Gottes Nähe unmittelbar erfahren: Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther 9783161492112

Thema dieses Tagungsbandes ist die abendländische Mystik in ihrer Veränderungsdynamik vom 12. bis 16. Jahrhundert. Sie w

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German Pages 360 Year 2007

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Table of contents :
Andreas Zecherle: Die »Theologia Deutsch«. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat – Christoph Burger: Mystische Vereinigung – erst im Himmel oder schon auf Erden? Das Doppelgesicht der geistlichen Literatur im 15. Jahrhundert – Berndt Hamm: »Gott berühren«: Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs – Barbara Steinke: »Den Bräutigam nehmt euch und habt ihn und verlasst ihn nicht, denn er verlässt euch nicht.« Zur Moral der Mystik im Nürnberger Katharinenkloster während des 15. Jahrhunderts – Volker Leppin: Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther – Sven Grosse: Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie – Berndt Hamm: Wie mystisch war der Glaube Luthers? – Heidrun Munzert: Unio mystica versus Teufelsbuhlschaft. Überlegungen zur Vergleichbarkeit von mystischer Erfahrung und Hexenvorstellung am Beispiel von Gertrud von Helfta und Else Rodamer.
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Gottes Nähe unmittelbar erfahren: Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther
 9783161492112

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Gottes Nähe unmittelbar erfahren Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther

herausgegeben von

Berndt Hamm und Volker Leppin unter Mitarbeit von Heidrun Munzert

Mohr Siebeck

Berndt Hamm, geboren 1945; Professor für Neuere Kirchengeschichte in Erlangen. Volker Leppin, geboren 1966; Professor für Kirchengeschichte in Jena. Heidrun Munzert, geboren 1971; wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte in Erlangen.

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ISBN 978-3-16-149211-2 ISSN 0937-5740 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 Mohr Siebeck Tübingen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver­ lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun­ gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.

Gottfried Seebaß zum 70. Geburtstag

Vorwort Der vorliegende Band ist aus einer Sozietät hervorgegangen, die wir wäh­ rend des Sommersemesters 2005 in Erlangen und Jena veranstalteten. The­ ma war die abendländische Mystik in ihrer Veränderungsdynamik vom 12. bis 16. Jahrhundert. Ein thematisches Schwergewicht fiel dabei zum einen auf das 15. Jahr­ hundert. Wie die Beiträge von Christoph Burger, Berndt Hamm (I) und Barbara Steinke zeigen, ist das ausgehende Mittelalter nicht das Zeitalter einer verblühenden, sondern einer sehr lebenskräftigen Mystik, die sich al­ lerdings gegenüber dem 14. Jahrhundert bemerkenswert wandelt. Damit wird eine immer noch häufig anzutreffende Forschungsmeinung korrigiert, die im 15. Jahrhundert kein Jahrhundert der Mystik, sondern die Ära einer eher unmystischen Frömmigkeit sieht. Der zweite Schwerpunkt des Bandes liegt bei Martin Luther. Aus den Beiträgen von Volker Leppin, Sven Grosse und Berndt Hamm (II) geht hervor, dass auch in dieser Hinsicht eine Weiterführung und Neuorientie­ rung der Forschung beabsichtigt wird. War es in der bisherigen Lutherfor­ schung weitgehender Konsens, dass Luther zwar traditionelle mystische Motive, Bilder und Begriffe rezipierte und umprägte, aber nicht eigentlich als mystischer Theologe zu verstehen sei, so wird im vorliegenden Band die Auffassung vertreten, dass die Gesamtkomposition der reformatori­ schen Theologie Luthers mystischen Charakter habe und dass die Genese dieser Theologie als Ausbildung einer neuen Gestalt von Mystik zu be­ schreiben sei. Dabei fallt der Blick zurück auf die wichtigsten mystischen Impulsgeber Luthers, auf Bernhard von Clairvaux, Johannes Tauler, die ,Theologia deutsch4, Johannes Gerson und Johannes von Staupitz; Luther wird so in einer Tradition wiederholter frappierender Neuaufbrüche und Transformationen von Mystik gesehen. Durch den Beitrag von Andreas Zecherle erfährt die ,Theologia deutsch4, die vermutlich kurz vor Ende des 14. Jahrhunderts entstand, be­ sondere Berücksichtigung. Das entspricht der Gesamtanlage des Bandes, weil damit einerseits die Brücke zwischen dem Zeitalter Taulers und Seuses zum 15. Jahrhundert geschlagen wird und andererseits einer der mysti­ schen Lieblingstexte Luthers, den er selbst publizierte, analysiert und in die religiösen Konflikte des Spätmittelalters eingeordnet wird.

VIII

Vorwort

Versteht man die Geschichte der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystik als eine Fortschreibung von Traditionen und Grundkonzeptionen, zugleich aber auch als eine Abfolge von Brechungen und Neukonfigura­ tionen, dann eröffnen sich über die Jahrhunderte hinweg ungewöhnliche Vergleichsmöglichkeiten: So schlägt Heidrun Munzert in ihrem abschlie­ ßenden Aufsatz einen Bogen vom späten 13. in das frühe 17. Jahrhundert und stellt die Frage nach der Strukturanalogie zwischen der ,unio mystica1 heiliger Frauen und dem intimen Umgang der Hexen mit dem Teufel. Vertraute Nähe, unmittelbare Berührung und beseligende Vereinigung sind wesentliche Komponenten der mystischen Texte, die in diesem Band zur Sprache kommen. Wie sein Titel ,Gottes Nähe unmittelbar erfahren1 zum Ausdruck bringt, verstehen die Herausgeber ihn nicht zuletzt als Bei­ trag zu einer Klärung des umstrittenen Mystikbegriffs. Dabei ist sowohl die Gefahr einer konturenlosen Diffusion des Begriffs als auch die seiner unhistorischen Einengung, die evangelische Zugänge zur Mystik von vornherein ausschließt, vor Augen. Der Begriff muss so quellennah sein, dass er die Neuaufbrüche und Umformungen des Verständnisses von un­ mittelbarer Naherfahrung Gottes in sich aufnehmen kann. Unser herzlicher Dank gilt den Herren Kollegen Johannes Helmrath, Jürgen Miethke und Heinz Schilling für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ,Spätmittelalter und Reformation1 und dem Verlag Mohr Siebeck, insbesondere Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Frau Ilse König, für die bewährte zuverlässige Betreuung der Drucklegung. Eine große Freude war bei der Herausgabe des Bandes die Zusammenarbeit mit Frau Heidrun Munzert, Assistentin am Erlanger Lehrstuhl, die die Texte formal verein­ heitlicht und das druckfertige Layout vorbereitet hat. Den studentischen Hilfskräften am Jenaer Lehrstuhl, Frau Dorothy Bonchino-Demmler, Frau Franziska Schreiber und Herrn Markus Mickein, danken wir für die Er­ stellung der Register.

Erlangen/Jena, 4. August 2006

Berndt Hamm und Volker Leppin

Inhaltsverzeichnis Andreas Zecherle Die ,Theologia Deutsch1. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat.........................................................................................................

1

Christoph Burger Mystische Vereinigung - erst im Himmel oder schon auf Erden? Das Doppelgesicht der geistlichen Literatur im 15. Jahrhundert.........

97

Berndt Hamm „Gott berühren“: Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs...........................

111

Barbara Steinke „Den Bräutigam nehmt euch und habt ihn und verlasst ihn nicht, denn er verlässt euch nicht.“ Zur Moral der Mystik im Nürnberger Katharinenkloster während des 15. Jahrhunderts................................... 139 Volker Leppin Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther...................

165

Sven Grosse Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie................................................. 187

Berndt Hamm Wie mystisch war der Glaube Luthers?.................................................. 237 Heidrun Munzert Unio mystica versus Teufelsbuhlschaft. Überlegungen zur Vergleich­ barkeit von mystischer Erfahrung und Hexenvorstellung am Beispiel von Gertrud von Helfta und Else Rodamer............................................ 289

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren................................................ 343

X

Inhaltsverzeichnis

Bibelstellenregister...................................................................................

345

Personenregister......................................................................................... 347

Andreas Zecherle

Die ,Theologia Deutsch4. Ein spätmittelalterlicher mystischer Traktat Einleitung „[...] diß edle Buchleyn, alß [= wie] arm und ungesmuckt es ist yn Worten und menschlicher weißheit, alßo [= so] und vill mehr reycher und ubirkostlich [= überköstlich] ist es in kunst und gotlicher weißheit. Und das [= dass] ich nach meynem alten narren [= ich als alter Narr] rüme, ist myr nehst [= neben] der Biblien und S. Augustino nit vorkummen [= begegnet] eyn buch, dar auß ich mehr erlernet hab und [(erlernt haben)]1 will, was got, Christus, mensch und alle ding seyn.“2 Luther schreibt diese Worte 1518 in der Vorrede zu einem von ihm herausgegebenen spätmittelalterli­ chen Traktat, der heute vor allem unter der Bezeichnung ,Theologia Deutsch' bekannt ist. Dieses von Luther hoch gelobte Werk, das ein wich­ tiges Bindeglied zwischen der spätmittelalterlichen Mystik und der Refor­ mation darstellt, soll in der vorliegenden Arbeit näher untersucht werden. Die ersten beiden Kapitel der Arbeit, die die Frage nach dem Verfasser und der Entstehungszeit der ,Theologia Deutsch4 thematisieren, dienen der historischen Einordnung des Traktats. In den folgenden drei Kapiteln steht die für die inhaltliche Interpretation der Schrift sehr bedeutsame Frage nach dem ursprünglichen Textbestand des Werkes im Vordergrund. Das sechste Kapitel, in dem der Aufbau der ,Theologia Deutsch4 untersucht wird, leitet dann zu einer ausführlichen Inhaltsanalyse über, die den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bildet. Abschließend soll kurz auf die Frage eingegangen werden, welche Quellen dem Traktat zugrunde lie­ gen und welche Einflüsse in ihm erkennbar sind.

1 In eckigen und runden Klammern stehen hier und im Folgenden Wörter, die man bei einer neuhochdeutschen Übersetzung ergänzen müsste. 2 WA 1, S. 378.

2

Andreas Zecherle

1. Verfasser Die ,Theologia Deutsch3 4 ist anonym überliefert. Im Prolog des Werkes finden sich aber einige Aussagen über den Autor: „Diß büchelein hat der almechtige, ewige got auß gesprochen durch eynen weißen, vorstanden [= verständigen]3, worhafftigenn, gerechten menschen, seynen frunt, der do vor czeitenn gewest ist eyn deutschir herre, eyn prister vnd eyn custos yn der deutschen herren hauß zu franckfurt [,..].“4 Enthält der Relativsatz historisch zuverlässige Angaben5, so gehörte der Verfasser als Priester­ bruder dem Deutschen Orden an und lebte in dessen Niederlassung in Frankfurt, genauer gesagt in der Deutschordenskommende in Sachsen­ hausen bei Frankfurt am Main6. Als Kustos - ein solches Amt ist für die Sachsenhausener Kommende mehrfach belegt7 - hatte er wohl die Aufsicht über das Gotteshaus. Aufgrund von Aussagen in der Hausordnung der Ballei Koblenz von 1460 und von 1499 kann man außerdem vermuten, dass bereits in früherer Zeit auch in Sachsenhausen mit dem Amt des Kustos Aufgaben im Bereich der Ausbildung jüngerer Ordensangehöriger verbunden waren8. Dem Prolog zufolge war der Autor ein „frunt“9 Gottes. Diese Bezeichnung könnte darauf verweisen, dass der Verfasser der ,Theologia Deutsch4 zur Bewegung der Gottesfreunde gehörte10, die weit­ hin von Gedanken Eckharts, Taulers und Seuses beeinflusst war11. Unter den aus verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen stammenden Gottes­ freunden gab es auch Deutschherren12. Die Forschung hat versucht, die Identität des Autors der ,Theologia Deutsch4 zu klären. In neuerer Zeit13 wurde behauptet, Heinrich von Ber­ 3 Bei der Erstellung der Übersetzungen wurden herangezogen: Lexer: Taschen­ wörterbuch; ThD (Ha). 4 ThD(H), Prolog, 1-4, S. 67. 5 Vgl. auch unten Kapitel 5, S. 14-16. 6 Vgl. u.a. Pfeiffer: Vorwort, S. XX; Uhl: Beiträge, S. 12; Siedel: Einleitung, S. 9f.; Cognet: Geburt, S. 188; Haas: Einleitung, S. 14; Hinten: Einführung, S. 2; Peters: Theologia, S. 259. Zur Geschichte der Deutschordenskommende in Frankfurt vgl. SEILER: Frankfurt. 7 Vgl. Schiel: Heinrich, S. 89; SEILER: Frankfurt, S. 32. 8 Vgl. Schiel: Heinrich, S. 88f.; vgl. auch Siedel: Einleitung, S. 10. 9 ThD (H), Prolog,2, S. 67. 10 Vgl. Pfeiffer: Vorwort, S. XXf.; Lisco: Heilslehre, S. 15f; Uhl: Beiträge, S. 12; Hinten: Frankfurter, Sp. 802; vgl. auch SlEDEL: Einleitung, S. 91 f. Zur Bewegung der Gottesfreunde vgl. Rapp: Gottesfreunde; Semmler: Gottesfreund; Hauschild: Lehrbuch 1, S. 650-652. 11 Vgl. Rapp: Gottesfreunde, S. 98f.; Hauschild: Lehrbuch 1, S. 651. 12 Vgl. Rapp: Gottesfreunde, S. 98f. 13 Zu älteren Hypothesen, die in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion keine Rolle mehr spielen, vgl. zusammenfassend LISCO: Heilslehre, S. 14f.; UHL: Beiträge, S. 13.

Die , Theologia Deutsch ‘

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gen oder Johannes Lägeler, genannt „Johannes de Francfordia“, sei der Verfasser des Werkes. Wie Wessendorft berichtet, glaubte Heinrich Bingemer, der im Jahr 1955 verstorbene Direktor des Historischen Museums in Frankfurt am Main, in Heinrich von Bergen den Autor der ,Theologia Deutsch' gefun­ den zu haben14. Der in einer Urkunde vom 17. Dezember 1359 erwähnte Heinrich von Bergen war Priesterbruder im Deutschordenshaus in Sach­ senhausen und stammte aus der Seitenlinie der Schelme von Bergen, die ihren Sitz im sogenannten „Steinernen Haus“ in Frankfurt hatte15. Das Anniversarienbuch des Deutschordenshauses aus dem 14. Jahrhundert ver­ zeichnet ohne Angabe des Sterbejahres unter dem 13. März „obiit frater Heinricus de Berge“16, wobei allerdings, anders als etwa bei einem gewis­ sen Bruder Gebhart17, eine Tätigkeit als Kustos nicht erwähnt wird. Mu­ seumsdirektor Bingemer verstarb, ohne seine Behauptung, dass Heinrich von Bergen der Verfasser der ,Theologia Deutsch' sei, jemals wissen­ schaftlich begründet zu haben18. Die These Bingemers bleibt somit bis auf weiteres äußerst spekulativ. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand ist es nicht möglich, einen der urkundlich nachweisbaren Priesterbrüder der Kommende Sachsenhausen als den Urheber der ,Theologia Deutsch' zu identifizieren19. Der von Rudolf Haubst als Autor der ,Theologia Deutsch' vorgeschla­ gene20 Johannes Lägeler (um 1380-1440), der „Johannes de Francfordia“ genannt wurde21, lebte nicht im Deutschherrenhaus in Sachsenhausen22. Nach Studien in Paris kam er 1401 als Magister Artium an die Universität Heidelberg, wo er 1416 Theologieprofessor wurde. Er gehörte zu den Ver­ tretern der Universität Heidelberg auf den Konzilien von Konstanz und Basel, fungierte als Hoftheologe für den Kurfürsten Ludwig III. von der Pfalz und war auch als Inquisitor tätig23. Haubst geht davon aus, dass der Prolog der ,Theologia Deutsch' keine historisch zuverlässigen Angaben über den Verfasser enthält, da er nach der Meinung Haubsts nicht vom Autor selbst stammt, sondern dem Werk erst geraume Zeit später voran­ 14 Vgl. Wessendorft: Verfasser. 15 Vgl. ebd. S. 191; Schiel: Heinrich, S. 85. 16 Zit. nach Jost: Orden, S. 86, Nr. 564. 17 Vgl. ebd. S. 81, Nr. 510. 18 Vgl. Wessendorft: Verfasser, S. 188; 190f.; Schiel: Heinrich, S. 85. 19 Vgl. Seiler: Frankfurt, S. 32. 20 Vgl. Haubst: Johannes; Haubst: Frankfurter; Haubst: Johann, Sp. 602. 21 Zu Johannes Lägeler, genannt „Johannes de Francfordia", vgl. Haubst: Johannes, S. 381 f.; SCHIEL: Heinrich, S. 86; Haubst: Johann; Neddermeyer: Johannes. 22 Vgl. Haubst: Johannes, S. 387. 23 Vgl. ebd. S. 381 f. (Dort ist fälschlicherweise von Ludwig II. statt von Ludwig 111. von der Pfalz die Rede.) Haubst: Frankfurter, S. 223; Haubst: Johann, Sp. 599f.

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Andreas Zecherle

gestellt wurde24. Zur Begründung der These, dass Johannes Lägeler wohl die ,Theologia Deutsch' verfasst habe, führt Haubst neben wenig beweis­ kräftigen Vermutungen25 vor allem inhaltliche Parallelen zwischen der ,Theologia Deutsch' und den Predigten Lägelers an26. Die von Haubst ge­ nannten Übereinstimmungen, etwa die Adam-Christus-Antithetik oder die Verurteilung des Eigenwillens, sind aber nicht so spezifisch, dass sie als Beleg für einen gemeinsamen Autor dienen könnten. Sie lassen sich problemlos durch allgemein verbreitete Traditionen erklären27. Dies gilt auch für die ähnliche Verwendung des Motivs vom rechten und linken Auge28, die nach Haubsts Meinung ein zentrales Argument für seine These darstellt29. Dieses Motiv kommt nämlich in der mittelalterlichen Literatur in verschiedenen Variationen häufig vor30. Die allgemeine Skepsis der For­ schung gegenüber der Auffassung, dass Johannes Lägeler die ,Theologia Deutsch' verfasst habe31, ist daher meines Erachtens berechtigt. Der Autor der ,Theologia Deutsch' bleibt somit weiterhin unbekannt. Der Prolog dürfte, wie Haubst annimmt, nicht vom Verfasser des Werkes stammen32. Dies bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass die Vorrede keine historisch zuverlässigen Informationen über den Autor der theolo­ gia Deutsch' enthält. Die im Prolog gebrauchte Wendung „vor czeitenn“33 setzt voraus, dass der Verfasser des Traktats bereits tot ist, sie muss aber wohl nicht einen sehr langen Zeitraum bezeichnen34. Selbst wenn hier eine lange Zeitspanne gemeint sein sollte, kann die Zeitangabe im Hinblick auf 24 Vgl. Haubst: Johannes, S. 387f.; Haubst: Frankfurter, S. 220f. 25 Vgl. Haubst: Johannes, S. 376-393; vgl. dazu die Kritik bei Schiel: Heinrich, S. 86-90, und die partielle Korrektur der früher vertretenen Ansicht bei Haubst: Frank­ furter, S. 226. 26 Vgl. Haubst: Johannes, S. 395-398; Haubst: Frankfurter, S. 232-238; Haubst: Johann, Sp. 602. 27 Bei der Verurteilung des Eigenwillens nennt Lägeler sogar selbst die Autoritäten, auf die er sich stützt. Vgl. Haubst: Johannes, S. 397. 28 Vgl. Schleusener-Eichholz: Bedeutung, S. 478, Anm. 127. 29 Vgl. Haubst: Johannes, S. 395-397; Haubst: Frankfurter, S. 232-236. 30 Vgl. Schleusener-Eichholz: Bedeutung, S. 476-478; Haas: Einleitung, S. 19; Schleusener-Eichholz: Auge 2, S. 1053-1057; vgl. auch die bei Haubst: Frankfurter, S. 233f., angegebenen Belege. 31 Vgl. u.a. Schiel: Heinrich; Haas: Theologia, S. 334T, Anm. 74; Hinten: Einfüh­ rung, S. 2; Peters: Theologia, S. 259. 32 Vgl. unten Kapitel 5, S. 14-16. 33 ThD (H), Prolog,3, S. 67. 34 Vgl. SlEDEL: Einleitung, S. 10; vgl. auch Deutsches Wörterbuch 15, Sp. 547, s.v. .Zeit', insbesondere den dort angegebenen Beleg aus dem .Reinhart Fuchs'. An dieser Stelle ist eindeutig ein relativ kurzer Zeitraum gemeint. Über die Bedeutung der Wen­ dung im Prolog der .Theologia Deutsch' wird man wohl erst mit größerer Sicherheit urteilen können, wenn der entsprechende Band des von Ulrich Goebel und Oscar Reich­ mann herausgegebenen frühneuhochdeutschen Wörterbuches erschienen ist.

Die , Theologia Deutsch'

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künftige Leser des Textes formuliert sein35. Dass der Autor des Werkes „eyn deutschir herre, eyn prister vnd eyn custos yn der deutschen herren hauß zu franckfurt“36 gewesen sei, ist eine relativ detaillierte, historisch plausible37 Aussage, die - im Unterschied zu anderen im Prolog enthalte­ nen Behauptungen über den Verfasser38 - keinen erkennbar hyperbolischen Charakter hat. Man kann daher, solange keine gegenteiligen Erkenntnisse vorliegen, davon ausgehen, dass die eben zitierten Informationen über den Verfasser wahrscheinlich historisch zuverlässig sind39. Dies gilt wohl auch für dessen Bezeichnung als „Gottesfreund“40.

2. Datierung Die Datierung der ,Theologia Deutsch1 ist äußerst schwierig. Fest steht, dass das Werk spätestens 1465 vollendet wurde, weil die älteste vollstän­ dige Handschrift, die gegenwärtig bekannt ist, aus diesem Jahr stammt41. Da die älteste bislang entdeckte Handschrift, die nur die Kapitel sieben bis neun überliefert, in das Jahr 1453 datiert wird42, können zumindest diese Kapitel nicht später entstanden sein. Der textkritische Befund zeigt darüber hinaus, dass diese Handschrift wahrscheinlich über mehrere Zwischen­ stufen von einem Gesamttext abstammt43, sodass das Werk wohl einige Zeit vor 1453 entstanden sein muss. Da in der ,Theologia Deutsch1 Tauler zitiert wird44, bildet das Wirken Taulers den terminus a quo45.

35 Vgl. etwa den freilich beträchtlich früher entstandenen Prolog von Hartmanns ,lwein‘. Obwohl der Prolog sicher von Hartmann selbst stammt, spricht der Autor dort wohl im Hinblick auf künftige Leser - im Präteritum von seiner eigenen Person. Vgl. Hartmann: Iwein, V. 21-30, S. 1. 36 ThD (H), Prolog,3f„ S. 67. 37 Vgl. oben S. 2. 38 Vgl. ThD (H), Prolog, lf„ S. 67. 39 Vgl. Haas: Einleitung, S. 14; Hinten: Einführung, S. 2; Peters: Theologia, S. 259; Seiler: Frankfurt, S. 31 f. 40 Vgl. auch unten Kapitel 5, S. 16. 41 Vgl. Hinten: Einführung, S. 16. Zur Datierung der ältesten vollständigen Hand­ schrift vgl. Ruh: Frankfurter, S. 205. 42 Vgl. Hinten: Frankfurter, Sp. 804; Hinten: Einführung, S. 16; 18. Früher wurde diese Handschrift fälschlicherweise in das Jahr 1473 datiert. Vgl. z.B. Ruh: Frankfurter, S. 205. 43 Vgl. Hinten: Einführung, S. 16-25. 44 Vgl. ThD (H), Kap. 13,1-3, S. 87f. 45 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 92, Anm. 27.

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Andreas Zecherle

Nachdem eine Entstehung in der Mitte46, in der zweiten Hälfte47 oder gegen Ende des 14. Jahrhunderts48 vertreten worden war, behauptete Edward Schröder 1937 im Anschluss an Vermutungen Karl Müllers49, dass die ,Theologia Deutsch4 erst im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts verfasst worden sei50. Zur Begründung dieser These führte Schröder das sprachgeschichtliche Argument an, dass in den ihm bekannten Textzeugen statt der im 14. Jahrhundert üblichen Wörter ,minne‘ und ,minnen‘ stets ,liebe4 und die Verben ,lieben4, ,meynen‘, ,lieb haben4, ,gern haben4 gebraucht werden51. Die Datierung Schröders wurde in der Folgezeit von der For­ schung weithin übernommen52. Inzwischen sind jedoch Handschriften der ,Theologia Deutsch4 aufgefunden worden, in denen das Wort ,minne4 und entsprechende Verb- und Adjektivbildungen Vorkommen. Dieses Wort und seine Ableitungen werden in zwei Handschriften häufig, in einer Hand­ schrift, die aus dem Franziskanerkloster in Eger stammt, nur vereinzelt verwendet53. Die auf einem Missverständnis beruhende Ersetzung von „mynner [= minder/weniger]“54 und „mynder“55 durch „lieber“, die sich in der Handschrift aus Eger findet, zeigt, dass im Laufe der Überlieferung das Wort ,minne4 und seine Ableitungen durch Synonyme substituiert wur­ den56. Eine solche Entwicklung lässt sich auch durch die zahlreichen Grup­ pen- und Einzellesarten im Wortfeld ,lieben4 sowie durch den Nachweis desselben Ersetzungsprozesses in der Mitüberlieferung belegen. So wurden zum Beispiel in der Handschrift aus Eger, die unter anderem die theolo­ gia Deutsch4 enthält, die Wörter ,minne4 und ,minnen4 in Eckhart- und Taulertexten durchgehend ersetzt57. Es kann somit als gesichert gelten, dass der Autor der ,Theologia Deutsch4 das Wort ,minne4 und dessen Ab­ leitungen verwendete. Der Argumentation Schröders ist damit die Grund­ 46 Vgl. Siedel: Einleitung, S. 16f. 47 Vgl. Uhl: Beiträge, S. 12f.; Mandel: Einleitung, S. XII; Bernhart: Einleitung, S. 82; vgl. auch Lisco: Heilslehre, S. 15f. 48 Vgl. Pfeiffer: Vorwort, S. XXI. 49 Vgl. Müller: Text, S. 329f. 50 Vgl. Schröder: Überlieferung, S. 65. 51 Vgl. ebd. S. 64f. Das Fehlen von Adjektivableitungen vom Wort ,minne‘ erwähnt Schröder nicht, obwohl auch sie in den ihm bekannten Handschriften der .Theologia Deutsch4 nicht verwendet werden. 52 Vgl. u.a. Pahncke: Überlieferung, S. 279f.; Baring: Luther, S. 48f.; WentzlaffEggebert: Mystik, S. 160f.; Haubst: Frankfurter, S. 221f.; Cognet: Geburt, S. 188f.; vgl. zusammenfassend Hinten: Einführung, S. 2f. 53 Vgl. Hinten: Einführung, S. 43; 45f.; 50; 59. 54 ThD (H), Kap. 5,13, S. 75; Kap. 51,122, S. 147. 55 ThD (H), Kap. 16,47f„ S. 92; Kap. 43,63, S. 136; Kap. 45,20, S. 139; Kap. 51,122, S. 147. 56 Vgl. Hinten: Einführung, S. 42f.; 59. 57 Vgl. ebd. S. 59f.

Die , Theologia Deutsch '

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läge entzogen58. Aus der Tatsache, dass der Verfasser der ,Theologia Deutsch1 das Wort ,minne‘ und dessen Ableitungen gebrauchte, folgt allerdings nicht notwendigerweise, dass das Werk bereits im 14. Jahrhun­ dert entstand. Besch hat nämlich nachgewiesen, dass das Wort ,minne‘ und die entsprechenden Verb- und Adjektivbildungen in bestimmten Gegenden Deutschlands, unter anderem auch im Gebiet um Frankfurt am Main, noch im 15. Jahrhundert verwendet wurden59. Zur Datierung des Werkes müssen also andere Kriterien herangezogen werden. Die .Theologia Deutsch1 ist wohl noch im 14. Jahrhundert verfasst wor­ den, da der Überlieferungskontext eine Entstehung im Umkreis der Schriften Meister Eckharts und Taulers wahrscheinlich macht60. In den Handschriften wird die .Theologia Deutsch1 nämlich zusammen mit Tex­ ten Eckharts und Taulers sowie zusammen mit Gottesfreundliteratur tra­ diert61. Zu diesem Überlieferungskontext passt auch die Verwendung des Begriffes „gotis frundt“62. Der Gebrauch dieses Begriffes allein reicht allerdings, anders als die ältere Forschung meinte63, nicht aus, um eine Datierung in das 14. Jahrhundert zu begründen, da die Bezeichnung .Got­ tesfreund1 auch im 15. Jahrhundert, als die Gottesfreundbewegung nicht mehr existierte, weiterhin verwendet wurde64. Haas vermutete, dass die .Theologia Deutsch1 zwischen 1381 und 1400 entstand, weil der Verfasser des Werkes im 40. Kapitel auf das Protokoll vom Verhör Konrad Kannlers, das am 26. Januar 1381 in Eichstätt statt­ fand, Bezug nehme65. Dem Protokoll zufolge bezeichnete sich der freie Geist Konrad Kannler selbst als „Antichristus“, wobei er, wie im Protokoll ausdrücklich vermerkt ist, diesen Begriff in einem positiven Sinne verstand66. Er verwendete wohl das deutsche Wort .endechrist [= Anti58 Vgl. ebd. S. 3; 59f. 59 Vgl. Besch: Sprachlandschaften, S. 192-199. 60 Vgl. Hinten: Einführung, S. 3; Haas: Einleitung, S. 13; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 460. 61 Zum Inhalt der Handschriften, die die .Theologia Deutsch1 überliefern, vgl. u.a. Pahncke: Überlieferung, S. 277T; Ruh: Handschrift, S. 280-282; Schneider: Hand­ schriften, S. 295f.; 446-449; Ruh: Frankfurter, S. 205-209; Hinten: Einführung, S. 10-14 (ebd. S. 9f.; 14f. weitere Literatur); vgl. auch Schröder: Überlieferung, S. 62. 62 ThD (H), Prolog,6, S. 67; vgl. Prolog,2, S. 67; Register,45, S. 69; Kap. 12,12, S. 87. 63 Vgl. PFEIFFER: Vorwort, S. XXf.; Lisco: Heilslehre, S. 15f.; Uhl: Beiträge, S. 12f.; Mandel: Einleitung, S. XII. 64 Vgl. Egenter: Gottesfreundschaft, S. 1031; Rapp: Gottesfreunde, S. 99; vgl. z.B. auch Thomas von Kempen: De imitatione, I, 18,13, S. 80. 65 Vgl. Haas: Theologia, S. 313T, Anm. 16. Zum Verhör Kannlers vgl. GrundMANn: Ketzerverhöre, S. 535-550; Lerner: Heresy, S. 141-145. Bei Grundmann: Ket­ zerverhöre, S. 561-566, findet sich ein Abdruck des Verhörprotokolls. 66 Vgl. Grundmann: Ketzerverhöre, S. 564.

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Christus]4 und deutete es volksetymologisch im Sinne von ,Endzeit­ christus467. Dass der Autor der ,Theologia Deutsch4, wie Haas vermutete, durch die Verwendung des Begriffes „endecrist“67 68 69 gegen Kannlers spezifi­ sches, positives Verständnis dieses Begriffes polemisiert, ist jedoch mei­ nes Erachtens nicht erkennbar70. Haas führte außerdem noch die folgende Übereinstimmung an: Der Verfasser der ,Theologia Deutsch4 schreibt: „Ja, eß wart gesprochen von eyme [= einem] falschen, freyen geiste, der yn disser irrunge was [= war], ertötet er czehen [= zehn] menschen, eß were ym als klein gewissen [= würde er sich daraus so wenig ein Gewissen ma­ chen], also ab [= wie wenn] er eynen hunt ertötet.“71 Kannler behauptete dem Protokoll zufolge unter anderem, „quod, si aliquis inhibuisset eum facere, in quo delectabatur, talem hominem poterat interficere, eciam [= etiam] mille homines sine peccato, quia, si deo displicuisset, eum precavisset [= praecavisset]“72. Eine ähnliche Aussage findet sich aber auch im Protokoll vom Verhör des freien Geistes Johannes Hartmann am 26. Dezember 1367 in Erfurt73. Dieses Protokoll, das in Handbücher für Inquisitoren und Notare aufgenommen wurde, diente dem Eichstätter In­ quisitor 1381 als Muster für die Befragung Kannlers und als Vorlage für die lateinische Formulierung von dessen Behauptungen74. 75Der Vorwurf, dass freie Geister sich auch zur Tötung von Menschen berechtigt fühlen, war also relativ weit verbreitet. Vor diesem Hintergrund sind meiner An­ sicht nach die Übereinstimmungen zwischen dem Eichstätter Verhörproto­ koll von 1381 und der entsprechenden Passage in der ,Theologia Deutsch475 nicht so groß, dass sich eine Abhängigkeit beider Texte nachweisen ließe. Der Vergleich der ,Theologia Deutsch4 mit den Verhör­ protokollen aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zeigt allerdings, dass das Werk in dieser Zeit entstanden sein könnte76. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die ,Theologia Deutsch4 wohl noch im 14. Jahrhundert verfasst wurde, weil der Überlieferungs­ kontext eine Entstehung im Umkreis der Schriften Meister Eckharts und Taulers wahrscheinlich macht. Eine genauere Datierung des Traktats ist nicht möglich.

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Vgl. ebd. S. 548f. ThD (H), Kap. 40,86, S. 128; vgl. 40,84-86, S. 128. Vgl. Haas: Theologia, S. 313f„ Anm. 16. Vgl. ThD (H), Kap. 40,84-86.99-101, S. 128f. ThD (H), Kap. 40,74-76, S. 128. Zit. nach Grundmann: Ketzerverhöre, S. 562. Vgl. ebd. S. 542; Haas: Theologia, S. 313, Anm. 16. Vgl. Grundmann: Ketzerverhöre, S. 536-539. Vgl. ThD (H), Kap. 40,74-76, S. 128. Vgl. auch Haas: Theologia, S. 314, Anm. 16.

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3. Überlieferung Die Drucküberlieferung der ,Theologia Deutsch* setzte mit den Editionen Luthers von 1516 und 1518 ein77. Die erste Ausgabe Luthers enthielt ledig­ lich die Kapitel 7-2 8 78, die zweite den gesamten Text79. Den beiden Ausga­ ben lagen zwei verschiedene handschriftliche Vorlagen zugrunde, die heute verloren sind80. Luther war offenbar zunächst nur eine Handschrift bekannt, die lediglich einen Teil des Werkes tradierte81. Als ihm später eine Handschrift mit dem vollständigen Text der ,Theologia Deutsch* zur Verfügung stand, machte er sie zur Grundlage seiner zweiten Edition. Georg Baring vertrat die Ansicht, dass die Vorlage für Luthers Ausgabe von 1516 aus Ostpreußen stammte82. Johann Agricola zitiert nämlich im 1529 erschienenen83 zweiten Teil seiner Sammlung deutscher Sprichwörter einen Abschnitt aus der ,Theologia Deutsch* und berichtet, dass das Werk, aus dem das Zitat entnommen ist, seiner Erinnerung nach in einer Nieder­ lassung des Deutschen Ordens in Ostpreußen aufgefunden wurde84. Der von Agricola wiedergegebene Text weist starke Ähnlichkeiten mit dem der Edition Luthers von 1516 auf85. Da Agricola zudem den auf Luther selbst zurückgehenden86 Titel der Ausgabe von 1516 erwähnt87, entnahm er das Zitat wahrscheinlich diesem Druck88. Wenn Agricola also über die Her­ kunft des von ihm zitierten Werkes spricht, so meint er wohl die Herkunft der Handschrift, die dem von ihm verwendeten Lutherdruck von 1516 zugrunde liegt. Trifft die Erinnerung Agricolas zu, was allerdings unge­

77 Vgl. Baring: Bibliographie, S. 27-32; Hinten: Einführung, S. 6; 16. 78 Vgl. den Faksimileabdruck der Ausgabe von 1516 bei Baring: ThD (L). Die Kapitelzählung bezieht sich auf die Ausgabe von Hintens. Vgl. auch die Übersicht bei Hinten: Einführung, S. 18. Die Ausgabe Luthers von 1516 hat dort die Sigle A. Vgl. ebd. S. 9. 79 Vgl. ThD (M); vgl. auch die Übersicht bei Hinten: Einführung, S. 18. Die Ausgabe Luthers von 1518 hat dort die Sigle B. Vgl. ebd. S. 9. 80 Vgl. das Stemma bei Hinten: Einführung, S. 17; vgl. auch Baring: Neues, S. 6. 81 Vgl. Otto: Herkunft, S. 437. 82 Vgl. Baring: Neues, S. 6f. 83 Vgl. Otto: Herkunft, S. 440, Anm. 25. 84 Vgl. Agricola: Sprichwörtersammlungen 1, S. 529f. 85 Vgl. Baring: Neues, S. 6f. 86 Vgl. unten Kapitel 4, S. 13f. 87 Vgl. Agricola: Sprichwörtersammlungen 1, S. 529. 88 Die von Baring erwogene Möglichkeit, dass Agricola nach der Vorlage des Druckes von 1516 zitiert (vgl. Baring: Neues, S. 6), scheint mir wegen der Erwähnung des auf Luther zurückgehenden Titels sehr unwahrscheinlich.

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wiss ist89, so stammte die Vorlage für Luthers Ausgabe von 1516 aus Ost­ preußen. Edward Schröder vermutete, dass Luther die handschriftliche Vorlage für seine Ausgabe von 1518 aus der Kartause Salvatorberg in Erfurt er­ hielt90. Zur Begründung dieser Hypothese verweist Schröder darauf, dass im Bibliothekskatalog der Kartause Salvatorberg eine heute verlorene Handschrift verzeichnet ist, die die ,Theologia Deutsch4 überlieferte91, und dass Luther von Wittenberg aus weiterhin in engem Kontakt zu in Erfurt lebenden Personen stand. Gegen Schröders Vermutung92 spricht allerdings, dass das Werk dem Bibliothekskatalog der Kartause Salvatorberg zufolge den Titel ,Der Frankfurter4 trug, einen Titel, den Luther nicht gekannt zu haben scheint93. Nach neuesten Forschungen erhielt Luther die handschriftliche Vorlage für eine der beiden Ausgaben von dem Konvent der Augustinereremiten in Köln94. In einem Exemplar des Augsburger Taulerdrucks von 1508, das sich heute in der British Library in London befindet, wurden nämlich auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels handschriftliche Eintragungen in lateinischer Sprache entdeckt95. Eine der Eintragungen, die aus dem Jahr 1522 oder 1523 stammt96, enthält die Information, dass ein unbekannter Konvent97 das Buch als Ersatz für ein zweibändiges, auf Pergament geschriebenes Werk bekam. Dieses war der handschriftlichen Bemerkung 89 Vgl. Otto: Herkunft, S. 441. Otto behauptet zudem, Agricola rede überhaupt nicht von einem Druck (vgl. ebd.). Es ist aber zu berücksichtigen, dass Agricola durch die Nennung des Titels der Ausgabe von 1516 auf diesen Druck Bezug nimmt. 90 Vgl. Schröder: Überlieferung, S. 62. 91 Vgl. Bibliothekskatalog, S. 308; vgl. auch unten Kapitel 4, S. 13. 92 Zum wissenschaftstheoretischen Status von Schröders Annahme vgl. Otto: Her­ kunft, S. 441. 93 Sowohl im Vorwort als auch im Titel von Luthers zweiter Ausgabe aus dem Jahr 1518 wird der Titel ,Der Frankfurter1 nicht erwähnt. Vgl. dazu Vorwort und Titel der Edition von 1518 in WA 1, S. 376; 378f. Von Hinten behauptet, „Luthers Aussage, daß er seine Texte ohne Titel- und Verfasserangabe gefunden hat11 (Hinten: Einführung, S. 9, Anm. 2), spräche gegen Schröders Annahme. Diese Aussage Luthers findet sich jedoch nur in seiner Vorrede zur ersten Edition von 1516. Vgl. WA 1, S. 153. 94 Vgl. Otto: Tauler-Rezeption, S. 178-180; Schneider: Herkunft, S. 84; vgl. auch Otto: Herkunft. 95 Faksimile in Otto: Herkunft, S. 440; Transkription des Textes und Übersetzung ebd. S. 434f. sowie in Otto: Tauler-Rezeption, S. 178f. (mit korrigierter Übersetzung); korrigierte Transkription des Textes in Schneider: Herkunft, S. 82f. 96 Vgl. Schneider: Herkunft, S. 83f. 97 Schneider geht, anders als Otto, von der Hypothese aus, dass zwischen den ersten beiden Eintragungen in dem Taulerdruck ein enger Zusammenhang besteht. Er vermutet daher, dass es sich bei dem in der zweiten Eintragung namentlich nicht genannten Kon­ vent um das Augustinerkloster Himmelpforten handelt, das in der ersten Eintragung als Eigentümer des Buches bezeichnet wird. Vgl. ebd. S. 85-87.

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zufolge an die Kölner Augustinereremiten ausgeliehen worden98, die es Luther übergaben, der es drucken ließ. Da Luther, wie der Verfasser der Eintragung berichtet, später Häretiker wurde, konnten die beiden Bände nicht zurückerhalten werden. Die handschriftliche Bemerkung überliefert wohl historisch zuverlässige Informationen. Hierfür spricht insbesondere, dass kein Motiv erkennbar ist, das den Autor der Notiz zu falschen Anga­ ben veranlasst haben könnte99. Die in der Eintragung erwähnten zwei Bände enthielten wahrscheinlich die ,Theologia Deutsch1, weil Luther bis 1523 keine andere Schrift als Herausgeber drucken ließ. Da die ,Theologia Deutsch4 recht kurz ist, kann man vermuten, dass die heute verlorene zweibändige Pergamenthandschrift neben diesem Werk auch Taulerpredigten überlieferte. Diese Hypothese würde auch erklären, weshalb der Ursprungskonvent der Handschrift als Ersatz für sie einen Taulerdruck erhielt100. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Luther die Vorlage für eine seiner Ausgaben wohl aus dem Konvent der Augustinereremiten in Köln erhielt. Ist die Erinnerung Agricolas zutreffend, so stammte die Handschrift, die der ersten Edition Luthers zugrunde liegt, aus Ostpreußen. Nimmt man dies an, so kam aus Köln wohl die Vorlage für die zweite Ausgabe101. Seit dem 16. Jahrhundert war die ,Theologia Deutsch1 für lange Zeit nur noch aufgrund der Drucküberlieferung bekannt, die ausnahmslos auf den beiden Ausgaben Luthers basierte102. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dann erstmals eine Handschrift aufgefunden, die die ,Theologia Deutsch1 tradiert. Reuß berichtete im Jahr 1843 von der Entdeckung einer Handschrift103, die, wie Pfeiffer erkannte104, die ,Theologia Deutsch1 be­ inhaltete. Diese Handschrift, die aus der Zisterzienserabtei Bronnbach stammt und 1497 fertig gestellt wurde105, überliefert einen ,Theologia‘Text, der im Vergleich zum Druck Luthers von 1518 um etwa 10% um­

98 Vgl. Otto: Tauler-Rezeption, S. 179, besonders Anm. 27; Schneider: Herkunft, S. 83. Otto hatte früher eine andere Interpretation vertreten. Vgl. Otto: Herkunft, S. 434436. 99 Vgl. Otto: Tauler-Rezeption, S. 179. 100 Vgl. ebd. S. 179; vgl. auch Otto: Herkunft, S. 437-439. 101 Denkbar wäre auch, dass die Kölner Augustinereremiten die Handschrift, die sie Luther übergaben, von einer ostpreußischen Deutschordensniederlassung entliehen hat­ ten. In der Notiz Agricolas finden sich aber keine Hinweise, die für diese Vermutung sprächen. Vgl. Agricola: Sprichwörtersammlungen 1, S. 529. 102 Vgl. Hinten: Einführung, S. 1; PETERS: Theologia, S. 259. 103 Vgl. Reuss: Beiträge, S. 437. 104 Vgl. Pfeiffer: Vorwort, S. IX. 105 Vgl. Hinten: Einführung, S. 7; 9.

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fangreicher ist1"6. Die Frage, ob der Text der Bronnbacher Handschrift oder der der Ausgabe Luthers ursprünglicher ist, wurde in der Folgezeit, insbesondere seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, kontrovers disku­ tiert106 107. Nachdem die Debatte vor allem von Theologen mit vorwiegend inhaltlichen Argumenten geführt worden war, kam der Germanist Edward Schröder 1937 aufgrund einer sprachlich-stilistischen Untersuchung zu dem Schluss, dass die Plusstücke der Bronnbacher Handschrift als sekun­ däre Einschübe anzusehen seien108. 109 Bereits im Jahr 1937 wurde eine weitere Handschrift aufgefunden, die, wie man bereits damals erkannte, die ,Theologia Deutsch1 enthielt109. Die Forschung hat dies aber bis zum Ende der 50-er Jahre größtenteils nicht zur Kenntnis genommen110. Seit dieser Zeit bis zum Beginn der 80-er Jahre wurde die ,Theologia Deutsch1 dann in weiteren Handschriften entdeckt1". Abgesehen von Handschriften, bei denen Drucke als Vorlage dienten, sind gegenwärtig acht handschriftliche Textzeugen der ,Theologia Deutsch1 bekannt, von denen drei den gesamten Text überliefern112. Die älteste Handschrift stammt, wie bereits erwähnt, aus dem Jahr 1453, die älteste vollständige aus dem Jahr 1465113. *Keiner 115 der neu entdeckten Textzeugen tradiert die Fassung der Bronnbacher Handschrift"4. Das Stemma, das sich aufgrund der Handschriftenfunde erstellen lässt, bestätigt die These, dass es sich bei den Plusstücken der Bronnbacher Handschrift um nachträgliche Erweiterungen eines Redaktors handelt"5. Die größere Zahl an Textzeugen erlaubt außerdem die Schlussfolgerung, dass den Drucken Luthers von 106 Vgl. Schröder: Überlieferung, S. 52f.; Hinten: Frankfurter, Sp. 807; Hinten: Einführung, S. 25. Die Bronnbacher Handschrift liegt den von Pfeiffer und Uhl heraus­ gegebenen Ausgaben zugrunde: ThD (P); ThD (U). Während Uhl den Text der Hand­ schrift genau wiedergab, veränderte Pfeiffer die Schreibung des Textes relativ stark. Vgl. dazu Pfeiffer: Vorwort, S. XX. 107 Vgl. u.a. BÜTTNER: Einleitung, S. LVI-LXI; Mandel: Einleitung, S. VII-X; Hermelink: Text, S. 3-12; Müller: Beiträge, S. 631-649; 653f.; Siedel: Einleitung, S. 103-105; 110-120; Müller, Text, S. 307-329; 333-335; Siedel: Text; Schröder: Überlieferung, S. 49-56. Forschungsbericht mit weiteren Literaturangaben ebd. S. 51 f. 108 Vgl. Schröder: Überlieferung, S. 49-56. 109 Vgl. Butzmann: Handschriften, S. 76; 78f. 110 Vgl. Pahncke: Überlieferung, S. 276f. Vgl. ebd. S. 278f.; Ruh: Handschrift, S. 280-282; 287; Ruh: Frankfurter; HINTEN: Einführung, S. 14f. Anders als dies die zusammenfassende Darstellung bei Peters: Theologia, S. 259, suggeriert, wurde die .Theologia Deutsch1 in den beiden Hand­ schriften der Stadtbibliothek Nürnberg erst von Wolfgang von Hinten, nicht schon von Karin Schneider identifiziert. Vgl. Schneider: Handschriften, S. 295f.; 446-449. 112 Vgl. Hinten: Einführung, S. 7f.; 18. 113 Vgl. ebd. S. 16. Zur Datierung der ältesten vollständigen Handschrift vgl. auch Ruh: Frankfurter, S. 205. 1,4 Vgl. Hinten: Einführung, S. 25. 115 Vgl. ebd. S. 16-25; 34-36.

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1516 und 1518, deren handschriftliche Vorlagen bislang nicht aufgefunden wurden, der Zeugniswert von Handschriften zukommt116. Luther hat, an­ ders als ein Teil der älteren Forschung vermutete117, nicht sinnverändernd in die Textgestalt seiner Vorlagen eingegriffen118. Auf der Grundlage aller bekannten Handschriften, soweit sie nicht von Drucken abhängig sind, sowie der beiden Editionen Luthers von 1516 und 1518 hat Wolfgang von Hinten die erste kritische Textausgabe der theo­ logia Deutsch4 erarbeitet, die 1982 erschien. Dieser bis heute maßgebli­ chen Textausgabe liegt als Leithandschrift eine der drei vollständigen Handschriften, die Dessauer Handschrift aus dem Jahr 1477, zugrunde119.

4. Der Titel des Werkes Außer der durch sekundäre Zusätze erweiterten Bronnbacher Handschrift tradiert keine der gegenwärtig bekannten erhaltenen Handschriften einen Titel für das Werk120. Auch Luther berichtet in der Vorrede zu seiner Aus­ gabe von 1516, dass er die Schrift „an [= ohne] titell“121 aufgefunden habe. Die Überlieferung zeigt also, dass der Autor seinem Werk keinen Titel gab122. ln der Bronnbacher Handschrift wird das Werk ,der franckforter1’23 ge­ nannt. Diesen Titel belegt auch der gegen Ende des 15. Jahrhunderts ent­ standene Bibliothekskatalog der Erfurter Kartause Salvatorberg. In diesem Katalog ist eine heute verlorene Sammelhandschrift verzeichnet, die einen „Tractatus profundus, qui intitulatur Franckenfordensis“124 enthielt. Höchstwahrscheinlich war hiermit eine Abschrift der ,Theologia Deutsch1 gemeint . Den Ausgangspunkt für die Entstehung des sekundären Titels ,Der Franckforter1 bildete wohl die im Prolog enthaltene Aussage126, dass der Verfasser des Werkes in Frankfurt lebte.

116 Vgl. Pahncke: Überlieferung, S. 276; Ruh: Handschrift, S. 284-286; Hinten: Einführung, S. 16-19; 20f.; 52-57. 117 Vgl. z.B. Bernhard: Einleitung, S. 209; vgl. zusammenfassend Hinten: Einfüh­ rung, S. 52. 118 Vgl. Hinten: Einführung, S. 53-57. 119 Vgl. ebd. S. 28; 61f. 120 Vgl. ebd. S. 3. 121 WA 1, S. 153. 122 Vgl. ThD (H), S. 67. 123 ThD (U), S. 7,1; S. 64,29; vgl. auch S. 7,4. 124 Bibliothekskatalog, S. 308. 125 Vgl. Schröder: Überlieferung, S. 62; Ruh: Handschriftenfunde, S. 205, Anm. 2. 126 Vgl. ThD (H), Prolog,4, S. 67.

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Die Ausgabe Luthers von 1516 hatte den Titel ,Eyn geystlich edles Buchleynn1'27. Als Luther 1518 erstmals den gesamten Text edierte, gab er der Schrift den Titel ,Eyn deutsch Theologia1’28. Mit diesem Titel bringt Luther zum Ausdruck, dass er in dem Werk eine „deutsche Theologie“ repräsentiert sieht, in deren Tradition er sich auch selbst stellt. Diese „deutsche Theologie“ steht seiner Ansicht nach im Gegensatz zur latei­ nischsprachigen Scholastik, die das Wort Gottes vernachlässigt, und sie unterscheidet sich auch von humanistischer Gelehrsamkeit129 127 . 128 In einem Nachdruck von Luthers vollständiger Ausgabe, der am 23. September 1518 bei Silvan Otmar in Augsburg erschien, wurde dann zum ersten Mal der später üblich gewordene Titel ,Theologia Teütsch1 verwendet130. 131 132 133 Neben ,Theologia Deutsch1131 werden in der neueren Forschung auch die Titel ,Deutsch Theologia1'32 sowie ,Der Franckforter1 beziehungsweise ,Der Frankfurter1’33 gebraucht. Da alle Titel sekundär sind, der heute be­ kannteste aber ,Theologia Deutsch1 lautet, wird in der vorliegenden Arbeit dieser Titel verwendet.

5. Literarkritische Probleme Es stellt sich die Frage, ob der mit textkritischen Methoden rekonstruier­ bare Text vollständig von einem einzigen Autor stammt. In neuerer Zeit hat Luise Abramowski die Ansicht vertreten, dass der Prolog, das Register sowie die letzten beiden Kapitel von einem Redaktor verfasst wurden134. Diese These soll im Folgenden erörtert werden. Bereits die ältere Forschung ging, sofern sie die Frage nach dem Ver­ fasser des Prologes überhaupt thematisierte, in der Regel davon aus, dass der Prolog nicht vom Autor des Werkes stammt135. Dies ist nahe liegend, weil im Prolog vom Verfasser in der dritten Person gesprochen wird und durch die Verwendung des Perfekts in Verbindung mit der Präpositional-

127 ThD (L), S. 11. 128 Zit. nach Baring: Bibliographie, S. 27. Vgl. ebd. S. 30; PETERS: Theologia, S. 258f. 129 Vgl. WA 1, S. 378f.; vgl. dazu auch Brecht: Luther, S. 141 f. 130 Vgl. Baring: Bibliographie, S. 34; Hinten: Frankfurter, Sp. 803. 131 Vgl. z.B. Haas: Theologia. 132 Vgl. z.B. Peters: Theologia, S. 259-262. 133 Vgl. z.B. Hinten: Frankfurter; Hinten: Einführung. 134 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 85-92. 135 Vgl. u.a. Siedel: Einleitung, S. 9f.; 16; Haubst: Johannes, S. 387f.; Haubst: Frankfurter, S. 220. Abramowski scheint diese Forschungsbeiträge nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

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phrase „vor czeitenn“136 offenbar sein Tod vorausgesetzt wird137. Haas hin­ gegen meinte, dass sich das Ich des Autors im Prolog „als ein Er ka­ schiert“138. Prinzipiell ist dies nicht auszuschließen. Der Verfasser würde dann im Hinblick auf künftige Leser in der dritten Person und unter Ver­ wendung der Vergangenheit von sich selbst sprechen139 oder sein Werk einer anderen, möglicherweise auch fiktiven Person zuschreiben140. Als Argument für die These, der Prolog stamme vom Autor der Schrift, könnte man anführen, dass auch außerhalb des Prologes ein hoher Autori­ tätsanspruch erhoben wird. Am Ende des 51. Kapitels behauptet der Ver­ fasser der ,Theologia Deutsch4 nämlich, dass alle Christen die in seinem Werk enthaltenen Aussagen glauben müssen141. Diese Behauptung impli­ ziert allerdings nicht notwendigerweise die im Prolog vertretene, noch weiter gehende Auffassung, Gott habe durch den Autor gesprochen142. Gegen die These, der Verfasser schreibe sein Werk einer anderen, mög­ licherweise auch fiktiven Person zu, spricht, dass die biographischen An­ gaben im ersten Relativsatz des Prologes143 ziemlich detailliert sind und im Hinblick auf ihre legitimierende Funktion von anderen denkbaren Zu­ schreibungen durchaus übertroffen werden könnten. Wenn der Autor die Absicht gehabt hätte, sein Werk einer anderen Person zuzuschreiben, dann hätte er wohl eine Person mit größerer Autorität gewählt. Die Annahme, der Verfasser der Schrift spreche im Prolog von sich selbst, scheint recht unwahrscheinlich. Es ist nämlich nur schwer vorstell­ bar, dass ein Autor sich im Prolog ohne demutsvolle Relativierung als „weißen, vorstanden [= verständigen], worhafftigenn, gerechten men­ schen“144 bezeichnet, obwohl er jeden, der „sich an nympt etwas guts“145, also jeden, der etwas Gutes sich selbst zurechnet, für einen von Gott Ab­ gefallenen hält146.

136 ThD (H), Prolog,3, S. 67. 137 Vgl. ThD (H), Prolog, 1-4, S. 67; vgl. auch Siedel: Einleitung, S. 10; Haubst: Jo­ hannes, S. 387; Haubst: Frankfurter, S. 220; Abramowski: Bemerkungen, S. 89. 138 Haas: Theologia, S. 311; vgl. auch ebd. S. 31 Of. 139 Vgl. etwa den freilich beträchtlich früher entstandenen Prolog von Hartmanns ,Iwein'. Obwohl der Prolog sicher von Hartmann selbst stammt, spricht der Autor dort - wohl im Hinblick auf künftige Leser - in der dritten Person und unter Verwendung des Präteritums von sich selbst. Vgl. Hartmann: Iwein, V. 21-30, S. 1. 140 Vgl. etwa die fiktive Figur des „Gottesfreundes vom Oberland“. Vgl. dazu Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 132f.; Rapp: Gottesfreunde, S. 98. 141 Vgl. ThD (H), Kap. 5l,140f„ S. 148. 142 Vgl. ThD (H), Prolog,lf„ S. 67. 143 Vgl. ThD (H), Prolog,3f„ S. 67. 144 ThD (H), Prolog,2, S. 67. 145 ThD (H), Kap. 2,5, S. 73. 146 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 2,5-3,6, S. 73; Kap. 4-5, S. 74-76.

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Ein weiteres Indiz für einen Redaktor als Verfasser des Prologes stellt der Gebrauch des Begriffes ,Gottesfreund1 dar147. Aufgrund des Prologes, in dem diese Bezeichnung zweimal verwendet wird148, würde man erwar­ ten, dass ,Gottesfreund1 ein Leitbegriff in der ,Theologia Deutsch1 ist. Der Begriff kommt aber im ganzen Werk nur noch zweimal vor, einmal im Re­ gister und einmal im Text149. Man kann daher vermuten, dass der Prolog von einem Redaktor stammt, der die Schrift für gottesfreundliche Kreise herausgab150. Obwohl der Autor der ,Theologia Deutsch1 offenbar die Be­ zeichnung ,Gottesfreund1 nicht bevorzugt verwendete, dürfte er dennoch, wie seine Beeinflussung durch Tauler zeigt151, zumindest zum Umkreis der Gottesfreundbewegung gehört haben. Ebenso wie der Prolog gehen vermutlich auch das Register und die durch das Register vorgenommene Kapiteleinteilung nicht auf den Verfas­ ser des Werkes zurück. Die Kapitelüberschriften des Registers geben den Inhalt der entsprechenden Textabschnitte zwar größtenteils zutreffend wie­ der, teilweise lassen sich aber auch Diskrepanzen feststellen152. So passt zum Beispiel die Überschrift von Kapitel 24 nicht zum Text153. Die von Kapitel 31 bezieht sich nur auf den ersten Teil154 dieses Kapitels, der zu­ dem gedanklich zum vorangehenden Kapitel gehört155, und nimmt Aussa­ gen des Kapitels 38 vorweg156. In der Überschrift von Kapitel 21 kommt der Gottesfreundgedanke, in der von Kapitel 43 die Wendung „falscher freier Geist“ vor, obwohl in den jeweiligen Kapiteln von Gottesfreunden beziehungsweise von freien Geistern nicht explizit die Rede ist157. Außer­ halb des Registers wird die Wendung „falscher freier Geist“ einmal im

147 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 87, Anm. 10. 148 Vgl. ThD (H), Prolog,2.6, S. 67. 149 Vgl. ThD (H), Register,45, S. 69; Kap. 12,12, S. 87. Im Register verwendet die Handschriftenfamilie, deren Lesart von Hinten in seinen Text übernommen hat, die dem Begriff .Gottesfreund' weitgehend entsprechende Bezeichnung ,frunt Cristi1. Der Asteriskus, der sich in der Ausgabe von Hintens an dieser Stelle befindet (vgl. ThD (H), Register,45, S. 69), signalisiert, dass der Herausgeber eine begründete Entscheidung für eine der beiden Lesarten „frunt Cristi“ oder „frunt gottes“ für unmöglich hält. Vgl. Hinten: Einführung, S. 61. 150 Vgl. den Überlieferungskontext der .Theologia Deutsch'. Vgl. dazu oben Ka­ pitel 2, S. 7. 151 Vgl. unten Kapitel 8, S. 81. 152 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 87-89. 153 Vgl. ThD (H), Kap. 24, S. 102f.; vgl. auch Abramowski: Bemerkungen, S. 89. 154 Vgl. ThD (H), Kap. 31,1-9, S. 114. 155 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 89. 156 Vgl. ThD (H), Kap. 38,3-18, S. 123. 157 Vgl. ThD (H), Register,45, S. 69; 94f„ S. 70; Kap. 21, S. 97f.; Kap. 43, S. 134137; vgl. auch Abramowski: Bemerkungen, S. 89.

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Prolog und einmal im Text158, die Bezeichnung ,Gottesfreund‘ - wie bereits erwähnt - zweimal im Prolog und einmal im Text verwendet159. Vom Autor des Prologes bevorzugte Formulierungen, die im Text des Werkes jeweils nur einmal belegt sind, werden also im Register gebraucht, obgleich sie in den entsprechenden Kapiteln nicht Vorkommen. Dies spricht für die Vermutung, dass das Register von demselben Redaktor stammt, der auch den Prolog verfasste. Am Ende von Kapitel 51 findet sich eine Passage, bei der es sich wahr­ scheinlich um den ursprünglichen Schluss der Schrift handelt160: „Alles, das hie geschriben ist, das hat Cristus geleret mit langem leben, wan [= nämlich] vierdhalb [= dreieinhalb] vnde dreißig jare, vnd mit kurtzen wortten, das ist mit dem, das er spricht: ,Volge mir nach4. [...] Wer an Cristum glaubet, der muß alles daß glauben, das hie geschriben stet. Amen.“161 Die dann folgenden Kapitel 52 und 53 stellen somit wohl einen Nachtrag dar, an dessen Ende sich ein zweiter Schluss162 befindet. Es ist daher zu fragen, ob die letzten beiden Kapitel vom Verfasser der theolo­ gia Deutsch4 stammen. In ihnen werden Aussagen der vorangegangenen Kapitel wiederholt163 und mit dem neu eingeführten johanneischen Gedan­ ken harmonisiert, dass man nur durch Christus zum Vater komme164. Der Wunsch, diesen Gedanken in das Werk zu integrieren, war wohl der An­ lass für die Entstehung des Anhangs165. Die im Rahmen des johanneischen Gedankens gebrauchte Formulierung „durch Christus“ kommt, anders als etwa die Wendung „in Christus“166, im Haupttext nicht vor167. Auch vom „vater“168 ist dort, abgesehen von einem Bibelzitat169, nicht die Rede. Um den Begriff,Vater1 in das Werk zu integrieren, setzt ihn der Autor des An158 Vgl. ThD (H), Prolog,6f., S. 67; Kap. 40,74f„ S. 128. 159 Vgl. ThD (H), Prolog,6; Kap. 12,12, S. 87. 160 Vgl. Hermelink: Text, S. 19; Abramowski: Bemerkungen, S. 86. 161 ThD (H), Kap. 51,129-131.140f., S. 147f. ln zwei Handschriften fehlt das Wort ,Amen‘ (vgl. ThD (H), Kap. 51, Lesartenapparat zu Z. 141, S. 148). Grund dafür ist wohl, dass damalige Abschreiber ein ,Amen‘, das nicht am Schluss des Textes stand, als störend empfanden und es daher wegließen. 162 Vgl. ThD (H), Kap. 53,105-109, S. 154. 163 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 53,11-13, S. 150 mit Kap. 1,13-16, S. 71f. oder Kap. 53,47-49, S. 151 mit Kap. 2,5-8, S. 73 und Kap. 4,2-6, S. 74; vgl. auch Hermelink: Text, S. 19. 164 Vgl. ThD (H), Kap. 52,lf.20-22.28-34, S. 148f.; Kap. 53,23-28.99-105, S. 150154; vgl. auch Abramowski: Bemerkungen, S. 89f. 165 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 89. 166 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 15,1-3.20-22, S. 89; Kap. 30,22.24, S. 112. 167 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 89f. 168 ThD (H), Kap. 52, lf.21.26.30, S. 148f.; Kap. 53,lf.l5f.23.27.30.107f„ S. 149f. und 154. 169 Vgl. ThD (H), Kap. 33,23, S. 118.

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hangs daher mit Umschreibungen für Gott gleich, die im Haupttext ver­ wendet wurden170. Die Bezeichnungen „außwendig“ und „ynwendig leben“ sind nur im Anhang belegt171, obwohl auch in den vorangehenden Kapiteln häufig Gegensätze zwischen Außen und Innen thematisiert werden172. Ebenfalls ausschließlich im Anhang findet sich die Wendung „sagen oder singen“ beziehungsweise „singen oder sagen“173. Auffällig ist schließlich, dass 1 Kor 13,10b in Kapitel 53 unter Verwendung eines Verbs zitiert wird („so wirt das geteilte alles auß gewüstet [= zunichte]“174), das im Haupttext weder bei der wörtlichen Wiedergabe noch beim Paraphrasieren dieser Bibelstelle vorkommt175. Auch wenn man nicht mit Sicherheit ausschließen kann, dass der Verfasser der ,Theologia Deutsch1 einige Zeit nach der Vollendung seiner Schrift den Anhang anfügte, so scheint es aufgrund der angeführten Indizien, die durch weitere ergänzt werden können176, doch wahrscheinlicher, dass die letzten beiden Kapitel von einem anderen Autor stammen. Dieser muss allerdings ein hervorragender Kenner des Werkes gewesen sein177. Dass der Redaktor, der den Prolog und das Register schrieb, auch die letzten beiden Kapitel verfasste, wie Abramowski meint178, lässt sich meines Erachtens nicht belegen. Da die für den Prolog charakteristischen Begriffe im Anhang nicht Vorkommen, dürfte dieser vielmehr auf eine dritte Person zurückgehen. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass der Prolog, das Re­ gister sowie die beiden letzten Kapitel vermutlich nicht vom Autor des Werkes stammen. Sie müssen aber angefugt worden sein, bevor die Schrift weitere Verbreitung fand, weil sämtliche heute bekannten Textzeugen von einer Handschrift abstammen, die bereits alle genannten Erweiterungen enthielt179. Weitere Zusätze, deren Existenz Mennecke-Haustein aufgrund der losen Struktur des Werkes für möglich hält180, lassen sich im kritischen Text nicht nachweisen, da konkrete Anhaltspunkte fehlen. 170 Vgl. ThD (H), Kap. 53,2-5.13-15.30, S. 149f.; vgl. u.a. auch Kap. 1, S. 71f.; Kap. 33,11, S. 116. 171 Vgl. ThD(H), Kap. 53,41f.52.78f„ S. 151 f. 172 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 6,7.17.19, S. 76f.; Kap. 7,10-23.31-33, S. 78f.; Kap. 9,13.10T, S. 80f.; Kap. 21,5f., S. 98. 171 Vgl. ThD (H), Kap. 53,77f.80, S. 152; vgl. auch Abramowski: Bemerkungen, S. 90. 174 ThD(H), Kap. 53,3lf„ S. 150. 175 Vgl. ThD (H), Kap. l,lf. 17.26-29, S. 71f.; Kap. 6,23f„ S. 77; Kap. 18,9-16, S. 95; vgl. auch Abramowski: Bemerkungen, S. 86f. 176 Vgl. Abramowski: Bemerkungen, S. 87f.; 90; vgl. auch die unten in 7.1, S. 26, folgenden Ausführungen über die Trinität. 177 Vgl. auch Abramowski: Bemerkungen, S. 87-90. 178 Vgl. ebd. S. 86. 179 Vgl. Hinten: Einführung, S. 16-28. 180 Vgl. Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 460f.

