutet die bislang betrachtete streng funktionale Einordnung des kirchlichen Amtes in ein um den Glauben konzentriertes corpus christianum²¹⁰ und die damit einhergehende Verschiebung in der Einschätzung der kirchlichen Autorität für Luther, dass dem kirchlichen Amt im Kontext seiner kultisch-liturgischen Aufgaben ‚bloß‘ das opus eines Gläubigen aufgetragen ist? Oder anders formuliert: Ist die Differenz zwischen elterlich-gläubigem Stand und priesterlich-gläubigem Stand wirklich nur funktional? Die Antwort, die nach den Operationes eigentlich klar erscheint, legt sich nach anderen Ausführungen Luthers in dem ganzen hier überblickten Zeitraum erst einmal anders nahe.
WA 6, 250,33–255,17. WA 6, 255,18–258,31. WA 6,258,32–265,26. WA 6, 253,1–5. Vgl. nur WA 6, 256,31–257,6. WA 6, 259,11–260,3. WA 6, 258,32–33. Vgl. dazu jetzt die lehrreiche Studie von J M. E, Peace, Order and the Glory of God. Secular Authority and the Church in the Thought of Luther and Melanchthon 1518– 1559, Leiden / Boston 2005 (SMRT 111), bes. 9–13 (mit weiterer Literatur). ²¹⁰ Vgl. zu diesem wissenschaftsgeschichtlichen Deutungsbegriff T K, Das Bekenntnis im Luthertum des konfessionellen Zeitalters, ZThK 105 (2008), 281–314, 288 f. ²⁰² ²⁰³ ²⁰⁴ ²⁰⁵ ²⁰⁶ ²⁰⁷ ²⁰⁸ ²⁰⁹
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Nur einmal erwägt Luther den Gedanken, dass unter bestimmten Bedingungen ein Gläubiger priesterliche Funktionen ausüben könnte. Bezeichnenderweise ist das im Sermon von der Buße (Dezember 1519) der Fall. Dort hebt Luther hervor, dass im Zuspruch des Absolutionswortes (nach Mt 16, 19), „wo eyn priester nit ist, eben ßoviel thut ein iglicher Christen mensch, ob es schon eyn weyb oder kind were“.²¹¹ Das ist sicher ein Reflex auf Luthers Auslegung von Mt 16, 18 f. in seiner Resolution über die Papstgewalt vom Juni 1519, zumal er kurz darauf hervorhebt, dass die Gewissheit dem durch die Sünde aufgestachelten Gewissen zukommt, wenn „eyn frum Christen mensch trostet, man, weyb, jung adder alt“.²¹² Mit welcher Reichweite Luther diese Ausnahmeregel versieht, ist aber nicht zu erfassen. Einen Anlass, von einer womöglich grundsätzlichen „Aufhebung“ der Differenz von „Priestern und Laien“ zu sprechen, gibt Luthers Bemerkung in diesem Kontext jedenfalls nicht.²¹³ Denn zunächst ist hier allein eine Ausnahme von der Regel formuliert, die zwar von der mittelalterlich bekannten Laienbeichte im Notfall insofern unterschieden ist, weil es sich um eine mit der priesterlichen Absolution völlig gleichwertige ‚Laienabsolution‘ handelt.²¹⁴ Ob Luther damit zugleich insinuiert, dass ein ‚frum Christen mensch‘ eigentlich immer eine dem Priester gleiche Kompetenz des Zuspruchs des Vergebungswortes zukommt, die aus irgendwelchen Gründen nur in einer Notsituation gleichsam aktiv wird, lässt sich nicht vermuten. Dagegen spricht, dass Luther in seinen Sakramentssermonen²¹⁵ weder für die Taufe noch das Abendmahl eine solche Ausnahme formuliert, sondern vielmehr ganz selbstverständlich deren Vollzug in die Hände des (bestehenden) Priestertums legt. Auch noch Luthers Brief vom 19. Dezember 1519, den er also kurz nach Veröffentlichung der Sakramentssermone an Spalatin schickt, zeigt Luthers schwankende Haltung, selbst wenn dieser Brief in der Lutherforschung oft als „Entdeckung“ der Vorstellung vom ‚Priestertum aller Gläubigen‘ bezeichnet wird.²¹⁶ Sicher ist sich Luther hier nämlich nur, dass die officia sacerdotalia ²¹¹ WA 2, 716,27–28. Luthers ähnlich lautende Äußerung aus der Römerbriefvorlesung (WA 56, 251,25–26) spiegelt hingegen noch sehr stark den monastischen Kontext wieder. ²¹² WA 2, 717,27 (Hervorhebung von mir, CV). ²¹³ So allerdings andeutungsweise B, Christus – König und Priester, 114. ²¹⁴ Vgl. zur mittelalterlichen ‚Laienbeichte‘ die nach wie vor gute Übersicht von G G, Die Laienbeicht im Mittelalter. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, München 1909. Vgl. auch oben 1. Kapitel bei Anm. 102. ²¹⁵ Zu ihnen vgl. mit weiterer Literatur U S, Die Bedeutung der Sakramente in Luthers Sermonen von 1519, Leiden 1982 (SHCT 27). ²¹⁶ Vgl. statt vieler K, Ordination in Wittenberg, 19 f. Dass Krarup in diesem Zusammenhang Melanchthon als den eigentlichen Vorläufer Luthers hinsichtlich dieser ‚Entdeckung‘ bedenkt, wenn er in seinen Baccalaureatsthesen vom September 1519 den ordo als Sakrament leugnet, ist freilich dem Umstand geschuldet, dass Krarup keinen Blick in die Schriften Luthers vor 1520 wirft. Denn wo spielt der ordo-Gedanke für Luther jemals eine tragende Rolle zur Unterscheidung von ‚Priestern‘ und ‚Laien‘? Richtig, nirgends! Dass Me-
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den Unterschied zwischen Priestern und Laien nicht konstituieren, weil sie – die Ausführungen der Operationes stehen an seinem gedanklichen Horizont – Zeremonien sind. Und doch zieht Luther nicht die letzte – rein funktionale – Konsequenz, wenn er ausführt: „Weiterhin bedrängt mich sehr der Apostel Petrus 1. Petr 2 [1. Petr 2, 9], der sagt, dass wir alle Priester sind, ebenso Johannes in der Apokalypse [Offb 5, 10], so dass die Art des Priesters, in der wir sind, sich ganz und gar nicht zu unterscheiden scheint von den Laien außer durch das ministerium, durch das die Sakramente und das Wort bedient werden“. Was dieses ministerium im Unterschied zu den zeremoniellen officia sacerdotalia sein soll, führt Luther nicht aus. Ein mehr als funktionales Differenzmoment zwischen Priestern und Laien bleibt damit angedeutet, freilich ohne dass – für uns nichts Neues – hierfür der ordo eine Rolle spielen würde.²¹⁷ Erst in seiner gegen Johann von Alveldt gerichteten Schrift Von dem Papstthum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig gibt Luther über die Stellung des Priestertums nähere Auskunft.²¹⁸ Dass dabei Luthers Ausführungen der Operationes merklich werden, steht außer Frage; die Schrift gegen Alveldt wird im Juni 1520 wohl unmittelbar nach dem Sermon von den guten Werken gedruckt. Doch sie legt neben der Nachhaltigkeit der oben betrachteten Veränderungen in Luthers Amtsverständnis auch offen, dass seine Einordnung des kirchlichen Amtes in einen gesamtgesellschaftlichen Funktionszusammenhang keineswegs das Ende jedweder materialen Differenzbestimmung zwischen Priestertum und Laien bedeuten muss. Thetisch zugespitzt formuliert: Das kirchliche Amt rückt bei Luther nun als eine gottgesetzte und durch eine besondere potestas von den übrigen Gläubigen unterschiedene Größe in den Blick, die innerhalb des kirchlichen corpus permixtum zur Regierung der Christenheit notwendig ist. Die Schärfe dieser Vorstellung tritt zu Tage, wenn man als ihre Rückseite bedenkt, dass für Luther das Priestertum für die religiöse Dimension des Kirchenverständnisses nach dem dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses lanchthon in seinen Thesen durchaus zeigt, dass er die Auffassungen Luthers systematisch auf den Punkt bringen kann, ist damit nicht geleugnet. ²¹⁷ Ich gebe den ganzen Briefpassus wieder, WA.B 1, 595, 26–37; Nr. 231 (an Spalatin 18. Dezember 1519): „Officia sacerdotis, que ex me quaeris, ignoro, cum, quanto magis cogito, non Inveniam, quod scribam, nisi cerimonialia. Deinde valde me urget petrus Apostolus 1. pe 2. dicens, nos omnes esse sacerdotes, idem Iohannes in apocalypsi, Ut hoc genus sacerdotii, in quo nos sumus, prorsus non differre videatur a laicis nisi ministerio, quo sacramenta & verbum ministratur. Cetera omnia sunt equalia, si ceremonias et humana statuta demas. Et satis miramur, unde ordo nomen sacramenti invenerit. Mira hec tibi nonne? Sed praesens plura una cum philippo, quoniam has res & sepe & acute tractavimus. proinde officium tuum a communibus laicorum officiis nihil differt, exceptionibus, Que Ro[mana] Curia sine delectu omnibus sacerdotibus imposuit“. ²¹⁸ Die einschlägige Studie zu dieser Schrift ist K H, Ecclesia spiritualis. Luthers Kirchenverständnis in den Kontroversen mit Augustin von Alveldt und Ambrosius Catharinus, Göttingen 1989 (FKD 44), bes. 17–123.
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schlechterdings belanglos ist. Luthers berühmte Bemerkung zu den „zeichenn, da bey man euszerlich mercken kan, wo die selb kirche in der welt ist“, also den notae ecclesiae,²¹⁹ bringt dies auf den Punkt, auch weil diese ‚Zeichen‘ ohnehin keine ‚objektiv‘ belastbare Verbindung zwischen kirchlichen Institutionen und der im dritten Glaubensartikel bekannten, innerlich erfassten unsichtbaren Kirche bilden. Das hat jüngst überzeugend Ulrich Barth herausgearbeitet.²²⁰ Denn durch die Merkzeichen von Sakrament und Evangelium tritt, so Barth, „– mit Verlaub – gar nichts ‚in Erscheinung‘, dinglich, gegenständlich oder ontisch –, sondern es ist der subjektive Vollzug des Glaubens eines jeden Christen, der die im Leiblich-Äußerlichen sich vollziehenden Vorgänge von Wortverkündigung und Sakramentsdarreichung als Zeichen der verborgenen Anwesenheit Gottes versteht“.²²¹ Gegenüber der Resolution über die Papstgewalt stellen die notae daher nur die Klärung dar, dass die Identifizierbarkeit der kirchlichen Institutionen als Kirchen an das Vorhandensein von bestimmten kultisch-liturgischen Vorgängen geknüpft wird. Ob diese Institutionen dann auch durch diese Vorgänge den Anlass geben, die Kirche im eigentlichen Sinn zu glauben, liegt allein an der „identifizierende[n] Kraft“ des Glaubens, ohne die „beide Dimensionen, die sichtbare und die unsichtbare, schlechterdings beziehungslos“ wären.²²² Das heißt im strikten Sinn auch, dass der Umstand, ob ein Priester diese kultisch-liturgischen Vorgänge in die Hand nimmt und mit welcher Autorität er das tut, für die Erfassung der notae als notae ecclesiae durch den Gläubigen von keinerlei Bedeutung ist. Nur sind eben nicht alle, die sich äußerlich um die äußerlichen Zeichen der wahren Kirche versammeln im emphatischen Sinn Gläubige.²²³ Hier findet das kirchliche Amt dann seinen Ort, weil dieses corpus permixtum durch „geistlich recht und prelaten in der Christenheit regirt“ wird.²²⁴ Freilich bleibt damit das Problem bestehen, dass unter diesen Prälaten – der Begriff ist weit gefasst: „Bepste, Cardinel, Bischoff, prelaten, priester, Monich, Nonnen unnd alle, die ym euzßerlichen wesen fur Christen gehalten werden“²²⁵ – Christen, im Sinn von wahrhaft Gläubigen, mit Nichtchristen vermischt sind; alle genannten „stende“²²⁶ bilden ja einen Teil des äußerlich institutionalisierten Gebildes. Allerdings will Luther im Gegensatz zu früheren Äußerungen, dass dieser Umstand nun einmal besteht und hinzunehmen sei, im Juni 1520 eine seinem WA 6, 301,3–10. B, Sichtbare und unsichtbare Kirche, bes. 187–203. B, Sichtbare und unsichtbare Kirche, 195. Ebd. WA 6, 297,13–16. WA 6, 297,10–11. ‚Geistliches Recht‘ heißt hier schlicht kanonisches Recht, siehe R S, Luther, Göttingen 1998², 95 Anm. 2. ²²⁵ WA 6, 297,11–12. ²²⁶ WA 6, 297,15. ²¹⁹ ²²⁰ ²²¹ ²²² ²²³ ²²⁴
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Glaubensverständnis gemäße rechte Regierung der äußerlichen Kirche von einer unrechten absondern. Wie in seinem Galaterkommentar nimmt Luther dafür die Frage nach der Legitimität der institutionalisierten Kirche über die Bestimmung der apostolischen Botschaft ins Visier. Unter Rekurs auf 2. Kor 5, 20 und 1. Kor 3, 5 führt er aus: „Disß botschaft heist nu weyden, regieren, bischoff sein, und der gleichen“.²²⁷ Und ebenso in formalem Anschluss an seinen Galaterkommentar weist Luther darauf hin, dass aufgrund dieser in der Sendung durch Christus beschlossenen Botschaft „nach gotlicher ordenung“ alle Bischöfe – die bezeichnenderweise nun pars pro toto für das kirchliche Amt stehen – „gleich sein und an der Apostel stat sitzen“.²²⁸ Eine Über- und Unterordnung „des amts halber“ kann es in dieser Ordnung nicht geben, nur bessere oder geschicktere Amtsinhaber.²²⁹ Eine aufgrund „menschlicher ordenung“ bestehende hierarchische Gliederung der „euszerlichen kirche“ ändert an diesem Sachverhalt nichts.²³⁰ Trotz der formalen Anleihen ist der Unterschied zu Luthers Bestimmung der apostolischen Botschaft im Galaterkommentar, die er ganz in der Verkündigung des das Gewissen frei machenden Evangeliums aufgehen ließ, nicht zu übersehen. Hand in Hand damit geht eine deutliche Umakzentuierung des potestas-Begriffs einher. Die Erfassung der potestas über die Schlüsselgewalt nach Mt 16, 18 f. verliert an Gewicht. So ist Luthers Auslegung von Mt 16, 18 f. in der Schrift gegen Alveldt²³¹ an die bohrende Eingangsexegese dieses Textes aus der Resolution über die Papstgewalt nur noch lose angebunden. Hauptsächlich repetiert Luther gänzlich unoriginell das seit den Acta Augustana bekannte Argument, dass Mt 16, 18 f. aufgrund von Mt 18, 18 und Joh 20, 22 f. eben nicht den Papstprimat begründet, sondern – wie Luther schon gegen Prierias meinte – als Zuspruch „der gantzen gemeyn zu gutte gesetzt“²³² sind. Vielmehr führt Luther plötzlich neben der Schlüsselgewalt noch eine ‚regierende Gewalt‘ ein, die er den Amtsträgern beilegt:
²²⁷ WA 6, 300,13–14. ²²⁸ WA 6, 300,25–26. ²²⁹ WA 6, 300,19–24. Der Verweis auf Paulus und Petrus ist natürlich eine Anspielung auf
Gal 2, 11 ff. ²³⁰ WA 6, 300,26–27. Luthers Verwendung des Gegensatzes von göttlicher Ordnung – menschlicher Ordnung und deren Identifikation mit dem Gegensatz innerlich – äußerlich ist in diesem Zusammenhang freilich unglücklich. Denn natürlich wird die innere Christenheit, wie Luther zuvor ausgeführt hat (WA 6, 297,37–299,30), ausschließlich von Christus regiert. Worauf Luther aus zu sein scheint, ist, dass die äußerliche Kirche selbst in zweifacher Weise betrachtet werden kann, nämlich hinsichtlich ihres normativen Ordnungskerns und hinsichtlich ihrer kontingenten Ordnungsgestalt, wobei sich letztere zu ersterem indifferent verhält. ²³¹ WA 6, 309,18–316,19. ²³² WA 6, 312,36–313,1.
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„regirende gewalt ist weit mehr das schlussel gewalt. Schlussel gewalt reycht nur auffs sacrament der pusz, die sund zupinden unnd loszenn, wie der klare Text stet Math. xviij. [Mt 18, 18] unnd Johan. ultimo [Joh 20, 22 f.]. Aber regierende gewalt stet auch uber die, die frum sein und nit haben das man bind odder auflosze, unnd hat unter sich predigen, vormanen, trosten, mesz halten, sacrament geben, unnd der gleichen“.²³³
Diese knappe Bemerkung zur ‚regierenden Gewalt‘ ist, sowie ich sehe, in Luthers Werk singulär.²³⁴ Gerade das macht sie so interessant: Signalisiert sie doch ein offensichtlich von Luther empfundenes Ungenügen, über die religiös besetzte Stelle Mt 16, 18 f. die Besonderheit der Amtsgewalt begründen zu können. Von hier aus verwundert es dann nicht mehr, dass die eigentliche Bestimmung zum rechten und glaubensgemäßen Amtsauftrag für Luther nun in Joh 21, 15 ff., in dem Ausspruch Jesu: ‚Weide meine Schafe!‘, zu finden ist. Die Auslegung dieses vormaligen und im späten Mittelalter besonders bedeutsamen locus classicus der Papstgewalt²³⁵ bringt zwar ebenfalls gegenüber der Auslegung derselben Stelle in der Resolution über Papstgewalt nichts Neues.²³⁶ Sie sticht aber insofern hervor, weil Luther seine spiritualisierende Tendenz – anders als in seiner Auslegung von Mt 16, 18 f. – ungebrochen weiterführt: Die christusunmittelbare vocatio zur regierenden Gewalt ist unabdingbar an die Liebe zu Christus, d. h. den Glauben des Amtsträgers gebunden; „wo nit lieb ist, da ist kein weyden“.²³⁷ In mehrfacher Hinsicht passt Luther damit seine Überlegungen in das in den Operationes entworfene Bild ein: Der Glaube ist einmal eine notwendige Voraussetzung zur rechten Amtsführung, die sich auf die Gläubigen bezieht, denen es – noch – an religiöser Selbstständigkeit fehlt. So dürfte die eher kryptische Bemerkung Luthers wohl zu verstehen sein, dass die ‚regierende Gewalt‘ ‚über denen steht‘, die zwar fomm aber nicht im Besitz der Schlüsselgewalt sind. Auf jeden Fall deutet bei Luther hier nichts darauf hin, dass er als Amtsaufgabe die Regierung des corpus permixtum als corpus permixtum begreift; das würde ja auch die ‚Regierung‘ über diejenigen einschließen, die nicht im ²³³ WA 6, 312,3–8. ²³⁴ In der Schrift gegen Prierias hat Luther noch dagegen gewettert, dass die Scholastiker
aus der Schlüsselgewalt eine potestas dominans gemacht haben, WA 1, 658,20–22. Die Einschränkung, dass sich Mt 16, 18 f. nur auf die Schlüsselgewalt resp. die Buße bezieht, gehört von nun an allerdings zu den Standardargumenten Luthers. Ich halte die These Johannes Heckels, dass Luther hiermit einen in den Ablassresolutionen einsetzenden begrifflichen Differenzierungsprozess zwischen ‚Schlüsselgewalt‘ und ‚Leitungsgewalt‘ zu einem „Abschluß“ führt, für sachlich unhaltbar, vgl. H, Initia Iuris, 190 mit Anm. 294. ²³⁵ WA 6, 316,20–321,22. Vgl. die Zusammenfassung der Argumentation bei H, Ecclesia spiritualis, 106–109. Zur spätmittelalterlichen Verwendung der Stelle bei Biel vgl. 1. Kapitel bei Anm. 247. ²³⁶ Vgl. oben Anm. 163. ²³⁷ WA 6, 319,3–4. Dass sich hier natürlich wieder die „Gefahr des Donatismus“ (H, Ecclesia spiritualis, 108) zeigt, kümmert Luther ein Jahr nach seiner Resolution über die Papstgewalt gar nicht mehr.
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Sinn Luthers ‚fromm‘ sind. Sodann hat das kirchliche Amt seinen Ort in einer gesellschaftlichen Funktionssphäre, wie der Umfang des unter der ‚regierenden Gewalt‘ bestimmten Kompetenzbereichs ausweist, nämlich im parochialen Pfarramt. Trotz dieser strikt funktionalen Einbettung behauptet Luther dennoch durch die christusunmittelbare vocatio einen mehr als bloß funktionalen Unterschied zwischen den ‚Bischöfen‘, hier also faktisch: den parochialen Amtsträgern, und den Gläubigen. Und dieser Unterschied besteht darin, dass es – auch das passt zu dem in den Operationes entworfenen Bild – nicht zu den allen Gläubigen aufgetragenen opera gehört, die kirchlichen Institutionen zu leiten, auch wenn die zur Leitung verliehene potestas dann allen opera der Gläubigen gleich in der und durch die Liebe gehandhabt werden soll. Doch wie stark Luther die damit angedeutete Differenz zwischen opus des Gläubigen und potestas des Priesters versteht, ist offen. Dass sie nicht übertont werden sollte, deutet sich an: Unter dem Eindruck des kategorialen Ausschlusses der priesterlichen Autorität bzw. des Amtes aus der religiösen Dimension des Kirchenbegriffs, wie wir an den notae gesehen haben, sowie der – damit verbundenen – Umakzentuierung der Amtsfunktion vom Verheißungszuspruch (nach Mt 16, 18 f.) zur leitenden Ordnung der Christen in der Gemeinde (nach Joh 21, 15 ff.) drängt sich Luther eine bedeutsame Konsequenz auf. Sie tritt in dem etwa zeitgleich zur Adelsschrift verfassten Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe (Druck: August 1520)²³⁸ an die Oberfläche: Hat nämlich die Amtsautorität ungeachtet ihrer Vollzugskompetenzen keinerlei Bedeutung für die Erfassung der religiösen Dimension der liturgisch-rituellen Handlungen als Sakramente für den Gläubigen, d. h. als worthaft verfasste Zeichen der göttlichen Heilszusage, so ist eben auch die Annahme hinfällig, dass der Priester in irgendeinem liturgisch-rituellen Handlungsvollzug stellvertretend für den Gläubigen agiert. Das wird Luther in erwähntem Sermon in aller Radikalität an der Vorstellung des eucharistischen Opfers klar:²³⁹ Das eigentliche ‚Opfer‘ kann nur die Aneignung des Selbstopfers Christi im Glauben meinen, welche die unmittelbare und deshalb eben unvertretbare geistliche Partizipation des Gläubigen an der schlechterdings zentralen Heilstat Christi dergestalt umschließt, dass Luther auch davon sprechen kann, dass der Gläubige sich durch seinen Glauben mitopfert.²⁴⁰. Hieraus folgert Luther, dass, wo immer solcher angeeigneter und sich selbst als Opfer darbringender Glaube vorliegt, zugleich durch den Gläubigen das Priesteramt im Glauben wahrgenommen wird:
²³⁸ Die Datierungsfrage ist hier schwierig. Ich folge der überzeugenden Argumentation von S, Die Messopfertheologie, 262 f. ²³⁹ Vgl. dazu vor allem B, Christus – König und Priester, 115–118. ²⁴⁰ WA 6, 369,3–9.
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„So wirts klar, das nit allein der priester die meß opffert, ßondern eynis yglichen solcher eygener glaub, der ist das rechtt priesterlich ampt, durch wilchs Christus wirt fur gott geopfert, wilchs ampt der priester mit den euserlichen geperden der meß bedeuttet, und sein alßo alsampt geystliche priester fur gott“.²⁴¹
Mit diesem Gedanken führt Luther die glaubenszentrierte Internalisierung der religiösen Dimensionen der äußerlich institutionalisierten kirchlichen Autorität weitgehend zu einem Abschluss. Hatte es im Sommer 1519 noch geheißen, dass der Glaube die ‚Schlüssel, die Sakramente, die Gewalt und alles andere‘ bei sich hat, so stößt Luther nun ein Jahr später dazu vor, den Glauben mit dem für den Gläubigen religiös bedeutsamen Priestertum in toto zu identifizieren. Und damit verschwinden auch die letzten Reste einer religiösen Sonderstellung des Priestertums, wie Luther ausführt: „Dan der Glaube muß allis thun. Er ist allein das recht priesterlich ampt, und lesset auch niemant anders seyn: darumb seyn all Christen man pfaffen, alle weyber pffeffynn, es sey junck oder alt, herr oder knecht, fraw oder magd, geleret oder leye. Hie ist kein unterscheidt, es sey denn der glaub ungleych.“²⁴²
Mit diesem Gedanken des den Gläubigen im Glauben beigelegten geistlichen Priestertums haben wir die Schwelle zur nächsten Entwicklungsphase von Luthers Amtsverständnis erreicht. Wir werden im nächsten Kapitel betrachten, wie Luther von hier aus fortschreitet.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523) Eine Wendung wie ‚Priestertum aller Gläubigen‘, ‚Priestertum aller Getauften‘ oder ähnliches hat Luther wohl nirgends gebraucht, sicher nicht in dem Zeitraum, der uns beschäftigt.²⁴³ Vielmehr trifft man in den Ausführungen Luthers auf eine breite Varianz sowohl hinsichtlich der Formulierungen, wir haben zwei bereits erwähnt,²⁴⁴ als auch hinsichtlich der zum Beleg angeführten Bibelstellen.²⁴⁵ In dieser Formulierungs- und Belegvarianz durchziehen derartige Aussagen Luthers Werk von Anfang an.²⁴⁶ Allerdings haben wir gesehen, dass ²⁴¹ WA 6, 370,7–11. ²⁴² WA 6, 370,23–28. ²⁴³ Die Begriffsgeschichte dieser Wendungen gibt es bislang nicht. Sie ist hier nicht zu
leisten, weil das eine von vorneherein andere Anlage der Arbeit erfordert hätte. ²⁴⁴ Siehe oben bei Anm. 217 und 243. Einen Überblick bietet H L, Amt und Ordination bei Luther und Melanchthon, Göttingen 1962 (FKDG 11), bes. 40–43. ²⁴⁵ Vgl. dazu K P V, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums. Seine gemeindetheologische Aktualisierung in der Refomationszeit, Wuppertal / Zürich 1990, 62–69. NB: Im Sermon vom Neuen Testament kommt Luther auch ohne explizite biblischen Beleg aus! ²⁴⁶ Vgl. dazu mit weiteren Belegen und Hinweisen auf den traditionsgeschichtlichen Hintergrund V, Der Gedanke, 13–31.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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solche in einem Rekonstruktionsbegriff ‚Priestertum aller Gläubigen‘ zusammenfassbaren Äußerungen für Luther erst allmählich an amtstheoretischer Bedeutung gewinnen, und zwar in direkter Relation zu der zunehmenden Bedeutung des spiritualistischen Zuschnitts seines Kirchen- und Amtsverständnisses.²⁴⁷ Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ ist eben keine plötzliche Entdeckung, sondern ein Produkt der normativen Zentrierung des christlichen Gesamtlebens im Glauben und um den Glauben herum, welche Luthers gedankliche Entwicklung bislang konstant bestimmte. Die von der Adelsschrift an hervorgehobene Bedeutung des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ ändert an Luthers Amtsvorstellung insoweit viel, da Luther vom Sommer 1520 an öfter direkt über seine Amtsvorstellung Auskunft gibt und dabei deren institutionentheoretische Seite in seine Überlegungen mit einbezieht. Es ändert aber insoweit wenig, weil damit Luthers Nachdenken nicht zur Ruhe kommt. Wir können deshalb nicht verschiedene Aspekte zu einem dogmatischen Stillleben zusammenfügen. Wir bleiben vielmehr unserer bisherigen Perspektive mitsamt ihrem Fokus auf die institutionelle Dimension von Luthers Amtsverständnis treu, und verfolgen nun dessen Entwicklung von den ersten Entfaltungen des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ in den Jahren 1520 bis 1522 bis zu den Vorschlägen gemeindlicher Ordnungen, die Luther im Jahr 1523 für das kursächsische Leisnig und für das böhmische Prag entworfen hat. An ihnen werden wir zugleich sehen, wie diese Phase in der Entwicklung von Luthers Amtsverständnis zu einem Ende kommt. 2.1. Erste Entfaltungen bis 1522 Während Luther die Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des Christlichen standes besserung in Arbeit hatte, hat er im Sermon vom Neuen Testament einen jeden Gläubigen als ‚geistlichen Priester‘ bezeichnet. Das bezog sich darauf, dass der Priester mit seinen liturgisch-rituellen Handlungen keinerlei religiöse Leistung bewirkt, die nicht bereits durch den Glauben des Einzelnen bewerkstelligt wird. Inwiefern dieser Umstand Folgen für das institutionelle Verständnis des Priesters zeitigt, das er seit Anfang 1520 immer stär²⁴⁷ In diesem Sinn ist zu den bereits erwähnten Stellen noch eine aus den Operationes in Psalmos hinzuzufügen, die noch vor der Leipziger Disputation gedruckt vorlag, WA 5, 68,14– 13: „Illi tamen in veteri testamento rigidius fuerunt astricti oboedientiae pontificum quam nos Christiani: Siquidem tunc sub poena mortis debebant audire sacerdotem leviticum. At hodie, quando sumus omnes sacerdotes et illud Isaiae nun impletur liiij. ‚Dabo filios tuos universos doctos a domino‘ [Jes 54, 13]. … Et i. Corin. xiiij. Paulus manifeste praecipit, ut, si cui sendenti facta fuerit revelatio, prior debeat tacere [1. Kor 14, 30]. Ideo in novo testamento sic sunt audiendi superiores quincunque, ut liberum relinquatur cuique infimo de superioris sententia iudicare in iis, quae sunt fidei“. Zu dem problemgeschichtlichen Kontext dieser Stelle vgl. V-G, „dictum unius privati“.