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6. Aufbau und Gedankenführung Ob der ,Theologia Deutsch1 ein planvoller Aufbau zugrunde liegt, ist in der Forschung umstritten. Man hat mehrfach versucht, in dem Werk eine logische Gliederung zu erkennen181. Reifenrath zum Beispiel gliederte die ,Theologia Deutsch1 in eine Einleitung (Kapitel 1-2), die die Notwendigkeit der Vereinigung mit Gott thematisiere, einen zusammenfassenden Schluss (Kapitel 53, 2. Teil182) sowie in zwei Hauptteile (Kapitel 3-13 und 14-53, 1. Teil), von denen der erste das Wesen der Vereinigung, der zweite den Weg zur Ver­ einigung darstelle183. Teilweise wurde auch die Ansicht vertreten, dass das in Kapitel 14 beschriebene mystische Drei-Wege-Schema, nämlich „zum ersten die reynigunge, zum andern die erluchtunge, czum drittin die voreynunge“184, als Aufbauprinzip für die folgenden Ausführungen diene185. Nach Mennecke-Haustein thematisieren die Kapitel 15-17 die Reinigung, die Kapitel 18-26 die Erleuchtung und die Kapitel 27-38 die Vereinigung, wobei die Kapitel 25 und 26 ihrer Meinung nach eventuell auch der Ver­ einigung zugeordnet werden könnten. Ab Kapitel 39 ist dann, so Men­ necke-Haustein, keine klare Struktur mehr zu erkennen186. Andere Forscher vertraten hingegen die Auffassung, dass der theolo­ gia Deutsch1 insgesamt kein stringenter Aufbau zugrunde liegt187. Nach Haas handelt es sich bei dem Werk um einen Traktat188, der - gemäß einer im Mittelalter üblichen Verwendung dieser Gattung - „in lockerer Anein­ anderreihung eine nicht streng gegliederte Abfolge von Themen vorstellt, deren Ordnung nicht einer innerlich kohärenten, logischen Struktur ent­ spricht, sondern sich aus der je neuen Aufnahme von Leitmotiven ergibt. Anstatt einer Gliederung mit konsequentem Aufbau ist das Ergebnis eine 181 Vgl. u.a. Reifenrath: Theologie, S. 7-40; Mandel: Einleitung, S. XII-XXII; Hermelink: Text, S. 16-19; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 460f. Nach Mennecke-Hausteins Ansicht lässt sich ein klarer Aufbau nur in den Kapiteln 1-38 er­ kennen, nach Hermelinks Ansicht nur in den Kapiteln 1-28 (Kapitelzählung nach ThD (H)). 182 ThD (H), Kap. 53,83-109, S. 152-154. 183 Vgl. Reifenrath: Theologie, S. 8-40. Kapitelzählung im obigen Text nach ThD (H). 184 ThD (H), Kap. 14,3f., S. 88. 185 Vgl. Hermelink: Text, S. 17-19; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 460. 186 Vgl. Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 460f. Kapitelzählung im obigen Text nach ThD (H). 187 Vgl. u.a. THUDICHUM: Theologie, S. 48T; LlSCO: Heilslehre, S. 34; Haas: Theolo­ gia, S. 304f.; Haas: Einleitung, S. 17; Williams-Krapp: Frankfurter, S. 478. 188 Vgl. auch die Bezeichnung der .Theologia Deutsch* als „tractatus11 im gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstandenen Bibliothekskatalog der Kartause Marienberg. Vgl. Bibliothekskatalog, S. 308.

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ausgebreitete Fülle von inhaltlich variierten Betrachtungen um letztlich ein und dasselbe Thema: die gnadenhafte Vergottung des Menschen im Lichte der vermittelnden Vorbildlichkeit des ,Christuslebens1“189. Die ,Theologia Deutsch1 eignet sich daher in besonderer Weise zur meditativen Lektüre190. Entstehungsgeschichtlich könnte die relative Strukturlosigkeit des Textes durch die Vermutung erklärt werden, dass das Werk wie Eckharts , Reden der Unterweisung1'91 eine Sammlung klösterlicher collationes darstellt192. Insgesamt dürfte meines Erachtens die Beobachtung zutreffen, dass der ,Theologia Deutsch1 kein stringenter logischer Aufbau zugrunde liegt. Die Versuche, einen solchen zu erkennen, werden der relativ lockeren Struktur des Textes nicht gerecht. So kommt zum Beispiel der Gedanke, dass das Unvollkommene, also das Kreatürliche, im Vergleich zum Vollkommenen nichts ist, leicht variiert in den Kapiteln 1, 6 und 18 vor193. Selbst das in Kapitel 14 beschriebene mystische Drei-Wege-Schema wird nicht konse­ quent als Aufbauprinzip verwendet194. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass bereits in Kapitel 16 der Gehorsam als direkter Weg zur Vereinigung beziehungsweise Vergottung dargestellt wird und dann in den Kapiteln 2224 nochmals der Weg zur Vereinigung und diese selbst beschrieben wer­ den195. Die Vereinigung wird schließlich in den Kapiteln 27 und 28 erneut ausführlich thematisiert196. Die verschiedenen Gliederungsversuche kön­ nen allerdings darauf aufmerksam machen, dass in manchen Passagen be­ stimmte Themen und Motive überwiegen. So enthalten etwa die ersten vier Kapitel grundsätzliche Ausführungen über das Verhältnis von Gott und Mensch197, ln den Kapiteln 5-28 steht dann, abgesehen von zahlreichen Ausnahmen, eher der Weg zur Vereinigung mit Gott im Vordergrund. Die Kapitel 32-38 sind schließlich durch das Leitmotiv des vergotteten Men­ schen verknüpft198. 189 Haas: Einleitung, S. 17; vgl. auch Haas: Theologia, S. 304f.; 307, Anm. 9. 190 Vgl. Haas: Theologia, S. 304f„ Anm. 2. 191 Zu Entstehung und Struktur der ,Reden der Unterweisung* vgl. Largier: Kommentar 2, S. 791. 192 Vgl. Bernhart: Einleitung, S. 83; Haas: Theologia, S. 309, Anm. 11; Haas: Einleitung, S. 23; vgl. auch Thudichum: Theologie, S. 48f. 193 Vgl. ThD (H), Kap. 1,1-30, S. 71f.; Kap. 6,19-25, S. 77; Kap. 18,7-18, S. 95. Ein weiterer Beleg findet sich im Anhang: Kap. 53,31-39, S. 150. 194 Vgl. LlSCO: Heilslehre, S. 34; Florin: haß, S. 169T; vgl. auch HINTEN: Frankfur­ ter, Sp. 805. 195 Vgl. ThD(H), Kap. 16,38-40.58-60.70-75, S. 92f.; Kap. 22,22-24,27, S. 100-103. 196 Vgl. ThD (H), Kap. 27-28, S. 109-111. 197 Vgl. ThD (H), Kap. 1-4, S. 71-75; vgl. auch Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 460f. 198 Vgl. ThD (H), Kap. 33,50f„ S. 117; Kap. 33,1.4-6.21.31, S. 117T; Kap. 34,1, S. 118, in Verbindung mit Kap. 33,31-34, S. 118; Kap. 35,lf„ S. 119; Kap. 37,4.13.17, S. 121T; Kap. 38,1, S. 123.

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Betrachtet man die Mikrostruktur der ,Theologia Deutsch1, so fallt auf, dass das Werk aus kleineren gedanklich in sich relativ geschlossenen Ein­ heiten besteht199. Diese entsprechen in der Regel einem oder mehreren Kapiteln der wohl nicht vom Verfasser selbst stammenden200 Kapitelein­ teilung201. Diese Struktur spricht für die These, dass es sich bei dem Werk um eine Sammlung von collationes handelt. Ihre Zusammenstellung zu einem Traktat erfolgte wohl durch den Autor selbst, da der ursprüngliche Schluss202 wahrscheinlich von ihm stammt. Der Aufbau der einzelnen ge­ danklichen Einheiten weist zum Teil Ähnlichkeiten mit dem der scholasti­ schen Quaestio auf203. Besonders deutlich sind die Parallelen im achten Kapitel: Das „Man fraget, ab [= ob] eß möglich sey“204 entspricht dem „Quaeritur an“ der Quaestio, das „Man spricht gemeyniglich [= gewöhn­ lich]: neyn“205 dem „Videtur quod non“ und das „Abir sanctus Dyonisius, der wil eß muglichen [= für möglich halten]“206 dem „Sed contra“207. Es lassen sich aber auch in diesem Kapitel Unterschiede im Vergleich zur strengen Form der hochscholastischen Quaestio208 feststellen. So werden zum Beispiel bei dem „Videtur quod non“ keine Autoritäten und Gründe genannt. Außerdem wird das „Videtur quod non“ sofort209 und nicht, wie in der Hochscholastik üblich, erst am Ende der gesamten Quaestio erledigt. Schließlich fehlt ein formgemäßes „Respondeo dicendum“210. In der Regel werden die Aufbauelemente der scholastischen Quaestio in der ,Theologia Deutsch1 ziemlich frei verwendet211. Sie „stehen [...] nicht da als Glieder einer geordneten Abfolge, sondern als je neu einsetzbare Stilmittel, deren ursprünglicher systematischer Bezug auf die Ordnungsstruktur der Quaestio nicht mehr wirksam ist"212.

199 Vgl. auch Reifenrath: Theologie, S. 8. 200 Vgl. oben Kapitel 5, S. 16f. 201 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 2, 3 und 4, S. 73-75; Kap. 5, S. 75f.; Kap. 6, S. 76f. 202 Vgl. ThD (H), Kap. 51,129-141, S. 147f.; vgl. auch oben Kapitel 5, S. 17. 203 Vgl. Müller: Beiträge, S. 639f.; Siedel: Einleitung, S. 19; Haas: Theologia, S. 306-310. 204 ThD (H), Kap. 8,1, S. 79. 205 ThD (H), Kap. 8,3f„ S. 79. 206 ThD (H), Kap. 8,11, S. 79. 207 Vgl. Müller: Beiträge, S. 639. 208 Zur Form der hochscholastischen Quaestio vgl. Leinsle: Einführung, S. 40f. 209 Vgl. ThD (H), Kap. 8,4-10, S. 79. 210 Vgl. MÜLLER: Beiträge, S. 639. 211 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 29,1-13 (Videtur quod).14-27 (Solutio), S. Ulf.; Kap. 31,6-9 („nachgetragenes11 Videtur quod), S. 114; Kap. 41,1 (Quaeritur an).2-4 (Respondeo dicendum), S. 130; Kap. 51,1-3 (Quaeritur an).3-128 (Respondeo dicendum), S. 143-147. 212 Haas: Theologia, S. 310.

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7. Inhaltsanalyse Im Folgenden sollen die zentralen Aussagen der ,Theologia Deutsch1 dar­ gestellt werden. Da das Werk keinen stringenten logischen Aufbau hat213 211, * bietet es sich an, hierbei nicht dem Verlauf des Textes zu folgen, sondern den Inhalt anhand wichtiger Themenkreise zu analysieren. Weil die Frage nach der ursprünglichen Textgestalt des Traktats lange im Mittelpunkt der Forschungsdiskussion stand, wurde dem Inhalt des Werkes relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet214. Die Autoren älterer Arbeiten über den Inhalt der Schrift gingen zudem teilweise von der heute widerlegten215 These aus, dass die Bronnbacher Handschrift den ursprüng­ lichen Text der ,Theologia Deutsch1 überliefere216. Die 1982 erschienene kritische Ausgabe217 stellt nun eine zuverlässige Textgrundlage für die in­ haltliche Erschließung des Traktats bereit. Dennoch sind seit ihrem Er­ scheinen bislang nur wenige Untersuchungen zum Inhalt des Werkes pu­ bliziert worden218. 219 220 221 ln der Forschung wurde die ,Theologia Deutsch1 teilweise textimmanent , teilweise aber auch auf der Grundlage von Eckhart” oder Thomas” interpretiert. Bei einer rein textimmanenten Vorgehensweise besteht die Gefahr eines ahistorischen Textverständnisses. Bei einer Deutung, die von Werken anderer Autoren ausgeht, kann hingegen leicht das Spezifi­ sche des zu interpretierenden Textes übersehen werden. In der folgenden

211 Vgl. oben Kapitel 6, S. 19f. 214 Vgl. zusammenfassend Hinten: Einführung, S. 3. Mit dem Inhalt der .Theologia Deutsch1 befassten sich u.a. die folgenden älteren Arbeiten: Lisco: Heilslehre, S. 34-137; Reifenrath: Theologie; Mauff: Standpunkt; Paquier: mystique, S. 27-58 (Dieses Werk war mir aus sprachlichen Gründen nicht zugänglich.); Siedel: Einleitung, S. 17103; Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 161-168; Cognet: Geburt, S. 189-196. 215 Vgl. oben Kapitel 3, S. 12. 216 Vgl. z.B. Reifenrath: Theologie; Mauff: Standpunkt; Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 161-168. 217 Vgl. ThD (H). 218 Vgl. Haas: Theologia (Diese grundlegende Arbeit wurde zwar vor dem Erscheinen der kritischen Ausgabe von Hintens publiziert, in ihr wird aber bereits diese Ausgabe in einer maschinenschriftlichen Fassung verwendet. Vgl. ebd. S. 304, Anm.l.); Haas: Einleitung, S. 14-25; Florin: haß, S. 167-177; Zambruno: Theologia, S. 67-146. Obwohl Zambruno das Ergebnis der überlieferungsgeschichtlichen Debatte zutreffend wiedergibt (vgl. ebd. S. 25f.), legt sie ihrer Interpretation unverständlicherweise (vielleicht aus Versehen) die sekundär erweiterte Textfassung der Bronnbacher Handschrift zugrunde. Vgl. z.B. ebd. S. 112 mit ThD (H), Kap. 14, S. 88. 219 Vgl. Reifenrath: Theologie; Florin, haß, S. 169-177. 220 Vgl. Mauff: Standpunkt. 221 Vgl. Siedel: Einleitung.

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Inhaltsanalyse wird, ähnlich wie in dem Beitrag von Haas222, eine mög­ lichst textnahe Interpretation angestrebt, ohne den historischen Kontext zu vernachlässigen. Auf ihn soll, wo dies sinnvoll scheint, hingewiesen werden. 7.1 Ontologische Aussagen über Gott und das Geschaffene Die ontologischen Aussagen über Gott und das Geschaffene, die die ,Theologia Deutsch* enthält, sind neuplatonisch geprägt223. Im Folgenden sollen zunächst die Aussagen über Gott, sodann die über das Geschaffene thematisiert werden. Der Verfasser des Werkes identifiziert Gott mit dem Vollkommenen. Dieses wird im ersten Kapitel wie folgt bestimmt: „Das volkommende ist eyn weßen [= Sein], das yn ym [= sich] vnnd yn seynem weßen alles begriffen vnd beslossen hat [= umfasst und umschließt]224, vnnd an [= ohne] das vnd vßwendig dem [= außerhalb von dem] keine wares weßen ist, vnnd yn dem alle dingk yr weßen han [= haben], wanne [= denn] eß ist aller dinck weßen vnnd ist yn ym [= sich] selber vnwandelbare vnnd un­ beweglich vnd wandelt vnd beweget alle ander dingk.“225 Gott ist also das allumfassende Sein, das das Sein von allen Dingen und die in sich unver­ änderliche Ursache von deren Veränderung und Bewegung ist226. Der Autor behauptet im weiteren Verlauf seiner Schrift dann mehrmals, dass Gott alles ist227. Ein Teil der älteren Forschung hielt die ,Theologia Deutsch* aufgrund derartiger Thesen für partiell oder vollkommen pantheistisch228. Es ist jedoch zu beachten, dass, abgesehen von einer Aus­ nahme229, in dem Traktat auf die Aussage, Gott sei alles, stets die Behaup­ tung folgt, Gott sei „vbir alle“230, eine Wendung, die man mit „über allem“ oder „mehr als alles“ übersetzen kann. Der Verfasser betont auf diese Weise die Transzendenz Gottes. Er hebt zudem hervor, dass Gott nicht mit Kreatürlichem identifiziert werden darf: „Sich [= Sieh], were nu got etwas,

222 Vgl. Haas: Theologia. 223 Vgl. ebd. S. 344-346; Haas: Einführung, S. 19-22; Zambruno: Theologia, S. 81f.; 142; MENNECKE-HAUSTEIN: Theologia, Sp. 461. 224 Wörtliche Übersetzung: „umfasst und umschlossen hält“. 225 ThD (H), Kap. 1,3-7, S. 71; vgl. auch Kap. 36,6, S. 121. 226 Zur Interpretation des Begriffes .weßen* vgl. unten, S. 27f. 227 Vgl. ThD (H), Kap. 32,5-7.29f„ S. 115f.; Kap. 46,4-7, S. 140; vgl. auch im An­ hang Kap. 53,2f.5, S. 149. 228 Vgl. z.B. Cohrs: Theologia, S. 630; vgl. auch zusammenfassend THUDICHUM: Theologie, S. 62, Anm. 2; Cognet: Geburt, S. 193; ZAMBRUNO: Theologia, S. 99f. 229 Vgl. ThD (H), Kap. 32,29f„ S. 116. 230 Vgl. ThD (H), Kap. 32,5-7, S. 115; Kap. 46,4-7, S. 140; vgl. auch im Anhang Kap. 53,2f.5, S. 149.

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diß ader [= oder] das, ßo were er nicht alle [= alles] vnnd vbir alle, als [= wie] er ist, vnd ßo were er nicht die wäre volkommenheit. Vnd dar vmmb [= darum] ist got vnd ist doch wider [= weder] diß nach [= noch] das, das creatur als creatur bekennen [= erkennen] ader genennen, gedencken ader gesprechen mag.“231 Da Gott von den Kreaturen, insofern sie Kreaturen sind, nicht erkannt und benannt werden kann, bezeichnet der Autor Gott auch als Nichts232. Indem der Verfasser mithilfe von Über­ bietungen und Verneinungen von Gott spricht, greift er die neuplatonische Tradition der negativen Theologie auf. Diese Tradition, die auch Eckhart233 und Tauler234 rezipierten, wurde dem Mittelalter vor allem durch PseudoDionysius Areopagita vermittelt235. Wie die starke Hervorhebung der Transzendenz Gottes zeigt, impliziert die These, Gott sei alles, für den Autor der ,Theologia Deutsch' nicht die Gleichsetzung von Gott und Kreatürlichem236. Nach dem neuplatonisch geprägten Seinsverständnis des Ver­ fassers ist nämlich nur das, was urbildlich als Idee in Gott ist, wahres Sein, während das Kreatürliche an sich kein Sein hat und völlig vom urbild­ lichen Sein in Gott abhängig ist237. Da alles wahre, also alles urbildliche Sein in Gott ist und mit Gott identisch ist238, 239 ist Gott alles. Mit der Behaup­ tung, Gott sei „vbir alle“, wird zum Ausdruck gebracht, dass Gott alles, was ist, noch überragt. Der Autor geht somit von einer ontologisch begrün­ deten starken Gottverbundenheit alles Geschaffenen aus, er betont aber zu­ gleich die Transzendenz Gottes. Man könnte seine Konzeption daher als panentheistisch234 bezeichnen. Indem Gott alles ist, ist er der ,Theologia Deutsch' zufolge das Eine240. Der neuplatonischen Tradition entsprechend241 hebt der Verfasser des Traktats die Einheit Gottes stark hervor. Besonders nachdrücklich wird diese alles umfassende Einheit Gottes in Passagen betont, in denen die Be­ 231 ThD (H), Kap. 32,5-9, S. 115; vgl. auch ThD (H), Kap. 1,11-16, S. 71f.; Kap. 9,15f., S. 81; Kap. 32, lf.9-11.20-23, S. 115f.; Kap. 40,10-13, S. 126; 69f„ S. 128; Kap. 46,2-4.24-26, S. 140. 232 Vgl. Kap. 1,12-15, S. 72f. 233 Vgl. z.B. Eckhart: DW 2, S. 533,5f.; S. 534,7-9; Eckhart: DW 3, S. 223,1-7; vgl. auch Largier: Kommentar 1, S. 803-805. 234 Vgl. z.B. Tauler: Predigten, S. 201,8-9; S. 249,3 lf.; vgl. auch Gnädinger: Tau­ ler, S. 394-396. 235 Vgl. Mauff: Standpunkt, S. llf. 236 Vgl. auch Zambruno: Theologia, S. 108; 143f. 237 Vgl. ThD (H), Kap. 1,31-38, S. 72; vgl. auch unten, S. 30. 238 Vgl. ThD (H), Kap. 1,3-7, S. 71. 239 Zum Begriff .Panentheismus' vgl. Macquarrie: Panentheismus, S. 611. 240 Vgl. ThD (H), Kap. 9,14-16, S. 81; Kap. 32,9-11.20-23, S. 115f; Kap. 43,13-16, S. 135; Kap. 44,12-14, S. 138; Kap. 46,4-8, S. 140. 241 Vgl. z.B. Pseudo-Dionysius: nominibus, Kap. 13, § 2, S. 227f; vgl. auch Hager: Neuplatonismus, S. 346-348; 354; 356f; 360.

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griffe ,alles1 und ,eines1 mehrfach wiederholt und auf verschiedene Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden, sodass letztlich die Identität beider Begriffe in Gott deutlich wird242. So schreibt der Autor zum Bei­ spiel in Kapitel 46: „Sich [= Siehe], wer nu got lieb haben wil ader sal [= soll], der hat alle [= alles] lieb yn eym als eym vnnd alle vnd eyn yn alle als alle yn eyn.“243 Auch außerhalb derartiger Passagen wird die Einheit Gottes relativ oft erwähnt244. Durch seine allumfassende Einheit unter­ scheidet sich Gott vom Kreatürlichen, das geteilt und mannigfaltig ist245. An einer Stelle weist der Verfasser darauf hin, dass Gott jeden Ein­ heitsbegriff noch transzendiert: „[...] got ist eyn vnde vber eyn [,..].“246 Während die Einheit Gottes hervorgehoben wird, tritt die Trinität in der ,Theologia Deutsch1 stark in den Hintergrund. Reifenrath vertrat sogar die These, der Traktat enthalte keine trinitarische Gottesvorstellung247. Im 31. Kapitel unterscheidet der Verfasser allerdings ähnlich wie Eckhart248 und Seuse249 zwischen Gott als Gottheit und Gott als Gott250. „Got als gotheit gehöret nicht czu weder wille noch wissen ader vffenbarn noch diß noch daß, das man genennen mag ader gesprechen ader gedencken.“251 Der Be­ griff „Gottheit“ bezeichnet also die in sich ruhende absolute Einheit Got­ tes, von der man nur mithilfe von Verneinungen sprechen kann. Nach dem zitierten Satz fahrt der Autor fort: „Aber got als got gehöret czu, das er syne selbe voriehe [= sich selbst aussage] vnd sich selber bekenne [= erkenne] vnd libe vnd sich selber ym [= sich] vffmbare yn ym [= sich] selber, vnd diß noch alles an [= ohne] creature; vnd diß ist yn got noch alles eyn weßen [= Sein] vnd nicht als eyn wirken, die wile [= solange] eß an [= ohne] creatur ist, vnd yn dissem vorgehen [= Aussprechen] vnd vffenbaren wirt die persönlich vnderscheid [= Unterscheidung der Perso­ nen].“252 Mit „persönlich vnderscheid“ ist wohl, auch wenn Reifenrath

242 Vgl. ThD (H), Kap. 43,20-22.45-47, S. 135f.; Kap. 44,12-15, S. 135; Kap. 46,410.14-16.23f.30-32, S. 140f. 243 ThD (H), Kap. 46.23T, S. 140. 244 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 9,14f.20f., S. 81f.; Kap. 15,10.13f„ S. 89; Kap. 18,7, S. 95; Kap. 32,11.21.27.29.33, S. 116; Kap. 33,17, S. 118; Kap. 40,69, S. 128. 245 Vgl. ThD (H), Kap. 1,8-12.17.26-29, S. 71f.; Kap. 6,19-24, S. 77; Kap. 9,19-21. S. 81f.; Kap. 18,7-13, S. 95. 246 ThD (H), Kap. 46,6f„ S. 140. 247 Vgl. Reifenrath: Theologie, S. 51-54. 248 Vgl. z.B. ECKHART: Predigten, S. 180T; vgl. auch COGNET: Geburt, S. 44-56; Haas: Seinsspekulation, S. 182f.; Largier: Kommentar I, S. 803-806. 249 Vgl. Seuse: Schriften, S. 329,18-331,12; vgl. auch Langer: Mystik, S. 356f. 250 Vgl. auch Zambruno: Theologia, S. 92-94. 251 ThD (H), Kap. 31,15-17, S. 114. 252 ThD (H), Kap. 31,17-21, S. 114.

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diese Wendung anders interpretierte253 251, die * Trinität gemeint254. Der Aus­ druck „persönlich underscheid“ beziehungsweise „persönliche underscheidunge“ hat nämlich bei Eckhart und Tauler diese Bedeutung255. Zudem verstehen Eckhart und Seuse bei ihrer Unterscheidung zwischen Gott und Gottheit unter dem Begriff ,Gott‘ den trinitarischen Gott256. Dass der Verfasser der ,Theologia Deutsch1 an der vorliegenden Stelle von der da­ mals üblichen mystischen Terminologie abweicht, ist nicht erkennbar. Nä­ here Ausführungen über die Trinität enthält sein Werk jedoch nicht. Auch der Begriff,Dreifaltigkeit1 wird in ihm nicht verwendet. Deutlicher trinitarisch geprägt ist hingegen der wohl von einem anderen Autor stam­ mende257 Anhang, ln ihm wird zum Beispiel der im Haupttext nur einmal, und zwar in einem Bibelzitat258 vorkommende Begriff ,Vater1 mehrfach gebraucht259. Der Anhang endet schließlich mit einer trinitarischen Formel, in der der Ausdruck „dreyvaldikeit“260 verwendet wird261. Eine für den Verfasser der ,Theologia Deutsch1 sehr bedeutsame Aus­ sage über Gott lautet, dass dieser das absolut Gute ist. Diese Auffassung entstammt neuplatonischem Denken262. Die These, Gott sei das vollkom­ men Gute, präzisiert die Behauptung, Gott sei alles. Der Autor betont: „Wan [= Wenn] man spricht: alle [= alles], so meynet man gut.“263 Alles ist somit gut, insofern es ist, weil Gott als das vollkommen Gute das Sein von allem ist264. Das Böse hat der Ansicht des Verfassers nach kein Sein265. Die Aussagen des Autors über das Verhältnis Gottes zu allem Gu­ ten entsprechen den oben dargestellten über das Verhältnis Gottes zu al­ lem, was ist: „Dar vmmb [= Darum] were got, als [= insofern] er gut ist, diß gut ader das gut, ßo were er nicht alles gut vnd vbir alles gut, vnd ßo were er nicht das einfeldig [= einfache] vnd volkumen gut, das er doch 251 Vgl. Reifenrath: Theologie, S. 54. Nach Reifenrath bezeichnet die Wendung „persönlich underscheid“ nicht die Trinität, sondern einen Kreislauf in Gott. 254 Vgl. Mauff: Standpunkt, S. 16f.; Mandel: Einleitung, S. 58; Cognet: Geburt, S. 191. 255 Vgl. Eckhart: DW 3, S. 437,7-10; Tauler: Predigten, S. 7,16-18; S. 8,28-34. 256 Vgl. Cognet: Geburt, S. 44-56; Largier: Kommentar 1, S. 803-806; Langer: Mystik, S. 356f. 257 Vgl. oben Kapitel 5, S. 17f. 258 Vgl. ThD (H), Kap. 33,23, S. 118. 259 Vgl. ThD (H), Kap. 52,lf.21.26.30, S. 148f.; Kap. 53,lf.l5f.23.27.30, S. 149f.; Kap. 53,107f„ S. 154. 260 ThD (H), Kap. 53,109, S. 154. 261 Vgl. ThD (H), Kap. 53,105-109, S. 154. 262 Vgl. z.B. Pseudo-Dionysius: nominibus, Kap. 4, § 1-10, S. 143-155; vgl. auch Hager: Neuplatonismus, S. 346-348; 354; 357. 263 ThD (H), Kap. 47,2, S. 141. 264 Vgl. ThD (H), Kap. 36,2-10, S. 120f.; Kap. 47,2-4.8-9, S. 141. 265 Vgl. ThD (H), Kap. 47,4-6.10-13, S. 141.

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ist.“266 Gott ist also als die Idee des Guten das urbildliche Sein von allem Guten, wobei er dieses in seiner Transzendenz noch überragt. Der Verfasser der ,Theologia Deutsch1 bezeichnet Gott auch - der neu­ platonischen Tradition entsprechend267 - als Erkenntnis vermittelndes Licht: „Sich [= Siehe], nu ist got auch eyn licht vnd bekentniß [= Erkennt­ nis] [,..].“268 Wie die weiteren Ausführungen zeigen, in denen die Begriffe ,Licht1 und ,Erkenntnis1 stets als zusammengehöriges Begriffspaar ver­ wendet werden269, haben beide Begriffe letztlich dieselbe Bedeutung. Gott ist, weil er als das Licht das urbildliche Sein aller wahren Erkenntnis ist, die Ursache aller wahren Erkenntnis270. Da wahre Erkenntnis etwas Gutes ist, stellt die Aussage, Gott sei Licht, ein konkretes Beispiel für die These dar, Gott sei alles Gute271. Der Autor nennt in Kapitel 32 noch weitere Beispiele: „Sich, recht [= genau] als [= wie] got eyn gut bekentniß vnd licht ist, also [= so] ist er auch eyn wille vnd libe vnd gerechtikeit vnd warheit vnd ist auch alle togent [= Tugend] [...].“272 Der Verfasser des Traktats geht gemäß einer in der Scholastik und Mystik verbreiteten273 Vorstellung neuplatonischen Ursprungs274 davon aus, dass alles, bereits bevor es geschaffen wird, als urbildliches, ideenhaftes Sein in Gott ist275. Alles „ist yn got an [= ohne] creatur nicht anders dann [= als] eyn weßen vnd eyn vrsprung vnd nicht werck“276. Wie diese und weitere Stellen277 zeigen, bezeichnet der Begriff,weßen1 in der theo­ logia Deutsch1 das nichtkreatürliche, urbildliche Sein in Gott, das dem

266 ThD (H), Kap. 32,9-11, S. 115f.; vgl. auch Kap. 9,15f„ S. 81; Kap. 18,8-11, S. 95; Kap. 32,lf.20-23, S. 115f.; Kap. 33,17, S. 118; Kap. 37,9, S. 121; Kap. 40,69f„ S. 128; Kap. 42,64f.71, S. 134; Kap. 43,4.8-10.15f.32, S. 134f.; Kap. 44,13f.29, S. 138; im An­ hang: Kap. 53,2-5.17.19.30.61.65-69.86, S. 149-152. 267 Vgl. Pseudo-Dionysius: nominibus, Kap. 4, § 5f., S. 149f. 268 ThD (H), Kap. 32,12, S. 116; vgl. auch Kap. 31,11, S. 114; Kap. 32,25.29-33, S. 116. 269 Vgl. ThD (H), Kap. 32,12-23, S. 116. 270 Vgl. ThD (H), Kap. 32,15-24, S. 116; Kap. 51,57-59, S. 145. 271 Vgl. ThD (H), Kap. 32,1-34, S. 116. 272 ThD (H), Kap. 32,25-27, S. 116. 273 Vgl. z.B. Thomas: Summa Theologiae I, q. 18, a. 4, in: Thomas: ThomasAusgabe 2, S. 131-135; Eckhart: LW 1, S. 238,2-7; Seuse: Schriften, S. 331,13-332,23; Tauler: Predigten, S. 331,32-332,1; vgl. auch HAAS: Seinsspekulation, S. 178f.; Zambruno: Theologia, S. 95f.; Langer: Mystik, S. 319; 357-359. 274 Vgl. Hager: Neuplatonismus, S. 348-350; vgl. auch Pseudo-Dionysius: nomini­ bus, Kap. 5, § 8, S. 187f. 275 Vgl. Reifenrath: Theologie, S. 50; Cognet: Geburt, S. 193f.; Zambruno: Theologia, S. 96-98. 276 ThD (H), Kap. 32,28f„ S. 116. 277 Vgl. ThD (H), Kap. 31,19f„ S. 114; Kap. 32,15f.27f„ S. 116.

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„esse virtuale“ bei Eckhart278 entspricht. Dieses Sein, das mit Gott identisch ist, ist nach der Ansicht des Autors des Traktats das wahre Sein279. 280 Solange 281 etwas nur als urbildliches Sein in Gott ist, es also „yn ym selber an [= ohne] creatur orspruncklich [= ursprunghaft] vnd weßenlich [= seinshaft],Q QAader nicht formelich [= „Form habend“] ader 90 1 wircklich [= wirkend]“ ist, kann es keine konkrete Wirkung entfalten . In der ,Theologia Deutsch1 finden sich Aussagen, die den Eindruck er­ wecken, die Schöpfung sei für Gott absolut notwendig282. In Kapitel 31 schreibt der Verfasser: „Nu dar [= also] got wil das [was urbildlich in ihm ist] gevbet [= ins Werk gesetzt] vnd gewircket han [= haben], vnd das mag an [= ohne] creatur nicht gescheen, das eß also [= so] seyn solle. Ja, solle [= sollte] wider [= weder] diß noch das seyn, ader were [(weder)] diß noch das, ader were keyn werck ader wircklikeit [= Wirksamkeit] ader des gleich [= desgleichen], was were ader sold [= sollte] got ioch [= auch] sel­ ber? Ader was were eß? Ader weß [= wessen] got were er?“283 Der Autor ruft sich dann aber selbst zur Ordnung: „Man muß hie [= hier] wenden [= umkehren] vnd bliben [= innehalten]. Man mochte [= könnte] dißem also verre [= weit] nach volgen vnd nach krichen, man wisset nicht [= dass man nicht wüsste], wo man were ader wie man wider vß [= hinaus] krichen sold [= sollte]."284 Der Verfasser ist also versucht, weitreichende Speku­ lationen über die Notwendigkeit der Schöpfung anzustellen. Er erkennt schließlich aber doch, dass er dabei in Bereiche vorzudringen droht, die Gott Vorbehalten sind. Letztlich beschränkt er sich somit auf die am An­ fang des vorletzten Zitats285 formulierte Behauptung, dass der Wille Got­ tes, das in ihm urbildlich Seiende zur Wirkung zu bringen, der Grund für die Schöpfung ist286. Als der Autor im 51. Kapitel nach anfänglichen Be­ denken287 die Frage zu beantworten versucht, weshalb Gott dem Menschen einen Willen verliehen hat, bemüht er sich jedoch erneut, eine spekulative

278 Vgl. Eckhart: LW 1, S. 238,2-7; vgl. auch Haas: Seinsspekulation, S. 179; Langer: Mystik, S. 319f. 279 Vgl. ThD (H), Kap. 1,3-7.31-38, S. 71 f.; vgl. auch Kap. 36,4-9, S. 120f. 280 ThD (H), Kap. 31,24f„ S. 115. 281 Vgl. ThD (H), Kap. 31,30f„ S. 115; Kap. 32,16f.25-29, S. 116; Kap. 37,3f„ S. 122; Kap. 39,3-8, S. 124; Kap. 51,14-23.31-36.40-42, S. 144f. 282 Vgl. ThD (H), Kap. 31,21-36, S. 114f.; Kap. 37,3f„ S. 122; Kap. 51,14-23.31-38, S. 144T; vgl. auch Reifenrath: Theologie, S. 56; COGNET: Geburt, S. 191f.; Haas: Theologia, S. 344f. 283 ThD(H), Kap. 31,30-33, S. 115. 284 ThD (H), Kap. 31,33-36, S. 115. 285 „Nu dar got wil [!] das gevbet vnd gewircket han [...].“ (ThD (H), Kap. 31,30, S. 115.) 286 Vgl. auch Haas: Theologia, S. 344f. 287 Vgl. ThD (H), Kap. 51,3-15, S. 144f.

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Begründung für die Schöpfung zu liefern288. Er vertritt die Ansicht, dass der ewige Wille, der als urbildliches Sein in Gott ist, „vorgebens“289 wäre, „sold [= sollte] er kein werck haben. Vnd diß magk an [= ohne] creatur nicht gescheen. Dar vmmb sal [= soll/muss] creatur seyn vnd got wil sie haben, das disser wille seyn eygen werck dar inne habe vnd wircke, der yn got an [= ohne] werck ist vnd seyn muß.“290 Der Verfasser meint also, die Existenz der Schöpfung durch einen ontologischen Gedankengang argumentativ begründen zu können. Wie die Verweise auf den Willen Gottes im letzten Satz des Zitats und auch in den auf das Zitat folgenden Ausführungen291 zeigen, möchte der Autor auf diese Weise den Willen Gottes verstehen, nicht aber einen Zwang Gottes zur Schöpfung postulieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Verfasser im Willen Gottes den Grund für die Schöpfung sieht, dass ihn aber seine weitreichenden ontologischen Spekulationen in die Nähe der Behauptung zu führen drohen, die Schöpfung sei für Gott notwendig. Bei der Beschreibung der Entstehung des Geschaffenen greift der Autor der ,Theologia Deutsch' auf die neuplatonische Emanationsvorstellung292 zurück293: „Abir [= Aber] das geteilte adder [= oder] das vnvolkommende [= Unvollkommene] ist das, das vß disßem volkommende [= Vollkomme­ nen] gevrsprungt ist ader wirt, recht [= genau] als [= wie] eyn glantz ader eyn scheyne vß flusset [= hinausfließt] auß der sonne ader vß eynem lichte vnnd schynet etwas [= erscheint als etwas], diß ader das, vnnd heißet creatur.“294 Zwei Auffassungen, die die Emanationsvorstellung nahe legt, weist der Verfasser in seinem Werk allerdings zurück: Er wendet sich gegen die Auffassung, dass das Geschaffene mit Gott identifiziert werden dürfe295. Indem er, wie oben dargestellt, mehrfach darauf verweist, dass der Wille Gottes die Ursache für die Schöpfung darstellt, lehnt er zudem den Gedanken ab, dass die Welt das Ergebnis eines nichtintentionalen Ausfließens Gottes ist296. In der Zurückweisung dieser These ist der Autor

288 Vgl. ThD (H), Kap. 51,16-23.31-38.40-42, S. 144T; vgl. auch Haas: Einleitung, S. 21. 289 ThD(H), Kap. 51,35, S. 144. 290 ThD (H), Kap. 51,35-38, S. 144. 291 Vgl. ThD (H), Kap. 51,40-42, S. 145. 292 Vgl. Hager: Neuplatonismus, S. 353. Zu den Mystikern, die die neuplatonische Emanationsvorstellung aufgreifen, gehört auch Tauler. Vgl. Tauler: Predigten, S. 8,23f. 293 Vgl. Haas: Einleitung, S. 20. 294 ThD (H), Kap. 1,8-11, S. 71; vgl. auch ThD (H), Kap. 1,31-38, S. 72; Kap. 6,22f„ S. 77. 295 Vgl. ThD (H), Kap. 1,11-16, S. 71f.; Kap. 9,15f„ S. 81; Kap. 18,7f„ S. 95; Kap. 32,lf.5-11.20-23, S. 115f.; Kap. 40,10-13, S. 126; Kap. 40,69f„ S. 128; Kap. 46,2-4.2426, S. 140; vgl. auch die vorangegangenen Ausführungen über die These „Gott ist alles“. 296 Vgl. auch Haas: Theologia, S. 344f.

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jedoch nicht völlig konsequent, da er selbst versucht ist, über die Notwen­ digkeit der Schöpfung zu spekulieren. Die Emanationsvorstellung greift der Verfasser vor allem deshalb auf, um die Behauptung zu veranschaulichen, dass alles Geschaffene ontolo­ gisch völlig von Gott abhängig ist. Dass die Emanationsvorstellung bei ihm primär diese Funktion hat, wird besonders am Ende des ersten Kapi­ tels deutlich. Der Autor beantwortet dort die Frage, wie sich die Aussage, außerhalb des Vollkommenen oder ohne es sei nichts, mit der Behauptung vereinbaren lässt, dass aus dem Vollkommenen etwas herausgeflossen sei: „Dar vmmb spricht man297; vßwendig [= außerhalb von] ym ader an [= ohne] eß ist nicht war [= wahres] weßen. Waz nu auß geflossen ist, daz ist nicht war besßen [= Sein] vnd hat keyn weßen anders danne [= als] yn dem volkommende, sunder [= sondern] eß ist eyn czufal [= „Zu-Fall“] ader eyn glantz vnd eyn scheyn, der nicht weßen ist ader nicht weßen hat anders danne [= als] yn dem fure [= Feuer], da [= wo] der glantz vß flußet also [= wie] yn der sonnen ader yn eym lichte.“298 Der Verfasser vertritt also die These, dass das Geschaffene an sich kein wahres Sein hat. Die Kreaturen sind, wie die Lichtmetaphorik veranschaulichen soll, völlig vom wahren, urbildlichen Sein in Gott abhängig. Sie haben Sein nur außerhalb ihrer selbst in Gott. Ihre geschöpfliche Existenz ist ein Abglanz dieses Seins, der zwar vom Sein ausgeht und auf dieses verweist299, der aber in sich selbst kein Sein hat. Diese Auffassung vom ontologischen Status des Geschaffenen zeigt sich auch in dessen Bewertung. Es ergeben sich unterschiedliche Beurtei­ lungen, je nachdem, ob das Kreatürliche an sich im Vergleich zu Gott oder ob es in seiner Abhängigkeit von Gott betrachtet wird300: Einerseits ist alles Geschöpfliche im Vergleich zum Vollkommenen nichtig301. „[...] creatur als creatur ist ader hat von yr [= sich] selber nichts“302. Alle Dinge haben „yr weßen werlicher [= wahrhafter] yn got den [= als] yn en [= sich] selber vnnd auch yr vormugen [= Vermögen], leben vnd was des [= der­ gleichen] ist.“303 Alles Sein und damit auch alles Gute gehört daher nur

297 An dieser Stelle wäre im Neuhochdeutschen ein Doppelpunkt anstatt des Semiko­ lons zu setzen. 298 ThD (H), Kap. 1,33-38, S. 72. 299 Vgl. auch Haas: Theologia, S. 329f„ Anm. 51; Zambruno: Theologia, S. 97f.; vgl. auch unten S. 31 f. 300 Vgl. auch Mauff: Standpunkt, S. 28; Cognet: Geburt, S. 194. 301 Vgl. ThD (H), Kap. 1,17.24-29, S. 72; Kap. 6,19-24, S. 77; Kap. 15,5-11, S. 89; Kap. 18,9-13, S. 95; Kap. 19,4-18, S. 96; Kap. 26,1-4, S. 105; vgl. auch im Anhang Kap. 53,31-36.43-44.76f., S. 150-152. 302 ThD (H), Kap. 35,6f., S. 119. 303 ThD (H), Kap. 36,7-9, S. 121.

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Gott, nicht den Kreaturen zu304. Andererseits hat das Geschaffene seinen Ursprung in Gott und verweist auf ihn. Alle Dinge sind ihrem „weßen“305 nach, also ihrem urbildlichen Sein in Gott nach, gut306. Da Gott das urbild­ liche Sein von allem Dasein ist, ist auch das Dasein beziehungsweise Le­ ben der Kreaturen gut307. Im Geschaffenen kann in je unterschiedlichem Maß das Gute schlechthin, also Gott selbst, aufleuchten: „Jn welchem nu das ewige gute aller meist scheinet vnd lucht [= leuchtet] vnd wirckt vnd bekant [= erkannt] vnd gelibet wirt, das ist auch das beßte vnder den creaturen, vnnd yn welchen aller mynst [= am allergeringsten], das ist auch das mynste [= geringste] gut.“308 Der Verfasser bezeichnet die Schöpfung, weil sie auf Gott verweist, sogar als Paradies: „Als [= So] ist alles, das [= was] do [= da] ist, wol eyn vorstat [= Vorstadt] des ewigen ader der ewikeit vnd besunder [= besonders], was man yn der czite [= Zeit] vnd bie [= bei] den czitlichen dingen vnd yn vnd bey den creaturen gotis vnd ewickeit gemercken [= von Gott und der Ewigkeit wahrnehmen] ader bekennen [= erken­ nen] mag, wan [= denn] die creaturen synt eyn wißunge [= Weisung] vnd eyn wegk czu gote vnnd czu der ewikeit. Also [= So] ist eß alles eyn vorburg vnd eyn vorstat der ewikeit, vnd dar vmmb mag eß wol eyn paradiß heissen vnd seyn.“309 Zudem ist Gott selbst als das Eine in der menschli­ chen Seele gegenwärtig und kann in ihr wahrgenommen werden310. Mit seinen ontologischen Aussagen über das Geschaffene steht der Autor der ,Theologia Deutsch' der Position Meister Eckharts sehr nahe311. Eckhart vertrat nämlich anders als Thomas von Aquin die Ansicht, dass das Sein nur in Gott ist, sodass die Kreaturen, die in sich selbst kein Sein haben, der ständigen Seinsmitteilung von Gott her bedürfen312. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, verwendete Eckhart bereits unter anderem

304 Vgl. ThD (H), Kap. 4,8-10, S. 75; Kap. 5,6-9.24-29, S. 75f.; Kap. 10,11-15, S. 82f.; Kap. 35,4-6, S. 119; Kap. 36,4-9, S. 120f.; Kap. 44,12-15, S. 138; Kap. 47,8, S. 141; Kap. 51,24-30.42-44.57-59, S. 144f.; vgl. auch im Anhang Kap. 53,44-47.72-77, S. 151 f. 305 ThD (H), Kap. 47,9, S. 141. 306 Vgl. ThD (H), Kap. 47,8f„ S. 141. 307 Vgl. ThD (H), Kap. 36,2-11, S. 120f. Aufgrund des Kontextes ist zu vermuten, dass das Partizip ,wesend', das in dem Traktat nur an dieser Stelle verwendet wird, .Da­ sein' meint. 308 ThD (H), Kap. 6,10f„ S. 77. 309 ThD (H), Kap. 50,4-9, S. 143; vgl. auch Kap. 51,1-4, S. 143. 3,0 Vgl. ThD (H), Kap. 9,17-19, S. 81; vgl. auch unten 7.4.2, S. 58. 311 Vgl. Mauff: Standpunkt, S. 20f. Mauff berücksichtigt allerdings die lateinischen Schriften Eckharts noch nicht. 312 Vgl. u.a. Eckhart; DW 1, S. 69,8-70,4; Eckhart: DW 3, S. 339,1-340,3; Eckhart: LW 2, S. 280,5-282,6. Zum Unterschied zwischen Thomas und Eckhart vgl. Langer: Mystik, S. 320-323.

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das Bild von der Sonne und dem Licht313. Die Ausführungen über den ontologischen Status des Geschaffenen, die die ,Theologia Deutsch' ent­ hält, sind freilich im Vergleich zu denen im Gesamtwerk Eckharts sehr viel kürzer und weniger differenziert314. So findet sich in der ,Theologia Deutsch', anders als bei Eckhart, keine explizite Analogielehre. Die Über­ einstimmungen in den ontologischen Aussagen über die Kreaturen sind allerdings meiner Ansicht nach so groß, dass sie die These Siedeis wider­ legen, der Verfasser der ,Theologia Deutsch' wende sich von den Gedan­ ken Eckharts ab und stehe mit seiner Seinslehre völlig auf dem Boden des Thomismus315. Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, enthält die ,Theologia Deutsch' zahlreiche neuplatonisch geprägte ontologische Aussagen. Diese bilden allerdings in der Regel nicht selbst den thematischen Schwerpunkt der einzelnen Abschnitte, sondern sie stehen zumeist in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erörterung eher praktischer Fragen. Die ontologi­ schen Aussagen über Gott und das Geschaffene haben aber, wie die fol­ genden Teile der Inhaltsanalyse deutlich machen werden, grundlegende Bedeutung für die Argumentation. Dies war wohl dem Autor selbst be­ wusst, da er sein Werk mit einer kurzen Zusammenfassung seiner Ontolo­ gie beginnt316. Man kann somit mit Haas davon sprechen, dass die neuplatonischen Gehalte und Motive ein „Grundprinzip"317 des Traktats bilden318. 7.2 Die Sünde

Der Verfasser der ,Theologia Deutsch' definiert den Begriff ,Sünde' im Verlauf seines Werkes mehrmals, wobei er verschiedene Aspekte betont. Im zweiten Kapitel gibt der Autor zunächst eine ihm offenbar geläufige, augustinisch geprägte319 Sündendefinition wieder, die er mithilfe der im ersten Kapitel eingeführten Termini erläutert: „Die schrifft vnnd gloube vnd warheit spricht, sunde sie [= sei] nicht anders [= nichts anderes], 313 Vgl. Eckhart: DW 2, S. 294,5-14; Eckhart: DW 5, S. 36,14-20; vgl. auch Koch: Analogielehre, S. 382-386; Largier: Kommentar 1, S. 750. 314 Zu Eckharts Auffassung vom ontologischen Status des Geschaffenen vgl. u.a. Haas: Seinsspekulation, S. 173-180; Langer: Mystik, S. 318-323. 315 Vgl. Siedel: Einleitung, S. 53-56. Siedel versucht, alle Aussagen der ,Theologia Deutsch' im thomistischen Sinne umzuinterpretieren. 316 Vgl. ThD (H), Kap. 1, S. 71f. 317 Haas: Einleitung, S. 20. 318 Vgl. ebd. S. 19f.; vgl. auch Haas: Theologia, S. 346. 319 Vgl. u.a. Augustinus: De libero arbitrio, 2, 19, 53: „[...] malum sit aversio eius [des freien Willens] ab incommutabili bono et conversio ad mutabilia bona", in: Augusti­ nus: Frühschriften, S. 212; vgl. auch Zambruno: Theologia, S. 130, Anm. 2.

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danne [= als] das sich die creatur ab keret von dem vnwandelhafftigen [= unwandelbaren] gute vnd keret sich zu dem wandelberen [= wandel­ baren], das ist, das sie sich keret von dem volkomen czu dem geteilten vnd vnvolkomen vnde aller meist czu yr [= sich] selbir.“320 Sünde ist für den Verfasser also eine Abkehr von Gott, dem Vollkommenen, und eine Hinwendung zum Geschaffenen, insbesondere zu sich selbst. Der Sünder erkennt somit die ontologischen Gegebenheiten, die im ersten Kapitel des Traktats dargestellt wurden, nicht an321. Er wendet sich von Gott, dem Sein von allem, ab und dem Geschaffenen, das an sich nichtig ist, zu. Die Abkehr von Gott vollzieht sich im „annemen“: „Wan [= Wenn] die creatur sich an nympt [= anmaßt] etwas guts als [= wie] weßens [= Sein], lebens, wissens, bekennens [= Erkennen], vormugens vnd kurtzlich alles des, das man gut nennen sal [= soll], das sie das sey ader das eß yr sey ader yr czu gehöre ader von yr sey, ßo keret sie sich abe.“322 Der Sünder wendet sich also von Gott ab, indem er in seiner Ichbezogenheit323 etwas Gutes für sich in Anspruch nimmt, was ihm als Kreatur nicht zusteht. Der Autor verwendet hierfür als Leitbegriff das Verb ,annemen‘324, das in diesem Zusammenhang ,sich etwas anmaßen‘, ,sich etwas (zu Unrecht) zuschrei­ ben1 bedeutet325. Wenn ein Mensch sich etwas Gutes anmaßt, kehrt er sich nicht nur von Gott ab, sondern er vergeht sich zugleich auch an der Ehre Gottes326. „Wanne [= Denn] alles das, das man gut nennen sal, das gehöret nymande czu danne [= als] allein der ewigen, waren gute, vnd wer sich des an nympt, der thut vnrecht vnnd [(handelt)] wider gote.“327 Wer sich etwas Gutes selbst zuschreibt und damit bei Gott Verdienste erwerben will, schmäht Gott: „Eß ist eyn groß torheit, das eyn mensch ader eyn creatur wenet [= glaubt], sie wisse ader vermuge von yr [= aus sich] selber, vnd besunder das sie wenet, sie wisse ader vormuge etwas gutes, da mit sie groß vordynen ader vberkomen [= erlangen] möge vmmb [= bei] got. Man

320 ThD(H), Kap. 2,1-4, S. 73. 321 Vgl. auch Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 461. 322 ThD (H), Kap. 2,5-8, S. 73; vgl. auch Kap. 2,8-12, S. 73; Kap. 3,1-6, S. 73; Kap. 44,31-34, S. 138. 323 Vgl. auch ThD (H), Kap. 2,10f„ S. 73; Kap. 3,3, S. 73. 324 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. l,5.9f„ S. 73; Kap. 3,2-5.29, S. 73f.; Kap. 4,3.5.7.9, S. 74f. 325 Zum Bedeutungsspektrum von ,annemen1 vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch 1, Sp. 1339-1348, s.v. ,annemen“. Im vorliegenden Fall sind die in Sp. 1343, Nr. 11 ge­ nannten Bedeutungen einschlägig. Zur Bedeutung von ,annemen1 in der ,Theologia Deutsch1 vgl. auch Haas: Theologia, S. 332, Anm. 60. 326 Vgl. ThD (H), Kap. 4,1-8, S. 74f. 327 ThD(H), Kap. 4,8-10, S. 75.

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butet got smacheit do mit [= Man schmäht Gott damit], wer eß recht vor­ stunde.“328 Im 16. Kapitel setzt der Verfasser die Begriffe ,Sünde1 und .Ungehor­ sam1 gleich: „Vngehorsam vnd sunde ist eyns. Eß ist keyn sunde den [= außer] ungehorsam vnnd was auß vngehorsam geschiet.“329 Ungehorsam besteht dem Autor zufolge darin, „das der mensche von ym [= sich] selber etwas heldet vnd wenet [= glaubt], er sey und wisße vnd vormuge etwas, vnd sich selbir vnnd das seyne suchte yn den dingen vnde sich selbir lip hat vnd disßen glich.“330 Das, was der Verfasser inhaltlich unter Ungehor­ sam versteht, nämlich eine Haltung der „selbheit vnd icheit“331, entspricht also dem, was er zuvor als „annemen“ bezeichnet hat. Der Autor weist auch ausdrücklich darauf hin, dass die Gleichsetzung von Sünde und Un­ gehorsam mit der Aussage vereinbar ist, Sünde sei eine Abkehr von Gott332. Im 36. Kapitel konkretisiert der Verfasser sein Verständnis von Sünde als Ungehorsam333, indem er behauptet, Sünde sei nichts anderes, „den [= als] das die creatur anders wil den [= als] got vnd wider got wil“334. Diese Auffassung von der Sünde wird auch in den folgenden Teilen des Traktats vertreten335. Dort betont der Autor zudem, dass es der Kreatur nicht zusteht, einen Eigenwillen zu haben336. Auch Eckhart und Tauler hatten sich gegen den Eigenwillen gewandt337. Der Verfasser der .Theolo­ gia Deutsch1 begründet seine Beurteilung des Eigenwillens ontologisch: „Vnnd recht [= genau] als [= wie] yn der warheit alle weßen weßenlich eyns synt yn dem volkomen weßen vnd alle gut [= alles Gute] ein [= eines] yn dem eynen vnd des glich vnd nicht [= nichts] geseyn mag an [= ohne] das eyne, also [= so] sollen alle willen eyn seyn yn dem eynen, volkommen willen vnd kein wille an [= ohne] den eynen. Vnd wo eß anders ist, das ist vnrecht vnd wider got vnd seynen willen, vnd dar vmmb [= darum] ist eß sunde. Sich [= Sieh], her nach als vor [= also], das [= dass] alle die willen 328 ThD (H), Kap. 44,31-34, S. 138. 329 ThD (H), Kap. 16,75f„ S. 93; vgl. auch Kap. 16,31, S. 91; Kap. 16,61-64, S. 93. 330 ThD (H), Kap. 15,15-18, S. 89. 331 ThD (H), Kap. 16,3, S. 90. 332 Vgl. ThD(H), Kap. 16,24-29, S. 91. 333 Vgl. ThD (H), Kap. 36,27f„ S. 121. 334 ThD (H), Kap. 36,13f„ S. 121. 335 Vgl. ThD (H), Kap. 43,31-36, S. 135; Kap. 47,4f„ S. 141; vgl. auch Kap. 40,113f„ S. 129. 336 Vgl. ThD (H), Kap. 36,28, S. 121; Kap. 43,37f„ S. 135; 95f., S. 137; Kap. 44,218, S. 137f.; Kap. 49, S. 142; Kap. 50,9-20, S. 143; Kap. 51,1-3.10-15.24-74.80-103.112128, S. 143-147. 337 Vgl. u.a. Eckhart: DW 5, S. 192,3-6; S. 225,6-227,10; S. 281,3-12; S. 282,11283,4; Tauler: Predigten, S. 47,35-48,3; S. 65,27-29; S. 79,5-10; S. 180,lf.; S. 306,9f.; S. 348,27-34.

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an [= ohne] gotis willen, das ist aller eygen wille, ist sunde, vnd was vß eigen willen geschiet.“338 Da also gemäß neuplatonischem Denken Gott das alles umfassende Eine ist, so soll es auch nur einen Willen, nämlich den einen, vollkommenen Willen Gottes geben. Der Mensch soll sich da­ her den Willen nicht anmaßen, indem er ihn als „eygen wille“ für sich be­ ansprucht, sondern eines Willens mit Gott sein339. Die besondere Bedeu­ tung, die der Begriff ,eygen wille' für das Sündenverständnis des Autors hat, zeigt sich darin, dass dieser Begriff in den letzten beiden Kapiteln des Haupttextes zur Bezeichnung der Sünde schlechthin verwendet wird340. Für den Verfasser ist jede Sünde Eigenwille, weil er Sünde als Anders-alsGott-Wollen definiert und jedes Anders-als-Gott-Wollen Eigenwille ist. Insgesamt lässt sich der Sündenbegriff des Autors wie folgt charakteri­ sieren: Sünde ist eine willentliche Abwendung von Gott und eine Hinwen­ dung zum Geschaffenen, insbesondere zum eigenen Ich. Indem der Sünder dies will, will er anders als Gott und ist ihm somit ungehorsam. Da der Mensch nach Gottes Willen nicht selbst wollen, sondern eines Willens mit Gott sein soll, ist jeder Eigenwille Sünde. Der Begriff ,Sünde1, der in der ,Theologia Deutsch1, anders als etwa bei Tauler341, nur im Singular verwendet wird, bezeichnet eine dem göttlichen Willen widersprechende Ausrichtung des Menschen auf sich selbst und die daraus resultierenden Taten342. Auch Handlungen, die an sich dem Willen Gottes entsprechen, sind Sünde, wenn ihnen menschlicher Eigenwille, also eine ichbezogene Haltung, zugrunde liegt: „Was aber geschiet auß deynem willen, das ist alles wider den ewigen willen. Nicht das alle werck, die also [= so] ge­ scheen, wider den ewigen willen seyn, sunder [(daran liegt es,)343] das sie gescheen vß eynem andern willen ader anders den [= als] vß dem ewigen willen.“344 Nach der Ansicht des Verfassers der ,Theologia Deutsch1 gibt es verschiedene Grade von Sünde, je nachdem wie stark der Mensch auf sich selbst ausgerichtet ist: „So ye meher [= mehr] selbheit vnd icheit, ßo ye [= desto] mer sunde vnd boßheit, ßo diß mynder, ßo auch des mynder

338 ThD (H), Kap. 44,12-18, S. 138; vgl. auch Kap. 51,24-48, S. 144f. 339 Vgl. auch ThD (H), Kap. 49,2-6, S. 142; Kap. 51,10-15.24-74.80-94, S. 144-146. 340 Vgl. ThD (H), Kap. 49, S. 142; Kap. 50,9-13, S. 143; Kap. 51,1-3, S. 143; Kap. 51,63-74.112-125, S. 145-147. 341 Vgl. z.B. Tauler: Predigten, S. 73,8-10; S. 127,12-20. 342 Vgl. ThD (H), Kap. 2, S. 73; Kap. 16,75f„ S. 93; Kap. 36,12-14.19-21, S. 121; Kap. 40,113f., S. 129; Kap. 43,31-36, S. 135; Kap. 43,93-97, S. 137; Kap. 44,17f., S. 138; Kap. 47,4f.l7-22, S. 141; Kap. 51,99f. 105, S. 146. 343 Vgl. auch ThD (Ha), S. 130. Haas ergänzt bei seiner Übersetzung „davon hängt es ab“. 344 ThD (H), Kap. 50,17-20, S. 143; vgl. auch Kap. 47,17-22, S. 141.

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[= je geringer dieses, umso geringer auch jenes].“345 In ontologischer Hin­ sicht ist die Sünde dem Autor zufolge wie bei Eckhart346 nichts. Da die Sünde dem Willen Gottes widerspricht und Gott das wahre, urbildliche Sein von allem ist, hat die Sünde kein Sein347. Prototypisch verwirklichte sich die Sünde im Abfall des Teufels und Adams348. Der Verfasser nimmt bei der Bestimmung des Sündenbegriffs mehrfach auf den Fall beider Bezug349. Er spricht auch davon, dass in Adam der Gehorsam starb und der Ungehorsam lebendig wurde350. Nähere Ausführungen über den Zusammenhang zwischen dem Fall Adams und der Sünde der Menschen finden sich in dem Traktat allerdings nicht. Der Autor setzt aber implizit eine Erbsündenlehre voraus, da er von einer allge­ meinen Sündhaftigkeit der Menschen und einer Neigung der Menschen zur Sünde ausgeht351. Der Teufel wirkt dem Verfasser zufolge als Verführer zur Sünde352. Insbesondere in den freien Geistern ist er nach der Meinung des Autors am Werk353. Im 22. Kapitel erwähnt der Autor die ihm geläufige Auffassung, dass ein vom Teufel Besessener nicht Herr seiner selbst ist, sodass er nicht weiß, was er tut oder lässt354. Der Mensch darf aber, wie der Verfasser im 17. Kapitel betont, seine Schuld nicht auf den Teufel abwälzen. Es liegt nämlich in der Verantwortung des Menschen, ob er dem Teufel gestattet, Böses in ihm zu wirken. Dass der Mensch für das von ihm verursachte Böse bestraft wird, ist daher gerecht355. Aufgrund der Aussagen in Kapitel 17 ist somit davon auszugehen, dass der Teufel nach Ansicht des Verfas­ sers von einem Menschen nur dann Besitz ergreifen kann, wenn dieser dem zuvor zugestimmt hat. Der Begriff ,Natur1 hat in der ,Theologia Deutsch1, abgesehen von der Verwendung im Zusammenhang mit Gott und Christus356, eine ausschließ-

345 ThD (H), Kap. 16,46-48, S. 92; vgl. auch Kap. 5,11-15, S. 75; Kap. 16,42-48.TO­ YS, S. 92f.; Kap. 51,121-123, S. 147. 346 Vgl. u.a. Eckhart: DW 2, S. 597,6; vgl. auch Largier: Kommentar 1, S. 10781080. 347 Vgl. ThD (H), Kap. 47,4-13, S. 141; vgl. auch oben 7.1, S. 26. 348 Vgl. auch LlSCO: Heilslehre, S. 50; Haas: Theologia, S. 340-342. 349 Vgl. ThD (H), Kap. 2,8-12, S. 73; Kap. 3,1-6, S. 73; Kap. 16,2f„ S. 90; Kap. 49,26, S. 142; Kap. 51,63-66.80-84, S. 145f. 350 Vgl. ThD (H), Kap. 15,1-4.20-22, S. 89. 351 Vgl. unten S. 38. 352 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 25,1-12, S. 104; Kap. 43,82f„ S. 137. 353 Vgl. unten 7.5, S. 76. 354 Vgl. ThD (H), Kap. 22,1-4, S. 98f. 355 Vgl. ThD (H), Kap. 17,14-20, S. 94. 356 Vgl. ThD (H), Kap. 3,12-14, S. 74; Kap. 7,10-12, S. 78; Kap. 16,38-41. S. 92; Kap. 3 l,28f., S. 115. Welche Bedeutung der Begriff ,natur1 an der zuletzt zitierten Stelle

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lieh negative Bedeutung357. Die Natur ist auf sich selbst fixiert und erstrebt das für sie Bequemste: „Sich [= Sieh], nu ist keyn leben der natur also [= so] beqweme vnd als lustig [= lustvoll] also [= wie] das frey, ruchloß le­ ben. Dar vmmb held sie sich an das selbe vnd gebruchet sich yr selbes vnd yrer selbheit vnd yres eyniges frides vnd gemachs vnd alles des yren alda selbes [= und genießt sich selbst und ihre Selbstheit und ihren ungeteilten Frieden und ihr Wohlbehagen und alles Ihrige dort selbst] [,..].“358 Wer der „Natur“ folgt, lebt also in völliger Selbstbezogenheit und ist auf kreatürlich-animalisches Wohlergehen ausgerichtet. Der Verfasser identifiziert die Natur sogar mit dem Teufel: „Dar vmmb ist der tufel vnd natur eyns, vnd wo natur vbirwunden ist, do ist auch tufel vberwunden; vnd hir widervmmb, wo natur nicht vbirwunden ist, do ist auch der tufel nicht vber­ wunden.“359 Der Begriff ,Natur1 bezeichnet in der ,Theologia Deutsch1 somit die erbsündige, selbstsüchtige Natur des Menschen360, die überwun­ den werden muss und überwunden werden kann. Auch Tauler gebraucht den Naturbegriff in einem solchen negativen Sinn361, er greift aber anders als der Verfasser des Traktats auch den thomistischen Gedanken auf, dass die Gnade die Natur vollendet362. Eine sehr wichtige Rolle bei der Verführung zur Sünde spielt der ,Theologia Deutsch1 zufolge das falsche Licht, also falsche Erkenntnis363. Der Ausdruck ,falsches Licht1 wurde bereits von Tauler verwendet364, von dem ihn der Autor der ,Theologia Deutsch1 wohl übernommen hat. Das falsche Licht ist dem Verfasser des Traktats zufolge „natur ader natur­ in der Wendung „das wil got vnd die natur nicht“ hat, ist schwierig festzustellen. Es könnte die von Gott gewollte Naturordnung gemeint sein. 357 Vgl. Haas: Einleitung, S. 22. 358 ThD (H), Kap. 20,7-10, S. 97; vgl. auch Kap. 18,1-5, S. 95; Kap. 20,1-6, S. 97; Kap. 24,23-25, S. 103; Kap. 26,68-75, S. 108; Kap. 40,13-19.62-65, S. 126f; Kap. 42,1215.59-63, S. 132f. 359 ThD (H), Kap. 43,87-90, S. 137; vgl. auch Kap. 20,1-3, S. 97; Kap. 43,93-97, S. 137. 360 Vgl. Haas: Einleitung, S. 22. 361 Vgl. z.B. tauler: Predigten, S. 75,9-12.20f.; S. 83,19-27; S. 94,3-20.30-32; S. 95,7-18. 362 Vgl. ebd. S. 329,19-22; vgl. auch S. 334,4f. 363 Vgl. auch Reifenrath: Theologie, S. 61. Die These Reifenraths, die Sünde sei nach der Ansicht des Verfassers der ,Theologia Deutsch1 „vorwiegend nur Täuschung“ (ebd.), geht aber meines Erachtens zu weit, da sie einen durchaus wichtigen Aspekt ver­ absolutiert. Wie die obigen Ausführungen über den Sündenbegriff zeigen, ist Sünde dem Traktat zufolge vor allem Selbstbezogenheit. Diese führt auch die Erkenntnis in die Irre, was wiederum eine stärkere Ausrichtung des Menschen auf sich selbst zur Folge hat. 364 Vgl. TAULER: Predigten, S. 167,6-9.16-23; S. 250,4f.; S. 258,4-6; vgl. auch Hippel: Licht, S. 154f. Während in der ,Theologia Deutsch1 der Begriff .falsches Licht1 nur im Singular verwendet wird, spricht Tauler auch von falschen Lichtem, also von falschen Erleuchtungen beziehungsweise Erkenntnissen.

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lieh“365. Der Mensch gelangt zu falscher Erkenntnis, wenn er auf seine natürliche Vernunft vertraut366. Wer vom natürlichen, selbstsüchtigen fal­ schen Licht in die Irre geführt wird, hält sich, das Seine und das für ihn Angenehme für das Beste367. Diese falsche Erkenntnis bewirkt eine Ausrichtung des Menschen auf sich selbst: „Eyn itzlich [= jede] libe muß von eyme lichte ader bekentniß [= Erkenntnis] geleret vnd geleitet werden. Nu das wäre licht macht wäre libe vnd falsch licht macht falsch libe, wan [= denn] was das licht vor [= für] das beste hat [= hält], das gibt eß der libe vor das beßte dar [= das präsentiert es der Liebe als das Beste] vnd spricht, sie solle eß lib haben; vnd die libe volget ym vnd thut syne geböte.“368 Das falsche Licht erkennt zwar auch zum Teil Richtiges, es hält aber sich und sein Erkennen für das Beste, sodass das zutreffend Erkannte nicht geliebt wird369. Der Autor identifiziert das falsche Licht mit dem Teufel37". Er spricht aber auch davon, dass es der Same des Teufels ist: „Vnd das falsch licht ist des tufels samen. Wo der gesehet [= gesät] wirt, do wechst des tufels frucht vnde der tufel selber.“371 Insbesondere die freien Geister wer­ den nach der Ansicht des Verfassers vom falschen Licht betrogen372. Der Autor des Traktats geht von einer allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschen aus. Er vertritt die Ansicht, „das alle menschen kummen czumäl auff sich selber [= zumal auf sich selber bezogen sind] vnd joch [= auch] uff vntogent vnde boßheit geneyget vnd gekeret seyn“373. In Kapitel 22 behauptet der Verfasser, „das alle die werlt [= Welt] behafft [= behaftet] vnd besessen ist mit dem teufel, dar meynet man [= das heißt] mit lugen vnd mit falscheit vnd ander boßheit vnd untogent“374. Es gibt zwar auch Menschen, die vom Geist Gottes ergriffen sind, die vom Teufel Besessenen sind aber bei weitem in der Überzahl: „Aber ich furchte, hundert thusent ader an czale [= unzählige] synt mit dem tufel besessen, da [= wo] eins [= einer] mit gotis geiste besessen ist. Das ist do von, das die menschen haben mer gleicheit mit dem tufel dan [= als] mit gote.“375 Obwohl der Autor die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen betont, vertritt er den­ noch die Meinung, dass der Mensch in der Nachfolge Christi dem Ideal 365 ThD (H), Kap. 40,9f„ S. 126; vgl. auch Kap. 40,23f.39.62, S. 126f.; Kap. 31,13, S. 114. 366 Vgl. ThD (H), Kap. 19,1-7, S. 96; Kap. 20,7-14, S. 97. 367 Vgl. ThD (H), Kap. 40,17-22.62-68, S. 126-128; Kap. 42,12-15.26-31, S. 132f. 368 ThD (H), Kap. 42,7-11, S. 132. 369 Vgl. ThD (H), Kap. 42,20-64, S. 132-134; vgl. auch Kap. 41,34-39, S. 131. 370 Vgl. ThD (H), Kap. 40,83-86, S. 128; Kap. 43,75-77, S. 136f. 371 ThD (H), Kap. 40,128f„ S. 130. 372 Vgl. unten 7.5, S. 75f. 373 ThD (H), Kap. 26,24f„ S. 106. 374 ThD (H), Kap. 22,5f„ S. 99; vgl. auch Kap. 16,54f„ S. 92. 375 ThD (H), Kap. 22,14-17, S. 99.

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völligen Gehorsams gegenüber Gott so nahe kommen kann, dass er zu Recht als vergottet bezeichnet wird376. Im letzten Kapitel des Haupttextes greift der Autor die Frage auf, wes­ halb Gott die Sünde ermöglicht hat: „Syder das [= Da] disser bäum, das ist eygener wille, got vnd dem ewigen willen also wider ist, wor vmmb [= wa­ rum] hat yn den [= denn] got geschaffen vnd gemacht vnd hat yn [= ihn] yn das paradiß gesetzt?“377 Der Verfasser weist diese Frage zunächst als vermessen zurück: „Welcher mensch ader wilche creatur begeret czu erfaren vnd czu wisßen den heymlichen rat vnd willen gotis, also das er gerne wolle wissen, wor vmmb got diß ader das thu ader laße vnd des glich [= dergleichen], der begeret nicht [= nichts] anders den als Adam ader der teufel.“378 Eine solche Wissbegierde ist nämlich, so behauptet der Autor im Anschluss an die christliche Tradition von der Sündhaftigkeit der curiosi­ tas379, fast immer ein Ausdruck von Hochmut380. Der Verfasser versucht dann aber dennoch, eine spekulative Antwort zu geben. Vernunft und Wille sind, wie er feststellt, das Edelste, was in den Kreaturen ist381. Gäbe es Vernunft und Wille nicht, „ßo were auch kein vornunfftig creatur, Sün­ dern allein vihe vnd vihelikeit. Das were eyn groß gebrech [= Mangel] [,..]“382. Gott könnte nämlich dann das, was urbildlich in ihm ist, nicht zur Wirkung bringen383. Dies gilt insbesondere für seinen ewigen Willen. Die­ ser bedarf, um wirken zu können, eines geschaffenen Willens in der Krea­ tur: „Vnd wan [= weil] nu got an [= ohne] creatur wurcklich [= wirksam] vnd beweglich nicht gewollen mag [= kann], dar vmmbe [= darum] wil er eß thun yn vnd mit den creaturen.“384 Der Mensch soll daher den Willen ebenso wie die Vernunft nicht für sich selbst beanspruchen und nutzen, sondern beide Gott überlassen, damit dieser im Menschen wirken kann385. Wirkt Gott in ihm, so erkennt, liebt, lobt und ehrt der Mensch Gott. Dies wäre unmöglich, wenn es in den Kreaturen Vernunft und Wille nicht

376 Vgl. ThD (H), Kap. 16,70-73, S. 93; vgl. auch unten 7.3, S. 44f. 377 ThD (H), Kap. 51,1-3, S. 143. Wie das Bild vom Baum im Paradies sowie die in Kapitel 51 folgenden Ausführungen zeigen, geht es um die Frage, weshalb Gott den Menschen die Möglichkeit zum Eigenwillen gegeben hat. Unzutreffend oder zumindest missverständlich ist hingegen die Überschrift im wohl sekundär angefugten Register: „Wor vmmb [= Warum] got den eygen willen [!] geschaffen habe, wan [= wenn] er ym als [= so] widder ist.“ ThD (H), Register, 113f., S. 71. 378 ThD (H), Kap. 51,3-6, S. 143f.; vgl. auch Kap. 51,7-15, S. 144. 379 Vgl. Haas: Theologia, S. 320, Anm. 32. 380 Vgl. ThD (H), Kap. 51,8-10, S. 144. 381 Vgl. ThD (H), Kap. 51,16-18, S. 144. 382 ThD (H), Kap. 51,19f„ S. 144. 383 Vgl. ThD (H), Kap. 51,20-23, S. 144; vgl. auch oben 7.1, S. 28f. 384 ThD (H), Kap. 51,40-42, S. 145; vgl. auch Kap. 51,31-38, S. 144. 385 Vgl. ThD (H), Kap. 51,24-30.44-48.57-62, S. 144f.

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gäbe386. Dadurch, dass ihm Vernunft und Wille verliehen wurden, hat der Mensch aber auch die Möglichkeit zur Sünde, da er sich den Willen zu eigen machen und ihn für sich selber nutzen kann387. Die Vorstellung eines geschaffenen Willens impliziert also für den Autor offenbar notwendiger­ weise, dass der Mensch mit diesem Willen auch anders wollen kann, als Gott will. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gott nach der An­ sicht des Verfassers Vernunft und Wille geschaffen hat, weil er nur so im Menschen seinen Willen zur Wirkung bringen kann. Mit der Verleihung von Vernunft und Willen erhält der Mensch aber auch die Möglichkeit zur Sünde.

7.3 Die Bedeutung Christi

Der Fall Adams konnte, wie der Verfasser im dritten Kapitel darlegt, nicht vom Menschen „gebessert“388 werden. Gott wiederum sollte oder wollte die „Besserung“ nicht ohne den Menschen vollbringen389. „Dar vmmbe [= Darum] nam got menschlich natur ader menschheit an sich vnd wart vormenscht vnd der mensch wart vorgötet. Aida [= Da] geschach die besserunge.“390 Auf dieselbe Weise wie Adams Fall muss der Fall des Einzelnen „gebessert“ werden391. Der Autor greift hier im Anschluss an Eckhart392 und Tauler393 eine patristische Tradition auf, die Augustinus von griechischen Kirchenvätern übernahm. Dieser Tradition zufolge wurde Gott Mensch, damit der Mensch Gott werde394. Die Menschwerdung hatte nach der Ansicht des Verfassers der .Theologia Deutsch' den Sinn, dem Menschen die Möglichkeit zur Vergottung zu geben395. Christus ist für den Autor „Prototyp der Vereinigung des Menschen mit Gott und der konstitu­ tiven Gehorsamshaltung“396. Er wird Adam antitypisch gegenüber­ 386 Vgl. ThD (H), Kap. 51,74-77, S. 146. 387 Vgl. ThD (H), Kap. 51,63-74, S. 145f. 388 Zum Bedeutungsspektrum von .bessern' und .besserung' im Frühneuhochdeut­ schen vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch 3, Sp. 1900-1910, s.v. .bessern'; Sp. 19101918, s.v. .besserung'. Im vorliegenden Kontext ist eine Wiederherstellung der gestörten Beziehung zwischen Gott und Mensch gemeint. Vgl. dazu ebd. Sp. 1905-1907, Nr. 7; Sp. 1914f., Nr. 6. 389 Vgl. ThD (H), Kap. 3,12.15f„ S. 74. 390 ThD (H), Kap. 3,12-14, S. 74. 391 Vgl. ThD (H), Kap. 3,7-11.15-22, S. 73f. 392 Vgl. Eckhart: DW 2, S. 84,lf.; S. 98,5-8; Eckhart: LW 3, S. 240,12-242,3. 393 Vgl. Tauler: Predigten, S. 293,23f.; vgl. auch GnäDINGER: Tauler, S. 292f. 394 Vgl. Haas: Theologia, S. 342, Anm. 87; Haas: Einleitung, S. 17. Zur Herkunft dieses Gedankens und zu seiner Rezeption bei Eckhart vgl. Haas: Jesus, S. 193-196. 395 Vgl. Haas: Theologia, S. 342. 396 Ebd, S. 346; vgl. auch Reifenrath: Theologie, S. 62; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 461.

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gestellt397: „Vnde der gehorsam ist yn Adam vnder gegangen vnd gestor­ ben vnnd ist yn Cristo auff gestanden vnd lebendig worden, vnnd vngehor­ sam ist ynn Adam auff erstanden vnnd hat gelebet vnd ist yn Cristo gestor­ ben.“398 Die Menschen sollen Christus nachfolgen, indem sie sich dem wahren Gehorsam Christi annähern399. Damit die „Besserung“, die sich in Christus prototypisch verwirklichte, für den einzelnen Menschen wirksam wird, muss das Geschehen der Vergottung auch in ihm stattfinden400. Der Verfasser verdeutlicht die Heilsnotwendigkeit eines individuellen Nach­ vollzugs der Vergottung anhand einer hypothetischen Konstellation: „Das [= (Angenommen), dass] got alle menschen an sich neme, die da synt, vnd yn en [= ihnen] vormenscht wurde vnnd sie yn ym vorgotet, vnd gesche eß nicht yn mir, meyn fal vnd meyn abkeren wurde nummer [= niemals] ge­ bessert, eß gesche dann [= denn] auch yn mir.“401 Die „Besserung“ des Sündenfalls des Einzelnen und damit die Erlösung402 des Einzelnen ge­ schieht also erst dann, wenn sich im jeweiligen Menschen das, was sich in Christus prototypisch ereignete, wiederholt. Christus ist, wie der Autor betont, mit seinem ganzen irdischen Leben, dem „Cristus leben“, Modell des vergotteten Menschen. Die Menschen sollen sich am Vorbild Christi orientieren und seine Lehre befolgen403. Ebenso wie bei Tauler404 ist also der Gedanke der Nachahmung Christi in der ,Theologia Deutsch4 von gro­ ßer Bedeutung. Wie der ursprüngliche Schluss des Traktats zeigt, versteht der Verfasser sein Werk als Wiedergabe der Lehre Christi und als Aufruf zur Nachfolge: „Alles, das hie geschriben ist, das hat Cristus geleret mit langem leben [...] vnd mit kurtzen wortten, das ist mit dem, das er spricht: ,Volge mir nach1.“405 Der wohl nicht vom Autor des Werkes stammende Anhang406 fügt den johanneischen Gedanken an, dass man nur durch Christus zum Vater ge­

397 Vgl. auch Haas: Theologia, S. 340-342. 3,8 ThD (H), Kap. 15,20-22, S. 89; vgl. auch Kap. 16,1-4, S. 90. 399 Vgl. ThD (H), Kap. 16, S. 90-93. 400 Vgl. ThD (H), Kap. 3,7-19, S. 73f. Eckhart vertritt eine ähnliche Auffassung. Vgl. u.a. Eckhart: LW 3, S. 101,12-102,2; vgl. auch Haas: Jesus, S. 195f. 401 ThD (H), Kap. 3,19-22, S. 74. 402 Vgl. ThD (H), Kap. 3,23, S. 74. An dieser Stelle wird neben dem Begriff ,besse­ runge" auch der Begriff ,widerbrengunge [= Erlösung]" verwendet. 403 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 18,l-3.5f.l9-27, S. 95f.; Kap. 19,7-12, S. 96; Kap. 23,1525, S. 101 f.; Kap. 26,46-53.68-72, S. 107f.; Kap. 35,1-3.16-19.24-27, S. 119T; vgl. auch Reifenrath: Theologie, S. 62f.; Mauff: Standpunkt, S. 38f.; Haas: Theologia, S. 342f.; 346; Haas: Einleitung, S. 17f.; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 461. 404 Vgl. z.B. Tauler: Predigten, S. 209,22-210,3; vgl. auch Haas: Jesus, S. 209-212; Gnädinger: Tauler, S. 286-288. 405 Vgl. ThD (H), Kap. 51,129-131, S. 147; vgl. auch Kap. 51,131-137, S. 147f. 406 Vgl. oben Kapitel 5, S. 17f.

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langen könne407. Der Verfasser des Anhangs wiederholt die Aussage des Haupttextes, dass der Mensch Christus nachfolgen soll, indem er sich in seinem Leben das Leben Christi zum Vorbild nimmt408. Nur wer dies tut, gelangt dann dem Anhang zufolge auch mit Christus zum Vater409. Als Unterschied lässt sich festhalten, dass der Autor des Anhangs deutlich zwi­ schen dem Vater und Christus differenziert410, während der Grundtext, wie im Folgenden gezeigt werden soll, vor allem die Präsenz Gottes in Christus betont. Da Christus für den Verfasser der ,Theologia Deutsch1 das Modell des vergotteten Menschen ist, kommt der Frage, in welchem Verhältnis in ihm Menschheit und Gottheit stehen, große Bedeutung zu. Der Autor des Traktats nimmt auf die dogmatisierte Zwei-Naturen-Lehre Bezug, bei ihm tritt aber die menschliche Natur Christi zugunsten der göttlichen sehr stark zurück411: „Wo vnd wanne got vnd mensch voreyniget wurden synt, [...] das [= dass] eyns ist wäre [= wahrer], volkommen got vnd wäre, vollkommenn mensch vnd doch mensch got als gar entwichet [= und doch der Mensch zugunsten Gottes so völlig zurückgetreten ist], das got aldo [= da] selber ist der mensche, vnd got ist ioch [= doch] alda selbst, vnd das selbe ein [= Eine] wircket stetiglichen vnd thut vnd leßet an [= ohne] alles ich, mir vnd meyne vnd des gleichen. Sich [= Siehe], do ist war Cristus vnd anders nyrgent [= sonst nirgends].“412 An einer anderen Stelle bringt der Verfasser die Dominanz der göttlichen Natur dadurch zum Ausdruck, dass er von der Menschheit Christi als einem Haus oder einer Wohnung Gottes spricht: „Ja die menscheit Cristi was [= war] vnd stunt also gar [= so völ­ lig] an [= ohne] sich selber vnd an all [= allem] also [= wie] ye kein crea­ tur, vnd waz [= war] nicht [= nichts] anders dan [= als] eyn huß ader eyn wonung gotis.“413 Die menschliche Natur trat also zugunsten der göttlichen so weit zurück, dass in Christus nur Gott selbst wirkte. Dennoch ist die menschliche Natur Christi für den Autor nicht völlig irrelevant. Ihre Be­ deutung liegt seiner Ansicht nach vor allem darin, dass Gott durch sie menschliche Empfindungsfähigkeit erlangt: „Synt [= Da] nu hie war [= wahrer], volkommen mensch ist, ßo ist auch hie volkomen befulen [= Fühlen] vnd entpfinden, wol vnd we, lib vnd leid vnd alles das, das befulet vnd besoben [= wahrgenommen] werden mag von außen vnd von 407 Vgl. ThD (H), Kap. 52,lf.20-34, S. 148f.; Kap. 53,23-28.99-105, S. 150-154; vgl. auch Haas: Theologia, S. 341, Anm. 83; S. 343. 408 Vgl. ThD (H), Kap. 52,17-22, S. 148f.; Kap. 53,23-26, S. 150. 409 Vgl. ThD (H), Kap. 53,20-34, S. 148f. 410 Vgl. ThD (H), Kap. 52,lf.20-34, S. 148f.; Kap. 53,1-5.13-16.21-28.99-109, S. 149-154. 411 Vgl. auch Haas: Einleitung, S. 18. 412 ThD (H), Kap. 24,1-7, S. 102. 413 ThD (H), Kap. 15,23f„ S. 89; vgl. auch Kap. 15,25-31, S. 90.

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ynnen. Vnd synt [= da] den [= denn] got alda [= da] der selbe mensch ist, ßo ist er auch besobelich, befintlich libes vnd leides [= wahrnehmungsfahig, empfindungsfähig in Bezug auf Freude und Leid] vnd des gleich.“414 Der Verfasser betont insbesondere die durch die Inkarnation gegebene Leidensfahigkeit des an sich leidensunfähigen Gottes415. Da aber bei der Vereinigung von Gott und Mensch „der mensch czu nicht wirt vnd got alles ist“416, ist auch nur das Ursache des Leidens Christi, was Gott zuwi­ der ist, also die Sünde, während der allerdings durchaus wahrgenommene Schmerz über das, was dem Menschen zuwider ist, völlig nichtig wird417. Wo Gott Mensch ist, „da wirt anders nicht [= sonst nichts] geclaget den [= als] sunde, ader ist anders [= sonst] keyn leit“418. Im siebten Kapitel finden sich Aussagen über Christus, die sich mit den bisher dargestellten nicht völlig in Einklang bringen lassen. In diesem Ka­ pitel spricht der Autor in metaphorischer Redeweise davon, dass die Seele Christi zwei Augen hat, von denen das rechte in die Ewigkeit und Gottheit, das linke in das Geschaffene blickt419. Das rechte ist also auf die Gottheit Christi, das linke auf seine Menschheit bezogen420. Der Verfasser ordnet das rechte Auge dem inneren Menschen Christi, das linke dem äußeren Menschen Christi zu421. Gemäß einer weit verbreiteten Tradition platoni­ schen Ursprungs422, die auch von Eckhart423 und Tauler424 übernommen wurde, bezeichnet der Begriff ,innerer Mensch1 die Geistigkeit des Men­ schen, der Begriff ,äußerer Mensch1 hingegen seine Leiblichkeit. Der ,Theologia Deutsch1 zufolge behindert keines der beiden Augen Christi das andere in irgendeiner Weise425. „Also stundt der jnner mensch Cristi noch [= nach] dem rechten äuge der sele yn volkommen gebruchen [= Ge­ nuss] gotlicher nature, yn volkommener wunne [= Wonne] vnd freude. Aber der vßer mensch vnd das linke äuge der sele stundt mit ym yn vol414 ThD (H), Kap. 24,8-11, S. 102. 415 Vgl. ThD (H), Kap. 24,11-19, S. 102f.; Kap. 37,1-11, S. 121f. 4,6 ThD (H), Kap. 24,15f„ S. 103. 417 Vgl. ThD (H), Kap. 24,11-18, S. 102f.; Kap. 37,13f„ S. 122; vgl. auch Kap. 51,103-106, S. 146. 4,8 ThD (H), Kap. 37,13f., S. 122. 419 Vgl. ThD (H), Kap. 7,1-10, S. 77f. 420 Vgl. Haas: Theologia, S. 335. 421 Vgl. ThD (H), Kap. 7,2-23, S. 77f. 422 Zur Begriffsgeschichte vgl. die Hinweise bei Haas: Eckhart, S. 114T, Anm. 47. Da die Unterscheidung auch im Neuen Testament verwendet wird (vgl. Röm 7,22; 2 Kor 4,16; Eph 3,16), fand sie in der christlichen Tradition weite Verbreitung. 423 Vgl. z.B. Eckhart: DW 5, S. 421,6-422,12; vgl. auch Largier: Kommentar 1, S. 845f. 424 Vgl. z.B. Tauler: Predigten, S. 71,15-17; vgl. auch Gnädinger: Tauler, S. 129133; Leppin: Tauler, S. 746; Leppin: Personkonstitution, S. 58f. 425 Vgl. ThD (H), Kap. 7,2-23, S. 77f.

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kummen leiden vnd jamer vnd erbeite [= Mühsal].“426 Es wird also eine Gleichzeitigkeit von vollkommener göttlicher Glückseligkeit und voll­ kommenem menschlichen Leiden in Christus postuliert. Der Autor greift hier eine Tradition auf, die sich bei Thomas427, Eckhart428 und Tauler429 findet, und betont, dass auch während der Passion der innere Mensch Christi vollkommene Freude wie nach der Himmelfahrt empfand430. Das Bild von den zwei Augen Christi impliziert somit eine relativ deutliche Unterscheidung zwischen der leidensfähigen Menschheit und der leidensunfahigen Gottheit Christi. An anderen Stellen, deren Inhalt oben wieder­ gegeben wurde, hebt der Verfasser hingegen hervor, dass die Menschheit in Christus so weit zurücktritt, dass Gott selbst der Mensch ist. Gott selbst kann daher in Christus Schmerz über die Sünde empfinden. Dieser Kon­ zeption zufolge wird das menschliche Leiden Christi angesichts des Schmerzes über die Sünde bedeutungslos, während im siebten Kapitel nur von äußerlich-kreatürlichem Schmerz die Rede ist. Die aufgezeigten In­ kongruenzen sind wohl darauf zurückzuführen, dass der Autor im siebten Kapitel ihm bekannte christologische Aussagen übernommen hat431, ohne sie wirklich in sein theologisches System zu integrieren. Da die christologischen Ausführungen, die sich in anderen Teilen des Werkes finden, in engem Zusammenhang mit der für den Verfasser zentralen Vergottungs­ vorstellung stehen432, dürften sie für sein Denken erheblich bedeutsamer sein. Angesichts der großen Bedeutung, die das Motiv der Nachfolge Christi für den Autor der ,Theologia Deutsch4 hat, stellt sich die Frage, inwieweit seiner Ansicht nach die Menschen dem Vorbild Christi entsprechen kön­ nen. Im siebten Kapitel, das allerdings in die christologische Konzeption des Verfassers nicht hinreichend integriert ist433, wird behauptet, dass es allein Christus möglich war, gleichzeitig in die Ewigkeit und in die Zeit zu blicken, während die Menschen jeweils nur eines von beidem tun kön­ nen434. Diesem Kapitel zufolge besteht also ein unüberwindlicher, nicht nur gradueller Unterschied zwischen Christus und den Menschen. Zentra­ les Anliegen des Autors ist aber die möglichst weit gehende Annäherung 426 ThD (H), Kap. 7,10-13, S. 78. 427 Vgl. Thomas: Summa Theologiae III, q. 46, a. 8, in: Thomas: Thomas-Ausgabe 28, S. 38-41; vgl. auch Siedel: Einleitung, S. 25f. 428 Vgl. Eckhart: DW 5, S. 270,11-271,3; S. 421,6-422,12. 429 Vgl. TAULER: Predigten, S. 157,12-21; anders hingegen S. 65,12-15. 430 Vgl. ThD (H), Kap. 7,17-23, S. 78. 431 Vgl. die Zitationsformeln in ThD (H), Kap. 7,1.17, S. 77f. 432 Vgl. auch unten 7.4.3, S. 63. 433 Vgl. oben S. 43f. 434 Vgl. ThD (H), Kap. 7,2-7.13-23.27-33, S. 77-79; vgl. auch Haas: Theologia, S. 335f.

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des Menschen an das Vorbild Christi. Im 16. Kapitel betont der Verfasser, dass der Mensch dem in Christus realisierten Ideal völligen Gehorsams gegenüber Gott nahe kommen kann: „Sich [= Sieh], alleyn [= wenn auch] nu lichte [= vielleicht] keyn mensche also gar [= gänzlich] vnnd luterlich [= rein] yn dißem gehorsam ist, also [= wie] Cristus was [= war], nu ist doch möglich eynem menschen, also nahe dar czu vnd bey czu kommen [= heranzukommen], das er gotlich vnd vorgotet heißet vnnd ist.“435 Wie das Adverb „lichte“ zeigt, hält es der Autor an dieser ebenso wie an einer weiteren Stelle436 nicht für gänzlich unmöglich, dass ein Mensch wie Christus völlig gehorsam ist437. Er wäre dann, so der Verfasser, ohne Sünde „vnd das selbe von gnaden, das Cristus was [= war] von natur“438, ln der ,Theologia Deutsch4 finden sich jedoch auch Aussagen, denen zu­ folge das Ideal Christi für Menschen unerreichbar ist439. Der Autor ist also insgesamt skeptischer oder zumindest vorsichtiger als Eckhart, der die An­ sicht vertrat, der Mensch könne aus Gnade das werden, was Christus von Natur war440. Dass dem Menschen eine ziemlich weit gehende Annäherung an das Vorbild Christi möglich ist, wird vom Verfasser der ,Theologia Deutsch4 aber nie bezweifelt. Der Gedanke, dass Christus durch seinen Tod stellvertretende Genug­ tuung für die Sünde leistete, spielt in der ,Theologia Deutsch4 ähnlich wie bei Eckhart441 keine oder zumindest keine große Rolle442. Der Autor er­ wähnt nirgends die Notwendigkeit einer besonderen Genugtuung für die Sünde. Entscheidend ist für ihn die Rückkehr des Menschen in den Gehor­ sam: „Vnnd kumpt er [der Sünder] wider yn den waren gehorsam, so ist eß alles gebessert vnd gebußet vnd vorgeben vnd anders [= sonst] nicht.“443 Dies würde dem Verfasser zufolge sogar für den Teufel gelten444. Der Au­ tor betont allerdings, dass die Sünde Gott sehr schmerzt. In diesem Zu­ sammenhang zieht er den Tod als Vergleichsgröße heran: Der Ungehorsam eines Menschen ist, wie der Verfasser in Kapitel 16 hervorhebt, Gott so

435 ThD (H), Kap. 16,70-73, S. 93. 436 Vgl. ThD (H), Kap. 16,38-44, S. 92. 437 Vgl. auch Florin: haß, S. 173-175 sowie unten 7.5, S. 78f. 438 ThD (H), Kap. 16,40f„ S. 92; vgl. auch Kap. 16,38-41 S. 92. 439 Vgl. ThD (H), Kap. 15,23f„ S. 89; Kap. 40,116f„ S. 129; Kap. 51,101-106, S. 146; vgl. auch Mauff: Standpunkt, S. 39f. 440 Vgl. u.a. ECKHART: DW 1, S. 72,14-73,5; S. 109,4-6.8-10; S. 110,1-7; Eckhart: LW 3, S. 90,1 lf.; Eckhart: Predigten, S. 127,39f. (möglicherweise pseudo-eckhartische Predigt); vgl. auch Langer: Mystik, S. 345-348. 441 Vgl. Haas: Jesus, S. 204-209. 442 Vgl. Reifenrath: Theologie, S. 62T; Mauff: Standpunkt, S. 38T; Mandel: Einleitung, S. XLII; vgl. auch SlEDEL: Einleitung, S. 60. 443 ThD (H), Kap. 16,31-33, S. 91 f. 444 Vgl. ThD (H), Kap. 16,33-35, S. 92.

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zuwider, dass er gerne hundert Tode erleiden wollte, um den Ungehorsam in einem Menschen zu töten und seinen Gehorsam wiederzugebären445. In Kapitel 37 schreibt der Autor: „Sich [= Siehe], do [wo Gott Mensch ist oder in einem vergotteten Menschen] ist sunde got also leid vnd muet [= quält] yn also ßere, das got alda [= da] selbs gerne wolt gemartert werden vnnd liplich [= körperlich] sterben, uff das er eyns menschen sunde da mit vortilgenn mochte.“446 In den auf das Zitat folgenden Ausführungen behauptet der Autor, dass für Gott die Sünde eines einzigen Menschen schmerzhafter ist als seine eigene Marter und sein Tod447. Das Verb „vortilgenn“ könnte den Gedanken einer stellvertretenden Satisfaktion Christi andeuten. Die Tatsache, dass im oben angeführten Zitat auch auf vergottete Menschen Bezug genommen wird, müsste dann wie folgt interpretiert werden: Auch für diese Menschen ist die Sünde so schmerzhaft, dass sie bereit wären, wie Christus zu sterben, wenn sie damit Genugtuung für die Sünde eines Menschen leisten könnten, was ihnen aber faktisch nicht möglich ist. Die Bezugnahme auf vergottete Menschen lässt sich aber leichter erklären, wenn man davon ausgeht, dass das Verb „vortilgenn“ im oben angeführten Zitat ein „Austilgen“ der Sünde meint, das darin besteht, den einzelnen Sünder zur Abkehr von der Sünde zu bewegen. Ein solches „Austilgen“ der Sünde ist auch vergotteten Menschen möglich. Diese Interpretation des Verbs „vortilgenn“ ist daher meines Erachtens wahrscheinlicher. Abgesehen von den beiden Stellen in Kapitel 16 und 37, die primär den Schmerz Gottes über die Sünde veranschaulichen sollen und allenfalls indirekt eine Deutung des Todes Christi erkennen lassen, wird in dem Traktat auf die Relevanz seines Todes nicht eingegangen. Für den Verfasser ist, wie das dritte Kapitel zeigt448, nicht der Tod, sondern die Inkarnation Christi das zentrale Heilsereignis449. Wie im Rahmen der folgenden Teile der Inhaltsanalyse deutlich werden wird, sind die Lehre und das Beispiel Christi von grundlegender Bedeu­ tung für die Argumentation des Verfassers. Man kann daher mit Haas da­ von sprechen, dass dem Traktat neben dem neuplatonischen auch ein „christologisches Grundprinzip“ zugrunde liegt450.

445 Vgl. ThD (H), Kap. 16,65-70, S. 93. 446 ThD (H), Kap. 37,4-7, S. 122. 447 Vgl. ThD (H), Kap. 37,7-11, S. 122. 448 Vgl. ThD (H), Kap. 3,7-29, S. 73f. 449 Für Eckhart und Tauler ist die Inkarnation Christi ebenfalls das zentrale Heilsereignis, wobei allerdings Tauler auch die Heilsbedeutung des Kreuzestodes thema­ tisiert. Vgl. zu Eckhart: Haas: Jesus, S. 204-209; zu Tauler: Ebd. S. 209-212; Leppin: spise, S. 168-170. 450 Vgl. Haas: Einleitung, S. 17; 19.

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7.4 Die Vergottung des Menschen Die Vergottung des Menschen ist das zentrale Thema der ,Theologia Deutsch'451. Im Folgenden soll zunächst der Weg zur Vergottung, sodann die Vereinigung mit Gott und schließlich das Leben des vergotteten Men­ schen thematisiert werden. Die genannten Aspekte lassen sich allerdings nicht scharf voneinander abgrenzen, da die Übergänge fließend sind.

7.4.1 Der Weg zur Vergottung In einem ersten Schritt soll nun auf die Frage eingegangen werden, wie der Mensch nach der Ansicht des Autors zur Vereinigung mit Gott bezie­ hungsweise zur Vergottung gelangen kann. Im 14. Kapitel greift der Ver­ fasser ein weit verbreitetes mystisches Aufstiegsschema auf: „Nv sal [= soll] man wissen, das nymant erlucht [= erleuchtet] mag werden, er sey denne vor [= zuvor] gereyniget, geluttert [= geläutert] vnnd gelediget [= frei gemacht]. Auch mag nymant mit got voreyniget werden, er sey danne [= denn] vor erluchte. Vnd dar ummb seynt [= sind] drey wege: zum ersten die reynigunge, czum andern die erluchtunge, czum drittin die voreynunge.“452 Dieses Drei-Wege-Schema wird aber, wie oben bereits dargestellt453, in dem Werk nicht konsequent als Aufbauprinzip verwendet. Zudem findet sich in dem Traktat außerhalb des sehr kurzen 14. Kapitels nirgends eine explizite Bezugnahme auf das Drei-Wege-Schema. Man kann allerdings, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die einzelnen Aus­ sagen, die der Autor über den Weg zur Vergottung macht, den Begriffen ,Reinigung' und ,Erleuchtung' zuordnen. Es lässt sich jedoch keine klar gegliederte Abfolge verschiedener Etappen feststellen. Zum Weg der Reinigung kann man die für den Verfasser grundlegende Forderung rechnen, die sündhafte Ausrichtung auf das Geschaffene und insbesondere auf das eigene Ich aufzugeben. Im Anschluss an Aussagen des Epheserbriefes spricht der Autor davon, dass der alte Mensch sterben und der neue Mensch wiedergeboren werden soll454. Der Leitbegriff zur Charakterisierung des neuen Menschen ist ,Gehorsam'455. Diesen Begriff bestimmt der Autor wie folgt: „Der mensch solde also [= so] gar [= völlig] an [= ohne] sich selber steen vnd seyn, das ist, an [= ohne] selbheit vnd icheit, das [= dass] er sich vnd das seyne also [= so] wenig suchte vnd meynete [= liebte] yn allen dingen, also ab [= als ob] er nicht were, noch seyne selbs als wenig entpfinden [= und von sich selber so wenig empfin­ 451 452 453 454 455

Vgl. Haas: Theologia, S. 305; Haas: Einleitung, S. 17. ThD (H), Kap. 14, S. 88. Vgl. oben Kapitel 6, S. 20. Vgl. ThD (H), Kap. 16,4-15, S. 90f. Vgl. ThD (H), Kap. 16,3f.l4f., S. 90f.; vgl. auch Haas: Theologia, S. 332f.

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den] vnd von ym selbir vnd dem seynen also cleyne [= so wenig] halden, also [= wie wenn] er nicht were, vnd als [= so] wenig von ym selber alß [= so] wenig [(auch)] von allen creaturen.“456 Der Mensch soll also, wie dies auch Eckhart457 und Tauler458 forderten, völlig frei von jeder Ichbezogen­ heit sein und sich sowie alle Kreaturen für nichts erachten. Allein von Gott soll er etwas halten459. Damit der Mensch zu diesem Gehorsam gelangen kann, der eine existentielle Grundhaltung darstellt460, muss sein Ich gänz­ lich zugrunde gehen: „Man spricht auch, der mensch solde an ym [= an sich] selbir sterben, das ist [= das heißt], des menschen icheit und selbheit soll sterben.“461 Am Ende des 22. Kapitels fasst der Autor diese für ihn zentrale Forderung wie folgt zusammen: „Biß [= Sei] luterlich [= rein] vnd gentzlich an [= ohne] dich selbir.“462 Da die Natur des Menschen selbstsüchtig ist463, muss auch sie „vorloren werden vnd sterben“464. Zum Absterben des eigenen Ichs gehört insbesondere, dass der Mensch sich nichts Gutes anmaßt465 und dass er seinen Eigenwillen aufgibt466. Der Mensch soll sich seines Ichs entäußem, um sich Gott zu überlassen. Er soll „got liden [= leiden], ym gehorsam vnd gelassen vnd vndertan seyn“467. Mit dem Adjektiv ,gelassen4, das hier und auch an weiteren Stellen468 ver­ wendet wird, greift der Verfasser den Begriff der Gelassenheit auf, der von Eckhart neu eingeführt und dann von Seuse sowie Tauler übernommen und semantisch modifiziert wurde469. Im vorliegenden Kontext meint „gelassen seyn“ eine Haltung der Ergebung Gott gegenüber470. Dieselbe Haltung soll der sich Gott überlassende Mensch, wie der Autor in Kapitel 23 darlegt, 456 ThD (H), Kap. 15,5-10, S. 89. 457 Vgl. z.B. Eckhart: DW 5, S. 292,6f.; S. 404,8-405,3; vgl. auch Langer: Mystik, S. 323-334. 458 Vgl. z.B. Tauler: Predigten, S. 195,19-25; vgl. auch Ruh: Geschichte 3, S. 491493; Leppin: Tauler, S. 746; Leppin: Personkonstitution, S. 58; 62-64. 459 Vgl. ThD (H), Kap. 15,10-14, S. 89. 460 Vgl. auch Haas: Theologia, S. 332f. 461 ThD (H), Kap. 16,8f„ S. 90L; vgl. auch Kap. 20,1-3, S. 97; Kap. 40,121 f., S. 130; Kap. 44,38f„ S. 139. 462 ThD (H), Kap. 22,19f„ S. 99. 463 Vgl. oben 7.2, S. 36f. 464 ThD (H), Kap. 20,3, S. 97; vgl. auch Kap. 20,1-6, S. 97. 465 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 5,10-19, S. 75f.; Kap. 17,10f„ S. 94; vgl. auch oben 7.2, S. 33. 466 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 34,7-10, S. 119; Kap. 51,10-15.25-30.66-68, S. 144L; vgl. auch oben 7.2, S. 34f. 467 ThD(H), Kap. 23,2, S. 101. 468 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 23,6-8, S. 101; Kap. 51,59-61, S. 145; Kap. 51,131-133, S. 147. 469 Vgl. Völker: Gelassenheit, S. 281-290. 470 Zum Begriff des Gelassenseins in der ,Theologia Deutsch' vgl. Völker: Gelassenheit, S. 29lf.

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gemäß dem Vorbild Christi auch seinen Mitmenschen gegenüber einneh­ men; er soll ihnen gehorsam und untertan sein und ihm angetanes Leid ertragen 471 . Indem das Ich des Menschen sich selbst preisgibt, schafft es, so be­ hauptet der Verfasser im Anschluss an Eckhart471 472 und Tauler473, Raum für das Wirken Gottes: „So meyn ich, das ist icheit vnd selbheit, mer ab nympt, ßo gotis ich, das ist got selber, mer zu nympt yn mir. [= Je mehr mein Ich, das heißt Ichheit und Selbstheit, abnimmt, desto mehr nimmt Gottes Ich, das heißt Gott selber, in mir zu.]“474 Die Vergottung vollzieht sich also stufenweise in Abhängigkeit vom Grad der Fortschritte, die der Mensch auf dem Weg zur Eliminierung des eigenen Ichs macht. Zum Weg der Reinigung kann man auch die in Kapitel 11 beschriebene Selbsterkenntnis des Sünders rechnen475. Wenn der Mensch sich selbst betrachtet und seine Bosheit erkennt, erachtet er es für richtig, dass alles irdische Leid über ihn kommt, und er hält sich dessen noch für unwür­ dig476. Dasselbe gilt sogar im Hinblick auf die ewige Verdammnis: „Auch dunckt yn recht, das er ewiclichen vordampt sal [= soll] seyn vnd ioch [= sogar] eyn fußschemel sold seyn aller teufele yn der helle, vnd diß alles [(fühlt er sich)] noch vnwirdig, vnd wil ader mag keynes trostes ader erloßunge begern wider [= weder] von got noch von creaturen, sondern wil gerne vngetrost vnd vnerlost seyn [.,.].“477 Er glaubt nämlich, dass seine Verdammnis gerecht ist und dem Willen Gottes entspricht. Nur seine eige­ ne Schuld und Bosheit betrübt ihn zutiefst478. Dies ist nach der Ansicht des Autors „wäre ruwe [= Reue] vmmb [= über] die sunde“479. Der Verfasser greift also das Motiv der resignatio ad infernum auf, das sich unter an­ derem auch bei Tauler480 findet. Wie bei Tauler folgt auch in der theolo­ gia Deutsch1 auf die Selbsterniedrigung des Menschen dessen Erhöhung. Die resignatio ad infernum impliziert ja die völlige Aufgabe ichbezogener Interessen zugunsten eines unbedingten Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes. Gott nimmt einen Menschen, der zur resignatio ad infernum bereit 471 Vgl. ThD (H), Kap. 23,4-14, S. 101; vgl. auch Kap. 46,12-22, S. 140 sowie unten 7.4.3, S. 67. 472 Vgl. eckhart: DW 1, S. 92,7-9; Eckhart, DW 5, S. 187,lf.; S. 197,1-3. 473 Vgl. Tauler: Predigten, S. 9,28-10,16; S. 45,10f.; vgl. auch Leppin: Personkonstitution, S. 57f. 474 ThD (H), Kap. 16,48f„ S. 92; vgl. auch Kap. 24,25-27, S. 103. 475 Vgl. auch Mauff: Standpunkt, S. 36. 476 Vgl. ThD (H), Kap. 11,2-9, S. 84. 477 ThD(H), Kap. 11,9-13, S. 84. 478 Vgl. ThD (H), Kap. 11,13-17, S. 84. 479 ThD(H), Kap. 11,17, S. 84. 480 Vgl. Tauler: Predigten, S. 45,27-46,10; S. 205,13-206,5; S. 368,2-9; vgl. auch Gnädinger: Tauler, S. 281-286; Langer: Mystik, S. 383-385.

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ist, zu sich481: „Vnde wer also yn der czite yn die helle kumpt, der kumpt noch [= nach] der czite yn das hymmelrich vnd gewynnet seyn [= erlangt davon] yn der czeit eynen vorsmack [= Vorgeschmack], der vbirtrifft allen lüsten vnnd freude, die yn der czite von czitlichen dingen ye gewart [= wurde] ader werden mag.“482 Auf die Erkenntnis der eigenen Verdam­ mungswürdigkeit und die Bereitschaft zum Erleiden der ewigen Höllen­ strafe folgt also eine Erfahrung höchster himmlischer Freude, die auf die nach dem Tod bevorstehende ewige Seligkeit vorausweist. Wie der Verfas­ ser betont, überkommt die Erfahrung der zeitlichen Hölle und des zeitli­ chen Himmelreiches den Menschen, ohne dass dieser darauf selbst irgend­ einen Einfluss zu nehmen vermag483. Auch wenn der Autor die Unver­ fügbarkeit beider Erfahrungen hervorhebt, geht er aber wohl doch davon aus, dass sich der Mensch für sie disponieren kann und muss, indem er mit Gottes Hilfe seine Ichbezogenheit und seinen Eigenwillen verliert484. Dem Weg der Erleuchtung können die Aussagen des Verfassers zuge­ ordnet werden, die die Erleuchtung durch das wahre Licht beziehungs­ weise das Erkennen thematisieren. Jede wahre Erkenntnis gehört dem Autor zufolge allein Gott zu485, der das wahre Licht ist486. Gott kann nur von Gott selbst, also vom wahren göttlichen Licht, erkannt werden487. Ein Mensch gelangt somit nur dann zu wahrer Gotteserkenntnis, wenn Gott sich in diesem Menschen selbst erkennt488. Durch Gelehrsamkeit oder hohe natürliche Vernunft, also im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten, kann man nicht zum wahren Licht gelangen489. Der Mensch soll sich vielmehr von dem wahren göttlichen Licht erleuchten lassen. Je weniger er sich das Erkennen selbst anmaßt, je mehr er also das göttliche Licht wirken lässt, desto vollkommener wird seine Erkenntnis: „Vnd ßo sich des bekentniß die creature ye mynner an nympt, ßo eß ye volkommer wirt. [= Und je weniger sich die Kreatur die Erkenntnis anmaßt, desto vollkommener wird sie (die Erkenntnis).]“490 Im fünften Kapitel geht der Verfasser davon aus, dass ei­ nem Menschen, der glaubt, er erkenne selbst, bereits eine gewisse - wenn

481 Vgl. auch ThD (H), Kap. 11,28-31, S. 85. 482 ThD (H), Kap. 11,17-21, S. 84f.; vgl. auch Kap. 11,31-34, S. 85. 483 Vgl. ThD (H), Kap. 11,43-49.53, S. 85f. 484 Vgl. unten, S. 54f; vgl. auch ThD (H), Kap. 1 l,31f, S. 85. 485 Vgl. ThD (H), Kap. 5,6-9.15-24.27-29, S. 75f; Kap. 35,4-6, S. 119; Kap. 51,2430.57-59, S. 144f. 486 Vgl. ThD (H), Kap. 31,11, S. 114; Kap. 32,12.25.29-33, S. 116; vgl. auch oben 7.1, S. 27. 487 Vgl. ThD (H), Kap. 42,37.7lf., S. 133f. 488 Vgl. ThD (H), Kap. 32,12-23, S. 116; Kap. 43,1-5, S. 134. 489 Vgl. ThD (H), Kap. 19,1-4, S. 96. 490 ThD (H), Kap. 5,1 lf., S. 75.

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auch unvollkommene - Gotteserkenntnis möglich ist491. Für eine uneinge­ schränkte Gotteserkenntnis ist es notwendig, dass der Mensch von allem Geschaffenen, insbesondere auch von sich selbst, nichts hält: „Wan [= Denn] yn welcher creatur diß volkomen [= dieses Vollkommene] bekant sal werden [= erkannt werden soll], da muß creaturlicheit, geschaffenheit, ichtheit [= Etwas-Sein], selbheit vorloren werden vnd zu nichte.“492 Da der Verfasser, wie oben dargelegt, eine unvollkommene Gotteserkenntnis für möglich hält, gelten die hier und auch an weiteren Stellen493 apodiktisch formulierten Bedingungen für das Erkennen Gottes uneingeschränkt wohl nur für vollkommene Gotteserkenntnis. Nach den bisher dargestellten Aus­ sagen des Autors bildet somit die Reinigung von der Ausrichtung auf das Geschaffene und auf das eigene Ich die Voraussetzung für eine zunehmend vollkommenere Erkenntnis. Es finden sich in der ,Theologia Deutsch' aber auch Ausführungen, denen zufolge das wahre Erkennen dazu führt, dass der Mensch sich und das Geschaffene für nichts erachtet. Der Mensch kann dem Traktat zufolge erkennen, was das Beste in den Kreaturen ist und dass dieses seinen Ursprung in Gott, dem ewigen Guten, hat und auf Gott ver­ weist494. Erleuchtet von dem wahren Licht erkennt der Mensch, dass alles Gute Gott zugehört und der Mensch es sich nicht anmaßen darf495. „Wanne [= Wenn] so der wane [= das Wähnen/Meinen] vnd vnwissenheit zu eynem wissen vnd bekentniß [= Erkenntnis] der warheit wirt, so feilet das anne­ men [= Anmaßen] abe.“496 Dies gilt insbesondere auch für die Inanspruch­ nahme von Erkenntnis und Willen. Die Erkenntnis „sal [= soll] den willen leren vnd auch sich selber, das [= dass] wider [= weder] bekentniß [= Er­ kenntnis] ader wille von ym [= sich] selber ist, ader das [= dass] yr keynes seyne selbs ist ader seyn sol [= keiner von ihnen sich selbst gehört oder gehören soll], noch ym [= sich] selber sollen [= nützen] ader wollen sal, [...] sunder [= sondern] von dem sie synt, des synt sie auch [= dem gehören sie auch], vnd dem sollen sie gelaßen seyn vnd wider dar yn [= dahinein]

491 Vgl. Kap. 5,24-29, S. 76. Explizit ist in Kap. 5,25f. nicht davon die Rede, dass der Mensch meint, er erkenne Gott, sondern nur davon, dass er glaubt, er lobe oder liebe Gott. Der Kontext (vgl. Kap. 5,24.27) zeigt aber, dass die in der Mitte des Satzes weg­ gelassenen Glieder der Aufzählung gedanklich zu ergänzen sind. 492 ThD (H), Kap. 1,24-26, S. 72; vgl. auch Kap. 1,20-24.26-30, S. 72; Kap. 19,11-18, S. 96; Kap. 42,15-19, S. 132. 4,3 Vgl. ThD (H), Kap. 1,20-24.26-30, S. 72; Kap. 19,11-18, S. 96; Kap. 42,15-19, S. 132. 494 Vgl. ThD (H), Kap. 6,8-17, S. 76f.; Kap. 18,16-18, S. 95; Kap. 50,4-8, S. 143; vgl. auch im Anhang Kap. 53,58-69, S. 151. Zum Gedanken, dass das an sich nichtige Ge­ schaffene auf Gott als seinen Ursprung verweist, vgl. oben 7.1, S. 30f. 495 Vgl. ThD (H), Kap. 5,6-9.20-24.27f„ S. 75f.; Kap. 26,2-4, S. 105; Kap. 35,3-9, S. 119; Kap. 37,25-28, S. 122; Kap. 51,24-30, S. 144. 496 ThD (H), Kap. 5,27f„ S. 76.

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flissen, vnd werden an yn [= sich] selber czu nichte, das ist an yr selb­ heit“497. Der Mensch kann und soll also erkennen, dass er Erkenntnis und Willen nicht für sich selbst in Anspruch nehmen, sondern Gott überlassen soll. Wird schließlich Gott erkannt, so leitet das wahre Licht die Liebe im Menschen an, nur Gott zu lieben: „Aber wäre libe wirt geleret vnd geleitet von dem waren licht vnd bekentniß [= Erkenntnis], vnd das wäre, ewige vnd gotlich licht leret die libe nicht [= nichts] lieb han [= zu haben] den [= als] das wäre, einfeldige, volkumen gut, vnd vmmb nicht denn vmmb gut [= und um nichts als um des Guten willen] [,..].“498 Die Liebe des Men­ schen zu sich selbst und zum Geschaffenen wird auf diese Weise zu­ nichte499. Wo wahre Erkenntnis ist, gelangt der Mensch auch zu der Ein­ sicht, dass das Christusleben das beste und edelste ist500. Zusammenfas­ send lässt sich somit feststellen, dass die Reinigung von der Ausrichtung auf sich selbst und auf das Geschaffene teilweise als Folge wahren Erkennens, teilweise aber auch als Voraussetzung für wahres Erkennen angese­ hen wird. Der Verfasser geht also wohl davon aus, dass sich Reinigung und Erkennen wechselseitig bedingen. Da er davon spricht, dass auch einem ichbezogenen Menschen ein gewisses Maß an wahrer Erkenntnis möglich ist50 , kann man vermuten, dass nach der Ansicht des Autors im Prozess der zunehmenden Annäherung an die Vergottung jeweils das Er­ kennen vorausgeht, woraufhin der Mensch auf dem Weg der Reinigung von der Ichbezogenheit Fortschritte machen muss, die dann wiederum Voraussetzung für vollkommeneres Erkennen sind. Das alle Aspekte umfassende Leitbild für den Weg zur Vereinigung mit Gott ist das Leben Christi502. Christi Menschheit war ohne jede Selbstbezo­ genheit und überließ sich gänzlich Gott503. Wahre Erkenntnis führt den Menschen zu der Einsicht, dass das Leben Christi das beste und edelste ist504. Reinigung und Erleuchtung sind also auf das Vorbild Christi bezo­ gen. In Kapitel 23 schreibt der Verfasser: „[...] yn dem leben Cristi synt vnd worden [= wurden] die vor [= vorher] genanten wege behalden volliclich [= vollständig einbeschlossen], gentzlich biß yn [= an] das ende des 497 ThD (H), Kap. 51,25-30, S. 144; vgl. auch Kap. 32,29-34, S. 116. 498 ThD (H), Kap. 42,65-67, S. 134; vgl. auch Kap. 18,13-16, S. 95; Kap. 42,5-11, S. 132; Kap. 42,67-71, S. 134. 499 Vgl. ThD (H), Kap. 18,3-16, S. 95. Gemeint ist hier die Liebe zum Geschaffenen an sich, nicht die Liebe zum Geschaffenen in dem Einen und um des Einen willen. Vgl. dazu auch unten 7.4.3, S. 64f. 500 Vgl. ThD (H), Kap. 18,19-27, S. 95f. 501 Vgl. ThD (H), Kap. 5,24-27, S. 76; Kap. 41,5-46, S. 130f.; Kap. 42,47-64, S. 133f. 502 Vgl. Haas: Theologia, S. 346; Haas: Einleitung, S. 17; FLORIN: haß, S. 171. 503 Vgl. ThD (H), Kap? 15,23f„ S. 89; Kap. 24,1-7.15L2O-23, S. 103; Kap. 46,12-18, S. 140; vgl. auch oben 7.3, S. 42. 504 Vgl. ThD (H), Kap. 18,19-27, S. 95f.

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liplichen [= leiblichen] lebens. Dar vmmb czu dem liben, wonniclichen [= wonnevollen] leben Jesu Cristi ist keyn ander besser weg ader bereytunge dan [= als] das selbe leben, vnd sich dar ynne gevbet [= und sich darin zu üben], also vil als möglich ist [= soviel wie es möglich ist].“505 Das Leben Christi ist also zugleich Weg und Ziel506. Der Weg zur Vergottung besteht darin, das Leben als vergotteter Mensch, das sich pro­ totypisch in Christus verwirklichte, soweit wie möglich nachzuahmen. Je mehr dies gelingt, desto näher kommt man dem Ziel der Vergottung507. An einer Stelle spricht der Autor davon, dass auch der Empfang der Eucharistie zu einer am Vorbild Christi ausgerichteten Lebensweise fuhren kann: „Vnnd wer das [das Christusleben] enpheet [= empfängt] yn dem heiligen sacrament, der hat Cristum werlichen [= wahrhaft] vnd wol enpfangen, vnd so man seyn meher enpfet, ßo mer Cristus, vnd ßo des mynder, ßo mynder Cristus [= und je mehr man von ihm (dem Christus­ leben)508 empfängt, desto mehr Christus, und je weniger, desto weniger Christus].“509 Inwieweit man in der Eucharistie Christus wirklich emp­ fangt, zeigt sich also dem Traktat zufolge in den Auswirkungen auf die Lebensführung. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit der Mensch nach der Ansicht des Verfassers an dem bisher beschriebenen Weg zur Vergottung mitwirken kann. Da der Autor von der Heilsnotwendigkeit der Vergottung aus­ geht510, impliziert die genannte Frage auch die Frage nach der Mitwirkungsmöglichkeit des Menschen an seinem Heil. Der Verfasser be­ tont, dass dem Menschen bei seiner Erlösung, die in seiner Vergottung besteht, nur eine passive Rolle zukommt511: „Vnnd yn [= bei] disser widerbrengunge [= Erlösung] vnd besserunge enkan [= kann] ich ader enmagk [= vermag] ader ensal [= darf (ich)] nichts nicht zu dem thun [= überhaupt nichts dazu tun], sundern [= außer] eyn bloß, luter [= reines] leiden, also das [= derart, dass] got alleyne thu vnd wircke vnd ich leide yn vnd seyne werck vnd seynen willen.“512 Gott allein ist also der Handelnde. Die Seligkeit liegt, wie der Autor in Kapitel neun hervorhebt, „an keyner creatur ader creatur werck, sunder [= sondern] allein an got vnnd an sey505 ThD (H), Kap. 23,17-21, S. 101f.; vgl. auch Kap. 23,15f.21-25, S. lOlf. 506 Vgl. Haas: Theologia, S. 330; Florin: haß, S. 171. 507 Vgl. ThD (H), Kap. 45,5-11, S. 139. 508 Die gedankliche Struktur des unmittelbar vorangehenden Satzteils und der Kontext (vgl. u.a. ThD (H) Kap. 42,5f., S. 139) sprechen meines Erachtens für diese Interpretation. 509 ThD (H), Kap. 45,18-20, S. 139. 5,0 Vgl. ThD (H), Kap. 3,7-22, S. 73f.; vgl. auch oben 7.3, S. 41, sowie unten 7.4.2, S. 59. 511 Vgl. auch Haas: Theologia, S. 340, Anm. 82. 512 ThD (H), Kap. 3,23-26, S. 74.

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nen wercken“513. Menschliches Wissen, Können, Tun und Lassen514 vermögen nicht zur Vereinigung mit Gott zu verhelfen515. Die gedankliche Grundlage für die hier dargestellten Aussagen bildet die Ontologie des Verfassers, der zufolge alles Gute allein Gott zugehört, weil dieser als das vollkommen Gute das urbildliche Sein alles Guten ist516. Der Mensch kann somit nach der Ansicht des Verfassers keinen aktiven Beitrag zu seiner Vergottung leisten. Der Autor behauptet aber auch, dass der Mensch die Freiheit hat, mit seinem Willen das Wirken Gottes in ihm zu verhindern: „Vnd dar vmmb das [= weil] ich das [Gottes Werke und seinen Willen] nicht leiden wil, sundern meyn vnd ich vnd mir vnd mich, das hindert got, das [= dass] er nicht alleyne vnnd an [= ohne] hinderniß gewirken magk. Dar vmmb bleibet auch meyn fal vnd meyn abkeren vngebessert.“517 Bedingung der Möglichkeit der Vergottung ist daher, dass der Mensch den Willen hat, nicht selbst zu wollen, um dem Willen Gottes Raum zu ge­ ben518. Der Verfasser spricht zwar an einer Stelle davon, dass auch der Wille, nicht selbst zu wollen, ebenso wie alles Gute Gott allein zugehört519. Ob dieser Wille im Menschen wirkt, hängt aber der ,Theologia Deutsch* zufolge dennoch vom Menschen ab520. Will der Mensch ernsthaft seinen Eigenwillen aufgeben, so hilft ihm Gott auf dem oben beschriebenen Weg der Reinigung und Erleuchtung521. Der Autor greift in diesem Zusammen­ hang die scholastische Lehre522 auf, dass Gott demjenigen, der sich im Sinne des „facere quod in se est“ nach Kräften bemüht, seine Gnade nicht verweigert: „Vnd hette der mensch anders nicht [= nichts anderes] czu warten [= besorgen] und czu schicken [= tun], den [= als] das er der bereitunge wäre neme in allen dingen [= er sich ständig um die Bereitung kümmere], vnnd wie er bereitet wurde [= würde] yn der warheit523. Got solde [= würde] yn wol bereiten. Vnd got hat also [= so] großen fleiß vnd libe vnd ernst czu der bereitunge, also [= wie] czu dem yngiessen, wen er 513 ThD (H), Kap. 9,22f„ S. 82. 514 Gemeint ist hier das Unterlassen einzelner Handlungen, nicht Gottgelassenheit als existentielle Haltung. 515 Vgl. ThD (H), Kap. 27,5f.l3-19, S. 110. 516 Vgl. oben 7.1, S.26f. 517 ThD (H), Kap. 3,26-28, S. 74; vgl. auch Kap. 28,20-23, S. 111. 518 Vgl. auch ThD (H), Kap. 34,7-10, S. 119; Kap. 51,10-15.25-30.66-74, S. 144-146 sowie Haas: Theologia, S. 32lf.; 333. 519 Vgl. ThD (H), Kap. 10,5-15, S. 82f. Die Wendung „disßer begerung“ (Kap. 10,10) ist wohl auf die ganze Aussage in Kap. 10,5-11 zu beziehen. Vgl. dazu auch Abramowski: Bemerkungen, S. 88; Florin: haß, S. 174. 520 Vgl. ThD (H), Kap. 22,22-42, S. 100; Kap. 51,120-125, S. 147. 521 Vgl. ThD (H), Kap. 22,24-29, S. 100; Kap. 34,7-15, S. 119. 522 Vgl. Hauschild: Lehrbuch 1, S. 616. 523 An dieser Stelle wäre im Neuhochdeutschen ein Doppelpunkt anstatt des Punktes zu setzen.

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bereitet were.“524 Mit „yngiessen“ ist hier die Eingießung der Gnade ge­ meint525, ein Geschehen, das nach der Ansicht des Verfassers wohl mit der Vergottung gleichzusetzen ist. Die Bereitung für die Vergottung ist zwar ein Werk Gottes, der Mensch muss sich aber nach Kräften um sie bemü­ hen. Der Autor vergleicht im Anschluss an das oben angeführte Zitat die Bereitung mit dem Erlernen einer Kunst526. 527 Entscheidend ist in beiden Fällen, ob der Mensch „fliß [= Eifer] vnnd stete [= Beständigkeit]“ sowie „ernstliche begirde czu dem ende [= Ziel]“528 hat. Trifft dies zu, so gelangt er zum Ziel der Vergottung. Andernfalls bleibt er unbereitet, was dann „werlich [= wahrhaft] seyne schult“529 ist530. Auch wenn die vom Verfasser verwendeten Formulierungen teilweise den Eindruck erwecken, der Mensch selbst solle aktiv handelnd an seinem Weg zur Vergottung mitwirken531, so machen die oben dargestellten inhaltlichen Aussagen über Reini­ gung und Erleuchtung doch deutlich, dass das vom Menschen geforderte „facere quod in se est“ nach der Ansicht des Autors gerade darin besteht, dass der Mensch - dem Vorbild des Lebens Christi folgend - danach strebt, sein Ich preiszugeben und nicht selbst zu wollen, um sich Gottes Wirken zu überlassen. Die Mitwirkung des Menschen besteht also ähnlich wie bei Tauler532 im Verzicht auf eigenes Wirken. Dieser Verzicht auf eigene Aktivität wird mit der ewigen Seligkeit belohnt: „Aber danck habe der mensch vnd ewigen lone vnd selikeit, der do czu [= dazu] taug [= taugt] vnnd bereit ist vnde gestatet, das er eyn huß [= Haus] vnd eyn wonunge ist der ewigen gute [= Güte] vnd gotheit, das sie yren [= ihre] gewalt, willen vnd wercke yn ym gehaben magk an [= ohne] hindersal [= Hindernis].“533 Der Mensch ist somit am Weg zu seiner Vergottung nur passiv beteiligt, aber gerade in dem willentlichen Passiv-Werden besteht seine Mitwirkung, die von Gott belohnt wird. Insgesamt lassen sich in den Aussagen über den Anteil des Menschen an seinem Weg zur Vergottung zwei verschiedene Intentionen erkennen, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen534: Einerseits ist der 524 525 526 527 528 529 530 531 15, S. 532

ThD (H), Kap. 22,25-29, S. 100. Vgl. Hermelink: Text, S. 15; Haas: Theologia, S. 339, Anm. 82. Vgl. ThD (H), Kap. 22,30-37, S. 100; vgl. auch Hermelink: Text, S. 15. ThD (H), Kap. 22,38f„ S. 100. ThD (H), Kap. 22,39, S. 100. ThD(H), Kap. 22,25, S. 100. Vgl. ThD (H), Kap. 22,22-29.38-42, S. 100. Vgl. ThD (H), Kap. 22,25-27.30-37, S. 100; Kap. 23,18-21, S. 101T; Kap. 34,13119. Vgl. Tauler: Predigten, S. 306,1-8; vgl. auch Gnädinger: Tauler, S. 299-301; LEPPIN: Tauler, S. 746; Leppin: Personkonstitution, S. 58; 62. 533 ThD (H), Kap. 17,11-14, S. 94. 534 Vgl. auch Mauff: Standpunkt, S. 31.