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
ker unter den Aspekt der erziehenden Ordnung der Christen durch den Priester im corpus permixtum stellte, hat Luther dort aber nicht bedacht. Dieser Frage hat sich Luther auch nicht direkt genähert, obwohl er sie im publikationsstrategisch effektvollen Angriff auf die ‚drei Mauern‘ des Papsttums sogleich aufnimmt, mit dem er seine Adelsschrift eröffnet. Denn Luthers „wirkungsreichste[r] Einzeltext“, so Thomas Kaufmann,²⁴⁸ ist nicht aus einem Guss, wie jede Lektüre des Textes, dessen zwei Hauptteile aus der umfänglichen Darlegung von kirchlichen und weltlichen Reformvorschlägen bestehen,²⁴⁹ dem Leser vor Augen stellt. Denn einfach gefragt: Warum greift Luther nirgends auch nur mit einer Silbe in den gesamten späteren Vorschlägen auf seine eröffnenden Erörterungen zurück? Die Antwort auf diese Frage ist philologischer Natur, weil bekannt ist, dass die erste Manuskriptfassung der Adelsschrift vom Ende Juni bis zur Drucklegung Anfang August von Luther überarbeitet und erweitert wurde. Und bereits Otto Clemen hat in seiner Auswahlausgabe von Lutherschriften (zuerst 1912) gute Argumente vorgebracht, dass zu diesen Erweiterungen auch der gesamte Einleitungsteil gehört, sprich: der Angriff auf die Mauern des Papsttums.²⁵⁰ Problemgeschichtlich heißt das aber, dass die materialen Reformvorschläge Luthers eben nicht aus seinem Anfangsteil genetisch hergeleitet sind, sondern dessen programmatischer, ganz auf die Legitimation umfassender Kirchen- und Gesellschaftsreformen abgestellter Zuschnitt bereits auf die Reformvorschläge reagiert.²⁵¹ Das ist bei der von uns in den Blick gerückten Frage deutlich der Fall. In seinem 14. Reformvorschlag votiert Luther für die Freigabe der Priesterehe.²⁵² Als ob das nicht schon ein Vorschlag von einschneidender Bedeutung ²⁴⁸ T K, Geschichte der Reformation, Frankfurt / Leipzig 2009, 272. Vgl. zur Adelsschrift auch B M, Klerus und Antiklerikalismus in Luthers Schrift ‚An den Christlichen Adel deutscher Nation‘ von 1520 (1993), in: D., Luther-Rezeption, 108– 120. ²⁴⁹ Eine prägnante Übersicht bei K M, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit nach Luther, Tübingen 1910, 17–23. ²⁵⁰ O C (Hg.), Luthers Werke in Auswahl. Bd. 1: Schriften von 1517 bis 1520, Berlin 1959⁵, 362 f. Die Literatur zu diesem philologischen Problem verzeichnet, ohne allerdings daraus für die eigene Rekonstruktion Konsequenzen zu ziehen, umfassend C S, Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010 (BHTh 153), 203 Anm. 107. Zur Rekonstruktion der Adelsschrift insgesamt hilfreich ist W B, Das geistliche Amt bei Luther, Berlin 1959, bes. 34–47. ²⁵¹ Dass in den Darstellungen zur Adelsschrift der Begründungsweg fast immer nach der Druckfassung erfolgt, führt letztlich dazu, dass der Eröffnungsteil als der ‚eigentlich‘ relevante Teil, das materiale Reformvorhaben Luthers hingegen als ein im Wesentlichen zu ignorierender Annex erscheint; so symptomatisch in dem nicht zuletzt zur erläuternden Einführung gedachten Artikel von J W, 2. Programmschriften, in: A B (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 265–277, hier: 266 f. Zum reformmotivierenden Zuschnitt der Adelsschrift kurz und prägnant K, Geschichte der Reformation, 271 f. ²⁵² Dazu mit Literatur S, Luther und das Konzil, 195–200.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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wäre, fügt er in diesen Kontext ganz nebenbei einige grundsätzliche Bemerkungen zum kirchlichen Amt und zur Bestellung des parochialen Pfarramts ein. Unter Verweis auf Tit 1, 5 hebt Luther zunächst hervor, dass nach „Christus und der Apostel einsetzenn ein ygliche stadt einen pfarrer odder Bischoff sol haben“. Für diesen ist aber nach Tit 1, 6 nicht Ehelosigkeit sondern in Verbindung mit 1. Tim 3, 2 allein gefordert, dass er „untrefflich sey, unnd nur eynis ehlichen weybs gemalh, wilchs kindere gehorsam unnd zuchtig sein &c.“.²⁵³ Ganz so, wie er es bereits in seiner Resolution über die Papstgewalt angedeutet hatte, ist für Luther damit das Ansehen vor den Menschen, die dignitas, das entscheidende Kriterium, damit eine Person ein kirchliches Amt bekleiden kann.²⁵⁴ Und Luther lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, diese Vorstellung sowie die Gleichsetzung von ‚Pfarrer‘ und ‚Bischof‘ durch den Hinweis zu stützen, dass seine Position auch in der Tradition Anhalt hat: „Den ein Bischoff und pfar ist ein ding bey sanct Paul, wie das auch sanct Hieronymus beweret. Aber die Bischoff die itzt sein, weysz die schrifft nichts vonn, szondern sein vonn Christlicher gemeyn ordnung gesetzt, das einer ubir viel pfarr’ regiere“.²⁵⁵
Der Episkopat ist, wie die gesamte kirchliche Hierarchie, ein Produkt historisch gewordener Kirchenordnungen; eine Vorstellung, die dem kanonischen Recht und der katholischen Tradition durchaus bekannt ist.²⁵⁶ Die eigentlich schwierige Gedankenwendung folgt aber auf dem Fuß, wenn Luther fortfährt: „Also lerenn wir ausz dem Apostel klerlich, das in der Christenheit solt also zugahenn, das einn ygliche stadt ausz der gemeynn eynen gelereten frummen burger erwellet, dem selbenn das pfar ampt befilhe … den hauffen und gemeyn … [zu] regieren mit predigen und sacramenten“.²⁵⁷
Mit dieser knappen Bemerkung führt Luther gleich drei neue Aspekte ein: Einmal differenziert er nun zwischen Pfarrperson und Pfarramt und zwar so, dass sich die Einsetzung durch Christus und die Apostel nurmehr auf Letzteres bezieht.²⁵⁸ Sodann führt Luther die Besetzung des Pfarramts ausschließlich auf die direkte Gemeindewahl zurück. Und vor allem will er, schließlich, das Pfarramt durch einen frommen Bürger versehen wissen. So kurz und nebenbei das alles formuliert ist: In diesen Sachverhalten zeichnen sich die Eckpfeiler eines neuen, wenn auch auf die Entwicklung der letzten Monate (gerade hinsichtlich WA 6, 440,21–26. Siehe oben bei Anm. 167. WA 6, 440,26–29. Vgl. 1. Kapitel bei Anm. 22. In diesem Sinn kann Luther etwas später nicht nur polemisch meinen, er kümmere sich nicht um „Bapst, Bischoff, stifft pfaffen unnd munch, die got nit eingesetzt hat“ (WA 6, 441,22–23). ²⁵⁷ WA 6, 440,31–33. ²⁵⁸ Vgl. WA 6, 441, 24–25: „Ich wil reden von dem pfarr stand, den got eingesetzt hat, der ein gemeyn mit predigen und sacramenten regierenn musz“. ²⁵³ ²⁵⁴ ²⁵⁵ ²⁵⁶
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
der Funktion des Pfarrers) zurückverweisenden Gesellschafts- und Gemeindeideals ab, welches das System kirchlicher Katholizität endgültig hinter sich lässt. Eine sich auf Christi Geheiß selbst kirchlich ordnende Bürgergemeinde ist in diesem System einfach nicht vorgesehen. Allerdings wirft dieses umrisshafte Gemeindeideal auch für Luthers bisherige Vorstellung des ‚kirchlichen Amts‘ ein zentrale Schwierigkeit auf: Denn faktisch wird von ihm hier der bislang mit dem ‚kirchlichen Amt‘ verbundene Gedanke negiert, dass die Position der kirchlich institutionalisierten Autorität auf einer unmittelbaren vocatio des Amtsträgers aufruht bzw. sich mit der äußeren Position zumindest cum grano salis eine positive Vermutung in diese Richtung verbindet. Und diese Umstellung in seiner Ansicht vom ‚kirchlichen Amt‘ zieht nun als Probleme nach sich, dass Luther irgendwie Rechenschaft darüber ablegen muss, woher die Gemeinde, erstens, das Anrecht zur Besetzung des von Christus und den Apostel gebotenen und eingesetzten Amtes bezieht, und warum er, zweitens, einem jeden ‚frommen und gelehrten Bürger‘ die Möglichkeit zugesteht, dieses Amt zu versehen. Sowohl in der nachträglich in die Adelsschrift eingefügten Eingangspassage wie auch in der unmittelbar daran anschließenden, zeitgleich mit der Drucküberarbeitung der Adelsschrift begonnenen Abhandlung De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (gedruckt: Anfang Oktober 1520) geht Luther diese beiden Probleme an. Die für uns entscheidenden Gedankengänge aus Luthers Angriff auf das ‚dreifach vermauerte Rom‘²⁵⁹ finden sich gleich zu Beginn, und zwar in Luthers Ausführungen über den in seiner Optik rechten Sinn der bischöflichen Priesterweihe²⁶⁰ sowie in den Ausführungen über die strukturelle Identität von kirchlichem Amt und weltlichem Amt.²⁶¹ Ihr polemischer Kontext ist bekannt: Luther attackiert zur Eröffnung die Auffassung einer Differenz zwischem geistlichem und weltlichem Stand als eines generischen Unterschieds zwischen Christen.²⁶² Dies geschieht in Aufnahme der im Grunde seit der Römerbriefvorlesung für ihn selbstverständlichen Vorstellung, dass ein jeder Gläubige im Glauben ein Glied eines in religiöser Hinsicht gleichwertigen christlichen Gesamtkörpers ist, wobei dieser Körper in äußere Werke, Ämter und Stände differenziert wird.²⁶³ Allerdings bewertet Luther diese Ausdifferenzierung – und ²⁵⁹ So der Titel des überblickartig gehaltenen Aufsatzes zur Eingangspassage der Adelsschrift von A B, Dreifach vermauertes Rom, Ref. 42 (1993), 12–18. ²⁶⁰ WA 6, 407,29–408,7. ²⁶¹ WA 6, 408,8–25. ²⁶² Luthers gesamter erster Angriff zielt auf die Rechtsnorm Duo sunt genera, vgl. 1. Kapitel Anm. 5, weil diese die Privilegien der rechlichen Exemption der Kleriker begründet. Zum historischen Hintergrund und Kontext vgl. B M, Kleriker als Bürger (1972), in: D., Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze. Hg. von Johannes Schilling, Göttingen 1991, 35–52. ²⁶³ WA 6, 407,13–19.
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das ist ein Reflex auf seinen 14. Reformvorschlag – nun nicht als Ausdruck der gottgegebenen inneren Dispositionen der einzelnen Gläubigen, sondern rückt sie ganz und gar in die Sphäre äußerlicher funktional-zeremonieller Gestaltungen ein. Diesen Gestaltungen gegenüber erfährt die innere religiöse Egalität des „wahrhafftig geistlichs stands“²⁶⁴ eine normative Aufwertung, weil sie für jedwede empirisch vorhandene und gar nicht wegzudiskutierende funktional-zeremonielle Differenzbestimmung als Voraussetzung anzusehen ist. Wenn Luther in diesen Zusammenhang einfügt: „Dem nach szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet, wie sanct Peter i. Pet. ij. sagt ‚yhr seit ein kuniglich priesterthum, und ein priesterlich kunigreych‘ [1. Petr 2, 9] und Apoc. ‚Du hast uns gemacht durch dein blut zu priestern und konigen‘ [Offb 5, 10]“,²⁶⁵ dann unterstreicht Luther damit zunächst bloß, dass dies auch für die Zugehörigkeit zum äußeren ‚geistlichen Stand‘ gilt. Gleichwohl verdichtet Luther die normative Voraussetzung sogleich zu einer der traditionellen Weihe äquivalenten Größe, wenn er anfügt: „dan wo nit eyn hoher weyhen in uns were, den Bapst odder Bischoff gibt, szo wurd nymmer mehr durch Bapsts und Bischoff weyhen ein priester gemacht, mocht auch noch mesz halten, noch predigen, noch absolvieren“.²⁶⁶ Unübersehbar setzt Luther damit die im 14. Reformvorschlag vorgelegte Möglichkeit, dass ein frommer und gelehrter Bürger ein potentieller Pfarrer ist, dogmatisch; eine nähere Erläuterung folgt nirgends. Und das ist auch bei der nun wiederholt vorgetragenen These der Fall, dass alle Gläubigen ‚gleiche Gewalt‘ haben.²⁶⁷ Inwiefern diese Setzung zur Klärung der beiden amtstheoretischen Probleme des 14. Reformvorschlags beiträgt, machen wir uns am Besten in einer Analyse der für uns einschlägigen Erörterungen Luthers klar: Den eigentlichen Sinn des Weiheritus charakterisiert Luther in sichtlicher Anlehnung an die kirchenrechtlich einschlägige Erteilung der bischöflichen licentia bzw. executio potestatis: „Drumb ist des Bischoffs weyhen nit anders, den als wen er an stat und person der gantzen samlung eynen aus dem hauffen nehme, die alle gleich gewalt haben, und yhm befilh, die selben gewalt fur die andern aufzturichten“.²⁶⁸ Das ‚Amt‘ ist hier definiert als eine gesamtgemeindliche Repräsentation, die mit der Ausübung der je den Gläubigen gegebenen Gewalt verbunden ist. Die ‚Gewaltengleichheit‘ bezeichnet also die Möglichkeit jedes Gläubigen, durch Erteilung der licentia (den Befehl des Bischofs) die gesamtgemeindliche Repräsentation und die damit verbundene Ausübung der Gewalt zu übernehmen. Gleichwohl scheint Luther mit der licentia offensichtWA 6, 407,13 f. WA 6, 407, 22–25. WA 6, 407,25–28. Vgl. WA 6, 407,30–31; 408,15. Vgl. auch die Beobachtung von V, Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums, 52. ²⁶⁸ WA 6, 407,29–31. Vgl. hierzu 1. Kapitel 1.2. ²⁶⁴ ²⁶⁵ ²⁶⁶ ²⁶⁷
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lich kein auf eine bestimmte Gemeinde bezogenes Repräsentations- und Ausübungsrecht zu meinen, wie etwa das Dekret Gratians das Ideal der Weihe als relative Ordination in ein parochiales Pfarramt ansah.²⁶⁹ Denn der von Luther angeschlossene, als Erläuterung intendierte institutionelle Ausnahmefall tritt erst dann in Kraft, wenn „ein heufflin fromer Christen leyen wurden gefangen unnd in ein wusteney gesetzt, die nit bey sich hetten einen geweyheten priester von einem Bischoff“.²⁷⁰ Das kann aber nur heißen, dass Repräsentation und executio potestatis bleibend durch den Befehl des Bischofs zu der ‚Gewalt‘ eines jeden Gläubigen hinzukommen. Wenn Luther seinen Ausnahmefall darauf weiterführt: „unnd wurden alda der sachen eynisz, erwelten eynen unter yhn, er were ehlich odder nit, und befilhen ym das ampt zu teuffen, mesz halten, absolvieren und predigen, der wer wahrhafftig ein priester, als ob yhn alle Bischoffe unnd Bepste hetten geweyhet“,²⁷¹ so hat das mit der zuerst geschilderten Gewaltengleichheit aller Gläubigen nichts zu tun. Denn einmal besteht die ja darin, die Gewalt zur stellvertetenden Ausübung aber nicht die Gewalt über die Ausübung zu haben. Insofern legt Luthers Beispiel die ganz anders gelagerte These vor, dass der Konsens der Gläubigen unter bestimmten Bedingungen die licentia des Bischofs vollwertig zu ersetzen in der Lage ist. Und sodann zeigt die daran wieder als Erläuterung angeschlossene Bemerkung, da „in der not ein yglicher teuffen und absolvieren kan, was nit muglich were, wen wir nit alle priester weren“,²⁷² dass Luther offenbar ‚mesz halten‘ und ‚predigen‘ nicht zu dem Gewaltenkomplex zählt, der die Gleichgewalt der Gläubigen auszeichnet. Denn die Nottaufe²⁷³ durch einen ‚Laien‘ ist ohnehin unproblematisch und Luther hat die Notabsolution bereits in seinem Sermon vom Sakrament der Buße für ganz selbstverständlich genommen. Das legt den Schluss nahe, dass Luther hier Messe und Predigt als spezifische institutionelle Amtsgewalten mit dem Repräsentationsverhältnis ebenso eng verbunden sieht wie die executio potestatis. Daher muss die durch Befehl erteilte Amtsgewalt von der Priestergewalt eines jeden Gläubigen in doppelter Weise unterschieden werden: Die jedem Gläubige eigene priesterliche Gewalt ist eine bloße und institutionell unspezifische Anlage zur Amtsführung, die sich erst (a) durch Ausübungserteilung in einem (b) institutionell bereits vorgegebenen, mit eigener und spezifischer Gewalt ausgezeichneten Kompetenzbereich verwirklicht.²⁷⁴ Wie man das nun 1. Kapitel bei Anm. 42. WA 6, 407,34–36. Hervorhebung von mir, CV. WA 6, 407,36–408,1. Hier spielt Luther auf die Operationes an, vgl. oben bei Anm. 196. WA 6, 408,1–2. Vgl. 1. Kapitel bei Anm. 52 und in Anm. 53. Dass Luther hier die Nottaufe an den Glauben des Taufenden bindet, ist übrigens nach katholischem Kirchenrecht einfach falsch, vgl. unten Anm. 300. ²⁷⁴ Vgl. auch WA 6, 409,3. ²⁶⁹ ²⁷⁰ ²⁷¹ ²⁷² ²⁷³
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dreht und wendet: Die These von der ‚priesterlichen Gewaltengleichheit‘ aller Gläubigen hat zu der Aussage gar keinen systematischen Bezug, mit der Luther seine Überlegung zur Weihe beschließt: „Auff diese weysze erweleten vortzeyten die Christen ausz dem hauffen yhre Bischoff und priester, die darnach von andern Bischoffen wurden befestiget on alles prangen, das itzt regirt, Szo wart sanct Augustin, Ambrosius, Cyprianus Bischoff“.²⁷⁵ Nicht minder uneindeutig fällt Luthers daran anschließende, die Analogie zum ‚weltlichen Amt‘ herausstreichende Gedankenreihe aus. Zunächst hebt Luther an der ‚Gewaltengleichheit‘ der Gläubigen noch einmal hervor, dass sie die stellvertretende Gewaltausübung nicht für sich genommen umgreift; „ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu uben“ ist keine sozialmoralische, sondern eine rechtliche, auf die licentia verweisende Formulierung.²⁷⁶ Daraus folgert Luther: „Dan weyl wir alle gleich priester sein, musz sich niemant selb erfur thun und sich unterwinden, an [scil. ohne] unszer bewilligen und erwelen das zuthun, des wir alle gleich gewalt haben“.²⁷⁷ Die negative Wendung dieses Satzes ist von Bedeutung, weil damit die Schrankenfunktion der Willkür der anderen Gläubigen zum Ausdruck gebracht wird. Von einer positiven Konstitution der Ausübung der Gewalt durch den Konsens der anderen Gläubigen kann aber gar keine Rede sein. Denn dazu müsste entweder die executio potestatis zur Gewalt des Gläubigen gehören, was Luther schon vorher ausgeschlossen hat, oder ein individueller Anspruch auf stellvertetende Ausübung der Gewalt bestehen, was Luther in diesem Satz ausschließt. Insofern ist hier allein die vorher in den institutionellen Ausnahmefall geschobene Wahl eines Amtsinhabers zum institutionellen, die bischöfliche licentia gleichsam ergänzenden Regelfall erhoben worden, und zwar in traditionell durchaus bekannter Manier als Einspruchsrecht der Gemeinde gegen eine Pfarrstellenbesetzung.²⁷⁸ Dazu bedarf es zur Begründung indes keiner priesterlichen Gewaltengleichheit der Gläubigen, weil das ein rein jurisdiktionelles Problem ist.²⁷⁹ Und Luthers gleich anschließende Überlegung: „Den was gemeyne ist, mag niemandt on der gemeyne willen und befehle an sich nehmen“,²⁸⁰ erhebt zwar den Einfluss der Gemeinde zum konstitutiven Faktor, wechselt aber die argumentative Ebene. Die hiermit aufgenommene naturrechtliche Verfahrensmaxime ‚Quod omnes WA 6, 408,4–7. WA 6, 408,11–13. Darauf hat aufmerksam gemacht S, Das kirchliche Amt, 89 f. WA 6, 408,13–15. Bereits in seiner Resolution über die Papstgewalt hat Luther die Gemeindebeteiligung bei einer Pfarramtsbesetzung unter Berufung auf Cyprian hervorgehoben: WA 2, 231,2–35. Ebenso hätte er sich auf die Normen des Dekret Gratians berufen können. Vgl. zur mittelalterlichen Tradition der Pfarrwahl auch D K, Pfarrwahlen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Gemeinde des Niederkirchenwesens, Köln / Graz 1966 (FKRG 6), bes. 522–524. ²⁷⁹ Vgl. dazu die Bestimmung von Thomas von Aquin 1. Kapitel bei Anm. 101. ²⁸⁰ WA 6, 408,15–17. ²⁷⁵ ²⁷⁶ ²⁷⁷ ²⁷⁸
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tangit ab omnibus approbari debet‘²⁸¹ geht nämlich von einem kollektiven Anspruch auf eine alle betreffende Größe aus (‚was gemeyne ist‘), womit in Luthers Argumenationskontext allein das ‚Amt‘ und zwar hier besonders als gesamtgemeindliche Repräsentation gemeint sein kann. Nur impliziert der kollektive Anspruch auf das ‚Amt‘ nicht automatisch, dass ein jeder in der Lage sein muss, diesen Anspruch zu erfüllen. Die Begründung für den kollektiven Anspruch auf die Versorgung durch ein ‚kirchliches Amt‘ bleibt also der Vorstellung der priesterlichen Gewalt des Gläubigen äußerlich. Oder zugespitzt formuliert: Die These von der priesterlichen Gleichgewalt der Gläubigen begründet in dem hier betrachteten Kontext eigentlich gar nichts. Das passt ebenso fugenlos zu der vorigen doppelten Unterscheidung von gläubig-priesterlicher und institutionell-pfarramtlicher Gewalt wie zum 14. Reformvorschlag: Ist nämlich die Versorgung einer jeden Stadt bzw. Gemeinde mit einem Amt durch Einsetzung Christi bzw. der Apostel normativ vorgegeben und institutionell gesetzt, so ist der Anspruch einer Stadt bzw. Gemeinde auf Erfüllung dieser Vorgabe begründet. Dies angenommen, ist dem Kollektiv auf die Vorgabenerfüllung sowohl ein delegierender sowie devolvierender Einfluss gegeben, etwa durch Wahl des Amtsinhaber oder dessen Abwahl bei Amtsmissbrauch. Dabei ist aber zu beachten: Diese Delegation ist eine rein jurisdiktionelle, da es überhaupt nicht sinnvoll wäre, von einer irgendwie inhaltlich qualifizierten Gewaltendelegation zu reden, weil es sich bei der Gleichgewalt der Gläubigen eben bloß um eine unspezifische Anlage zur Amtsführung handelt. Natürlich verdrängt der letzte von Luther geäußerte Gedanke des konstitutiven Einflusses des Gemeindewillens auf die Amtsbesetzung die zuerst geschilderte bischöfliche licentia und die darauf hervorgehobene bloß negative Schrankenfunktion des Gemeindewillens. Doch erst, wenn man man diesen letzten Gedanken mit der von Luther dogmatisch und thetisch gesetzten Möglichkeit eines jeden Gläubigen paart, diesen Gewaltenkomplex verwalten zu können, dann ist Luthers abschließende Bemerkung durchaus nachvollziehbar: „Und wo es geschehe, das yemandt erwelet zu solchem ampt und durch seinen miszbrauch wurd abgesetzt, szo were ehr gleich wie vorhyn. Drumb solt ein priester stand nit anders sein in der Christenheit, dan als ein amptman: weil er am ampt ist, geht er vohr, wo ehr abgesetzt, ist ehr ein bawr odder burger wie die andern“.²⁸²
Bereits Heinrich Hermelink hat auf die eigenartig additive Zusammenführung unterschiedlicher Vorstellungskreise in Luthers Adelsschrift hingewiesen. Doch Hermelink fiel zur Erklärung dieses Umstandes bloß ein, auf Luthers ‚Ockhamismus‘ zu verweisen.²⁸³ Indes liegt der Grund für die Verwicklungen ²⁸¹ Vgl. 1. Kapitel Anm. 166. ²⁸² WA 6, 408,17–21. ²⁸³ H H, Zu Luthers Gedanken über die Idealgemeinden und von der
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von Luthers Gedankengang allein in seiner Auffassung der ‚priesterlichen Gewalt‘ der Gläubigen als institutionell unspezifischer Anlage zur pfarramtlichen Gewaltenausübung, wie wir uns unter Rekurs auf unsere Darstellung von Johannes Gerson klar machen können: Dessen korporations-, ansatzweise genossenschaftsrechtliche Amtstheorie setzte zwingend voraus, dass alle ordo-Träger sowohl prinzipiell alle potestates positiv ihr eigen nennen können und dass dieser Komplex der potestates die executio potestatis umfasst. Erst auf dieser Grundlage war es für Gerson denkbar – und das war die Pointe –, dass im Zug der Institutionalisierung des differenzierten kirchlichen Gesamtkörpers sich diese potestates als iura geltend machen können, d. h. als subjektive und vorpositive Rechte, die die Keimzelle aller institutionellen Konsensverfahren bilden.²⁸⁴ Luther geht nun aber in der Adelsschrift gerade nicht von einem starken, sondern institutionell durch und durch gehemmten Begriff der ‚priesterlichen Gewalt aller Gläubigen‘ aus, was sich auch in seinen Ausführungen zur zweiten und dritten Mauer nicht ändert.²⁸⁵ Daher verbinden sich die im weltlichen Obrigkeit, ZKG 29 (1908), 267–322, hier: 284. Vgl. zum Verhältnis von Luther und Ockham in einleuchtender und knapper Übersicht R S, Die religiösen Grundgedanken des jungen Luther und ihr Verhältnis zu dem Ockamismus und der deutschen Mystik, Leipzig 1931 (GSLF 6). ²⁸⁴ Vgl. dazu vor allem 1. Kapitel 3.3. ²⁸⁵ Im Angriff auf die zweite Mauer bestreitet Luther die päpstliche Schriftauslegungsautorität (WA 6, 406,26–28). Es dürfte nach unserer bisherigen Betrachtung kaum überraschen, dass Luther hierfür die Geistbegabung eines jeden Christen nach 1. Kor 14, 30 und Joh 6, 45 anführt (WA 6, 411,21–26). Ergänzend greift Luther dabei auf das bereits gegen Alveldt verwendete Argument über die Schlüsselgewalt zurück, da diese „der gantzen gemein geben seint. Dartzu die schlussel nit auff die lare odder regiment, szondern allein auff die sunde zupinden odder losen geordnet sein“ (WA 6, 412,1–3). Und erst jetzt, nachdem der Behauptung einer päpstlichen Schriftauslegungsautorität nach Mt 16, 18 f. ihre biblische Fundierung bereits entzogen wurde, kommt Luther auf das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ zu sprechen: „Ubir das, szo sein wir yhe alle priester, … alle einen glauben, ein Evangely, einerley sacrament haben, wie solten wir den nit auch haben macht, zuschmecken und urteylen, was do recht odder unrecht ym glauben were?“ (WA 6, 412,20–23). Natürlich erscheint hier die Lehrbeurteilungsvollmacht des Christen eine Folge des Umstandes zu sein, dass ‚wir alle Priester‘ sind. Doch mehr als eine Art neuer Überschrift für einen Sachverhalt, den Luther auch gänzlich ohne Rekurs auf das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ formulieren konnte, ist das nicht. Das zeigen auch die gleich darauf von Luther angeführten biblischen Belegstellen, unter anderem nämlich 1. Kor 2, 15 – wie erinnerlich bereits der Beleg in den Dictata für den homo spiritualis – und natürlich wieder einmal der Streit zwischen Paulus und Petrus nach Gal 2, 11 ff. (WA 6, 412,23–38). Nur der Ton ist schärfer geworden, weil Luther aus dem Geistbesitz des Gläubigen hier die Unterwerfung der kirchlichen Vorgesetzten unter das rechte Schriftverständnis fordert, sollten diese „yhrem eygen vorstand“ folgen (WA 6, 412,29–31). Gleichwohl: Die Lehrbeurteilung durch die Gläubigen heißt nicht, dass sie auch positiv lehren könnten! Überinterpretiert ist der Verweis auf 1. Kor 14, 30 bei K, Ordination in Wittenberg, 22 f. Denn hier ist (noch) nicht die Ablösung eines falschen Predigers durch den Geistbevollmächtigen im Blick. Die Bibelstelle steht schlicht für die Beurteilungskompetenz des Gläubigen, wie bereits 1518 (s. o. nach Anm. 112); zur begrifflichen Verwendung von Bibelstellen bei Luther vgl. U B, Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia
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14. Reformvorschlag aufgebrochenen beiden amtstheoretischen Probleme, das der Pfarrstellenbesetzung durch die Gemeinde einerseits und das der Möglichkeit eines jeden Bürger zur Pfarramtsversehung andererseits, nicht. Freilich ist diese institutionelle Hemmung der ‚priesterlichen Gewalt‘ der Gläubigen eine direkte Folge der Verinnerlichungsdynamik der religiösen Dimension der äußerlich institutionalisierten kirchlichen Autorität. Auch das können wir uns mit dem Blick auf Gerson verdeutlichen, da seine korporations- und genossenschaftstheoretischen Überlegungen strikt davon ausgingen, dass die kirchliche Institution die objektive Heilstatsache ist, die sich letztlich im ordo personificrucis (1997), in: D., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 97–123. Die dritte Mauer bildet der Anspruch des Papstes auf alleiniges Recht zur Einberufung eines Konzils (WA 6, 406,28–29). Diesem Anspruch stellt Luther entgegen, dass die Bestrafung eines irrenden Papstes einmal das Recht und die Pflicht eines jeden Christen ist analog dem Recht und der Pflicht eines jeden Gemeindeglieds zur Ausübung der Kirchenzucht an einem sich verfehlenden Mitchristen oder Pfarrer (nach Mt 18, 15 f., vgl. WA 6, 413,2–11). Aus diesem Sachverhalt folgert Luther sodann das prinzipielle Recht eines jeden Christen im Fall der Not, d. h. wenn der Papst aktual irrt, auf die Einberufung eines allgemeinen Konzils als Mittel dieser Kirchenzucht hinzuwirken (WA 6, 413,27–29), wobei er letztlich der weltlichen Obrigkeit aufgrund ihres ordnungspolitischen Gewaltmonopols hierfür ein besonderes Durchführungsrecht zuspricht (WA 6, 413,29–30). Sachlich schließen diese Ausführungen unmittelbar an Luthers Sermon von den guten Werken an, in dem Luther ja bereits die Prärogative der Obrigkeit als gesellschaftlicher Reforminstanz betonte, falls die unter den Christen noch möglichen Zurechtweisungs- und Widerstandsmaßnahmen auch gegen die kirchlich Vorgesetzten – allerdings hier nicht unter Verweis auf die Kirchenzucht – ins Leere laufen sollten (WA 6, 257,23–258,31; vgl. E, Peace, Order and the Glory of God, bes. 11 und auch S, Luther und das Konzil, 207 f.). Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ hat in dieser abgeschatteten Argumentation keine tragende Funktion. Für die Kirchenzuchtsbegründung nach Mt 18, 15 f. kann es keine haben, weil diese Stelle von Luther ja explizit als allgemeine Christenpflicht und nicht als aus dem ‚Priestertum aller Gläubigen‘ erwachsende Pflicht gekennzeichnet wird; wie eben im biblischen Zeugnis selbst. Und für die daraus folgenden Konsequenzen muss das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ auch nicht vorausgesetzt werden, die grundstürzenden Wirkungen dieser Überlegungen auf die katholischerseits kursierenden Notrechtsbegründungen zur Einberufung eines Konzils durch ‚Laien‘ unbeschadet. Dass diese hier auf ein ganz neues Fundament gestellt werden, ist nämlich nicht zu übersehen: Deren schlechterdings zentrales Begründungselement – vgl. im 1. Kapitel unsere Ausführungen zu Johannes Gerson – war ja nicht die allgemeine Christenpflicht zur Kirchenzucht sondern die ‚Restkirchenlehre‘. Warum Luther nicht einfacher auf eine solche übliche Begründung zurückgreift und auf die ‚Restkirchenlehre‘ übrigens auch im Kontext der 1. Mauer überhaupt nicht anspielt, liegt an der ekklesiologischen Prämisse des gesamten vielgestaltigen spätmittelalterlichen ‚Konziliarismus‘: Zielt dieser letztlich doch immer darauf ab, durch den helfenden temporären Eingriff in die Kirchenverfassungsstrukturen die Papstkirche als für den Laien schlechterdings autoritative Lehr- und Gnadenanstalt mitsamt ihrer angestammten Vollmacht und Hierarchie wieder aufzubauen. Doch das lag noch nie in Luthers Absicht und liegt es hier auch nicht. Folgerichtig führt Luther das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ im Zusammenhang der dritten Mauer explizit nur als ergänzende Verstärkung an, wenn er den politischen Obrigkeiten beilegt: „so sie nu auch mitchristen seyn, mitpriester, mitgeystlich, mitmechtig in allen dingen“ (WA 6, 413,30– 31). Eine neue Begründung oder einen für Luthers Überlegungen tragenden neuen Sachverhalt formuliert diese Bemerkung nicht, auch wenn sie ihren rhetorischen Effekt kaum verfehlt haben dürfte.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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ziert. Dieser im Kern realistische Repräsentationsgedanke ist für Luther allerdings nicht denkbar, weil es ohne die individuelle Deutungsleistung des Glaubens des Einzelnen keine institutionelle Repräsentation in religiöser Hinsicht geben kann, womit die Hinfälligkeit des objektivistisch substantialisierten ordo-Gedanken der katholischen Tradition gleich mitgegeben ist.²⁸⁶ Doch es ist dieser Hiatus zwischen religiösem Subjekt und kirchlicher Institution, den selbst die stete Wiederholung der These, dass ‚wir alle gleiche Gewalt‘ haben, nicht zu überbrücken vermag. Die gedankliche Wendung, welche den Weg zur Überwindung der am Begriff der ‚priesterlichen Gewalt‘ der Gläubigen sich fest machenden Aporie weist, tritt Luther schon in seinem Traktat De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium vor Augen. Nachgerade simplerweise besteht der Ausweg darin, dem Begriff der ‚priesterlichen Gewalt‘ aller Gläubigen seine in der Adelsschrift insinuierte Begründungsfunktion zu entziehen und auf eine Einbettung seines Gemeindeideals in einen korporations- und genossenschaftstheoretischen Rahmen zu verzichten. Der Anlass für diesen abermaligen Neueinsatz in seinem Gemeinde- und daran anknüpfenden Amtsverständnis ist der Ausrichtung der Schrift De captivitate geschuldet. Denn anders als die Adelsschrift, die als öffentlicher Aufruf zur Reform sich unübersehbar an die üblichen juristischen Verwaltungsmodelle und Vorstellungskreise anschmiegt, betritt Luther in seiner kritischen Abrechung mit dem katholischen Sakramentsverständnis erheblich vertrauteres Terrain.²⁸⁷ Konstitutiv für Luthers Neueinsatz ist allerdings sein Verständnis des Begriffs ministerium, dessen traditionelle Kopplung an den Begriff der potestas er rundweg negiert, „cum Christus nihil de potestate sed de fide omnia agat“.²⁸⁸ Damit geht zunächst eine Veränderung des Stiftungsgedankens des ‚Amtes‘ einher. Dass Christus „ministeria in Ecclesia sua constituit“, steht für Luther kontinuierlich fest.²⁸⁹ Gleichwohl bezieht er diese Stiftung nicht mehr auf bestimmte Personen resp. deren innere Dispositionen noch auf bestimmte institutionalisierte Positionen. Als Quelle der ministeria stellt Luther vielmehr die Verheißungsworte Christi heraus, welche die Einsetzung der Taufe (Mk 16, 16), der Buße (Mt 16, 19) und des Abendmahls (1. Kor 11, 24 f.) begleiten.²⁹⁰ Alle diese ²⁸⁶ An diesem Moment würde auch jeder Versuch scheitern, Luther als Verwirklicher der von Gerson perhorreszierten Position anzusehen, dass im Notfall ‚alle Priester wären‘, 1. Kapitel bei Anm. 140. ²⁸⁷ Vgl. auch B, Christus – König und Priester, 121–124. Nicht überzeugend ist B, Das geistliche Amt, 47–60, der De Captivitate als Ergänzung zur Adelschrift liest und deutet. ²⁸⁸ WA 6, 543,26–27. ²⁸⁹ WA 6, 543,28–29. ²⁹⁰ Konzentriert findet sich dieser gesamte Gedankengang in WA 6, 543,31–544,13.
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Verheißungsworte sind (hinzu kommt noch das Wort Christi über die Lehre nach Joh 21, 15 ff.²⁹¹) für jeden Christen Aufträge, wofür Luther auf 1. Kor 4, 1 verweist: „Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse“.²⁹² Nicht anders als in den Operationes ist es das Ziel, dass Christen durch die Wahrnehmung der von Christus gestifteten ministeria ihresgleichen heranbilden, indem sie wie einst Christus durch die Verkündigung der Verheißungsworte den Glauben der Menschen provozieren.²⁹³ Dass Luther damit sein früheres Verständnis der declaratio nach Mt 16, 19 aufnimmt, ist genauso offensichtlich, wie dessen ruinöse Konsequenzen für das traditionelle potestas-Verständnis. Dies macht freilich auch die Rede von einer allen Gläubigen eigenen potestas völlig funktionslos, weil sie für die äußerliche zeremoniell-sakramentale Handlung bzw. für die Rede eben keinerlei Bedeutung hat. Gleichwohl ist trotz des an alle Christen ergehenden Auftrags zur Wahrnehmung der ministeria in der Kirche nicht jedem Christen zugleich die Berechtigung erteilt, die ministeria auszuüben. Es ist eine entscheidende Pointe von De captivitate gegenüber der Adelsschrift, wie Luther dies begründet. Seine basale Idee tritt in einer auffälligen argumentativen Parallele zwischen seinen Ausführungen über die Privatbeichte und denen über das institutionalisierte ministerium plastisch heraus. Die noch in der Adelsschrift als Ausnahme- und Notfallregelung gekennzeichnete Beichte eines Gläubigen vor einem gläubigen ‚Laien‘ und die durch diesen erteilte Absolution wird von Luther in De captivitate zum Normalfall erhoben, obwohl er nachdrücklich hervorhebt, dass diese kirchliche Praxis keinen Anhalt in der Schrift hat.²⁹⁴ Allerdings bezieht sich dieser Normalfall nur auf die Beichte der ‚heimlichen Sünden‘: „ego non dubito, eum esse a peccatis suis occultis absolutum, quisquis sive sponte confessus sive correptus veniam petierit et emandaverit coram quovis privatim fratre“.²⁹⁵ In der Begründung für diese private Beichte der heimlichen Sünden führt Luther seine Überlegung aus dem Sermon vom Sakrament der Buße und den Operationes zusammen, allerdings mit einer wichtigen Veränderung: Es ist nämlich für Luther hier unerheblich, dass der Gläubige im Glauben die Schlüsselgewalt beigelegt bekommt, weil er unter Hinweis auf Mt 18, 18 allein auf die Verkündigung der Sündenvergebung abhebt.²⁹⁶ Doch die dergestalt durch Christus ergehende Ermächtigung bildet nur ein Moment. Denn dazu muss noch das Verlangen des im Gewissen geplagten Sünders „verbum Christi, ex ore ²⁹¹ Die Anspielung in WA 6, 564,23–24. ²⁹² WA 6, 543,29–30. ²⁹³ So im gesamten Passus WA 6, 543,31–544,13: „fidem provocavit baptisandorum“, „fi-
dem provocat poenitentis“, „fidem provocat manducantium“. ²⁹⁴ WA 6, 546,11–13. ²⁹⁵ WA 6, 547,17–19. ²⁹⁶ WA 6, 547,7–10.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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proximi“²⁹⁷ zu hören, hinzutreten, was in dem in der Beichtsituation sich bezeugenden freiwilligen (sponte) Konsens unter den Gläubigen seinen Ausdruck findet (nach Mt 18, 19–20).²⁹⁸ Ist diese Trias von Ermächtigung des Beichtigers durch Christus, Verlangen des Beichtenden nach Sündenvergebung und Freiwilligkeit ihrer Vergemeinschaftung erfüllt, dann ist diese Beichtform für Luther nicht nur jeder anderen gleichwertig, sondern das Grundmodell für das Bußsakrament im eigentlichen Sinn des Wortes. Für sie ist jedwede kirchliche Autoritätsinstanz entbehrlich. Die kirchliche Beichte und Buße hingegen wird erst dann relevant (nach Mt 18, 15–17), wenn die Freiwilligkeit des Gläubigen zur Beichte und Buße ausbleibt bzw. der Beichtende nicht auf seinen privaten Beichtiger hört, oder es sich um publica et magna peccata, also andere Menschen oder die Gesellschaft betreffende Sünden(taten) handelt.²⁹⁹ Von hier aus leuchtet es unmittelbar ein, warum Luther das Abendmahl und die Predigt (Lehre) – nicht anders als in der Adelsschrift – ausschließlich dem kirchlich institutionalisierten ministerium zur Ausübung zuschlägt: Sind diese beiden Handlungsvollzüge doch schon von vorneherein, und das heißt: durch das ihnen zugrunde liegende Wort Christi, auf einen breiteren Rezipientenkreis abgestellt, nämlich die gesamte Gemeinde.³⁰⁰ Dennoch wird das ministerium für die Gemeinde nicht anders konstituiert als die private Beichtsituation, also durch die Trias von Ermächtigung durch Christus, Verlangen der Glaubenden (das für Luther hier so selbstverständlich ist, dass er es nicht eigens hervorhebt) und Freiwilligkeit ihrer Gemeinschaft. Den kirchlichen Priestern bzw. Pfarrern ist, so führt Luther aus, „solum ministerium, nostro tamen consensu“ gegeben, aus dem folgt: „nullum eis esse super nos ius imperii, nisi quantum nos sponte nostra admitteremus“.³⁰¹ Mit dieser Betonung der allen Handlungen der ministri vorausgehenden Zustimmung durch die Gemeinde verändert sich konsequenterweise auch eine weitere Grunddefinition des ‚Amtes‘ gegenüber der Adelsschrift. Denn der minister handelt nicht mehr ‚an stat und in person‘ der Gesamtgemeinde, indem er einen für die Gesamtgemeinde als repräsentativ gesetzten Amts- und Gewaltenkomplex versieht, sondern ²⁹⁷ WA 6, 547,30. ²⁹⁸ WA 6, 547,10–16. ²⁹⁹ Vgl. WA 6, 546,5–7. Dazu Luthers Sermon von dem Bann (Anfang 1520) WA 6, 75,4–
7: „Der bann soll nit alleyn gefellet werden uber die, ßo ym glauben spenstig seyn, sondern ubir alle, die offentlich sundigen, wie droben ist angezeygt auß s. Paulo [1. Kor 5, 11], der die schwerer, wucherer, unkeuschen, trunckenen &c. heyst vorbannen“. ³⁰⁰ Der hier eigentlich notwendige Begriff des ‚öffentlichen‘ ministerium fällt bei Luther erst später, siehe unten. Die Taufe bildet ja ohnehin schon traditionell einen Sonderfall, wobei Luther auf eine ‚Nottaufe‘ in dieser Schrift gar nicht mehr eingeht, und – kirchenrechtlich korrekt – vom Glauben als Bedingung für den Vollzug der Taufe auch absieht (WA 6, 526,5–6). ³⁰¹ WA 6, 564,7–9.
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„nostro nomine“,³⁰² weil er von den gleichermaßen durch Christus im Glauben Ermächtigten die Zustimmung erhält, für sie bestimmte Handlungen auszuüben. In diesem Kontext führt Luther dann auch das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ ein, das er sogleich durch den nochmaligen Verweis auf 1. Kor 4, 1 deutet,³⁰³ wobei er bezeichnenderweise nicht auf die Vorstellung der ‚Gleichgewalt‘ der Gläubigen eingeht. Diese auf den ersten Blick nur subtile Differenz zur Adelsschrift ist von kaum zu überschätzender Bedeutung, weil die Repräsentation der Gesamtgemeinde damit gerade nicht in das institutionalisierte Amt hineinfließt, sondern im Konsens der Gläubigen verbleibt. Das ministerium ist ein institutionelles Ausführungsorgan des gesamtgemeindlichen Willens (der Gläubigen), und nicht ein von diesem Willen noch einmal zu unterscheidendes institutionelles Repräsentationsorgan. Es handelt für die Gemeinde und nicht: stellvertretend für die Gemeinde.³⁰⁴ Mit dieser Vorstellung sind zwei wichtige Konsequenzen gegeben. Einmal bindet Luther das ministerium, das er etwas unscharf gelegentlich auch als sacerdotium bezeichnen kann, unmittelbar an die Erfüllung seiner Funktion: „qui non praedicat verbum, ad hoc ipsum per Ecclesiam vocatus, nequaquam sit sacerdos“.³⁰⁵ Nicht anders als in seinem kleinen Galaterkommentar erweist sich das Priestersein eines Christen wie dort der Apostolat des Paulus einzig und allein durch die Wirkung des Handelns des minister auf die Gläubigen, die in ihrem Glauben erfassen, was Wort Gottes ist und was nicht. Damit verschwindet allerdings die in der Adelsschrift noch angedeutete moralische dignitas als Kriterium der Wahl eines minister, bzw. genauer: Die dignitas ist gegenüber der Funktionserfüllung des minister ein untergeordnetes Kriterium. Darauf aufbauend geht sodann in De captivitate die Charakterisierung der Amtsfunktion verloren, die Luther seit Anfang des Jahres 1520 zunehmend betonte, nämlich dass das ‚Weiden‘ der Gemeinde nach Joh 21, 15 ff. eine ordnende ‚Regierung‘ der Gemeinde ist.³⁰⁶ Das ist insofern konsequent, da das ministerium als Ausführungsorgan des Gemeindewillens keine Autorität umfassen kann, die nun ihrerseits den Gemeindewillen ordnet. Als Ordnungsinstanzen für die Gemeinde bleiben daher praktisch allein die sich zur Unterstellung unter Christi Verheißung freiwillig vergemeinschaftenden Gläubigen übrig: die homines spirituales, die durch den Geist Gottes unmittelbar geführt werden.³⁰⁷ ³⁰² WA 6, 564,17. ³⁰³ WA 6, 564,6–7.11.13–14. ³⁰⁴ Aufschlussreich sind für diesen Zusammenhang auch Luthers gedankliche Verrenkun-
gen bei seiner Begründung der Privatmesse (WA 6, 525,6–12), die bezeichnenderweise mit der Einsicht des Sermon vom Neuen Testament enden: „Re ipsa missae et sacramenti omnes sumus aequales, sacerdotes et laici“. ³⁰⁵ WA 6, 564,15–16. ³⁰⁶ Vgl. auch L, Amt und Ordination, 51 Anm. 79. ³⁰⁷ Vgl. prägnant WA 6, 560,31–561,18.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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Nur noch als Rückverweis auf die Adelsschrift ohne weiteren Einfluss auf seine momentane Gedankenführung erwähnt Luther ein einziges Mal, dass die vocatio zum Dienst „consensu communitatis aut vocatione maioris“ erfolgt,³⁰⁸ genauso, wie er in diesem Zusammenhang das einzige Mal in De captivitate erwähnt, dass das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ bedeutet: „eandem in verbo et sacramento quocunque habere potestatem“.³⁰⁹ Aber das überrascht nicht. Denn die Abschlussausführungen von Luthers Kapitel über das Weihesakrament sind ganz wesentlich Übersetzungen seiner Thesen der Adelsschrift, mit denen Luther einmal mehr den rein äußerlich-zeremoniellen Charakter der Priesterweihe herausstreichen und dem Missverständnis wehren will, dass letztlich doch noch in der Weihe eine unverlierbare Gewalt übertragen werde. Dabei ist es völlig unproblematisch, Luthers Gebrauch des Begriffs potestas hier als entsubstantialisierten Ausdruck für die Ermächtigung aufzufassen, die durch Christi Verheißungsworte an alle Gläubige als Auftrag zum Dienst am Nächsten ergeht.³¹⁰ Von dem Ideal einer sich selbst religiös versorgenden Bürgergemeinde ist damit in De captivitate nichts mehr übrig. An deren Stelle rückt einmal mehr die monastische Welt als Modell für das Gemeindeleben ein, wobei Luther die in den Operationes angedeutete Vorstellung konsequent ausbuchstabiert: Das kirchlich-gemeindliche ministerium ist rein und einzig ein opus des geistbegabten Gläubigen im Dienst am Nächsten, die stete Heranziehung des – noch – schwachen zu einem starken Christen durch die äußerliche Reizung der Aneignung des göttlichen Heils durch den Glauben. Eine gottunmittelbare spezifische vocatio eines Amtsträgers kann es unter diesen Bedingungen nicht mehr geben, sind doch im allgemeinen Sinn alle Gläubigen vocati. Daher reserviert Luther in De captivitate den Begriff der vocatio für das beauftragende Konsensverfahren des die Gesamtgemeinde betreffenden ministerium durch die Gemeinde der Gläubigen, die er auch ecclesia nennen kann. Die Rückseite dieser Konzentration auf die Einzelgemeinde und die Gläubigen bildet allerdings, aber auch das deutete sich in den Operationes schon an, die völlige Ausblendung der Anschauung von der äußeren Kirche und Kirchenmitgliedschaft als corpus permixtum. Das muss nicht heißen, dass Luther diesen Gedanken einfach liegen lässt, weil der Dienst der Gläubigen ja darauf abzielt, alle zum frommen Christsein anzureizen. Aber sichtlich fasst Luther, seine Bemerkun³⁰⁸ WA 6, 566,29. ³⁰⁹ WA 6, 566,27–28. ³¹⁰ Vgl. aber dagegen H G, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei
Luther, Marburg 1997 (MTS 46), 196 Anm. 72. Goertz’ durchaus hilfreiche Arbeit übersieht, bedingt durch ihren dogmatisch auf die Einheit der Amtsvorstellung Luthers ausgerichteten Deutungsansatz sowie ihre methodische Fixierung auf die im Register der WA aufgeführten Stellen ohne weitere Kontextinterpretation, dass ganz ähnliche oder sogar identische Formulierungen bei Luther ganz unterschiedliche Bedeutung haben können.