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Autor bestrebt, den ganzen Weg zur Vergottung allein Gott zuzuschrei­ ben535, weil nach seiner Ontologie alles Gute allein Gott zugehört. An­ dererseits will er daran festhalten, dass die Verantwortung für Heil oder Unheil allein beim Menschen liegt: „Nu ist der mensch yn der czeit czwischen hymmelrich vnd der helle vnd mag sich keren [= wenden], czu wel­ chem er wil.“536 7.4.2 Die Vereinigung mit Gott

Wie oben bereits erwähnt, führt Gehorsam, also die Bereitschaft, sich ohne jede Selbstbezogenheit Gott zu überlassen, unmittelbar zur Vergottung537. Je mehr der Mensch sein Ich aufgibt, desto mehr geht Gott mit seinem Ich in ihn ein538. Der Mensch vermag dem in Christus realisierten Ideal wahren Gehorsams so nahe zu kommen, dass er zu Recht als göttlich oder vergot­ tet bezeichnet werden kann539. Die Vereinigung mit Gott definiert der Ver­ fasser im 27. Kapitel wie folgt: „Was ist nu die eynung? Nichts anders, den [= als] das man luterlichen [= rein] vnd einfeldiclichen [= in einer der Einigkeit entsprechenden Weise] vnd gentzlichen yn der warheit eynfeldig [= einig] sey mit einfeldigen, ewigen willen gotis ader joch [= auch] czumal an [= ohne] willen sey vnd der geschaffen wille geflossen sey yn den ewigen willen vnd dar jnne vorsmelczet sey vnd czu nichte worden, also [= so] das der ewige wille allein do selbist welle [= wolle] thun vnd laße [= lassen].“540 Die Vereinigung mit Gott vollzieht sich also dadurch, dass der menschliche Wille mit dem göttlichen in der Weise eins wird, dass im Menschen nunmehr allein der ewige göttliche Wille wirkt. Für den Men­ schen bedeutet dies „ein Nicht-Wollen, das identisch ist mit Alles-Wollen (was Gott will)“541. Der menschliche Wille geht auf diese Weise im göttli­ chen auf542. Um die Willenseinheit zu veranschaulichen, verwendet der Autor auch folgenden Vergleich: Der Mensch soll für Gott das werden, was für den Menschen seine Hand ist543. Dieses Bild verdeutlicht einer­ seits, dass der vergottete Mensch ein selbst willenloses Werkzeug Gottes

535 Vgl. auch ebd. S. 36. 536 ThD (H), Kap. 51,120f„ S. 147; vgl. auch Kap. 51,121-125, S. 147 sowie Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 163. 537 Vgl. oben 7.4.1, S. 47-49. 538 Vgl. ThD (H), Kap. 16,48f., S. 92; vgl. auch Kap. 24,25-27, S. 103. 539 Vgl. ThD (H), Kap. 16,70-75, S. 93; vgl. auch oben 7.3, S. 44f. 540 ThD (H), Kap. 27,7-12, S. 110; vgl. auch Kap. 24,1-7, S. 102; Kap. 51,44-48, S. 145). 541 Haas: Theologia, S. 333. 542 Vgl. auch Florin: haß, S. 170. 543 Vgl. ThD (H), Kap. 10,9-11,S. 82; vgl. auch im Anhang Kap. 53,89-91, S. 152f.

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wird, es weist andererseits aber auch auf die dadurch gegebene Einheit von Gott und Mensch hin, da die Hand ja Bestandteil des Körpers ist544. Im 51. Kapitel bringt der Verfasser die Willenseinheit auf spezifische Weise mit dem Gedanken der Freiheit in Verbindung. Nur wenn ein Mensch den göttlichen Willen ungehindert in sich wirken lässt, bleibt die edle Freiheit des göttlichen Willens gewahrt545. Aufgrund dieser Freiheit des in ihm wirkenden Willens kann dann auch der Mensch als frei bezeich­ net werden: „Wo vnd yn welchem menschen der wille nicht geeygent [= angeeignet/zu eigen gemacht] wirt, sundern das er bleibet yn seyner edeln freiheit, da wirt vnd ist eyn wäre, frey, ledig [= freier] mensch adder creatur [...].“546 Wahre Freiheit des Menschen bedeutet also nicht Freiheit des menschlichen Wollens, sondern Freiheit des im Menschen wirkenden göttlichen Willens547. Eine solche, aus der Willenseinheit mit Gott resultie­ rende Freiheit verwirklichte sich in vollkommener Weise in Christus, dem Prototyp des vergotteten Menschen548. Nach der Ansicht des Autors ist die Vergottung, verstanden als Willens­ einheit mit Gott, ein dauernder, das gesamte irdische Dasein umfassender Zustand549. Die Vereinigung mit Gott findet im inneren Menschen statt, der fortan unbeweglich in der Vereinigung steht550. Äußere Aktivitäten sind jedoch, wie der Verfasser betont, weiterhin notwendig: „[...] wan [= denn] der mensch muß ioch [= auch] etwan [= bisweilen] etwas thun vnd czu schicken [= schaffen] han [= haben], die wiele [= solange] er lebet.“551 Der äußere Mensch richtet sich von nun an in seinem Handeln allein nach dem ewigen Willen Gottes: „Vnnd [(es)] hat der außer mensch kein war ummb [= Warum] ader gesuch [= Bestreben], sunder [= außer] allein dem ewigen willen genug czu seyn.“552 Die Willenseinheit umfasst somit sowohl das Innere des vergotteten Menschen als auch sein Wirken nach außen. ln Kapitel 41 spricht der Verfasser davon, dass die Liebe den Menschen dauerhaft mit Gott vereinige553. Auch bei der Beschreibung des vergotteten

544 Vgl. Haas: Theologia, S. 326, Anm. 50. Zum traditionsgeschichtlichen Hinter­ grund des verwendeten Bildes vgl. ebd. S. 326-329, Anm. 50. 545 Vgl. ThD (H), Kap. 51,80-85, S. 145; vgl. auch Kap. 51,44-48.59-74, S. 145f. 546 ThD (H), Kap. 51,90-93, S. 146. 547 Vgl. auch ThD (H), Kap. 51,107-112, S. 147. 548 Vgl. ThD (H), Kap. 51,101-106, S. 146; vgl. auch oben 7.3, S. 40f. 549 Vgl. Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 162; Cognet: Geburt, S. 196; Florin: haß, S. 171. 550 Vgl. ThD (H), Kap. 28,1 f.9-11, S. 110f.; vgl. auch Florin: haß, S. 172. 551 ThD (H), Kap. 27,3-5, S. 109f.; vgl. auch Kap. 27,1-3.19-22, S. 109 sowie Haas: Theologia, S. 331. 552 ThD (H), Kap. 28,8f„ S. 111; vgl. auch Kap. 28,3-8.9-14, S. 110T; Kap. 39,37-39, S. 125. 553 Vgl. ThD (H), Kap. 41,40-46, S. 131.

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Menschen spielt die Liebe eine wichtige Rolle554. Ein solcher Mensch ist „entbrant mit ewiger vnd gotlicher libe“555. ln ihm liebt Gott, das vollkom­ mene Gute, sich selbst556. Auch wenn in Aufzählungen bisweilen Wille und Liebe nebeneinander genannt werden557, kann man wohl doch davon ausgehen, dass die Liebe nach der Ansicht des Autors, wie in der damali­ gen Diskussion üblich558, zum Bereich des Willens gehört559. Die Willens­ einheit mit Gott impliziert daher, dass auch das Lieben des Menschen von Gott bestimmt ist. Bei der Beschreibung der Vereinigung mit Gott hebt der Verfasser die Rolle des Willens stark hervor. Er nimmt aber durchaus an, dass die ganze Seele des Menschen mit Gott vereinigt wird560. Gott allein soll in der Seele sein561. So geht auch das Erkennen des vergotteten Menschen auf Gottes Wirken zurück: Ein solcher Mensch ist „durchluchtet vnd durchglantzet [...] mit dem ewigen ader gotlichen lichte“562. Im neunten Kapitel spricht der Verfasser davon, dass das Eine, nämlich Gott, nicht in die Seele zu kommen braucht, weil es bereits in ihr ist: „Auch darff [= braucht] das [das Eine] nicht yn die sele kommen, wann [= weil] es bereite [= bereits] dar jnne ist. Eß ist aber vnbekant. Wann [= Wenn] man spricht, man sal [= soll] dar czu kommen ader eß sal yn die sele kommen, das ist also vil [= heißt das], man sal eß suchen, enpfinden vnd smecken [.,.].“563 Der Gedanke, dass das Eine in der Seele jedes Men­ schen ist und in ihr wahrgenommen werden kann, entstammt neuplatoni­ schem Denken564. Anders als bei Eckhart565 und Tauler566 spielt dieser Ge­ danke in der .Theologia Deutsch1 aber keine große Rolle. 554 Vgl. auch unten 7.4.3, S. 63-65. 555 ThD (H), Kap. 41,3, S. 130. 556 Vgl. ThD (H), Kap. 43,1-24, S. 134f.; vgl. auch unten 7.4.3, S. 64. 557 Vgl. ThD (H), Kap. 32,25-27, S. 116; Kap. 51,57-59, S. 145. 558 Vgl. etwa Tauler: Predigten, S. 333,7f.; vgl. auch Largier: Kommentar 1, S. 846T; Ruh: Geschichte 3, S. 345. 559 Zu dieser Schlussfolgerung kann man gelangen, wenn man die Aussagen in ThD (H), Kap. 41,1-4, S. 130, und Kap. 51,16-18, S. 144, zueinander in Beziehung setzt. Vgl. auch Mauff: Standpunkt, S. 24. Zudem werden die Verben .wollen' und ,lieben' in ThD (H), Kap. 32,35, S. 116, offenbar als Synonyme gebraucht. 560 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 5,10-19, S. 75f.; Kap. 9,13f„ S. 81; Kap. 24,25-27, S. 103; Kap. 45,9-11, S. 139; Kap. 51,57-61, S. 145. 561 Vgl. ThD(H), Kap. 9,13f„ S. 81. 562 ThD (H), Kap. 41,2f„ S. 130; vgl. auch Kap. 5,6-9, S. 75; Kap. 43,1-5.25-27, S. 134f. 563 ThD (H), Kap. 9,17-19, S. 81; vgl. auch Kap. 1,18-26, S. 72. 564 Vgl. Haas: Theologia, S. 316, Anm. 19; S. 333. Zu dem auf Proklos zurückgehen­ den Begriff des „Einen in uns“ vgl. Beierwaltes: Begriff. 565 Vgl. Largier: Kommentar 1, S. 763-772. 566 Vgl. Gnädinger: Tauler, S. 181-191; Leppin: Personkonstitution, S. 61 f.

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Die Vergottung, verstanden im Sinne einer dauernden, das ganze Leben umfassenden Einheit mit Gott, ist der ,Theologia Deutsch4 zufolge heils­ notwendig. Wie oben bereits erwähnt567, muss sich nach der Ansicht des Verfassers das Geschehen der Vergottung des Menschen, das sich in Christus prototypisch verwirklichte, im einzelnen Menschen wiederholen, damit dieser erlöst wird568. Wer nach seinem Eigenwillen handelt, kann nicht selig werden569, da jeder Eigenwille Sünde ist570. Je mehr jemand sei­ nen Eigenwillen aufgibt, um Gott in sich wirken zu lassen, desto näher kommt er dem Himmelreich: „[...] so mynner [= je weniger] eygenswillen, so mynder [= desto weniger] helle vnd neher dem hymmelriche**571. Könnte der Mensch völlig ohne Eigenwillen und Selbstbezogenheit sein und bleiben, so wäre ihm nach der Meinung des Autors das Himmelreich sicher572. Wie die oben zitierte Aussage zeigt, muss der Mensch diesem Ideal wenigstens nahe kommen, damit er gerettet wird. In der ,Theologia Deutsch* werden neben der dauernden Vereinigung mit Gott auch zeitlich begrenzte Erfahrungen beschrieben, die man nach der mystischen Tradition als unio-Erfahrungen bezeichnen könnte. So spricht der Autor von einem „blick yn dy ewikeit“573, durch den der Mensch einen „vorsmack [= Vorgeschmack] ewiges lebens vnnd ewiger selikeit“574 empfangen könne. Die These, dass dem Menschen ein solcher Blick in die Ewigkeit möglich ist, belegt der Verfasser durch ein Zitat von Pseudo-Dionysius Areopagita575. Der Autor beruft sich außerdem auf die Meinung eines bislang nicht identifizierten576 Meisters. Dieser behauptete in einem Pseudo-Dionysius-Kommentar, der Mensch könne dazu gelangen, dass er so oft in die Ewigkeit blickt, wie er will577. Wie oben bereits erwähnt578, betont der Verfasser der ,Theologia Deutsch* im siebten Kapitel, dass der Mensch anders als Christus nicht zugleich in die Zeit und in die Ewigkeit zu blicken vermag579. Der Autor verwendet hierbei das Bild von den zwei Augen der Seele. Während bei

567 Vgl. oben 7.3, S. 41. 568 Vgl. ThD (H), Kap. 3,15-22, S. 74; vgl. auch ThD (H), Kap. 9,13f„ S. 81. 569 Vgl. ThD (H), Kap. 51,66-74.121 f„ S. 145-147. 570 Vgl. oben 7.2, S. 34f. 571 ThD (H), Kap. 51,122f„ S. 147; vgl. auch Kap. 16,44-48, S. 92. 572 Vgl. ThD (H), Kap. 51,123-125, S. 147. 573 ThD (H), Kap. 8,2, S. 79; vgl. auch Kap. 7,24f.29.33, S. 78f. 574 ThD (H), Kap. 8,3, S. 79. 575 Vgl. ThD (H), Kap. 8,11-17, S. 79f. 576 Vgl. Haas: Theologia, S. 329, Anm. 51. Unzutreffend Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 462. 577 Vgl. ThD (H), Kap. 8,19-22, S. 80. 578 Vgl. oben 7.3, S. 44. 579 Vgl. ThD (H), Kap. 7, S. 77-79; vgl. auch Kap. 8,3-9, S. 79.

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Eckhart, der in ähnlicher Weise von zwei Augen der menschlichen Seele spricht,580 die beiden Augen ihre Aufgabe gleichzeitig erfüllen können, behauptet der Verfasser der ,Theologia Deutsch1, dass dies nicht möglich ist581. Damit das rechte Auge in die Ewigkeit blicken kann, muss sich das linke, das den Menschen bei seinem Handeln in der Zeit leitet582, so ver­ halten, „als ab [= ob] eß tod sey“583. Die Schau Gottes ist also nur möglich, solange sich der Mensch zur Kontemplation zurückzieht. Der Erfahrung höchster himmlischer Freude, die auf das ewige Himmel­ reich vorausweist, muss die in Kapitel 11 beschriebene resignatio ad infer­ num vorangehen584. Die während des irdischen Lebens mögliche Erfahrung des Himmelreiches kann dem Autor zufolge dann wiederum durch die Er­ fahrung der zeitlichen Hölle abgelöst werden. Während seines Lebens kann der Mensch „gar dicke [= sehr oft] auß eynem yn das ander fallen“585, wo­ bei dies sogar mehrmals innerhalb eines Tages geschehen kann586. Wie der Verfasser betont, überkommt die Erfahrung der zeitlichen Hölle oder des zeitlichen Himmelreiches den Menschen, ohne dass dieser darauf selbst irgendeinen Einfluss zu nehmen vermag587. Solange ein Mensch die zeitli­ che Hölle erfährt, vermag er nicht zu glauben, dass er jemals erlöst wird588. Wenn er hingegen die Freude des zeitlichen Himmelreiches erfahrt, hält er es für unmöglich, dass er einmal keinen Trost findet589. Mit Hölle und Himmelreich in der Zeit sind „Momente besonders intensiver Erfah­ rung“590 gemeint, die nur möglich sind, solange sich der Mensch zur Kon­ templation zurückzieht.591 Wenn der Mensch dann wieder in der Welt han­ delt, soll er sich dieser Erfahrungen bewusst bleiben592. Sowohl in der Erfahrung der zeitlichen Hölle als auch in der des zeitlichen Himmelrei­ ches weiß sich ein Mensch, der Gott gehorsam ist, eines Willens mit Gott. Daher kann er „yn der helle also sicher seyn also [= wie] yn dem hymmel­ rich“593. Der Verfasser stellt fest: „Disse helle vnd diß hymmelrich seyn czwen [= zwei] gut, sicher wege dem menschen yn der czite, vnd wol ym, 580 Vgl. Eckhart: DW 1, S. 165,4-8; vgl. auch Eckhart: DW 2, S. 30,1-4. 581 Vgl. ThD (H), Kap. 7,27-29, S. 78; vgl. auch Haas: Theologia, S. 334-336, besonders Anm. 75; Anm. 78; Haas: Einleitung, S. 19. 582 Vgl. ThD (H), Kap. 7,25-27.3lf., S. 78f. 583 ThD (H), Kap. 7,30f„ S. 78. 584 Vgl. ThD (H), Kap. 11,1 f. 17-21.28-34.39-42, S. 84-86; vgl. auch oben 7.4.1, S. 49f. 585 ThD (H), Kap. 11,52, S. 86. 586 Vgl. ThD (H), Kap. 11,51-53, S. 86. 587 Vgl. ThD (H), Kap. 11,43-49.53, S. 85f; vgl. auch oben 7.4.1, S. 50. 588 Vgl. ThD (H), Kap. 1 l,21-27.37f„ S. 85. 589 Vgl. ThD (H), Kap. 11,19-21.28-34.39T, S. 84f. 590 Florin: haß, S. 186. 591 Vgl. ThD (H), Kap. 11,53-56, S. 86; vgl. auch Florin: haß, S. 186f. 592 Vgl. ThD (H), Kap. 1 l,55f„ S. 86. 593 ThD (H), Kap. 11,50f., S. 86; vgl. auch Florin: haß, S. 186.

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der sie recht vnd wol findet, wanne [= denn] diße helle vorgehet, das hym­ melrich bestet.“594 Nicht nur die Erfahrung himmlischer Freude, sondern auch die der zeitlichen Hölle in der resignatio ad infernum gehören also zum Leben des Menschen, der dem göttlichen Willen gehorsam ist595. Erst mit dem Tod endet die Erfahrung der irdischen Hölle definitiv und der Mensch gelangt in das ewige Himmelreich. ln dem vom Autor angeführten Pseudo-Dionysius-Zitat wird zwar die Schau Gottes mit der „eynunge“ gleichgesetzt596, der Verfasser selbst be­ zeichnet aber solche zeitlich begrenzten Erfahrungen nie als Vereinigung mit Gott. Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis nach der Ansicht des Autors diese punktuellen Erfahrungen zu der dauerhaften Vereinigung mit Gott stehen. Der Verfasser selbst thematisiert diese Frage nicht expli­ zit. Nach der Interpretation des Autors, der den Anhang anfügte, haben die Momente der Schau Gottes die Funktion, den Menschen zur dauerhaften Vergottung zu bewegen597. Bei dieser Deutung ging der Verfasser des An­ hangs wohl von der zutreffenden Beobachtung aus, dass zeitlich begrenzte Erfahrungen nur am Anfang des Traktats erwähnt werden. Allerdings dürf­ te seine Interpretation dennoch nicht der Auffassung des Autors des Haupt­ textes entsprechen, da nach dessen Ansicht ein Mensch nur dann zur Schau Gottes gelangen kann, wenn er Voraussetzungen erfüllt, die auch eine zeit­ lich unbeschränkte Vereinigung ermöglichen598, ln der Forschung wurde das Verhältnis von dauernder Vergottung und den zeitlich beschränkten Erfahrungen himmlischer Glückseligkeit auf verschiedene Weise be­ stimmt. Mauff vertrat die Meinung, dass für den Verfasser der ,Theologia Deutsch1 die Momente der Ewigkeitsschau das „höchste Ideal in diesem Leben“599 darstellen. Diese Momente stünden daher noch eine Stufe über der ständigen Vereinigung mit Gott, wobei der Autor aber das Wirken in der Welt nicht völlig aus den Augen verliere600. Wentzlaff-Eggebert und Florin betonten, dass die dauernde Vergottung des Menschen das zentrale Anliegen des Verfassers bilde601. Florin verwies zudem auf die „Schwie­ rigkeiten der Interpretation, die sich aus dem Eklektizismus der ThD ergeben“602. Haas schließlich unterschied nicht deutlich zwischen den Aus­ sagen, die sich auf die dauernde Vereinigung mit Gott, und denen, die sich 594 ThD (H), Kap. 11,34-36, S. 85. 595 Vgl. auch ThD (H), Kap. 10,22-29, S. 83. 596 Vgl. ThD (H), Kap. 8,12-17, S. 79f. 597 Vgl. ThD (H), Kap. 53,16-21, S. 150. 598 Vgl. ThD (H), Kap. 8,7-9, S. 79; Kap. 11,31-34, S. 85. Zu den Bedingungen für die dauernde Vergottung vgl. oben 7.4.1, S. 47-49. 599 Mauff: Standpunkt, S. 45. 600 Vgl. ebd. S. 45-47. 601 Vgl. Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 162; Florin: haß, S. 171; 187. 602 Florin: haß, S. 187.

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auf zeitlich begrenzte Erfahrungen beziehen. Die These, dass der Mensch nicht zugleich in die Zeit und in die Ewigkeit blicken könne, stellt nach der Ansicht von Haas die Einheit des in der Welt handelnden Menschen mit Gott in Frage603. Meines Erachtens trifft die Beobachtung zu, dass das zentrale Anliegen des Autors die dauernde, das gesamte irdische Dasein umfassende Vergottung des Menschen ist. Sie steht im Mittelpunkt der meisten in dem Traktat enthaltenen Ausführungen. Die zeitlich beschränk­ ten Erfahrungen himmlischer Glückseligkeit werden hingegen von Kapitel 12 an nicht mehr erwähnt. Da der Verfasser solche Erfahrungen nicht als Vereinigung mit Gott bezeichnet und ihre im Unterschied zur Vergottung begrenzte Dauer betont, scheint er deutlich zwischen der Vereinigung mit Gott und punktuellen Erfahrungen, die einem vergotteten Menschen zu­ sätzlich möglich sind, zu unterscheiden. Die Willenseinheit mit Gott soll dem Traktat zufolge das gesamte irdische Dasein umfassen, der Blick in die Ewigkeit ist hingegen nur möglich, solange sich der Mensch zur Kon­ templation zurückzieht. Die Willenseinheit setzt somit nicht den ständigen Blick in die Ewigkeit voraus. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die dauernde, vor allem als Willensvereinigung beschriebene Vergottung des Menschen das zentrale Anliegen des Autors ist. Man kann daher von einer „Suprematie des Wil­ lens in der mystischen Erfahrung“604 sprechen. Indem der Verfasser den voluntativen Aspekt der Vereinigung mit Gott stark hervorhebt, setzt er einen für ihn charakteristischen Akzent605. Bemerkenswert ist schließlich, dass die Vorstellung von der Gottesgeburt in der Seele im Haupttext des Traktats überhaupt nicht vorkommt. Sie wird nur in dem wohl von einem anderen Autor stammenden Anhang kurz angedeutet606.

7.4.3 Das Leben des vergotteten Menschen

Wie aus den vorangegangenen Ausführungen hervorgeht, wirkt dem Trak­ tat zufolge in einem vergotteten Menschen nur Gott selbst. Im Folgenden soll nun dargestellt werden, welche konkreten Folgen die Vergottung nach der Ansicht des Verfassers für das Leben eines Menschen hat. Das vollkommene Modell für das Leben eines vergotteten Menschen ist, wie bereits erwähnt607, das irdische Leben Christi608. Weil ein Leben nach Vgl. Haas: Theologia, S. 335, Anm. 77; S. 347; Haas: Einleitung, S. 19. Haas: Theologia, S. 325, Anm. 49. Vgl. Cognet: Geburt, S. 195f.; Haas: Theologia, S. 316, Anm. 19; S. 325, Anm. 49. Vgl. ThD (H), Kap. 53,13-15, S. 150; vgl. auch Mauff: Standpunkt, S. 17; 37; Cognet: Geburt, S. 194. 607 Vgl. oben 7.3, S. 40f„ und 7.4.1, S. 52f. 608 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 18,1-5.19-27, S. 95f.; Kap. 29,14-27, S. 112; Kap. 40,118-121, S. 130; Kap. 43,52-56, S. 136; Kap. 45,1-11, S. 139; Kap. 51,131-135, 603 604 605 606

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dem Vorbild Christi „das beste vnd das edelste“609 ist, kann es auf Erden kein besseres geben610. Da Christus während seines Lebens menschliche Empfindungsfahigkeit besaß, geht diese auch bei einem vergotteten Menschen nicht verloren. Weil in einem solchen Menschen aber allein der göttliche Wille wirkt, ist ebenso wie bei Christus nur noch das, was Gott missfällt, also die Sünde, Ursache des Leidens, während der weiterhin wahrgenommene Schmerz über das, was dem Menschen zuwider ist, nichtig wird611. In einem vergot­ teten Menschen empfindet also Gott selbst Schmerz über die Sünde612. We­ gen der allgemeinen Verbreitung der Sünde leidet ein vergotteter Mensch während seines ganzen Lebens: „Aber die clage vnd der jammer, der vmmb die sunde ist, der sal [= soll] vnd muß hüben biß yn den liplichen [= leiblichen] todt an [= in] eynem vorgotten [= vergotteten] menschen.“613 Dieser Schmerz über die Sünde ist für einen vergotteten Menschen schlim­ mer als hundert schreckliche Tode614. Sein Leben ist somit durch ständiges, äußerst schmerzhaftes Leid geprägt, das durch die Verbreitung der Sünde verursacht wird. Bei dem Frieden, den Christus nach Joh 14,27 seinen Jüngern verheißen hat, handelt es sich nach der Meinung des Verfassers nicht um einen Zu­ stand völliger Leidlosigkeit615. Gemeint ist vielmehr ein innerlicher Friede, „der da durch brech [= durchbrechen möge] vnd durch drunge [= durch­ dringen möge] durch alle anfechtunge vnd widirwertikeit, druckes [= Be­ drängnis], lidens, elendes ader smacheit [= verächtliche Behandlung], ader was des ist [= oder was dergleichen ist], das man dar ynne frolich vnd ge­ duldig were“616. Ein solcher Friede, der ein geduldiges Ertragen von Leid ermöglicht, findet sich in einem vergotteten Menschen. Ein weiteres Kennzeichen eines vergotteten Menschen ist nach der An­ sicht des Autors die wahre Liebe, die Gott im Menschen hervorruft. Ein S. 147; vgl. auch Haas: Theologia, S. 342f.; Haas: Einleitung, S. 17f; Florin: haß, S. 171. 609 ThD (H), Kap. 18,19f„ S. 95; vgl. auch Kap. 29,22f.25f„ S. 112; Kap. 43,52-56, S. 136; Kap. 45,3f., S. 139. 610 Vgl. ThD (H), Kap. 18,1-3, S. 95; Kap. 29,14-27, S. 112; Kap. 45,11, S. 139. 611 Vgl. ThD (H), Kap. 16,73-75, S. 93; Kap. 24,8-19, S. 102f.; Kap. 29, S. Ulf.; Kap. 37,1-4.13-17, S. 121f; Kap. 43,31 f.48-51, S. 135£; Kap. 51,47-55.98-101, S. 145f.; vgl. auch Haas: Theologia, S. 331; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 46lf sowie oben 7.3, S. 42f. 612 Vgl. ThD (H), Kap. 24,10-19, S. 102f; Kap. 37,1-14, S. 121f; Kap. 51,47-55, S. 145. 613 ThD (H), Kap. 37,15-17, S. 122; vgl. auch Kap. 26,70-72, S. 108; Kap. 37,1-3, S. 121f; Kap. 43,39-42, S. 135. 614 Vgl. ThD (H), Kap. 43,39-44, S. 135; vgl. auch Kap. 16,73-75, S. 93. 615 Vgl. ThD (H), Kap. 12, S. 86f. 616 ThD (H), Kap. 12,8-11, S. 87.

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vergotteter Mensch liebt allein Gott: „Vnd wo das wäre licht yn eym men­ schen ist vnd die wahre liebe, da wirt anders nicht [= nichts anderes] lieb gehabt den [= als] allein got.“617 Da diese wahre Liebe auf Gottes Wirken zurückgeht, spricht der Verfasser ebenso wie Tauler618 auch davon, dass Gott sich in einem vergotteten Menschen selbst liebt619. Um mögliche Be­ denken gegen diese Vorstellung auszuräumen, betont der Autor, dass Gott sich nicht aus Selbstbezogenheit selbst liebt, sondern weil er das vollkom­ men Gute ist620. Diese Behauptung veranschaulicht der Verfasser anhand einer hypothetischen Konstellation: Gäbe es etwas Besseres als Gott, so würde Gott das und nicht sich selbst lieben621. In einem vergotteten Men­ schen wird also Gott als das vollkommen Gute nur um des Guten willen geliebt622. Gemäß der vom Autor übernommenen neuplatonischen Ontolo­ gie ist Gott als das eine, vollkommen Gute alles Gute, weil er das urbildli­ che Sein von allem Guten ist623. Die Liebe zu Gott schließt daher die Liebe zu allem Guten mit ein. In dem Einen, nämlich in Gott, „wirt alles gut gelibet als eyn gut, als [= wie] man spricht: alles yn eyme als eyne vnd eyn yn allem als alle [= alles], vnd eyn vnd alle gut gelibet durch das eyne yn dem eynen vnd dem eynen czu libe von der libe, die man czu dem eynen hat“624. Wer alles Gute liebt, der liebt dem Traktat zufolge alles, „das gutenn namen yn der warheit hat, als [= wie] togent [= Tugend], ordenunge, redelikeit [= Vernünftigkeit], gerechtikeit, warheit vnd des glich [= des­ gleichen]“625. Als allumfassendes Leitbild für das gesamte Leben wird in einem vergotteten Menschen das Leben Christi geliebt626. Der Verfasser verbindet auf diese Weise seine neuplatonisch geprägten Aussagen über den Gegenstand wahrer Liebe mit dem Gedanken der Nachahmung Christi627. Die Liebe zu allem Guten impliziert nach der Ansicht des Autors auch die Liebe zu allem, was ist, da das Dasein von allem, was ist, gut ist628. Alles Geschaffene wird dabei nicht an sich, sondern in dem Einen und um 617 ThD (H), Kap. 46,29f., S. 141; vgl. auch Kap. 15,11-14, S. 89; Kap. 32,41-43, S. 117; Kap. 42,65-67, S. 134; Kap. 43,16-20, S. 135; Kap. 46,24-30, S. 140f. 6.8 Vgl. Tauler: Predigten, S. 258,2f.; S. 41 l,24f. 6.9 Vgl. ThD (H), Kap. 43,1-3, S. 134. 620 Vgl. ThD (H), Kap. 32,45f„ S. 116; Kap. 43,1-10, S. 134. 621 Vgl. ThD (H), Kap. 32,46f„ S. 117; Kap. 43,11-13, S. 135. 622 Vgl. ThD (H), Kap. 32,42-45, S. 116f.; Kap. 42,71, S. 134. 623 Vgl. oben 7.1, S. 26f. 624 ThD (H), Kap. 43,19-22, S. 135; vgl. auch Kap. 43,45-47, S. 136; Kap. 46,23f.3O32, S. 140f. 625 ThD (H), Kap. 43,47f„ S. 136; vgl. auch Kap. 40,120f„ S. 130. 626 Vgl. ThD (H), Kap. 18,19-22, S. 95; Kap. 38,1-24, S. 123; Kap. 40,120, S. 130. 627 Vgl. auch Haas: Theologia, S. 345f. 628 Vgl. ThD (H), Kap. 33,1-4, S. 117; Kap. 46,23f„ S. 46; Kap. 47,l-4.8f„ S. 141; vgl. auch Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 166 sowie oben 7.1, S. 31.

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des Einen willen geliebt629. Nur die Sünde, die in ontologischer Hinsicht nichts ist, liebt ein vergotteter Mensch nicht630. Die Liebe zu allem führt dazu, dass ein vergotteter Mensch allem Geschaffenen Gutes gönnt und tut631. Ein solcher Mensch liebt selbst den, der ihm schlimmstes Unrecht zugefügt hat: „Ja, der eynen vorgotten menschen hundertfart [= hundert­ fach] tötet, vnnd wurde [= würde] er wider lebendig, er mußt [= müsste] den menschen lieb han [= haben], der yn also [= so] getötet hette, vnd hette [(dieser)] ym doch also vil vnrechts vnd vbels vnd boßes gethan, vnd [(er)] mußt ym wol wollen vnd gönnen [= gönnen] vnd begeren vnd auch dem selben das aller beßte thun, mochte er [der Gewalttäter] eß genemen vnd entphaen [= empfangen].“632 Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf das Vorbild Christi, dessen Feindesliebe er mithilfe von Mt 26,50 und Lk 23,24 belegt633. Im Rahmen einer neuplatonisch geprägten Inter­ pretation von Mt 26,50 hebt der Verfasser hervor, dass Gott, wenn er in einem Menschen wirkt, nur Gutes wollen und tun kann, weil er selbst das eine, vollkommene Gute ist634. Der Autor betont mehrfach, dass das Gute in einem vergotteten Men­ schen nur um des Guten willen, nicht aber aus anderen Gründen geliebt wird635. Er wendet sich dabei wie Eckhart636 insbesondere gegen die Hal­ tung der „loner“, für die die von Gott erhoffte Belohnung zentral ist637. Eine solche Einstellung war im Umfeld des Verfassers offenbar verbreitet, da er sich in seinem Werk relativ ausführlich mit ihr auseinander setzt. Seiner Ansicht nach handelt es sich um falsche Liebe, wenn etwas um des Lohnes willen geliebt wird638. Wer das Leben Christi nachzuahmen ver­ sucht, um dafür belohnt zu werden, folgt Christus nicht wirklich nach: „Vnd wer Cristus leben dar vmmb hat, das er do mit [= damit] etwas vberkomen [= erreichen] ader vordynenn [= verdienen] wil, der hat eß also [= als] eyn loner vnd nicht von libe vnd hat seyn [= es] joch [= jedoch] czumale nicht. Wann [= Denn] wer eß nicht von libe hat, der hat syn [= es]

629 Vgl. ThD (H), Kap. 18,13-18, S. 95; Kap. 46,23-32, S. 140f. 630 Vgl. ThD (H), Kap. 47,1-13, S. 141; vgl. auch oben 7.1, S. 26, und 7.2, S. 36. 631 Vgl. ThD (H), Kap. 33,1-4, S. 117. 632 ThD (H), Kap. 33,5-10, S. 117; vgl. auch Kap. 33,21-13, S. 118. 633 Vgl. ThD (H), Kap. 33,11-20.23T, S. 117f. 634 Vgl. ThD (H), Kap. 33,16-20, S. 118. 635 Vgl. ThD (H), Kap. 6,2-6, S. 76; Kap. 32,35-45, S. 116f.; Kap. 38,3-15.18-24, S. 123; Kap. 39,20-22, S. 125; Kap. 40,10-12, S. 126; Kap. 40,122f., S. 130; Kap. 41,1028, S. 130f.; Kap. 42,57-61.65-70, S. 133f. 636 Vgl. u.a. Eckhart: DW 2, S. 59,15-60,2; S. 61,3-10; S. 253,4-254,3; vgl. auch Langer: Mystik, S. 326. 637 Vgl. ThD (H), Kap. 39,12-17, S. 124. 638 Vgl. ThD (H), Kap. 42,57-64, S. 133f.

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nicht.“639 Christus selbst führte nämlich sein vorbildliches Leben aus Liebe zu diesem Leben, nicht aber um des Lohnes willen640. Wie für Christus spielt für vergottete Menschen die Aussicht auf Lohn oder Strafe keine Rolle. Sie leben „yn eyner freiheit, also das [= sodass] sie vorlorn haben forchte der peyne [= vor Strafe] ader helle vnde auch hoffenunge lones ader hymmelrichs [= auf Lohn oder Himmelreich], sundern sie leben yn luter [= reiner] vnderthenikeit vnd gehorsam der ewigen gute auß eyner freyen libe“641. Der dauernde Zustand der Vergottung, der durch einen sol­ chen Gehorsam ermöglicht wird, führt zwar nach der Ansicht des Autors faktisch zur ewigen Seligkeit642, ein selbstlos liebender vergotteter Mensch erachtet dies aber für irrelevant. Gerade dadurch ist er Gott sehr viel lieber als ein „loner“: „[...] eyn liphaber gotis ist besser vnd got liber den [= als] hundert thusent loner.“643 Die Liebe zum „Christusleben“ macht schließ­ lich auch die Nachfolge Christi leicht. Diese Liebe führt nämlich dazu, dass die Mühe und das Leid, die mit dem Leben nach dem Vorbild Christi verbunden sind, gern und bereitwillig ertragen werden. Die „loner“ emp­ finden dieses Leben hingegen als äußerst unangenehm und ersehnen ein baldiges Ende ihres Leidens644. Wer das Gute aus Liebe tut, lebt zudem, anders als ein „loner“, nicht in ständiger Sorge, wie er, um gerettet zu wer­ den, möglichst schnell möglichst viele gute Werke vollbringt. Ein vergot­ teter Mensch tut vielmehr das, was mit Friede und Muße geschehen kann645. Wer aus Liebe heraus handelt, ist also nach der Ansicht des Ver­ fassers von religiösem Leistungsdruck befreit. Neben der wahren Liebe gehören dem Traktat zufolge auch Demut und Armut im Geiste zu den Merkmalen eines vergotteten Menschen646. Demut und Armut im Geiste spielen auch bei Eckhart647 und Tauler648 eine wich­ tige Rolle. Da Demut zu geistiger Armut führt649, werden die beiden Be­ griffe in der ,Theologia Deutsch4 nahezu als Synonyme gebraucht650. Prototyp des demütigen und im Geiste armen Menschen ist Christus, auf 639 ThD (H), Kap. 38,18-21, S. 123; vgl. auch Kap. 38,11-15, S. 123. 640 Vgl. ThD (H), Kap. 38,22, S. 123. 641 ThD (H), Kap. 10,16-19, S. 83. 642 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 16,44-46, S. 92; Kap. 51,120-125, S. 147; vgl. auch oben 7.4.1, S. 55, sowie 7.4.2, S. 59. 643 ThD (H), Kap. 39,33f„ S. 125. 644 Vgl. ThD (H), Kap. 38,22-31, S. 123f.; Kap. 43,56-64, S. 136. 645 Vgl. ThD (H), Kap. 39,12-16.19-28, S. 124f. 646 Vgl. ThD (H), Kap. 10,22, S. 83; Kap. 26,56-72, S. 108; Kap. 35,lf.24-26, S. 119f. 647 Vgl. Largier: Kommentar 1, S. 897f. 648 Vgl. Gnädinger: Tauler, S. 251-261; 273-280. 649 Vgl. ThD (H), Kap. 35,24f„ S. 120; vgl. auch Kap. 26,64f„ S. 108. 650 Vgl. ThD (H), Kap. 26,1.23.46.64f.69f„ S. 105-108.

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dessen Vorbild und Lehre der Autor verweist651. In dem Traktat wird die Demut zudem ontologisch begründet: Gemäß der Ontologie des Verfassers gehört alles Gute, wie zum Beispiel Sein, Leben und Erkennen, allein Gott zu. Der Mensch ist an sich nichtig und vermag aus sich selbst heraus nur Böses652. Weil ein vergotteter Mensch dies erkennt, ist er demütig. Er weiß: „Eß ist billich vnd recht, das got vnd alle creatur wider mich seyn [= seien] vnd recht vbir mich vnnd czu mir [= auf mich] haben vnd ich wider nymandes sey vnd czu nicht [= nichts] recht habe.“653 Ein vergotte­ ter Mensch wagt daher Gott und die Mitmenschen um nichts zu bitten außer um das Lebensnotwendige „vnnd das selbige alles mit forchten [= Furcht] vnde von gnaden vnd nicht von rechte“654. Was über das Le­ bensnotwendige hinausgeht, nimmt er nicht an655. Da er seine Worte für tö­ richt hält, spricht er nicht, um jemanden zu belehren oder zu strafen, außer wenn dies um der Liebe willen unbedingt erforderlich ist656. Ein ver­ gotteter Mensch erkennt schließlich, dass er in seiner Nichtswürdigkeit zu Recht Gott und allen Kreaturen untertan sein soll „yn lidender [= leiden­ der] wiße [= Weise] vnd auch etwan [= manchmal] in thunder [= tuender] wiße“657. Der Autor betont nachdrücklich, dass man Gott nur dann untertan ist, wenn man auch allen Kreaturen untertan ist: „Vnd wer also nicht allem vnd allen dingen gelassen vnd gehorsam ist yn eym vnd als eym, der ist got nicht gelassen ader gehorsam.“658 Auch die These, dass man alles Leid ertragen müsse, versucht der Verfasser mithilfe eines neuplatonisch ge­ prägten ontologischen Gedankenganges zu begründen: „Vnd wer got liden sal [= soll] ader wil, der muß alle [= alles] liden in eym als eyn vnd [(darf)] keynem liden mit nichte [= irgendwie] widersteen. [...] Vnde wer liden widersteet vnd sich des [= dagegen] weret, der wil ader mag got nicht geliden [= erleiden].“659 Dieses Argumentationsmuster, das in ähnlicher Weise auch in Bezug auf den Gegenstand wahrer Liebe verwendet wird, legt die Schlussfolgerung nahe, dass alles Leiden auf Gott zurückgeht. Eine solche Auffassung steht aber im Widerspruch zu anderen Aussagen des Autors, denen zufolge Gott als das eine, absolut Gute allen Menschen nur Gutes 651 Vgl. ThD (H), Kap. 26,46-50.56-72, S. 107f.; Kap. 35,2f. 16-19.25-27, S. 119f. 652 Vgl. ThD (H), Kap. 26,2-4, S. 105; Kap. 35,3-9, S. 119; vgl. auch oben 7.1, S. 30f. 653 ThD (H), Kap. 26,9-11, S. 105f.; vgl. auch Kap. 26,8f.; Kap. 35,10.21-23, S. 120. 654 ThD (H), Kap. 26,13f„ S. 106. 655 Vgl. ThD (H), Kap. 26,14-18, S. 106. 656 Vgl. ThD (H), Kap. 26,19-22, S. 106. 657 ThD (H), Kap. 35,23f„ S. 120; vgl. auch Kap. 26,7f„ S. 105; Kap. 35,13-16.20-23, S. 120. 658 ThD (H), Kap. 46,14-16, S. 140; vgl. auch Kap. 35,13-16, S. 120. 659 ThD (H), Kap. 46,16-19, S. 140; vgl. auch Kap. 46,19-22, S. 140. Der Kontext zeigt, dass „liden" in dem Zitat nicht nur, wie an anderen Stellen, eine passive Haltung meint, sondern ,leiden* im engeren Sinne.

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gönnt und tut660. Ursache des Leidens sei daher allein die Sünde des Men­ schen661. Nach der Ansicht des Verfassers benötigen vergottete Menschen selbst keine äußeren Belehrungen und Gebote, weil Gott in ihnen wirkt. Unter Berufung auf Paulus662 stellt der Autor fest: „[...] man darff [= braucht] sie nicht leren, waz sie thun ader lassen sollen, wanne [= denn] yr meister, der geist gotis, sal [= wird] sie wol leren. Auch bedarff [= braucht] man yn [= ihnen] nicht gebiten ader heissen wol thun ader vbel lassen vnd des glich.“663 Vergottete Menschen erkennen die von Gott gewollte Ordnung, die nach der Meinung des Autors mit der herrschenden kirchlichen und weltlichen Ordnung identisch ist664, und handeln nach ihr, ohne äußerer Vorgaben zu bedürfen665. Wer wahrhaft demütig ist, sieht dem Traktat zu­ folge aber auch ein, dass äußere, mit Sanktionen verbundene Gesetze und Ordnungen wegen der allgemein verbreiteten Bosheit der Menschen not­ wendig sind666. Ein vergotteter Mensch verachtet daher wie Christus weder die Gesetze und Gebote noch die Menschen, die sich um die Einhaltung äußerer Regeln bemühen667. Er übt vielmehr mit solchen Menschen die Beachtung von Geboten und Gesetzen und versucht, sie zur Erkenntnis zu führen, „wor ummb [= warum] alle gesetze vnd ordenunge seyn vnd gescheen“668. Der Verfasser gesteht somit vergotteten Menschen zwar formal eine Unabhängigkeit von allen äußeren Gesetzen und Geboten zu, er betont aber nachdrücklich, dass solche Menschen inhaltlich die bestehende Ord­ nung beachten und fördern. Auf diese Weise versucht der Autor zu verhin­ dern, dass die Vergottungsvorstellung, die prinzipiell alle äußeren Gebote überflüssig macht, die herrschende Ordnung gefährdet. Diese hält er ge­ mäß der Tradition des mittelalterlichen ordo-Denkens669 für gottgewollt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die zahlreichen Aussagen über das Leben des vergotteten Menschen dem Traktat eine deutliche ethisch­ lebenspraktische Ausrichtung verleihen670. Indem der Verfasser das Leben 660 Vgl. ThD (H), Kap. 33,16-31, S. 118. 661 Vgl. ThD (H), Kap. 16,50-55, S. 92. 662 Vgl. ThD (H), Kap. 30,13-16, S. 113; vgl. dazu auch Röm 8,14. 663 ThD (H), Kap. 30,16-18, S. 113; vgl. auch Kap. 30,18-22, S. 113; Kap. 39,37-39, S. 125 sowie Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 166. 664 Vgl. ThD (H), Kap. 25,31-35, S. 105; Kap. 26,23-45, S. 106f.; Kap. 39,3-8.36-42, S. 124f. Dass die herrschende kirchliche oder weltliche Ordnung der von Gott gewollten Ordnung nicht entsprechen könnte, ist für den Autor offenbar undenkbar, da er diese Möglichkeit im gesamten Traktat nie erwähnt. 665 Vgl. ThD (H), Kap. 39,1-8.24-27.36-41, S. 124f.; Kap. 43,45-48, S. 136. 666 Vgl. ThD (H), Kap. 26,23-45, S. 106f. 667 Vgl. ThD (H), Kap. 26,33-36.50-52, S. 106f. 668 ThD (H), Kap. 26,41f., S. 107; vgl. auch Kap. 26,40-45, S. 107. 669 Zum mittelalterlichen ordo-Denken vgl. z.B. Oexle: Ordo, Sp. 1436f. 670 Vgl. auch Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 167f_; Cognet: Geburt, S. 190.

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des vergotteten Menschen beschreibt, erhebt er zugleich einen normativen Anspruch. Besonders deutlich zeigt sich dies beispielsweise am Anfang des 35. Kapitels. Dort schreibt der Autor: „Auch gehöret vort [= weiterhin] czu [= dazu] yn eym vorgottenn menschen war [= wahre], gruntliche, wesenliche [= seinshafte] demutikeit, vnd wo die nicht ist, do ist nicht eyn vorgotter mensch.“671 Ob jemand wirklich vergottet ist, hängt somit nach der Ansicht des Verfassers nicht allein vom subjektiven Bewusstsein des jeweiligen Menschen ab, sondern vor allem davon, ob dessen Lebensfüh­ rung mit den im Traktat genannten, vom Vorbild Christi abgeleiteten Merkmalen übereinstimmt. An der Aufstellung objektiver Kriterien, die eine Scheidung der Geister ermöglichen sollen, ist der Autor insbesondere deshalb interessiert, weil er seine Konzeption von Vergottung scharf von der der freien Geister abgrenzen will. Auf die Auseinandersetzung mit Auffassungen der freien Geister soll nun im folgenden Kapitel näher ein­ gegangen werden. 7.5 Auseinandersetzung mit den freien Geistern

Im Prolog, der wohl nicht vom Verfasser des Traktates stammt672, wird bei der Charakterisierung des Inhalts des Werkes hervorgehoben, dass das Büchlein lehre, „wie vnd wo methe [= womit/woran] man irkennen möge [= erkennen könne] die warhafftigen, gerechten gotis frundt vnnd auch die vngerechten, falschen, freyen geiste, dy der heiligen kirchen gar schedelich synt“673. Der Autor selbst setzt sich in dem Traktat in mehreren, zum Teil recht langen Passagen relativ ausführlich mit den Lehren der freien Geister auseinander674, wobei er aber nur zwei Mal den Begriff ,freier Geist' ge­ braucht675. Am Ende des ursprünglichen Schlusses wendet er sich schließ­ lich nochmals gegen Auffassungen der freien Geister676. Die Auseinander­ setzung mit den freien Geistern spielt somit in dem Werk eine durchaus bedeutende Rolle, sie steht aber, wie sich bei einer Betrachtung des gesam­ ten Textes erkennen lässt, nicht im Mittelpunkt. Zentrales Anliegen des Verfassers ist vielmehr die mystagogische Intention677. Im Rahmen der Einführung in die seiner Meinung nach richtige Vergottungsvorstellung 671 ThD (H), Kap. 35,lf., S. 119; vgl. auch Kap. 32,49-51, S. 117. 672 Vgl. oben Kapitel 5, S. 14-16. 673 ThD (H), Prolog,5-7, S. 67. 674 Vgl. u.a. ThD (H), Kap. 17,1-8, S. 94; Kap. 20, S. 97; Kap. 25, S. 103-105; Kap. 29, S. Ulf.; Kap. 39,17-19.31-33, S. 124f; Kap. 40, S. 125-130; Kap. 42,12-49, S. 132f.; Kap. 51,107-112, S. 147. 675 Vgl. ThD (H), Kap. 39,31, S. 125; Kap. 40,75, S. 128; vgl. dazu auch Haas: Theologia, S. 312, Anm. 16. 676 Vgl. ThD (H), Kap. 51,137-140, S. 148. 677 Vgl. Haas: Theologia, S. 313-316; vgl. auch SlEDEL: Einleitung, S. 98.

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grenzt der Autor seine Konzeption von der der freien Geister ab und ver­ urteilt deren Lehren. Auf diese Weise schützt er sich auch vor der Gefahr, dass sein Werk mit den als Häretikern verfolgten678 freien Geistern in Ver­ bindung gebracht wird. Indem der Verfasser und die späteren Redaktoren an exponierten Stellen, nämlich im sekundär angefugten Prolog, am Ende des ursprünglichen Schlusses und am Ende des zweiten Schlusses679, gegen die freien Geister polemisieren, heben sie einen inhaltlichen Teilaspekt der Schrift besonders hervor, um die Orthodoxie des Traktats zu betonen. Der grundlegende Irrtum der freien Geister ist nach der Ansicht des Autors deren Vergottungsvorstellung. Sie glauben dem Traktat zufolge, dass sie bei ihrem mystischen Aufstieg nach einer längeren Phase vorbe­ reitender Übungen680 noch über das irdische Leben Christi hinausgelangen können, und identifizieren sich schließlich mit Gott in Ewigkeit bezie­ hungsweise mit dem auferstandenen Christus681. Das falsche Licht - der Verfasser verwendet diesen Begriff682 hier gewissermaßen metonymisch zur Bezeichnung der vom falschen Licht in die Irre geführten freien Geis­ ter - „wil nicht Cristus seyn, sundern eß wil got seyn yn ewikeyt“683. Es nimmt daher die Eigenschaften, die Gott in seiner Transzendenz zukom­ men, für sich in Anspruch: „[...] vnd do von [= aus dem Grund], das eß wenet [= glaubt], das eß got sey, ßo nympt eß sich des an [= so nimmt es das für sich in Anspruch], das got czu gehöret, vnde nicht des [= das], das gotis ist, als [= insofern] got mensch ist ader yn eyme [= einem] vorgotten menschen; sunder eß nympt sich an des, das gotis ist vnd ym czu gehört, als [= insofern] er got ist an [= ohne] creatur yn ewikeit.“684 Die freien Geister meinen somit unter anderem, dass sie wie Gott frei von Leid sind und von allen irdischen Geschehnissen nicht berührt werden685. Außerdem behaupten sie der ,Theologia Deutsch1 zufolge, wie Gott selbst über alle Ordnung erhaben zu sein. Sie beanspruchen deshalb für sich eine „ungeordente, falsche freiheit“686, also eine Freiheit von aller Ordnung, und ver­

678 Zur kirchlichen Verurteilung und Verfolgung der freien Geister vgl. Lerner: Heresy, S. 61-157; Lambert: Häresie, S. 190-195. 679 Vgl. ThD (H), Prolog,5-7, S. 67; Kap. 51,137-140, S. 148; Kap. 53,94-105, S. 153f. Zur Frage nach dem Verfasser des Prologes und der letzten beiden Kapitel vgl. oben Kapitel 5, S. 14-18. 680 Vgl. ThD (H), Kap. 25,1-5, S. 103f.; vgl. auch Kap. 17,1-3, S. 94. 681 Vgl. ThD (H), Kap. 40,23-27.46-48.58-60, S. 126f.; Kap. 42,37-42, S. 133; Kap. 51,109f„ S. 147. 682 Zum Begriff,falsches Licht1 vgl. auch oben 7.2, S. 37f. 683 ThD(H), Kap. 42,42, S. 123. 684 ThD (H), Kap. 40,24-27, S. 126. 685 Vgl. ThD (H), Kap. 17,1-6, S. 94; Kap. 29,1-13, S. 11 lf.; Kap. 40,31-35.50-52.5561, S. 126f.; Kap. 51,107-110, S. 147. 686 ThD (H), Kap. 25,6f„ S. 104.

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achten Gesetze, Gebote und Tugenden687. Da die freien Geister glauben, weder die Heilige Schrift noch Belehrung zu benötigen, „ßo werden do [= da] alle wiße [= Anweisungen], ordenunge vnd gesetze vnnd geböte der heiligen kirchen vnd die sacrament czu nichte [= für nichts] geachtet vnd joch [= sogar] czu eynem spot vnnd auch alle menschen, die mit disser ordenunge vmmb gehen [= die diese Ordnung pflegen/beachten] vnd do von [= davon] [(etwas)] halden“688. Nach der Darstellung des Autors ver­ treten die freien Geister auch die Auffassung, dass sie wie Gott kein Ge­ wissen benötigen, weil all ihre Handlungen gut seien689. Um die gefährli­ chen Konsequenzen dieser Auffassung zu veranschaulichen, gibt der Ver­ fasser die Äußerung eines freien Geistes wieder. Dieser habe behauptet, dass er bei der Tötung von zehn Menschen so wenig Schuldgefühle emp­ finden würde wie bei der Tötung eines Hundes690. Da sie sich mit Gott identifizieren, erachten es die freien Geister dem Traktat zufolge zudem für angemessen, dass alle Kreaturen ihnen dienen und untertan sind und dass sie selbst alle irdischen Annehmlichkeiten genießen691. 692 Bei der Dar­ stellung des zuletzt genannten Aspektes beschreibt der Autor die für einen freien Geist charakteristische Haltung wie folgt: „[...] alles, das [= was] seyme [= seinem] leibe, seym fleische vnd syner nature czu gute vnd czu lußte, kurtzwile vnnd ergetzlikeit [= (zum) Vergnügen und (zur) Freude] gescheen mag, des duncket er sich alles wirdigk [= all dessen hält er sich für würdig] vnd sucht vnd nympt [(es)], wo eß ym [(zuteil)] werden mag j-

j «692

Es stellt sich die Frage, inwieweit das Bild, das der Verfasser von den freien Geistern entwirft, der historischen Realität entspricht. In der For­ schung wurde die Meinung vertreten, dass die ,Theologia Deutsch1 in die­ ser Hinsicht eine relativ zuverlässige Quelle sei693. Es lässt sich jedenfalls feststellen, dass die freien Geister in dem Werk ähnlich wie in offiziellen kirchlichen Dokumenten dargestellt werden. Zwischen den Aussagen, die der Autor des Traktats über die freien Geister macht, und der 1312 auf dem

687 Vgl. ThD (H), Kap. 25,5-8.31-35, S. 104f.; Kap. 30,1-4, S. 113; Kap. 31,1-4, S. 114; Kap. 39,1-5.17-19.31-33, S. 124f.; Kap. 40,46-50, S. 127.123-127, S. 130; Kap. 42,37-42, S. 123; Kap. 51,110-112, S. 147. 688 ThD (H), Kap. 25,32-35, S. 105; vgl. auch Kap. 25,3lf., S. 105 sowie Kap. 25,912, S. 104. 689 Vgl. ThD (H), Kap. 40,27-31, S. 126; Kap. 40,73f. 109-111, S. 128f. 690 Vgl. ThD (H), Kap. 40,74-76, S. 128; vgl. dazu auch oben Kapitel 2, S. 8. 691 Vgl. ThD (H), Kap. 25,12-30.36-40, S. 104f; Kap. 40,52-55, S. 127; Kap. 42,3740, S. 133. 692 ThD (H), Kap. 25,20-22, S. 104. 693 Vgl. COGNET: Geburt, S. 189; Haas: Theologia, S. 314, Anm. 16.

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Konzil von Vienne verabschiedeten Konstitution ,Ad nostrum‘6 4 gibt es zahlreiche Übereinstimmungen. Die folgenden Auffassungen, die der Ver­ fasser der ,Theologia Deutsch1 den freien Geistern zuschreibt694 695, entspre­ chen Lehren, die in der Konstitution genannt und verurteilt werden: Man könne als vergotteter Mensch auf Erden den Zustand der Leidlosigkeit er­ reichen696 und dürfe eine Freiheit von aller Ordnung, unter anderem auch von kirchlichen Geboten sowie von Tugenden, für sich beanspruchen697; man tue als vergotteter Mensch in seinem Handeln stets das Gute, sei also sündlos698, und dürfe seinem Körper alle Annehmlichkeiten zugestehen699. Die Konstitution ,Ad nostrum1, die den Anspruch erhebt, die Irrtümer einer häretischen Sekte von Begarden und Beginen aufzuzählen, bildete nach ihrer Promulgation im Jahr 1317 bis ins 15. Jahrhundert die Grund­ lage für die Verfolgung der freien Geister. Bei Inquisitionsprozessen, bei­ spielsweise beim Verhör Konrad Kannlers im Jahr 138 1 700, diente sie als Fragenkatalog und auch als Muster für die Protokollierung der Antworten in lateinischer Sprache701. Da die Konstitution ,Ad nostrum1 und die ,Theologia Deutsch1 bei der Darstellung der freien Geister Gemeinsam­ keiten aufweisen, bestehen somit auch Übereinstimmungen zwischen dem Traktat und Inquisitionsprotokollen. Darüber hinaus nimmt der Autor des Werkes auf Aussagen Bezug, die zwar teilweise einen der Artikel von ,Ad nostrum1 konkretisieren, die sich aber nur in Verhörprotokollen, nicht in der Konstitution selbst finden. So behauptete zum Beispiel Johannes Hartmann bei seinem Verhör im Jahr 1367 dem Inquisitionsprotokoll zu­ folge, dass ein wahrhaft freier Mensch überhaupt keine Gewissensbisse mehr habe und Herr über alle Kreaturen sei702. Solche Auffassungen wer­ den auch in der ,Theologia Deutsch1 referiert703. Die vom Verfasser im 50. Kapitel zitierte Äußerung eines freien Geistes, er würde bei der Tötung von zehn Menschen keine Schuldgefühle empfinden704, wurde wohl im 694 Text in Corpus 2, Sp. 1183f. Zur Entstehungsgeschichte, zu den Quellen sowie zum Inhalt der Konstitution vgl. LERNER: Heresy, S. 78-84. 695 Zu den jeweiligen Belegstellen in der .Theologia Deutsch1 vgl. oben, S. 70f. 696 Vgl. dazu ,Ad nostrum', Art. 4, in: Corpus 2, Sp. 1183. 697 Vgl. dazu ebd. Art. 3; 6. 698 Vgl. dazu ebd. Art. 1. 699 Vgl. dazu ebd. Art. 2. 700 Vgl. den ersten Teil des Verhörprotokolls, abgedruckt bei Grundmann: Ketzer­ verhöre, S. 561-563; vgl. dazu auch Grundmann: Ketzerverhöre, S. 536. 701 Vgl. Grundmann: Ketzerverhöre, S. 531; 534f.; Lambert: Häresie, S. 194; PATSCHOVSKY: Freiheit, S. 274f. 702 Vgl. den Abdruck des Inquisitionsprotokolls bei Erbstosser/Werner: Probleme, S. 136-153: hier S. 138; 140; vgl. auch Grundmann: Ketzerverhöre, S. 539f.; 542. 703 Vgl. ThD (H), Kap. 40,73f.l09-l 11, S. 128f. und Kap. 25,12-30, S. 104; Kap. 40,52-55, S. 127. 704 Vgl. ThD (H), Kap. 40,74-76, S. 128.

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Rahmen eines Verhörs gemacht, dessen Protokoll heute verloren ist. Für diese Vermutung spricht, dass in erhaltenen Inquisitionsprotokollen ähnliche Aussagen dokumentiert sind . Im Unterschied zu ,Ad nostrum4 und mehreren Verhörprotokollen707 705ist 706 in dem Traktat nicht explizit davon die Rede, dass die freien Geister auch im sexuellen Bereich völlige Frei­ heit beanspruchen. Der Verfasser der ,Theologia Deutsch1 meint aber wohl implizit auch diesen Aspekt, wenn er davon spricht, dass die freien Geister alles täten, was ihrem Fleisch und ihrem Körper Lust und Vergnügen be­ reitet708. Anders als in ,Ad nostrum1 wird in dem Traktat zudem nicht aus­ drücklich erwähnt, dass die freien Geister die pantheistische Auffassung vertreten, der Mensch sei von Natur aus selig709. Der Autor polemisiert aber vermutlich gegen diese Auffassung710, indem er den Naturbegriff nur im negativen Sinne gebraucht711 und behauptet, die freien Geister würden den Neigungen der selbstsüchtigen menschlichen Natur folgen712 und die Natur dabei fälschlicherweise für Gott halten713. Zwischen der ,Theologia Deutsch1 und offiziellen kirchlichen Doku­ menten über freie Geister bestehen somit zahlreiche Parallelen. In der neueren Forschung wird jedoch zunehmend darauf hingewiesen, dass das Bild der freien Geister, das sich in den kirchlichen Dokumenten findet, nicht unkritisch mit der historischen Realität gleichgesetzt werden darf714. Bei der kritischen Überprüfung dieses Bildes greift man insbesondere auch auf Schriften zurück, die wohl von freien Geistern stammen, beispiels­ weise auf den ,Miroir des simples ämes1 von Marguerite Porete oder den

705 Vgl. das Verhörprotokoll von Johannes Hartmann in ErbstOsser/Werner: Probleme, S. 140, sowie das Verhörprotokoll von Konrad Kannler in Grundmann: Ketzerverhöre, S. 562; vgl. auch ebd. S. 542f. Die Übereinstimmungen mit den erhalte­ nen Protokollen sind meines Erachtens nicht so groß, dass man von einer direkten Ab­ hängigkeit ausgehen könnte. Vgl. dazu oben Kapitel 2, S. 7f. 706 Vgl. ,Ad nostrum1, Art. 7, in: Corpus 2, Sp. 1183. 707 Vgl. z.B. das Verhörprotokoll von Konrad Kannler in Grundmann: Ketzer­ verhöre, S. 562; vgl. dazu ebd. S. 544f.; weitere Beispiele bei Lerner: Heresy, z.B. S. 117f.; vgl. auch zusammenfassend Lambert: Häresie, S. 194. 708 Vgl. ThD (H), Kap. 25,19-22, S. 104. 709 Vgl. ,Ad nostrum1, Art. 4, in: Corpus 2, Sp. 1183. 710 Vgl. Haas: Einleitung, S. 15. 711 Zum Naturbegriff in der .Theologia Deutsch1 vgl. oben 7.2, S. 36f. 712 Vgl. ThD (H), Kap. 18,3-5, S. 95; Kap. 20,1-6, S. 97; Kap. 26,73-75, S. 108; Kap. 40, S. 125-130; Kap. 42,42-47, S. 133; Kap 43,69-92, S. 136f.; Kap. 51,107112.137-139, S. 147f.; vgl. auch unten, S. 75f. 713 Vgl. ThD (H), Kap. 20,10-14, S. 97; Kap. 40,23f.42-46.76-80, S. 126-128; Kap. 42,37-46, S. 133; vgl. auch unten, S. 76. 714 Vgl. Grundmann: Ketzerverhöre; Lerner: Heresy; Patschovsky: Freiheit, S. 273-283; Lambert: Häresie, S. 193-196.

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Traktat ,Schwester Katrei*715. Es sind allerdings nur wenige von freien Geistern verfasste Texte erhalten, da der größte Teil von ihnen aufgrund der Verfolgung verloren ging716. Einige Ergebnisse der neueren Forschung sollen im Folgenden skizziert werden. Die Bewegung der freien Geister verbreitete sich besonders unter Begi­ nen und Begarden, sie war aber nicht auf diesen Personenkreis beschränkt. Unter den freien Geistern gab es einen hohen Anteil an Frauen717. Auch wenn in ,Ad nostrum1 von einer Sekte mit bestimmten Lehren die Rede ist, bildeten die freien Geister, die auch als Brüder und Schwestern vom freien Geist bezeichnet wurden, wohl keine überregional organisierte Gemein­ schaft mit einem einheitlichen Lehrsystem. Persönliche Kontakte sowie das Verfassen und die Lektüre von Schriften sorgten aber innerhalb der schwer abgrenzbaren, recht heterogenen Bewegung der freien Geister für eine gewisse Vernetzung718. Dass die Verhörprotokolle den Eindruck erwe­ cken, es habe eine einheitliche Sektenlehre gegeben, ist wahrscheinlich auf die Verfahrensweise der Inquisitoren zurückzuführen. Diese verwendeten, wie oben bereits erwähnt, die Artikel der Konstitution ,Ad nostrum1 und teilweise auch Protokolle vorangegangener Verhöre als Fragenkatalog und versuchten, die Verdächtigen als Anhänger dieser Irrlehren zu überführen. Gelang dies, so wurden bei der Protokollierung der Antworten in lateini­ scher Sprache Formulierungen der benutzten Vorlagen teilweise wörtlich übernommen719. Auf diese Weise wurde das Bild einer einheitlichen Sektenlehre erzeugt, das der historischen Realität wohl nicht entsprach. Bei aller Verschiedenheit der Auffassungen scheint es aber für die Bewe­ gung der freien Geister charakteristisch gewesen zu sein, dass ihre Vertre­ ter eine sehr weit gehende Einheit von Gott und Mensch für möglich hiel­ ten und die kirchliche Vermittlungsfunktion in Frage stellten. Man kann somit davon sprechen, dass die freien Geister eine radikale Form der Mys­ tik propagierten720, wobei allerdings die Abgrenzung dieser Mystik von der als orthodox geltenden teilweise schwierig ist721. Die neuere Forschung betont des Weiteren, dass zumindest die meisten freien Geister, selbst wenn sie nach langer, strenger Askese vergottet zu sein glaubten, wohl 715 Vgl. Lerner: Heresy, S. 200-225; Patschovsky: Freiheit, S. 277-282; Ehrenschwendtner: Brüder, Sp. 1780. 716 Vgl. Grundmann: Ketzerverhöre, S. 555-557. 717 Vgl. Lerner: Heresy, S. 229f. 718 Vgl. Grundmann: Ketzerverhöre, S. 550L; 557f.; Lerner: Heresy, S. 229; Ehrenschwendtner: Brüder, Sp. 1780; Lambert: Häresie, S. 193; 196. 719 Vgl. Grundmann: Ketzerverhöre; Lambert: Häresie, S. 194. 720 Vgl. Lerner: Heresy, S. 227; Lambert: Häresie, S. 196. 721 Vgl. Lerner: Heresy, S. 227. Patschovsky: Freiheit, S. 285L, behauptet sogar, dass es zwischen der orthodoxen Mystik und der der freien Geister im Grunde keinen Unterschied gebe. Vgl. dazu auch unten S. 77-80.