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gen aus der Schrift gegen Alveldt gleichsam konterkarierend, das corpus permixtum nicht als einen strukturell-dauerhaften Zustand auf, der in seiner Gemeinde- und Amtskonzeption konstitutive Berücksichtigung verdient. Den Grundgedanken von De captivitate profiliert Luther in seiner Schrift Von der Freyheyt eynisz Christen menschen, präziser jedoch in der etwas später gedruckten lateinischen Version Tractatus de libertate christiana (November 1520), indem er bislang implizite Charakterzüge schärfer herausarbeitet: Die Grundlage des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ ist die Partizipation am Hohepriestertum Christi im Glauben, durch das „intus in spiritu nos docet vivis doctrinis spiritus sui“. Das versetzt einen jeden Gläubigen in die Lage, in Gebet und Fürbitte die „offitia sacerdotis“ zu vollziehen, „quod in carnalibus sacerdotibus figuratur precibus et contionibus visibilibus“.³¹¹ Diese Unterscheidung von einem inneren, geistlichen Priestertum vom fleischlich-sichtbaren, figurativ aufzufassenden Priestertum ergänzt Luther unter Hinweis auf 1. Kor 4, 1 durch eine Näherbestimmung des ministerium: „Nam etsi verum est, nos omnes aequaliter sacerdotes esse, non tamen possumus nec, si possemus, debemus omnes publice servire et docere“.³¹² Natürlich verschiebt Luther in diesen Bemerkungen einmal mehr die Grundlage für das ‚Priestertum aller Gläubigen‘. Doch das zeigt nur, dass es ihm darauf gar nicht wirklich ankommt. Wichtiger ist vielmehr Folgendes: Indem Luther Gebet und Fürbitte des Gläubigen als die Quelle von Gebet und Lehre des öffentlichen Priestertums kennzeichnet, verinnerlicht er nochmals die äußere Handlungskompetenz der Gläubigen (ihre ‚Gewalt‘), wie er umgekehrt die Handlungsvollzüge des öffentlichen ministerium durch den Hinweis auf deren figurativen Charakter nochmals entobjektiviert, weil sie damit immer nur als der Deutung durch die Gläubigen unterliegendes Geschehen zu begreifen sind.³¹³ In diesem von jedem Verdacht eigenständiger Wirkung und Wirksamkeit gereinigten Sinn sind für Luther die priesterlichen Handlungsweisen wie alle anderen Werke in christlicher Freiheit zu gebrauchen und zu gestalten. Damit hat Luther, um eine Formulierung Karl Holls zu gebrauchen, „die äußere Ordnung in der sichtbaren Kirche ganz auf die Freiheit oder, was für ihn dasselbe besagt, ganz auf das Gewissen gestellt“.³¹⁴ ³¹¹ WA 7, 56,31–34. Deutsch, WA 7, 27,13–16: „So leret er uns ynnwendig ym hertzen, wilchs sein tzwey eygentliche recht ampt eyniß priesters, Denn alßo bitten und leren auch eußerlich, menschlich, tzeytlich priester“. Vgl. auch den weiteren Gedankengang WA 7, 56,35–57,23 (lt.) bzw. 27,17–28,5. ³¹² WA 7, 58,19–21. Hervorhebung von mir, CV. In der deutschen Fassung heißt das, WA 7, 28,33–35: „Denn ob wir wol alle gleych priester seyn, ßo kunden wir doch nit alle dienen odder schaffen und predigen“. ³¹³ Beide Pointen verpasst G, Allgemeines Priestertum, 135–137, weil er nur den deutschen Text der Freiheitsschrift beachtet. ³¹⁴ K H, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment (1911), in: D., Gesammelte Aufsätze. Bd. I, 326–380, hier: 338.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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Jedoch verdrängt Luthers nach der Adelsschrift ansetzende Denkbewegung den zuvor in Anspruch genommenen Vorstellungskreis nicht vollständig. Das deuten die Polemiken an, die Luther zeitgleich bearbeitet und noch abschließt, bevor er zum Wormser Reichstag aufbricht. Wie er gegen Ambrosius Catharinus, typisierend formuliert, die Vorstellung der geistgeleiteten Freiwilligkeitskirche³¹⁵ verteidigt, so hält er in der ersten etwas sachlicheren Entgegnung gegen Hiernoymus Emser an der Vorstellung der korporativen Bürgerkirche fest. Wir brauchen uns diesen Schriften nicht zu widmen, da sie das Vorhandensein beider Vorstellungen von Gemeinde und Amt bei Luther nur illustrieren. Erst am Ende des Jahres 1521 greift Luther seine Gemeinde- und Amtsvorstellungen in De abroganda missa privata bzw. Vom mißbrauch der Messen weiterführend auf. Diese Schrift ist zugleich die erste in unserem Problemzusammenhang, mit welcher der mittlerweile Exkommunizierte auf Umgestaltungen des Kirchenwesens reagiert. Die Messreform, die Gabriel Zwilling in der Augustinerkirche Wittenbergs im Oktober 1521 in Gang setzte, ist für Luther die Gelegenheit, die theologische Tiefenschicht und Legitimität dieses von ihm gutgeheißenen und ja auch mit angestoßenen Umbaus freizulegen.³¹⁶ Dass Luther seine Schrift in dem Bewusstsein eines fundamentalen Umbruchs des gesamten traditionellen Kirchenwesens verfasst, zeigt nicht zuletzt der Anfang der Schrift, weil er die Messreform in direkten Zusammenhang mit der seit seiner Hebräerbriefvorlesung für ihn zentralen Aussage verbindet: „Translato sacerdotio necesse est, ut legis translatio fiat“ (Hebr. 7, 12).³¹⁷ Natürlich ist diese Aussage hier auf die Ablehnung der Vorstellung des katholischen Opferpriestertums gemünzt; epochales Veränderungsbewusstsein signalisiert sie dennoch. In der Exposition der Gründe für diese Ablehnung, deren sakramentstheologische Dimensionen wir außer Acht lassen, verschieben sich wiederum die uns momentan beschäftigenden Elemente von Luthers Amts- und Gemeindevorstellung und verändern die Vorstellungskreise der Freiwilligkeitskirche und der Bürgerkirche, die Luther zugleich zusammenführen will. Dies lässt sich in dem Teil beobachten, mit dem Luther seine Schrift eröffnet: Wohl in Anlehnung an die Adelsschrift stellt Luther seiner Schrift drei impetus bzw. ‚drei Stürme‘ auf das Amtsverständnis der Papstkirche voran,³¹⁸ und fügt dem noch einen mit „ANTITHESIS EPISCOPORUM CHRISTI ET SACERDOTIUM PAPISTICORUM“ überschriebenen Abschnitt bei.³¹⁹
³¹⁵ Der Begriff in Anlehnung an H, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment,
358. ³¹⁶ Der Kontext der Wittenberger Messreform wird umfangreich beleuchtet bei S, Die Messopfertheologie, 419–552. ³¹⁷ WA 8, 414,28. ³¹⁸ WA 8, 415,15–426,25 ³¹⁹ WA 8, 426,26–431,20. Hervorhebung im Original.
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Die gedankliche Grundlinie der ‚Stürme‘ ist uns schon im Wesentlichen bekannt, weil sie sachlich an die These des Freiheitstraktats anschließt: Die Partizipation am Hohepriestertum Christi durch den Heiligen Geist konstituiert das „sacerdocium spirituale“ aller Christen. Dieses geistliche Priestertum ist nicht nur passive Innerlichkeit, sondern schließt die Möglichkeit ein, aufgrund des angeeigneten Opfers Christi im Gebet selbst vor Gott zu treten und aufgrund der Aneignung der Belehrung Gottes durch den Geist selbst zu lehren.³²⁰ Dieser Sachverhalt wird von Luther nicht nur in breitester Weise mit Bibelzitaten unterlegt, sondern auch terminologisch neuartig mit der potestasVorstellung verbunden; der lateinische Text ist, wie schon im Freiheitstraktat, präziser als der deutsche: Den von Christus gleichermaßen Berufenen ist gegeben „et ius et potestas, imo necessitas annuciandi virtutem sese vocantis“.³²¹ Die als Verpflichtung zu interpretierende Notwendigkeit schließt also, formalisiert man diese Aussage, sowohl ein Recht wie die Befähigung zur Ausübung der Verpflichtung ein. Just damit hat Luther das in der Adelsschrift noch fehlende Glied der executio potestatis der Gewalt der Gläubigen hinzugefügt. Kommt Luther also nun zu einer aus der Gewalt der Gläubigen fließenden Amts- und Gemeindevorstellung? So scheint es zunächst, wenn er daran anschließt: „Hoc quidem fieri debere concedimus, ne simul multi loquantur, etiamsi omnes eandem loquendi potestatem habeant“.³²² Allein: Den Umstand, warum bei gleichermaßen vorhandener potestas nur Einem die aktuale Ausübung der potestas zusteht, führt Luther nicht auf eine Delegation der Ausübung oder Gewalt und auch nicht auf einen Konsens der Gläubigen zurück. Vielmehr unterstellen sich die Gläubigen, indem sie von der Wahrnehmung ihres Rechts bzw. der Ausübung ihrer Gewalt resp. ihres officium³²³ in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen absehen, dem Ordnungsgebot des Paulus in 1. Kor 14, 40. Und es ist dann auch der ganze Abschnitt über die Prophetie in 1. Kor 14, 27 ff., der für Luther die Rahmenbedingungen einer rechten Ordnung der Gemeinschaft der Gläubigen darbietet. Das ministerium bezeichnet dabei keine dauerhaft institutionalisierte Amtsstellung im Gegenüber zur Gemeinde, sondern eine stets wechselnde temporäre Aufeinanderfolge der gegenseitigen Belehrung der Gläubigen, einen reinen Dienst aneinander,³²⁴ wie Luther Paulus ausschreibt: „Omnes posse prophetare, et per ordinem, unus post alium potest loqui, adeo et sedens et audiens, si quid revelatum ei fuerit, surge³²⁰ WA 8, 415,15–416,4 bzw. 486,18–487,14. ³²¹ WA 8, 422,37–38. Deutsch mit dem vorhergenden Satz verbunden, WA 8, 495,21–23:
„Die weyl denn alle Christen auß dem finsterniß beruffen sind, ßo ist eyn iglicher verpflicht, auß tzu ruffen die macht des, der yhn beruffen hatt“. ³²² WA 8, 423,1–2. Vgl. WA 8, 495,24–25: „Das lassen wyr woll tzu, das yhr vielt tzu gleych nicht predigen sollen, wie wol sie des alle gewalt haben“. ³²³ Vgl. WA 8, 423,28. Officium ist hier Wechselbegriff zu potestas. ³²⁴ Vgl. WA 8, 423,5–7.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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re possit, et prior loquens debeat ei cedere et tacere, tum quicunque sunt, qui loquuntur, sub iudicium audientium loqui et eorum autoritati subdi debent“.³²⁵ Die ordnungsgenerierende Instanz innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen ist also das durch den Geist sich bekundende Wort Gottes, von dem Luther schon gegen Cajetan meinte, dass es sich die institutionellen Ausformungen kirchlicher Lehre unterwirft (1. Kor 14, 30).³²⁶ Luthers Aufnahme der Begriffe ius, potestas und officium zielt hier also keineswegs darauf ab, seine charismatisch abgleitende Vorstellung einer Freiwilligkeitskirche an eine korporative Institutionenvorstellung – in deren Kontext diese Begriffe traditionell zu finden sind – anzubinden. Vielmehr zielt sie darauf ab, diese jener anzuschmiegen. Und es ist genau das, was Luther in seiner Antithesis fortsetzt, indem er in deutlichem Rückgriff auf seine Adelsschrift die Bürgerkirche in die geistgeleitete Freiwilligkeitskirche einzufügen versucht. Den Leitgesichtspunkt seiner Abgrenzung von recht verstandenem christlichem Episkopat und papistischem Opferpriestertum entnimmt Luther wie in der Adelsschrift Tit 1, 5 ff. Die Normativität des Sachverhalts, dass „in qualibet civitate sint plures Episcopi, aut saltem unus“, führt Luther indes nicht auf die Autorität des Paulus zurück, sondern auf den sich darin bekundenden Geist Christi: „si credis in Paulo spiritum Christi loqui et statuere, agnoscis simul statutum divinum esse“.³²⁷ Die gottgesetzte Kirchenverfassung entspringt demnach nicht der bloßen Applikation einer biblischen Stelle auf eine institutionelle Ordnung, sondern ist das Resultat der Erkenntnis des göttlichen Willens im Glauben. Wie die Überschrift des gesamten Abschnitts bereits zeigt, liegt es freilich gar nicht im Interesse Luthers, die Vorstellung einer rechten evangelischen Kirchenverfassung zu entwerfen, weil es ihm an der grellen Entgegensetzung zur Kirche des Satans gelegen ist. Dennoch ist auffällig, wie die spiritualistische Einfärbung seiner Gedankenführung die Probleme an den Rand drängt, die ihn im Sommer 1520 noch beschäftigten. Sie werden durch die Vorstellung einer geistgeleiteten Ordnung überwölbt, weil „spiritus in Paulo Episcopos“ hervorbringt.³²⁸ So merkwürdig es klingt, gerade diese Überwölbung scheint für Luther die Möglichkeit zu eröffnen, die Vorstellungen der Adelsschrift direkt wieder aufzunehmen: „Statuimus itaque autoritate dei, Episcopos Christianos esse viros graves et provectae aetatis, coniuges, laicos, doctos in verbi veritatis, … vel per vicinos coepiscopos, vel a plebe sua electos, quales modo essent, quos vulgo parochos seu plebanos vocant … Haec est Apostolica sanctio, divinum decretum, Spiritus sancti ritus ordinandorum Episcoporum. Quales fuere S. Spiridion, Cyprianus, Augusti., Ambrosius“.³²⁹ ³²⁵ ³²⁶ ³²⁷ ³²⁸ ³²⁹
WA 8, 423,17–20. Vgl. oben bei Anm. 113. WA 8, 426,33–35. WA 8, 428,12. WA 8, 429,6–14. Vgl. bereits WA 8, 426,35–427,2.
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An die in De captivitate entwickelte Gedankenlinie ist dieser Vorstellungskreis insoweit angepasst, als dem dergestalt konstituierten officium verbi et sacramenti keine Regierungsfunktion zukommt. Es ist ein rein funktionaler Ausdruck des in Freiheit lebenden populus Christianus unter anderen, „sicut modo in civilibus communitatibus videmus naturaliter fieri“.³³⁰ Der Haken dieser gesamten Ausführungen dürfte schon nach dieser Skizze der Hauptgedanken ersichtlich sein. Denn sicher verbinden sich die Überlegungen der ‚Stürme‘ auf die Papstkirche mit der Antithesis dadurch, dass sie jeweils aus der geistgeleiteten Erkenntnis der rechten Ordnung der Gemeinde durch den Gläubigen entspringen. Nur verbürgt die gleichgestaltige Hermeneutik der Ordnungen keineswegs deren institutionelle Kompatibilität. Und es ist offensichtlich, dass sich jene von 1. Kor 14, 27 ff. abgelesene gemeindliche Ordnungsorientierung mit dieser aus Tit 1, 5 ff. erwachsenden schwerlich koordinieren lässt. Auch Luther selbst gibt dafür keinen Fingerzeig, allzumal das sacerdotium spirituale in der Antithesis keine Rolle spielt. Daher zerfasert in der Schrift De abroganda gerade das, was Luther offenbar bündeln wollte, nämlich seine Amts- und Gemeindevorstellung. Sie führt er damit in einem spannungsreichen Nebeneinander von charismatisch schillernder Freiwilligkeitskirche und geistgestifteter Bürgerkirche weiter. Der Druck von Luthers De abroganda missa privata fällt bereits in den Januar 1522 und damit in die Zeit, in der die frühreformatorische Bewegung an einer Intensität gewinnt, die Luther dazu bewegt, sein Exil auf der Wartburg alsbald zu verlassen. Mit diesem Schritt treten die konkreten Anforderungen und Schwierigkeiten, die der reformatorische Umbau von Kirche und Gesellschaft stellt, in einem bislang unbekannten Umfang in Luthers Gesichtskreis. Die praktische Nagelprobe seiner Amts- und Kirchenvorstellungen bildet den Kontext der dann im Jahr 1523 von Luther nach Leisnig und Prag gesendeten Vorschläge reformationsorientierter Gestaltungen gemeindlicher Ordnungen. Deshalb nehmen wir die Ereignisse des Jahres 1522 am Anfang des nächsten Abschnitts auf, und blicken zunächst noch einmal kurz auf die Entwicklung von Luthers Amts- und Kirchenvorstellung vom Sommer 1520 an zurück. In dieser Entwicklung beginnt bei Luther die aus der Verinnerlichungsdynamik erwachsene Vorstellung einer religiösen Egalität aller Christen in den Anspruch auf institutionell-kirchliche Partizipation und Egalität der Gläubigen gegenüber dem sakramental-institutionalisierten Priestertum umzuschlagen, der sich im Motiv des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ effektvoll verdichtet. Indem Luther im Zug dieses Umschlags in immer wieder neu ansetzenden, teils dann Gefundenes weiterführenden, teils regrerdierenden Gedankengängen die Reichweite dieses Anspruchs zu konturieren versucht, treibt er mit der ‚Bürgerkirche‘ ³³⁰ Vgl. WA 8, 429,30–37. Zitat: 429,33–34.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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und der ‚Freiwilligkeitskirche‘ konzeptionelle Alternativen hervor, die in schwerlich zu überschätzender Weise die verschiedenen Ansätze und Programme der frühreformatorischen Bewegung zu inspirieren in der Lage waren:³³¹ Die ‚Bürgerkirche‘ mit ihren Grundbegriffen des Gemeindewillens und des Amtes als gemeindliche Stellvertretung hebt unmissverständlich das Selbstbewusstsein der – auch politisch organisierten – Bürgerschaft als Handlungssubjekt der evangelischen Kirchenreform hervor.³³² Die ‚Freiwilligkeitskirche‘ hingegen spricht ebenso unmissverständlich mit ihren Grundbegriffen der geistgeleiteten Freiheit und des Amtes, das von den durch religiöses Verlangen und Begehren ausgezeichneten Gläubigen in den Dienst genommen wird, den ‚starken Christen‘ in der Gestaltung der evangelischen Kirchenreform eine Schlüsselrolle zu. Vielleicht ist es die gedanklich durchaus offen stehende Möglichkeit, dass die je ausgewiesenen Handlungssubjekte identisch sein können, die Luther dazu veranlasst, beide Konzeptionen nicht nur nebeneinander herzuführen, sondern sie – wie seine Schrift De abroganda missa privata zeigt – sogar als gleichwertig festzuhalten. Ungeachtet der Schwierigkeit, sie in ein systematisch klares Verhältnis zueinander zu setzen, führt Luther beide Konzeptionen ja in normativ identischer Weise auf die rechte Erkenntnis des göttlichen Willens zurück. Welches Gemeindeideal Luther nun aber in positiv-konstruktiver Hinsicht favorisiert, ob er das überhaupt tut, oder welches Ideal ein dem ‚Priestertum aller Gläubigen‘ im Verständnis Luthers angemessenes ist, das lässt sich für die Zeit zwischen Sommer 1520 und Winter 1521 nicht abschließend feststellen. Und will man dem nicht durch eine Ausblendung besonders des charismatisierenden Zuges der ‚Freiwilligkeitskirche‘ seine innere Spannung nehmen,³³³ so wird man für diese Phase in Luthers Denken zumindest zugeben müssen, dass es im Winter 1521 / 22 eben noch offen war, welche Richtung Luther in den sich nun aufdrängenden und in Gang kommenden praktischen Reformen der Kirche und des Amtes einzuschlagen gedachte. 2.2. Praktische Gemeindeordnung: ministerium publicum verbi (1522 / 23) Dass Luther in den mit seiner Rückkehr nach Wittenberg verbundenen Invokavitpredigten (9. bis 16. März 1522)³³⁴ seiner Vorstellung des praktischen ³³¹ Vgl. zur ‚frühreformatorischen Bewegung‘ in prägnanter Kürze T K, 11. Luther und die reformatorische Bewegung in Deutschland, in: B (Hg.), Luther Handbuch, 185–196. ³³² Vgl. H, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, 357 Anm. 1. ³³³ Vgl. G, Allgemeines Priestertum, 252 Anm. 301 (mit Verweis auf V, Der Gedanke): „So charakterisiert Voß insbesondere die Verkündigungsfunktion des Allgemeinen Priestertums als ‚prophetisch‘ (vgl. 61 u. ö.), was sich bei Luther selbst jedoch weder explizit noch implizit nachweisen läßt“. ³³⁴ WA 10 / 3, 1–64.
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
Fortgangs der evangelischen Kirchenreform Konturen verlieh, ist ein wohlbekannter Umstand: Die Notwendigkeit der freien Predigt des Evangeliums einhämmernd, legte Luther dabei nuancenreich Übergänge für kirchliche Reformen frei, die seine berühmte These der ‚Schonung der Schwachen‘ plastisch ausmalen, dabei aber durchgängig den ‚starken Christen‘ signalisieren, dass ihre Anliegen nicht nur vollauf gerechtfertigt sind, sondern auch von ihm selbst grundsätzlich geteilt werden. Wenn Luther zur Enttäuschung vor allem von Andreas Bodenstein von Karlstadt den tätigen Reformenthusiasmus mit seinen Predigten dämpfte, so machte er dennoch keinerlei Anstalten, den bereits in den Blick genommenen Veränderungen zu widersprechen. Das betraf besonders die durch die Ordnung der Stadt Wittenberg vom 24. Januar sanktionierte, mittlerweile aber vom Landesherrn formal wieder aufgehobene Umgestaltung der Messe sowie das Bilderverbot. Gerade hierin lag, wie Thomas Kaufmann jüngst überzeugend dargestellt hat, ein Schlüssel zum Erfolg von Luthers Predigten, weil er Ruhe in die unübersichtliche Lage Wittenbergs brachte, „indem er die Ordnung des Rates beziehungsweise ihre Ergebnisse im wesentlichen anerkannte“.³³⁵ Allerdings war damit für Luther keineswegs eine theologisch-konzeptionelle Entscheidung zugunsten der ‚Bürgerkirche‘ gefallen. Dies wird deutlich, als sich die Wogen in Wittenberg geglättet haben und Luther in seiner Schrift Von beider Gestalt das Sakrament zu nehmen (Druck: April 1522) seine Position der Invokavitpredigten noch einmal aufarbeitet. Hier weist Luther nämlich unmissverständlich die Lebensform der ‚starken Christen‘ als das eigentliche Ziel jeder Reform der Kirche aus, der gegenüber alle Zugeständnisse in Richtung der ‚Schwachen‘ als schlechterdings defizitäre Übergangsphänomene zu begreifen sind. Der Lebensform der ‚Starken‘ muss für Luther innerhalb einer Gemeinde auch ihr eigener liturgisch-gottesdientlicher Verwirklichungsraum vor allem in Bezug auf das Abendmahl zugestanden werden, dessen Feier unter beiderlei Gestalt den ‚Schwachen‘ notorisch Anstoß gibt. Es spricht für Luther nämlich nichts gegen die Möglichkeit, denen, die „beyder gestallt niessen wollen und kunden, es sey heymlich oder offenbar, on das sie es besunders thun, nicht auff gemeynem alltar odder tzu gleycher tzeyt, wenn die schwachen yhre weyße brauchen“,³³⁶ den Empfang des Sakraments freizugeben. Freilich setzt das bei den ‚starken‘ religiösen Subjekten eine intensive Prüfung ihres eigenen Gewissens und Handelns voraus,³³⁷ die sich neben der ohnehin nötigen vor Gott vollzogenen individuellen Beichte in einer freiwilligen brüderlichen oder öffentlichen, also vor dem Pfarrer vollzogenen Beichte vor dem Sakramentsempfang konkreti³³⁵ K, Geschichte der Reformation, 391. ³³⁶ WA 10 / 2, 30,29–31. ³³⁷ Vgl. WA 10 / 2, 38,4–39,5.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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siert.³³⁸ Mit der Verbreitung einer solchen ‚starken‘ Lebensform in einer Gemeinde verbindet Luther die Hoffnung, dass sie die Trennung der rechten und der falschen Christen nachhaltig befördert: „Ach herr gott, wenn man diße lere woll triebe, da soltistu sehen, das wo itzt tausent ztum sacrament gehen, da wurde yhr kaum hundert hyn gehen. Alßo wurden der grewlichen sund weniger, die der Bapst mit seynem hellischen gesetz yn die welt geschwemmt hat, ßo kemen wyr zu letzt tzu eyner Christlichen versamlung, die wyr itzt fast eyttel heyden sind unter Christlichem namen. Da kundten wyr von uns sundern, die wyr an yhren wercken erkenneten, das sie nicht glewbten noch liebten, das uns itzt noch unmuglich ist.“³³⁹
Einem utopischen christlichen Rigorismus redet Luther damit nicht das Wort, weil er durchaus eine Möglichkeit sieht, das von ihm umrissene Ideal durchzusetzen. Hierfür nimmt Luther nun, Gedanken seiner Operationes umformend, den Priester bzw. Pfarrer als kirchliche Erziehungsinstanz der ‚schwachen Christen‘ im sonntäglichen Hauptgottesdienst in die Pflicht: Durch eine Umgestaltung der Messfeier, in der das Messgewand und die lateinische Liturgie abgetan wird, soll sie einmal ihres Opfercharakters äußerlich beraubt werden.³⁴⁰ Und der Priester soll sodann das Verlangen nach Empfang des Sakraments heben, indem er die Gemeinde von der Regelmäßigkeit der Messe durch ihre spontane Umwandlung in Predigtgottesdienste allmählich entwöhnt und auf das Wort als das eigentliche Zentrum des kirchlichen Lebens konzentriert.³⁴¹ Damit zielen die von Luther vorgeschlagenen Erziehungsmaßnahmen durch Predigt und Sakrament auf eine Belastung des religiösen Subjekts in der Reflexion auf sein ihm ureigenes Gottesverhältnis. Freilich ist diese Belastung dergestalt strukturiert, dass sie vom religiösen Subjekt auch verweigert werden kann, ohne dass dem Priester hiergegen irgendwelche Mittel an die Hand gegeben wären. Das wird von Luther auch als kontraproduktiv für sein Erziehungsideal abgewiesen, dessen Nähe zur Vorstellung der ‚Freiwilligkeitskirche‘ besonders in der in De captivitate Babylonica ecclesiae umrissenen Form offensichtlich ist: „Secten machen taug unnd hilfft nicht, darumb ist keyn radt ubrig denn das Euangelion predigen und die leutt vom sacrament und allen eußerlichen stucken wenden, biß sie sich Christen fülen und beweyßen und von yhn selbst tzu erst tzum glawben, tzur liebe und darnach tzu eußerlichem sacrament unnd des gleichen dringen, ynn des mussen wyr lassen gehen, was da gehet …“.³⁴² ³³⁸ Vgl. WA 10 / 2, 32,24–33,14. Vgl. zur öffentlichen Beichte als christlich gebotener freiwilliger Gemeindezucht die letzte Invokavitpredigt: WA 10 / 3, 58,17–60,11. Vgl. dazu auch M, Kirche, Staat und Obrigkeit, 87–102. ³³⁹ WA 10 / 2, 39,6–13. ³⁴⁰ WA 10 / 2, 29,3–5 und 29,11–14. ³⁴¹ WA 10 / 2, 31,19–32,2. ³⁴² WA 10 / 2, 39,13–21.