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kein amoralisches und zügelloses Leben führten722. Unter den freien Geis­ tern war allerdings die Auffassung verbreitet, dass ein vergotteter Mensch an sich die Freiheit besäße, alles zu tun. Die schockierenden Aussagen, die sich in Verhörprotokollen finden, dürften darauf zurückzuführen sein, dass die Inquisitoren angeklagte freie Geister dazu drängten, aus der von ihnen theoretisch beanspruchten Freiheit von aller Ordnung hypothetisch die Be­ rechtigung zu den schlimmsten vorstellbaren Handlungen abzuleiten723. Eine entsprechende libertinistische Praxis lässt sich aber historisch nicht nachweisen. Sie wird auch in der erhaltenen Literatur, die vermutlich von freien Geistern stammt, nicht propagiert724. Außerdem ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass zumindest die meisten freien Geister glaubten, sie seien aus göttlicher Gnade, nicht aus natürlichen Kräften zur Vergottung gelangt725. Bei der Auseinandersetzung mit den freien Geistern geht der Autor der ,Theologia Deutsch1 von seinem teilweise verzerrten Bild dieser Bewe­ gung aus. Um die Auffassungen der freien Geister zu widerlegen, hebt der Verfasser wie Tauler726 hervor, dass sich ein Mensch, solange er lebt, am Vorbild des irdischen Lebens Christi orientieren muss und nicht über die­ ses hinausgelangen kann727. Dies bedeutet beispielsweise, dass ein Mensch ebenso wie Christus erst nach dem Tod leidlos werden kann728. Sündhaftes Streben nach Lust ist nach der Ansicht des Autors der Grund dafür, dass sich die freien Geister nicht den irdischen Christus, sondern Gott in Ewig­ keit oder den auferstandenen Christus zum Vorbild nehmen. Das äußerst beschwerliche Leben Christi missfällt nämlich der selbstbezogenen menschlichen Natur729: „[...] Cristus vnd seyn leben ist aller natur wider [= zuwider] vnd swere. Dar vmmb wil die natur nicht dar an [= daran]. Aber got seyn yn ewikeit vnd nicht mensch ader Cristus seyn nach der erstendunge [= Auferstehung], das ist alles lichte [= leicht], lustig [= lust­ voll] vnd gemachsam [= bequem] der [= für die] natur. Dar vmmb hat [= hält] sie eß vor [= für] das beste, wann [= denn] sie meynet, eß sey yr [= für sie] das beste.“730 Die Ausrichtung auf die eigene Bequemlichkeit 722 Vgl. Lerner: Heresy, S. 239f.; Patschovsky: Freiheit, S. 282f.; Lambert: Häresie, 194-196. 723 Vgl. Lerner: Heresy, S. 240; Patschovsky: Freiheit, S. 282f. 724 Vgl. Lerner: Heresy, S. 239f.; Lambert: Häresie, S. 191f; 194-196. 725 Vgl. Lerner: Heresy, S. 226f. 726 Vgl. z.B. Tauler: Predigten, S. 71,6-8; vgl. auch GnäDINGER: Tauler, S. 286f. 727 Vgl. ThD (H), Kap. 18,23-27, S. 95f.; Kap. 29, S. Ulf.; Kap. 31,1-4, S. 114; Kap. 38,15-18, S. 123; Kap. 40,84-86, S. 128; vgl. auch oben 7.3, S. 41, und 7.4.3, S. 52f. 728 Vgl. ThD (H), Kap. 29,14-27, S. 112. 729 Zum Begriff der Natur in der .Theologia Deutsch* vgl. auch oben 7.2, S. 36f. 730 ThD (H), Kap. 42,43-47, S. 133; vgl. auch Kap. 18,1-5, S. 95; Kap. 20,1-6, S. 97; Kap. 26,68-75, S. 108; Kap. 40,123-125, S. 130.

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führt also zu dieser falschen Erkenntnis, ln ihrer Verblendung erachten die freien Geister „das frey, ruchloß leben“731, dem sie sich zuwenden, für das beste, weil es am angenehmsten und lustvollsten ist732. Dass die freien Geister meinen, sie seien Gott, stellt nach der Ansicht des Verfassers eben­ falls eine Täuschung dar: Ihre natürliche Vernunft steigt so hoch, dass sie über den Kreaturen zu stehen glaubt und sich selbst für Gott hält733. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die freien Geister dem Traktat zufolge von falscher Erkenntnis, die durch sündhafte Ichbezogenheit kor­ rumpiert ist, in die Irre geführt werden. Der Autor drückt diesen Sach­ verhalt aus, indem er ähnlich wie Tauler734 davon spricht, dass die freien Geister vom falschen Licht735 betrogen werden736. Bei der von ihnen bean­ spruchten Freiheit handelt es sich um eine Freiheit des menschlichen Eigenwillens und damit um eine „natürlich, vngerecht, falsch, betrogen tufels freiheit [= Teufelsfreiheit] auß eim natürlichen, falschen, betrogen lichte“737. Das falsche Licht wird in dem Traktat als Same des Teufels be­ zeichnet, aber auch mit dem Teufel selbst identifiziert738. Die Auffassun­ gen der freien Geister sind somit für den Verfasser ein Werk des Teu­ fels739. Dieser verführt die freien Geister dazu, selbstsüchtig nach Lust und Bequemlichkeit zu streben und sich dabei in diabolischer Hoffart mit Gott selbst gleichzusetzen740. Cognet vertrat die Ansicht, der Autor setze sich vor allem deshalb mit den freien Geistern auseinander, weil er „die Seelen, die sich verführen ließen, wieder auf den rechten Weg zurückbringen“741 wolle. Dass der Traktat direkt an freie Geister gerichtet ist, lässt sich aber am Gesamt­ duktus der Schrift nicht erkennen. Der Verfasser scheint zudem zu bezwei­ feln, ob freie Geister überhaupt bekehrt werden können742. Er dürfte somit 731 ThD (H), Kap. 20,7f„ S. 97. 732 Vgl. ThD (H), Kap. 18,3f„ S. 95; Kap. 20,4-10, S. 97. 733 Vgl. ThD (H), Kap. 20,10-14, S. 97; Kap. 40,23f.43-48.78f„ S. 126-128; Kap. 42,34-39, S. 133. 734 Vgl. Tauler: Predigten, S. 167,6-9.16-23; S. 250,4f.; S. 258,4-6; vgl. auch oben 7.2, S. 37, Anm. 364. 735 Zum Begriff .falsches Licht' vgl. auch oben 7.2, S. 37f. 736 Vgl. ThD (H), Kap. 40,5f. 17-22.36-41.62-68.86-99, S. 126-129; Kap. 42,12-18, S. 132; Kap. 43,72-75, S. 136; Kap. 51,11 lf., S. 147. 737 ThD (H), Kap. 51,11 lf., S. 147; vgl. Kap. 51,107-119, S. 147; vgl. auch Haas: Theologia, S. 317-319. 738 Vgl. ThD (H), Kap. 40,83-86, S. 128; Kap. 40,128f„ S. 130; Kap. 43,75-77, S. 136f. 739 Vgl. auch ThD (H), Kap. 25,1-12, S. 104; Kap. 40,97-101, S. 129; im Anhang Kap. 53,94-99, S. 153. 740 Vgl. ThD (H), Kap. 40,31-33, S. 126; Kap. 40,83-86, S. 128. 741 Cognet: Geburt, S. 189. 742 Vgl. ThD (H), Kap. 40,74-82, S. 128.

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eher die Absicht verfolgen, die Rezipienten seines Werkes vor den von den freien Geistern vertretenen Lehren zu warnen, indem er diese scharf ver­ urteilt. Möglicherweise entstand der Traktat im Zusammenhang mit der Seelsorge an Beginen. Im Anniversar der Frankfurter Deutschordenskom­ mende sind einige Schwestern bezeugt, die im Kommendenspital Dienste verrichteten. Es ist möglich, dass es sich bei ihnen um Beginen handelte, die sich unter die Obhut des Deutschen Ordens begeben hatten. Trifft dies zu, so könnte der Verfasser, wie Seiler vermutet, mit seiner Schrift die In­ tention verfolgen, diese Frauen von den unter Beginen kursierenden Auf­ fassungen der freien Geister fernzuhalten743. Der Autor warnt nicht nur vor den Lehren der freien Geister, sondern er will auch seine Vergottungskonzeption scharf von der der freien Geister abgrenzen744. Die Antonyme ,wahr‘ und ,falsch4, die im Traktat sehr häu­ fig verwendet werden, sollen eine klare Trennlinie ziehen. So spricht der Verfasser vom wahren und falschen Licht745, von wahrer und falscher Frei­ heit746 sowie von wahrer und falscher Liebe747. In den wahrhaft vergotteten Menschen wirkt dem Traktat zufolge Gott, in den freien Geistern hingegen der Teufel748. Indem sich der Verfasser, wie andere mystische Autoren seiner Zeit749, von den freien Geistern abgrenzt, schützt er sein Werk vor dem Verdacht der Häresie. Zugleich unterweist er die Rezipienten seiner Schrift in der Unterscheidung zwischen orthodoxer und heterodoxer Mystik. In neuerer Zeit hat Patschovsky die Meinung vertreten, dass zwischen der als rechtgläubig angesehenen Mystik und der Mystik der freien Geister trotz der Abgrenzungsbemühungen mystischer Autoren im Grunde kein Unterschied besteht. Diese These versuchte Patschovsky unter anderem mithilfe der ,Theologia Deutsch1 zu belegen750. Meines Erachtens nivel­ liert Patschovsky aber die durchaus feststellbaren Differenzen zu sehr. Er macht allerdings zu Recht darauf aufmerksam, dass der Traktat den Auf­ fassungen, die die freien Geister in der historischen Realität vertreten ha­ ben, teilweise näher steht, als die schroffe Abgrenzungsrhetorik des Ver­ fassers suggeriert. Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden, dass zwischen der ,Theologia Deutsch1 und den Lehren, die von freien Geistern vertreten wurden, sowohl beachtliche Gemeinsamkeiten als auch nicht unerhebliche Unterschiede bestehen. 743

744

745 746 747

748 749 750

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Seiler: Frankfurt, S. 32. auch Hinten: Frankfurter, Sp. 805. u.a. ThD (H), Kap. 40,1-22, S. 126. u.a. ThD (H), Kap. 51,110-113, S. 147. u.a. ThD (H), Kap. 42,1-11, S. 132. u.a. ThD (H), Kap. 40,123-129, S. 130; Kap. 51,110-112, S. 147. LERNER: Heresy, S. 186-199. Patschovsky: Freiheit, S. 283-286.

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Im 16. Kapitel finden sich Aussagen, die darauf hindeuten, dass der Autor des Werkes es nicht für gänzlich unmöglich hält, dass ein Mensch wie Christus sündlos werden kann751. Der Verfasser schreibt: „Were eß möglich, das eyn mensch also gar [= gänzlich] vnd luterlich [= rein] an [= ohne] sich selbir vnd an alle [= alles] yn dem waren gehorsam were, als [= wie] Cristus menscheit was [= war], der mensche were an [= ohne] sunde vnd ioch [= auch] eyns mit Cristo, vnd das selbe von gnaden, das Cristus was von natur. Aber man spricht, eß muge [= könne] nicht seyn. Dar vmmb spricht man auch, nymant sey ane sunde. Aber wie das sey, also [= so] sey eß. Doch ist das wäre, so man dissem gehorsam nehir ist, so ye mynner sunde, so man ye verrer ist, ßo ye meher sunde [= je näher man diesem Gehorsam ist, umso weniger Sünde, je ferner man ihm ist, umso mehr Sünde].“752 Wie der erste Satz des Zitats zeigt, wäre es von der Ver­ gottungsvorstellung des Autors her durchaus denkbar, dass ein Mensch wie Christus sündlos werden kann. Die Sündlosigkeit stellt ja eine Eigenschaft des irdischen Christus dar, der dem Traktat zufolge das Modell des ver­ gotteten Menschen ist753. Der Verfasser referiert dann aber die offizielle kirchliche Auffassung. Die Behauptung, der Mensch könne sündlos wer­ den, wurde im ersten Artikel der Konstitution ,Ad nostrum' als Irrlehre der freien Geister verurteilt754. In dem oben angeführten Zitat bietet der Autor der ,Theologia Deutsch' allerdings weder eine Begründung für die kirchli­ che Lehre noch schließt er sich ihr explizit an. Mit der unverbindlichen Wendung „wie das sey, also sey es“ entzieht er sich schließlich einer ein­ deutigen Stellungnahme zur Frage, ob der Mensch sündlos werden könne755. Auch gegen Ende des 16. Kapitels legt sich der Verfasser nicht eindeutig fest, wenn er davon spricht, dass vielleicht kein Mensch so ge­ horsam sei wie Christus. Auf jeden Fall kann aber ein Mensch, so betont der Autor, dem Vorbild Christi so nahe kommen, dass er zu Recht als ver­ gottet bezeichnet wird756. Auch wenn sich in anderen Teilen des Werkes Aussagen finden, denen zufolge das in Christus realisierte Ideal nicht voll­ ständig erreicht werden kann757, so zeigen die Ausführungen im 16. Kapi­ tel doch, dass der Verfasser des Traktats der von freien Geistern vertrete­ nen Auffassung, man könne sündlos werden, relativ nahe steht. Im Unter­

751 Vgl. ThD (H), Kap. 16,38-44.70-73, S. 92f.; vgl. auch Florin: haß, S. 173-175 sowie oben 7.3, S. 44f. 752 ThD (H), Kap. 16,38-44, S. 92. 753 Vgl. auch oben 7.3, S. 40f. 754 Vgl. ,Ad nostrum', Art. 1, in: Corpus 2, Sp. 1183. 755 Vgl. auch Florin: haß, S. 174f. 756 Vgl. ThD (H), Kap. 16,70-73, S. 93; vgl. dazu auch oben 7.3, S. 45. 757 Vgl. ThD (H), Kap. 15,23f„ S. 89; Kap. 40,116f„ S. 129; Kap. 51,101-106, S. 146.

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schied zu den freien Geistern deutet er diese Möglichkeit aber nur sehr vorsichtig an. Ein weiteres Beispiel, an dem sich das Verhältnis zwischen der .Theo­ logia Deutsch4 und Positionen, die unter freien Geistern verbreitet waren, untersuchen lässt, ist die Stellung zur Ordnung. Wie oben dargelegt wur­ de758, geht der Autor ebenso wie die freien Geister davon aus, dass ein ver­ gotteter Mensch an sich keine äußeren Vorgaben benötigt, weil Gott in ihm wirkt. Der Verfasser gesteht vergotteten Menschen zwar formal eine Unab­ hängigkeit von allen äußeren Geboten und Gesetzen zu, er betont aber nachdrücklich, dass sie inhaltlich die bestehende Ordnung beachten und fördern. Indem er den letztgenannten Aspekt hervorhebt, grenzt sich der Verfasser deutlich von antinomistischen und libertinistischen Auffas­ sungen ab, die nach damaliger kirchlicher Sicht für die freien Geister ty­ pisch waren. Die neuere historische Forschung ist allerdings, wie oben bereits erwähnt, zu dem Ergebnis gekommen, dass die freien Geister, wenn sie sich vergottet fühlten, zwar vielfach in der Theorie eine völlige Freiheit von aller Ordnung beanspruchten, dass sie aber wohl faktisch zumindest in den meisten Fällen nicht gegen die bestehenden Normen verstießen759. Trifft dies zu, so liegt der Unterschied zwischen der .Theologia Deutsch4 und den freien Geistern vor allem darin, dass der Autor des Traktats die faktische Beachtung der Ordnung auch theoretisch zu verankern versucht. Aufschlussreich ist auch ein Vergleich der Stellung zu den Sakramen­ ten. Die freien Geister standen den Sakramenten wohl eher gleichgültig, teilweise auch ablehnend gegenüber760. Der Verfasser der .Theologia Deutsch4 wirft den freien Geistern vor, die Sakramente zu verachten. Er verurteilt diese Haltung als geistliche Hoffart761. Im gesamten Traktat macht der Autor aber nur an einer einzigen Stelle eine - zudem recht kur­ ze - positive Aussage über ein Sakrament. Er spricht dort davon, dass der Empfang der Eucharistie eine am Vorbild Christi ausgerichtete Lebens­ weise bewirken kann762. Insgesamt spielen die Sakramente in der .Theolo­ gia Deutsch4 somit nur eine sehr geringe Rolle763. Hierin zeigt sich eine gewisse Nähe zu Positionen, die unter den freien Geistern verbreitet waren,

758 Vgl. oben 7.4.3, S. 68. 759 Vgl. Lerner: Heresy, S. 239f.; Patschovsky: Freiheit, S. 282T; Lambert: Häresie, S. 194-196. 760 Vgl. Lerner: Heresy, S. 227; Lambert: Häresie, S. 196. 761 Vgl. ThD (H), Kap. 25,31-35, S. 105. 762 Vgl. ThD (H), Kap. 45,18-20, S. 139; vgl. auch oben 7.4.1, S. 53. 763 Vgl. auch Dinzelbacher: Mystik, S. 315. Der Redaktor, von dem die in der Bronnbacher Handschrift überlieferten Zusätze stammen, hob die Rolle der Sakramente stärker hervor. Er ergänzte den Gedanken, dass zur Reinigung die Beichte gehört. Vgl. ThD (H), Kap. 14, Variantenapparat zu Z. 4, S. 88.

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wobei sich der Verfasser aber klar von einer Verachtung der Sakramente distanziert. Die von freien Geistern vertretene Auffassung, dass der Mensch auf Er­ den leidlos werden könne, wird in dem Traktat deutlich zurückgewiesen. Wie oben dargestellt wurde764, hebt der Autor hervor, dass das Leben eines vergotteten Menschen durch ständiges, äußerst schmerzhaftes Leid ge­ kennzeichnet ist, das durch die Verbreitung der Sünde verursacht wird. Die Behauptung Patschovskys, der Verfasser schließe sich der Auffassung der freien Geister an, dass die mit Gott vereinte Seele „unberührt von Wohl und Wehe“765 sei, trifft daher meines Erachtens nicht zu. Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass der Verfasser der ,Theologia Deutsch1 teilweise ähnliche Positionen vertritt wie die als hä­ retisch verurteilten freien Geister. Gerade diese Nähe machte es erforder­ lich, dass der Autor die durchaus bestehenden Unterschiede zwischen sei­ ner Konzeption und der der freien Geister deutlich hervorhob766.

8. Quellen und Einflüsse Welche Quellen der ,Theologia Deutsch1 zugrunde liegen und welche Ein­ flüsse in ihr erkennbar sind, ist teilweise noch nicht hinreichend geklärt. Eine detaillierte Untersuchung dieses Problems würde aber den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Im Folgenden werde ich mich daher im Wesentlichen darauf beschränken, den Forschungsstand zu skizzieren und auf noch offene Fragen hinzuweisen. Namentlich genannt und zitiert werden in dem Traktat Boethius767, Pseudo-Dionysius Areopagita768 und Tauler769. Ohne Nennung eines Au­ tors wird eine Passage aus der pseudo-eckhartischen Schrift ,Vom Zorn der Seele1 wiedergegeben770. Auch Eckhart wird ohne Angabe seines Na­ mens zitiert771. Die im zweiten Kapitel referierte Definition des Sündenbe­ griffs geht auf Augustinus zurück, der aber ebenfalls nicht namentlich er­

764 Vgl. oben 7.4.3, S. 63. 765 Patschovsky: Freiheit, S. 284. 766 Vgl. dazu auch Dinzelbacher: Mystik, S. 293; 295. 767 Vgl. ThD (H), Kap. 6,1 f., S. 76. Das Zitat wird recht frei wiedergegeben. Vgl. die Anmerkung von Hintens ebd. 768 Vgl. ThD (H), Kap. 8,11-17, S. 79f. Ebd. Nachweis des Zitats. 769 Vgl. ThD (H), Kap. 13,lf., S. 87, mit Tauler: Predigten, S. 167,16. Der Wortlaut des Zitats ist nicht völlig mit dem der Vorlage identisch. 770 Vgl. ThD (H), Kap. 11,23-27, S. 85. Ebd. Nachweis des Zitats. 771 Vgl. ThD (H), Kap. 9,10f„ S. 81, mit Eckhart: DW 5, S. 405, lOf. Der Wortlaut des Zitats ist nicht völlig mit dem der Vorlage identisch.

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wähnt wird772. Der „Meister“, dessen Pseudo-Dionysius-Kommentar im achten Kapitel zitiert wird773, konnte bislang nicht identifiziert werden774. Auch die Herkunft weiterer Zitate, die ohne Namensnennung angeführt sind775, ist noch nicht geklärt. Wie oben bereits dargestellt, sind die ontologischen Aussagen über Gott und das Geschaffene, die die ,Theologia Deutsch1 enthält, neuplatonisch geprägt776. Der Verfasser steht dabei unter dem Einfluss von PseudoDionysius Areopagita, der in dem Werk auch namentlich genannt wird777. Insgesamt ist der Traktat von Gedanken Eckharts und Taulers beein­ flusst778. Das Verhältnis zwischen der ,Theologia Deutsch1 und Eckhart wurde bislang nur in der 1890 erschienenen Dissertation von Mauff aus­ führlicher thematisiert779. Eine neuere Untersuchung, die dem aktuellen Stand der Eckhart-Forschung entspricht, fehlt bislang. Das Verhältnis der ,Theologia Deutsch1 zu Tauler ist noch nicht genauer untersucht worden. Die im Rahmen der Inhaltsanalyse erwähnten Parallelen780 belegen aber den Einfluss Eckharts und Taulers. So wendet sich der Autor zum Beispiel wie Eckhart und Tauler gegen den Eigenwillen und hält wie diese eine Preisgabe des eigenen Ichs für notwendig, um Raum für das Wirken Gottes zu schaffen781. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Tauler und der theolo­ gia Deutsch1 gehören unter anderem die Verwendung des Begriffes fal­ sches Licht1 sowie die starke Betonung der Forderung, dass man den irdi­ schen Christus nachahmen solle782. Wie Eckhart spricht der Verfasser von zwei Augen der Seele783. Von den Werken Eckharts steht die ,Theologia Deutsch1 besonders den ,Reden der Unterweisung1 relativ nahe, in denen die Vereinigung mit Gott ebenfalls als Vereinigung des Willens beschrie­ 772 Vgl. ThD (H), Kap. 2,1-3, S. 73, mit Augustinus: De libero arbitrio, 2, 19, 53, in: Augustinus: Frühschriften, S. 212; vgl. auch oben 7.2, S. 32f. 773 Vgl. ThD (H), Kap. 8,19-23, S. 80. 774 Vgl. Haas: Theologia, S. 329, Anm. 51. Unzutreffend Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 462. 775 Vgl. z.B. ThD (H), Kap. 39,lf., S. 124; Kap. 42,1-4, S. 132; Kap. 46,1, S. 140. 776 Vgl. oben 7.1, S. 23-32. 777 Vgl. ThD (H), Kap. 8,11.20, S. 79f.; vgl. auch Cognet: Geburt, S. 191; Zambru­ no: Theologia, S. 81 f.; 142; Dinzelbacher: Mystik, S. 315. 778 Vgl. Bernhart: Einleitung, S. 82f.; Baring: Luther, S. 49f.; WentzlaffEggebert: Mystik, S. 161; Cognet: Geburt, S. 190f.; 193-195; Hinten: Frankfurter, Sp. 806; Peters: Theologia, S. 258; KÖPF: Theologia, Sp. 255. 779 Vgl. Mauff: Standpunkt. 780 Vgl. oben Kapitel 7, S. 23-80. 781 Vgl. oben 7.2, S. 34f„ und 7.4.1, S. 49. 782 Vgl. oben 7.2, S. 37, und 7.3, S. 41, sowie 7.5, S. 75. 783 Vgl. oben 7.4.2, S. 59f. Tauler spricht zwar davon, dass der Mensch ein inwendiges und ein auswendiges Auge habe, er spricht aber nicht von zwei Augen der Seele. Vgl. Tauler: Predigten, S. 195,15-18.

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ben wird784. Auch Eckharts Traktat ,Von abgescheidenheit' hat auf die ,Theologia Deutsch' eingewirkt785. Das Verhältnis der ,Theologia Deutsch' zu Seuse786 und zur Gottes­ freundliteratur ist noch nicht untersucht worden und bedarf noch der Klä­ rung. Es ist durchaus möglich, dass dem Verfasser der ,Theologia Deutsch' Gedanken Eckharts und eventuell auch Taulers durch Schriften vermittelt wurden, die nicht von diesen Autoren selbst, sondern aus deren Umkreis stammten. Siedel hat in der Einleitung seiner 1929 erschienenen Ausgabe der ,Theologia Deutsch' nachzuweisen versucht, dass das Werk vollständig vom Thomismus geprägt sei787. Wie oben dargelegt, ist die Ontologie des Traktats aber meines Erachtens nicht thomistisch788. Die Arbeit Siedeis scheint insgesamt einer kritischen Überprüfung zu bedürfen, da Siedel die deutlich erkennbare Absicht verfolgt, jegliche Unterschiede zwischen der ,Theologia Deutsch' und Thomas einzuebnen. Siedeis Ausführungen ma­ chen allerdings wohl zu Recht darauf aufmerksam, dass sich in der theo­ logia Deutsch' auch thomistische Einflüsse finden789. Haas hat im Anschluss an ältere Forschungsmeinungen vermutet, dass der Traktat vom Scotismus beeinflusst sein könnte, weil in dem Werk die Rolle des Willens bei der Vereinigung mit Gott besonders betont wird790. Ob diese Vermutung zutrifft, müsste noch genauer untersucht werden791. Es wäre dabei zu fragen, ob es nicht näher liegt, die besondere Hervorhe­ bung des Willens in der ,Theologia Deutsch' vor allem auf den direkten oder indirekten Einfluss von Eckharts ,Reden der Unterweisung' zurück­ zuführen. 784 Vgl. eckhart: DW 5, S. 227,5-8; S. 309,3-5 sowie oben 7.4.2, S. 56-58; vgl. auch Haas: Theologia, S. 316f.; 319, Anm. 25. Beispiele für weitere inhaltliche Paralle­ len zwischen der .Theologia Deutsch' und den ,Reden der Unterweisung': Betonung des wahren Gehorsams (vgl. Eckhart: DW 5, S. 185-189 sowie oben 7.4.1, S. 47f.); Verur­ teilung des Eigenwillens (vgl. Eckhart: DW 5, S. 192,3-6; S. 225,6-227,10; S. 281,312; S. 282,11-283,4 sowie oben 7.2, S. 34T); Herausgehen des Menschen aus dem Seinen als Bedingung für das Eingehen Gottes (vgl. Eckhart: DW 5, S. 187,lf.; S. 197,1-3 mit ThD (H), Kap. 24,25-27, S. 103). 785 Vgl. eckhart: DW 5, S. 405, lOf. mit ThD (H), Kap. 9,10f„ S. 81; vgl. auch Eckhart, DW 5, S. 421,6-8 mit ThD (H), Kap. 28,1-3, S. 110. 786 Vgl. Wentzlaff-Eggebert: Mystik, S. 161; Cognet: Geburt, S. 190. Zambruno behauptet einen Einfluss Seuses, ohne diese These zu belegen. Vgl. ZAMBRUNO: Theologia, S. 142. 787 Vgl. Siedel: Einleitung, S. 17-84. 788 Vgl. oben 7.1, S. 23-32. 789 Vgl. auch oben Kapitel 6, S. 21; 7.1, S. 27; 7.3, S. 44. 790 Vgl. Haas: Theologia, S. 318f, Anm. 25; S. 325, Anm. 49. 791 Vgl. HAAS: Theologia, S. 319, Anm. 25; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 462.

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Die Eigenständigkeit des Traktats ist in der Forschung sehr unterschied­ lich beurteilt worden. Teilweise wurde behauptet, die ,Theologia Deutsch4 sei nach und neben den deutschen Schriften Eckharts das hervorragendste theologische Originalwerk des Mittelalters in deutscher Sprache792. Es wurde aber auch die Ansicht vertreten, der Verfasser des Traktats sei kein großer Theoretiker mystischer Theologie gewesen, sondern ein Kompilator mit eklektisch gewonnenem Wissen793. In jüngster Zeit meinte Köpf, dass die Schrift zwar unter dem Einfluss Eckharts und Taulers stehe, aber dennoch eine selbstständige Darstellung des mystischen Weges biete794. Alle genannten Auffassungen sind bislang nicht näher begründet worden. Über die Eigenständigkeit der ,Theologia Deutsch1 wird man erst dann fundiert urteilen können, wenn das Verhältnis des Traktats zu den Werken, die es beeinflusst haben, genauer untersucht worden ist. Man kann aller­ dings bereits feststellen, dass die These, der Verfasser sei ein Eklektiker und Kompilator, nicht völlig zutrifft, soweit damit eine mangelnde inhalt­ liche Kohärenz des Werkes behauptet wird. Wenngleich der Autor teil­ weise Gedanken übernimmt, ohne sie hinreichend in seine Schrift zu in­ tegrieren795, vertritt er dennoch, wie die Inhaltsanalyse gezeigt hat, insge­ samt eine weitgehend in sich stimmige, konsistente Konzeption.

9. Zusammenfassung Abschließend sollen die wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Arbeit noch einmal zusammengefasst werden. Die ,Theologia Deutsch1 wurde von einem namentlich nicht bekannten Autor verfasst, der wohl als Priesterbruder in der Deutschordenskommende Sachsenhausen lebte. Das Werk ist vermutlich noch in das 14. Jahrhundert zu datieren, da der Überlieferungskontext eine Entstehung im Umkreis der Schriften Meister Eckharts und Taulers wahrscheinlich macht. Abgesehen von Handschriften, bei denen Drucke als Vorlage dienten, sind gegenwärtig acht handschriftliche Textzeugen der ,Theologia Deutsch1 bekannt, von denen drei den gesamten Text überliefern. Auch den beiden Drucken Luthers von 1516 und 1518, deren handschriftliche 792 Vgl. Pahncke: Überlieferung, S. 275; Hinten: Frankfurter, Sp. 806; Krapp: Frankfurter, S. 479. 793 Vgl. Haas: Einleitung, S. 16f.; Dinzelbacher: Mystik, S. 315; vgl. auch COGNET: Geburt, S. 190. Haas urteilte früher differenzierter. Vgl. Haas: Theologia, S. 25f., Anm. 49. 794 Vgl. Köpf: Theologia, Sp. 255. 795 Vgl. z.B. die christologischen Aussagen des siebten Kapitels (vgl. dazu oben 7.3, S. 43f.), das Tauler-Zitat im 13. Kapitel (vgl. ThD (H), Kap. 13, S. 87f.) und das DreiWege-Schema in Kapitel 14 (vgl. dazu oben 7.4.1, S. 47).

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Vorlagen bislang nicht aufgefunden wurden, kommt der Zeugniswert von Handschriften zu. Bei den Plusstücken der Bronnbacher Handschrift, die einen um etwa 10% umfangreicheren Text tradiert, handelt es sich um nachträgliche Erweiterungen eines späteren Redaktors. Wie die Überlieferung zeigt, gab der Verfasser seinem Werk keinen Titel. In der Bronnbacher Handschrift findet sich der sekundäre Titel ,der franckforter1. Luther gab seiner Ausgabe von 1518 den Titel ,Eyn deutsch Theologia1. In einem im gleichen Jahr erschienenen Nachdruck dieser Aus­ gabe wurde dann erstmals der Titel ,Theologia Deutsch1 verwendet. Der mit textkritischen Methoden rekonstruierbare Text des Werkes stammt wohl nicht von einem einzigen Verfasser. Die letzten beiden Kapi­ tel gehen vermutlich auf einem anderen Autor zurück. Eine dritte Person dürfte schließlich den Prolog und das Register hinzugefügt haben. Der ,Theologia Deutsch1 liegt insgesamt kein stringenter logischer Auf­ bau zugrunde. In manchen Teilen des Traktats überwiegen aber bestimmte Themen und Motive. Der Text besteht aus locker aneinander gefügten kleineren Einheiten, die gedanklich in sich ziemlich geschlossen sind. In­ nerhalb dieser Einheiten werden teilweise Aufbauelemente der scholasti­ schen Quaestio verwendet. Die relative Strukturlosigkeit des Werkes könn­ te darauf zurückzuführen sein, dass es sich bei der Schrift um eine Samm­ lung klösterlicher collationes handelt. Die ontologischen Aussagen des Verfassers über Gott und das Geschaf­ fene sind neuplatonisch geprägt. Sie haben grundlegende Bedeutung für die Argumentation des Autors. Der Verfasser geht von einer ontologisch begründeten starken Gottverbundenheit alles Geschaffenen aus, er betont aber zugleich die Transzendenz Gottes. Dem Traktat zufolge ist Gott als das alles umfassende Eine das urbildliche, ideenhafte Sein von allem, wo­ bei er alles, was ist, in seiner Transzendenz noch überragt. Angesichts der Hervorhebung der Einheit Gottes tritt die Trinität im Haupttext des Werkes stark in den Hintergrund. Da Gott als das urbildliche Sein von allem nach der Ansicht des Autors auch das vollkommen Gute ist, ist alles, was ist, gut, während das Böse kein Sein hat. Der Gedanke, dass Gott das, was als urbildliches Sein in ihm ist, ohne Kreaturen nicht zur Wirkung bringen kann, droht den Verfasser in die Nähe der Behauptung zu führen, das Ge­ schaffene sei für Gott notwendig. Der eigentliche Grund für die Schöpfung ist für ihn aber der Wille Gottes. Das Geschaffene hat dem Traktat zufolge in sich kein Sein und ist völlig vom wahren, urbildlichen Sein in Gott ab­ hängig. Das Kreatürliche ist daher an sich nichtig, es hat aber seinen Ur­ sprung in Gott und verweist auf ihn. Mit seinen ontologischen Aussagen über das Geschaffene steht der Autor der ,Theologia Deutsch1 der Position Meister Eckharts sehr nahe.

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Der Begriff ,Sünde1 meint dem Traktat zufolge eine willentliche Ab­ wendung von Gott, dem allumfassenden Sein, und eine Hinwendung zum an sich nichtigen Geschaffenen, insbesondere zum eigenen Ich. Auch die aus einer solchen Haltung resultierenden Handlungen werden als Sünde bezeichnet. Indem der Mensch sich von Gott abwendet, will er anders als Gott und ist ihm somit ungehorsam. Nach der Ansicht des Verfassers ist jeder Eigenwille Sünde, da der Mensch nach Gottes Willen nicht selbst wollen, sondern den göttlichen Willen in sich wirken lassen soll. Der Autor betont die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen, er hebt aber auch hervor, dass der Mensch trotz des Wirkens des Teufels für die Sünde selbst verantwortlich ist. Eine sehr wichtige Rolle bei der Verführung zur Sünde spielt das falsche Licht, das heißt falsche, durch Selbstbezogenheit korrumpierte Erkenntnis. Der Begriff ,Natur1, der in dem Werk mit dem Teufel gleichgesetzt wird, bezeichnet in der ,Theologia Deutsch1 die erb­ sündige, selbstsüchtige Natur des Menschen, die überwunden werden muss und überwunden werden kann. Gott hat dem Traktat zufolge den Menschen die Möglichkeit zur Sünde gegeben, indem er ihnen Vernunft und Willen verliehen hat, um in ihnen seinen Willen zur Wirkung zu bringen. Die Vorstellung eines geschaffenen Willens impliziert nämlich für den Autor notwendigerweise, dass der Mensch mit diesem Willen auch anders wollen kann, als Gott will. Die Menschwerdung Gottes hatte nach der Ansicht des Verfassers der ,Theologia Deutsch1 den Sinn, den Menschen die Möglichkeit zur Ver­ gottung zu geben. In Christus verwirklichte sich prototypisch die Vergot­ tung des Menschen. Dem Traktat zufolge trat die menschliche Natur in Christus zugunsten der göttlichen so weit zurück, dass in ihm nur Gott selbst wirkte. Die Bedeutung der menschlichen Natur liegt nach der Mei­ nung des Autors vor allem darin, dass Gott durch sie menschliche Empfin­ dungsfähigkeit erlangte. Die Menschen sollen sich das irdische Leben Christi zum Vorbild nehmen und Christi Lehre befolgen, damit sich das Geschehen der Vergottung auch in ihnen vollzieht und sie auf diese Weise gerettet werden. Ihnen ist dem Traktat zufolge eine ziemlich weit gehende Annäherung an das Vorbild Christi möglich. Der Verfasser behauptet an manchen Stellen, dass die Menschen das Ideal Christi nicht völlig errei­ chen können, an anderen Stellen scheint er diese Möglichkeit nicht gänz­ lich ausschließen zu wollen. Da für den Autor die Inkarnation Christi das zentrale Heilsereignis ist, spielt die Deutung des Todes Jesu als stellver­ tretende Genugtuung in dem Werk keine oder allenfalls eine sehr geringe Rolle. Die Aussagen, die der Verfasser über den Weg zur Vergottung macht, lassen sich den Begriffen .Reinigung1 und .Erleuchtung1 zuordnen. Zum Weg der Reinigung kann man die für den Autor grundlegende Forderung

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rechnen, die sündhafte Ausrichtung auf das Geschaffene und das eigene Ich aufzugeben. Der Mensch soll sich seines Ichs entäußern und sich sowie alle Kreaturen für nichts erachten. Indem das Ich sich selbst preisgibt, schafft es Raum für das Wirken Gottes. Je mehr Fortschritte der Mensch auf dem Weg zur Eliminierung des eigenen Ichs macht, desto mehr wirkt Gott selbst in ihm. Zum Weg der Reinigung gehört auch die Selbsterkennt­ nis des Sünders, die dazu führen soll, dass der Mensch zur resignatio ad infernum bereit ist. Reinigung und Erleuchtung bedingen sich der theolo­ gia Deutsch1 zufolge wechselseitig. Je weniger sich ein Mensch das Er­ kennen selbst anmaßt, je mehr er sich also von Gott erleuchten lässt, desto vollkommener wird seine Erkenntnis. Wahre Erkenntnis leitet den Men­ schen dazu an, die Ichbezogenheit und den Eigenwillen zu verlieren. Im Prozess der zunehmenden Annäherung an die Vergottung geht nach der Ansicht des Verfassers wohl jeweils das Erkennen voraus, woraufhin der Mensch auf dem Weg der Reinigung von der Selbstbezogenheit Fort­ schritte machen muss, die dann wiederum Voraussetzung für vollkomme­ nere Erkenntnis sind. Das alle Aspekte umfassende Leitbild auf dem Weg zur Vergottung und zugleich auch das Ziel dieses Weges ist das irdische Leben Christi. Dem Traktat zufolge ist der Mensch am Weg zu seiner Ver­ gottung nur passiv beteiligt, da auch die Bereitung zur Vergottung ein Werk Gottes ist. Ob jemand vergottet wird oder nicht, hängt aber vom Menschen selbst ab. Seine Mitwirkung, die mit der ewigen Seligkeit be­ lohnt wird, besteht darin, willentlich auf eigenes Wirken zu verzichten und auf diese Weise das Wirken Gottes im Menschen zu ermöglichen. Die Vereinigung mit Gott beschreibt der Verfasser vor allem als dauernde Willensvereinigung. Der menschliche Wille soll mit dem göttli­ chen in der Weise eins werden, dass im Menschen fortan allein der ewige göttliche Wille wirkt. Wenn dieser im Menschen frei und ungehindert wir­ ken kann, so ist der Mensch wahrhaft frei. Obgleich der Autor den Aspekt der Willenseinheit mit Gott stark hervorhebt, geht er dennoch davon aus, dass die ganze Seele des Menschen mit Gott vereinigt wird. Der Gedanke, dass Gott als das Eine nicht in die menschliche Seele zu kommen braucht, weil er bereits in ihr ist, kommt in dem Traktat zwar vor, er spielt insge­ samt aber keine große Rolle. Die dauernde Vergottung, die dem Werk zu­ folge heilsnotwendig ist, stellt das zentrale Anliegen des Verfassers dar. Darüber hinaus hält der Autor es für möglich, dass ein vergotteter Mensch zeitlich begrenzte Erfahrungen macht, die auf das ewige Himmelreich vorausweisen. Diese könnte man nach der mystischen Tradition als unioErfahrungen bezeichnen, der Verfasser selbst verwendet in diesem Zu­ sammenhang aber nie den Begriff der Vereinigung. Solche Erfahrungen sind nach der Ansicht des Autors nur möglich, solange sich der Mensch zur Kontemplation zurückzieht. Der Erfahrung höchster himmlischer

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Freude muss die Erfahrung der zeitlichen Hölle in der resignatio ad infer­ num vorangehen. Beide Erfahrungen können einen Menschen im Lauf sei­ nes Lebens abwechselnd überkommen. Wer dem göttlichen Willen gehor­ sam ist, zieht die Erfahrung des zeitlichen Himmelreichs nicht der Erfah­ rung der zeitlichen Hölle vor, weil er sich in beiden Erfahrungen eines Willens mit Gott weiß. Modell und Norm für das Leben eines vergotteten Menschen ist dem Traktat zufolge das Leben Christi. Wie Christus empfindet ein vergotteter Mensch bis zu seinem Tod äußerst starke Schmerzen über die Sünde. Er lebt aber in einem innerlichen Frieden, der ihm das geduldige Ertragen von Leid ermöglicht. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen eines vergotteten Menschen ist die wahre Liebe, die Gott in ihm hervorruft. Ein vergotteter Mensch liebt allein Gott, das vollkommen Gute. Da Gott als das Eine das urbildliche Sein von allem Guten ist, liebt ein solcher Mensch in dem Einen und um des Einen willen alles Gute. Die Liebe zu allem Guten im­ pliziert auch die Liebe zu allem, was ist, weil das Dasein von allem, was ist, gut ist. Das Gute wird in einem vergotteten Menschen allein um des Guten willen, nicht aber wegen eines von Gott erhofften Lohnes geliebt. Der Autor verurteilt die Haltung von Menschen, für die der erhoffte Lohn eine Rolle spielt. Zu den zentralen Merkmalen eines vergotteten Menschen zählen nach der Ansicht des Verfassers auch Demut und Armut im Geiste. Da ein vergotteter Mensch seine ontologische Nichtigkeit erkennt, gelangt er zu der Einsicht, dass er in seiner Nichtswürdigkeit zu Recht Gott und allen Kreaturen untertan sein soll. Nach der Meinung des Autors benötigen vergottete Menschen selbst keine äußeren Belehrungen und Gebote, sie beachten und fördern aber inhaltlich die bestehende Ordnung. Die zahlrei­ chen Aussagen über das Leben des vergotteten Menschen verleihen dem Traktat eine deutliche ethisch-lebenspraktische Ausrichtung. Mit diesen Aussagen erhebt der Verfasser zugleich einen normativen Anspruch: Nur wenn die Lebensführung eines Menschen mit den im Werk genannten, vom Vorbild Christi abgeleiteten Merkmalen übereinstimmt, kann er wirk­ lich vergottet sein. Der Autor möchte also die Entscheidung, ob jemand vergottet ist, nicht nur von dessen subjektivem Bewusstsein, sondern vor allem auch von objektiven Kriterien abhängig machen. Das zentrale Anliegen des Verfassers der ,Theologia Deutsch* ist zwar die mystagogische Intention, die Auseinandersetzung mit den freien Geis­ tern spielt in dem Werk aber eine durchaus bedeutende Rolle. Die freien Geister werden in dem Traktat ähnlich wie in offiziellen kirchlichen Do­ kumenten dargestellt. In der neueren Forschung ist allerdings darauf hin­ gewiesen worden, dass dieses Bild der freien Geister nicht unkritisch mit der historischen Realität gleichgesetzt werden darf. Bei seiner Auseinan­ dersetzung mit den freien Geistern betont der Autor, dass sich ein Mensch,

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solange er lebt, am Vorbild des irdischen Lebens Christi orientieren muss. Sündhaftes Streben nach Lust ist nach der Ansicht des Verfassers der Grund dafür, dass sich die freien Geister nicht den irdischen Christus, son­ dern Gott in Ewigkeit oder den auferstandenen Christus zum Vorbild neh­ men. Sie werden dabei dem Traktat zufolge von falscher Erkenntnis, die durch Ichbezogenheit korrumpiert ist, in die Irre geführt. Der Autor hält die. Auffassungen der freien Geister somit für ein Werk des Teufels. Indem der Verfasser die Lehren der freien Geister scharf verurteilt, warnt er die Rezipienten seines Werkes, zu denen möglicherweise auch Beginen ge­ hörten, vor diesen Auffassungen. Dadurch dass er seine Konzeption der Vergottung von der der freien Geister abgrenzt, schützt der Autor seinen Traktat zudem vor dem Verdacht der Häresie. Da er teilweise ähnliche Po­ sitionen vertritt wie die als Häretiker verfolgten freien Geister, schien es dem Verfasser wohl erforderlich, die durchaus bestehenden Unterschiede zwischen seiner Lehre und der der freien Geister deutlich hervorzuheben. Welche Quellen der ,Theologia Deutsch4 zugrunde liegen und welche Einflüsse in ihr erkennbar sind, müsste noch genauer untersucht werden. Man kann allerdings bereits feststellen, dass die Ontologie des Autors neu­ platonisch geprägt ist und dass das gesamte Werk unter dem Einfluss Meister Eckharts und Taulers steht.

Schluss Die ,Theologia Deutsch1 hat, wie die zahlreichen seit den Ersteditionen Luthers erschienenen Ausgaben zeigen, die christliche Frömmigkeits­ geschichte nachhaltig beeinflusst796. In der Reformationszeit wurde der Traktat nicht nur von Luther, sondern auch von Spiritualisten geschätzt. Das Lob Luthers führte zu einer großen Nachwirkung des Werkes inner­ halb der lutherischen Kirchen. Johann Arndt und Philipp Jakob Spener empfahlen die ,Theologia Deutsch4 zur Lektüre und sorgten für ihre Verbreitung, indem sie sie drucken ließen. Übersetzungen des Traktats ermöglichten eine Rezeption des Werkes auch außerhalb des deutschen Sprachraums. Es erschienen sogar Ausgaben der ,Theologia Deutsch4 in außereuropäische Sprachen, etwa in Japanisch. Heute ist der Traktat ein nahezu weltweit zugänglicher Text. Der Verfasser der .Theologia Deutsch4 hat somit ein Werk geschaffen, das seine Leser über Jahrhunderte hinweg tief zu beeindrucken vermochte. Eine genauere Untersuchung dieses Re­ zeptionsprozesses stellt noch ein Desiderat der Forschung dar796 797. 796 Vgl. Baring: Neues, S. 1; Baring: Bibiographie. 797 Zur noch nicht hinreichend erforschten Wirkungsgeschichte der .Theologia Deutsch1 vgl. zusammenfassend Mandel: Einleitung, S. XXI1-XXXV1; Baring: Biblio-

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Literaturverzeichnis (Alle Abkürzungen sind folgendem Abkürzungsverzeichnis entnommen: Schweriner, Siegfried M.: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. 2., überarb. und erw. Aufl., Berlin/New York 1992.)

1. Quellen 1.1 Ausgaben und Übersetzungen der , Theologia Deutsch ‘ (ThD), alphabetisch geordnet nach den Herausgebern .Der Franckforter1. Theologia Deutsch. In neuhochdeutscher Übersetzung hg. und mit einer Einleitung versehen von Alois M. Haas, Einsiedeln 1980 (= CMe 7). (Zit. als: ThD (Ha).) .Der Franckforter1 (.Theologia Deutsch1). Kritische Textausgabe, hg. von Wolfgang von Hinten, München/Zürich 1982 (= MTUDL 78). (Zit. als: ThD (H).) Eyn geystlich edles Buchleynn. von rechter underscheyd und Vorstand, was der alt un(d) new mensche sey. Was Adams un(d) was gottis kind sey. un(d) wie Ada(m) ynn uns sterben unnd Christus ersteen sali, hg. von Martin Luther, Wittenberg 1516. Faksimi­ leabdruck in: Baring, Georg: Bibliographie der Ausgaben der .Theologia Deutsch1 (1516-1961). Ein Beitrag zur Lutherbibliographie, Baden-Baden 1963 (= BBAur 7), S. 11-25. (Zit. als: ThD (L)) Theologia Deutsch, hg. von Hermann Mandel, Leipzig 1908 (= QGP 7). (Zit. als: ThD (M).) Theologia deutsch: Die leret gar manchen lieblichen underscheit gotlicher warheit und seit gar hohe und gar schone ding von einem volkomen leben. Nach der einzigen bis jetzt bekannten Handschrift hg. von Franz Pfeiffer, 2., verb. und mit einer neudeut­ schen Übersetzung vermehrte Aufl., Stuttgart 1855. (Zit. als: ThD (P).) Der Franckforter (,Eyn deutsch Theologia1), hg. von Willo Uhl, Bonn 1912 (= KIT 96). (Zit. als: ThD (U).)

1.2 Weitere Quellen Agricola, Johannes: Die Sprichwörtersammlungen, hg. von Sander L. Gilman, Bd. I, Berlin/New York 1971 (= Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhun­ derts). (Zit. als: Agricola: Sprichwörtersammlungen 1.) Augustinus: Theologische Frühschriften. Vom freien Willen. Von der wahren Religion. Textum latinum recensuit Guilelmus Green, übersetzt und erläutert von Wilhelm Thimme. Zürich/Stuttgart 1962 (= BAW.AC). (Zit. als: Augustinus: Frühschriften.) Bibliothekskatalog der Kartause Salvatorberg, in: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaf­ ten in München, Bd. 2: Bistum Mainz/Erfurt, bearbeitet von Paul Lehmann, München 1928, S. 239-539. (Zit. als: Bibliothekskatalog.)

graphie; Hinten: Frankfurter, Sp. 806f.; Mennecke-Haustein: Theologia, Sp. 462f; Peters: Theologia, S. 260-262.

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Christoph Burger

Mystische Vereinigung - erst im Himmel oder schon auf Erden? Das Doppelgesicht der geistlichen Literatur im 15. Jahrhundert 1. Bescheidene Vorfreude und Überschwang: Ganz verschiedene Erwartungen in geistlicher Literatur des 15. Jahrhunderts In geistlicher Literatur des 15. Jahrhunderts wird häufig über die Möglich­ keit gesprochen, Gottvater oder Christus sehr nahe zu kommen. Die meis­ ten Autoren beschränken sich darauf, solche Nähe zu Gottvater oder zu Christus erst für die Zeit nach dem Tode zu erwarten oder in Aussicht zu stellen. Während des irdischen Lebens, so heißt es dann häufig, gilt es vielmehr, den eigenen Willen darauf einzustimmen, was Gott als der Len­ ker der Welt und aller individuellen Geschicke einem zugedacht hat. Je nach dem Stande, in dem sich ein Christ befindet, muss er den Anforderun­ gen gerecht zu werden versuchen, die an ihn gestellt werden. Stirbt er dann in Frieden mit Gott und seiner Kirche, dann wird Gott ihn dadurch beloh­ nen, dass er ihn in seine Nähe holt. Es scheint Beichtvätern, Theologen und Seelsorgern im 15. Jahrhundert gelungen zu sein, die Sehnsucht nach Gottesnähe schon während des irdischen Lebens bei den meisten Christen zu disziplinieren. Doch läuft daneben eine andere Linie von Aussagen weiter, die aus Texten früherer Jahrhunderte bekannter ist. Hier wird weit weniger vor­ sichtig und demütig geredet. Auch im 15. Jahrhundert sprechen Frauen1 und Männer die Hoffnung aus, während ihres irdischen Lebens die Erfah­ rung der unio mystica zu machen. Das Bild, das sich ergibt, ist also bunt: Während der eine Autor Hoffnung auf Nähe zum himmlischen Bräutigam Christus oder zu Gottvater erst im Jenseits zu hegen wagt, spricht ein ande­ rer Hoffnung auf unio mystica schon im irdischen Leben aus. Wenn man Aussagen von Mystikern und Mystikerinnen des Hochmittel­ alters mit solchen des 15. Jahrhunderts vergleichen will, dann muss das be­ 1 Es waren besonders Frauen, die auch im Spätmittelalter häufig genug schon im irdi­ schen Leben die innige Nähe Christi empfanden.

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sonders sorgfältig geschehen. Denn die aus dem Hochmittelalter tradierten Aussagen sind meistens von Männern oder Frauen aufgeschrieben worden, die sehr persönliche Erfahrungen gemacht haben wollen. Von vornherein kann man wohl davon ausgehen, dass es im Hochmittelalter stets nur eine sehr geringe Zahl von Menschen war, die meinte, Gott schon während des Erdenlebens so nahe gekommen zu sein oder kommen zu können, dass von einer unio mystica die Rede sein konnte. Paul Vovelle nannte sie „Alpinis­ ten der Spiritualität“. Unverzichtbar scheint mir zuallererst zu sein, dass man sich miteinander darüber verständigt, was man denn als .christliche Mystik im Abendland' anerkennen will. Voneinander unterscheiden muss man - selbst wenn man nur sehr grob differenzieren will - eine sehr strikte und eine weitere Defi­ nition. Die Anhänger einer sehr strikten Definition .abendländischer Mystik' wollen von ,Mystik' nur dann sprechen, wenn das Ziel die mystische Ver­ einigung eines Seelenteils des Menschen mit Gott (unio mystica) ist2. Auf den ersten Blick scheint Peter Dinzelbacher anders vorgehen zu wollen. Er wählt zu Beginn seines Buches über .Christliche Mystik im Abendland' einen weiten religionswissenschaftlichen Zugang, der auch fernöstliche Mystik einschließen soll, und formuliert: Mystik in diesem weiten Sinne ist „das Aufgehen des Menschen in etwas Impersonalem, dem Göttlichen, dem All, ,ja vielleicht in etwas, das noch hinter Gott liegt, einem .Leeren' oder Nichtseienden.“'3 Er beschränkt seine Darstellung dann jedoch auf die christliche Mystik im weiteren Sinne und zählt zu ihr „die gesamte Frömmigkeitshaltung, die zu diesem Erleben hinführen will.“4 Kurz danach grenzt er erneut stark ein und schreibt: „Aufgrund un­ serer Definition würden wir also eine auch noch so intensive religiöse Devotion nicht als .mystisch' bezeichnen, wenn sie nicht letztlich die Ver­ einigung mit Gott schon auf Erden, sei es auf welchem Weg auch immer, anzielt.“5 Damit scheint mir Dinzelbacher sich denn doch von dem weiten religionswissenschaftlichen Zugang ab- und einer recht strikten Definition zuzuwenden. Ich gehe deswegen bis auf weiteres davon aus, dass von .christlicher Mystik im Abendland' im strikten Sinne nur dann gesprochen werden darf, 2 Heranziehen kann man dafür etwa die Skizze von Alois Max Haas: „Was ist Mystik?“ In: Kurt Ruh (Hg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, S. 319-341. 3 Peter Dinzelbacher: Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn etc. 1994, S. 9. Er zitiert seinerseits Alfred Bertholet und Hans Freiherr von Campenhausen (Hg.): Wörterbuch der Religio­ nen, 4. Auflage, Stuttgart 1985, S. 411. 4 Dinzelbacher: Christliche Mystik im Abendland (wie Anm. 3), S. 10. 5 Ebd.

Mystische Vereinigung - erst im Himmel oder schon auf Erden?

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wenn ihr Ziel die unio mystica schon während des Erdenlebens ist. Wo anders ist sonst die Grenze zu ziehen zwischen Mystik einerseits und Spi­ ritualität, inniger Gottessehnsucht andererseits? Freilich stellt sich dann die Forderung, Äußerungen adäquat einzuordnen, die bei aller Demut doch auf unmittelbare Gottesnähe zielen.

2. Hoffnung auf Gottesnähe erst im Jenseits Die meisten Autoren und Autorinnen religiöser Texte des 15. Jahrhunderts gingen auf den Wegen kirchlich gebilligter Lehre. Statt schon in diesem irdischen Leben nach der seligen Schau zu streben, verlangten die meisten von ihnen danach erst im Jenseits. Hier auf Erden begnügten sie sich da­ mit, verdienstvoll zu leben. Sie boten Trost und empfahlen Gelassenheit. Es ging ihnen um , Innigkeit1, um ein Erleben der Nähe Gottes, aber nicht um mystische Einswerdung6. Oft genug war damit ein Sich-Ergeben in Gottes Willen verbunden. Des Christen eigener Wille sollte dem Willen Gottes gleichförmig werden. Auf diese für die kirchliche Hierarchie ganz und gar unproblematische Weise konnte sich ein Christ auch auf Erden schon Gott nahe fühlen. Eine wichtige Rolle dürften hierbei vor allem Beichtväter gespielt ha­ ben, die sicherstellen wollten, dass es die Aufgabe, aber auch das Vorrecht der Kirche sei, Heil zu vermitteln. Solche Beichtväter konnten fürchten, gerade ihre besonders frommen Beichtkinder könnten im Umgang mit dem Göttlichen zu kühn sein: Wenn unmittelbarer Kontakt mit Gottvater oder Christus schon im irdischen Leben erreichbar ist, dann können die Gnaden­ mittel der Kirche im Verhältnis dazu als minder wichtig betrachtet wer­ den7. Und die Rückbindung der Gottesnähe an die Vermittlung durch die christliche Kirche musste einem spätmittelalterlichen Kirchenmann am Herzen liegen. Jeder Versuch, Gnadenerweise Gottes zu erzwingen, wurde denn auch als Hochmut scharf abgelehnt. Ein etwa 1450 verfasster Send­ 6 Vgl. zur Meditation in Texten der Devotio modema ULRIKE Hascher-Burger: Gesungene Innigkeit. Studien zu einer Musikhandschrift der Devotio modema (Utrecht, Universiteitsbibliotheek, ms. 16 H 34, olim B 113). Mit einer Edition der Gesänge, Lei­ den 2002 (= Studies in the History of Christian Thought 106), S. 100: „Die Meditation der Devotio modema hatte nicht in erster Linie die mystische Vereinigung mit Gott im Auge, sondern diente dem praktischen Fortschreiten in der Tugend, dem persönlichen Heilsfortschritt. Ziel war weniger eine unio mystica mit Gott im Leben als vielmehr eine Verbindung mit Christus nach dem Tod.“ 7 Vgl. Werner Williams-Krapp: „Dise ding sint dennoch nit wäre Zeichen der heiligkeit“. Zur Bewertung mystischer Erfahrungen im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990), H. 80: Frömmigkeitsstile im Mittelalter, S. 61-71.

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brief wandte sich an eine geistliche Tochter und warnte sie davor, der Teu­ fel könne sich durchaus auch in einer Marienerscheinung verstecken8. Wer auf Erden durch unerlaubte ekstatische Erfahrungen in die Irre gehe, der werde Jesus in der Ewigkeit nicht zu sehen bekommen9. Es werden nicht die religiösen Bedürfnisse der Christen des 15. Jahrhunderts sein, die sich gegenüber denen früherer Zeiten gewandelt haben. Denn warum sollte der Wunsch zurücktreten, die unio mystica mit Gott schon in diesem irdischen Leben zu erreichen? Eher halte ich es für wahrscheinlich, dass die Autoren und Autorinnen der Mehrzahl der über­ lieferten Texte sich Zurückhaltung auferlegt haben. In Liedtexten, die von Mitgliedern der Devotio modema gerne gesungen wurden, spielten brautmystische Motive eine große Rolle10. Bibelzitate wurden in erster Linie dem Hohenlied und der Apokalypse des Johannes entnommen, ln den beiden biblischen Büchern, auf die die Liedtexte in erster Linie zurückgreifen, kehrt die Aufforderung: „Komm!“ (veni) stets wieder11. Im Hohenlied ruft der Bräutigam der Braut beispielsweise zu: „Steh’ auf! Eile, meine Freundin, meine Taube, meine Schöne, und komm!“12 Und in der Apokalypse des Johannes heißt es: „Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wer dürstet, der komme [...]“13. Während in der hochmittelalterlichen Brautmystik die ,amica' des Hohenliedes als die Braut betrachtet wurde, verschob sich die Erwartung im Spätmittelalter: Als die Braut des Lammes wurde nun das ,Himmlische Jerusalem' der Apokalypse des Johannes an­ gesehen. Das Lied ,Philomena praevia' handelt von einer Nachtigall, die im Frühjahr singt. Der Liedtext stammt aus dem 14. Jahrhundert, fand aber vor allem gegen Ende des 15. Jahrhunderts weite Verbreitung14. Beherr­ schendes Thema des Liedes ist die Passionsmeditation. In der letzten von 90 Strophen wird angekündigt, nach dem Tode würden Seufzen und Schmerz ein Ende haben. Dann werde die „Schwester“ (soror) als Braut

Quellenzitat vgl. ebd. S. 68. 9 Quellenzitat vgl. ebd. S. 69. 10 Vgl. Ulrike Hascher-Burger: Zwischen Apokalypse und Hohemlied. Braut­ mystik in Gesängen aus der Devotio modema, in: Ons Geestelijk Erf 72 (1998), S. 246261. 11 Vgl. dazu ebd. S. 253. 12 Cant 2,10 (Vulgata). Beinahe wörtlich wiederholt der Bräutigam den Ruf wenig später (2,13). 13 Apk 22,17. 14 Vgl. Analecta hymnica medii aevi, hg. von Guido Maria Dreves und Clemens Blume, Leipzig u.a. 1886-1978, Bd. 50, S. 610. Hinweis bei Hascher-Burger: Zwi­ schen Apokalypse und Hohemlied (wie Anm. 10), S. 251, Anm. 27.

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des „Königs der Zeiten“ den Chören der Engel eingegliedert werden15. In diesem Liedtext wird die Vereinigung der Braut mit ihrem himmlischen Bräutigam in Form einer himmlischen Hochzeit erst nach deren Tod er­ wartet16. In den Liedtexten ,Dilectus meus‘ und ,Ubi est modo Iesus‘ fallt beson­ ders das „Du wirst gekrönt werden“ (coronaberis) auf17. Diese Verheißung wird oft mit der Aufforderung: „Komm!“ verbunden. Von der Krone ist in der Offenbarung des Johannes vielfach die Rede, ich zähle elf Belegstel­ len. Dem, der die Liturgie der sogenannten Nonnenkrönung vor Augen hat, legt sich die Annahme nahe, dass mit der häufig vorkommenden Zusage „du wirst gekrönt werden“ auf diese Zeremonie angespielt wird18. In ihr gelobt eine Nonne, die soeben Profess getan hat, dem Bischof als dem für sie erreichbaren irdischen Stellvertreter Christi bleibende Jungfräulich­ keit19. Als die höchste Auszeichnung geistlichen Lebens bei Frauen hat die Krönung für die Nonnen eine wichtige Rolle gespielt20. Die Nonnen trugen ihre Stoffkronen fortan offenbar selbst bei Nacht, wie aus einem Bericht über einen Klosterbrand hervorgeht21. Gerade Nonnen und Kanonikerinnen betrachteten ja ihre Lebensweise als die von Bräuten Christi22. In einem Brief aus dem Jahr 1418 oder 1419 an Regularkanonikerinnen aus Utrecht, die sich im Kloster Diepenveen ins rechte klösterliche Leben einüben sollten, heißt es denn auch: „Unser sü­

15 Vgl. ebd. S. 252. 16 .Philomena praevia“, Strophe 90: „Tunc cessabunt gemitus et planctus dolorum, cum adiuncta fueris choris angelorum, nam cantando transies ad celestem chorum nupta felicissimo regi seculorum.“ Von Engelchören ist beispielsweise in Apk 4,11-12 die Rede, von der Hochzeit des Lam­ mes in Apk 19,7. 17 Vgl. Hascher-Burger: Zwischen Apokalypse und Hohemlied (wie Anm. 10), S. 253, erste Textzeile auf dieser Seite und S. 254, letzte Textzeile (bei Anm. 45). 18 Vgl. Eva Schlotheuber: Klostereintritt und Bildung. Die Lebenswelt der Nonnen im späten Mittelalter, Tübingen 2004 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 24), S. 156-174. 19 Vgl. ebd. S. 158. 20 Vgl. ebd. S. 161. 21 Vgl. ebd. S. 162. 22 Vgl. Van den doechden der vuriger ende stichtiger susteren van Diepen veen („Handschrift D“). Eerste gedeelte. De tekst van het handschrift, hg. von Dirk Adrianus Brinkerink, Groningen 1904 (= Bibliotheek van Middelnederlandsche Letterkunde, aflevering 70,72-74): hier S. 281-309: Der Traum von der großen Hochzeit, die in Diepenveen stattfinden sollte.

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ßer, liebenswerter Herr Jesus Christus, der Bräutigam der minnenden See­ le, ruft und vermahnt die minnenden Seelen stets von innen [.,.]“23. Die Verbindung von Einladung: „Komm!“ (veni) und Verheißung: „Du wirst gekrönt werden!“ (coronaberis) findet sich auch in dem Lied ,Di­ lectus meus‘, einer einstimmigen Antiphon. Der Liedtext beginnt mit ei­ nem Zitat aus dem Hohenlied. In derjenigen Liedtextfassung, die ins Wien­ häuser Liederbuch aufgenommen worden ist, schließt sich ein Marienlied an, und die Verheißung gilt dort eindeutig Maria24. Maria als Sinnbild der Kirche wird sowohl als Mutter als auch als Braut des Erlösers angerufen. Doch wer nur die erste Strophe singt, der kann diese Einladung auf sich beziehen: „Komm, du wirst gekrönt werden!“25 Eine Nonne konnte dem­ nach erwarten, sie werde nach ihrem Tode vom himmlischen Bräutigam auf ewig gekrönt werden, so wie sie bei der Nonnenkrönung vorläufig für dieses irdische Leben gekrönt worden war. Mit einem Hoheliedzitat beginnt ferner eine weit verbreitete Antiphon für Marienfeste: „Tota pulchra es.“26 Auch sie endet mit dieser Einladung „Komm!“ und der Verheißung: „Du wirst gekrönt werden!“27 Lebensbeschreibungen aus dem Schwesternbuch des St. Agneskonvents in Emmerich weisen eine Kombination von Entbehrung auf Erden und Hoffnung auf Vergeltung im Himmel auf. So weigerte sich beispielsweise Schwester Seguwit van Bruchese zeitlebens, Wein zu trinken. Von ihr ist die Aussage überliefert worden: „Aber wenn ich hier oben in den Himmel komme, dann will ich Wein trinken!“28

23 Übersetzt aus der von Brinkerink edierten Handschrift, fol. 33r'v; ebd. S. 324. Hier zitiert nach: Kees [Cornelis Adrianus Maria] Schepers: Bedudinghe op Cantica Canticorum, bewerkende vertaling van Glossa Tripartita super Cantica. Editie en teksthistorische studies. Diss. Rijksuniversiteit Groningen, 14. Januar 1999, S. 37. Herrn Kollegen Schepers danke ich für den Hinweis auf diese Stelle in seiner Dissertation. 24 Vgl. Das Wienhäuser Liederbuch, hg. von Peter Kaufhold, Wienhausen 2002 (= Kloster Wienhausen 6), S. 100-102. 25 Abweichend davon heißt es in der Fassung der Handschrift Universitätsbibliothek Utrecht, Ms. 16 H 34: „coronabitur". In der Edition innerhalb des Buches von Ulrike Hascher-Burger: Gesungene Innigkeit (wie Anm. 6), ediert als Lied Nr. 35. 26 Cant 4,7: „Tota pulchra es, amica mea, et macula non est in te.“ („Wunderschön bist du, meine Freundin! An dir ist kein Makel!“) 27 Wiener Handschrift, Österreichische Nationalbibliothek, nova series 12875, fol. 102r-103v: „Veni, coronaberis!“ Kopie im Besitz von Frau Dr. Ulrike HascherBurger. 28 Annette Maria Bollmann: Frauenleben und Frauenliteratur in der Devotio mo­ derna. Volkssprachige Schwesternbücher in literarhistorischer Perspektive, Diss. Rijks­ universiteit Groningen, 28. Juni 2004, S. 451 mit Anm. 117. Sie zitiert aus: Schwestembuch und Statuten des St. Agnes-Konvents in Emmerich, hg. von Annette M. Bollmann und Nikolaus Staubach, Emmerich 1998 (= Emmericher Forschungen 17), S. 251.

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Schwester Griet van Gorchem wollte ihre sterbende Mitschwester Berte Ruijtkens aufmuntern und sagte ihr, sie möge ihren himmlischen Herrn daran erinnern, wieviel Armut sie um seinetwillen auf Erden gelitten habe. Der Beichtvater aber formulierte diese allzu kühne Empfehlung zu einem demütigen Gnadengesuch um29. An der Grenze zwischen Leben und Tod konnte immerhin schon ein Vorgeschmack künftiger Herrlichkeit erwartet werden. So wurde Schwes­ ter Salome Sticken nach dem Bericht über ihr Sterben im Diepenveener Schwesternbuch vom himmlischen Bräutigam selbst ins himmlische Jeru­ salem geholt, wo sie ihn liebevoll sollte umarmen dürfen30. Im 15. Jahrhundert hegten recht zahlreiche Christinnen und Christen Erwartungen, die im Hochmittelalter einigen wenigen Vorbehalten geblie­ ben waren. Freilich formulierten sie ihre Hoffnungen vorsichtig und de­ mütig. Erst für die Zeit nach dem Tode erwarteten sie zuversichtlich inten­ sive Nähe zum himmlischen Bräutigam Christus.

3. Die Erwartung mystischer Vereinigung mit Gott schon im irdischen Leben in einigen Texten vor dem 15. Jahrhundert Manche Aussagen hochmittelalterlicher Mystiker sprechen von direktem Kontakt mit Gottvater oder Christus ohne kirchliche Vermittlung. Als Ein­ leitung zum Fortleben solcher Gedanken im 15. Jahrhundert erinnere ich an einige Beispiele solcher Formulierungen. Die Begine Hadewijch lebte im Herzogtum Brabant von etwa 1200 bis 1250. Sie schrieb ihren Freundinnen, es gelte, den Weg Jesu zu gehen. Durch das Kreuzes-Erleben innerer Dürre und äußeren Elends hindurch müssten sie zu der Herrlichkeit des genießenden Eins-Seins mit Gott auf­ steigen31. In ihrem neunten Brief schreibt sie: „Wo die Tiefe seiner Er­ 29 Vgl. Bollmann: Frauenleben (wie Anm. 28), S. 451. Zitiert ist dort aus: Schwestembuch (wie Anm. 28), S. 158. 30 Vgl. Bollmann: Frauenleben (wie Anm. 28), S. 548: „soe nam die Brudegom sijn ghemynde bruuet ter twelfter uren des nachtes ende brachte sie op den wech tot die hoghe stat Hierusalem, daer si hem nu in bescouwet, alst ghelic te geloven is, van ansicht tot ansicht. Ende in stediger mijnlijker omhelsinge gebruket [...]“. Zur Verwendung mystischer Sprache in der Lebensbeschreibung der Salome Sticken im Schwesternbuch des Klosters Diepenveen vgl. Wybren Scheepsma: Deemoed en devotie. De koorvrouwen van Windesheim en hun geschriften, Amsterdam 1997 (= Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen 17), S. 215. 31 Vgl. Christoph Burger: Hildegard von Bingen - eine Mystikerin? Visionen und Streben nach der Einigung mit Gott im hohen Mittelalter - theologische Reflexion über Mystik und demütige Bußhaltung im späten Mittelalter, in: Änne Bäumer-Schleinkofer (Hg.): Hildegard von Bingen in ihrem Umfeld - Mystik und Visionsformen in Mittelalter

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kenntnis ist, da wird er dich lehren, was er ist und wie wunderbar der eine Geliebte den anderen so durch und durch bewohnt, dass sie sich nicht länger voneinander unterscheiden. [...] Die eine süße göttliche Natur fließt durch sie beide. Beide sind sie ineinander eines und bleiben es.“32 Eine vergleichbare Aussage machte auch die Begine aus dem nord­ französischen Hennegau Marguerite Porete mit den Worten: „Tugenden, nun nehme ich für ewig Abschied von euch.“33 Der Kommentar des Ge­ sprächspartners, der Liebe: „Diese Seele rechnet weder mit Scham noch mit Ehre, weder mit Armut noch mit Reichtum, Wohlbehagen noch Un­ gemach, Liebe noch Hass, Hölle noch Himmel.“34 Marguerite weigerte sich, von derartigen Worten Abstand zu nehmen. Damit machte sie sich der Hartnäckigkeit (pertinacia) schuldig35. 36 1309 wurde ihr der Prozess ge­ macht, und sie wurde verbrannt. Eine der Anklagen, die im Prozess gegen Meister Eckhart im Jahre 1325 erhoben wurden, war die, er verwische die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf. Im Kölner Prozess wurde ihm vorgeworfen, er habe in einer Predigt gesagt: „Wir werden umgestaltet und in Ihn [Gott] verwandelt

und früher Neuzeit. Katholizismus und Protestantismus im Dialog, Würzburg 2001, S. 123-136: hier S. 132. 32 Hadewych: Brief IX, hier in eigener Übersetzung zitiert nach: Paul Vandenbroeck: ,Dit raken van Mij die onraakbaar ben', in: Ders. (Hg.): Hooglied. De Beeldwereld van Religieuze Vrouwen in de Zuidelijke Nederlanden, vanaf de 13de eeuw, Brüssel 1994, S. 15-154: hier S. 115, bei Anm. 350. Sehr aufschlussreich für das Miss­ trauen gegenüber weiblicher Spiritualität ist in diesem Aufsatz die chronologische Tabel­ le. Sie stellt päpstliche und bischöfliche Verordnungen zusammen, die anordnen, Begi­ nen zu überprüfen, zu verfolgen oder in Frieden zu lassen (S. 144, Anm. 15). 33 Vgl. Marguerite Porete: Le mirouer des simples ämes, hg. von Romana Guarnieri, Turnhout 1986 (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 69), 6,10-12, S. 24: „Vertuz, je prens conge de vous a tousjours, || Je en auray le cueur plus franc et plus gay || Voustre Service est trop coustant, bien je spay.“ Vgl. dazu Christoph Bur­ ger: De mysticus Ruusbroec en zijn kerk, in: Een claer verlieht man. Over het leven en werk van Jan van Ruusbroec (1293-1381), Hilversum 1993, S. 31-45 und S. 85-87: hier S. 36f. und S. 86. 34 Vgl. Porete: Le mirouer des simples ämes (wie Anm. 33) 7,3-5, S. 24. 35 Zu diesem Tatbestand im Ketzerprozess vgl. Susanne Köbele: Bilder der unbe­ griffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Tübingen/Basel 1993 (= Bibliotheca Germanica 30), S. 97-103. 36 Papst Johannes XXII.: Konstitution ,In agro dominico' vom 27. März 1329, in: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von Heinrich Denzinger und Peter Hünermann, 37. Aufl., Freiburg u.a. 1991, S. 401, Nr. 960: „Nos transformamur totaliter in Deum et convertimur in eum [...]“. Vgl. auch: Edition critique des pieces relatives au proces d’Eckhart contenues dans le ms. 33b de la bibliotheque de Soest, hg. von G. Thery, in: Archives d’histoire doctrinale et litteraire du moyen age 1 (1926/27), S. 129-268, angeführt bei Winfried Trusen: Der Prozeß gegen

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Jan van Ruusbroec wurde etwa 1380 in hohem Alter von dem damals noch jungen Organisator der Devotio Modema Geert Grote darauf ange­ sprochen, dass er Gottes Gericht nicht fürchte. Ruusbroec erwiderte, er sei von vornherein mit jeder Entscheidung Gottes einverstanden, wie auch immer sie aussähe. Er sehe also keinen Grund, sich zu furchten37. An sich ist das eine Aussage, die auf ganz unverdächtige Willens-Einigung deutet. Aber mit seinem Sprechen von „Einheit ohne Unterschied“ (enecheit zonder differende), die zwischen Gott und dem höchsten Seelenteil statt­ finden könne, schien Ruusbroec doch eine Grenze überschritten zu haben. Weil Ruusbroecs Denken im 15. Jahrhundert zu Kontroversen führte, soll es hier breiter dargestellt werden. Schon ein Zeitgenosse Ruusbroecs, Gheraert (Gerard) aus der Kartause Herne, nahm an dieser Aussage Anstoß. In der modernen Forschung werden einander widersprechende Standpunkte eingenommen, wenn es um ein Urteil über Ruusbroecs Kenntnis scholastischer Terminologie und scholastischen Problembewusstseins geht. Mommaers stellt sich auf den Standpunkt, der Kartäuser Gheraert habe dem von ihm verehrten Ruus­ broec zu Unrecht unterstellt, er habe damit eine ontologische Aussage machen wollen. Gheraert selbst habe Aristoteles’ Begrifflichkeit gekannt und sei an scholastischen Texten in lateinischer Sprache geschult gewesen. Ruusbroec aber habe eine Erfahrung beschreiben und nicht etwa eine Seinsaussage machen wollen. Nicht umsonst drücke er sich ja auch in dem ihm vertrauten Dietsch aus, wie man es in Brüssel sprach. Ruusbroec habe keineswegs den Unterschied zwischen Gott und der Seele leugnen wol­ len38. Durch die Übersetzung seiner Schrift ,Die geestelike brulocht1 in die lateinische Sprache sei Ruusbroec auf eine scholastische Denkweise fest­ gelegt worden, die er selbst nicht vertreten habe39. Mommaers entwirft das Bild eines volkssprachlich formulierenden, mit scholastischen Problemen entweder nicht besonders gut vertrauten oder aber daran nicht besonders interessierten Ruusbroec. Kurt Ruh ist freilich ganz anderer Meinung als Mommaers, was Ruus­ broecs Kenntnis der scholastischen Nomenklatur und Problemstellung be­ Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen. Paderborn etc. 1988, S. 68, bei Anm. 23. 37 Zur Bewertung dieses Gesprächs vgl. KURT Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 4: Die niederländische Mystik des 14. bis 16. Jahrhunderts, München 1999, S. 159: „Ruusbroec antwortete darauf mit der heiteren Überlegenheit, Selbstsicherheit und Noblesse eines Weisen.“ 38 Vgl. Paul Mommaers: ,Introduction‘, in: Jan van Ruusbroec, Boecsken der verclaringhe, hg. von Guido de Baere, Tielt/Leiden 1981 (= Studien en tekstuitgaven van Ons Geestelijk Erf deel 20, 1), S. 27-32 und S. 40-42. 39 Die These, die Übersetzung von Ruusbroecs auf dietsch geschriebener Schrift ins Lateinische verzerre deren Aussagewillen, vertritt Mommaers ebd. S. 30.

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trifft. Er schreibt ihm erhebliche Kenntnis zu40. Ruh lässt Aussagen Ruusbroecs nebeneinander stehen, die schwer miteinander vereinbar sind: einer­ seits bleibe laut Ruusbroec die „Einheit ohne Unterschied“ im Abgrund Gottes der ewigen Seligkeit im Himmel Vorbehalten. Andererseits aber spreche Ruusbroec auch von einem Besitz der ewigen Seligkeit schon auf Erden41. Das Bild Ruusbroecs, das Ruh zeichnet, ist das eines Mannes, der zwar in der Volkssprache schreibt und es vermeiden will, Aussagen zu ma­ chen, die den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf leugnen, der aber darin nicht konsequent ist. Neben Passagen, in denen von „Einheit ohne Unterschied“ nur so gesprochen werde, dass stets auch die Verant­ wortung des Mystikers für seinen Nächsten zur Sprache komme, stünden eben auch solche, in denen diese Spitzenaussage isoliert stehe. Zweifellos hat Mommaers sich intensiver mit Texten Ruusbroecs be­ schäftigt als Ruh. Andererseits ist gerade aufgrund seiner genauen Kennt­ nis von dessen Schriften nicht auszuschließen, dass er einer gewissen Nei­ gung zur Apologetik nicht völlig entgeht.

4. Hoffnung auf unio mystica im 15. Jahrhundert Dem belgischen Forscher Kees Schepers ist es zu verdanken, dass er auf ein umfangreiches Manuskript eines anonymen Erfurter Kartäusers des späten 15. Jahrhunderts aufmerksam gemacht hat42. Auf zwölf Seiten der Handschrift wendet dieser sich gegen den Pariser Theologieprofessor und Universitätskanzler Jean Gerson (1363-1429)43. Hatte dieser doch in zwei Lehrbriefen Aussagen aus einer ihm anonym vorgelegten Schrift kriti­

40 Vgl. RUH: Geschichte der abendländischen Mystik (wie Anm. 37), S. 68. Zur Ver­ teidigung der Schrift Ruusbroecs durch Jan van Schoonhoven (f 1432) und zur Wirkung der Kritik an Ruusbroec, die Gerson dann auf dem Konzil von Konstanz 1415 vortrug, vgl. ebd. S. 8lf. 41 Ebd. S. 72. 42 Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Q 51, aus der Kartause Salvatorberg in Erfurt. Laut Schepers umfasst die Papierhandschrift 289 Blätter, von denen einige auf das Jahr 1489 datiert sind. Geschrieben ist die gesamte Handschrift nach seiner Ansicht von einem einzigen Schreiber, der zugleich der Autor des Textes ist, um den es geht. Die Studie von Herrn Kollegen Schepers, aus der vorab zu zitieren er mir freundlicherweise gestattet hat, ist noch nicht publiziert worden. Der anonyme Kartäuser wird im Folgenden angeführt als Anonymus Carthusiensis. 43 Marc Vial hat zwar in seiner Dissertation: Jean Gerson theoricien de la theologie mystique, verteidigt in Genf am 27. Juni 2003, demnächst: Paris (Editions Vrin) 2006, für mich überzeugend aufgewiesen, dass Gerson 1425 eine Wandlung durchmachte und danach selbst mystische Erfahrungen hatte. Doch konnte Gerson die Wirkung seiner eigenen früheren Stellungnahme natürlich nicht zurücknehmen.

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siert44. Es handelte sich dabei um das dritte Buch von Ruusbroecs ,Die geestelike brulocht“45 46 in der 47 lateinischen Übersetzung des Willem Jordaens ,De ornatu spiritualium nuptiarum146. Der Erfurter Kartäuser verteidigt Ruusbroec gegen den Angriff Gersons und wirft ihm vor, weil der letztere keine mystische Erfahrung habe, fehle ihm echtes Verständnis der unio mystica41. Gerson argumentiere lediglich intellektuell. Der Kartäuser behauptet, Ruusbroec habe stets daran festge­ halten, dass die menschliche Seele Geschöpf bleibe48. Sie gehe laut Ruus­ broec auch dann nicht in Gott auf, wenn sie vollkommen liebe. Gegen die­ jenige Art der ontologischen Vereinigung, für die geworben zu haben Gerson ihn bezichtige, habe Ruusbroec vielfach polemisiert49. Der Kar­ täuser ruft aus: „Ach, Gerson, du hast das Königreich oder den Himmel, das in dir ist oder war, noch nicht gefunden.“50 „Verehrungswürdiger Herr Doktor, Gerson, versuche doch nicht, über die zu richten, die in der Schule der Heiligen Dreifaltigkeit selbst gelernt haben! Alles, was sie über den 44 Vgl. Jean Gerson: Epistola I ad fratrem Bartholomaeum, in: Andre Combes: Essai sur la critique de Ruysbroeck par Gerson. Bd. 1: Introduction critique et dossier documentaire, Paris 1945 (= Etudes de theologie et d’histoire de la spiritualite 4), S. 615635, und in: JOHANNES Gerson: CEuvres completes, hg. von Palemon Glorieux, Bd. 2: L’oeuvre epistolaire, Paris u.a. 1960, S. 55-62; Epistola II ad Bartholomaeum, in: Combes: Essai, Bd. 1, S. 790-804, und in: Gerson: CEuvres completes, Bd. 2, S. 97-103. 45 Jan van Ruusbroec: Die geestelike brulocht, hg. von Joseph Alaerts, Tielt/Tumhout 1988 (= Studien en tekstuitgaven van Ons Geestelijk Erf 20, 3). Bekannter ist es un­ ter dem Titel ,Die chierheit der gheesteliker brulocht“, so etwa in der Edition von Henricus Antonius Maria Douwes: De ornatu spiritualis desponsacionis [Jan van Ruusbroec; uit het Middelnederlands vertaald door Geert Grote]; kritische uitgave met commentaar, Diss. Universität Amsterdam 2000. 46 Jan van Ruusbroec: De omatu spiritualium nuptiarum, Wilhelmo Iordani inter­ prete, hg. von Kees [Cornelis Adrianus Maria] Schepers, Tumhout 2004 (= Corpus Chris­ tianorum, Continuatio Mediaevalis 207). 47 Anonymus Carthusiensis (wie Anm. 42), fol. 238v: „in theologia magister et doctor egregius, sed in theologia mistica inexpertus, nomine Iohannes Gerson, multa opuscula scripsit de theologia mistica, tamen stilus et materia ostendunt quod ea que scripsit non habuit in vita [...]“. 48 Ebd., fol. 239r: „Et idem Gerson ulterius sic inquit: ,Talis anima semper remanet in esse suo proprio quod habet in suo genere? Hoc idem Iohannes Ruysbroeck eciam scribit in isto libro; certus sum quia inuenietis hoc.“ 49 Ebd., fol. 235v-236r: „Sciendum est omnibus, quod illud, quod Gerson uoluit inse­ ruisse, scilicet quomodo in suprema unione anima creata nullomodo perdit esse suum, quod habet in proprio genere, hoc idem Ruysbroeck aperte in quibusdam locis insinuat, presertim in uno loco de hac felicitate [236r] inquit, quomodo sumus unus spiritus et una simplex fruicio, et deus cum deo super nos et super omnem differenciam premiorum ca­ piendorum. Nescio quid utiliter de hoc debeam dicere, et quomodo sumus unica unitas cum deo, quomodo tamen manebimus cum hoc alii ab unitate et a deo.“ 50 Ebd., fol. 240r, Marginalie zu einem längeren Gerson-Zitat: „O Gerson, nondum inuenisti regnum siue celum quod in te est seu fuit.“

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unbekannten Gott und über den unwissenden Aufstieg [der Seele] auf mys­ tische Weise geschrieben haben, das haben sie gut geschrieben. Sie haben diese Dinge nicht in Schulen oder in Universitäten gelernt. Vielmehr wur­ den sie durch den Heiligen Geist belehrt und gelangten durch ein spiri­ tuelles Leben so weit, dass sie in der Lage waren, diese Dinge zu schrei­ ben.“51 Der Kartäuser verknüpft seinen Widerspruch gegen Gersons Kritik mit dem Problem der docta ignorantia im Zusammenhang mystischer Theo­ logie. Nikolaus von Kues sage ja in seiner ,Apologia de Docta Ignorantia1, er habe über gelehrte Unwissenheit zunächst spontan geschrieben und da­ nach erst gelesen, was große Meister vor ihm über die höchste Form der Kenntnis Gottes gesagt hätten52. Kein noch so gelehrter Doktor könne die Werke des Dionysius Areopagita verstehen, wenn nicht bei ihm mystische Praxis der theoretischen Aneignung vorausgehe53. Der Kartäuser stellt Ruusbroec und Nikolaus von Kues als die echten Erben des geistlichen Vermächtnisses des Dionysius Areopagita dar. Gerson dürfe Ruusbroec nicht tadeln. Er dürfe sich nicht vermessen, die mystische Theologie des Dionysius mit der scholastischen Theologie versöhnen zu wollen, die eben rational sei54. Im Anschluss an Hugo von Balma sagt der Kartäuser, die beste Vor­ bereitung für mystisches Wissen sei beständiges brennendes Verlangen nach Einigung mit Gott. Er stellt den contemplativi die litterati gegenüber. Die contemplativi erwerben Kenntnis und Weisheit durch ihre Schau. Ver­ nunft dagegen kann nur daran hindern, mit dem Göttlichen in Kontakt zu kommen. Das ganze Plädoyer erweist den anonymen Kartäuser als einen bisher unbekannten Vertreter der Einigungsmystik im 15. Jahrhundert. In dem Liedtext ,Virgo flagellatur1 aus dem 15. Jahrhundert heißt es ausdrücklich, die Jungfrau, die besungen wird, bleibe im Kerker einge­ schlossen (carcere clausa manet). Unter diesem Kerker darf man gewiss den Körper verstehen und unter der Jungfrau die Seele. Doch, heißt es, der Heiland besucht die Jungfrau in dieser leiblichen Hülle und liebt sie, wie ein Bräutigam eine Braut liebt55. Der Preis, den die Jungfrau dafür bezahlt, ist freilich, dass sie geschlagen wird. Ohne Bild gesprochen: Ein Christen­ mensch, der während seines Erdenlebens die Erfahrung der unio mystica macht, wird auch Anteil am Leiden Christi bekommen. Im Unterschied zu 51 Ebd., fol. 240'; im Original lateinisch, hier in eigener Übersetzung. 52 Ebd., fol. 241’: „Nicolaus de Cusa [...] fatetur quod istam sapienciam diuinissimam a nullo doctore scolastico didicerit, sed, cum esset diuinorum secretorum cupidus deo ad­ herens, per spiritum sanctum edoctus est [...]“. 53 Vgl. ebd., fol. 24L. 54 Vgl. ebd., fol. 242r‘v. 55 Vgl. Hascher-Burger: Zwischen Apokalypse und Hohemlied (wie Anm. 10), S. 251: „sponsus amat sponsam, salvator visitat illam.“

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anderen Liedtexten des 15. Jahrhunderts wird in diesem hier eben nicht vorausgesetzt, dass erst nach dem Tode auf die beseligende Umarmung des Bräutigams gehofft werden dürfe. Ein weiteres Beispiel für solche Erwartung mystischer Vereinigung schon im irdischen Leben ist Alijt Bake. Sie wurde 1445 zur Priorin des Klosters Galiläa in Ghent gewählt. In dieser Funktion hatte sie die Mög­ lichkeit, weiterzugeben, was sie als „nächste Freundin des Herrn“ vernom­ men hatte, und sie nutzte diese Chance56. Wer die besondere Gnade eines vollkommenen Lebens der Gottesschau nicht erreiche, wer schwach, krank und trocken sei, der könne doch zumindest den Weg der Gelassenheit ge­ hen, schrieb sie57. Alijt Bake wurde 1455 abgesetzt und aus ihrem Kloster verwiesen. Im gleichen Jahr verabschiedete das Kapitel von Windesheim einen Beschluss, der es allen Klosterschwestern verbot, philosophische Werke oder »Offenbarungen4, worunter wohl mystische Texte zu verstehen sind, zu verfassen, zu übersetzen oder zu verbreiten. Da derartige Be­ schlüsse gewöhnlich aufgrund von konkreten Ereignissen gefasst worden sind, darf man davon ausgehen, dass die Erfahrungen, die das Leitungsgre­ mium mit Alijt Bake gemacht hatte, zu diesem Beschluss geführt haben58, ln einem Brief schilderte die Verbannte, welchen Unterschied sie zwischen den Männern des Leitungsgremiums und sich selbst sah. Ihr gehe es um das inwendige, übernatürliche Leben, das sich in Tugenden lediglich äußere. Den Vätern und Brüdern des Windesheimer Kapitels dagegen machte sie den Vorwurf, ganz im Äußerlichen stecken zu bleiben59.

56 Thom Mertens verweist dafür auf Alijt Bakes ,De louteringsnacht van de actie1. Vgl. Thom Mertens: Mystieke cultuur en literatuur in de Late Middeleeuwen in de Late Middeleeuwen, in: Frits van Oostrom u.a. (Hg.): Grote lijnen. Syntheses over Middelnederlandse letterkunde. Amsterdam 1995, S. 117-135 und S. 205-217: hier S. 207, Anm. 34. Der Text Bakes ist ediert in: Bernard Spaapen: Middeleeuwse passiemystiek, in: Ons Geestelijk Erf 42 (1968), S. 5-32. 225-261 und 374-421: hier S. 393,76-84. 57 Zitat bei MERTENS: Mystieke cultuur en literatuur (wie Anm. 56), S. 125. Zur »Gelassenheit1 vgl. Paul Gerhard Völker: ,Gelassenheit1. Zur Entstehung des Wortes in der Sprache Meister Eckharts und seiner Überlieferung in der nacheckhartschen Mystik bis Jakob Böhme, in: Franz Hundsnurscher und Ulrich Müller (Hg.): .Getempert und gemischet1. Festschrift für Wolfgang Mohr, Göppingen 1972 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 65), S. 281-312. 58 Vgl. Mertens: Mystieke cultuur en literatuur (wie Anm. 56), S. 124-126. Der lateinische Text des Kapitelbeschlusses befindet sich ebd. S. 208, Anm. 39. 59 Der niederländische Text ist zitiert: Ebd. S. 126, aus der Edition von Bernard Spaapen: Middeleeuwse passiemystiek, in: Ons Geestelijk Erf 41 (1967), S. 366, 305-314.

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5. Bescheidene Jenseitshoffnung und kühne Diesseitserwartung Über der Mehrzahl geistlicher Texte des 15. Jahrhunderts darf die Minder­ heit nicht aus dem Auge verloren werden, in der davon die Rede ist, dass ein Christ durchaus bereits im irdischen Leben nach der unio mystica streben kann. Auch aus dem 15. Jahrhundert sind Texte überliefert, die be­ zeugen, dass ihre Autoren die unio mystica entweder noch während ihres irdischen Lebens erhofften oder sogar meinten, sie bereits erlebt zu haben. Sie sind zweifellos in der Minderzahl. Die Mehrzahl der Texte spricht von einer Vereinigung mit Gottvater oder Jesus Christus, die erst im Himmel stattfmden wird. Sowohl in Liedtexten als auch in Schwestern-Viten wird die Hoffnung auf die unio mystica meistens auf die Zeit nach dem leiblichen Tod verschoben. Hier auf Erden gilt es, das Kreuz zu tragen und zu warten, heißt es dann. Aber auch wenn in der Mehrzahl der erhalten gebliebenen Aussagen lediglich von einer Hoffnung auf Vereinigung mit Gottvater oder Jesus Christus nach dem Tode die Rede ist, dürfen die Aus­ sagen derjenigen Autoren und Autorinnen, die auch im 15. Jahrhundert auf Vereinigung mit Jesus Christus schon während des irdischen Lebens hof­ fen, nicht aus den Augen verloren werden. Gerade für Nonnen und Kanonikerinnen legte es sich nahe, als Bräute Jesu Christi nicht bis nach dem Tode auf eine Begegnung mit ihrem himmlischen Bräutigam zu warten.

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„Gott berühren“: Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Klärung des Mystikbegriffs 1. Das ausgehende Mittelalter als Ära der Mystik Die jüngere Forschung zeigt eindrucksvoll und in vielfältiger Weise, dass die Religiosität des 15. und frühen 16. Jahrhunderts durch ein starkes Ver­ langen nach mystischer Lebensformung gekennzeichnet ist1. Das ausge­ hende Mittelalter ist offensichtlich nicht das Zeitalter einer verblühenden, sondern einer sehr lebenskräftigen Mystik2. Allerdings erfährt sie gegen­ über dem 14. Jahrhundert eine bemerkenswerte Transformation, in der sehr viel programmatische Neuorientierung liegt. Das zeigt sich vor allem in Johannes Gersons Konzeption einer mystischen Theologie3, aber auch in der weiteren Entwicklung bis hin zu Luthers Neuverständnis mystischer Erfahrung4. Die Umformung der Mystik tritt vor allem in der kritischen Korrektur der neuplatonisch geprägten Unio-Vorstellungen des 14. Jahrhunderts (Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse, Jan Ruusbroec) hervor. ' Vgl. die in den folgenden Anmerkungen zitierte Literatur zur Mystik des ausgehen­ den Mittelalters sowie die anderen Beiträge im vorliegenden Band (mit Literatur­ angaben). 2 Auch in dieser Hinsicht ist die Herbst-Metapher Johan Huizingas und ihre Wirkung bis in die neuere Literatur hinein zu korrigieren. Vgl. Jan A. Aertsen und Martin Pickave (Hg.): „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahr­ hunderts, Berlin/New York 2004. Bereits Oberman hat dieses Dekadenzmodell seines niederländischen Landsmanns korrigiert, indem er die mystischen Elemente in der Theologie Gabriel Biels (siehe unten Anm. 6), d.h. seine Konzeption einer Verbindung von Nominalismus und mystischer Lebensgestaltung, herausarbeitete; vgl. Heiko A. Oberman: Spätscholastik und Reformation, Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, S. 317-334 (der deutsche Titel verdeckt die Kritik an Huizinga, anders dagegen die amerikanische Originalausgabe: The Harvest of Medieval Theology, Cambridge/Mass. 1963). 3 Vgl. Christoph Burger: Aedificatio, Fructus, Utilitas. Johannes Gerson als Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris, Tübingen 1986, S. 110-143. 4 Vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Volker Leppin und Sven Grosse so­ wie meinen eigenen Luther-Aufsatz.

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Gegenüber einer Aufhebung der Grenzen zwischen Gott und Seele betont man mit Gerson (1363-1429) die bleibende seinshafte Differenz zwischen Gott und Kreatur5. Die innige Vereinigung der Seele mit Gott geschieht im erkennenden Lieben und liebenden Erkennen und ist daher höchste Steige­ rung der kognitiven und affektiven Seelenkräfte des Menschen, ein Gegen­ wärtigwerden Gottes im Innersten der Seele und zugleich ihr Herausge­ hobensein in den unvorstellbaren Bereich göttlicher Transzendenz; sie be­ deutet aber nicht, dass die Seele ihr eigenes, geschaffenes Sein verliert und göttliches Wesen annimmt. Die Distanz gegenüber einer häresieverdäch­ tigen, hochspekulativen und platonisierenden Wesensmystik bewirkt, dass man die Orientierung an älteren mystagogischen Vorbildern aus dem Be­ reich der monastischen, viktorinischen und franziskanischen Mystik des 12. und 13. Jahrhunderts, besonders an der Liebes- und Passionsmystik des Zisterziensers Bernhard von Clairvaux (ca. 1090-1153) und seiner Schüler, bevorzugt6. Auffallend an dieser Umgestaltung der Mystik innerhalb von hundert Jahren ist wohl ein dominierender Zug zu einer gewissen Entgrenzung, Demokratisierung' oder Popularisierung7 sowie gleichzeitig zu einer ver­ stärkten Normierung. Im Zentrum der mystischen Texte stehen nicht ge­ wagte Spekulationen, extreme Grenzerfahrungen und außergewöhnliche ekstatische Erlebnisse von Ausnahmemenschen, sondern die nicht-elitäre, einfache, den Eigenwillen loslassende und in den Kreuzweg des Leidens einwilligende Christusliebe8, die jedem Christenmenschen in der Alltäg­ 5 Vgl. Burger: Aedificatio (wie Anm. 3), S. 141 f. 6 Eine derartige Einstellung zur Mystik findet man beispielsweise bei dem Tübinger Professor Gabriel Biel (ca. 1410-1495), der seine spirituelle Heimat in der Devotio mo­ derna hatte. Vgl. Detlef Metz: Gabriel Biel und die Mystik. Untersuchungen zur Theo­ rie der Frömmigkeit beim .letzten Scholastiker', Stuttgart 2001; DERS.: Gabriel Biel und die Mystik, in: Ulrich Köpf und Sönke Lorenz (Hg.): Gabriel Biel und die Brüder vom gemeinsamen Leben. Beiträge aus Anlaß des 500. Todestages des Tübinger Theologen, Stuttgart 1998, S. 55-91. 7 Von einer „Demokratisierung des Mystik“ spricht im Blick auf das 15. Jahrhundert, besonders auf Gabriel Biel und die Devotio modema, Oberman: Herbst (wie Anm. 2), S. 318-322. 8 Vgl. etwa die normative Beschreibung des mystischen Weges als Buß- und Leidens­ weg der „kreuztragenden Minne“; dazu Volker Mertens: Artikel ,Kreuztragende Minne', in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 5 (1985), Sp. 376-379; VOLKER Honemann: Die ,Kreuztragende Minne'. Zur Dialogizität eines spätmittelhochdeutschen geistlichen Gedichtes, in: Susanne Beckmannn u.a. (Hg.): Sprachspiel und Bedeutung, Festschrift für Franz Hundsnurscher, Tübingen 2000, S. 471 480; Ausstellungskatalog: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, hg. von Peter Parshall, Rainer Schoch u.a., Ger­ manisches Nationalmuseum Nürnberg 2005, Nr. 87 (Kreuztragende Minne), mit Li­ teratur; vgl. ebd. auch Nr. 86 (Christus und die minnende Seele) und Nr. 88 (Christus zieht das Herz des Gläubigen zu sich). Diese drei Einblattdrucke, alle aus der zweiten

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lichkeit seiner gewohnten Lebensweise möglich ist9. Bevorzugte Orte mys­ tischer Bedürfnisse, Erfahrungen, Reflexionen und Anleitungen sind aller­ dings auch im 15. Jahrhundert die geistlichen Gemeinschaften der tradi­ tionellen Orden, insbesondere solche, die sich einer regelstrengen Reform ihrer >vita communis' verschrieben haben10. Hinzu kommen vor allem die reformbewussten Konvente der ,Devotio moderna1, in deren Literatur­ rezeption und -Produktion sich ebenfalls das findet, was der niederlän­ dische Forscher Thom Mertens unter dem Oberbegriff „mystische Kultur“ zusammenfasst11. Angesichts der popularisierten und diffundierenden Mys­ tik, wie sie für das ausgehende Mittelalter seit Gerson charakteristisch ist12, zeigt sich allerdings ein hoher Differenzierungsbedarf: Einer intensi­ ven Förderung mystischer Erfahrungsweisen von Seiten gelehrter theologi­ scher Autoren - ich erwähne als Verbreitungszentrum mystischer Theolo­ Hälfte des 15. Jahrhunderts und dem süddeutschen Raum, sind mit ihren Text-BildKombinationen Musterbeispiele einer popularisierten Mystik, die zur Konformität mit dem leidenden Christus in der Normalität des Alltagslebens anspomt. 9 Vgl. den Beitrag von Barbara Steinke unten S. 157 mit Anm. 65: „Also wohin sich der mensch ker oder wend oder wandel, daz im der herr Jesus an allen steten und allweg [= immer] begegen mit seim leiden. Und also zerfleust der mensch werlich in den herren Jesum Christum.“ Zum .Zerfließen* des Herzens vgl. unten S. 117-119. 10 Vgl. Werner Williams-Krapp: Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhun­ dert, in: Joachim Heinzle (Hg): Literarische Interessenbildung im Mittelalter, Stuttgart/Weimar 1993, S. 301-313; DERS.: Observanzbewegungen, monastische Spiritualität und geistliche Literatur im 15. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozial­ geschichte der deutschen Literatur 20 (1995), S. 1-15. Zum Nürnberger Dominikanerin­ nenkloster St. Katharina als herausragendem Beispiel für den Konnex zwischen Reform, Bibliothekswachstum und Pflege mystischer Literatur (im Blick auf die private Nonnen­ lektüre und die gemeinsamen Tischlesungen) vgl. besonders die beiden jüngsten Mono­ graphien von ANTJE Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster u.a. 2004; Barbara Steinke: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen 2006 (= Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 30). 11 Vgl. Thom Mertens: Mystieke cultuur en literatuur in de Late Middeleeuwen, in: Frits van Oostrom u.a. (Hg.): Grote lijnen. Syntheses over Middelnederlandse letterkunde, Amsterdam 1995, S. 117-135 (Anmerkungen: S. 205-217). Mertens gibt dem vorletzten Abschnitt seines Aufsatzes die Überschrift: Mystik für jedermann. Den Hin­ weis auf diesen Aufsatz verdanke ich Christoph Burger (Amsterdam). Ein eindrucksvol­ les Beispiel für diffundierende Mystik innerhalb der Devotio modema, die sich von da aus auch in starken Rezeptionsströmen außerhalb der Devotio modema verzweigt, ist die Verbreitung der .Imitatio Christi*; zu ihrem mystischen Charakter vgl. meinen LutherBeitrag unten S. 240 mit Anm. 10. Vgl. im Kontext der Devotio moderna auch den Bei­ trag Gabriel Biels zur Mystik: oben Anm. 6 und 7. 12 Zum Ausdruck „Diffusion der Mystik in der allgemeinen Frömmigkeit“ vgl. Peter Dinzelbacher: Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn u.a. 1994, S. 418-440.

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gie nur die Benediktinerabtei Tegernsee und hier besonders Bernhard von Waging (ca. 1400-1472)13 - steht ein geradezu „mystikfeindliches Klima in der Gelehrtenwelt“14 entgegen; und zwischen diesen beiden Polen gibt es alle möglichen Spielarten einer mehr oder weniger restriktiven Haltung gegenüber mystischen Erlebnisformen. Insbesondere ist zwischen dem drängenden Verlangen von Frauen, d.h. Nonnen, Beginen und Bürgers­ frauen, nach mystischer Lebensgestaltung und Unterweisung15 und einer teils abwehrenden, teils vorsichtig integrierenden Haltung der Seelsorger und Ordensoberen zu unterscheiden16; aber auch die mystische Einstellung von Frauen zeigt eine beachtliche Vielfalt zwischen forcierten und durch­ aus eigenwilligen Erfahrungsweisen der beseligenden Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam17 und einem sich selbst zurücknehmenden, 13 Vgl. Werner Höver: Theologia Mystica in altbairischer Übertragung, München 1971; Christian Bauer: Geistliche Prosa im Kloster Tegernsee. Untersuchungen zu Gebrauch und Überlieferung deutschsprachiger Literatur im 15. Jahrhundert, Tübingen 1996; Berndt Hamm: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Ger­ hard Müller, Horst Weigelt, Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der Geschichte der Evan­ gelischen Kirche in Bayern, Bd. 1, St. Ottilien 2002, S. 159-211: hier S. 170-172 und 204-206. - Aus dem Bereich der Universitätsmagister des Weltpriesterstandes, die einer mystischen Gestaltung der christlichen Existenz fördernd gegenüberstanden, ist etwa Gabriel Biel zu nennen; vgl. oben Anm. 6 und 7. 14 So die Formulierung von Werner Williams-Krapp: Kultpropaganda für eine Mystikerin. Das Leben der Dorothea von Montau im Sendbrief des Nikolaus von Nürn­ berg, in: Nine Miedema und Rudolf Suntrup (Hg.): Literatur - Geschichte - Literatur­ geschichte, Festschrift für Volker Honemann, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 711-720: hier S. 716. Die im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert „aufkommende Skepsis gegenüber frauenmystischen Bestrebungen“ habe schließlich auf dem Konstanzer Konzil dazu ge­ führt, „dass sogar die 1391 erfolgte Kanonisation Birgittas von Schweden bedauert wurde. Letztlich scheiterte auch die Heiligsprechung Dorotheas an diesem allgemein mystikfeindlichen Klima in der Gelehrtenwelt. Es ist zudem bezeichnend, daß die Viten von Mystikerinnen im 15. Jahrhundert kaum tradiert werden [...].“ 15 Zu einer Gruppe von Münchener Beginen und Bürgersfrauen, die von gelehrten Tegernseer Mönchen nach der Mitte des 15. Jahrhunderts mit deutschsprachigen mysti­ schen Texten versorgt wurden, vgl. Hamm: Theologie und Frömmigkeit (wie Anm. 13), S. 171 f. (mit Literatur). 16 Zur restriktiven oder gar ausgrenzenden Haltung von Ordensseelsorgern gegenüber bestimmten Phänomenen der Frauenmystik vgl. den Beitrag von Barbara Steinke un­ ten S. 144f. mit Literatur (Werner Williams-Krapp, Monika Costard u.a.) in Anm. 24 und 26; zu einer integrierenden Vorgehensweise vgl. ebd. unten S. 150-163. Wie stark eine integrative Haltung auf die Vorliebe der Nonnen für mystische Literatur eingehen und diese Neigung fördern, zugleich aber auch lenken konnte, zeigt das von Steinke (unten S. 150-155) genannte Beispiel der Dominikanerseelsorger Peter Kirchschlag und Georg Haß, die die Nonnen des Nürnberger Katharinenklosters mit der Übersetzung einer mystagogischen Schrift des Niederländers Hendrik Herp versorgten. 17 Vgl. aus dem Bereich der Devotio moderna den Fall der Alijt Bake, Priorin des Augustinerchorfrauenklosters Galilea in Gent, das zur Windesheimer Kongregation ge­

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kritisch reflektierenden Umgang mit außergewöhnlichen Gnadenerfahrun­ gen und gewagten Unio-Vorstellungen18.

2. Ein Beispiel aus den Schwesternbüchern der Devotio moderna: innere und äußere Berührung Gottes Wenn Mystik aber ein so dynamisches und vielgestaltiges Phänomen ist, gekennzeichnet durch Umformungen und Abbrüche, Neuaufbrüche und Kontinuitäten19, Typendifferenz und Gegenläufigkeiten, was kann man dann - in Anlehnung an die Terminologie der Quellen - überhaupt noch als ,mystisch4 bezeichnen? Wie gewinnt dieser Begriff die nötige Präg­ nanz, die es verbietet, ihn auf alle möglichen Phänomene inniger Devotion anzuwenden? Wie gewinnt er aber zugleich auch die gebotene Offenheit und Weite, die den Transformationen des Mystischen flexibel gerecht wer­ den? Ich nähere mich dieser terminologischen Aufgabe, indem ich ein Textbeispiel aus dem Bereich der Devotio moderna herausgreife, das durch die verdienstvollen Arbeiten von Anne Bollmann erschlossen wurde. In dem 1503 abgeschlossenen Schwesternbuch des St.-Agnes-Konvents von St. Emmerich wird über die 1487 verstorbene Schwester Jde Prumers be­ richtet, dass ihr Herz völlig von Gottesliebe und „Gnade und Süßigkeit des Heiligen Geistes“ erfüllt wurde20. Das widerfuhr ihr auch bei ihrer Arbeit hörte, und dazu Anne Bollmann: Een vrauwe te sijn op mijn selfs handt. Alijt Bake (1413-f 1455) als geistliche Reformerin des innerlichen Lebens, in: Ons Geestelijk Erf 76 (2002), S. 64-98. 18 Vgl. z.B. die Randbemerkungen einer Nonne des Franziskanerinnenklosters Oggelsbeuren, die sie im beginnenden 16. Jahrhundert in einen Taulerdruck eingetragen hat und in denen sie mit kritischer Wendung gegen Tauler die geschöpfliche Distanz der Seele zu Gott hervorhebt. Vgl. HENRIK Otto: Vor- und frühreformatorische TaulerRezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003, S. 153-156. Vgl. auch den Unterschied zwischen den mystischen Ver­ haltensweisen einer Margareta von Kenzingen (gest. 1428) und ihrer Tochter Magdalena von Freiburg aus der Perspektive der dominikanischen Seelsorger; dazu den Beitrag von Barbara Steinke unten S. 158f. mit Literatur in Anm. 69. 19 Zu diesen Brüchen innerhalb der mittelalterlichen Mystik vgl. die eindrucksvollen Beobachtungen von SUSANNE KÖbele: heilicheit durchbrechen. Grenzfalle von Heilig­ keit in der mittelalterlichen Mystik, in: Berndt Hamm, Klaus Herbers, Heidrun SteinKecks (Hg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 147-169. 20 Dem in der folgenden Anmerkung zitierten Text über die Gotteserfahrung der Nonne im Webhaus gehen in der Vita folgende Worte voraus: „Si en begeerden geen auervlodicheit, mer mijt sijmpelre noetdroeft was si toe vreden. Ende het was hoer duck pynlick ende moijelick, dat si sach ende mercten, dat sommijge alsoe stonden op die tijttelicke genochte ende wtwendige hebbelicheit, daer si ducwile mede verloeren of quijt worden der gracien ende sueticheit des heiligen Geistes.“ Übersetzung (hier und bei den

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am Webstuhl, wenn sie zugleich fleißig arbeitete und gottesfürchtig betete: „Sie pflegte sich so innig und devot dem Leben und Leiden unseres lieben Herrn zu widmen, dass ihr so viele Tränen flössen, dass das Tuch oftmals derart nass vor ihr hing, wenn sie dasaß und arbeitete, als ob es mit Wasser begossen worden wäre. Sie pflegte uns zu sagen, dass sie in ihren täglichen Aufgaben oft derart großen Genuss fühlte, dass es ihr jedes Mal, wenn sie die Lade [des Webstuhls] anschlug, so vorkam, als drücke sie dann Gott gegen ihre Brüste. So devot und innig war sie bei der Arbeit, was auch immer sie tat.“21 Mit seiner exemplarischen Stilisierung eines idealen Nonnenlebens be­ zeugt der Text das charakteristische Anliegen der niederländischen Devo­ tio modema, indem er die vorbildliche Frömmigkeit der Nonne und ihr besonderes Gnadenerleben in ihrer alltäglichen Arbeit als Handwerkerin eingebettet sein lässt. Mystik vollzieht sich nicht abseits der ,vita activa1, sondern hat ihren Platz in den profanen Lebensvollzügen einfacher, unge­ lehrter Menschen22. Zugleich aber verweist der Text über diese spezifische Kontextualisierung hinaus auf ein Wesensmerkmal mystisch geprägter folgenden Passagen dank der Hilfe von Anne Bollmann, Groningen): „Sie wünschte sich keinen Überfluss, sondern war zufrieden mit einfachen Dingen. Und es tat ihr weh und bedrückte sie, dass sie sehen und bemerken musste, dass einige so nach zeitlichen Genüs­ sen und Äußerlichkeiten verlangten, wodurch sie oft die Gnade und Süßigkeit des Heili­ gen Geistes verloren.“ Über Jde Prumers’ eigene Geisterfahrung heißt es vier Sätze vor­ her: „Mer nae dat die heilige Geist mit synre gracien hoer herte hadde bedouwet, soe wart et hoer suet ende lichte.“ „Doch nachdem der Heilige Geist mit seiner Gnade ihr Herz betaut hatte, wurde ihr alles [alle mühsamen Verrichtungen im Kloster] süß und leicht.“ Schwestembuch und Statuten des St. Agnes-Konvents in Emmerich, hg. von Anne Bollmann und Nikolaus Staubach, Emmerich 1998 (= Emmericher Forschungen 17), S. 86. Vgl. auch unten Anm. 23 und 26. 21 Ebd.: „Als si int werckhuijs was, soe was si duck lange tijt, datmen niet een onnut woert wt hoeren monde en hoerden, mer si dede vlittelicke hoer werck ende seer goddienstelick gaf si hoer tot God end tot hoeren gebede. Want si plach hoer alsoe ynnichlicke ende deuoetelicke te oeffenen in den leuen ende lijden ons lieuen Heren, dat si soe voel tränen störte, dat ducwile hoer dock alsoe naet voer hoer was, als si sat ende wrachte, of et mit water begaten hadde gheweest. Si plach ons toe seggen, dat si alsoe groete genoechte duck volden in hoere dagelixser oeffenige, dat hoer plach toe duncken alle mael, als si die lade aensloch, dat si dan God dructen tegen hoer börste. Aldus deuoetelick ende ynnich was si op hoer werck, wat dat si oec dede.“ 22 Anne Bollmann: Mijt dijt spynnen soe suldi den hemel gewinnen. Die Arbeit als normierender und frömmigkeitszentrierender Einfluss in den Frauengemeinschaften der Devotio modema, in: Rudolf Suntrup und Jan R. Veenstra (Hg.): Normative Zentrierung/Normative Centering, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 85-124; das niederländische Zitat im Aufsatztitel stammt aus dem Emmericher Schwestembuch (wie Anm. 20), S. 246. Vgl. auch die Monographie von Anne Bollmann: Frauenleben und Frauenliteratur in der Devotio modema. Volkssprachige Schwestembücher in literarhistorischer Perspek­ tive, Dissertation an der Rijksuniversiteit Groningen 2004, besonders S. 271-276, 364371 und 546-549.

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Texte und Bilder quer durch die verschiedenen Epochen und Richtungen der christlichen Mystik des Abendlandes. Die Schwester hatte, wie es heißt, das Gefühl, dass sie Gott selbst berührt, dass sie ihn an ihre Brüste drückt. Dieses intensive Kontakterlebnis bereitete ihr großen, beseligenden Genuss. Sie war von der „Süßigkeit des Heiligen Geistes“ durchdrungen'1. Der Süßigkeitsbegriff weist in seiner traditionellen mystischen Verwen­ dung23 24 auf eben diese Erfahrungsdimension eines unmittelbaren Kontaktes zu Gott. Gott ist nicht nur gegenwärtig, sondern er kommt dem Menschen so nahe, dass seine barmherzige Güte ,geschmeckt1 und als beseligende Umarmung hautnah gespürt werden kann, ln der Berührung der Brüste, die an das Hohelied Salomos und seine mystische Auslegungsgeschichte den­ ken lässt25, 26liegt offensichtlich die erotische Komponente einer innigen Liebesbeziehung der Schwester zu ihrem Bräutigam Jesus Christus“ ; vor allem aber zeigt diese Symbolik eine Einheit der seelischen und körperli­ chen Naherfahrung. Die Empfindungskraft der inneren, geistlichen Sinne ergreift auch das Körperempfinden. Dieser Zusammenhang wird nicht nur im Berührungserleben, sondern auch in den Tränen sichtbar, die so reich­ lich fließen, wenn sich die Schwester beim Weben Christi Leiden medita­ tiv vergegenwärtigt. Die Tränen sind bittere Tränen des innigen Mitlei­ dens, vor allem aber süße Tränen des Ergriffenseins von der heilvollen Gnadennähe der Passion27. Vor dem Hintergrund der mystischen Tradition kann man sagen: Das ergriffene Herz der Nonne bleibt nicht hart und trocken, sondern ,zerfließt1 in Liebe zu Christus, der sie beseligend berührt. So pflegt man den Hohe­ lied-Vers 5,6 „anima mea liquefacta est“ (meine Seele ist flüssig gewor­ den) auszulegen. Damit aber ist jene Verflüssigungssymbolik gegenwärtig, 23 Außer den beiden Zitaten in Anm. 20 und dem Zitat unten S. 119 mit Anm. 33 vgl. noch eine weitere Stelle aus der Vita der Jde Prumers im Emmericher Schwestembuch, ebd. S. 85: „[...] soe gevoelden si sulke gracie ende sueticheit in hoere herten, dat si der niet en had gegeuen om aller guet der werlt.“ „[...] sie fühlte eine Gnade und Süßigkeit in ihrem Herzen, dass sie davon nichts für alle Güter der Welt gegeben hätte.“ 24 Vgl. Jean Chatillon: Artikel ,Dulcedo/Dulcedo Dei‘, in: Dictionnaire de Spiritualite ascetique et mystique, Bd. 3 (1957), Sp. 1777-1795; Peter Dinzelbacher: Artikel ,Süße‘, in: ders. (Hg.): Wörterbuch der Mystik, 2. Aufl., Stuttgart 1998, Sp. 471. 25 Vgl. Cant 1,1: „Osculetur me osculo oris sui; quia meliora sunt ubera tua vino.“ Das .meliora' wird im Mittelalter in der Regel mit .süßer1 übersetzt. 26 Sie klingt an, wenn vom brennenden Verlangen Jde Prumers', sich mit Jesus zu vereinigen, die Rede ist; siehe unten S. 119 mit Anm. 33. 27 Vgl. Paul IMHOF: Artikel .Tränengabe', in: Dinzelbacher: Wörterbuch der Mystik (wie Anm. 24), S. 498f. (mit Literatur). Zur Unterscheidung zwischen leiblichem Weinen und innerem Weinen des Herzens vgl. Berndt Hamm: Wollen und Nicht-Können als Thema der spätmittelalterlichen Bußseelsorge, in: ders. und Thomas Lentes (Hg.): Spät­ mittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, Tübingen 2001, S. 111-146: hier S. 123f.

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die seit Bernhard von Clairvaux in vielen Variationen die abendländische Mystik bestimmt: Die eherne Grenze zwischen der Heiligkeit des Schöp­ fers und der Unheiligkeit der sündigen Kreatur wird durch Gottes Geist und die Liebe des Menschen verflüssigt. Die grenzüberschreitende Kraft des Heiligen Geistes entfacht die Glut der heiligmachenden Liebe; die Liebe aber lässt das Herz zerschmelzen und mit Gott eins werden, indem sie der Seele wieder ihre in der Gottesebenbildlichkeit ursprünglich ent­ haltene, aber durch den Sündenfall verloren gegangene Ähnlichkeit mit Gott (similitudo) zurückgibt. Im menschlichen Willen ist nun nichts mehr, was Gott widerstrebt, sondern nur noch der völlige Einklang mit Gottes Willen. „Dies erfahren“, sagt Bernhard, „heißt vergöttlicht werden“28, um dann erläuternd hinzuzufügen: „Jede menschliche Neigung muss in den Heiligen auf unaussprechliche Weise flüssig werden (liquescere) und ganz in Gottes Willen eingeschmolzen/hineingegossen werden (transfundi).“29 Zur Veranschaulichung dieser verflüssigenden Liebesvereinigung ver­ wendet Bernhard zwei eindrückliche Bilder, die dann in den mystischen Texten des Mittelalters ständig wiederkehren werden: zum einen die Meta­ pher des im Feuer erhitzten Eisens, das durch sein Glühen dem Feuer ganz ähnlich wird und durch die schmelzende Hitze seine bisherige, eigene Gestalt verliert; zum andern das Bild des kleinen Wassertropfens, der einer großen Menge Wein zugefügt wird, darin ganz zu verschwinden scheint und doch seine Natur (substantia) beibehält, aber dabei - im Prozess der Verähnlichung - ganz die Art des Weins, seinen Geschmack und seine Farbe, annimmt30. Obwohl hinter diesen Bildern die hochgeschätzte Autorität Bernhards stand, waren sie im Spätmittelalter, vor allem auf­ grund der Kritik Gersons31, umstritten. Besonders der Vergleich der Seele 28 „O amor sanctus et castus! O dulcis et suavis affectio! O pura et defaecata intentio voluntatis, eo certe defaecatior et purior, quo in ea de proprio nil iam admixtum relinquitur, eo suavior et dulcior, quo totum divinum est quod sentitur! Sic affici deificari est.“ Bernhard von Clairvaux: De diligendo Deo 10,28; zit. nach: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. von Gerhard B. Winkler, Bd. 1, Inns­ bruck 1990, S. 143,12-15. 29 Ebd. S. 143,20-22: „[...] sic omnem tunc in sanctis humanam affectionem quodam ineffabili modo necesse erit a semetipsa liquescere atque in Dei penitus transfundi voluntatem.“ 30 Ebd. S. 143,15-18. Hinzu kommt als drittes Bild der Vergleich der liebenden Seele mit der Luft, die, durchdrungen vom Licht der Sonne, zur selben Klarheit des Lichts umgestaltet wird, so dass sie nicht nur erleuchtet, sondern selbst Licht zu sein scheint (Z. 18-20). Es folgt der Textabschnitt der vorausgehenden Anmerkung und dann die wichtige Erläuterung Bernhards (Z. 22-24): Wie könnte Gott ,alles in allem“ sein (1. Kor 15,28), wenn im Menschen noch etwas vom Menschen übrigbliebe? „Manebit [homo] quidem substantia, sed in alia forma, alia gloria aliaque potentia.“ 31 Vgl. Burger: Aedificatio (wie Anm. 3), S. 141; Otto: Vor- und frühreformatori­ sche Taulerrezeption (wie Anm. 18), S. 157-159.

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mit dem Wassertropfen schien allzu leicht die als häretisch geltende Vor­ stellung von einem Aufgehen der menschlichen Natur im göttlichen Wesen zu fördern32. Die Verflüssigung sollte aber nicht die Verwischung und Aufhebung der Grenze, sondern ihre Durchlässigkeit symbolisieren. Man kann wohl sagen, dass die mystische Metaphorik der Verflüssi­ gung des Herzens und der verflüssigten Grenze zwischen Gott und Mensch zum Sinnpotential und Assoziationsfeld des Emmericher Textausschnitts gehört, wenn er von der Tränenflut der begnadeten und geisterfüllten Nonne spricht. Auch der Bildbereich des entzündenden und erhitzenden Feuers ist präsent, indem ein vorausgehender Abschnitt der Vita das Ver­ langen Jde Prumers’ nach einer Art von ,unio mystica‘ mit ihrem Liebsten zur Sprache bringt: „Oh, wie weise und klug war sie, dass sie sich so flei­ ßig bemühte, in Jesu Gesellschaft zu sein und sich mit ihm zu vereinigen, von dessen gegenwärtiger Süßigkeit sie so angezogen und entflammt war, dass sie brannte wie ein Seraphim“, d.h. mit engelgleicher Liebeskraft den vertrauten Umgang mit Jesus begehrte und genoss33. Allerdings bewegen sich diese Textpassagen - ganz im Sinne der Devotio modema und ihrer Frömmigkeitsziele - auf der harmlosesten, über jeden Verdacht inkorrekter Denk- und Redeweise erhabenen Mystikebene. Nicht von einer Verwand­ lung des Menschen in das göttliche Wesen hinein oder der Gottesgeburt im Seelengrund ist die Rede, sondern vom beglückenden affektiven Kontakt mit Gott. Worüber der Text über Jde Prumers am Webstuhl ausdrücklich spricht, ist die von der Nonne intensiv erlebte Gnadennähe Gottes, die ihr durch unmittelbare Berührung Wonne bereitet. Wesentlich ist dabei die ständig wiederholte Verbindung von innerer und äußerer Berührung wäh­ rend des synchronen Arbeitens und Betens. Das heißt: Genuss bereitet der Schwester sowohl die meditativ eingeübte seelische Berührung durch das leidvolle Leben Jesu, die sich in leiblichen Tränen äußert, als auch die rhythmisch wiederkehrende körperliche Berührung durch den Webstuhl, die für sie zur inneren Berührung wird. Seelisches und körperliches Erle­ ben sind im Rhythmus des Webens unmittelbar aufeinander bezogen.

32 Vgl. Otto ebd., S. 159-161. 33 „Och, woe wijs ende vroet was si, dat si hoer soe vlittelick pynden toe wesen in Ihesus geseelscap ende mit hem toe verenigen, van wes tegenwoerdiger sueticheit si alsoe getagen ende ontsteeken wart, dat si brande als een serafyn.“ Emmericher Schwestembuch (wie Anm. 20), S. 85f.

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3. Die brautmystische Devotion des Umarmens und Küssens, Schmeckens und Kostens Das Mystische an dieser Exempelgeschichte ist der persönlich erfahrene, unmittelbare und liebesintensive Kontakt zwischen dem Menschen und jener Gottheit, die im Text trinitarisch als Heiliger Geist, Herr (Jesus Christus) und Gott benannt wird. Mit ihrer Erfahrung, dass sie Gott selbst gegen ihre Brüste drückt, steht die Schwester in der langen Tradition einer mystischen und insbesondere passionsmystischen Berührungsdevotion, die ihre Metaphern des Umarmens und Küssens aus der Hohelied-Allegorese schöpft. Berühmt wurde vor allem die Vision Bernhards von Clairvaux, dass sich der blutende Passionschristus vom Kreuz herabneigt und ihn lie­ bevoll umarmt34. Um aus der Fülle des Materials nur noch ein weiteres Beispiel anzuführen, erwähne ich die franziskanische Mystikerin Angela von Foligno. Am Karsamstag 1294 erlebte sie in einer Ekstase (in excessu mentis), wie sie mit Christus zusammen in seinem Grab liegt. Sie küsste seinen Mund und legte ihre Wange an die seine. Weiter heißt es im Text: „Christus legte seine Hand auf ihre andere Wange und zog sie an sich, und diese Christusjüngerin hörte, wie er zu ihr die Worte sprach: Bevor ich im Grab lag, habe ich dich so eng an mich gezogen [...]. Und sie wurde von unbeschreiblicher Freude ergriffen.“35 Diese unmittelbar erfahrene Berüh­ rungsnähe zum Gekreuzigten gewinnt für Angela auch die Dimension, dass sie wie Franz von Assisi den leidenden Christus in Gestalt von Aussätzi­ gen berührt und sogar das Wasser trinkt, mit dem sie im Hospital die vom Aussatz zerfressenen Gliedmaßen der Kranken gewaschen hatte. Nach die­ ser exzessiven Identifikation mit dem Passionschristus erlebten Angela und ihre Dienerin, die es ihr gleichgetan hatte, höchste Wonne: „Wir verspür­ ten eine derartige Süße, dass wir auf unserem ganzen Weg großen Wohlge­ schmack empfanden, als hätten wir die Kommunion empfangen.“36 Dem ausgehenden Mittelalter wird die extreme Form von Angelas Ek­ stasen, Visionen und Aktionen, die für das 13. und 14. Jahrhundert durch­ aus charakteristisch ist, fremd. Was aber bleibt, ist das starke Bedürfnis, das ,süße‘ Erleben der innigen und vertrauten Nähe des Göttlichen als tak­ 34 Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 5 (1973), Art. ,Bernhard von Clairvaux', Sp. 371-385: hier Sp. 378f. (Amplexus). 35 Angela von Foligno: Memoriale 7; zit. nach Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Bd. 3, Freiburg i.Br. u.a. 1999, S. 273, mit dem lat. Zitat in Anm. 183: „[...] et Christus posuit manum suam super aliam maxillam et strinxit eam ad se, et ista fidelis Christi audivit sibi dici ista verba: Antequam iacerem in sepulcro tenui te ita astrictam [...] Et ipsa erat in laetitia maxima inenarrabiliter.“ 36 Angela von Foligno: Memoriale 5; zit. nach McGinn ebd. S. 272, mit dem lat. Zitat in Anm. 181: „Et tantam dulcedinem sensimus, quod per totam viam venimus in magna suavitate ac si communicavissemus.“

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tiles Geschehen zu stilisieren: als beseligendes Berühren, Umarmen („hal­ sen“), Drücken, Küssen, Schmecken und Kosten. Diese Art von erotisch­ sinnlicher Brautmystik, die auf die alte Tradition der Bernhardschen Hoheliedauslegung zurückgreift, ist im späten 15. Jahrhundert vor allem in Gestalt der Nonnenunterweisung präsent. Eine Fundgrube für solche Texte sind die deutschsprachigen Handschriften des Observanten Nürnberger Do­ minikanerinnenklosters St. Katharina, die erst jüngst in der Erlanger Dis­ sertation von Barbara Steinke eine vorzügliche Auswertung erfahren haben37.

4. Ein Beispiel aus dem Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina: mystischer Umarmungsgenuss der Seele und des Körpers Als instruktives Textbeispiel greife ich einen Sendbrief heraus, den ein unbekannter Seelsorger für die Nonnen verfasst hat und der die Überschrift ,Von Jesu Bettlein1 trägt38. Ausgangspunkt für den Verfasser ist die häu­ fige eucharistische Kommunion der Schwestern. Er schreibt: „Nun habe ich vernommen, wie ihr, die Bräute Christi, euren Bräutigam (gesponsen) dazu gebracht habt, dass er euer [vertrauter] Nachbar ist und stetiglich im Sakrament bei euch ist.“39 40 Dieser sakramentale Einstieg des Sendbriefs ist ganz traditionell, denn seit dem 13. Jahrhundert pflegte sich die brautmys­ tische Erfahrung der Beginen und Nonnen in bevorzugter Weise an den Kommunionsempfang zu knüpfen. Im Erleben und Nacherleben der Eucha­ ristie wurde die verobjektivierende Realpräsenzvorstellung des scholasti­ schen Transsubstantiationsdogmas zu einer innigen personalen Liebesbe­ gegnung mit dem schönen, virilen Christus-Bräutigam umgestaltet. Unser Text entfaltet diese brautmystisch-erotische Erlebnisdimension, indem er jede Nonne persönlich auffordert, ihr Herz zu einem Kämmerlein auszu­ bauen und darin ihrem Liebsten durch ihre tugendhafte Frömmigkeit ein wahres Lustbettlein zu bereiten4". Das leibliche Berühren und Verzehren

37 Steinke: Paradiesgarten oder Gefängnis? (wie Anm. 10); vgl. auch die auf dieser Arbeit beruhende Darstellung Steinkes unten S. 139-164. 38 Nürnberg Stadtbibliothek, Ms. Cent. VI,43b, fol. 83v-92v: ,Hie hernach stet geschriben zu mal gute materig, und dy selbige ist von Ihesus pettlein1. Edition als Appendix bei JEFFREY F. Hamburger: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 418-426. 39 Hamburger ebd. S. 418,16-18: „Nw hab ich vernümen, wy ir, dy prawt Christi, ewren gesponsen do zu gebracht habt, das er ewer nachtpawer ist und stetiglich im sacrament bey euch ist.“ 40 Ebd. S. 418,24-30.