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Luther ist also in seiner Schrift Von beider Gestalt das Sakrament zu nehmen darum bemüht, die ihm selbstverständlichen Freiwilligkeitsmomente im Institutionenverhältnis des religiösen Subjekts zu erhalten und dabei zugleich die kirchliche Reformdynamik zu verschärfen. Wer das als eine von Luther „behutsam und bewusstseinsbildend“ vorgetragene Vorbereitung auf die anstehenden kirchlichen Reformen nennen will, soll das tun.³⁴³ Für die Entwicklung von Luthers Amts- und Kirchenvorstellung jedenfalls stellen die Wittenberger Ereignisse keinen tiefgreifenden Einschnitt dar, Luthers Polemik gegen jenes Reformgebaren ungeachtet, das vor allem von Karlstadt zur Schau stellte, der sich dazu durch seine Berufung zum Archidiakon am Allerheiligenstift sowie durch das als Doktor der Theologie ihm zukommende Predigtrecht bevollmächtigt sah.³⁴⁴ Vielmehr zeigen Luthers Ausführungen, dass er sich angesichts praktischer Gestaltungsfragen in ganz freier Weise seiner bis in den Winter 1521 / 22 entwickelten Vorstellungskreise zu bedienen weiß. Dass Luther im Wittenberger Kontext das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ nirgends erwähnt, ist auffällig, aber wohl nicht überzubewerten. Wie wir gesehen haben, ist das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ ja nicht identisch mit Luthers Amts- und Kirchenvorstellung, sondern ein Teil von ihr und zudem ein in sich selbst komplexes Motiv. Und die mit diesem Motiv ausgedrückte Partizipationsabsicht der ‚Laien‘ in einer Gemeinde eigens zu betonen, wäre in der ersten innerreformatorischen Auseinandersetzung auch völlig fehl am Platz, weil ³⁴³ S, Luther und das Konzil, 342. Ich halte es für unglücklich, bei Luther von einer „Gemeindeaufbaukonzeption“ zu sprechen (ebd.). ³⁴⁴ Das zeigt K, Ordination in Wittenberg, 72. Allerdings teile ich die Ansicht nicht, dass der Wittenberger Streit in der Optik Luthers sein Zentrum in der Frage nach der Legitimität der Berufung Karlstadts hatte (ebd., 73 f.); dafür ist der einmalige Hinweis von Luther auf seine eigene Berufung in der ersten Invokavitpredigt (WA 10 / 3, 10,10–13) sowie der vom 13. Januar 1522 stammende Brief Luthers über die Berufungsfrage, der sich auf die ‚Zwickauer Propheten‘ bezieht (WA.B 2, 424–427 an Melanchthon), eine zu dünne Quellenbasis, außer man meint, wie Krarup, der Brief Luthers treffe Karlstadt gleich mit (K, a. a. O., 71 f.). Aber warum sollte man das annehmen? Dass Karlstadt rechtmäßig zum Archidiakon berufen und Doktor der Theologie war, wusste Luther einmal doch nur zu gut, und der Brief an Melanchthon weist zu einer Scheidung der Geister der ‚Zwickauer Propheten‘, sodann, vor allem an, weil es Luther verdächtig ist, dass sie „nuda relevatione sese vocatos adserant“ (WA. B 2, 424,19). Gerade das ist es aber, was Karlstadt durch seine Verweise auf Archidiakonat und Doktortitel vermeidet, wenn er auch für sich besondere, notfalls auch ohne äußere Berufung wahrzunehmende apostolische Autorität beansprucht (vgl. die Rechtfertigung Karlstadts zit. bei K, a. a. O., 72 Anm. 140). Allzu leicht lassen sich die ‚Zwickauer Propheten‘ und Karlstadt wohl nicht in einen Topf werfen. Vgl. zu den Inszenierungen Karlstadts: K, Geschichte der Reformation, 383 f. Diese sind die konsequente Rückseite von Karlstadts gesetzlichem Verständnis der biblischen Schriften, das dem religiösen Subjekt gerade keine Eigenständigkeit im Urteil über seinen eigenen religiösen Zustand einräumt, geschweige denn, diesem individuellen religiösen Zustand eine kriteriologische Funktion zuzusprechen vermag; vgl. zu Karlstadts juridischem Schriftverständnis: U B, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. Andreas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation, Tübingen 1977 (JusEcc 24), bes. 237–245.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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die Wittenberger Ereignisse sich nicht an einer Opposition von institutionellsakramentalem Klerus und gläubigen Laien entzündeten, sondern eben an der quer hierzu liegenden Differenz von ‚schwachen‘ und ‚starken Christen‘. Aber auch in den auf die Wittenberger Ereignisse folgenden Monaten rückt Luther das Motiv des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ nicht mehr in dem Maß in den Vordergrund, wie er es zwischen Sommer 1520 und Winter 1521 getan hatte. Was Luther in dieser Zeit hauptsächlich umtreibt, ist das Urteils- und Widerstandsrecht der Gläubigen gegen irrlehrende Priester bzw. Pfarrer sowie die papstkirchliche Autorität. Der Auslöser für diese Konzentration ist der Pfarrstellenbesetzungskonflikt im kursächsischen Altenburg. Der setzt im April 1522 ein, weil der Propst des Bergerklosters als Inhaber der Pfarrrechte der inkorporierten Stadtkirche sich weigert, dem Anliegen des Stadtrats nachzukommen, die Pfarrstelle mit einen evangeliumsgesinnten Prediger zu versehen. Luther tritt auf der Seite des Rates in den Streit ein.³⁴⁵ Theologisch spitzt sich die Konzentration auf das Urteils- und Widerstandsrecht in Luthers Deutung von Mt 7, 15 zu: „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe“. Mit dieser Stelle zieht Luther seine früheren Überlegungen zum Urteils- und Widerstandsrecht der Gläubigen zusammen, wie er sie vor allem im zweiten und dritten Angriff auf die ‚Mauern des Papsttums‘ der Adelsschrift vorgelegt hatte.³⁴⁶ Mt 7, 15 ist für Luther, das zeigt seine Instruktion an den Altenburger Rat vom 28. April 1522, die praktische Implikation der uns mittlerweile hinlänglich bekannten Stelle 1. Kor 14, 30.³⁴⁷ Dass das Urteils- und Widerstandsrecht zugleich das Wahl- und Berufungsrecht durch die Gläubigen bzw. die Gemeinde – beides läuft bei Luther ineinander – umschließt, ist für Luther selbstverständlich.³⁴⁸ Für das deutsche Publikum seiner Kontroverse mit Heinrich VIII. im Juni / Juli 1522 hebt Luther deutlicher als in seiner lateinischen Streitschrift hervor, dass die Gemeindebeteiligung bei der Einsetzung eines Amtsträgers das biblisch gebotene, weil apostolische Verfahren der Stellenbesetzung vor allem nach Tit 1, 5 darstellt. Eine andere Lehre hingegen ist nach Mt 7, 15 in Verbindung mit Joh 10, 5 verboten.³⁴⁹ Und wie als eine Zusam³⁴⁵ Vgl. dazu M, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit, 103–111 und auch K, Ordination in Wittenberg, 41–47, der aber leider Müllers Abhandlung nicht kennt. ³⁴⁶ Siehe oben Anm. 285. ³⁴⁷ Die Instruktion findet sich in WA.B 2, 507 f., die Verbindung von Mt 7, 15 und 1. Kor 14, 30: ebd., 508,41–43. Zur Bedeutung von Mt 7, 15 vgl. auch S, Luther und das Konzil, 344 f. Aufschlussreich für diesen Zusammenhang ist noch die Predigt vom 10. August 1522 just über Mt 7, 15 ff.: WA 10 / 3, 257–268. ³⁴⁸ Vgl. die Predigt Luthers in Altenburg vom 28. April: WA 10 / 3, 101–103, vor allem die Notiz des Mitschreibers am Ende. Zu den Überlieferungsproblemen der Reisepredigten Luthers aus dem Frühjahr 1522 siehe S W, Luthers Predigten des Jahres 1522, Köln u. a. 1999 (AWA 7), 172–184. ³⁴⁹ Antwort deutsch auf König Heinrichs Buch: WA 10 / 2, 240,8–241,11. Die Verknüpfung
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menfassung der zwischen April und Juli 1522 vorgenommenen Fokussierung des praktischen Reformprogramms lässt Luther „Doctor Luthers Bulla und Reformation“ ausgehen, die er in der zeitgleich zu den Streitschriften gegen Heinrich verfassten Polemik Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe einfügt.³⁵⁰ Hier führt Luther nach der Erörterung von Tit 1, 5 sowie Apg 20, 17 und Phil 1, 1 dann gegen die Bischöfe aus: „sollt eyn iglich Christen datzu hellfen mit leyb unnd gutt, das yhr tyranney veracht ein ende neme, und frolich thun alles, was yhn nur wider ist, gleych als dem teuffel selbs, yhrn gehorsam alß teuffels gehorsam mit füsen tretten Unnd daran seyn, das ynn iglicher statt itzt pfarrer eyn odder mehr frum ehelich man Pfarrer odder Bischoff würden, Unnd die, ßo itzt pfarrer seyn, weyll sie dem teuffel unnd nit gott gehorßam geleystett haben mit tzusagen der keuscheytt, solchen gehorrßam widerruffen, … auff das die gottlich ordnung, durch S. Paul eyngesetzt, widder die verdampten larven mocht wider auffgericht werden.“³⁵¹
Mit Luthers ‚Bulla‘ und ihrem Hinweis auf die ‚göttliche Ordnung‘ versiegen zunächst die für unseren Zusammenhang belangvollen Äußerungen Luthers im Jahr 1522. Überblickt man die bis dahin gefallenen, so ist wohl eins ihrer auffälligsten Merkmale, wie Luther die Gemeinde als Handlungssubjekt der kirchlichen Reform auch und gerade bei der Berufung von Predigern in den Vordergrund schiebt und dafür das Urteils- und Widerstandsrecht der Gemeinde stärkt. Im Altenburger Kontext verteidigt er dieses sogar in aller Deutlichkeit brieflich, als der Landesherr in den Konflikt eingreift, wofür Luther sich wiederum auf Mt 7, 15 beruft.³⁵² Diese starke Betonung der Gemeinde ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil Luther in Altenburg selbst auf der Seite des Stadtrats und damit auf der Seite der politischen Obrigkeit agiert.³⁵³ Und er erwartet vom Landesherrn ebenso nachdrücklich, dass er dessen Anvon Mt 7, 15 und Joh 10, 5 findet sich zuerst in einer Predigt Luthers vom 10. Juni 1522: WA 10 / 3, 170–175. In der lateinischen Version, Contra Henricem Regem Angliae sind die Fragen nach dem Urteilsrecht und dem Weihesakrament nicht so eng zusammengeführt; zum Urteilsrecht nach Mt 7, 15: WA 10 / 2, 217,14–25; zum Weihesakrament: 220,30–221,9. Insgesamt schenkt Luther der Frage nach der Einsetzung – Tit 1, 5 – hier weniger Aufmerksamkeit und bemerkt nur, dass es „rectius“ wäre, nach dem Beispiel der Apostel Pfarrer unter Beteiligung der Gemeinde zu ordinieren (221,1–5) – wobei Luther ‚ordinare‘ als ‚vocatio et institutio ministri et concionatoris‘ versteht (220,36). Im deutschen Text heißt es dann zu Tit 1, 5: „Darumb kan der spruch ad Titt. keyn ander verstand haben, Denn das Titus solle elltisten oder priester eynsetzen nicht allein, ßondern mit tzu thun, welen und bewilligung der gantzen gemeyne, oder müsten alle Apostel ynn obgesagten stücken [Apg 1, 23 ff. und Apg 6] geyrret haben“ (240,27–30). Zur Kontroverse Luthers mit Heinrich vgl. K, Ordination in Wittenberg, 31–36. ³⁵⁰ Die Schrift: WA 10 / 2, 105–158, der Exkurs findet sich 140,1–145,25. ³⁵¹ WA 10 / 2, 144,8–18. ³⁵² WA.B 2, 521,27–30; Nr. 485 (an Kurfürst Friedrich vom 8. Mai 1522). ³⁵³ Hinzu kommt noch die für uns im Detail nicht weiter wichtige Streitigkeit im kursächsischen Belger vom Juni 1522. Vgl. dazu M, Kirche, Staat und Obrigkeit, 114.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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liegen Nachdruck verleiht und so „alß eyn Christlich fürst, ßo fernn es seyn mag, den wolffen tzu begegnen“;³⁵⁴ das ist freilich eine Option, die Luther bereits in seinem Sermon von den guten Werken sowie der Adelsschrift erwogen hatte. Dass schlussendlich der Altenburger Konflikt durch kurfürstliche Vermittlung befriedet wurde, blieb für Luther auch nur insofern ambivalent, weil er seinen eigenen und vom Altenburger Rat zunächst favorisierten Kandidaten für die Stelle, Gabriel Zwilling, nicht durchzusetzen vermochte. Dass auf landesherrlichen Druck hin der Propst des Bergerklosters in einem Schiedsverfahren auf die Besetzung und die Pfründe der Predigerstelle verzichtete,³⁵⁵ war Luther hingegen völlig gleichgültig.³⁵⁶ Die Diskrepanz zwischen Luthers legitimatorisch-theologischer Orientierung an der Gemeinde und seiner politisch-praktischen Orientierung an der Obrigkeit lässt sich kaum dadurch erklären, dass Luther den Rat einer Stadt in Kirchenreformangelegenheiten nicht als politische Obrigkeit sondern als Repräsentanten des religiösen Gemeindewillens ansieht.³⁵⁷ Luther selbst trifft nämlich eine solche Unterscheidung zwischen dem Rat als politische Obrigkeit und religiösem Repräsentanten nirgends.³⁵⁸ Dies hat wohl nicht nur den Grund, dass in der spätmittelalterlichen Stadt eine Absonderung von religiöser und politischer Handlungssphäre ohnehin so gut wie unmöglich ist, sondern auch den, dass Luther eine solche Sphärentrennung theologisch deutlich just in der Zeit herausarbeitet, aus der wir keine kirchen- und amtstheoretisch weiterführenden Äußerungen von ihm haben. Denn neben dem Abschluss der deutschen Übersetzung des Neuen Testaments und dem Beginn der Übersetzung des Alten Testaments nimmt zwischen August 1522 bis zum Anfang des Jahres 1523 auch die Abfassung der Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (Druck: März 1523) Luther gefangen.³⁵⁹ Auf diese Schrift müssen wir hier nicht näher eingehen. Wir werden aber sehen, wie Luther am Anfang des Jahres 1523 mit neuer Sensibilität kirchliche Gemeinde, Pfarramt und Obrigkeit als voneinander zu unterscheidende Instanzen im Prozess der praktischen Gemeindeordnung wahrnimmt, als er in den Pfarrstellenbesetzungskonflikt im kursächsischen Leisnig eingreift, wiederum auf Bitten des Rates, wiederum im Streit um eine inkorporierte Pfarrstelle. ³⁵⁴ WA.B 2, 521,60; Nr. 485 (an Kurfürst Friedrich vom 8. Mai 1522). ³⁵⁵ WA.B 2, 538,4–5; Nr. 496 (Der Rat der Altenburger an Luther vom 22. Mai 1522). ³⁵⁶ M, Kirche, Staat und Obrigkeit, 107–109 weist auf Luthers ganz einlinig negative
Haltung zum Rechtsinstitut der Inkorporation hin. ³⁵⁷ Vgl. etwa H, Zu Luthers Gedanken, 318. ³⁵⁸ Siehe gegen Hermelink ganz zu Recht M, Kirche, Staat und Obrigkeit, 50 mit Anm. 4. ³⁵⁹ Zu den Entstehungshintergründen der Obrigkeitsschrift siehe jetzt V M, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005 (SuRNR 26), 233–235.
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
Am 29. Januar 1523 sagt Luther dem Rat der Stadt Leisnig Unterstützung für die Anliegen zu, die ihm am 25. Januar überbracht worden waren.³⁶⁰ Wohl im Mai erscheinen, die Druckfolge lässt sich nicht mehr aufklären, Luthers kurze Schriften Ordenung eyns gemeynen kastens,³⁶¹ Daß ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehrer zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift³⁶² sowie Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeinde³⁶³. Wie genau Luther damit dem Anliegen der Leisniger folgt, legt ein Blick in deren erstes Schreiben offen, nehmen sie sich doch vor, „einen gemeinen Kasten zu der Ehre Gottes und Liebe des Eben-Christenmenschen ufzurichten, auch nach Aussatzunge gottlicher Schrift der Berufunge und Vorsehunge unsers Pfarr-Ambts zu gebrauchen, und daß auch unsere also berufene Seelsorger mit Regierunge und Vorwesunge dem pfarrlichen Ambte und weß dem anhängig ordentlich und gottlicher Schrift gemäß fursein und gewärtig sein sollen“.³⁶⁴ Doch zeigt bereits der Umstand, dass Luther seine Vorstellungen für Leisnig im Druck erscheinen lässt, dass er ihnen grundsätzlichere Bedeutung beimisst, allzumal sie den unmittelbaren Kontext so gut wie gar nicht beachten bzw. leicht von ihm abgelöst werden können.³⁶⁵ Indes lassen sich Luthers drei Leisniger Schriften nicht voneinander trennen, weil sie nur zusammen ein plastisches Bild von Luthers Vorstellung einer ‚reformatorischen Gemeindeordnung‘ wiedergeben. Allerdings brauchen wir uns bei den beiden anderen Schriften kaum aufzuhalten, nachdem wir uns ausführlicher der kompliziertesten von allen zugewendet haben, Luthers Daß ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehrer zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift. Sie ist für uns besonders interessant, weil sich in ihr markant verdichtet, was seit Luthers Rückkehr von der Wartburg bislang kaum fassbar war, wie nämlich Luther seine Vorstellung der den Gläubigen eigenen Rechte und Kompetenzen in institutioneller Hinsicht genauer fasst. Kompliziert ist diese Schrift vor allem, weil sie kein systematisches Ganzes bildet, sondern in drei Teile zerfällt. Luthers Versuch, diese Teile durch Jes 55, 11 zu verbinden, ³⁶⁰ WA.B 3, 23; Nr. 577 (an den Rat von Leisnig vom 29. Januar 1523). Es ist eine reine Projektion Krarups, wenn er den Streit in Leisnig bereits im September ansetzt und meint, dass Luther bei seinem dortigen Besuch Ende September (WA.B 2, 604; Nr. 540) bereits über die Kastenordnung verhandelt habe (K, Ordination in Wittenberg, 51). Hilfreich ist dann wieder seine Schilderung der Situation, vor allem: Ebd., 52 Anm. 65. ³⁶¹ WA 12, 11–30. ³⁶² WA 11, 408–416. ³⁶³ WA 12, 35–37. ³⁶⁴ WA.B 3, 22,4–9; Nr. 576 (Ehrbarmann, Rat, Einwohner der Stadt Leisnig und der eingepfarrten Dörfer an Luther vom 25. Januar 1523). ³⁶⁵ Vgl. auch P B, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München, 1987, 135.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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bleibt ganz formal.³⁶⁶ Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über die argumentativ-materialen Gehalte der einzelnen Teile: Im ersten Teil³⁶⁷ legt Luther das „gottlich recht“ einer christlichen Gemeinde auf Absetzung eines Predigers dar, falls dieser sich nicht am Evangelium orientiert.³⁶⁸ Die kaskadenhafte Anreihung von Bibelstellen, darunter auch Mt 7, 15³⁶⁹, illustriert das Lehrbeurteilungsrecht eines jeden Christen ohne ein für uns neues Argument und mündet abschließend in der These: „Alßo schließen wyr nu, das wo eyn Christliche gemeyne ist, die das Euangelion hatt, nicht alleyne recht und macht hatt, sondern schuldig ist bey der seelen selickeyt yhre pflicht nach, die sie Christo in der tauffe gethan hatt, tzu meyden, tzu fliehen, abtzusetzen, sich zu entzihen von der uberkeyt, so die itzigen Bischoff, Ept, Kloster, stifft und yhr gleychen treyben, weyl man offensichtlich sihet, das sie widder gott und seyn wortt leeren und regiren.“³⁷⁰
Das Urteils- und Widerstandsrecht der Gemeinde wird damit, wie bereits Karl Holl anmerkte, konkret als eine die Pfründeverweigerung einschließende Abstoßung (‚absetzen‘) eines evangeliumswidrigen Pfarrversehers gefasst, und umfasst auch das Recht der Gemeinde auf Seperation von den bestehenden kirchlichen Strukturen (‚meyden‘).³⁷¹ Mit keiner Silbe aber deutet Luther in diesem gesamten ersten Teil an, dass das Urteils- und Widerstandsrecht der Gemeinde zugleich ein Berufungsrecht einschließt, obwohl er das im Jahr zuvor in seiner Auffassung von Mt 7, 15 immer mitführte. Der zweite Teil³⁷² scheint nun gerade diesen Aspekt aufzugreifen,³⁷³ stellt dann aber recht abrupt den nach Joh 6, 45 und Ps 45, 8 durch Gottes Geist ³⁶⁶ Gegen K, Ordination in Wittenberg, 53 mit der Darstellung der Schrift 53–56. Auch wenig hilfreich ist B, Das geistliche Amt, 60–76. ³⁶⁷ WA 11, 408,5–411,21. Hier lässt sich der Zusammenstellungscharakter der Schrift schon formal gut erfassen: Das gliederungstechnische Problem findet sich im Übergang vom ersten zum zweiten Teil, weil die Absetzung „Czum andern“ (WA 11, 411,22) auf das „fur das erst“ (411,19) verweist, das sich nun selbst in einem Satz findet, der zu dem vorigen völlig redundant ist. Das legt Folgendes nahe: Von 411,18–411,24 fügt Luther einen Übergang und Anschluss ein (vgl. das „folget aus vorigem starck gnug“ in 411,23). Auch die Formulierung am Ende des ersten Teils: „Alßo schließen wyr nu“ (411,13) legt, da das ‚also‘ hier eine Zusammenfassung des gesamten Gedankengangs einleitet, einen in sich abgeschlossenen ersten Abschnitt nahe. Auffällig ist die motivische und inhaltliche Nähe weiter Passagen aus dem ersten Teil zu einer Predigt Luthers vom 10. Juni 1522 zu Joh 10,1 ff.: WA 10 / 3, 170–175. ³⁶⁸ Der Begriff: WA 11, 411,20. ³⁶⁹ WA 11, 410,13–15. ³⁷⁰ WA 11, 411,13–18. ³⁷¹ Siehe H, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, 351 f. Vgl. die Instruktion an den Altenburger Rat, WA.B 2, 507,25–27: „Datzu, wenn wir dyßem recht streng folgen wollten, den probst mit den seynen von Alldenburg vertrieben haben, als die gewißlich reyssende wolffe offentlich erfunden werden“. ³⁷² WA 11, 411,22–413,22. ³⁷³ WA 11, 411,26–30: „Und gott nicht tzuversuchen ist, das er vom hymel new prediger sende, mussen wyr uns nach der schriftt halten und unter uns selbs beruffen uns sezen die
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mit Gottes Wort begabten und nach 1. Petr 2, 9 zum Priester gesalbten Christen in den Vordergrund. Dieser hat „nicht alleyne recht und macht …, das gottis wort tzu leren, sondern ist das selbige schuldig tzuthun bey seyner seelen verlust und gottis ungnade“.³⁷⁴ Von diesem bis in die sprachliche Formulierung an De abroganda missa privata anschließenden Ausgangspunkt³⁷⁵ nimmt der Gedankengang eine uns bislang unbekannte Wendung. Denn Luther versucht nun die Frage, inwiefern der einzelne Christ die Pflicht zur Predigt des Evangeliums tatsächlich auszuüben gehalten ist, durch die Unterscheidung zweier Notstandssituationen zu plausibilisieren: Einmal nimmt Luther den Fall in den Blick, dass ein Christ an einem „ort [ist], da keyn Christen sind“. Unter dieser Bedingung fällt die Notwendigkeit weg, dass ein Christ zur Ausübung seiner Pflicht eines besonderen Legitimationsverfahrens bedarf. Sein „beruff“, wie Luther hier die äußerliche Ausübung der Pflicht bezeichnet, fällt mit seiner unmittelbar im Glauben vorliegenden ‚Berufung‘ durch Gott zusammen: „Do ist er schuldig, den yrrenden heyden odder unchristen tzu predigen und tzu leren das Euangelion aus pflicht bruderlicher liebe, ob yhn schon keyn mensch datzu berufft“.³⁷⁶ Als auslösendes Moment der den einzelnen Gläubigen erfassenden Liebespflicht sieht Luther „die nott der armen verdorbenen seelen“ an. Die duldet keinen Aufschub, weshalb ein Christ in diesem Fall nicht darauf warten kann, „ob yhm befehl odder brieffe von Fursten odder Bischoff geben werde“.³⁷⁷ Für die Durchbrechung der Erlaubniserteilung verweist Luther auf den naturrechtlichen Grundsatz: „Denn nott bricht alle gesetz und hatt keyn gesetze“.³⁷⁸ Dass die Erlaubnis bzw. der Befehl eines Fürsten oder Bischofs damit zugleich implizit als ein Element des gemeindlichen Normalfalls ausgegeben ist, versteht sich. Es ist zugleich eine der frühesten Wendungen im Werk Luthers, durch die er dem Fürsten eine dem Bischof gleichwertige Stellung in Bezug auf die Erteilung des Predigtrechts zuspricht; wie Luther diese Stellung näherhin einschätzt, werden wir gleich noch sehen. Doch halten wir für den ersten Fall fest: Diese Notfallkonstruktion bedeutet, formal betrachtet, gleich eine doppelte Restriktion der Ausübung des Rechts und der Macht eines Christen, indem die Wahrnehmung der allgemeinen Liebespflicht sowohl individuell-innerlich gehemmt ist, weil deren Ausbüng erst durch die Absenz anderer Christen frei gegeben ist,
ienigen, so man geschickt datzu findet und die gott mit verstand erleucht und mit gaben datzu getzieret hat“. ³⁷⁴ WA 11, 412,11–13. ³⁷⁵ Siehe oben bei Anm. 323. ³⁷⁶ WA 11, 412, 16–20. Vgl. zu Luthers Gleichsetzung von ‚beruff‘ und ‚Berufung‘ auch die bereits erwähnte Predigt vom 10. Juni: WA 10 / 3, bes. 170,11–171,14. ³⁷⁷ WA 11, 412, 25–27. ³⁷⁸ WA 11, 412,27. Vgl. 1. Kapitel Anm. 52.
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als sie auch institutionell-äußerlich eingeklammert wird, weil allein die Not ein Absehen von einer autoritativen Erlaubniserteilung legitimerweise gestattet. Der sodann von Luther in den Blick genommene Notstand, der einem jeden Christen die Ausübung seiner Macht frei gibt, geht von der Präsenz anderer Christen aus. Hierbei gilt für Luther grundsätzlich, „da Christen an dem ortt sind, die mit yhm gleyche macht und recht haben“, dass der Geist- und Wortbegabte zunächst „sich selb nicht erfur thun [soll], sondern sich beruffen und erfurtzihen lassen“.³⁷⁹ Die Zurückhaltung des Gläubigen geschieht, hier fehlt übrigens der Hinweis auf 1. Kor 14, 40, zugunsten des ordentlich berufenen Amtes, durch das ein Christ „an stad und befehl der andern“ predigt und lehrt, wie Luther in Anschluss an seine Adelsschrift festhält.³⁸⁰ Damit ist also die im obigen ersten Fall geschilderte institutionell-äußerliche Klammer in den Blick genommen, die sich um das Recht und die Macht des individuellen Gläubigen legt. Diese Klammer kann allerdings von einem jeden Gläubigen durchbrochen werden, so dass „er auch mitten unter den Chisten unberuffen durch Menschen mag und soll aufftretten und leren, wo er sihet, das der lerer da selbs feylet …“. Gleichwohl hebt die Verfehlung des ordentlich Berufenen am Evangelium – also der institutionell-äußerliche Notstand – für den einzelnen Gläubigen keinswegs die aufgrund der Präsenz anderer Christen bestehende individuell-innerliche Hemmung der Ausübung seiner Macht auf. Denn Luther beendet den gerade zitierten Satz unter Anspielung auf 1. Kor 14, 40 mit den Hinweis: „ßo doch, das es sittig und tzuchtig tzu gehe“.³⁸¹ Was er damit meint, wird gleich darauf deutlich: Nun tritt nach Luther nämlich die in 1. Kor 14, 27 ff. bezeugte Gemeindeordnung, wie er sie schon in De abroganda missa privata beschrieben hat, als gemeindliche Notstandsordnung in Kraft.³⁸² Allein: Wie Luther von hier aus auf die seinen zweiten Teil beschließende These kommt, dass damit der Grund aufgezeigt wäre, „der so uberflussig macht gibt der Christlichen gemeynen, das sie mag predigen, predigen lasßen und beruffen“,³⁸³ bleibt völlig unverständlich. Denn gezeigt hat Luther bloß, wie das Konzept der ‚charismatisierenden Freiwilligkeitskirche‘ aus De abroganda missa privata als eine Subsidiaritätsordnung der äußerlich-institutionellen Ordnung des gemeindlichen Normalfalls zu verstehen ist. Von einer positiv-konstruktiven Einwirkung des Gemeinde auf den institutionell-äußerlichen Normalfall auch und gerade durch die Berufung hat Luther indes gar nicht gehandelt. Vielmehr umgeht er den systematisch springenden Punkt mit der Behauptung: „Wie viel mehr ists denn recht“,³⁸⁴ dass die Notfallregeln Auswir³⁷⁹ ³⁸⁰ ³⁸¹ ³⁸² ³⁸³ ³⁸⁴
WA 11, 412,30–32. WA 11, 412,32–33. WA 11, 412,33–413,2. WA 11, 413,2–16. WA 11, 413,17–19. WA 11, 413,10.
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
kungen auf den Normalfall der Berufung haben. Denn es ist einfach nicht klar, wie sich das aus der Predigtberechtigung im Notfall herleitet.³⁸⁵ Gleichwohl setzt der dritte Teil³⁸⁶ den Aufweis der grundsätzlichen Legitimität einer Berufung durch die Gemeinde einfach voraus. Luther geht es hier darum, verschiedene Verfahrensarten einer Berufung abzuschatten. Strikt ausgeschlossen ist dabei allein der Anspruch der Papstkirche auf eine ausschließliche rechtmäßige Berufung, da ihre Bischöfe und Äbte für Luther nicht in der apostolischen Nachfolge der rechten Evangeliumsverkündigung stehen (die für Luther schon seit seinem Kleinen Galaterkommentar als Kriterium der Apostolizität gilt³⁸⁷), sondern – wieder in Anspielung auf Mt 7, 15 – „an des teuffels stat sitzen und wolffe sind“.³⁸⁸ Ansonsten unterscheidet Luther drei Berufungsverfahren; ich spitze Luthers Ausführungen typisierend zu: Erstens vermögen „rechtschaffene Bischoffe …, die das Euangelion haben wollten und rechtschaffene prediger setzen wollten“,³⁸⁹ ohne Gemeindebeteiligung zu berufen und zwar im Notfall, damit „die seelen nicht verdorben aus mangel gottlichs wort“.³⁹⁰ Zweitens kann eine Gemeinde, wo „die nott da ist und keyn Bischoff nicht ist, der Euangelisch prediger verschaffe“, autark sich Prediger bestellen.³⁹¹ Drittens gibt Luther als Ideal eines Berufungsverfahren das Zusammenwirken von ‚gerechtem Bischof‘ und Gemeinde an, wobei der Gemeinde die Prärogative eingeräumt wird.³⁹² Begründet ist diese Prärogative ganz pragmatisch mit einem uns weitgehend bekannten Argument: Da nämlich für die Eignung eines Kandidaten zum Predigtamt nach Tit 1, 6 in Verbindung mit 1. Tim 3, 2 allein seine moralische Untadeligkeit wichtig ist, dürfte nach Luther die Gemeinde darüber meist besser informiert sein als der einsetzende Bischof, weshalb dieser dem Gemeindevorschlag hinsichtlich des Kandidaten zu folgen gewillt sein wird.³⁹³ Aber Luther ist damit noch nicht ganz am Ende. Denn er nimmt zum Schluss noch einmal die Andeutung aus dem zweiten Teil seiner Schrift auf und führt aus: ³⁸⁵ Vgl. dazu auch prägnant den letzten Satz des zweiten Teils, WA 11, 413,19–22: „Sonderlich wo es nott ist, berufft er [Gott] selbs ein iglichen ynn sunderheyt on menschen beruffen [Anm. des Vf.: das ist der erste Notstandsfall], da mit wyr des keynen zweyffel haben sollen, das die gemeyne, die das Euangelion hatt, muge und solle unter sich selbs erwelen und beruffen, der an yhrer stad das wort lere“. Zwar behauptet B, Das geistliche Amt, 76: „An manchen Stellen ist die Darstellung des Notverfahrens sogar geeignet, Luthers Anschauung vom Normalfall zu verdeutlichen und sogar zu unterstützen“. Allein zeigt Brunotte bezeichnenderweise nicht, wie das der Fall sein soll. ³⁸⁶ WA 11, 413,23–416,10. ³⁸⁷ Vgl. oben Anm. 139. ³⁸⁸ WA 11, 413,31–32; vgl. den ganzen Abschnitt 413,23–35. ³⁸⁹ WA 11, 414,1–2. ³⁹⁰ WA 11, 414,4–5. ³⁹¹ WA 11, 414,30–415,1. Zitat: 414,30–31, Hervorhebung von mir, CV. ³⁹² WA 11, 414, 11–16. ³⁹³ WA 11, 414,15–21.