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der Hostie verwandelt sich so in das Umarmungserlebnis der körperlichen Sinne und des geistlichen Empfindens: Der Bräutigam kommt zu dir im Sakrament, sagt der Seelsorger zur Nonne. Und wenn du ihn „gegenwertiglich im mund hast“, so spürst du die Größe seines Begehrens. Er spricht zu dir: ,Ach laß mich zu deiner Seele, so will ich dich mit solchen Freuden umgeben, dass auch dein ganzer Leib vor Freude bewegt wird.1 1 Die Nonne soll sich dann nicht länger zurückhalten, sondern den schönen Bräutigam in das Schlafgemach ihres Herzens lassen und sich dort mit ihm auf das wohlbereitete Bettlein legen41 42. Es ist der nackte Christus der Pas­ sion, den sie in ihre Arme schließt. Denn Christus, heißt es, hat sich vor seiner Kreuzigung ausziehen lassen, damit er nackt und ganz unmittelbar bei ihr ruhen kann43. Der Sendbrief schließt mit folgenden Worten des Seelsorgers und Autors: „Nun, meine allerliebste Tochter in Christo, wenn du nun also in den Armen deines Bräutigams liegst und diese Dinge alle vollbringst und merkst, dass er der allerlieblichste ist [...], so nimm den schönen Liebsten in deine Arme und drück ihn gar herzlich zu dir und küß ihn auf sein süßes, rosarotes Mündlein um meinetwillen, denn mir Sün­ der“, sagt der Briefautor, „gebührt solches nicht zu tun; das ist eigens sei­ nen Bräuten reserviert (es gehört eygentlich seinen prewten zu).“44 Was der Verfasser des Sendbriefs als erstrebten mystischen Umarmungs- und Vereinigungsgenuss der Liebenden ausmalt, ist zwar aus­ drücklich ein geistlich-innerliches Gnadengeschehen - „wenn der herr sein gnad so miltiglich in die sele geust“45 - , aber ebenso ausdrücklich auch ein leibliches Geschehen. Es lässt den eucharistischen Verzehr des Leibes Christi zu einem ganzheitlichen personalen Berührungserlebnis werden. „Die Arme sind ausgebreitet, dich zu empfangen“, sagt die Nonne zu Christus, „und der ganze Körper (leichnam) freut sich deiner Gegenwär­ 41 Ebd. S. 423,210-213, mit den Worten Jesu: „Ach, laß mich zu deiner sele, so will ich dich mit solchen freuden umb geben, das aller dein leib also vor frewden bewegt wirt [...].“ 42 Ebd. S. 424,239-257. 43 Ebd. S. 424,244-247: „[...] darumb das er bloß und an [= ohne] alle mittel bey dir gerüen müg.“ Es ist bemerkenswert, wie explizit hier der Autor die mystische Unmittel­ barkeit, d.h. das unvermittelte Naherleben Gottes, durch die reale Nacktheit des Erlösers symbolisiert findet. 44 Ebd. S. 426,321-329: „Nw, mein aller libste tochter inn Cristo, wenn du nw also in den armen deins preutigams ligst und dise ding alle volbringst und merckest, das er der aller liplichst ist von der vorgenanten stück wegen, so nymm das schöne lieb in dein arm und drück in gar herczlich zu dir und küß inn auff sein süß, rosolotes mundlein von mein wegen, wann mir Sünder gepürt ein sölchs nit zu thün; es gehört eygentlich seinen prew­ ten zu. So beger ich doch von gründ meins herczen, das meinem gnedigen herm ein solch mynne trück von meinen wegen gescheh, und pitt in auff dy zeit besunder für mich. Amen.“ 45 Ebd. S. 423,213f.

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tigkeit; und deine Braut, die Seele, wartet immer und immer, wenn ihr Liebhaber kommt.“46 Ebenso wie die Emmericher Nonne die Nähe des Passionschristus nicht nur im Vorgang meditativer Versenkung, sondern auch als körperlichen Druck gegen ihre Brüste erfahrt, betont auch der Seelsorger des Sendbriefs, dass der mystische Genuss des liebevollen Drü­ ckens auch auf den Körper der Nonne überspringt und ihn als Umarmungs­ freude durchflutet47. Mit solchen Aussagen fügt sich der Sendbrief in eine durchaus gängige Stilisierung mystischen Erlebens ein. So findet sich unter den Handschriften des Nürnberger Katharinenklosters auch ein Traktat ,Lob des Klosterlebens1, dessen Autor den Nonnen in Aussicht stellt, dass ihnen die „wunderliche süssigheyt“ des Umarmens, Drückens und Küssens „nycht allein in dem geyst, ja auch in dem leybe“ widerfahren wird und so all ihr Begehren stillt, alle Bedürfnisse seelischer und körperlicher Art er­ füllt48. Dieses ganzheitliche, seelisch-körperliche Berührungserleben wird im Spätmittelalter zu einer weiblichen Domäne, vor allem ein Privileg der klausurierten Nonnen, die sich in exklusiver Weise durch einen Ehebund mit ihrem virilen gottmenschlichen Partner verbunden wissen dürfen - in der Art, wie es der Verfasser des Sendbriefs ,Von Jesu Bettlein1 formu­ lierte: denn das „gehört eygentlich seinen prewten zu“. Allerdings ist die mystische Berührungserfahrung in ihrer Vielschich­ tigkeit keineswegs auf Frauen begrenzt. Wie auch Männer in der stilisie­ renden und typisierenden Darstellung mystischer Vertrautheit berührt und 46 Ebd. S. 423,220-222: „Dy arme sind außgepreit, dich zu umbvahen, und der gancz leichnam frewt sich deiner gegenwertigkeit. Und dein gesponß, dy sei, wart ye und ye, wenn ir liebhaber kum.“ 47 Vgl. etwa ebd. S. 424,2f.: Die Seele spricht: ,„[...] so will ich in herczenlichen lie­ ben, daz sich dy freud in den leichnam geust? Und also so soltu dich nicht lenger ent­ halten, und alczuhant newß [= genieße] den hern und trück in mit allen deinen kreften in dein hercz.“ S. 423,214-216: „[...] so wirt der gancz leichnam pidem [= bidmen, beben?] und daz hercz springen und hört nit auff zu toben, es sey denn, daz es den besleust, den es begert.“ Vgl. den Beitrag von Heidrun Munzert unten S. 302 mit Anm. 57. 48 Zitiert im Beitrag von STEINKE unten S. 143 mit Anm. 18. Zum Folgenden vgl. ebd. S. 159-162 sowie Eva Schlotheuber: Klostereintritt und Bildung. Die Lebenswelt der Nonnen im späten Mittelalter, Tübingen 2004, S. 166 mit Anm. 230: Zitat aus einem Ebstorfer Reformbericht des ausgehenden 15. Jahrhunderts über die durch die Nonnen­ weihe gestiftete Intensität der Christusnähe: „In ipsa consecracione imponitur nobis ve­ lamen et corona ob specialem integritatem ac cautelam virginalis castimonie, quam ad conservandam consecramur et copulamur [...] summo regi in sponsas legitimas et erimus ei tam propinque mortali corpore, quod nullo modo propius poterimus ei hic in terra adiungi.“ Damit ist freilich nichts über die persönliche Frömmigkeit und eine mystische Begnadung einzelner Nonnen gesagt, wie Schlotheuber mit Recht betont (S. 167), aber es ist eine gemeinschaftlich-institutionelle Basis der körperlichen Jungfräulichkeit gegeben („specialis integritas“), die jede Nonne dazu disponiert, die einzigartige Nähe ihres gott­ menschlichen Bräutigams und Ehegemahls in mystischer Intensivierung sowohl seelisch als auch leiblich („mortali corpore“) zu erleben.

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umarmt werden - man denke nur an die Christus-Johannes-Gruppen der spätmittelalterlichen Plastik - und welche geschlechtsübergreifenden Ge­ meinsamkeiten und geschlechtsspezifischen Besonderheiten dabei zu er­ kennen sind, ist ein eigenes Thema, das ich hier nicht weiter verfolgen kann. Soviel scheint freilich deutlich zu sein, dass die erotisch-sexuelle Seite der Berührungsmetaphorik im Spätmittelalter für die weibliche Er­ fahrungsdimension der ,Bräute Christi1 reserviert ist.

5. Die eschatologische Perspektive der seelisch-leiblichen Gotteserfahrung Das ganzheitliche Verständnis der mystischen Erfahrung, wie es aus den brautmystischen Texten zu erheben war, ist aus damaliger eschatologischer Sicht völlig plausibel. Gilt doch der gegenwärtige physische Körper als derselbe Leib, der am Jüngsten Tag aus seinem Verwesungszustand aufer­ weckt wird und als himmlischer Leib das Seligkeitsempfinden der Seele intensiviert. Dieser seelisch-körperliche Zusammenhang zwischen jetziger irdischer und künftiger himmlischer Existenz bildet stets den Bezugsrah­ men mystischer Texte und Bilder, auch wenn sie das Gewicht auf die ge­ genwärtige Gotteserfahrung legen49; denn der intensivierte Gnadengenuss im Diesseits wird stets als vorläufiges, eingeschränktes Vorauskosten (praegustus) der Freude verstanden, die dereinst von den Seligen in unge­ brochener, ewiger Fülle genossen werden kann. Was die mystische Beseligungserfahrung trotz aller Differenzen mit der himmlischen Seligkeit ver­ bindet, ist die jetzt schon mögliche Unmittelbarkeit im Gottesbewusstsein des Menschen: die geistige, seelische und leibliche, innige und bewusste Erfahrung einer persönlichen Begegnung mit Gott, eine unmittelbare Er­ fahrung seiner Gegenwart und Nähe50 und einer grenzüberschreitenden Vereinigung mit ihm, die liebendes Wissen und wissende Liebe bedeutet.

49 Vgl. etwa den Sendbrief ,Von Jesu Bettlein' (wie Anm. 38), S. 423,234-424,237: Die Seele spricht zum leiblichen Menschen: „Ich will dir mit der hilff meins allerlibsten geben, das dein leichnam nach dem jüngsten tag mit mir vereint und verklert wirt und mit der freud, dy ich hab, mit mir ewiglichen gebrauchest.“ 50 Zum wesentlichen Moment der Unmmittelbarkeit vgl. oben Anm. 43: „an alle mit­ tel“.

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6. Die religiöse Unmittelbarkeitserfahrung des Berührungs­ und Geschmackssinns Als intensivstes Ausdrucksmedium für diese schon im Diesseits mögliche Unmittelbarkeitserfahrung dient der spätmittelalterlichen Mystik die Er­ lebnisweise des Berührungs- und Geschmackssinns. Sprache und Bilder des Berührens und Schmeckens werden dabei nicht nur metaphorisch ver­ wendet, sondern in eine religiöse Sinnlichkeit hinein erweitert, die, wie ich zeigte, auch die leibliche Erlebnisintensität umfasst. Kein anderer Körper­ sinn kann die Unmittelbarkeit, Intimität, Innigkeit und vertraute Nähe des persönlichen Kontaktes so deutlich zum Ausdruck bringen wie die Sphäre des Berührens und Schmeckens. Sehen und Hören ist auch als Fern-sehen und Fern-hören möglich. Selbst im gleichen Erlebnisraum - etwa einer Oper oder eines Kinofilms - kann Sehen und Hören oder auch Riechen auf sehr distanzierte und kollektive Weise geschehen. Auch rein räumlich be­ trachtet ist ,Nähe‘ mehr als pure Gegenwart im gleichen Raum. Deshalb bevorzuge ich bei der Beschreibung der mystischen Religiosität den Ter­ minus ,Nähe‘ - Erfahrung der Nähe Gottes - gegenüber dem Begriff ,Ge­ genwart151. Vertraute und intime Nähe oder Annäherung kann selbstverständlich auch anders als durch Berührung geschehen, z.B. - wie gerade die mystische Literatur und Ikonographie zeigen - als Hören und inniges Gespräch oder intensives Sich-Anblicken51 52. Nähe gibt es also auch ohne Berühren und schmeckendes Kosten. Aber das Umgekehrte ist nicht möglich: Berühren und Schmecken gibt es - anders als Hören, Sehen und Riechen - nicht ohne die Nähe des unmittelbaren Kontakts. Und nur das ganz Nahe, innig Vertraute und Geliebte kann man und will man mit Ge­ nuss intensiv berühren und schmecken, wie es die Mystik über das süße Küssen, Umarmen und Drücken sagt. Intensiv hören und sehen aber kann und will man auch bei äußerer und innerer Distanz, ohne Vertrautheit und Liebe. Umgekehrt gibt es kaum etwas Unangenehmeres, als von einem anderen, der einem widerwärtig ist, angefasst zu werden. An der Berüh­ rung scheidet sich innigster Genuss und furchtbarste Qual. Diese Alltagser­ fahrung der Körpersinne erklärt, warum in der abendländischen Mystik bis

51 Vgl. Berndt Hamm: Die „nahe Gnade“ - innovative Züge der spätmittelalter­ lichen Theologie und Frömmigkeit, in: Aertsen und Pickave (Hg.): „Herbst des Mittel­ alters“? (wie Anm. 2), S. 541-557. 52 Vgl. im gleichen Sendbrief ,Von Jesu Bettlein1 (wie Anm. 38), der so intensiv vom Berührungsgenuß spricht, auch entsprechende Passagen über ,süße‘, ,liebliche1 Worte des Bräutigams Christus zu seiner Braut (z.B. S. 423,227 und 424,265-268) und über den beseligenden Anblick des Bräutigams, etwa S. 424,255-257: „Und also ker denn dein antlicz gegen den seinen und durchschawe es mit grosser grüntloser demütikeit und mit unaussprechenlichen frewden.“

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an die Schwelle der Reformation die spezifische Erlebnisweise des Berührungs- und Geschmackssinns zum Inbegriff der besonderen Gottesnähe und Gottunmittelbarkeit des begnadeten Menschen wird53. Im ausgehenden Mittelalter ist es üblich, die mystische Erfahrung als einen „gustus divinae dulcedinis“ zu bezeichnen54, und immer wieder wird dieses unmittelbare Innewerden der beseligenden Nähe Gottes mit der Erfahrung des Honigs verglichen: Seine Süße kann man nicht durch Worte und Bilder vermittelt bekommen; man muss ihn selbst in den Mund nehmen und schmecken, dann weiß man aus eigener Erfahrung, was die Süße des Honigs ist55.

53 Höchst aufschlussreich ist in dieser Hinsicht bereits die monastische Mystik des 12. Jahrhunderts. Vgl. etwa Petrus Damiani (gest. 1072): Vita Romualdi 31 (PL 144,938 A/B) und darüber Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Bd. 2, Freiburg i.Br. u.a. 1996, S. 222f.: Petrus Damiani lässt Romuald schildern, wie er sich während des Aufenthalts in seiner geliebten Einsiedelei Fonte Avellana der persönlichen Erfahrung von Gottes Gegenwart erfreute: „Ich erblickte oft in einer unmittelbaren Wahrnehmung meines Geistes Christus, mit Nägeln ans Kreuz geheftet, und ich empfing durstig mit meinem Munde sein herabtropfendes Blut.“ „Saepe cernebam praesentissimo mentis intuitu Christum clavis affixum, in cruce pendentem, avidusque suscipiebam stillantem supposito ore cruorem.“ Vgl. auch die mystische Erfahrung des Benediktiners Rupert von Deutz (1070-1129), der als einer der ersten - schon vor Bernhard - das Christus-Umarmen und -Küssen als Erlebnis beschrieben hat; dazu Peter Dinzelbacher: Über die Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter, in: Saeculum 32 (1981), S. 185-208: hier S. 197: „Wiederholt geschieht es ihm bei der Kreuzesandacht, dass der Kruzifixus seine Augen auf ihn richtet und seinen Gruß freundlich empfangt: ,Doch das war mir nicht genug: Ich wollte mit Händen berühren, umarmen, küssen ... Ich spürte, dass er wollte ... ich hielt ihn, umarmte ihn, küßte ihn lange. Ich spürte, wie zögernd er diese Liebkosungen zuließ - da öffnete er selbst seinen Mund, damit ich tiefer küssen könne.“ Natürlich deutete Rupert sein Erlebnis dann allegorisch auf Grund des Hohenliedes; aber was er schilderte, hat er so erlebt: Zungenküsse mit Gott.“ Es ist mir unklar, woher Dinzelbacher die Sicherheit nimmt, zu behaupten, Rupert habe das so erlebt. Das kann so gewesen sein; nicht die Frage der Erlebnisechtheit aber ist entscheidend, sondern die textliche Stilisierung des intimen Körperkontakts, durch die Rupert die besondere Gottesnähe und Gottunmittelbarkeit mystischen Erlebens zum Ausdruck bringt. 54 Vgl. METZ: Gabriel Biel und die Mystik (wie Anm. 6, 2. Titel), S. 74: „Im Schme­ cken kommt es zu wirklicher Berührung, Verinnerlichung und unio. Biel nennt die mysti­ sche Erfahrung gustus divinae dulcedinis.“ 55 Vgl. z.B. die Verwendung dieses Bildes in dem frömmigkeitstheologischen Hand­ buch von 1504 des JOHANNES Paltz: Supplementum Coelifodinae, hg. von Berndt Hamm, Berlin/New York 1983 (= Johannes von Paltz: Werke 2), S. 91,25-30: über die „sapientia videlicet salutaris, id est cognitio humilis et suavis et experimentalis. In simili: Aliud est cognoscere simplici notitia visus et auditus dulcedinem mellis et aliud est ipsam cognoscere experimentali perceptione gustus. Sic philosophi solum simplici notitia cognoverunt deum, quae fuit arida et insipida. Ideo non profuit eis ad salutem.“

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7. Der Himmel als Raum des entindividualisierenden Sehens und Hörens Die glückhaften Erfahrungen mystischer Unmittelbarkeit sind Präludium und Vorgeschmack der künftigen Seligkeit. Bemerkenswert aber ist, dass das Himmelsglück der Seligen im Mittelalter nicht als eine Perfektionie­ rung irdischer Berührungserfahrungen dargestellt wird, also nicht etwa als ein permanentes Umarmt- und Gestreicheltwerden. Der Himmel ist kein taktiler Gefühlsraum. Die ungebrochene, vollendete und ewige Unmittel­ barkeit der Seligen zu Gott im Jenseits wird - jedenfalls in der Regel nicht mehr mit Worten und Bildern der beseligenden Berührungen geschil­ dert, zwar gelegentlich als Schmecken des himlischen Gastmahls Christi, vor allem aber als Schau des dreieinigen Gottes ,von Angesicht zu Ange­ sicht1 (1. Kor 13,12) und als Hören der Himmelsmusik56. Es ist ein absolu­ tes Sehen und Hören, losgelöst von aller irdischen, grobstofflichen Materialität, wie es dem Zustand der Auferstandenen entspricht: Nicht nur ihre Seelen, sondern auch ihre Leiber sind in eine transzendent-lichthafte Sphäre der Vergeistigung und Entsinnlichung eingetreten. Ja mehr noch: Die Seligen im Himmel befinden sich, obwohl sie Einzelpersonen bleiben, in einem Vollendungsstatus der Depersonalisierung und Entindividualisie­ rung. Ziel des gesamten Weges zum Himmel ist nicht die Steigerung, son­ dern die Preisgabe des Individuell-Persönlichen. Am Ende steht die voll­ endete Ichlosigkeit der Seligen: Sie haben ihr ,Selbst1, ihren Eigensinn und Eigenwillen, aufgegeben und sich der Universalität Gottes unterworfen. Das entspricht dem religiös-politischen Ordo-Verständnis des Mittelalters. Die perfekte Ordnung des ewigen Lebens liegt im Gehorsam aller, in de­ nen jede naturhafte Ichhaftigkeit ausgelöscht wurde und deren Leben nun zum universal-kollektiven Schau- und Klangraum des absoluten göttlichen Willens geworden ist57. Zwar gibt es je nach Verdienst Rangstufen der Seligkeit, unterschiedliche Intensitätsgrade der ,visio beatifica1, wie den Besuchern einer Oper unterschiedliche Ränge zugewiesen werden; aber wie in der Oper sehen und hören auch die Himmelsbewohner alle dasselbe. Alle schauen Gott mit einer Direktheit, die mehr ist als Annäherung und Nähe. Sie ist unvorstellbare Unmittelbarkeit, die als vollendete ,unio‘ des Erkennens und Liebens geschenkt wird.

56 Vgl. Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters (1962), 2. Aufl., Bern 1990, besonders S. 66-68 (über die Körperlosigkeit der Himmelsmusik); Hartmut BÖHME: Himmel und Hölle als Ge­ fühlsräume, in: Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u.a. 2000, S. 60-81: hier S. 74f. 57 Dies wird in vorzüglicher Weise herausgearbeitet von BÖHME ebd. S. 76-78.

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8. Warum im Himmel - anders als in der Hölle und im Fegefeuer - nicht berührt wird Was ich als völlige Vergeistigung der Seligen jenseits aller physisch-verweslichen Körperlichkeit und zugleich als ihre Entindividualisierung zu­ gunsten eines kollektiven Glücks beschrieben habe, kann vielleicht erklä­ ren, warum es im Himmel kein seliges Berühren gibt. Berühren geschieht immer individuell und hat es immer mit einer noch nicht vergeistigten, sinnlichen, eng an das Ich gekoppelten Körperexistenz des Menschen zu tun. Das Beispiel der Emmericher Nonne und die Texte des Nürnberger Katharinenklosters haben gezeigt, wie sich im mystischen Süßigkeitserle­ ben seelische Verinnerlichung und beglückende Körpererfahrung mitein­ ander verbinden, und zwar auf eine persönliche Weise, die jede mystisch begnadete Frau individuell berührt und zu einem eigenen Erleben führt, das den Stoff für eine besondere mystische Biographie liefert. Sieht man diesen Zusammenhang von Berühren oder Schmecken, individuellem IchErleben und persönlich gefühlter Leiblichkeit, dann versteht man sofort, warum die mittelalterliche Eschatologie keine himmlischen Berührungen kennt, dagegen die Verdammten in der Hölle und die armen Seelen im Fe­ gefeuer von massivsten Körperberührungen, von Folterungen jeder Art ge­ quält sein lässt. Da werden die Leiber von den teuflischen Dämonen ge­ packt, gezerrt, gezogen, zerrissen, gequetscht, verbrannt, gefroren und auf­ gespießt. Der Grund dafür ist offenkundig: Hölle und Fegefeuer sind Straforte. Die vielfältige Sünde, die hier bestraft wird, liegt im Ungehorsam des Menschen gegenüber Gottes Ordnung; sie ist Abfall in die eigensinnige Vereinzelung und daher forcierte Individualisierung. In selbstsüchtiger Egozentrik hat jeder seine Sünde individuell durch das Medium des ihm eigenen Körpers ausgelebt. Deshalb geschieht auch die Bestrafung indivi­ duell und körperlich, je nach Art und Weise der Sünde; und deshalb spielt in der Hölle und im Fegefeuer die individuelle Berührung eine so domi­ nante Rolle, denn die unmittelbare Körperberührung garantiert die inten­ sivste Form individueller Sonderbehandlung - im Fegefeuer mit dem Ziel, den sündigen Menschen von seiner Ich-Bezogenheit zu reinigen und in den grandiosen Gleichklang mit Gott zu überführen, in der Hölle dagegen als permanente Fixierung der Sünder auf ihre gottferne Egozentrik. Aus dem Wesen der Sünde ergibt sich also, dass ihre Bestrafung durch individuali­ sierendes Berühren und körperlich vermittelte Sinnenqual geschieht. Das gilt eigenartigerweise, aber mit zwingender Logik auch für die Seelen vor dem Jüngsten Tag, die noch nicht mit ihren Auferstehungsleibem wieder­ vereinigt sind. Auch sie erleiden im Fegefeuer und in der Hölle körperliche Berührungsqualen. Dies ist nur so zu erklären, dass die Seelen in diesem

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Zustand eine Art von Ersatz- oder Zweitkörperlichkeit haben, die sie für sinnliche Schmerzen empfindungsfähig macht - eine Leiblichkeit, die an den Straforten anders als im Himmel gerade nicht völlig vergeistigt, son­ dern von gröberer Materialität und daher besonders berührungsempfindlich ist. Die Foltermethoden des Jenseits erklären sich somit aus dem Syndrom von Sünde, Selbstsucht und sinnenverfallener Körperexistenz. Sie entspre­ chen der mittelalterlichen Regel: Je sündiger, desto individueller; je indi­ vidueller, desto körperlicher. Was den Verdammten durch die höllische Berührung widerfahrt, ist der genaue Kontrast zur mystischen Berührung: die schrecklich unmittelbare Naherfahrung Satans und das Bewusstsein der absoluten Ferne Gottes.

9. Die mystische Entwicklung vom genießenden Individuum zur transindividuellen Selbstlosigkeit Aber nun wieder zurück zur mystischen Erfahrungsweise der irdischen Menschen. Ihnen widerfahrt dieses Erleben ebenfalls durch das Medium eines seelisch-leiblichen Berührtwerdens, allerdings anders als den gefol­ terten Sündern als süßes Genießen einer besonderen Gnade und Nähe Gottes. Wie ist das zu verstehen? Wenn Berührung und Schmecken indivi­ duell geschehen, die künftige Herrlichkeit der Gottesschau aber gerade in der Aufhebung einer vereinzelnden Individualität besteht, wie kann dann die mystische Gottesnähe, die doch ein Vorausfühlen des Himmels ist, ausgerechnet als Berühren und Schmecken erlebt und stilisiert werden? Die Ursache dafür ist, wie ich meine, in der irdischen Existenzweise dieser begnadeten Menschen zu suchen, die zwar die Seligkeit bereits voraus­ schmecken, aber eben doch noch nicht im Himmel, sondern auf Erden, inmitten ihrer individuellen Personalität und sinnlichen Leiblichkeit leben. In dieser seelisch-leiblichen Individualität eines unverwechselbaren Erkennens, Wollens, Erinnerns und Fühlens werden sie von Gott aufgesucht. Der Fern-Transzendente kommt ihnen als Menschgewordener und Leiden­ der persönlich vergewissernd nahe. Im Genuss der eucharistischen Hostie verdichtet sich diese Nähe, die zu einem mystischen Schmecken und Um­ armen der Person Jesu wird. So lässt sich die Transzendenz auf die Exis­ tenzweise des irdischen Menschen ein, umarmt seine Individualität und lässt sich von ihr kosten. Dabei aber bleiben die mystischen Erfahrungsberichte und Anleitungs­ texte des Spätmittelalters nicht stehen. Vor allem die Theologen des 14. und 15. Jahrhunderts behalten stets im Bewusstsein, dass das schwelgende Genießen der Gnadennähe Gottes kein Selbstzweck ist, sondern dass das Ziel des gesamten mystischen Weges die Entindividualisierung des Men­

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sehen und die ,Vernichtung1 seines ,Selbst1 ist58. Mystische Erfahrungen erklären sie als Stufenprozess, der bei der bitteren Reinigung des Ich be­ ginnt, es dann vom süßen Genuss der Gottesliebe erfüllt sein lässt, um aber dann weiter zur Auflösung (,Verflüssigung1) der individuellen Ichhaftigkeit zu führen. Die sinnlich erfahrene, Seele und Leib ergreifende Berüh­ rungsnähe Gottes soll also nur ein Durchgangsstadium sein. Ein wesentli­ ches Element dieses Übergangs- und Reifungsprozesses ist die mystische Entwicklung zu einer neuen Erfahrungstiefe schmerzvoller Gottesberüh­ rungen. Wahre Gottesliebe hat sich gerade zu bewähren, wenn lustvolle Gefühle ausbleiben. Genau dazu will Gott den Menschen führen, indem er ihn in das bittere Schicksal des Passionschristus hineinzieht, sein Leben mit schweren leiblichen und seelischen Anfechtungen zeichnet (,stigmati­ siert1) und ihn so als Leidenden ganz gering, arm, demütig und leer von allen eigenen Wünschen, sogar vom Verlangen nach himmlischem Lohn werden lässt. Insofern kann man von einer - für die religiöse Entwicklung des Abendlandes prägenden - kreuzes- und anfechtungstheologischen Ge­ brochenheit der Mystik sprechen. Ihren ersten Höhepunkt erreichte sie im 13. Jahrhundert, besonders in der franziskanischen Mystik einer Angela von Foligno59 und in der Beginenmystik des Dreigestirns Hadewijch von Antwerpen60, Mechthild von Magdeburg61 und Marguerite Porete62. Bei ihnen wird die intim erlebte Umarmungsfreude an der erquickenden Ge­ genwart des gottmenschlichen Bräutigams stets durchkreuzt und überboten durch Schilderungen eines leid- und qualvollen Getrenntseins von Gott, das in seiner Abgründigkeit bisweilen sogar die Charakterisierung einer Hölle auf Erden erreicht. In dieser Tradition einer mystischen Erfahrung und Stilisierung erschütternder geistlicher Anfechtungen, einer „dunklen Nacht der Seele“63, die in den Textüberlieferungen des 15. Jahrhunderts vor allem durch den Filter der Eckhart-, Seuse- und Taulertexte präsent bleibt64, steht Martin Luther, wenn er über die intime eheliche Beziehung

58 Vgl. dazu und zum Folgenden meinen Beitrag zu Luther unten S. 279-281 mit Anm. 137-144, zur mystischen Lebenslehre in den Predigten Johannes Taulers (gest. 1361): die .Vernichtung' der menschlich-kreatürlichen Selbstbezogenheit und Ichhaftigkeit nach der vorausgegangenen Erfahrung der erquickenden Nähe Gottes im Genuss sei­ ner liebevollen Umarmung. 59 Vgl. McGinn: Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 35), S. 271-279. 60 Vgl. ebd. S. 363-378. 61 Vgl. ebd. S. 417-430. 62 Vgl. ebd. S. 446-465. 63 So bezeichnet Moeller mit einem mystischen Terminus des Johannes vom Kreuz die höchste Anfechtung, in die nach dem Zeugnis der Predigten Johannes Taulers Gott selbst die Seele um ihrer ewigen Seligkeit willen führt; vgl. Bernd Moeller: Die Anfechtung bei Johann Tauler, Diss. [masch.] theol., Mainz 1956, S. 46-60. 64 Vgl. den Beitrag von Barbara Steinke unten S. 149 Anm. 40.

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der Seele zu Christus sagt: „Die Umarmungen aber sind Tod und Hölle.“65 Die heilsame Zielperspektive dieser Abwärtsbewegung des geistlichen Menschen in die tiefste Not ist freilich im Spätmittelalter ebenso wie bei Luther eine neue Dimension der tröstenden Verbundenheit mit Gott: dass Gott den durch bittere Anfechtung geläuterten Menschen aus dem Elend in die Glaubens- und Liebeserfahrung einer wahrhaft beseligenden ,unio‘ emporhebt, die dann wiederum metaphorisch als ,Gott berühren4, als eine ,Umarmung1 höherer Ordnung, charakterisiert werden kann66. Auf diese völlig vergeistigte Gottesberührung werde ich unten ausführlicher zurück­ kommen. Der mystische Weg zum Himmel ist also jener Kreuzweg der Seele, in den die spätmittelalterliche Theologie den liebevollen Genuss der anfäng­ lichen Gottesberührungen münden lässt; es ist der Weg schmerzlicher, christusförmiger Erfahrungen der Verlassenheit, die den gottliebenden Menschen zur ,Gelassenheit1 führen: Er gewinnt die Bereitschaft, seinen eigenen Willen, vor allem den des geistlichen Genießen-Wollens, loszulas­ sen und sich - wie Jesus in Gethsemane - ganz dem Willen Gottes zu über­ lassen. Es entsteht so eine völlig selbstlose, gehorsame Willenseinheit mit Gott, die besonders von mystisch geprägten Texten des 15. Jahrhunderts als Höchstform geistlicher Vollkommenheit auf Erden und Inbegriff der ,unio‘ vor dem Eintritt in das himmlische Jenseits gepriesen wird. In die­ sem Sinne sagt Gabriel Biel: „Das Reich Gottes besteht nicht im Gefühl der Süße (in sentimento dulcedinis), sondern in der Liebe“, einer Liebe, die Gott um seiner selbst willen liebt67. Biel zielt damit nicht auf eine ablehnende Kritik mystischer Erfahrung, sondern auf ihre ethische Läute­ rung. Ganz ähnlich intendiert auch die ,Imitatio Christi1 des Thomas von Kempen einen Prozess der Entsinnlichung und Vergeistigung der Gotteser­ fahrung, der den frommen Menschen immer innerlicher werden lässt und zugleich aus sich selbst heraus versetzt und über alles Kreatürliche empor­ hebt68. Dies ist die Gedankenrichtung, in der am Ende des Mittelalters die 65 „Amplexus vero ipsi mors et infernus sunt.“ Mit Kontext und Stellenbeleg zitiert in meinem Luther-Beitrag unten S. 271 mit Anm. 110. 66 In diesem tröstenden, befreienden Sinne spricht Luther von der Umarmung, mit der man das Kind in der Krippe und in Mariens Schoß umarmen soll: „Ego vero suadeo et moneo, ut contemptis his incipias fieri puer cum puero, filius cum filio. Hunc amplectere positum in praesepio et in matris gremio. [...] Cum hoc filio habes patrem coelestem, habes Spiritum sanctum, habes faventes angelos et universas creaturas.“ Enarratio capitis noni Esaiae ([1543/44] 1546), WA 40/111, 657,19-21.23-25. 67 „[...] quia non in sentimento huius dulcedinis, sed in caritate est regnum dei.“ Zitatnachweis mit Kontext bei METZ: Gabriel Biel und die Mystik (wie Anm. 6, 2. Titel), S. 85f. mit Anm. 185. 68 Der geistliche Mensch wird auf diesem Reifungsweg der Nachfolge Christi bis zu dem Stadium geführt, dass ihm das Anfechtungsleiden am Entzug der ,süßen1, beseligen­

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mystischen Begriffe ,extra nos‘, ,excessus mentis1, ,raptus1, contempla­ tio1 und ,unio' ihren Platz finden69.

10. Der Aufstieg der mystischen Liebe von der sinnlichen zur entsinnlichten Christusberührung Trotz aller Wandlungen der Mystik im Laufe des 15. Jahrhunderts zu­ gunsten einer gewissen Horizontalisierung, Disziplinierung oder Verbür­ gerlichung bleibt so doch auf vielen Rezeptionswegen der traditionelle Aufwärtsdrang zu höheren Stufen vergeistigter Existenz und gesteigerter Liebesglut erhalten. Grundlage dieser Aufwärtsbewegung des Menschen zu Gott ist die Abwärtsbewegung Gottes zum sündigen Menschen bis hinab in das Elend der Passion. Der mystische Prozess bedeutet nun, dass der Mensch immer gleichförmiger mit der Abwärtsbewegung Gottes wird, immer demütiger, leidensbereiter und selbstloser. Gerade so aber steigt er den steilen Pfad empor bis zur völligen geistigen Liebesvereinigung mit Gott. Diese ,unio mystica1 ist es, auf die auch im 15. Jahrhundert immer wieder der bekannte Vergleich mit dem Wassertropfen70 und alle mögli­ chen anderen Bilder der Verflüssigung des Herzens angewandt werden71. Das anfangs Gesagte sei aber nochmals unterstrichen: In kritischer Wen­ dung gegen eine Transformationsmystik Eckhartscher Prägung meint die ,unio‘ keine Wesensvereinigung mit Gott, keine Grenzverwischung zwi­ schen den Naturen, sondern die vollkommene Annäherung der Personen, d.h. ein völliges Durchdrungen-Werden des Menschen von Gottes Geist und Liebe. Hat der Mensch diese mystische Vollkommenheit erreicht. den Umarmungsnähe Christi zum größten Trost wird, dass ihm sein existentielles Kreuz also nicht mehr Vorstufe für eine nachfolgende Troststufe, sondern selbst Inbegriff der tröstenden Nähe Gottes ist, einer Süßigkeit höherer Ordnung. Wer dies erreicht, hat das Paradies auf Erden gefunden: „Quando ad hoc veneris, quod tribulatio tibi dulcis est et sapit pro Christo, tunc bene tecum esse aestima, quia invenisti paradisum in terra.“ Thomas von Kempen: De imitatione Christi/Nachfolge Christi, hg. von Friedrich Eichler, München 1966, Buch II, Kap. 12, Nr. 48f., S. 178f. Zum damit verbundenen Erlebnis des Emporgehobenwerdens, des mystischen .raptus' der Vereinigung mit Gott („Deo totus unitus"), vgl. ebd. Buch III, Kap. 31, Nr. 10f., S. 292f., zitiert in meinem LutherBeitrag unten S. 240, Anm. 10. 69 Vgl. Karl-Heinz zur Mühlen: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972, S. 51-66. 70 Vgl. z.B. die positive Aufnahme des Tropfen/Wein-Vergleichs (dazu oben S. 118f. mit Anm. 31 und 32) bei Gabriel Biel; vgl. Metz: Gabriel Biel und die Mystik (wie Anm. 6, 2. Titel), S. 79L, mit der Erläuterung: „Vor Gerson verdächtigen Vergleichen, genauer: vor solchen, die der frühe Gerson kritisch sieht, hat er keine Scheu.“ 71 Vgl. oben Anm. 9: „Und also zerfleust der mensch werlich in den herren Jesum Christum.“

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dann befindet er sich auf einer neuen, höheren, transindividuellen Ebene des ,Vorausschmeckens1 himmlischer Süßigkeit: Sein ,frui Deo1 hat sich gewandelt in eine tröstende und beseligende Freude an Gott jenseits der sinnlichen Körpergefühle und aller ichbezogenen Genussbedürfnisse. Der mystische Prozess hat ihn also aus der Gottesferne über die süße Naherfah­ rung des Geliebten und die schmerzvolle Ablösung vom Genießen-Wollen zu einer neuen Erfahrungsdimension der süßen Gottesnähe geführt72. Was die Emmericher Nonne als sinnlichen Genuss der Tränen und der göttlichen Körperberührung erlebt, wird damit - insbesondere von Ordensseelsorgem - zu einer unwesentlichen, nicht zu verwerfenden, aber auch nicht nachahmenswerten Erfahrungsweise der ,anima sensualis1 degradiert. Als wesentliches Ziel mystischer Erfahrung gilt den Theologen eine Got­ tesliebe, die immer geistiger, entsinnlichter und transzendenter wird. So­ fern aber auch die ,unio‘ dieser höchsten Liebe noch an die irdische Exis­ tenzweise des Menschen gebunden bleibt und ihr biblisch vorbildhaftes Sprachmedium im Hohelied findet, wird auch sie von den Theoretikern der Mystik als beseligendes Berühren, Umarmen und Küssen stilisiert. Damit aber wandelt sich die erotische Sprache völlig ins Metaphorische, indem sie eine ideale Liebesvereinigung jenseits aller Körpersinnlichkeit verherr­ licht, ein Berühren ohne Berühren, wie es dem Aufstieg in den berührungs­ freien Himmel entspricht. Das Muster einer solchen vergeistigten Hohe­ lied-Rezeption lieferte Johannes Gerson mit dem Schlussabschnitt seiner Schrift ,De mystica theologia1. Er spricht hier vom Aufstieg der Seele, der sie in einem mystischen Reinigungs- und Erleuchtungsprozess über alles Straf- und Lohndenken hinausführt, bis sie nur noch von reiner Gottesliebe erfüllt ist. Ihr ruft er die Worte zu: „Fliege dann sicher in die Umarmungen des Bräutigams, umschlinge jene göttliche Brust mit den reinsten Armen der Freundschaft und drücke ihr die keuschesten Küsse des Friedens auf, der alle Sinne überragt, so dass du dann in beglückter und liebevoller Hin­ gabe (devotio) sagen kannst: ,Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein1 [Cant 2,16],“73 Wer in dieser Weise die ,unio mystica1 auf Erden mit Metaphern des Berührens (oder Kostens) zum Ausdruck bringt, kann damit auch die Problematisierung mystischer Visionen im 15. Jahrhundert aufnehmen: Das Visionäre, die Schau Gottes, folgt erst nach dem Tode im himmlischen 72 Zu dieser .Süßigkeit1 höherer Ordnung vgl. oben Anm. 68 (Thomas von Kempen: Imitatio Christi). 73 „[...] tunc vola securus in amplexus sponsi, stringe pectus illud divinum amicitie purissimis brachiis, fige oscula castissima ,pacis exsuperantis omnem sensum1 [Phil. 4,7], ut et dicere subinde possis gratulabunda et amorosa devotione: .Dilectus meus michi, et ego illi' etc.“ JOHANNES Gerson: De mystica theologia, tract. 2; Ausgabe von Andre Combes: Ioannis Carlerii de Gerson De mystica theologia, Lugano 1958 (= Thesaurus mundi), S. 216,130-134.

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Jenseits; im Diesseits hingegen erfährt der Mensch ,nur‘ die Vorläufigkeit des Umarmens und Vorauskostens, das den Grenzen seines irdischen Ich und seiner Existenz als ,viator1 gerecht wird.

11. Der Ertrag für eine quellennahe Verwendung des Mystik-Begriffs Was ich anhand einiger Textbeobachtungen über die Religiosität des 15. und frühen 16. Jahrhunderts gesagt habe, kann vielleicht verdeutlichen, in welchem Sinne ich auch diese Ära durch einen weiterfließenden Strom der Mystik charakterisiert sehe, der sich allerdings gegenüber dem 14. Jahr­ hundert stark verändert. Wieweit diese Mystik in ,realen1 und ,echten1 Er­ fahrungen wurzelt oder nur eine Diffusion mystischer Topoi, Stilisierun­ gen und Reflexionen bietet, halte ich für eine fruchtlose Fragerichtung, die für eine pragmatische Verwendung des Mystik-Begriffs nichts austrägt. Denn was sich in der erlebten Erfahrung der damaligen Menschen wirklich zutrug, ist für den Historiker nicht zugänglich. Er kann sich nur an die überlieferten Texte und Bilder halten und fragen, ob und wie mystische Traditionen, Begriffe, Gefühle, Erinnerungen, Imaginationen und Theorien durch sie zum Ausdruck gebracht und stilisiert werden - unabhängig da­ von, welcher Erfahrungsgehalt sich hinter ihnen verbirgt. Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass ein reales Erleben artikuliert wird, doch kann das für die Verwendung des Mystik-Begriffs nicht maßgeblich sein. Ob Bernhard von Clairvaux wirklich erfahren hat, was er als mystisches Erleben beschreibt, ist für die Frage nach dem mystischen Charakter seiner entsprechenden Texte und ihrer Wirkungsgeschichte nicht ausschlagge­ bend. So gesehen kann man von spätmittelalterlicher Mystik in einer sehr vielfältigen Weise sprechen, also etwa auch im Blick auf theologische Theorien und Anleitungen, wie wir sie bei Johannes Gerson oder Gabriel Biel gefunden haben. Entscheidend ist, dass auch sie - auf der Ebene theo­ logischer Reflexion - von geistlichen Erfahrungen sprechen, die man mit guten Gründen mystisch zu nennen pflegt. Was aber macht den mystischen Charakter solcher Erfahrungen aus? Ich habe mich der terminologischen Aufgabe, die in dieser Frage steckt, so angenähert, dass ich vor allem Texte berücksichtigte, die vom unmittelba­ ren Körperkontakt des Berührens und Schmeckens sprechen. Damit lenken sie, wie ich meine, die Aufmerksamkeit auf den für die Mystik-Definition wesentlichen Punkt. Mit besonders eindrücklicher Anschaulichkeit artiku­ lieren sie, was für jede Darstellung mystischer Erfahrung charakteristisch ist, auch wenn sie nicht als Berührungserfahrung, sondern etwa als inneres Gespräch Christi mit der Seele oder als Schau (contemplatio) des geistigen

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Auges versinnbildlicht wird. Immer geht es um die persönliche Erfahrung einer unmittelbaren Nähe Gottes74. Allen Christen, die gerettet werden, wird nach mittelalterlicher Lehre die rechtfertigende Gnade eingegossen, und mit dem Gnadengeschenk ist der Hl. Geist persönlich in ihren Herzen gegenwärtig75. Insofern widerfahrt allen eine Art von Einung (unio) mit Gott, da sie kraft der Gnade Gott lie­ ben, ihm in Liebe anhängen und ein Geist mit ihm werden, wie man es bei Paulus (1. Kor 6,17) formuliert findet: „Qui adhaeret Deo, unus spiritus efficitur.“ Als mystische Erfahrungen aber gelten im Mittelalter solche Begegnungen mit Gott, in denen die liebende und erkennende Annäherung an ihn, die heilsame Nähe seiner Gegenwart und die Vereinigung mit ihm besonders intensiv, über das Grundlegend-Christliche hinaus, erfahren werden. Es sind besondere Gnadenwiderfahrnisse, die eine beseligende, aber auch aufwühlend-erschütternde Unmittelbarkeit der göttlichen Nähe herbeiführen. Der Terminus ,Nähe‘ ist ebenso wie der Begriff der .Unmit­ telbarkeit1 weit genug, um verschiedene Arten und Grade mystischer Er­ fahrung zu umfassen; und er ist dynamisch genug, um zu verdeutlichen, dass Mystik ein Weg der Reinigung, Erleuchtung und Verwandlung ist, ein Prozess der Annäherung, der Gott und Mensch zusammenbringt und so Ferne in vertraute Naherfahrung verwandelt. Wo es zu dieser Nähe kommt, steht keine vermittelnde Kreatur mehr zwischen Gott und Seele: Da kön­ nen sie sich unmittelbar berühren. Nicht alle mystischen Texte sprechen ausdrücklich von einer ,unio‘- Erfahrung; allen aber geht es inhaltlich um die Verflüssigung der Grenze zwischen Gott und Mensch im Erleben einer

74 Vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland (engl. Originaltitel: The Presence of God. A History of Western Christian Mysticism), Bd. 1: Ursprünge, Freiburg i.Br. u.a. 1994, S. 11-19. Als definitorisches Merkmal für .Mystik1 nennt McGinn vor allem das „unmittelbare Bewusstsein der Gegenwart Gottes“. Vgl. Simon Peng-Keller: Das Bewußtsein der verborgenen Gegenwart Gottes. Mystisches Erleben als intensivierte Glaubenserfahrung, in: Theologische Literaturzeitung 129 (2004), S. 1147-1166. Wes­ halb ich den Begriff der .Nähe1 dem der .Gegenwart1 vorziehe, dürfte schon aus meinen Ausführungen oben S. 125 bei Anm. 51 deutlich geworden sein. Gegenwart muss nicht Nähe sein, aber jede wirkliche Nähe (mit den Bedeutungskomponenten Vertrautheit, Ver­ bundenheit und Intimität) schließt ein Gegenwärtigwerden ein. Nähe ist für mich daher der qualitativ dichtere Begriff. 75 Vgl. z.B. Paltz: Supplementum Coelifodinae (wie Anm. 55), S. 227,12-14 (Zitat aus Gregor von Rimini): „Quandocumque datur spiritus sanctus, etiam datur gratia gra­ tum faciens, et econverso: quando datur gratia gratum faciens, datur etiam spiritus sanc­ tus.“ Ebd. S. 317,1-3: „Quandocumque spiritus sanctus venit ad homines vel puerum baptizatum, semper venit personaliter cum gratia gratum faciente, et quando venit cum tali gratia, etiam venit personaliter." Paltz formuliert damit einen Konsens der scholasti­ schen Theologie seit dem 13. Jahrhundert.

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unmittelbaren Nähe, deren Ziel die vollkommene, nicht mehr zu überbie­ tende Vereinigung im Himmel ist76.

12. Mystik als Erfahrung der Ferne und Nähe Gottes Nicht nachdrücklich genug aber muss man betonen, dass die mystischen Naherfahrungen eingebettet sind in eine Grunderfahrung der Ferne Gottes. Es sind gerade die mystischen Texte seit dem 12. Jahrhundert, die von furchtbaren Erfahrungen der Abwesenheit Gottes, einer schrecklichen Gottesverfinsterung und den Liebesleiden der verlassenen Seele spre­ chen77. „In einer solchen Qual“, sagt z.B. Johann Tauler, „kann die arme Seele nicht glauben, dass diese unerträgliche Finsternis jemals Licht wer­ den könnte“78. Auch Martin Luther wird später von einer derart quälenden 76 Nochmals sei betont, dass die Metapher der .Verflüssigung der Grenzen' im Blick auf die mittelalterliche Mystik je nach Art der Mystik eine Verwischung und Aufhebung der Grenzen schon auf Erden bedeuten kann oder nur ihre Überwindung, Relativierung und Durchlässigkeit - vergleichbar einer Grenze zwischen zwei Ländern, die für Reise­ verkehr und Handel völlig durchlässig ist, aber gleichwohl weiter besteht. Im Bildkom­ plex des Fließens (der sich sowohl mit den Metaphern der Flüssigkeit als auch mit denen des Lichtes verbinden kann) ist bei den Mystikerinnen und Mystikern häufig die (stark neuplatonisch geprägte) Vorstellung vom seinshaft und/oder gnadenhaft in die Schöpfung und insbesondere die menschlichen Seelen ausfließenden Sein der Gottheit (bonum diffusivum sui) präsent. Vgl. etwa das berühmte Werk der Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Die spätmittelalterlichen Texte des 15. und frühen 16. Jahr­ hunderts neigen freilich, wie wir sehen konnten, eher zu einer unspekulativen, nicht philosophisch-ontologisch aufgeladenen Redeweise von der strömenden Güte Gottes und dem - durch die (äußeren und inneren) Tränen der Reue und compassio oder die blutende Liebeswunde - flüssig werdenden Herz. Die Verflüssigung der Grenzen geschieht dann nicht ontologisch-essentiell, sondern voluntativ-affektiv. 77 Nur am Rande kann ich erwähnen, wie stark die Stilisierung des mystischen Liebesverhältnisses zu Gott durch Aspekte der Feme, des Sich-Entziehens, des Leidens und der Liebesqualen (Liebeswunde) auf Einflüsse der weltlich-höfischen Kultivierung der Minne seit dem 12. Jahrhundert und ihrer Topoi der qualvoll peinigenden Sehnsucht des Geliebten nach der abwesenden Geliebten verweist. Die Themen Abwesenheit und Anwesenheit, Feme und Nähe sind Hauptinhalt der höfischen Minnedichtung und in analoger Weise auch einer Mystik, die sich in höfische Form kleidet, dabei allerdings die geschlechtlichen Identitäten relativieren und austauschen kann. Vgl. Michael Camille: Die Kunst der Liebe im Mittelalter (engl. Originalausgabe 1998: The Medieval Art of Love), Köln 2000, besonders S. 115-119, mit dem eindrucksvollen Holzschnitt Abb. 104 (Casper von Regensburg: Frau Minnes Macht über die Herzen der Männer, 1479), der zahlreiche gefolterte, d.h. durchbohrte, aufgespießte, gequetschte, zersägte, zerrissene, zerschnittene und gegrillte Herzen zeigt. Vgl. auch McGinn: Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 35), S. 308-310 (mit Literatur). 78 Vgl. den Zitatnachweis samt dem Hinweis auf eine Parallele in Luthers Erläuterung seiner Ablassthesen (1518) in meinem Luther-Beitrag unten S. 281 mit Anm. 146-148.

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Fernerfahrung Gottes sprechen, um dann ebenfalls das ganze Gewicht sei­ ner Theologie auf die unerhörte Nähe Gottes zum armen, sündigen, ange­ fochtenen Menschen zu legen. Beide Erfahrungspole, Feme und Nähe, gehören in der spätmittelalterlichen Mystik untrennbar zusammen. Die Mystikerin Marguerite Porete (hingerichtet 1310) brachte diese Dialektik auf den Begriff, indem sie Gott als den „Loingpres“, den „Femnahen“, bezeichnete79. Sie hat damit den Kern des spätmittelalterlichen MystikVerständnisses getroffen: Die weltüberlegene Ferne Gottes ermöglicht seine einzigartige Nähe. Weil Gott, der Schöpfer und Erlöser, von allen Kreaturen und aller Sünde in unendlicher Transzendenz und Heiligkeit geschieden ist, kann seine Nähe inmitten der Kreaturen als Befreiung von aller Kreaturverfallenheit und Ichbezogenheit erfahren werden. Es ist das Gnadengeschehen der mystischen Liebe, das die absolute Ferne in grenz­ überwindende Nähe verwandelt.

79 Vgl. McGinn: Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 35), S. 447 und 451 f.

Barbara Steinke

„Den Bräutigam nehmt euch und habt ihn und verlasst ihn nicht, denn er verlässt euch nicht.“ Zur Moral der Mystik im Nürnberger Katharinenkloster während des 15. Jahrhunderts Von jemandem, der sich mit Mystik in einem Dominikanerinnenkloster beschäftigt, erwartet man, dass er oder sie dies auf der Grundlage von Viten und Offenbarungsliteratur tut und eventuell eines der Schwestern­ bücher zur Bearbeitung wählt. Meine Ausführungen hier beruhen hingegen auf Untersuchungen der Unterweisungsliteratur, die teilweise von Seelsor­ gern bereitgestellt worden und für die private Lektüre der Schwestern in St. Katharina gedacht war. Es handelt sich um speziell für die Dominika­ nerinnen angefertigte Übersetzungen, Predigtmitschriften, Sendbriefe, Ab­ schriften und Schenkungen von als für die Nonnen geeignet empfundenem Lesestoff, jedoch teilweise auch um Literatur, die ohne jegliche Angabe über Herkunft und Verfasser überliefert wurde. Die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Klosterbibliothek meist in Sammelhandschriften zur lectio privata zur Verfügung stehende, überwiegend volkssprachliche Lite­ ratur war etwa zur Hälfte von den Schwestern selbst kopiert worden1. Als „Musterbeispiel für den Konnex zwischen Reform und Bibliothekswachs­ tum“2 wird das 1428 reformierte Dominikanerinnenkloster St. Katharina in der Forschung immer wieder zur Illustration der Bedeutung der Klosterre­ form für die Verbreitung von volkssprachlicher geistlicher Literatur heran­

1 Grundlegend für alle Arbeiten über St. Katharina in Nürnberg ist: Walter Fries: Kirche und Kloster zu St. Katharina in Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Ge­ schichte der Stadt Nürnberg 25 (1924), S. 5-143. Die Katalogisierung der zum größten Teil in der Stadtbücherei Nürnberg lagernden Bestände der ehemaligen Klosterbibliothek sowie die Identifizierung einzelner Schreiberinnenhände erfolgte bereits 1965: Karin Schneider: Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg, Bd. 1: Die deutschen mit­ telalterlichen Handschriften, Beschreibung des Buchschmucks Heinz Zirnbauer, Wiesba­ den 1965. 2 Werner Williams-Krapp: Observanzbewegungen, monastische Spiritualität und geistliche Literatur im 15. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20 (1995), S. 1-15: hier S. 3.

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gezogen1, hatte seine Bibliothek doch noch vor der Reform lediglich aus 3634, gegen 1500 jedoch aus 500-6005 Bänden bestanden. Die private Lektüre wurde innerhalb der Observanzbewegung als sehr wichtig erach­ tet. Bereits die im Kloster gebrauchte Augustinusregel machte Angaben zum Verleih von Büchern aus der Bibliothek6. Das ,Ämterbuch1 des Johan­ nes Meyer wies die Buchmeisterin an, ein Ausleihbuch zu fuhren, in wel­ ches sowohl der Name der Benutzerin als auch der Titel des entliehenen Buches eingetragen werden sollte7. Zur privaten Lesung stand den Nonnen die Zeit nach der Komplet und nach der Matutin sowie im Sommer der sog. „Nonschlaf1, d.h. die Zeit nach dem Mittagessen bis zur Non, zur Verfügung8. Die Schwestern waren dazu angehalten zu lesen, denn die Lektüre galt als eine Waffe zur Vertreibung des Teufels sowie als Werk­ zeug zur Erlangung des Seelenheils9. In einer für Frauen bearbeiteten Fas­ sung eines kurzen Kommentars zur Augustinusregel aus einer Handschrift des Katharinenklosters10 wird das Lesen sogar auf eine Stufe mit dem Ge­ bet und der Arbeit gestellt: „dreu dink bevilht uns die regel di under [sic!] sei gar not sein/ dz wir peten und lesen und wurken/ von dem gepet werd 3 Werner Williams-Krapp: Ordensreform und Literatur im 15. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Oswald Wolkenstein Gesellschaft 4 (1986/87), S. 41-51. Ders.: Die Be­ deutung der reformierten Klöster des Predigerordens für das literarische Leben in Nürn­ berg im 15. Jahrhundert, in: Falk Eisermann, Eva Schlotheuber, Volker Honemann (Hg.): Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur der Frauenklöster im späten Mittelalter. Ergebnisse eines Arbeitsgesprächs in der Herzog August Bibliothek Wolfen­ büttel, 24.-26. Februar 1999, Leiden/Boston 2004 (= Studies in Medieval and Reformation Thought 99), S. 311-329. Antje Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster/New York/München/Berlin 2004 (= Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4). 4 Ingrid Metschkoll: Der Bibliotheksbestand des St. Katharinenklosters in Nürn­ berg vor der Klosterreform von 1428. Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades an der Ludwig-Maximilians-Universität München, München 1987. 5 Schneider: Handschriften Nürnberg (wie Anm. 1), S. XIV. 6 Vgl. eine Handschrift mit Regel, Konstitution und Ordinacio, die im Gebrauch der Subpriorin war: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Hs. 7069, fol. 13r: „Die buecher sullen alle tage zu gewysser zeit gevordert werden. Außerhalp der zeit, weihe swestem die buecher vordem, die sullen sie auch niht enphohen.“ 7 Vgl. in der Ausgabe des Ämterbuchs aus St. Katharina: Bloomington, Indiana, Lilly Library, Ricketts Mss 198, fol. 91v. 8 Marie-Luise Ehrenschwendtner: Die Bildung der Dominikanerinnen in Süd­ deutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 2004 (= Contubernium 60), S. 214f. 9 Anton Hauber: Deutsche Handschriften in Frauenklöstem des späten Mittelalters, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 31 (1914), S. 341-371: hier S. 347f. 10 Stadtbibliothek Nürnberg Cent. VI, 46, fol. lr-34v. Die in nümbergischer Mundart geschriebene Handschrift enthält die Augustinusregel für Schwestern, eine Ausgabe der Regel mit kurzer Auslegung und die Konstitution. Vgl. SCHNEIDER: Handschriften Nürn­ berg (wie Anm. 1), S. 144f.

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wir rain/ von dem lesen vernünftig/ von dem werken selig: (...) di dirn gotz sol fleizzigleichen lesen/ wan die gotleich letz ist gar nutz/ und di letz lert uns wofür wir uns hüten schullen und was wir tun schuln und wo wir uns hin keren schulen/ (...) die letz mert Vernunft und sinnen/ die letz fodert uns mit 1er zu dem gepet und den werken/ si hilft und lert dz leben der schauenden worheit und zu dem wurkenden leben.“" Die in St. Katharina im 15. Jahrhundert zur privaten Lektüre der Schwestern angesammelte Literatur enthält Zeugnisse religiöser Bestre­ bungen, welche als mystagogisch oder mystisch bezeichnet werden kön­ nen, weil sie auf die diesseitige Vereinigung der Nonne mit dem Göttli­ chen zielen, zu einer unmittelbar erlebten Erfahrung der Nähe Gottes füh­ ren wollen und dabei eine besondere Tiefe der Erkenntnis versprechen. Aus diversen Schwestembüchern kennen wir Beschreibungen mystischer Offenbarungen, welche Ordensfrauen im Kontext der Eucharistie erlebten. Ein zweiter Ort mystischen Strebens und Erlebens bildete die Zeit der in­ dividuellen Kontemplation in der Zelle11 12. Auch in diesem Bereich war es den Seelsorgern ein Anliegen, durch die Bereitstellung entsprechender Li­ teratur das geistliche Wachstum der ihnen Anvertrauten sicherzustellen, indem sie vielfach versuchten, die Intimität der Nonnen mit ihrem Herrn zu fördern. Da alle Bücher, die Lesestoff für die private Lektüre boten, von den Schwestern aus der Bibliothek ausgeliehen werden konnten, könnten die im Folgenden zitierten Passagen folglich von jeder beliebigen Schwester gelesen und als Anleitung gebraucht worden sein. In einem Sendbrief, der um 1447 in St. Katharina kopiert wurde und ur­ sprünglich von Venturin von Bergamo (OP, 1304-1346)13 an Schwestern des Benediktinerinnenklosters in Comps (Departement Gard) gerichtet worden war, werden die Nonnen aufgefordert, wiederholt folgendes Gebet zu sprechen: „O herre Jesu Christe, mache mich enpfinden, wie du vns also mit grosser liebe geminnet hast vnd minnest. O herre Jesu Christe, ich wolt dich gern herczlicher lieb [fol. 84v] haben, so vermag ich es nicht getün, on din hilfe. O minniclicher herre Jesu Christe, gib mir von din erbermde [Erbarmen] ein ersame minne zu dir, die do alzit stet belibe in demutikeit, 11 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 46, fol. 26r v. Zitiert nach: Ehrenschwendt­ Bildung (wie Anm. 8), S. 150. Der Abschnitt erläutert die oben zitierte Bestimmung der Augustinusregel, die den Verleih der Bücher für die private Lektüre regelt. 12 Obwohl die Existenz von Zellen innerhalb der Observanzbewegung bekämpft wurde, existierten sie im Nürnberger Katharinenkloster weiterhin. Jeder Nürnberger Do­ minikanerin stand eine nicht verschließbare Zelle zur Verfügung, in der sie lesen und beten konnte. Vgl. EHRENSCHWENDTNER: Bildung (wie Anm. 8), S. 213f., Anm. 762. 13 Zum Verfasser vgl. Volker Honemann: Art. Venturin von Bergamo OP, in: Wolfgang Stammler, Karl Langosch, Kurt Ruh und Burghart Wachinger (Hg.): Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin 19782004: hier Bd. 10, Sp. 235-238. ner:

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in kintlicher forchte, in gehorsame, in dinstberkeit vnd danckberkeit aller genaden vnd gaben, die die [sic!] du mir vnd allen menschen ie getetest. O min ewige liebe, Jesu Christe, fur mich ellendiclichen gecrcziget, kum auch in mich vnd durch grab alzo min hercze nu mit den nageln vnd mit dem spere diner ewigen minne, daz ich sin minnsamlichen gebar werde. O herre Jesu Christe, mache mich, daz ich dich herczlichen minnen müsse vnd beharlichen. O herczliche liebe vnd minne Jesu Christe, mache mich auch minsamlichen zesterben durch dich. O du aller lustliche freude innerliche, mein herre Jesu Christe, wen [wann] sol ich dich auch frolichen sechen? Wen [wann] soll ich von dir gancz ersatet [gesättigt] werden? Wen sol ich in [fol. 85r] dir trunken werden? Wen sol ich gegeburtiglichen bey dir sin? Wen sol ich dich gancz minnsamlichen über wachen vnd alzo ersamlichen küssen? Wen soll ich eines mit dir berden vnd alzo minnsamli­ chen zu dir gefuget berden, das ich nicht mer müge von dir gescheiden? O wie lange sol ich von dir alzo ferre sin vnd alzo ellendiclichen abgescheiden von deinem minniclichen schauen? Werlichen dich nicht sechen vnd on dich leben ist ein stetes pinliches leben, ein grosser smerczen des minnsamen herczen vnd gancz bitter alz der tode. Vnd darumb, süsser herre Jesus, küm, küm minniclicher herre in min betrübte sele, [nach dir] erzaige auch mir din froliches antlücze, so wirt ich gesunt vnd selige ymer ewiclichen on ende. Amen.“14 Erbeten wird eine unmittelbare Begegnung der Nonne mit ihrem Herrn, geschildert als Einkehr Jesu in die menschliche Seele. Der Weg zu diesem innerlichen Geschehen verläuft über den Affekt: Von Sehnsucht getrieben soll die Schwester um ein stetes Anwachsen ihrer Liebe zu Christus bitten. Die Erfahrung der Nähe Christi verspricht einen Erkenntniszuwachs (Schau) und die völlige Stillung aller Bedürfnisse. Der Weg, auf dem sich die Schwestern dem Göttlichen nähern sollten, erfordert keine theologische Vorbildung, vielmehr lässt er die Rationalität außen vor und verläuft über Emotionen. Es handelt sich um eine auf das eigene innerliche Erlebnis ge­ gründete Gotteserkenntnis, die nicht von der Aneignung dogmatischer Wahrheiten abhängt15. Enthält das zitierte Gebet mit der flüchtigen Erwäh­ nung des mystischen Kusses und der Beschreibung des Gefühls der Verlas­ senheit nur minimale Anklänge an die hochmittelalterliche Brautmystik, so ist der gesamte Brief doch von brautmystischen Motiven durchzogen.

14 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 58, fol. 84r-85r. 15 Vgl. die Definition christlicher Mystik bei Jean Gerson und ähnlich bei Thomas von Aquin und Bonaventura als „cognitio Dei experimentalis“. Vgl. Peter Dinzel­ bacher: Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn/München/Wien 1994, S. 9.