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„das an ettlichen ortten auch welltliche uberkeyt, als radsherren und fursten, yhn selbs prediger bestellet haben on alle urlaub und befehl der Bischoff und Bepste, Und hatt auch niemant dreyn geredt, Wie wol sie es (besorge ich) nicht than haben aus Christlichs rechts verstand, Sondern das die geystliche tyrannen das predig ampt veracht und geringe gehalten haben und weyt gesondert von dem geystlichen regiment, So es doch das aller hohist ampt ist, an dem alle andere hangen und folgen, Widderumb wo predigampt nicht ist, des andern keyns folget“.³⁹⁴
Hier liefert Luther nach seine Andeutungen in der Adelsschrift und im Sermon von den guten Werken das erste Mal eine nähere Erläuterung für die Rolle der politischen Obrigkeit im Reformationsprozess, indem er ihr zugesteht, in der Abwehr von Not die Kompetenz an sich zu ziehen, die dem Bischof aus positivem (kanonischen) Recht heraus eigen ist; in diesem Gedankengang schält sich der Sache nach der Landesherr schon als ‚Notbischof‘ heraus.³⁹⁵ Zugleich, und das ist entscheidend, wertet Luther das Predigtamt in einem massiven Umfang auf: Es ist ja nicht bloß, wie es in Anschluss an die Adelsschrift hier durchgehend heißt, die repräsentative kraft Befehl eingesetzte Stellvertretung der Gemeinde, sondern der Inbegriff des ‚geistlichen Regiments‘ und, damit einhergehend, das autoritativ-produktive Zentrum der kirchlichen Institution: Dem (legitim berufenen) Inhaber des Predigtamtes obliegt es, alle anderen parochial-pfarramtlichen Tätigkeitsfelder nach eigenem Ermessen zu organisieren.³⁹⁶ Dass Luther gerade mit dieser Charakterisierung des Predigtamtes seine Schrift beschließt, ist alles andere als zufällig. Denn in ihren drei Teilen beschreibt sie den Ablauf, wie die Gläubigen von der Erosion ihrer stellvertretenden Repräsentation im Predigtamt über eine überbrückende Notstandsordnung durch ein legitimes Bestellungsverfahren wieder zu ihrer Repräsentation im Predigtamt gelangt. Das heißt aber umgekehrt, dass, falls ein ordentlich berufener Inhaber des Predigtamtes sich als evangelischer Prediger erweist, die von Luther den Gläubigen individuell oder kollektiv zugesprochenen Rechte und Befähigungen keinerlei positiv-konstruktiven Einfluss auf das institutionelle kirchliche Leben haben. Das ‚göttliche Recht‘ des Urteils und des Widerstands, das Notrecht der Predigtbefugnis sowie das Beteiligungsrecht an der Pfarrstellenbesetzung sind vor- und außerinstitutionelle Phänomene, oder vielleicht: subjektive Rechte unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrades, weil das Beteiligungsrecht ja unter bestimmten Bedingungen ausgesetzt werden kann. ³⁹⁴ WA 11, 415,19–27. ³⁹⁵ Zu diesem später auftauchenden Terminus: H, Luther und das landesherrliche Kir-
chenregiment, 375 Anm. 2. ³⁹⁶ Vgl. WA 11, 415,31–416,3: „Der selb [scil. der Inhaber des Predigtamtes] mag darnach auch teuffen, meß hallten und alle seel sorge tragen odder so er nicht will, mag er an dem predigen alleyne bleyben und teuffen und andere unterampt anderen lassen, Wie Christus thet und Paulus und alle Apostel Act. 4. [sic!, scil. Apg 6, 4]“.
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
Die Gemeinde als Kollektiv religiöser Subjekte ist jedenfalls im institutionellen kirchlichen Normalfall als Gestaltungsinstanz irrelevant. Daran ändert auch der Umstand gar nichts, dass einem jeden Christen für Luther ganz selbstverständlich grundsätzlich die Möglichkeit offen steht, die Aufgaben des Predigtamtes auszuüben. Für die Gemeinde als eine im äußerlichen Sinn gefasste Versammlung der Kirchenmitglieder gilt diese Irrelevanz allerdings nicht. Denn diese Versammlung ist, wie Luther in seiner Kastenordnung darlegt, für die ökonomische Regelung des Gemeindelebens zuständig, die sie korporativ vornimmt.³⁹⁷ Auf die Gestaltung der im engeren Sinn kirchlich-kultischen Sphäre hat sie aber auch dann keinen Einfluss. Diese Sphäre liegt, wie Luther in seiner Gottesdienstordnung umreißt, allein in der Hand des Pfarrers und der ihm eigenen Autorität.³⁹⁸ Alles in Allem neigen sich die Leisniger Schriften durch ihre plastische Verdrängung der ‚Freiwilligkeitskirche‘ als einer institutionellen Leitvorstellung wieder sichtlich dem Vorstellungskreis zu, den Luther in seiner Adelsschrift vorgelegt hatte. Nur von einer ‚Bürgerkirche‘ lässt sich hier deshalb nicht sprechen, weil die eben auch politisch konnotierte ‚Bürgerschaft‘ von Luther im Leisniger Kontext gar nicht in Anspruch genommen wird. An deren Stelle ist ganz die kirchliche Gemeinde getreten, wobei Luther differenziert zwischen der Gemeinde als Versammlung religiöser Subjekte und Rechtsträger (Daß ein christliche Versammlung oder Gemeine), als Versammlung der Kirchenmitglieder und Verwaltungsverantwortlichen (Kastenordnung)³⁹⁹ sowie dem Inhaber ³⁹⁷ Vgl. dazu aus der Kastenordnung: WA 12, 21,7–22,30. Luthers Vorbild für die einzelnen Vorschläge ist wesentlich die Ordnung der Stadt Wittenberg aus dem Januar 1522, vgl. K, Geschichte der Reformation, 391. ³⁹⁸ Da hierfür Luthers Gottesdienstordnung rein illustrativen Charakter hat, können wir uns mit einem kleinen Exkurs begnügen: Zwar differenziert Luther in ihr ähnlich wie in Von beider Gestalt das Sakrament zu nehmen Gottesdienstformen eines „kleynern hauffen[s]“ und der „gantze[n] gemeyne“ (WA 12, 36,35–36). Doch die frühere normative Wertung ist völlig geschwunden. Die Vergemeinschaft der religiös ‚Starken‘ ist zur Ausbildung des institutionellen Nachwuchses umfunktioniert, da den ‚kleineren Haufen‘ „priester und schuler und tzuvor dieienigen, so man verhofft gutte prediger und seelsorger aus zu werden“ stellen sollen (36,30–31). Deren tägliche, morgens und abends abzuhaltende ‚Lection‘ orientiert sich an 1. Kor 14, 31, allerdings so, dass Luther jeden charismatischen Unterton ausschließt. Denn ausgeführt werden soll die Lesung und Auslegung der Schrift sowie die anschließende Ermahnung der Anwesenden vom „prediger odder welchem es befohlen wirt“ (35,32). Eine eigenständige Abendmahlfeier dieses kleinen Kreises erwähnt Luther nicht. Das Sakrament wird allein im allgemeinen sonntäglichen Gemeindegottesdienst gereicht, wobei aber auch hier die Predigt im Zentrum stehen soll. Hinsichtlich der Frequenz und der Gestaltung des Abendmahls gibt Luther den Ratschlag, all das dem Willen und Verlangen der Gemeindeglieder frei anzupassen, was die Fortführung der „teglichen messen“ als Möglichkeit explizit einschließt (36, 3–9). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Luther seine Ankündigung aus der Gründonnerstagspredigt 1523, welche die alsbaldige Einführung des Beichtverhörs als Bedingung der Zulassung zum Abendmahl in Aussicht stellt, hier nicht aufnimmt. Vgl. dazu WA 12, 476–493, bes. II 479,5–480,12. ³⁹⁹ Dass sich hier Überschneidungen zur politischen Bürgerschaft ergeben, ist klar. Und es
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des Predigtamts als institutionellem Ordnungs- und kultischem Autoritätsträger (Gottesdienstordnung). Dieses in sich differenzierte Gemeindebild bettet Luther mit einer solchen Selbstverständlichkeit in die vorhandenen kirchlichen und politischen Strukturen ein, dass die bis in die ‚Bulla‘ des Vorjahres hinein so scharf betonte Autonomie der ‚Bürgerkirche‘ dem Ideal des Zusammenwirkens von übergeordneten kirchlichen, im Notfall politischen Autoritätsinstanzen und Gemeindewillen zu- und eingeordnet wird. Dies ist genauso wie die gemeindlichen Binnendifferenzierungen für sich betrachtet freilich nicht ganz neu. Vielmehr verknüpft Luther verschiedene schon dargelegte Aspekte seines Amts- und Kirchenverständnisses und formt sie um. Dennoch bleibt diese Selbstverständlichkeit überraschend. Und es liegt nahe, hierin eine geschärfte und sich der politischen Realität neu öffnende Wahrnehmung Luthers zu erblicken, die sowohl durch seine eigene politische Tätigkeit als auch durch seine Arbeit an der Obrigkeitsschrift befördert wurde. Ein direkter Einfluss der Obrigkeitsschrift auf die Leisniger Schriften lässt sich nicht klar feststellen. Nur in der Bezeichnung des Predigtamts als ‚geistlichem Regiment‘ klingt sie an.⁴⁰⁰ Doch das ist wohl selbst wiederum nur ein terminologischer Reflex auf die insgesamt zu beobachtende Tendenz der Leisniger Schriften, welche die institutionell-autoritativen Züge des Predigtamtes in den Vordergrund rücken und damit das schon in der Adelsschrift bemerkte Problem wiederbeleben: Denn wie ist die gesamtgemeindliche Stellvertretung im Amt vorzustellen, wenn das Amt nicht bereits von vorneherein als zu diesem Zweck mit eigener Autorität und Gewalt errichtet aufgefasst werden soll, womit der Hiatus zwischen religiösem Subjekt und kirchlicher Institution zementiert wird?⁴⁰¹ Analog zum Übergang von der Adelsschrift zu De captivitate Babylonica ecclesiae nimmt sich Luther dieses Problems noch einmal an, und zwar in seiner Schrift De instituendis ministris ecclesiae. Und wir werden sehen, wie diese Schrift nicht nur chronologisch, sondern auch konzeptionell die mit der Adelsschrift begonnene Phase der Amts- und Kirchenvorstellung Luthers zu ihrem Ende bringt. Zur Abfassung von De instituendis ministris ecclesiae wurde Luther durch den Besuch des utraquistischen Priesters Gallus Cahera im Sommer 1523 veranist durchaus plausibel, gerade in der Finanz- und Vermögensverwaltung die Brücke zu einer „Anlehnung der kirchlichen Gemeinde an die bürgerliche“ zu erblicken (H, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, 357 und bes. 356 f. mit den Anm. Holl zieht hierfür auch heran: A S, Stadtgemeinde und Reformation, Tübingen 1918 [RSGG 11]; ganz ähnlich zuvor schon O G, Das Deutsche Genossenschaftsrecht. Dritter Band: Die Staats- und Korporationslehren des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, Darmstadt 1954 [ND der Ausgabe Breslau 1881], 802 f.) Dennoch spricht Luther die Verwaltungsinstanzen des ‚Kastens‘ eben als kirchengemeindliche an. ⁴⁰⁰ Vgl. dazu aus der Obrigkeitsschrift vor allem: WA 12, 271,11–25. Vgl. aber auch oben Anm. 234. ⁴⁰¹ Vgl. oben bei Anm. 286.
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II. Umbruch und Neuorientierung: Martin Luthers Amtskonzeption 1513–1523
lasst, der Luther von der Notlage der böhmischen Utraquisten berichtete und ihn um Ratschlag für einen evangelischen Aufbau des seit 1421 vakanten böhmischen Erzbistums bat.⁴⁰² Dass Luther dieser Bitte entsprach und damit zugleich die kirchenpolitischen Ziele Caheras unterstützte, der in der Rom unterstellten konsistorial organisierten böhmischen Kirche nach Höherem strebte, lag wohl auch daran, dass Luther die böhmische Situation aufmerksam verfolgte⁴⁰³ und bereits in seiner Adelsschrift auch die Wiederbelebung des böhmischen Erzbistums ins Auge gefasst hatte. Dafür war von Luther vorgeschlagen worden, dass der Papst auf seinen Anspruch auf die kirchliche Leitung des Erzbistums eine zeitlang verzichtet und ein von den Böhmen gewählter Bischof durch einen Bischof der umliegenden Erzbistümer (Gran, Gnesen, Magdeburg) in seinem Amt bestätigt wird.⁴⁰⁴ 1523 kam es für Luther aber gar nicht mehr in Frage, den Gedanken für den Aufbau eines böhmischen Erzbistums in irgend einer Form mit Blick auf die Kirche des Antichristen zu entwerfen. Deshalb entwickelte Luther das erste und zugleich letzte Mal in seinem ganzen Werk einen Entwurf, wie sich ein Kirchenwesen von Grund auf neu konstituieren kann. Bevor wir uns diesen Entwurf vor Augen führen, ist allerdings ein eher philologischer Sachverhalt zu bedenken: Denn Luther hat im Oktober 1524 in einem Brief darauf hingewiesen, dass er in dieser Schrift zwar für „modum, dogma et scripturae discursum“ verantwortlich sei, der ganze Rest aber von Cahera herrühre.⁴⁰⁵ Dass diese Bemerkung wohl in erster Linie meint, wie Jaroslav Pelikan es sah, „that Cahera supplied the description of the Czech situation as well as his own recommendation, which Luther took over into his treatise“,⁴⁰⁶ ist wahrscheinlich. Luther deutet brieflich auch nicht an, dass er nur Teile von De instituendis ministris verfasst hätte. Dennoch erweist sich der erst im November 1523 gedruckte Text als uneinheitlich, von den massiven Redundanzen im Text einmal ganz abgesehen. Besonders sperrig ist der argumentativen Grundlinie nach der erste materiale Teil der Schrift,⁴⁰⁷ zumindest dann, wenn ⁴⁰² Zu den Hintergründen nach wie vor J P, Continuity and Order in Luther’s View of Church and Ministry. A Study of the De instituendis ministris ecclesiae of 1523, in: I A (Hg.), Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther. Vorträge des Dritten Internationalen Kongresses für Lutherforschung Järvenpää, Finnland 11.–16. August 1966, Göttingen 1967, 143–154, bes. 143–146. Einen Überblick über die Entwicklung in Böhmen gibt W E, Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1478–1530, München u. a. 1981 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 38), bes. 121–149. ⁴⁰³ Unmittelbar vor De instituendis in seinem Ratschlag an die Böhmischen Landstände vom 15. Juli 1522: WA 10 / 2, 172–174. ⁴⁰⁴ WA 6, 454,17–457,27. ⁴⁰⁵ WA.B 3, 364,15–17; Nr. 786 (an den den Ritter Burian Sobek von Kornitz zu Prag vom 27. Oktober 1527). Dies ist eine lateinische Rückübersetzung eines mittlerweile verschollenen tschechischen Briefmanuskripts; vgl. die Anm. des Herausgebers a. a. O., 363. ⁴⁰⁶ P, Continuity and Order, 146. ⁴⁰⁷ WA 12, 170,1–178,8.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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man die konstruktiven kirchentheoretischen Elemente beachtet, die sich in Luthers massiver Polemik gegen die katholische Priesterweihe verstecken.⁴⁰⁸ Da wir aber (noch) keine weiteren Quellen haben, die eine Aufklärung der Textgeschichte von De instituendis erlauben, müssen wir auf weitere philologische Hypothesen verzichten.⁴⁰⁹ Die Sperrigkeit des ersten Teils machen wir uns am Besten klar, in dem wir ihn zunächst eigenständig behandeln und dann zur Rekonstruktion des zweiten umfangreichen Teils der Schrift fortschreiten. In diesem ersten Teil legt Luther die Entwicklung eines Kirchenwesens in drei Stufen auseinander, die vom ‚Haus‘ über die Vereinigung von Häusern zu Bürgerschaften, civitates, zum ministerium publicum verbi der ecclesia reichen: Das vom paterfamilias geleitete ‚Haus‘ stellt dabei zunächst den institutionellen Nukleus religiöser Subsistenz.⁴¹⁰ Denn auch unter der Bedingung der papstkirchlichen Tyrannei, die Luther mit dem Wegfall institutioneller Kirchlichkeit überhaupt identifiziert, vermag hier der rechte Glaube tradiert zu werden, indem der paterfamilias die Seinen mit dem religiös Notwendigen versorgt.⁴¹¹ Dafür liest er in seinem Haus das Evangelium und tauft die ihm geborenen Kinder, wodurch er „iuxta doctrinam Christi“ sich und die Seinen regiert.⁴¹² Während Luther für die Taufe durch den Hausvater darauf verweist, dass dies Laien nach „totius orbis consensus et usus“ ohnehin gestattet ist,⁴¹³ führt er für das Lesen des Evangeliums keine gesonderte Begründung an. Sie scheint daher mit der natürlichen Herrschaft des paterfamilias einherzugehen. Gleichwohl bleibt das ‚Haus‘ auf den Bereich des für das Seelenheil Notwendigen beschränkt und muss auf alle dafür nicht notwendigen Dinge, vor allem das Abendmahl, trotz des religiösen Verlangens nach ihnen verzichten.⁴¹⁴ Schließen sich „duae, tres, decem domus, vel tota civitas, vel multae civitates“ zusammen, ist sodann eine neue Stufe erreicht aufgrund ihres Konsenses, „et fi⁴⁰⁸ Allein auf diese Polemik stellt in seinem Referat der Schrift ab K, Ordination in Wittenberg, 59 f. Gar nicht hilfreich zum Verständnis ist B, Das geistliche Amt, 78– 94. ⁴⁰⁹ Das Problem ist, wie bereits die Herausgeber der Weimarer Ausgabe hervorgehoben haben, auch eins der Chronologie (WA 12,162 f.). Denn wir wissen, dass Cahera bereits im August 1523 wieder in Prag war und ein Schreiben von Luther im Gepäck hatte, das ihm zur Wahl in das utraquistische Konsistorium verhalf (P, Continuity and Order, 145). Ob es sich hierbei um die später gedruckte Schrift De instituendis ministris handelte, wissen wir aber nicht. Es ist daher durchaus möglich, dass Luther De instituendis ministris zwischen der ersten Abfassung im Zusammenhang mit Caheras Besuch im Sommer bis zum Druck im Winter noch einmal überarbeitete. Übrigens ist Luthers Kritik an seinem eigenen Text (vgl. den Brief wie Anm. 404) wohl vor allem dem Umstand geschuldet, dass Cahera bei nächster Gelegenheit, nämlich im Sommer 1524, seine Karrierepläne in der Römischen Kirche weiter verfolgte. ⁴¹⁰ Vgl. WA 12, 171,17–23 und 171,38–172,8. ⁴¹¹ WA 12,171,38–39. ⁴¹² WA 12, 171,19. ⁴¹³ WA 12, 171,18–19. ⁴¹⁴ WA 12, 172,3–5.
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dem ac caritatem per Euangelion domesticum“ auszuüben.⁴¹⁵ Das erfüllt nach Luther das Kriterium, diese konsensualen Zusammenschlüsse als ‚Kirche‘ zu bezeichnen, auch wenn sich das ausschließlich auf den religiösen Begriff der ‚Kirche‘ bezieht. Denn ohne Zweifel, so führt Luther aus, ist hier Christus in ihrer Mitte und erkennt sie „pro Ecclesia sua“ an.⁴¹⁶ Doch auch diese häuslich orientierte Bürgerschaft muss auf einen ordinatus verzichten, „qui Eucharistiam aut alia ministret“.⁴¹⁷ Damit ist schon angedeutet, was für Luther die institutionelle Kirchlichkeit letztlich ausmacht: Bezeichnet der ordinatus doch einen minister verbi, der durch die nach der Autorität der Schrift sowie dem Beispiel und den Anordnungen der Apostel eingesetzte sacra ordinatio das ministerium publicum verbi wahrnimmt, „quo dispensatur mysteria dei“.⁴¹⁸ Die Sakramentsverwaltung durch das ministerium publicum verbi ist neben der Evangeliumspredigt das Instrumentarium, die institutionell Häuser und Bürgerschaften umgreifende Ecclesia zu regieren.⁴¹⁹ Für dieses dergestalt gefasste ministerium publicum verbi gilt, dass es „omnium in Ecclesia et summa et maxima est, in qua tota vis Ecclesiastici status consistit, cum sine verbo nihil constet in Ecclesia et per solum verbum omnia constet“.⁴²⁰ Soweit unser Überblick über die konstruktiven kirchentheoretischen Elemente des ersten Teils. In ihm stechen die Anleihen bei einer vulgäraristotelischen Ordnungstheorie dermaßen markant hervor, dass es verwundert, dass sich daran in der Lutherforschung noch niemand gestoßen hat. So hat Luther jedenfalls in unserem Zusammenhang noch nie von der Kirche und dem Amt gehandelt.⁴²¹ Gleichwohl ist das ordnungspolitische Skelett durchgängig mit Motiven angereichert, die wir vor allem aus Luthers Schrift De captivitate kennen: Das gilt sowohl für die Bedeutung, die Luther dem freiwilligen Konsens als Kennzeichen der im Glauben konstituierten Kirche zuspricht, als auch für das religiöse Verlangen nach dem Sakrament, mit dem Luther den Übergang von der Haus- zur Amtsordnung, der ebenfalls aus De captivitate bekannten Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre, motiviert. Im Unterschied zu De captivitate aber sind diese Motive hier rein religionssoziologischer Natur, insofern sie zwar die Fortentwicklung der religiösen Vergemeinschaftungen zur Kirche typologisierend unterscheiden helfen. Sie haben aber keine Funktion hinsichtlich der Näherbestimmung des Charakters des ministerium publicum verbi. Dieses tritt vielmehr der durch den Hausvater bezeichne⁴¹⁵ ⁴¹⁶ ⁴¹⁷ ⁴¹⁸ ⁴¹⁹ ⁴²⁰ ⁴²¹
WA 12, 171,24–26. WA 12, 171,28. WA 12, 171,27. WA 12, 173,2–6. Vgl. WA 12, 173,35–37 und 174,34–35. WA 12, 173,5–6. Der civitas-Begriff begegnet freilich in der ersten Psalmvorlesung, siehe oben bei Anm. 21.
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ten privaten Sphäre nachgerade antithetisch gegenüber. Die Evangeliumslesung des Hausvaters erscheint hier keineswegs als eine andere, nämlich private Form der Verkündigung, sondern als eine nur im Notfall notwendige. Denn allein das öffentliche Amt kann mit Wort und Sakrament die Kirche in vollem Umfang realisieren, was in der Ordination sichtbar institutionalisiert wird. Diese Normativität des Amtes schlägt auf die religiösen Subjekte zurück, ob sie nun im Haus oder in den civitates vergemeinschaftet sind. Denn für sie ist die Erfüllung ihres religiösen Verlangens vollständig allein durch dieses Amt zu erreichen. Der erste Teil bietet damit, zugespitzt formuliert, ein durchaus objektivistisches Bild des Pfarrers als personifizierter öffentlicher Heilsverkündigungsanstalt. Der zweite Teil, der mit der Überschrift „Sacerdotem non esse qvod Presbyterum vel ministrum, illum nasci, hunc fieri“⁴²² einsetzt, hebt dieses Bild nun nicht vollständig auf, nimmt ihm aber sein schroffes Gepräge. Die vulgäraristotelischen Anleihen kommen in ihm gar nicht mehr vor; der paterfamilias und die civitates verschwinden aus dem Gesichtskreis. Wie die Überschrift bereits andeutet, ist Luther einmal mehr darum bemüht, den Unterschied zwischen einem religiös allen Christen eigenen Priestertum und dem ‚gemachten‘ Pfarrer aufzuzeigen. Über weite Strecken legt Luther dafür, wie er selbst betont, eine Zusammenfassung bereits über das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ geäußerter Gedanken vor.⁴²³ Wir brauchen diese Ausführungen über das sacerdotium spirituale nach 1. Petr 2, 9; Offb 5, 10; Joh 6, 45; 1. Kor 4, 1 etc. nicht zu wiederholen. Besonderes Gewicht legt Luther in diesem Zusammenhang auf den Aufweis, dass keins der officia sacerdotalia – das sind: „docere, praedicare annunciareque verbum dei, baptisare, consecrare seu Eucharistiam ministrare, ligare et solvere peccata, orare pro aliis, sacrificare et iudicare de omnium doctrinis et spiritibus“⁴²⁴ – eine Weihe voraussetzt, sondern bereits durch den Glauben den Gläubigen als Betätigungsfelder offen stehen. Die polemische Auseinandersetzung nimmt einigen Raum in Anspruch, ist für uns aber im Einzelnen nicht informativ.⁴²⁵ Allerdings folgt Luther in dieser Auseinandersetzung der im ersten Teil gelegten Spur, insofern er einerseits neben der alle Christen betreffenden Gemeinsamkeit an der Verkündigung deren Öffentlichkeitscharakter betont und andererseits Abendmahl⁴²⁶, Taufe⁴²⁷ und Buße⁴²⁸ als ⁴²² WA 12, 178,9–10. ⁴²³ Vgl. WA 12, 178,33 und 180,1. Eine andere Zusammenfassung findet sich in den um
die selbe Zeit herum gedruckten Predigten über den 1. Petrusbrief, die für uns aber nichts Neues bringen: Vgl. bes. WA 12, 306,8–310,8 und 316,4–320,11. ⁴²⁴ WA 12, 180,2–4. Siehe zu ähnlichen Auflistungen der officia sacerdotalia 1. Kapitel bei Anm. 46. ⁴²⁵ Siehe WA 12, 180,17–189,16. ⁴²⁶ Aufgrund von 1. Kor 11, 26: WA 12, 180,34. Der Abschnitt über die Konsekration (182,19–183,16) richtet sich ausschließlich gegen das magische Verständnis der Transsubstantiation.
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Anwendungsfälle der Verkündigung durch das ministerium verbi, sprich: der Lehre und Predigt,⁴²⁹ kennzeichnet. Indes gibt es eine terminologische Wendung, die besondere Aufmerksamkeit verdient: Denn für die im sacerdotium spirituale vorliegende prinzipielle Ermächtigung und Befähigung zur Ausübung der officia prägt Luther auch den Begriff des ius commune Christianorum. Das ist signifikant, weil dieser Begriff im Übergang von Luthers Ausführungen über den ‚geborenen Priester‘ zu der Darlegung auftaucht, wie ein Pfarrer ‚gemacht‘ wird.⁴³⁰ Diese terminologische Prägung ist mehr als eine bloß sprachliche Ersetzung der für Luther höchst missverständlichen Unterscheidung eines sacerdotium spirituale et commune und eines sacerdotium speciale et externum.⁴³¹ Denn sie macht von vorneherein die Perspektive klar, in der Luther im Folgenden vom ministerium spricht, nämlich als einem mit den Gläubigen als religiösen Rechtsträgern verknüpften Phänomen. Dabei greift er immer wieder sowohl auf Daß ein christliche Versammlung wie auch die Adelsschrift zurück, verändert aber eine beiden Schriften gemeinsame Bestimmung fundamental, und zwar den Amtsbegriff. Die etwas längere Passage, die sowohl Nähe wie Differenz zu den früheren Schriften markiert, führen wir zunächst an: „Nam cum omnium Christianorum haec sint omnia … communia, nulli licet in medium prodire autoritate propria et sibi arripere soli, quod omnium est. Arripe sane id iuris exequere, ubi nullus est, qui simile ius habeat. Verum haec communio iuris cogit, ut unus, aut quotquot placuerint communitati, eligantur vel acceptentur, qui vice et nomine omnium, qui idem iuris habent, exequantur officia ista publice, ne turpis sit confusio in populo dei, … sed omnia secundum ordinem fiant, ut Apostolus docuit [1. Kor 14, 40]“.⁴³²
Bis in die Sprachwahl hinein liegt hier eine juridifizierte Argumentation vor, die vier Momente umfasst: Erstens hält Luther fest, dass die Erlaubtheit bzw. Nichterlaubtheit der Ausübung der officia schlechterdings nichts mit dem ausübenden Subjekt bzw. dessen Handlung zu tun hat, sondern damit, ob die Ausübung der officia auf religiös gleichgestellte Individuen, also selbst: Rechtssubjekte, bezogen ist oder nicht. Ist das der Fall, so ist die Ausübung unerlaubt, ⁴²⁷ Hier nennt Luther keine Bibelstelle. Vgl. aber seine Bemerkung zur Nottaufe von Frauen, WA 12, 181,27–32: „Nam inter baptisandum profetur verbum dei vivificum, quod animas regenerat et a morte ac peccatis redimit, quod est … enim summum illud officium in Ecclesia, nempe annunciare verbum dei. Itaque et mulieres, dum baptisant, legitimo funguntur sacerdotio, idque non privato opere, sed publico et Ecclesiastico ministerio …“. ⁴²⁸ Nach Mt 18, 15 ff., WA 12, 183, 32–37 und 184,32–33: „At ligare et solvere prorsus alius nihil est quam Euangelium praedicare et applicare“. ⁴²⁹ WA 12, 180,17: „Primum igitur officium, nempe ministerium verbi …“ (Hervorhebung im Original). ⁴³⁰ WA 12, 189,17. ⁴³¹ WA 12, 180,24–25. ⁴³² WA 12, 189,17–25.
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außer sie findet, zweitens, bereits in einem Ordnungsgefüge statt, zu dessen Ausbildung die Rechtssubjekte durch ihre Rechtsgleichheit gezwungen werden, wobei dieser Zwang final der Erfüllung des Gebots nach 1. Kor 14, 40 zugeordnet ist. Drittens wird dieses Ordnungsgefüge entsprechend der Rechtsgleichheit der an ihm Beteiligten durch Wahl (mindestens) eines rechtsgleichen Subjekts und dessen Annahme durch die Wählenden konstituiert. Und dem Gewählten wird, viertens, die Stellvertretung aller Rechtssubjekte in Form einer direkten Beauftragung (durch diese Rechtssubjekte) überantwortet, welche in den öffentlichen officia wahrgenommen wird. Von diesen vier Momenten ist sicher das letzte das heikelste, weil nicht unmittelbar klar ist, was ‚vice et nomine omnium‘ bedeutet und wie sich das zu ‚exequantur officia publice‘ verhält. Auszuschließen ist dabei sicherlich, dass es sich wie in De captivitate rein um eine öffentliche Ausübungsbefugnis kraft Konsens handelt, die den Gewählten als Organ des Gemeindewillens installiert. Dann hätte sich Luther seinen Hinweis mit dem ‚vice‘ schlicht sparen können. Ebenso aber ist auszuschließen, dass dies nur eine etwas verrutschte Reformulierung aus der Adelsschrift bzw. der Leisniger Schrift ist, weil hier die Stellvertretung der Gemeinde von vorneherein dem Amt eigen und insofern vom Gemeindewillen – wie wir an der Adelsschrift gesehen haben – unterschieden ist, dessen Willensbekundung sich ja allein auf den Amtsinhaber bezog. Aber im obigen Kontext konstituiert gerade die Wahl die Stellvertretung und zwar direkt im Gewählten bzw. genauer: in dessen öffentlicher Ausübung der officia. Vor diesem Hintergrund ist auf die Frage: Was vertritt der Gewählte in der öffentlichen Ausübung der officia stellvertretend für die Rechtssubjekte?, wohl nur eine Antwort plausibel: Kraft Willensentscheid treten die religiösen Subjekte ihr öffentliches Verkündigungsrecht sowie ihre öffentliche Verkündigungsbefähigung und -verpflichtung an den Gewählten ab, wodurch dessen Tätigkeit die Qualität einer öffentlichen Stellvertretung der Rechtssubjektivität der Gläubigen gewinnt und er im ‚Namen aller‘ handelt. Dies macht Luther sogar stärker noch einmal später deutlich: Denn er hebt hervor, dass aufgrund der Verpflichtung zur Verkündigung eine ganze Körperschaft (tota universitas) berechtigt ist, „id officii communibus suffragiis alicui uni vel pluribus vice sua committere“, womit die Stellvertretung zu einer der körperschaftlichen Rechtssubjektivität aufsteigt. Und Luther fügt hinzu: „Et illi deinceps aliis, accedentibus eisdem suffragiis?“.⁴³³ Dieser Hinweis auf die nochmalige Zustimmung der Körperschaft qua Stimmabgabe bei einer Delegation der Amtsaufgaben wäre völlig sinnlos, würde es sich nicht um eine Abtretung der Rechte in die Stellvertretung durch die öffentlichen Aufgaben hinein handeln, oder wäre das eine ‚Übertragung‘. Vielmehr heißt es ganz klar kurz darauf nach einem Hinweis auf 2. Tim 2, 2: ⁴³³ WA 12, 190,40–191,2.
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„Quod si docendi verbi officium ulli traditur, simul omnia, quae verbo in Ecclesia fiunt, traduntur, nempe baptisandi, consecrandi, ligandi, solvendi, orandi, iudicandi officium, siquidem euangelisandi officium summum est“.⁴³⁴
Luthers Vorstellung des ministerium publicum verbi, ganz am Schluss fällt dafür auch der Begriff ministerium ecclesiasticum,⁴³⁵ steht also im zweiten Teil der Schrift hinsichtlich seines Charakters einer personifizierten Heilsverkündigungsanstalt in nichts dem ersten nach. Doch es gelingt Luther in einer rasanten Gedankenvolte das Abgleiten dieser Vorstellung ins Objektive hinein zu verhindern, indem er den ganzen Wahl- und Berufungsakt und damit die Konstitution des institutionalisierten Amtes selbst wieder in den Bereich der religiösen Innerlichkeit hineinzieht. Markanterweise ist es der bereits im ersten Teil der Schrift plötzlich geforderte Ordinationsritus, an dem Luther das deutlich macht. Der Ritus selbst wird von Luther als dreistufiger Prozess beschrieben:⁴³⁶ Zuerst soll in privaten und öffentlichen Gebeten Gott um Hilfe bei der Suche und Wahl eines Amtsträgers ersucht werden.⁴³⁷ Darauf sollen diejenigen zusammentreten, die von Gott im Herz berührt sind und mit anderen in Gefühl und Einsicht übereinkommen, welche dann Menschen für das Amt wählen, „qui digni et idonei visi fuerint“,⁴³⁸ wofür allein Tit 1, 6 ff. in Verbindung mit 1. Tim 3, 2 ff. zu veranschlagen ist.⁴³⁹ Und diese Wahl wird schließlich durch die „potiores“ der Gemeinde durch Handauflegung bestätigt, womit die Gewählten dem Volk, der Kirche bzw. der Körperschaft „Episcopi, ministri seu pastores“ sind.⁴⁴⁰ Für uns ist es nicht von Belang, dass Luther diesen „liberum et Apostolicum ritum“⁴⁴¹ als Nukleus einer umfassenderen kirchlichen Struktur ansieht, indem die dergestalt ordinierten minister dann ihnen vorgesetzte Bischöfe wählen und die kraft Konsens ein legitimum et Evangelicum archiepiscopatum schaffen können. Luther selbst deutet das nur an und will von einer gesetzlichen Normierung dieses Ordinationsritus nichts wissen, sondern hofft auf dessen ⁴³⁴ WA 12, 191,6–9. Hervorhebung von mir, CV. Luther kennt die Rechtsterminologie für eine ‚Übertragung‘, hat er doch schon 1518 gegen sie polemisiert, vgl. oben bei Anm. 119. ⁴³⁵ WA 12, 196,20. ⁴³⁶ Luther legt das gleich zwei Mal dar: WA 12, 191,19–27 und 193,22–194,2; im Folgenden nehmen wir auf die zweite etwas ausführlichere Beschreibung Bezug. Illustriert wird das auch an biblischen Beispielen, die den Böhmen die Bedenken nehmen sollen, Luther lege eine Neuerung vor, WA 12, 191,16–192,23. Vgl. dazu auch K, Ordination in Wittenberg, 60–65. ⁴³⁷ WA 12, 193,22–25. ⁴³⁸ WA 12, 193,38. ⁴³⁹ WA 12, 194,2–3. ⁴⁴⁰ WA 12, 193,38–194,2: „tum impositis super eos manibus illorum, qui potiores inter vos fuerint, confirmetis et comendetis eos populo et Ecclesiae seu universitati, sintque hoc ipso vestri Episcopi, ministri seu pastores …“. Vgl. zur Handauflegung und Ordination auch oben Anm. 349. ⁴⁴¹ WA 12, 194,21–22.
2. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ (1520–1523)
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Durchsetzung durch das Vorbild derjenigen Gemeinden, die ihn gebrauchen.⁴⁴² Für uns entscheidend ist hingegen, wie sich dieser Ritus zu den vorherigen Äußerungen Luthers über die Berufung eines Amtsträgers verhält. Dabei sind zwei Dimensionen dieses Ritus zu unterscheiden: Äußerlich handelt es sich um ein Institutionalisierungsverfahren, das sich an die religionssoziologische Verlaufstypologie des ersten Teils von De instituendis anlehnt, indem der Verlauf des Verfahrens vom individuell-privaten Bereich (Gebet) über den aus einer freiwilligen Vergemeinschaftung der Gläubigen entspringenden Konsens (Wahl) zur öffentlichen Institution des Amtes (Handauflegung) fortschreitet. Innerlich jedoch richtet sich dieser Prozess nicht auf den potentiellen Amtsträger, sondern ist intentional auf die an diesem Prozess beteiligten Gläubigen und ihr Gottesverhältnis gewendet. Sie sind es nämlich, die im Gebet ihren Glauben zum Ausdruck bringen, dass Gott der im aufrichtigen Verlangen geäußerten Bitte seiner Gläubigen entsprechen wird.⁴⁴³ Und sie sind es, die mit der Handauflegung „indubitata fide“ artikulieren, dass von Gott äußerlich bewirkt wird, „quod hac ratione gesserit et foecerit consensus communis fidelium, Euangelion agnoscentium ac profitentium“.⁴⁴⁴ Der Glaube des (potentiellen) Amtsträgers bleibt also dem ganzen Verfahren äußerlich, er wird von den an diesem Verfahren Beteiligten schlicht vorausgesetzt. Allein die dignitas und idoneitas stellen verwertbaren Kriterien zur Amtsbesetzung dar. Insofern ist das äußerlich institutionalisierte Amt keine religiöse Instanz, und der Institutionalisierungsprozess selbst ist in seiner äußerlichen Form auch kein spezifisch religiöser, weil er auch ganz unabhängig von der Intention der an ihm Beteiligten mithilfe naturrechtlicher Prinzipien freiwilliger Vergemeinschaftungen und aus ihnen erwachsener Herrschaftsformationen reformuliert werden kann. In dieser Hinsicht schließt Luther sein Amtsverständnis wieder markant an das des Mittelalters an, indem einerseits das Institutionenverhältnis des Gläubigen als unabhängig von der religiösen Subjektivität des Amtsträgers gekennzeichnet wird – womit Luther eine von ihm selbst lange Zeit verteidigte Ansicht zurücknimmt –, und sich andererseits in Luthers Amts- und Kirchenverständnis die seit der Adelsschrift angedeutete Brücke zu naturrechtlich-korporativen Institutionentheoremen deutlich abzeichnet. Zugleich bleibt das geschilderte Institutionalisierungsverfahren einer Eingliederung in bestehende kirchliche wie obrigkeitliche Hierarchien gegenüber offen, weil nicht vorausgesetzt werden muss, dass der würdige und fähige Amtsinhaber aus dem sich freiwillig vergemeinschaftenden Kollektiv selbst stammt.⁴⁴⁵ ⁴⁴² ⁴⁴³ ⁴⁴⁴ ⁴⁴⁵
Vgl. WA 12,194,4–20. Vgl. vor allem WA 12, 193,33–35. WA 12, 191,25–27. Hierfür zieht Luther auch Mt 18, 19 f. heran: WA 12, 191,28–37. Vgl. dazu auch WA 12, 191, 16–21, wo Luther wie in der Leisniger Schrift die Wahl aus der Gemeinde selbst als eine Notlösung präsentiert.
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Gleichwohl restituiert Luther in anhaltender Differenz zum mittelalterlichen Amtsverständnis mit seinem Ordinationsritus eine amtstheoretische Konstellation, deren Grundzüge wir aus den Dictata super Psalterium kennen:⁴⁴⁶ In der Spannung von äußerlicher Institution und religiöser Intention wird das ‚Amt‘ zu einem äußerlichen Zeichen, das den Gläubigen letztlich auf sein religiöses Selbstempfinden verweist. Denn im Amt und dessen öffentlicher Ausübung erschließt sich dem Gläubigen eben jene auch ihm innerlich zugeeignete Verkündigungsaufgabe, -pflicht und -ermächtigung, sein ius commune Christianorum.⁴⁴⁷ Just darauf beruht die dem Amt eigene, nicht nur institutionelle Autorität, weil den Gläubigen im Amtsträger keine ihnen selbst externe, sondern ihre eigene Verpflichtung zur äußerlich vielgestaltigen Evangeliumsverkündigung entgegen tritt. Und diese Verpflichtung fordert konsequenterweise die religiöse Anerkennung und Verehrung des Amtinhabers,⁴⁴⁸ freilich nur so lange, wie er sich in Worten und Taten – sprich: durch seine dignitas und idoneitas – als dem Urgrund des ius commune Christianorum verpflichtet erweist: dem Evangelium. So sicher gerade das einem objektivistisch-substantialistischen Verständnis der durch das Amt wahrgenommenen Stellvertretung des ius commune Christianorum wehrt, so hat es doch auf das Verhältnis von religiöser Innerlichkeit und kirchlicher Institution einen doppelten Effekt: Einmal setzt sich der Einfluss der religiösen Innerlichkeit auf die Institution mittelbar um, und zwar eben im Amtsträger und dessen religiöser Egalität zu allen anderen Christen. Allein gilt umgekehrt: Weil der Amtsträger im Glauben der Gläubigen als einer von ihnen stellvertretend agiert, wird eine weitergehende institutionelle Partizipation der Gläubigen unnötig, da das Amt ja nichts anderes ist als der öffentliche (natürlich auch: individuierte) Ausdruck eben ihrer religiösen Partizipation an der Institution.⁴⁴⁹ Damit geht sodann eine merkliche Ausgrenzung des gläubigen Charismas aus der öffentlich institutionalisierten Kirche einher. Von einem direkten Einfluss ist in De instituendis schlicht nicht mehr die Rede, obwohl alle bislang für die ‚charismatisierende Freiwilligkeitskirche‘ wichtigen Stellen aus dem 1. Korintherbrief präsent sind; wie in der Leisniger Schrift bezeichnen sie strikt vor- und außerinstitutionelle Phänomene, auf die ⁴⁴⁶ Siehe oben bei Anm. 26. ⁴⁴⁷ Um einem Missverständnis vorzubeugen: Durch das Amt erschließt sich dem Gläubi-
gen nicht das Evangelium! Das passiert im Glauben der Gläubigen in den officia, die vom Amt ausgeübt werden, weil nur in ihnen – nicht im Amt – die Verheißung Christi zeichenund worthaft präsent sind. ⁴⁴⁸ Vgl. WA 12, 191,25. ⁴⁴⁹ Es wäre noch eine eigene Überlegung wert, ob für Luther es deshalb sogar nötig sein könnte, dass der Pfarrer einer wie alle Christen ist, weil er eben nur so die Stellvertretung erfüllen kann. Insofern hätte die religiöse Egalität eine Sperrfunktion gegenüber priesterlichen Sonderweltstheorien.
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Luther hier auch gar nicht weiter eingeht.⁴⁵⁰ Die Absorption der Ausübung der allen Christen überantworteten Aufgaben im kirchlich-öffentlichen Amt übt insofern auf den ‚spiritualistischen Zuschnitt‘ von Luther Amts- und Kirchenvorstellung einen institutionellen „Neutralisierungseffekt“ aus, wie Klaus-Peter Voß treffend formulierte.⁴⁵¹ Konsequent zu Ende geführt ist dieser ‚Neutralisierungseffekt‘ dann in der im Dezember 1523 gedruckten Formula Missae et Communionis: Die sichtbare kleine ‚Schar‘ der Glaubensmotivierten tritt zum Abendmahl im Chor der Kirche während des Hauptgottesdienstes zusammen, nachdem sie durch den Pfarrer einem Beichtverhör unterzogen wurden.⁴⁵² Die täglichen Lesungen durch den Pfarrer sind für die religiöse Sozialisation der Jugend vonnöten.⁴⁵³ Der minister verbi nimmt die Züge eines kirchlich-öffentlichen Hausvaters an. Damit liegt die kirchliche Neuorientierung des reformatorischen Umbruchs vor Augen. Noch bevor also im Jahr 1524 die Auseinandersetzungen mit Thomas Müntzer in Allstedt und Andreas Bodenstein von Karlstadt in Orlamünde bei Luther die polemische Fieberkurve steigen lassen und er beide als ‚Schwarmgeister‘ geißeln wird, ist seine Amts- und Kirchenvorstellung im Zug seiner Bemühungen reformatorischer Gemeindeordnungen nicht nur praktisch sondern auch konzeptionell auf eine feste institutionelle Spur gesetzt, die innerhalb der bestehenden gemeindlichen und – freilich unter Verzicht auf die Anbindung an Rom – kirchlichen Strukturen verläuft. Das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ wird in Luthers Werk später immer wieder einmal auftauchen. Für die werdenden Kirchentümer im Gefolge der Wittenberger Reformation scheidet dieses Motiv als institutionell bedeutsame Vorstellung in den nächsten Jahren indes aus. Im Verlauf der nach dem Bauernkrieg einsetzenden Kirchenvisitationen wird Luther das Pfarramt in seine sozial- und berufsethische ‚Dreiständelehre‘ integrieren, um sein Amtsverständnis religiös von dem der Papstkirche zu unterscheiden. Und er wird die Bedeutung der kirchlichen vocatio stärken, wenn er mit dem Jahr 1525 ansetzend selbst zu ordinieren beginnt, um das evangelische Amt institutionell von den ‚Schwärmern‘ abzugrenzen. Die damit eintretenden Umformungen in Luthers Denken zu verfolgen, ist aber nicht mehr unsere Aufgabe. Wir blicken in unserem Schlussabschnitt auf das bis hierhin Erreichte zurück.
⁴⁵⁰ ⁴⁵¹ ⁴⁵² ⁴⁵³
Vgl. nur WA 12, 190,36–39. V, Der Gedanke, 90. Vgl. WA 12, 215,18–28 und 216,20–30. Vgl. WA 12, 219,8–21.
III. potestates und ministerium publicum: Zusammenfassende Perspektiven Reformatorischer ‚Umbruch und Neuorientierung‘, so ist der zweite Teil dieser Studie überschrieben, stellen sich in einer verflochtenen Dynamik dar, die nicht sauber in zwei aufeinanderfolgende Etappen oder Phasen zu trennen ist. Es war die letzte These des zweiten Teils, dass erst im Jahr 1523 aus dieser Dynamik die gedankliche Figur des ministerium publicum erwächst, die für die Fort- und Weiterbildung des Amtsverständnisses der Reformationskirchentümer im Gefolge Luthers eine festere, aber natürlich nicht abschließende konzeptionelle Orientierungsgröße darstellt. Der Umschlagspunkt, der mit Luthers Überlegungen zum ministerium publicum verbunden ist, besteht nicht zuletzt in der institutionellen Neutralisierung des ‚spiritualistischen Zuschnitts‘ seines Amts- und Kirchenverständnisses, der von den Anfängen in den frühen Vorlesungen an die Umbruchs- und Neuorientierungsdynamik in Luthers Denken antrieb. Es ist ein zentrales Ergebnis dieser Studie, dass im Zug dieser Neutralisierung auch das ‚Priestertum aller Gläubigen‘ als ein institutionelles Gestaltungsmotiv konzeptionell ausscheidet: Das ministerium publicum macht eine auf den gemeindlichen Normalfall bezogene, dauerhafte Mitwirkung der Gläubigen an den pfarramtlichen Kompetenzbereichen unnötig. Es bleibt uns nun noch übrig, dieses Ergebnis weiter zu konturieren, und zwar nicht hinsichtlich seiner tatsächlichen oder nur vermeinten dogmatischen Gültigkeit, sondern hinsichtlich der historischen Ambivalenz, die darin zum Ausdruck kommt. Denn Luther tritt mit dem ministerium publicum in einen ebenso prinzipiellen religiös-theologischen Gegensatz zum Amtsverständnis des mittelalterlichen Kirchentypus, wie er institutionell den gradualistischen Grundzug dieses Kirchentypus transformiert und weiterführt. Da der Begriff des ‚Kirchentypus‘ missverständlich sein kann, weil er vielleicht manchen zu sehr in der Nähe der mittlerweile weithin perhorreszierten Vorstellung einer mittelalterlichen ‚kirchlichen Einheitskultur‘ (Ernst Troeltsch) steht,¹ dazu eine Bemerkung: Die Leugnung einer Vielgestaltigkeit ¹ Vgl. zu den Konstruktionsprinzipien von Troeltschs – noch immer weitgehend unerforschtem – Mittelalterbild nach wie vor U K, Die Idee der „Einheitskultur“ des Mittelalters, in: F W G / T R (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, Gütersloh 1993 (Troeltsch-Studien 6), 103–121.
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III. potestates und ministerium publicum: Zusammenfassende Perspektiven
christlicher und kirchlicher Phänomene, ihr konkurrierendes Neben- und Miteinander sowie ihre ganz unterschiedlich gearteten Orientierungen, Anliegen und Streberichtungen impliziert dieser Begriff nicht, auch wenn jede Typenbildung stärker die Einheits- und Kohärenzmomente der Phänomene als ihre Pluralität hervorzuheben hat.² Ich verstehe diesen Begriff hier als eine Akzentuierung der gelungenen Beschreibung des mittelalterlichen ‚Systems kirchlicher Katholizität‘, dessen Eigenart Berndt Hamm als einen plural abgetönten Gradualismus herausgearbeitet hat.³ Gerade die mittelalterliche Kirche ist mit ihrer vielgestaltigen Ämterstruktur ein sprechender Ausdruck einer gestuften und horizontalen Pluralität, wird sie doch seit dem späten 12. Jh. durch zwei institutionell zwar verflochtene, aber rechtssystematisch voneinander unabhängige Ämterordnungen konstituiert, wobei die eine am ordo, die andere hingegen an der auctoritas orientiert ist. Dieser kirchlich institutionalisierte Gradualismus ist nun aber auch, und das ist der hier entscheidende Akzent, ein markanter Ausdruck für die normative Kohärenz- und Einheitsabsicht, welche die mittelalterliche Kirche zu einem eigenen Kirchentypus zusammenschließt. Denn, einmal, fordern auctoritas und ordo sich wechselseitig zur Erfüllung des sakramentalen und in der Eucharistie exemplarisch verdichteten heilsvermittelnden Kirchenzwecks. Und sodann wird dieser Wechselseitigkeit in einer im Papsttum gipfelnden Hierarchie Gestalt verliehen, die dem kirchlichen Gradualismus ein unumkehrbares Gefälle von potestates einschreibt. Das mit Einführung der auctoritas als verfahrensrechtlichem Verfassungsprinzip im Dekret Gratians maßgeblich initiierte, durch das IV. Laterankonzil (1215) faktisch dogmatisierte und seit dem Liber extra (1234) in subtiler Weise die Rechtsgestalt der mittelalterlichen Kirche durchwirkende Bindegewebe der potestates fixierte dabei nicht ‚bloß‘ die institutionellen Rahmenbedingungen für sonst wesentlich von ihm unabhängige vielgestaltige christliche Lebensentwürfe, sondern drang in sie frömmigkeits-, denk- und sozialorientierend ein. Weil dies mit unterschiedlichem Erfolg gelang, generierte sich weit über die kirchliche Institution im engeren Sinn hinaus ein facettenreicher Gradualismus, der aber ohne dieses Bindegewebe als System kirchlicher Katholizität kaum vorstellbar ist. Dass dieses Bindegewebe der potestates bis ins Detail Gegenstand anhaltender Deutungskontroversen war, haben wir im ersten Teil der Studie gesehen. Und wir konnten beobachten, wie die historisch sich wandelnden institution² Vgl. zum Begriff des ‚Kirchentypus‘ und der darin methodisch eingefangenen Pluralitätseinheit die Überlegungen von C A, Die Kirchen in der alten Christenheit, Stuttgart u. a. 1971 (Die Religionen der Menschheit 29, 1/2), bes. 3–15, sowie ., Kirchengeschichtsschreibung – eine aktualisierte Selbstrechtfertigung (1972), in: D., Theologie und Kirche im Horizont der Antike. Gesammelte Aufsätze, hg. von Peter Gemeinhardt, Berlin / New York 2009 (AKG 112), 185–197. ³ Vgl. besonders B H, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, ARG 84 (1993), 7–81, bes. 76 f.
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ellen Orientierungsprobleme und die damit verknüpften Steuerungsinteressen dieses Bindegewebe gedanklich bis ins Extreme dehnten. Thomas von Aquin hat das mit seinem Versuch der Flexibilisierung des Kirchenwesens durch Betonung der papalen plenitudo potestatis genauso getan, wie Johannes Gerson mit seinem Versuch der Stabilisierung des Kirchenwesens durch Konzentration der potestas ecclesiastica im ordo, und Gabriel Biel setzte mit seiner Positivierung der Heilsobjektivität des Kirchenwesens durch Hervorhebung des sacerdos in persona ecclesiae diese Tendenz ungebrochen fort. Wie ein roter Faden durchzieht die mittelalterliche Problemgeschichte der Amtstheorie, dass immer wieder versucht wurde, innerhalb der Zweigliedrigkeit von ordo und auctoritas einer Seite das legitimatorische und damit institutionell ausschlaggebende Übergewicht zu verschaffen. Man versuchte das Amtsverständnis binnenhierarchisch zu zentrieren, um so der institutionalisierten strukturellen Wechselseitigkeit größere Eindeutigkeit zu verleihen. Allerdings hat sich die Wechselseitigkeit von ordo und auctoritas selbst dort behauptet, wo die Zentrierungsdynamik der kirchlichen potestates reduktive Züge annahm: Obwohl die papale plenitudo potestatis bei Gerson nurmehr eine und nicht mehr die zentrale Form der institutionellen potestas ecclesiastica darstellt, die zudem gänzlich in Abhängigkeit zu den im ordo vorliegenden iura gerät, bleibt das Papsttum mit seiner supremitas ekklesiologisch konstitutiv. Und wenn bei Biel der sacerdos zum gänzlich uneigenständigen Sakramentsmagier degradiert wird, dessen ordo religiös eigentlich nur von Bedeutung ist, weil dieser auf Geheiß der potestas iurisdictionis der kirchlichen Heilsvermittlungsbürokratie handelt, bleibt der ordo eben für den Vollzug des eucharistischen Wandlungswunders unaufgebbar. In diesem Widereinander von auseinanderstrebenden binnenhierarchischen Zentrierungsdynamiken haben die hier betrachteten Amtstheorien insgesamt also die normative Bedeutung der ‚päpstlichen Sakramentskirche‘, wie ich den mittelalterlichen Kirchentypus versuchsweise bezeichnen würde, gestützt und auszubauen versucht. Dies ist mit Blick auf Gerson und Biel auch noch einmal in anderer Hinsicht bedenkenswert. Denn diesen beiden Autoren wird man schwerlich Desinteresse an der gradual pluralen Frömmigkeitskultur des späteren Mittelalters vorwerfen können. Doch haben sie die Pluralität der Frömmigkeits-, Denkund Sozialstile des mittelalterlichen Katholizismus nicht als zentrale Herausforderung an das institutionelle potestas-Geflecht angesehen,⁴ sondern viel⁴ Das von Hamm beschriebene Gegeneinander von ‚ius divinum‘ und ‚positivem Recht‘, wofür er vor allem auf Gerson verweist, bezieht sich allein auf die Außenrelation der Hierarchie zum Gläubigen. Die Ermäßigung der positiven Rechtsnormen im Licht des ‚sanften Joches‘ des ius divinum hat für Gersons Ekklesiologie indes keine konstruktive Bedeutung. Vgl. H, Von der spätmittelalterlichen reformatio, 52–59. Zu Gersons ‚aequitas‘-Vorstellung siehe G H M P M, Jean Gerson – Apostle of Unity. His Church Politics and Ecclesiology, translated by J. C. Grayson, Leiden 1999 (SHCT 94), bes. 242–246.
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mehr die seit dem Hohen Mittelalter der päpstlichen Sakramentskirche eigenen institutionellen Ausgrenzungen kontinuiert und befestigt: Gerson hat die im ordo supranatural verwurzelte potestas ecclesiastica gegenüber der von Gott allen Gläubigen geschenkten gratia gratum faciens substantialistisch immunisiert. Und Biel äußerte den grundsätzlichen Verdacht gegenüber den Priestern – der sich problemlos auch auf die Kirchenmitglieder erstrecken lässt –, dass ihre Subjektivität dem durch die Kirche vermittelten meritorischem Objektivismus latent widerstreitet. Diese Aus- und Abgrenzungen sind dabei für Gersons und Biels Amts- und Kirchenvorstellungen keineswegs mitgeschleppte unbedeutende Traditionsstücke, sondern konstitutiver Bestandteil ebenso lebendigen wie reflektierten Kirchenglaubens. Anders formuliert: Gerson und Biel haben die Pluralität des spätmittelalterlichen kirchlichen Katholizismus gekannt, die damit verbundenen Probleme gesehen, thematisiert und auf sie gestalterisch eingewirkt. Aber sie empfanden keinen Widerspruch zwischen dieser faktischen Vielfalt und einem kirchlichen Selbstverständnis, das die institutionelle Einheit der Kirche durch den Ausschluss von ‚Laien‘ wie individuellen Glaubensgaben normativ garantiert. Auch der frühe Luther ist wie selbstverständlich von der normativen Einheit der päpstlichen Sakramentskirche ausgegangen. Die Entwicklung von Luthers Amts- und Kirchenverständnis wurde nicht dadurch eingeleitet, dass Luther dem pluralen Gradualismus ein normatives Gewicht einräumte, das ihn in den Konflikt zu einem übertriebenen Papalismus, also in den Kampf gegen die auctoritas des mittelalterlichen Kirchentypus hineinzog. Sondern an ihrem Anfang steht ein unserem historischen Blick entzogener Quantensprung im religiösen Selbstempfinden und -erleben, der bereits in seiner frühesten reflektierten Ausformulierung in den Dictata super Psalterium der normativen Zweigliedrigkeit des mittelalterlichen Kirchentypus ihren religiösen Sinn entzieht: Die Initiation des reformatorischen Umbruchs ist der Gedanke des homo spiritualis, der eine individuelle Gnadengabe nicht nur zu einem bestimmten Grad hat, sondern durch sie zu einem religiös produktiven Subjekt wird. Und dieser homo spiritualis steht von Anfang an quer zu den überkommenen Kategorien kirchlicher Katholizität, weil ihm allein die autoritative Erschließung, Deutung und Aneignung der religiösen Wirklichkeit zukommt, die von den ihm äußerlich entgegentretenden Ämter der Kirche sowie den durch sie erzeugten Lehren und Handlungsvollzügen zeichenhaft dargestellt wird. Wie dieser Gedanke den Anspruch der objektiven institutionellen Heilsvermittlung zersetzt und eine Thematisierung der ‚Kirche‘ unter Absehung des von ihren Lehren und Handlungen betroffenen Menschen unmöglich macht, brauchen wir hier nicht zu wiederholen; der Gedanke einer eigenständigen religiösen Wirksamkeit der auctoritas und des ordo ist damit jedenfalls schlicht funktionslos geworden.
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Allerdings widerstreitet der Gedanke des homo spiritualis keineswegs automatisch der institutionell-normativen Einheitsabsicht kirchlicher Katholizität. Vielmehr konnte sich Luther ihr in innerlicher Verschärfung zunächst bedienen: Die rechte Einheit der Gliedschaft in der Kirche Christi besteht für ihn von seiner Frühzeit an allein im Glauben. Und die institutionalisierte Kirche ist für Luther spätestens seit der Hebräerbriefvorlesung dieser ‚spiritualisierten‘ Kirchenmitgliedschaftsvorstellung als autoritär-sakramentale Erziehungsanstalt zum Zweck der Anreizung und vertiefenden Verinnerlichung des Glaubens des Einzelnen beigegeben, also zur Beförderung der innerlich geglaubten Einheit aller Christen. Dass die päpstliche Sakramentskirche nun aber gerade nicht die religiös-produktive Subjektivität zu fördern beabsichtigte, sondern ihre Kirchenmitglieder durch das fein abgestimmte Angebot der kirchlich vermittelten göttlichen Gnadenzuwendung auf deren vielfältige Frömmigkeits-, Denk- und Sozialstile zu befriedigen vermeinte – ein Angebot, für das der Ablass nur ein Beispiel darstellte –, und sie sich dafür auch noch auf ihre äußerliche Gestalt als objektiv heilswirksame Lehr- und Sakramentsanstalt berief, war für Luther reinster Unglaube. Der mit dem Ablassstreit zu beobachtende Übergang Luthers zum offenen Widerspruch gegen die päpstliche Sakramentskirche entzündete sich also auch am hierarchisch gestützten und sanktionierten Gradualismus kirchlicher Katholizität. Erst im Zug der nun einsetzenden Kontroversen wurde Luther bewusst, dass der Gedanke einer autoritär-sakramentalen Erziehungsanstalt religiöser Subjektivität nicht notwendigerweise allein auf die päpstliche Sakramentskirche verweist, bis ihm kurz darauf klar wurde, dass seine Vorstellung von der Bedeutung der Kirche für das christliche Leben mit diesem Kirchentum nichts zu tun hat. Mit der Betonung des homo spiritualis als dem eigentlichen religiösen Sinnproduzenten im Gegenüber von auctoritas und ordo wurden auch die dem mittelalterlichen Kirchentypus eingeschriebenen Ausgrenzungen obsolet. Potestas und gratia gratum faciens laufen bei Luther ineinander, weshalb die potestas die Institution nicht mehr strukturell über den Glauben erhebt. Diesen schon früh erfassten Sachverhalt im Einzelnen auszubuchstabieren, daraus das öffentliche Urteilsrecht eines jeden Gläubigen gegenüber der kirchlichen Autoritätenhierarchie zu begründen und schließlich zur Aufhebung einer auf der Vorstellung des generischen Unterschieds von Christen begründeten sakral-liturgischen Handlungsbeschränkung zu schreiten, brauchte bei Luther seine Zeit. Dass Luther in diesen Hinsichten – so Thomas Kaufmann – auf eine „höchst plurale(n) Stimmungslage hinsichtlich des Verhältnisses von Klerus und Laien“ traf, steht außer Frage. Und sicher war es für die positive Aufnahme der Gedanken Luthers von entscheidender Bedeutung, dass bereits vor seinem literarischen Auftreten eine „mutatio status christianae republicae“ publi-
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zistisch gefordert worden war.⁵ Jedoch hat Luther diese Stimmungslagen nicht einfach aufgenommen, allein schon deshalb nicht, weil er die in ihnen nach wie vor wirksame religiös ontologisierte Standeslogik kirchlicher Katholizität nicht teilte. Das zeigt nicht zuletzt Luthers Verhältnis zu einem sakralautoritär verstandenen ordo dadurch, dass es gar nicht besteht. Luther hat nie gemeint, dass der privatus als laicus über die kirchlichen Autoritäten zu urteilen habe,⁶ oder der laicus als laicus sakral-liturgisch so handeln könne, wie es ein sacerdos tut. Mit der Aufhebung des mittelalterlichen Kirchentypus war eine Aussetzung der von ihm erzeugten Systemlogik kirchlicher Katholizität mitgegeben. Das kirchlich-hierarchisch erzeugte Bindegewebe der potestates blieb in seiner spätmittelalterlichen Differenziertheit für Luther selbst dann belanglos, wenn er von seinen Gegnern mit Nachdruck auf es verwiesen wurde. Gleichwohl wird der gradualistische Grundzug kirchlicher Katholizität bei Luther nicht einfach zerstört. Er wird von Luther vielmehr neu gedeutet, und es erscheint mir zumindest missverständlich, wenn nach Berndt Hamm die ‚Reformation‘ zwar die Vorstellung einer „Pluralität“ einschließt, „aber nicht in der vertikalen Stufung von Hierarchien und Heiligungsgraden, sondern als horizontale Vielfalt der vielen Weisen des Gottes- und Nächstendienstes im Alltag der Welt; und es ist nur noch die eine Vollkommenheit des Glaubens, die so in allen Lebensbereichen wirken soll“.⁷ Denn so sicher Luther sich die Realisation der christlichen Vollkommenheit als plurale, eben alle Lebensbereiche und ihre jeweiligen Frömmigkeits-, Denk- und Sozialstile duchwirkend vorstellte, so räumte er doch den abgetönten Stufungen und den Hierarchien eine größere Bedeutung ein, als es Hamm an dieser Stelle suggeriert. Mit der Ausführung dieses Gedankens soll die vorliegende Studie beschlossen werden. Dass Luthers Neudeutung des katholischen Gradualismus zunächst eine religiöse Umwertung seiner bisherigen Gestaltungsformen bedeutete, ist bereits mit dem Hinweis auf die Aufhebung der katholisch-gradualen Systemlogik angeklungen. Mit völligem Unverständnis reagierte Luther durchgehend auf die einfache Hinnahme des gegebenen Systems von kirchlich heilssanktionierten ⁵ T K, Das Priestertum der Glaubenden. Vorläufige Beobachtungen zur Rolle der Laien in der frühreformatorischen Publizistik anhand einiger Wittenberger und Baseler Beispiele, in: H K . . (Hg.), Thomas Müntzer – Zeitgenossen – Nachwelt. Siegfried Bräuer zum 80. Geburtstag, Mühlhausen 2010 (Thomas-Müntzer-Gesellschaft Veröffentlichungen 14), 73–120, hier: 75 Anm. 5. ⁶ Vgl. C V-G, „dictum unius privati“. Zu Luthers Verwendung des Kommentars der Dekretale Significasti von Nicolaus de Tudeschis, in: P M (Hg.), Orientierung für das Leben. Kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit. FS Manfred Schulze, Berlin 2010 (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 13), 93–114. ⁷ B H, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: D. u. a. (Hg.), Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, 57–127, hier: 97.
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und dadurch religiös saturierten Frömmigkeits- und Sozialstilen, weil das für ihn eine ganz und gar uneigentliche Vorstufe eines rechten christlichen Glaubens- und Lebensentwurfs bedeutete. Diesem Missfallen hat Luther deutlich Ausdruck verliehen, indem er etwa in seinen Predigten von seiner Frühzeit an jede Form veräußerlichter Sakraments- und Bilderfrömmigkeit sowie damit einhergehende Vergemeinschaftungsformen – wie die Bruderschaften – teils abschätzig kritisierte. Doch waren und blieben diese uneigentlichen Vorstufen christlicher Existenz der religionshermeneutische Ausgangspunkt seiner Frömmigkeitstheologie, wie wir sie besonders in den deutschsprachigen Sermones seiner Frühzeit vor Augen gestellt bekommen. Dabei hat Luther zwar eine ontologisierende Heilsbewertung von Frömmigkeits- sowie Lebensstilen abgelehnt und sie insofern religiös egalitär behandelt. Aber er hat die vorhandene Vielfalt von Frömmigkeits- und Lebensstilen stets als Ausgangspunkt einer lebenslang währenden und darin den Glauben dauerhaft bewährenden innerlichen Fortbildung begriffen, die in der Durchdringung dieser Frömmigkeitsund Lebensstile mit christlichem Ernst und Ethos besteht. Dass diese Durchdringung selbst vielfältige Stufen umfasst, war dem Mönch Luther selbstverständlich. Wenn er sich gerne des Kontrastes von ‚schwachen‘ und ‚starken‘ Christen bediente, so war das für ihn kein sich ausschließender Gegensatz, weil er immer davon ausging, dass aus jenen diese werden können. Die Unterscheidung von ‚schwachen‘ und ‚starken‘ Christen bezeichnet bei Luther eher Pole in einem reich abtönbaren Frömmigkeitsfeld. Auch äußerlich bemerkbare Konsequenzen des innerlichen Durchdringungsprozesses hat Luther keineswegs geleugnet, vielmehr sogar gefordert. Und er hat den darin sich auszeichnenden Individuen eine besondere, den Glauben anderer Christen reizende und stärkende Rolle zugesprochen, den gegenwärtigen ‚Starken‘ ebenso wie denen, von denen die biblischen Schriften Zeugnis geben.⁸ Kurzum: Die normative Subjektivierung des Frömmigkeits- und Sozialgradualismus des Systems kirchlicher Katholizität hat bei Luther durchaus eine vertikale Stufung und Hierarchisierung von Heiligungsgraden zur Folge, insofern damit Grade der auch äußerlich Gestalt gewinnenden glaubensbegründeten Freiheit bezeichnet werden. Auch sein Amts- und Kirchenverständnis hat Luther in dieser Perspektive gebildet. Er hat versucht, die bestehenden institutionellen kirchlichen Ordnungsvorstellungen der Frömmigkeitsdynamik normativer Subjektivierung an- und einzupassen, sie verinnerlichend zu durchdringen. Bereits an der daraus entstehenden ‚bürgerkirchlichen‘ Ausprägung des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ haben wir allerdings gesehen, dass die korporativen Regelungsund Verfahrensformen teils gegen Luthers eigene Intention ihre Eigenlogik be⁸ Vgl. M O, Luthers „Schriftprinzip“, in: H C K (Hg.), Luther als Schriftausleger. Luthers Schriftprinzip in seiner Bedeutung für die Ökumene, Erlangen 2010 (Veröffentlichungen der Luther-Akademie Sondershausen-Ratzeburg 7), 21–39.
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haupteten. Und dass Luther daraufhin in der Tat eine ganze Zeit lang dachte, dass ein der evangelischen Freiheit angemessenes Kirchen- und Amtsverständnis weitgehend ohne festgefügte institutionelle Hierarchien auskommt, haben wir anhand der ‚freiwilligkeitskirchlichen‘ Ausprägung des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ verfolgt. Diese Konzeption ist aus Sicht Luthers nicht durch die Unbedachtsamkeit einiger ‚Starker‘ ins Wanken geraten, sondern durch die Unfähigkeit der ‚Schwachen‘, die evangelische Freiheit zu leben. Allerdings ist just das ein schlagendes Indiz für den strukturellen Elitarismus, der diesem Konzept eigen ist, weil es letztlich die dem Evangelium gemäße private und öffentliche Verkündigung der Heilstaten Gottes sowie eine darin die evangelische Freiheit bezeugende kirchliche Ordnung auf eine monastisch inspirierte bzw. charismatisch begabte religiöse Virtuosenelite zuschneidet. Für eine die gesamte Gemeinde integrierende Ordnung ist die ‚Freiwilligkeitskirche‘ als Leitperspektive von Luther dann auch nicht weiter verfolgt worden, behielt jedoch als Übergangs- und Notstandsordnungsvorstellung weiterhin eine durchaus wichtige Funktion. Im Zug seiner eigenen reformpraktischen Bemühungen hat sich bei Luther zunehmend die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit der korporativen und naturrechtlichen Elemente für den Aufbau einer institutionellen Ordnung durchgesetzt, und in der gedanklichen Figur des ministerium publicum dreht Luther im Jahr 1523 seine bislang verfolgte Perspektive faktisch um: Das Verhältnis des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ zum ‚Amt‘ lässt sich nicht nur wie das Verhältnis einer Korporation von Rechtsträgern zu einem deren Rechtssubjektivität stellvertretenden Amt auffassen – so hat Luther wesentlich schon in der Adelsschrift argumentiert –, sondern als ein solches Verhältnis. Durch diese Fassung des für Luther zentralen amtstheoretischen Problems ist die überkommene kirchliche Hierarchievorstellung ebenso endgültig religiös entkernt, wie sie in der Gestalt einer kirchlichen Funktionshierarchie in ihr institutionelles Recht gesetzt wird. Dadurch entsteht in Umrissen ein neuer spätmittelalterlicher Kirchentypus: Äußerlich-strukturell betrachtet schließt er auf der Ebene der Gemeinde nahtlos an das Bestehende an. Denn das Verhältnis des Gemeindeglieds zum Amt ist wie zuvor durch zwei Ausgrenzungen bestimmt. Weder hat, erstens, die religiöse Subjektivität des Gemeindeglieds Bedeutung für den Normalzustand der kirchlichen Öffentlichkeit, noch die religiöse Subjektivität des Amtsträgers für die öffentlichen Handlungen der Predigt und der Sakramentsverwaltung. Beides wird in der institutionellen Ausgestaltung des kirchlichen Lebens schlicht vorausgesetzt. Und, zweitens, bleibt die rituell-liturgische Sphäre von Predigt und Sakramentsverwaltung den Personen vorbehalten, die durch ein institutionelles Berufungsverfahren dafür eingesetzt sind. Das ‚normale Gemeindeglied‘ ist über die – mittelalterlich keineswegs ganz unübliche – Pfarrwahl hinaus ohne weiteren Einfluss auf die dem Ordinierten kraft Amt
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eigenen institutionellen Gestaltungskompetenzen; insofern bleibt es durchaus ein ‚Laie‘. Innerlich-legitimatorisch betrachtet, liegt jedoch kein Anschluss an das Bestehende vor. Denn das Gemeindeglied ist als religiöses Subjekt nicht dadurch Glied der Kirche Christi, dass es sich der Amtsautorität einfach fügt und an den Handlungen des Amtes nach besten Möglichkeiten partizipiert, facere quod in se est. Sondern es wird zum Glied der Kirche Christi, indem es seine Gemeindegliedschaft als eine Realisationsgestalt seiner Gliedschaft in der Kirche Christi glaubt und in den Handlungen des Amtsträgers die Gnaden- und Heilsverheißungen Christi erfasst. Und das Gemeindeglied ist eben auch religiös kein ‚Laie‘, der auf eine ihres Amtes korrekt waltende Autorität angewiesen ist, sondern im Amt und seinen Kompetenzen ist es selbst als vom Geist begabtes und zur Verkündigung ermächtigtes Individuum mitrepräsentiert. Die evangelische Freiheit besteht auch dadurch, die institutionelle Gestaltung des kirchlichen Lebens Anderen zu überlassen und die eigene Freiheit im eigenen Beruf zu leben. In dieser Zwiegestalt von institutionell-funktionaler Äquivalenzbildung zu der und religiös-legitimatorischer Abstandnahme von der päpstlichen Sakramentskirche tritt der altprotestantische Kirchentypus hervor.⁹
⁹ Vgl. dazu nach wie vor die anregenden Überlegungen von E T, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, hg. von Volker Drehsen und Christian Albrecht, Berlin / New York 2004 (KGA 7), bes. 83–133.
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Stellenregister Ps
Jes Mt
13, 1 45, 8 118, 98–100 124, 4 124, 5 54, 13 55, 11 5, 25 5, 39 7, 15 16, 13–17 16, 18 16, 18 f. 16, 19 18, 15–18 18, 18
Lk Joh
Apg Röm
18, 19 f. 28, 20 2, 34 10, 15 22, 19 6, 45 10, 5 20, 22 f. 21, 15–17 1, 23–26 6, 4 20, 17 1, 1 3, 20
125 165 88 89 91 137 164 112 112 161 f., 165, 168 117 f. 12 f., 75 34, 104, 110–112, 117–120, 122 f., 130, 133–135, 145 106–108, 130, 147 f. 146, 149, 176 109, 111, 122, 133 f., 148 128, 149, 179 47 f. 90 112 72 145, 165, 175 161 f. 72, 111, 133 f. 74 f., 120 f., 134 f., 148, 150 54, 114, 162 169 162 93 f., 113 97
12, 3–8 12, 19 13, 1–7 13, 8 1. Kor 2, 15 3, 5 4, 1 5, 11 11, 24–26 14, 27–31 14, 30 14, 31 14, 40 2. Kor 1, 12 5, 20 10, 8 Gal 2, 3–14 2, 9 2, 11–14 Phil 1. Tim 2. Tim Tit
Hebr
1, 1 3, 2–7 2, 2 1, 5 1, 5–9 1, 6 1, 6–9 1, 7–9 5, 1 7, 12
1. Petr 2, 9 Offb 5, 10
95 f., 133 112 111 f., 121, 125, 129 126 88, 145 133 148, 150, 152, 175 149 147, 175 154, 156, 167 109, 113, 123, 137, 145, 155, 161 170 154, 167, 176 f. 99 133 59 115 115 109, 113–116, 133, 145 162 120, 139, 168, 178 177 139, 161 f. 155 f. 139, 168 178 120 97–99, 101 97–99, 105, 107, 110, 112, 153 131, 141, 166, 175 131, 141, 175
Personenregister Alveldt, Augustin von 131, 133, 145, 152 Aquin, Thomas von 7, 24–44, 49, 51, 55, 61–63, 71–74, 78, 82, 85, 91, 108, 143, 185 Areopagita, Dionysius 28 f., 64 Augustin 59, 90, 98, 111, 115, 143 Bart, Eberhard im 69 Becker, Engelin 69 Benedikt XIII. 46 Biel, Gabriel 7, 68–83, 85, 89, 120, 134, 185 f. Bonaventura 27, 35 Bonifaz VIII. 42 f. Cahera, Gallus 171–173 Cajetan, Thomas 105, 108–110, 123, 155 Catharinus, Ambrosius 153 Coelestin V. 42 d’Ailly, Pierre 47–49, 68–75, 81 Durand, Wilhelm von 54 Eck, Johann 104–107, 117, 124 Fieschi, Sinibaldus 35, 45 Friedrich III.(Kurfürst) 162 f. Gelasius III. 13, 18 Gerson, Johannes 7, 44, 45–68, 70 f., 73– 75, 78, 81–85, 91, 111, 145–147, 185 f. Gratian 7–24, 26, 28, 32, 36 f., 39 f., 43 f., 52, 62 f., 75, 81–84, 108, 142 f., 184 Gregor I. 8, 18 f. Gregor VII. 8 Gregor XII. 46 Hales, Alexander von 30, 35 Heinrich VIII. 161 f.
Hieronymus 12, 18, 71, 94, 114, 139 Honorius II. 9 Hus, Johannes 46, 124 Innozenz III. 24 f., 74 Innozenz IV., s. Sinibaldus Fieschi Isidor von Sevilla 10–12 Johannes XXII. 42 Johannes XXIII. 46 Kalixt II. 16 Karlstadt, Andreas Bodenstein von 158, 160, 181 Lombardus, Petrus 23, 27 Luther, Martin 7, 68, 84, 85–191 Magnus, Albertus 31, 35 Martin V. 69 Melanchthon, Philipp 130, 160 Müntzer, Thomas 181 Ockham, Wilhelm von 42 f., 47, 61, 70, 77, 145 Pavia, Bernhard von 23 Prierias, Silvester 104 f., 108 f., 133 f. Scotus, Duns 78 f. Spalatin, Georg 120, 130 f. St. Amour, Wilhelm von 27–29 Tetzel, Johann 104–107 Wimpina, Konrad 105 Wyclif, John 46, 124 Zwilling, Gabriel 153, 163
Sachregister Abendmahl, s. Eucharistie Ablass 37 f., 77 f., 83, 103, 187 Amtsausübung, Berechtigung zur 17–21, 24, 32, 36–40, 44, 52, 55–57, 74, 94, 141–145, 154 Amtsgewalt –, jurisdiktionelle 32–40, 42–44, 49, 51 f., 61, 63, 73 f., 83, 104 f., 185 –, sakramentale 23, 28–33, 36 f., 39 f., 42–44, 49–52, 61–63, 71–74, 81 f., 94, 104, 107, 124 Amtsstellung, Grundlage der s. dignitas, excellentia, humilitas, missio, ordo, servitus, vocatio Beichte, Buße 17 f., 20, 36–38, 73 f., 77, 82 f., 89, 130, 134, 147–149, 158 f., 170, 175, 181 Delegation, s. auch Repräsentation, Stellvertretung 33, 38, 120–122, 144, 154, 177 dignitas 11–14, 23, 33 f., 94, 113, 115, 139, 150, 179 f. Eucharistie 23–25, 30 f., 40, 51, 71, 73, 77 f., 82, 98, 126, 130, 135 f., 147, 149, 158 f., 170, 173–175, 181, 184 f. excellentia 23, 59, 78, 82, 100 Exkommunikation 37 f., 40, 108, 128, 149 Hierarchie, kirchliche 8, 11, 14, 21 f., 28 f., 35, 45, 48–50, 56, 59–65, 74, 77, 82, 88, 91 f., 133, 139, 146, 180, 184– 186, 188–190 humilitas 92 f., 96, 113
missio 113–115 Notfall 19 f., 47–49, 57, 59, 130, 142, 146–149, 160, 166–169, 171, 175 f., 190 ordo 11 f., 14 f., 17–19, 21–24, 26, 28–33, 39 f., 52, 54 f., 60–64, 66, 71 f., 78, 81 f., 94, 102, 107, 109, 115, 124, 130 f., 145– 147, 184–188 Papstgewalt, s. auch plenitudo potestatis 8, 12–15, 33–37, 40 f., 45, 50, 54–59, 62 f., 74 f., 77, 82 f., 88, 105, 107 f., 110– 113, 121, 133 f., 145 f., 184–186 plenitudo potestatis, s. auch Papstgewalt 33–36, 40–42, 45, 57 f., 63, 74 f., 185 Repräsentation, s. auch Delegation, Stellvertretung 40, 45–48, 57–59, 64 f., 76– 80, 83, 90 f., 119, 141 f., 144, 147, 149 f., 163, 169 servitus 93–96, 98, 102, 113, 126 f., 152 Stellvertretung, s. auch Delegation, Repräsentation 45, 56, 70, 76–80, 82, 92, 135, 143, 150, 157, 169, 171, 177 f., 180, 190 Stufen, kirchliche 10 f., 14, 23, 29–31, 33 f., 38, 40, 49 f., 53, 55, 59 f., 77 f., 82, 92, 95, 115, 174, 188 Taufe 17 f., 20, 23, 48, 50, 93, 99, 130, 141 f., 147, 149, 165, 173, 175 f. vocatio 76, 92–95, 102, 113 f., 117, 134 f., 140, 150 f., 161 f., 165–168, 178 f., 181