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Wesentlich deutlicher treten diese in einem anonym überlieferten Trak­ tat mit dem Titel ,Lob des Klosterlebens116 zu Tage. Wie in anderen Non­ nenklöstern gilt auch für St. Katharina: Von Bedeutung waren nicht voll­ ständige volkssprachliche Übersetzungen der Hoheliedpredigten Bernhards von Clairvaux, sondern Einzelstücke, Auszüge, Zusammenfassungen und Bearbeitungen der Gedanken des Zisterziensers durch andere, denen in den Frauenkonventen die cura monialium oblag16 17. Der unbekannte Verfasser des Traktats ,Lob des Klosterlebens1 verspricht Frauen, die ins Kloster eintreten, die exklusive Erfahrung der Nähe Christi und spart dabei nicht mit erotischen Bildern aus dem ,Canticum Canticorum1: „Dire habe ich ge­ sagt, daz dein gemahel mit dir wyl reden allein in heymlicheyt, nycht allein reden, Sünder auch von im ümfahen vnd den küss zü geben, daz due wirst sprechen: ,Er sey miche küssen mit dem küss seins mundes1 [Cant 1,2], vnd also mit seinen armen ümbfahen, von im gedrücket vnd wydeümbe due in zu dir drücken, vnd wirst sprechen mit der brawt in dem büch des lobes: ,Ich halt in vnd laz in nicht1 [Cant 3,4], daz düe nycht allein in dem geyst, ja auch in dem leybe wirst fügen die arm vnd den munt zü vmbfahen vnd zü küssen, vnd das ere nycht zü stünd verswünde, vnd das er ein cleins weyllen bey dire verzyhe. Wunderliche süssigheyt von dem mit sei vnd mit armen ümbfallen [sic! umarmen] vnd küssen zühe.“18 Die Unio wird hier als sinnliche Erfahrung beschrieben, als tatsächli­ ches Fühlen an Armen und Mund („nycht allein in dem geyst, ja auch in dem leybe“). Die Nähe Gottes zeigt sich in der erlebbaren Nähe Christi, des virilen Bräutigams. „Gar nycht nit werstü hinfüre mer begern“, versi­ chert der Autor seiner Adressatin im Anschluss an die zitierte Passage und meint damit eine ganzheitliche Erfüllung aller Bedürfnisse physischer wie auch seelischer Art. Der jungfräuliche Stand und die Abgeschiedenheit des Klosters gelten als grundlegende Voraussetzung für diese besondere Christusoffenba­ rung19. Denjenigen Frauen, die ins Kloster eintreten, wird vom Verfasser 16 Der Traktat war in der Bibliothek St. Katharinas gleich doppelt vorhanden: Nürn­ berg, Stadtbibliothek, Cent. VI, 53, fol. 57r-7T und Cent. VI, 43b, fol. 24v-42v. 17 Zur Attraktivität bestimmter Elemente der bemhardinischen Mystik für Frauen und verschiedenen Rezeptionswegen der Gedanken des Zisterziensers durch weibliche Mysti­ kerinnen vgl. Ulrich Köpf: Bernhard von Clairvaux in der Frauenmystik, in: Peter Din­ zelbacher und Dieter R. Bauer (Hg.): Frauenmystik im Mittelalter, Ostfildern 21990, S. 48-77. 18 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 53, fol. 61v. 19 So auch andernorts in den Schriften der Bibliothek, z.B. in einer der Predigt des Kaplans Johannes Vend über Cant 3,11: Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 58, fol. 281 r-291r; vgl. ebenfalls .Regel des Hieronymus für Eustochium und ihre Klosterfrauen', Cent. VI, 98, fol. 116v: „Darumb mein töchter vnd mein frawen, die prewt meins herren

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des ,Lob des Klosterlebens1 in Aussicht gestellt, „daz fünclein der gütli­ chen libe unde den tropfen des süssens [sic!] geystlichen lebens“ kosten zu dürfen, von dem „die wemtlichen und fleyschlichen“ nichts wüssten20. Der Autor verspricht ihnen, sie würden der Süßigkeit teilhaftig werden, „die da süst nirgen mage gefunden werden, wan allein in dem closter, da man das bewert geystliche lebe innen heit“21, und mit der Gott bewei­ sen will, „daz die geystliche lüst hundertfeltyglichen mer und gröss sein, wan die leyplichen“22. Schilderungen der innerlichen Gottesbegegnung gehen in dem Traktat unwillkürlich mit Beschreibungen äußerlich beobachtbarer Handlungen und typisch frauenmystischer Phänomene einher: Nach dem Erlebnis der Unio küsst und umarmt die Nonne Devotionalien, um erneut eine Vereini­ gung herbeizuführen; sie verfügt über die geistliche Tränengabe und nutzt diese in dem Zustand der Verlassenheit von ihrem Herrn; während und nach der mystischen Vereinigung werden Anzeichen eines tranceartigen, entrückten Zustands und Erfahrungen von Außerkörperlichkeit bei der Visionärin beschrieben23. Gerade solchen erlebnismystischen Phänomenen standen die Seelsorger der Observanz jedoch kritisch gegenüber24. Hatte es noch zur Blütezeit der Frauenmystik in manchem Dominikanerinnenkloster ein gegenseitiges Nehmen und Geben zwischen Seelsorger und mystisch begabter Nonne gegeben25, so ist in den Nürnberger Dokumenten des 15. Jahrhunderts von schulln inwendig in dem klöster bleyben [...] vnd da nichts anders gedenken vnd wissen, nür den güttigen herren Jesum Christum, den schullen sy allain besiczen als das paradeiß der hymelreych vnd da auf schawen in der heiligen geschrifft - mit süsser vnd frolicher rweb [Ruhe] - die heylig drivaltikait.“ Auch in der ,Predigt zur Einsegnung einer Schwester* (1455) des Nikolaus von Nürnberg wird mit dem Eintritt ins Kloster die Möglichkeit zur visionären Gottesbegegnung und mystisch-spekulativen Gotteserkennt­ nis verbunden. Die Predigt war in St. Katharina doppelt vorhanden in Cent. VI, 60, fol. 276r-282v und Cent. VI, 43b, fol. 21r-24v. Sie findet sich gedruckt bei: Irma Lamprecht: Der Mönch Nikolaus, ein Vorläufer Abrahams a Santa Clara, in: Münchner Museum für Philologie des Mittelalters und der Renaissance 5 (1932), S. 120-128. 20 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 53, fol. 62v. 21 Ebd. fol. 60r. 22 Ebd. fol. 59v. 23 Ebd. fol. 62"v. 24 Vgl. zum Folgenden: WERNER Williams-Krapp: „Dise ding sint dennoch nit wäre Zeichen der heiligkeit“. Zur Bewertung mystischer Erfahrungen im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20, Heft 80 (1990), S. 61-71. 25 So z.B. zwischen Heinrich von Nördlingen und Margareta Ebner. Vgl. Manfred Weitlauff: Dein got redender munt machet mich redenlosz. Margareta Ebner und Hein­ rich von Nördlingen, in: Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer (Hg.): Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, Köln/Wien 1988 (= Bei­ hefte zum Archiv für Kulturgeschichte 28), S. 303-352. Anette Kuhn: „Dein Gott re­ dender Mund macht mich sprachlos“. Heinrich von Nördlingen und die Mystikerin

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einer beide Seiten bereichernden Lernsituation nichts mehr zu spüren. Das Verhältnis ist deutlich als Lehrer-Schülerin-Konstellation bestimmt. Die Seelsorger der Reformperiode beabsichtigten, individuelle geistliche Hö­ henflüge keineswegs zu fördern, sondern waren bestrebt, diese zu kontrol­ lieren, und sie verfolgten insgesamt einen Kurs, der mit den Stichworten „Moral statt Mystik“26 beschrieben werden kann. Als problematisch wurde von ihnen die Tendenz zur Individualisierung empfunden, die unweigerlich in einem Konvent auftreten musste, in dem Nonnen für sich eine solche unmittelbare, innige Gottesbegegnung anstrebten. Die grundlegende Forde­ rung, die in Predigten und in der Unterweisungsliteratur an die Nonnen herangetragen wurde, war die nach einem kontinuierlichen geistlichen Wachstum in Form eines steten Anwachsens verschiedener Tugenden, wo­ bei Demut und Gehorsam besonders betont wurden. Extreme Askese hin­ gegen versuchten die Verantwortlichen zu mildern. Die Ausübung radika­ ler und vermeintlich egozentrischer Frömmigkeitspraktiken wurde bei ein­ zelnen Nonnen eingedämmt, indem man sie ermahnte, dass sie ihre indivi­ duellen mystischen Bestrebungen dem Gemeinwohl des Konvents unterzu­ ordnen hätten. Privates Gebet und individuelle Andacht sollten demnach nur noch so stattfinden, „das gemainer nucz da mit nicht werd versawmt oder gemynnert“, denn „wye wol besunder andacht guet ist, so ist doch für ze seczen gemaine andacht“27. Im selben Tenor mahnt ein anderer Autor in Margareta Ebner, in: Gabriela Signori (Hg.): Meine in Gott geliebte Freundin, Biele­ feld 21998 (= Religion in der Geschichte, Kirche, Kultur und Gesellschaft 4), S. 101-109. Zum seelsorgerlichen Verhältnis zwischen Jordan von Sachsen und Diana von Andalo vgl. Andrea Löther und Birgit Tramsen: „Du liebst mich mehr, als du von mir geliebt wirst“. Jordan von Sachsen und Diana von Andalo, in: ebd. S. 91-99. 26 Zu von männlicher Ordensseite propagierten Spiritualitätsidealen vgl. Monika Costard: Zwischen Mystik und Moraldidaxe. Überlegungen zur Seelsorge in Frauenklöstem des 15. Jahrhunderts am Beispiel der Predigten des Fraterherren Johannes Veghe und Konrad Schiatters OP, in: Miszellen aus dem Schülerkreis. Kaspar Elm dargebracht zum 23. September 1994, Masch. Ms. Freie Universität Berlin, S. 153-174. Thomas Lentes: Bild, Reform und cura monialium. Bildverständnis und Bildgebrauch im Buch der Reformacio Predigerordens des Johannes Meyer (f 1485), in: Jean-Luc Eichenlaub (Hg.): Dominicains et Dominicaines en Alsace XIlT-XXe S„ actes du colloque de Guebwiller, 8-9 avril 1994, Colmar 1996, S. 177-195. Francis Rapp: Zur Spiritualität in elsässischen Frauenklöstem am Ende des Mittelalters, in: Frauenmystik im Mittelalter, (wie Anm. 17), S. 347-365. 27 So in einer Anweisung für Klosterfrauen des Nikolaus von Dinkelsbühl, Stadt­ bibliothek Nürnberg, Cent. VI, 58, fol. 244'. Nikolaus von Dinkelsbühl war als Welt­ priester der Wiener Schule treibende Kraft und Initiator der Melker Reform. Die ihm zu­ geschriebenen deutschen Texte scheinen alle von einem Redaktor bearbeitet zu sein. Sein Werk gilt als das am breitesten übersetzte und überlieferte (Evre eines Autors der Wiener Schule. Vgl. Alois Madre: Art. Nikolaus von Dinkelsbühl, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 6, Sp. 1048-1059, und Thomas Hohmann: Art. Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor, in: ebd. Sp. 1059-1062.

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einer Enzyklopädie zu praktischen Fragen des Klosterwesens für Nonnen: „Nempt euch nihts besunders für [vor], das ir nyt schuldig seit, wann ir habt mit dem schuldigen leiplich vnd gaistleich genung zu schickent“28. Als wichtigste Aufgabe der Schwestern galt in der Reformbewegung das Chorgebet. Keinesfalls sollten individuelles Gebet und die private Be­ schäftigung mit Andachtsbildern, der Bibel oder Unterweisungsliteratur die Nonne also von den vom Konvent gemeinsam zu leistenden sakralen und handwerklichen Aufgaben abhalten29. Wer, wie die Seelsorger der Klosterreform, die vita communis eines Konvents stärken wollte, konnte dies nur tun, indem er individualistische Tendenzen der Frauenmystik pro­ blematisierte oder - wie unten zu sehen sein wird - funktionalisierte. Die kritische Einstellung Nürnberger Seelsorger den Manifestationen weiblicher Erlebnismystik gegenüber sei im Folgenden anhand zweier namhafter Vertreter der Observanzbewegung kurz illustriert: In einer Anleitung zu angemessener Klosterfrömmigkeit unter dem Titel ,Sendbrief von wahrer Andacht'30 kritisiert der Nürnberger Dominikaner

28 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 46d, fol 68r. Beim Autor handelt es sich um den Verfasser des Sendbriefs .Carissima soror Agnes1, einem unbekannten Dominikaner der ersten Reformperiode im Umkreis um Raimund von Capua aus einem der bis 1410 reformierten Konvente Colmar, Nürnberg oder Schönensteinbach. Falk Eisermann: Carissima soror Agnes. Zur Rezeption einer päpstlichen Simonie-Konstitution in spät­ mittelalterlichen Frauenklöstern. Mit Edition, in: Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur (wie Anm. 3), S. 119-167, besonders S. 134f. 29 Vgl. Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 46d, fol. 73v-74r: „Wenn der convent ze kor ist vnd das gotleich ampt vnd die syben zeit beget oder wo der convent bey ein ander is an gemeyner arbeit oder an gemaynem werk, es sey in dem capitel hawß oder an­ derswo oder ze refender [im Refektorium], so solt ir auch da sein pey der gemeind vnd dem convent helfen, daz gemain werk vnd arbeit volbringen vnd solt auch [wohl: euch] do von nyt Stelen noch absentiren durch ewren sunder andacht willen, wann das gemein gut ist zu schätzen vnd zu halten [fol. 74r] für daz besunder, alz Sant Paulus vnd Sant Augustinus sprechent vnd maynent. Vnd dar vmb so wissent vnd merkent, ob daz wer, daz ir in der weil vnd stund, so man preym oder ain andren kurcze zeit singt, ainen ganczen

salter gepeten mochtent oder x vigilg mortuorum oder ze x mallen syben salm oder des geleich oder vil ander guter besunder pet tunt oder vnßers herren leyden mit ein ander in innikait mit großem ein gekertem adacht bedenket vnd betrachtet, ez wer nyt genunck noch gerecht, vnd got het es nit vergüt von euch. Warumb? Da seit ir schuldig dem Convent ze helfent daz gemain gut ze volbringent, daz ist die preim vnde die ander zeit in dem tag vnd in der nacht mit dem convent ze singent.“ Vgl. auch die gesamte Passage fol. 68r-75r. 30 Die in reformierten Frauenklöstem weit verbreitete Anleitung zu wahrer Andacht war allein in St. Katharina in 5 Abschriften vorhanden: Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. V, App. 81, fol. 157r-175v; Cent. VI, 43e, fol. 274ar-282v; Cent. VI, 43m, fol. lr-l lv; Cent. VI, 100, fol. 71 v-89r; Cent. VII, 12, fol. lr-20r. Der Inhalt wurde ausführlich besprochen in: Williams-Krapp: „Dise ding“ (wie Anm. 24), S. 63-66.

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Eberhard Mardach31 ein von erlebnismystischen Phänomenen begleitetes frommes Streben unter Nonnen als falsche Frömmigkeitsform. Er zeichnet ein Bild von Mystikerinnen, die um ihrer eigenen Hoffahrt willen und auf­ grund eigenen Wohlgefallens übertriebene Askese oder lange Gebetsketten praktizierten, sich aber nicht an die Regeln des Ordens hielten. Die von ihnen berichteten erlebnismystischen Phänomene wie die Tränengabe, Vi­ sionen, Auditionen, Geschmacks- und Geruchsempfindungen, Süßigkeit und Eingezogenheit seien ihm wohl bekannt. Zwar wären alle diese Phäno­ mene gut für diejenige Nonne, die sie „demütiklich vnd danckperlich enfpa-[fol,159v]hen kan vnd nüczlich vnd früchperlich prauchen und weiß­ lich und behutsamklich behalten kan“, allerdings nur, solange sie ihren Ur­ sprung tatsächlich in Gott hätten. Mardach warnt jedoch davor, sie generell zur Bewertung der eigenen Heiligkeit oder der Heiligkeit anderer heran­ zuziehen, denn manchmal seien sie nichts weiter als menschliche Hirnge­ spinste oder Eingebungen des Teufels32. Dagegen setzt er seine Definition wahrer, sicherer Andacht und Heiligkeit. Sie besteht darin, die Gleichför­ migkeit des eigenen mit dem göttlichen Willen anzustreben, Geduld und Gelassenheit in Zeiten der Anfechtung zu bewahren und sich lieber selbst zu erniedrigen, die eigene Sündhaftigkeit zu erkennen und diese vor dem Angesicht Gottes einzugestehen, anstatt hochmütigen Geistes nach süßen Erlebnissen zu streben. Für Johannes Nider33, der als Nachfolger Eberhard Mardachs als Prior des Nürnberger Dominikanerklosters verantwortlich für die Durchführung der Klosterreform in St. Katharina war34, stellt der gemeinsame Umgang von Schwester und Beichtvater mit erlebnismysti­ schen Phänomenen einen wichtigen Punkt innerhalb der cura monialium dar. In seinem ,Formicarius‘, einem an männliche Ordensgeistliche - also auch potentielle Nonnenseelsorger - gerichteten, fingierten Lehrgespräch zwischen einem Theologus und seinem Schüler, erklärt Nider ekstatische Phänomene bei Frauen für problematisch: Obgleich das weibliche Ge­ schlecht das männliche überrage, was die Intensität der Kontemplation anbelange, liefen Frauen ohne die Leitung durch männliche Seelsorger 31 Mardach war 1405 dem Nürnberger Konvent beigetreten und übte dort von 1425 bis 1428 das Amt des Priors aus. Vgl. Werner Williams-Krapp: Art. Mardach (Madach, Mattach) Eberhard OP, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 6, Sp. 1237-1239. 32 Vgl. Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. V, App. 81, fol. 157v-160v. 33 Margit Brand: Studien zu Johannes Niders deutschen Schriften, Rom 1998 (= Dissertationes historicae. Institutum Historicum FF Praedicatorum Romae ad S. Sa­ binae 23). Eugen Hillenbrand: Art. Nider, Johannes OP, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 6, Sp. 971-977. 34 Zur Reform vgl. Theodor von Kern: Die Reformation des Katharinenklosters zu Nürnberg, in: Jahresbericht des historischen Vereins für Mittelfranken 31 (1863), S. 120; Johannes Kist: Klosterreform im spätmittelalterlichen Nürnberg, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 32 (1963), S. 31-45.

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doch permanent Gefahr, vom Teufel hinters Licht geführt zu werden. Niders Meinung nach lassen sich mystische Erlebnisse einzelner Frauen aus­ schließlich im Gespräch mit einem erfahrenen Theologen mit dem Leben im Kloster vereinbaren, ohne dass sie eine Gefahr für das Seelenheil der Visionärin oder ein Risiko für den gemeinschaftlichen Frieden unter den Nonnen darstellen35. Die zahlreiche Überlieferung eben erwähnter Vorbehalte, welche Seelsor­ ger der Reform gegen das erlebnismystische Streben der Nonnen hegten, wiesen bereits darauf hin, dass das Bedürfnis der Schwestern nach mysti­ scher Anleitung auch im 15. Jahrhundert weiterhin bestand. Innerhalb der Tischlektüre wurde diesem Bedürfnis insofern entsprochen, als man Kom­ promisse einging und neben für die Laienunterweisung als geeignet emp­ fundener, homiletischer und katechetischer Literatur in etwa zu gleichen Teilen auch mystische Literatur las, wie Predigten Johannes Taulers, mys­ tische Traktate wie das ,Neunfelsenbuch1 Rulman Merswins oder den ,Mandelkern1, die Eucharistietraktate Marquards von Lindau und des Mat­ thäus von Krakau, den ,Stimulis amoris1 Ps.-Bonaventuras oder die Pas­ sionstraktate Heinrichs von St. Gallen und des Johannes von Zazenhau­ sen36. Aus der vita contemplativa konnte die Mystik schon deswegen nicht getilgt werden37, weil eine Selektion des Lesestoffes nach reformkonfor­ men Kriterien nicht zu bewerkstelligen war38. Neben den wenigen zu Be­ ginn des Aufsatzes zitierten Passagen zeugt davon die Menge an mysti­

35 JOHANNES Nider: Formicarius. Einführung von Hans Biedermann, Graz 1971, lib. 11, cap. 2 und lib. III, cap. 8. 36 Dies hat eine Auswertung der Nürnberger Tischlesekataloge in der Erlanger Dissertation von Antje Willing ergeben: Willing: Literatur (wie Anm. 3), besonders S. 259. Zur Tischlesung in St. Katharina vgl. auch: Burkhard Hasebrink: Tischlesung und Bildungskultur im Nürnberger Katharinenkloster. Ein Beitrag zur Rekonstruktion, in: Martin Kintzinger, Sönke Lorenz und Michael Walter (Hg.): Schule und Schüler im Mit­ telalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 1996 (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 42), S. 187-216. 37 Dies hat WERNER Williams-Krapp: „Dise ding“ (wie Anm. 24) und DERS.: Obser­ vanzbewegungen (wie Anm. 2) deutlich plausibel gemacht. 38 Dass die Beschäftigung mit subtilia innerhalb der lectio privata zwar nicht unter­ bunden werden konnte, aber im Allgemeinen nicht allzu gern gesehen wurde, wird auch aus dem Prolog einer Beichtanweisung gegen Ende des 15. Jahrhunderts deutlich. Vgl. Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 84, fol. 134T.: „Etlich lesen gern hohe materie, die sy nit versten vnd fragen nit. Die lerer loben nit hoch verdeuczte pucher, sunder was von beichten, von fügenden vnd von [fol. 134v] von [sic!] sunden vnd von cristenlichen siten, von andacht, psalter vnd gepeth vnd der gleichen, die sein löblich vnd guet.“ Vgl. die ähnliche Tendenz in Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. VI, 98, fol. 86r v: „hübsche vnd höhe dinge scholt ir nit vast begeren cze wissn oder ze versten, sunder en- [fol. 86v] phelht vnd verlast dy selbn den hochvertigen vnd übermütigen wemtlichen menschen.“

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scher Literatur, welche nach der Reform in St. Katharina kopiert wurde: Zwischen der Ordensreform 1428 und 1455/57 entstand z.B. der Band E.XX11I im Skriptorium, welcher Predigten Meister Eckharts und Johannes Taulers enthielt, die das Kloster vor der Reform noch nicht besessen hatte. Nach 1455/57 wurden noch einmal Predigten Meister Eckharts und Johan­ nes Taulers kopiert sowie Teile aus dem .Paradisus anime intelligentis', die Werke Heinrich Seuses und eine deutsche Fassung der .Epistola ad fratres de monte Dei' Wilhelms von Thierry. Zudem wurden Abschriften mehrerer frauenmystischer Werke angefertigt, wie der Offenbarungen Bir­ gittas von Schweden oder Elisabeths von Schönau, Auszüge einer deut­ schen Übersetzung des ,Liber specialis' der Mechthild von Hackeborn so­ wie Teile aus deutschen Schwestembüchern39. Inwieweit die Nonnen in St. Katharina selbst darüber bestimmten, welche Schriften sie kopierten und an andere Klöster Weitergaben, oder ob wie andernorts eher von einer Steuerung des Verbreitungsprozesses mystischer Literatur durch männliche Initiatoren ausgegangen werden muss40, müssten Einzeluntersuchungen zeigen. Der oben zitierte Traktat ,Lob des Klosterlebens' jedenfalls findet sich wieder in einer Handschrift aus dem Augustinerchorfrauenstift Pillen­ reuth41 sowie in einer Sammelhandschrift42, die aus St. Katharina ins 1472 reformierte Dominikanerinnenkloster nach Medingen gelangte. Es gibt kei­ nerlei Hinweise darauf, dass die von St. Katharina ausgehende Verbreitung des Traktats in irgendeiner Weise durch einen Seelsorger angeordnet oder kontrolliert worden wäre. Wahrscheinlicher ist, dass der Inhalt von den Le­ 39 Vgl. Willing: Literatur (wie Anm. 3), S. 258f. 40 Werner Williams-Krapp beobachtete, dass zirka 4/5 der monastischen Eckhart-, Seuse- und Taulerüberlieferung im 15. Jahrhundert geschrieben wurde und aus refor­ mierten Klöstern stammt. Bücher bzw. mystische Schriften von Frauen finden sich dage­ gen selten, was seines Erachtens auf eine Steuerung des Überlieferungsprozesses durch männliche Initiatoren hinweist. So dürften die Werke Mechthilds von Magdeburg, Chris­ tine oder Margarete Ebners im 15. Jahrhundert in Frauenklöstem kaum bekannt gewesen sein. Von den zahlreichen frauenmystischen Schriften verbreiteten sich im 15. Jahrhun­ dert lediglich die Nonnenviten im Umkreis der Reformbewegung. Vgl. Werner Wil­ liams-Krapp, Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert, in: Joachim Heinzle (Hg.): Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion, Stuttgart/Weimar 1993 (= Germanistische-Symposien-Berichtsbände 14), S. 301-313: hier S. 302. 41 Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 750, fol. 233r-252v; Beschreibung vgl. Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek Mün­ chen. Cgm 201-5247, Wiesbaden 1970-1996 (= Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V/II-V/VII), S. 253f.; Zur Abhängigkeit von Cgm 750 und Tex­ ten aus St. Katharina vgl. Siegfried Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstem des Mittelalters. Quellen und Studien, München 1980 (= Münchener Tex­ te und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 72), S. 50-52. 42 Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Mgq 1929; Beschreibung vgl. Peter-Jörg Becker: Verzeichnis der an Degering anschließenden Ms. germ. quartHandschriften in der damaligen SBPK (Typoskript, unvollendet), Berlin 1986-1989, S. 49.

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serinnen als ansprechend empfunden und der Traktat deswegen ab­ geschrieben und weitergegeben wurde. Auch dies weist darauf hin, dass wir im 15. Jahrhundert nicht zwangsläufig von einem Abflauen oder gar völligem Abbruch mystischen Strebens unter den Nonnen ausgehen soll­ ten, wenngleich uns aus dieser Zeit aus St. Katharina keine mystischen Do­ kumente aus der Feder von Nonnen vorliegen43.

In der Unterweisungsliteratur lassen sich unterschiedliche Arten des Um­ gangs der Seelsorger mit dem Bedürfnis der Nonnen nach mystischer Lite­ ratur erkennen. Wenn insbesondere brautmystisches Gedankengut auf­ grund der spirituellen Präferenzen der Schwestern in der lectio privata schon nicht zu vermeiden war, so verstand es mancher Geistliche, braut­ mystische Topoi für die Ideale der Ordensreform zu instrumentalisieren. Zum anderen konnte man der offensichtlichen Vorliebe der Nonnen für mystische Literatur schließlich durch die Vermittlung geeigneter mystagogischer Schriften entsprechen. Vom letzteren Umgang der Seelsorger mit dem Mystikbedürfnis der Schwestern zeugt die erste oberdeutsche Übersetzung des ,Spiegels der Vollkommenheit1 Hendrik Herps in der Nürnberger Klosterbibliothek44. Peter Kirchschlag45, der 1466 vom Dominikanerkloster in Köln nach Nürn­ berg kam und dort 1473 Prior wurde, brachte die niederländische Vorlage aus der Rheinmetropole mit nach Nürnberg. Die Übersetzung für die Non­ nen veranlasste der Beichtvater der Nonnen Georg Hass46. Hendrik Herp 43 Eine Ausnahme bilden die Offenbarungen der Katharina Tücher (fl448), vgl. Ulla Williams und Werner Williams-Krapp: Die Offenbarungen der Katharina Tücher, Tübingen 1998 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 98). Sie sind nicht in die Untersuchung einbezogen, weil Katharina Tücher sie bereits vor ihrem Klostereintritt niederschrieb und sich ihre Aufzeichnungen bis zu ihrem Tod in ihrem Privatbesitz befanden, also nicht unter den für die Allgemeinheit ausleihbaren Bestand der Bibliothek fielen. 44 Hendrik Herps Spiegel der Vollkommenheit, 1. Teil, Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VII, 21, fol. lr-187v; 2. Teil, Cent. VI, 96, fol. 2r-184r; Edition: Hendrik Herps ,Spiegel der Vollkommenheit1 in deutscher Sprache: eine überlieferungsgeschichtliche Edition, hg. von Deborah A. Rose-Lefmann, Diss. (masch.) Princeton University 1994, erschienen bei University Microfilms International, Ann Arbor, Michigan. 45 Zu Peter Kirchschlag vgl. Peter Renner: Art. Kirchschlag, Peter, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 4, Sp. 1156f.; ders.: Spätmittelalterliche Kloster­ predigten aus Nürnberg, in: Archiv für Kulturgeschichte 41/2 (1959), S. 201-217, beson­ ders S. 204f.; Helmut Walther: Prediger und Predigten aus Cod. 114 der Sammlung Eis, besonders das Werk Peter Kirchschlags, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 38 (1968), S. 71-97, besonders S. 75f. 46 Vgl. die Einträge im mittelalterlichen Bibliothekskatalog zu M. XXIII (= Cent. VII, 21) und M. XXIV (= Cent. VI, 96) in: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. III/3: Bistum Bamberg, bearbeitet von Paul Ruf, München 1919 (Nachdruck:

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(1410-1477), ein niederländischer Fraterherr und späterer Franziskaner, hatte die mystagogische Schrift 1460 ursprünglich für eine geistliche Tochter verfasst. Es handelt sich bei dem Traktat um den Entwurf eines af­ fektiven Wegs zur Vereinigung mit Gott, welcher anfangs auch noch von brautmystischen Metaphern Gebrauch macht, der jedoch nicht beim brautoder erlebnismystischen Raptus stehen bleibt. Die Schrift gliedert sich in zwei Teile: Das erste Buch thematisiert das sog. zwölffache Sterben. Es enthält zwölf Kapitel, in denen es darum geht, menschliche Gewohnheiten abzulegen, die der mystischen Vereinigung hinderlich sind47. Erst im zweiten Teil wird die Vereinigung der Seelenkräfte des Menschen mit Gott thematisiert. Dieser gliedert sich in 1. tätiges, 2. schauendes, und 3. trans­ zendentes Leben. Zwei Tendenzen treten in dieser Anleitung zum mystischen Aufstieg hervor, die erklären könnten, warum Kirchschlag und ffass als verantwort­ liche Seelsorger diese Schrift als geeignet und unbedenklich für die ihnen anvertrauten Nonnen betrachteten: Zum einen wertet auch Herp erlebnismystische Phänomene ab, da man schwer unterscheiden könne, ob sie göttlichen oder teuflischen Ursprungs seien. Herp beurteilt mystische Phänomene anhand der hinter ihnen ste­ henden Gesinnung: Menschen, die Leid annehmen können, dies aber nur ertragen, solange sie inwendiger Gnade, Empfindung der Liebe und Süßig­ keit des Geistes teilhaftig werden, sind für ihn „kranck ritter in der lieb

München 1961), S. 627: „Item diese II puchlein haben die swestem geschriben, und/ hat gepredigt und gemacht der erwirdig vater prior zu den predigem, Peter Kirchslag, und unser peich-/ tiger, vater Haß, hat sy uns teutzsch lasen machen.“ Zur nicht eindeutigen Identifikation des Übersetzers als Georg oder Heinrich Hass vgl. Andrew Lee: Materialien zum geistigen Leben des späten 15. Jahrhunderts im Sankt Katharinenkloster zu Nürnberg mit besonderer Berücksichtigung der Predigten Johannes Diemars, Diss. Universität Heidelberg 1969, S. 305, Nr. 154 und 155 und Dagmar Ladisch-Grube: Art. Haß, Georg, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 3, Sp. 546f. Die Tatsache, dass in Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VII, 27, neben einer unvollständigen Übersetzung des Spiegels ebenfalls eine Predigt von Georg Hass überliefert ist, spricht m.E. für Georg und gegen Heinrich Hass als Übersetzer des ,Spiegels der Vollkommenheit1. Ein Georg Hass ist zudem 1473 urkundlich erwähnt. Dies ist das Jahr, in welchem Peter Kirchschlag das Priorat in Nürnberg übernahm. 47 1. die Begehrung zeitlicher Güter; 2. der Eigennutz als Motivation für das Voll­ bringen guter bzw. das Unterlassen böser Taten; 3. die Begierden der Sinne; 4. der Wunsch nach der weltlichen, natürlichen, empfangenen und angenommenen Liebe; 5. Die Gesellschaft der erschaffenen Dinge; 6. Sorgen um äußerliche Dinge; 7. Bitterkeit des Herzens; 8. Hoffart und eitle Ehre; 9. das Streben nach der inwendigen geistlichen oder sinnlichen Lust; 10. das furchtsame Grübeln über den eigenen Seelenzustand; 11. der Unfriede des Herzens bei äußerlich widerfahrenden Widerwärtigkeiten und innerlich verspürter Verlassenheit; 12. der eigene Wille.

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gotes“48. Eine solche Haltung zeugt immer noch von Eigenliebe und Eigen­ willen, und sie entspricht noch lange nicht dem obersten Grad an Gelas­ senheit, in welchem der Mensch sich selbst gestorben ist um seiner Liebe zu Gott willen. Wie Eberhard Mardach betont auch Hendrik Herp: Mysti­ sche Phänomene können nicht zur Bestimmung des menschlichen Grads der Gottesliebe49 oder gar der Heiligkeit50 eines Menschen dienen. Sie seien lediglich Hilfsmittel, die die Gottesliebe wachsen lassen und den Menschen zu mehr Gelassenheit äußerlichen Dingen gegenüber fuhren. Daher müssten sie als eine Station auf dem Weg zur Vollkommenheit be­ trachtet werden, die passiert werden muss. Wer nämlich den obersten Grad der Gelassenheit erreicht hat, erträgt es, dass ihm oder ihr die Tränengabe und sämtliche geistlichen Empfindungen entzogen werden, ln ihrer Liebe zu Gott wäre eine solche Person bereit, die höllische Pein ohne Widerrede des Herzens zu tragen, den Verlust der spürbaren Gnade, Andacht und Sü­ ßigkeit in Vereinigung ihres eigenen mit dem göttlichen Willen fröhlich (!) anzunehmen. Die brennende Gottesliebe treibt nach Herp einen solchen Menschen sogar dazu, dass „er begert auß grünt des herrczens on alle enpfindung der lieb vnd gnad, allein mit der plöslichen wesenlichen lieb also lang als er lebt zu stehen in aller inwendiger Verlassenheit vnd angst des herrczens, die jm zu körnen mügen, nicht zu achten alle inwendig tröstung gots wie geistlich sie sein“, denn dieser Zustand lasse den Men­ schen Christus nachfolgen in der Verlassenheit, die er im Garten Gethse­ mane gelitten hat. Dies nennt Herp das „höhst tugentlich werck, das Cristus auf der erden beweist hat vnd dem ein mensch nach volgen /66''/ 48 Hendrik Herps ,Spiegel der Vollkommenheit' in deutscher Sprache (wie Anm. 44), S. 131. 49 Vgl. ebd. S. 117: „Nun sein ettlich menschen, die alle ir arbeit vnd peten czu got thun vmb diße empftndung der genad, andacht vnd sussikeit czu haben, vnd als lang als sye der nit haben, so gelüst sye kein gut czu tun, vnd sye dunckt alles was sye thun, das es nichtz wert sey, vnd das ist darvmb wann sye meynen, das die empfindung der jnnikeit rechte /447 lieb gots sey, darynn sie ser jrren. Wann es ist allein ein gab gots die do einem menschen behilflich ist, jm selber dester paß czu sterben vnd von allen creaturen vnd werntlicher frewd czuzihen vnd gancz sich selber vber geben in den willen gots.“ Vgl. auch S. 1 Olf.: „Vnd dar vmb so sol sich nyemant verlassen auff andacht vnd jnwendige enpfindung, wann als uil er sein selbs stirbt jn dem gotswillen vnd seinen gepoten vnd reten folgt, so vil gotlicher lieb hat er vnd nit mer.“ 50 Ebd. S. 118: „Doch so sullt ir hie wißen, das sich nymant schol laßen duncken /457 einicher heilikeit darumb, das er hat vil empindlicher üb, andacht oder süßikeit, vnd das jm die genad oft zufleüst. Wann das geschieht gemeincklich vmb vnßer kranckheit vnd ungestorbenheit wegen.“ Vgl. auch S. 255f.: Der Verfasser zählt verschiedene Ursachen dafür auf, warum Gott den Menschen die Gnade entzieht. Als fünfte Ursache nennt er „das die liebhabende sele lern vnd erkenn, das yn der empfindlichen gnad, andacht und lieb kein warhafftig /II 537 heillikeit ist gelegen, noch kein warhafftige gotüche lieb, ya sie mügen kommen aus der ploßen natur."

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mag“51. Erlebnismystik wird in Herps Programm folglich abgelöst von äußerlich unspektakulärer Passionsmystik. Ein Zeichen wahrer Heiligkeit ist es für ihn, dass die innere Haltung einer Person auch dann vorbildlich bleibt, wenn die geistlichen Lüste ausbleiben: „Vnd dar vmb sein sie nit heilliger noch liebhabender dester mer, die die meist empfindlikeit scheynen czu haben yn gnad, andacht vnd lieb, aber [sondern] die ir mynniklich oder liebhabend krafft können auff heben vber alle empfindlichkeit vnd synnlikeit yn die plossen wessenlichen lieb, die man prüfft in einem bereyten willen, sich selbs yn allen dingen auß czu gehen vmb die lieb gots [...]. Also das die recht liebhabenden menschen nach dem liebsten wolgefallen vnd behagen gots können arms willens sein von allen ynwendigen trösten, czyhen, gesmack vnd empfinden, vnd do allein ynnen künne ge­ trost sein, das sye got aller lewterligst lieb haben mit der verstentlichen lieb, die allein warhafftige lieb ist, vnd das sie alle tugent vnd gerechtigkeit verpringen können czu der ere vnd lieb gots, kein ander geistliche empfindliche wollußtikeit oder sussi/II 547keit czu suchen. Vnd also sere als diese armut wechst yn dem menschen, also sere wechst heilikeit vnd lawtere lieb.“52 Die Schrift fordert demzufolge dazu auf, Gott nicht in emotionalen Zuständen und sinnlichen Erfahrungen zu suchen, sondern durch radikale Selbstenteignung in dem zwölffachen Sterben, und sie erin­ nert damit an die Argumentation in Eberhard Mardachs , Sendbrief von wahrer Andacht1. Die zweite Tendenz, die den ,Spiegel der Vollkommenheit4 als Lese­ stoff und Meditationsgrundlage für Nonnen geeignet scheinen lässt, ist die Eindeutigkeit, mit der Herp auf dem Weg zur mystischen Vereinigung der Liebe den Vorrang über den Verstand einräumt. Die Beschauung, die der Franziskaner fordert, ist affektiver, nicht rationaler Art. Er differenziert zwischen mystischem Streben, welches mit dem Ziel geschieht, mit bren­ nender Liebe zu Gott entzündet zu werden, und solcher Beschauung, die sich aus theologischer Neugier speist und darauf abzielt, Wissen über die Ordnung des ewigen Lebens oder Erkenntnis über verborgene Dingen zu erlangen (etwa zu wissen, wie Christus empfangen, geboren, gekreuzigt wurde, wie er auferstanden und aufgefahren sei). Diejenigen, die Engel, das Kindlein in dem Sakrament oder Bilder vom ewigen Leben aus dieser Motivation heraus zu sehen begehren, begeben sich in Gefahr, vom Teufel

51 Ebd. S. 132. 52 Ebd. S. 255. Die „lauter lieb“ und die „wesenliche lieb" erläutert Elerp ebd. S. 293: Die Liebe wird lautere Liebe genannt, wenn sie von aller Begehrung geläutert und frei ist. Sie heißt „wesenliche“ Liebe, wenn sie in dem Wesen der Seele entzündet ist und der Geist durch sie erhoben wird über alle Vernunft und über die „wurckliche lieb“ (d.h. die, die in dem Menschen die Gnade und Tugend wirkt). Mit Hilfe der „wesenlichen lieb“ werden menschlicher und göttlicher Geist also vereint.

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mit Visionen betrogen zu werden oder sich mit ihrem Offenbarungswissen über andere zu erheben. Das rechte beschauliche Leben muss sich auf die brennende, abgrundtiefe Gottesliebe, also auf emotionale Voraussetzungen gründen: „Vnd darvmb wer sich sicherlich vnd ordenlich vben will, der sol alle seine vbung ordenyren vmb die lieb gots großlich czu erwecken vnd nit vmb hoh erkantnuß zu haben der ding, die jm nit not sein.“53 Was Herp anbietet, sind also geistliche Übungen, die die Liebe zu Gott entfachen. Die Gottesliebe kann seiner Meinung nach entweder auf vernunftgeleite­ tem Weg - d.h. durch das Betrachten der Schöpfung und der Heilstat Christi und der bewussten Kontrastierung dieser Dinge mit der eigenen Verwerflichkeit - oder auf dem Weg der Begierde, also nicht des Verstan­ des, erwachsen. Als Übung, die die Gottesliebe wachsen lässt und den Geist auf die Vereinigung mit Gott vorbereitet, empfiehlt Herp das aspirative Gebet: ein permanentes Bittgebet um die Zunahme der eigenen Liebe zu Gott. Er benennt diese Übung mit dem Begriff „Zugeisten“. Dem af­ fektgeleiteten Zugang gibt Herp den Vorrang gegenüber dem vernunftge­ leiteten Weg, denn aufgrund göttlichen Wirkens könne ein Bauer oder ein altes Weib in kürzester Zeit mehr von Gott empfangen und erfahren als alle Gelehrten mit ihrer Weisheit je zu erkennen vermögen54. Nach Herp ist der Weg der Begierde der kürzere und einfachere Weg zur Vollkommen­ heit, weil er keinerlei „subtilheit vnd vemunfftikeit der verstentnuß“ erfor­ dert. Wenn die Begierde durch andauerndes „Zugeisten“ ausreichend zu­ nimmt, erfüllt sie die Kräfte der Seele mit solchem Überfluss an Geistlich­ keit und Reichtum, dass „czu dem letzsten auff getan wirt ein lawter siecht [leicht verständliches; unmittelbares] erkennen mit einem scheinen der gotlichen clarheit, das des menschen natürliche verstentnuß wirt erhaben also ferr vber alle natürliche erkantnuß, als die clarheit der sunnen get vber die clarheit des mons“55. Herp unterscheidet in seinem graduell aufsteigenden Modell der Verei­ nigung zwischen den unteren Kräften der Seele (anima, noch verbunden mit dem Leib), den oberen Kräften (spiritus, d.h. Gedächtnis, Verstand und Willen, auf die jeweils eine Gestalt des dreieinigen Gottes einwirkt) und der Spitze der Seele (der gedank', er enthält das Bild der heiligen Dreifal­ tigkeit und ist der Ort der Vereinigung und Gottesschau)56. Wenn im 53 Ebd. S. 121. 54 Ebd. S. 189f.: „Diser weg ist auch vil nützlicher vnd edler, wann got ist ein meister aller volkommenheit, also das ein pawr oder ein alt weib, die darzu geczogen wirt oder wandert durch disen weg in kurtzer zeit mer empfahen mag vnd mer entpfintlicher er­ kantnuß von got, von den grünttigen tugent vnd des gleichen von allem dem, das Seligkeit /1447 des menschen an get oder an trifft, denn alle die doctores der werlt erkennen mit jrer natürlicher weysheit oder erlangen mugen.“ 55 Ebd. 56 Ebd. S. 272f.

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Herpschen Modell der Gottesoffenbarung der Geist in das Innerste der Seele gezogen wird, muss die Ratio von der Liebe erhoben werden. Das göttliche Licht der Beschauung kann nur von einem „Auge über alle Ver­ nunft“ von dem höchsten Wipfel der Seele aus betrachtet werden. Der Mensch benötigt dieses „Auge über der Vernunft“, um das Undenkbare und Unbeschreibbare aufnehmen zu können. Wo der menschliche Verstand an seine Grenzen stößt, vermag es die Liebe bei Herp, den entscheidenden Schritt vorwärts zu machen: „Die verstentnuß vnd die oberst begir oder liebend kraft /II 1287 wandern zu sammen auf wertz, vmb zu körnen in got zu dem eussersten, do die verstentnuß wandern mag. Denn so pleibt die verstentnuß außwendig vnd die liebhabend kraft get allein ein vnd erhebt sich allein zu der ploßheit des gedancken, der do ist das simpel, einfaltig aug der sele oder das hertze der sele, mit dem man got siht. [...] Das simpel einfeltig aug ist weyt auf getan vnd hat ein einfeltig simpel ge/II 128v/sicht, an [ohne] gemercken oder erforschen oder vntersuchen, wann auff disen plossen gedancken scheint ein verstentlich lieht, welchs lieht noch synn noch vernunfft noch mercken oder ersuchen vnd erforschen des verstentnuß noch auch die natur begreyffen mag, in dem das die groß clarheit des Hechts wider siecht [zurückspiegelt] vnd verplent die vernunfftigen äugen. Aber ober [über] aller vernufft [sic!] in dem obersten punctlein vnd wipffel der verstentnuß pleibt allein offen das simpel aug, beschawende vnd ansehent das liecht on wider /II 1297 slag der äugen. Diß liecht ist edel vnd erhaben vber alles, das in der natur erschaffen ist. Wann es ist ein volkomen aug der natur vnd ein verklert mittel zwischen got vnd vns, gebend vns ein freyheit vnd ein konheit [Verbindung/Verwandtschaft] zu got. Vnd vnser simpel ploß gedenck ist ein lebendiger Spiegel, in dem diese lieht erscheint, vordernt oder heischend von vns ein gleichformigkeit vnd einigung mit got.“57 Der im ,Spiegel der Vollkommenheit1 aufgezeigte affektive Weg zur Gotteserkenntnis konnte einem Seelsorger wie Peter Kirchschlag oder Georg Hass als angemessen für die ihm anbefohlenen Nonnen erscheinen, da man ihnen auf dem Gebiet der Emotionen wesentlich mehr zutraute als in rationaler Hinsicht. Trotz dieser Aufwertung des affektiv-emotionalen Bereichs wird einer schwelgerischen Vorliebe für spektakuläre, inner­ lich-geistliche Erlebnisse und ihre äußerlichen Manifestationen entgegen­ gewirkt. Stattdessen wird empfohlen, unter völliger Entäußerung des eige­ nen Willens Christus in die Verlassenheit des Garten Getsemanes zu nach­ zufolgen. Die Betrachtung des Leidens Christi wurde den Nonnen in St. Katharina als Andachtsübung wärmstens empfohlen. Das „Mitleiden“ mit dem ge­ 57

Ebd. S. 30lf.

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geißelten und gekreuzigten Christus soll den Menschen mit Christus gleichförmig machen und ihn dazu befähigen, eigenes Leid aus der Hand Gottes willig, demütig, geduldig und ohne innerlichen Widerstand anzu­ nehmen. Die Empfehlung, das Leiden Christi zu kontemplieren und dabei zur Aufgabe des eigenen Willens zu gelangen, finden wir in Hendrik Herps ,Spiegel der Vollkommenheit1 oder in Venturin von Bergamos Brief an die Schwestern von Comps ebenso wie in dem Sendbrief Eberhard Mardachs von wahrer Andacht, in der ,Allegorie von der geistlichen Geißel158, einem Unterweisungstraktat des Seelsorgers Georg Falder-Pistoris58 59, dem ,Non­ nenwerk1 des Erhard Groß60 und anonym überlieferten geistlichen Send­ briefen61 und Belehrungen62. Der Schreiber eines anonym überlieferten Traktats mit einer tabellarischen Übersicht über Christi Leiden zu den je­ weiligen Tagzeiten63 beendet diesen mit dem folgendem Vers, in welchem er die Passionsbetrachtung als unabdingbare Pflicht für Klosterleute be­ zeichnet: „Closter leüten gehört zu/ daz sye sich beschawen spat und fru/ in dem Spiegel gancz und gar/ der da ist czart, vein und dar./ Ich meine, Christi Jesu pitters leiden/ wann daz lert alle sünd meiden./ Der ihm nachvolget wol,/ der wirt aller tugend vol./ Der mensch mag auch nit pessers beginnen,/ er trag ez denn stet in seinen synnen.“ Was man sich unter individueller Passionsbetrachtung vorzustellen hat, zeigt die auf den Vers folgende Anleitung64, die aus fünf Punkten besteht: Zum Ersten ruft sie die Nonnen auf zur imitatio Christi im Umgang mit eigenem Leid. Dazu zähle der Wunsch, wie Christus von allen Menschen verworfen zu werden, sowie die Fähigkeit, das eigene Leid ohne Murren 58 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 43', fol. 198v-204r. 59 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 43q, fol. T-162r; Georg Falder-Pistoris war von 1429-1439 Prior des Nürnberger Predigerkonvents. Sein seelsorgerliches Engage­ ment innerhalb der cura monialium spiegelt sich in der Übersetzung bzw. Zusammen­ stellung verschiedener erbaulicher Schriften. Vgl. Isnard W. Frank: Art. Falder Pisto­ ris, Georg, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 2, Sp. 703-705. Eva Spielvogel: Georg Falder-Pistoris, Reformator österreichischer und süddeutscher Dominikanerklöster des 15. Jahrhunderts, Diss. Universität Wien, Wien 1973. 60 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VII, 81, fol. 2r-51r; Erhard Groß (ca. 1400-1450) stammte aus einer einflussreichen Nürnberger Patrizierfamilie und ist 1432-1449 als Mönch der Nürnberger Kartause Marienzell nachweisbar. Sein ,Nonnenwerk1, ein Trak­ tat über die Vervollkommnung des inneren Menschen durch weltentsagende Versenkung in die Heilige Schrift und Ergebung in den Willen Gottes, verfasste er für die Nonnen in St. Katharina. Vgl. Friedrich Eichler: Studien über den Nürnberger Kartäuser Erhärt Gross, Diss. Emst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1935. Hans-Hugo Steinhoff: Art. Groß, Erhärt, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 3, Sp. 273-278. 61 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 46d, fol. 104r-135r. 62 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VII, 81, fol. 70r-85r. 63 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 43', fol. 205r-208r. 64 , Lehre über die Betrachtung des Leidens Christi1, ebd. fol. 208r-214r.

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aus Gottes Hand anzunehmen, ja es zu begehren und sogar Freude daran zu haben. Zum Zweiten werden die Leserinnen angewiesen, sich in der Pas­ sionsbetrachtung das Leiden Christi in Geißelung, Verspottung, Lästerung und Unehre wie ein Bild vor Augen zu malen und diese schmerzhaften Momente der Passion Christi so intensiv nachzuvollziehen, bis sie selbst physische Schmerzen empfanden. Zum Dritten sollten sie sich vergegen­ wärtigen, dass Christus ihretwegen und um anderer Menschen willen diese Schmerzen erlitten hat. Zum Vierten könne die Betrachterin des Leidens Freude bei der Betrachtung empfinden: Einerseits weil Christi Tod ihre eigene Erlösung erwirkt und den Menschen die Perspektive der himmli­ schen Seligkeit eröffnet und andererseits wegen der Güte Gottes, die an­ hand der Heilstat deutlich wird. Fünftens solle das Leiden Christi mit so viel Innigkeit betrachtet werden, dass das menschliche Herz mit Christus „zerfließen“ werde in der Art, dass der Mensch „eingepildt vnd einge­ formt“ wird mit Christus und ihn im alltäglichen Geschehen jeden Augen­ blick als präsent wahrnimmt65. In seinen täglichen Verrichtungen könne der Mensch so die irdische Sphäre überschreiten, dass er auch bei ganz gewöhnliche Tätigkeiten in sich nichts anderes sieht oder empfindet, als allein den gekreuzigten und verspotteten Christus. Nach den fünf bisher aufgezählten Arten des Betrachtens vermöge die Nonne in dem Leiden Christi vor Liebe zu zergehen und an Innigkeit zuzunehmen, bis sie ganz verschwindet in dem Feuer und in der Glut der Liebe und des Leidens ihres Geliebten, „recht alz ein gemahel, die do ruet an dem arm irs gemahels“. Das süße Ruhen in dem Leiden Christi und das Zerfließen in Christus wür­ den allerdings nur dann erreicht, wenn sich die ersten vier Anweisungen nicht nur in Worten, sondern auch in Werken manifestierten66. Mit der Pas­ sionsmystik verbindet sich in den Unterweisungstexten immer der Aufruf zur Konformität mit dem Leiden Christi67. Erträgt die Nonne selbst Schmä­ 65 Ebd. fol. 213': „Also wohin sich der mensch ker oder wend oder wandel, daz im der herr Jesus an allen steten vnd allweg begegen mit seim leiden. Vnd also zerfleust der mensch werlich in den herren Jesum Christum.“ Eine ähnliche Verschmelzung von Got­ tesdienst und weltlicher Beschäftigung in permanent andauernder Passionsbetrachtung beschreibt Rapp: Spiritualität (wie Anm. 26), S. 358f. Anhand einer Andachtsübung aus dem Straßburger Konvent St. Nikolaus in undis zeigt der Verfasser auf, wie intensiv der Alltag einer Klosterfrau mit dem Heilsgeschehen verquickt und sakralisiert werden konnte. 66 Vgl. ebd. fol. 214': „Zu den leczsten zweien stücken, daz ist zu dem fünften vnd zu dem sechstn gehört nit allain ein hant vol wort, sunder ein hant vol wercks. Ist daz, daz du die dorczu tust, so empfindstu wo es hin trifft. Wann wort allein die fliegen vnd flies­ sen do hin alz der wint, werck aber daz enczündt, wann es print gern. Von den ersten vieren, wenn die zu wercken werden, kumpt man zu den leczsten zweien mit der hilff Christi, der gelobt sey ymmer ewiclich. Amen.“ 67 „So du nichts widerwertigs wilt leyden, wie wirstu sein ein freunt Christi? Leide dich mit Christo vnd für Christum, wiltu anders herschen mit Christo!“, bringt eine ano­

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hungen und Erniedrigungen widerspruchslos, so sei dies der höchste Dienst, den sie Christus erweisen kann. Gleichzeitig bietet solch ein Ver­ halten, so der Autor eines anonym überlieferten Sendbriefs, für sie auch die Möglichkeit, ihre Intimität mit Christus, ihrem Bräutigam, zu stei­ gern68. Im letzten Satz deutet sich bereits an, inwiefern sich brautmystische Topoi, insbesondere die Sponsa-Metapher und das Konzept von der geistli­ chen Seelenehe durch die Seelsorger instrumentalisieren ließen. Von Wer­ ner Williams-Krapp wurde überzeugend dokumentiert, dass die mystische Frömmigkeit der Dominikanerinnen von den Ordensreformern nicht zwangsweise ausgegrenzt, sondern ebenso gut in das Bild der Klosterre­ form eingebunden werden konnte. So bewerteten sowohl der Chronist der Reformperiode, Johannes Meyer, als auch Johannes Nider das mystische Erleben einer Margareta von Kenzingen positiv, denn sie habe nicht ge­ zögert, ihre Entrückungen einem Beichtvater anzuvertrauen. Trotz mys­ tischer Begabung habe sie nie in ihrem Tugendstreben nachgelassen, habe schweres körperliches Leiden über Jahre hinweg ohne Murren aus Gottes Hand angenommen, und vor allem habe sie nie die Absicht gehabt, mit ihren Entrückungen Aufmerksamkeit zu erregen — ganz im Gegensatz zum Verhalten ihrer Tocher Magdalena von Freiburg, die von Johannes Nider

nyme Belehrung den Sachverhalt auf den Punkt, denn „so du eins werst eingangen in die inwendikeit Jesu vnd hest ein wenig gesmeckt von inprünstiger seiner lieb, so wirst von eigen gemach oder ungemach nichtz achten, sunder mer würstu dich frewen von erczeygter lesterung.“ Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VII, 81, fol. 71v-72r. 68 So in Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 46d, fol. 108r-l 09r: „Vnd laszt euch dar an niemant hindern noch irren noch abweisen, vnd aht nit, was sy sagen, vnd lat sy über euch smehen, ehten oder drüken mit Worten oder mit werken. Des erschrekt nyt, leydet ez nit allain gedultikleich, ja auch [fol. 108'] froleich vnd williklich dürch ewers gespuntzen Jesus willen, der einen pittem, schemlichen tod dürch evrn willen hat gelit­ ten, wann ir kunnet im dennoch da mit nit vergelten. Doch so sult ir daz wiszen in der warhait, daz ir im mit kainer arbait, sy sey leyplich oder gaistlich, noch mit kainem dienst, den ir mügt getün, in alle weise alz güt frewntschaft, lieb vnd dienst tün vnd be­ weisen mugt, alz da mit vnd mit dem, daz ir euch die andern [von den anderen] lat drüben, smehen, lestern vnd ehten auf daz aller nyderst, daz wist. Vnd dar vmb wolt ir Jesus in sunderhait vor andern menschen wol gevallen vnd im wol dienen vnd im haimlich werden vnd er euch, vnd sein besunder braut vnd gespuntzen vnd gemahel wer­ den, so gedenkt vnd aht, daz ir euch demütigt vnd piegt vnter alle menschen auf das nyderst vnd daz ir alle widerwertigkait, anvehtung, bekorung, wider driesz vnd vngeluck willikleich frolich vnd geduldikleich leidet auf das host. Wann ir sult das wiszen, daz alles eur singen, lesen, peten, vasten, wachen, betrachten, hert ligen, herte claider tragen vnd mit kürczen Worten alle die arbait, die [fol. 109r] jemant erdenken vnd getun mag, daz ist alles reht alz nihcz zu schätzen gegen gründloser diemutikait vnd gelaszner, willi­ ger gedült.“

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als abschreckendes Beispiel einer auf ihren eigenen Ruhm bedachten Mystikerin portraitiert wurde69. 70 Eine ganz andere Art der Instrumentalisierung mystischer Vorlieben der Nonnen tritt m.E. mit dem Gebrauch brautmystischer Topoi innerhalb der Unterweisungsliteratur zu Tage. Die ursprünglich von Bernhard von Clair­ vaux in seinen Hoheliedpredigten auf das innere Erleben der Seele bezo­ gene Beschreibung der mystischen Vereinigung mit Termini menschlicher und sexueller Liebe hatte im Hochmittelalter insgesamt zu einer Neube­ lebung der metaphorischen Sprechweise des Hoheliedes geführt. In der Nonnenunterweisung in St. Katharina finden wir diese Terminologie häu­ fig ihrer Metaphorik entkleidet vor und auf den Bereich der geistlichen Ehe, also auf das individuelle Verhältnis zwischen der einzelnen Nonne und Christus übertragen. So nennt beispielsweise Johannes Diemar™ in einer 1474 im Katharinenkloster gehaltenen Predigt mit dem Titel ,Von der geistlichen Ehe‘71 vierzehn Punkte, in denen die weltliche Ehe von der geistlichen übertroffen wird. Letztere definiert er zwar als „die gemachelschaft, dy dye sei hat mit got, und sunderlich die war junckfraw schaft“72, in seiner Predigt kontrastiert er letztendlich aber nicht eine Seelenehe, also ein innerliches Geschehen, sondern die Partnerschaft von Nonne und Christus mit der ehelichen Gemeinschaft von Mann und Frau. Durch die Verbindung der Jahrhunderte alten Bezeichnung der Nonne als SponsaChristi mit hochmittelalterlichen brautmystischen Topoi erhält die allego­ rische Beziehung der Seele mit Christus, die in der Vereinigung mit ihm gipfelt, mehr und mehr auf das Alltagsleben bezogene Implikationen: In manchen der untersuchten Quellen folgen auf im übertragenen Sinn zu ver­ stehende, pneumatische Hoheliedinterpretationen oder brautmystische In­ halte widerspruchslos Passagen, die von einem tatsächlichen, wörtlich ver­ standenen Ehekonzept zwischen Nonne und Christus im Hier und Jetzt ausgehen73. Das Leben, das die Seelsorger den Nonnen als vorbildlich an69 Margareta von Kenzingen (f 1428) war Schwester im Konvent Unterlinden in Col­ mar und an der Reform des Basler Steinenklosters beteiligt. Die Gegenüberstellung der Margareta von Kenzingen als positives Beispiel einer mystisch begabten Reformnonne mit ihrer Tochter Magdalena von Freiburg entnehme ich Willams-Krapp: „Dise ding“ (wie Anm. 24), S. 66, und Ders.: Frauenmystik und Ordensreform (wie Anm. 40), S. 306f. 70 Johannes Diemar wurde 1476 mit dem Amt des Subpriors im Nürnberger Domi­ nikanerkloster betraut. Er predigte als Lesmeister vor den Nonnen des Kathari­ nenklosters. Vgl. Peter Renner: Art. Diemar, Johannes, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 13), Bd. 2, Sp. 88f.; Ders.: Spätmittelalterliche Klosterpredigten (wie Anm. 45), S. 205. 71 Edition der Predigt in: Lee: Materialien (wie Anm. 46), S. 105-113. 72 Ebd. S. 105. 73 Vgl. ,Lehre für Jungfrauen1, Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 43b, fol. 70v-71r und Nikolaus von Nürnberg: Predigt zur Einsegnung einer Schwester, Cent. VI, 43b, fol. 2F-24', gedruckt bei Lamprecht: Mönch Nikolaus (wie Anm. 19), S. 125f. In bei-

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preisen, wird vergleichbar mit dem Dasein einer Ehefrau, die ihrem Ge­ mahl jeden Wunsch von den Lippen abliest und sich primär darum bemüht, vor seinen Augen Gefallen zu finden. Christus wird dementsprechend zum einen als begehrenswerter Liebhaber74, zum anderen als enorm eifersüchti­ ger, über die Treue seiner Braut wachender Gatte75 gezeichnet, der ihr nir­ gendwo anders seine zärtliche Gegenwart zuteil werden lässt als in der Abgeschiedenheit eines bewährten Klosters76. Die Liebe zwischen der irdi­ schen Braut und ihrem himmlischen - aber dennoch von ihr im Hier und Jetzt erfahrbaren — Bräutigam erscheint als ständig rekurrierendes Thema innerhalb der Unterweisungsliteratur. Damit geht eine Sexualisierung des Jungfräulichkeitsideals und zugleich eine Zuspitzung desselben auf einen weiblichen Adressatenkreis einher77. Von einem Seelsorger wird die Seelenehe sogar als ausschließlich weibliche Domäne anerkannt. Nur den vorbildlichen Bräuten stehe die Intimität mit Christus zu: „Nw, mein aller libste tochter in Cristo, wenn du nw also in den armen deins preutigams den Fällen werden Christus in den Mund gelegte Worte aus dem Hohenlied direkt an die Nonnen gerichtet. In Cent. VI, 59, fol. 237r-238v wird teilweise die Nonne, dann aber wieder nur ihre Seele mit der Braut identifiziert. 4 Vgl. die Beschreibung Christi in einer .Lehre für Jungfrauen', Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 43b, fol. 71v: „Er [Christus] ist reich, wenn [denn] hymel vnd erd daz ist sein. Er ist edel, wenn er ist gotes sun. Er hat ewch lieb, wenn er hat sein plut für ewch vergoßen. Er ist auch starck, wenn er hat den tod überwunden. Er thut ewch güt­ lich, wenn vnter seiner zungen ist honig vnd sein prust ist peßer denn wemper [Mutter­ schoß] vnd zewcht [lockt] über alle edel salben [vgl. Cant 1, 3].“ 75 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 98, fol. 114V-115r: „Ir allerlyebsten, eur hymlischer preutigan ist ein übergrozzer lyebhaber vnd leydt mitnichte, das sein prewt sich offenlich erzaigen vnd gesehen werdn, das sy icht wegert werden von den lyebhabem der weit. Er wil allveg [immer] allain mit seinen preuten kürczweillen vnd begert auch allein bey in ze sein. Er wil nyemant zu solher kürzweil lassen, er hat von den andern allen ein verdenkchen [Verdacht] vnd zweyfel vnd traut gar kaym nit. Er ist so hochmüttig, ob [wenn] ir ein andern lyebhaber sücht, zehantt schaitt er sich von euch, also üppig, das er zu hant auflöst das pant gaystlicher kanschafft [Ehe] vnd dyselb gancz zu rütt vnd entschaitt. Vnd darumb, mein frawen, wenn [weil] ir seit preut meines herren, schult ir ewch selbs in aller hütt enthalten, das eur preutigan, der so gar suezz vnd güttig ist, von euch icht geschaiden werd. [...] [fol. 115r] Ir schult in ewm kloster bleyben als in eym haymlichen gemach bey ewrm preutigan.“ Vgl. ebenfalls: Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 43', fol. 254r; Cent. VI, 53, fol. 61r. 76 Vgl. .Predigt über zwölf Früchte des Klosterlebens', Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 46d, fol. 5'. Auch in dem Traktat ,Lob des Klosterlebens' wird argumentiert, dass das besondere Verhältnis der Nonne zu Christus, der „sein gesponczen wyl haben in der eynige [Einsamkeit] alleine, von allen wemtlichen dingen vnd sorgen gesündert“ und der „in der heymlicheyt beger czu reden allein, daz er vor schäme vnd getümeln dez volcks mit nicht nit düt“ den innerlichen und äußerlichen vollzogenen Bruch mit der Welt erfordert. Vgl. Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 53, fol. 6T. 77 John Bugge: Virginitas. An Essay in the History of a Medieval Ideal, The Haque 1975 (= Archives internationales d’histoire des idees 17), besonders S. 81-96.

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ligst vnd dise dinge alle volbringst vnd merkest, das er der aller liplichst ist [...], so nym das schöne lieb in dein arm vnd drück in gar herczlich zu dir vnd küß inn auff sein süß rosolotes mundlein von mein wegen, wann mir sünder gepürt ein sölchs nit zu thün; es gehört eygentlich seinen prewten zu.“78 Die Sponsa-Metapher eignete sich hervorragend für die Nonnenunter­ weisung, da mit ihrer Hilfe eben nicht nur die von den Frauen geforderte Liebe für Christus, sondern im selben Maß ihr Verrat ausgedrückt werden konnte. Sie erlaubte den Seelsorgern in St. Katharina eine Betonung des Virginitätsideals und Keuschheitsgelübdes, wie sie in einem Männerkloster niemals in der Form möglich gewesen wäre. Ermahnungen, die das Keuschheitsgelübde betreffen, werden so gut wie immer mit dem Aufruf verknüpft, Christus die eheliche Treue zu halten79. Folglich verwundert es nicht, dass Ratschläge für den Kampf gegen die Unkeuschheit notwendige Inhalte der cura monialium bildeten. Man unterschied drei Grade geistli­ chen Ehebruchs80, informierte über deren Konsequenzen81 und bot Strate­ gien zur Vermeidung von Unkeuschheit an82. Die Gunst des Bräutigams

78 Sendbrief ,Von Ihesus pettlein“, Stadtbibliothek Nürnberg, Cent VI, 43b, fol. 83v92v, gedruckt bei JEFFREY Hamburger: The Visual and the Visionary. Art and Female Spirituality in Late Medieval Germany, New York 1998, S. 418-426; Zitat S. 426,321326. 79 Vgl. ,Lehre für Jungfrauen1, Stadtbibliothek Nürnberg, Cent.VI, 43b, fol. 77v: „Wenn dy junckfraw gethut daz gelübd, so ist sy fürpaß schuldig vnd gepunden zu halden ir kewscheit ewiglich, daz ir vor newrt ein ratt was. Vnd pricht sy das gelübd, es sey von ynnen mit dem willen oder mit den wercken, so thut sye ein swere todsund vnd ist ein rechte Ee precheryn vor got.“ 80 Vgl. ebd. fol. 77v-78v: Als Ehebruch wurde nicht nur der Vollzug des Beischlafs gewertet, sondern auch der entsprechende Wille und Vorsatz sowie die unfreiwillige, ausschließlich mentale Beschäftigung mit dem Sexuellen. Die Differenzierung beruht auf der Definition wahrer Jungfräulichkeit als Integrität am Leib, im Willen und in Ge­ danken. 81 Ebd. fol. 78r: Jungfrauen, die willentlich in Unkeuschheit fielen und den Ge­ schlechtsakt mit einem Mann vollzogen, konnten durch Reue, Beichte und Satisfaktion zwar Vergebung erlangen, jedoch verloren sie ihren Anspruch auf das jenseitige „Krön­ lein“, die himmlische Belohnung aller standhaft gebliebenen Jungfrauen. Anders wurde eine Vergewaltigung gewertet. In einem solchen Fall durfte die Jungfrau sogar den dop­ pelten Lohn erwarten. Vgl. Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VII, 39, fol. 167'; Cent. VI, 43b, fol. 79v. 82 Am besten würden sexuelle Gedanken von vomeherein durch penible Herzens­ hygiene gebannt und durch die Beschäftigung mit geistlichen Stoffen mit Gottes Hilfe sublimiert. Vgl. ebd. fol. 72'-77' und 82r-83r; Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 82, fol. 297'; Cent. VI, 59, fol. 222'; Cent. VI, 43q, fol. 102'-103v; Cent. VII, 13, fol. 115V-1 19v; Cent. VI, 82, fol. 296'-297v.

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nicht zu verlieren83, bzw. positiver formuliert: seinen göttlichen Augen zu gefallen84, wurden zu Maximen, anhand derer die Nonnen alles Tun und Lassen prüfen sollten. Mit Tugenden geziert, nach innerlicher Vollkom­ menheit strebend, dem klösterlichen Gehorsam und den kirchlichen Auto­ ritäten folgend, von der Welt abgesondert und verschmäht und dabei lich­ terloh in Liebe zu ihrem Bräutigam entbrannt, diese Attribute weisen „eine rechte gesponse christi“85 aus. So verwundert es nicht, dass sich eines der Hauptanliegen der Reformbewegung, nämlich die strikte Durchsetzung des Keuschheitsgelübdes und der Klausurbestimmungen, in St. Katharina mit der Metaphorik der Brautschaft überzeugend darstellen und durchsetzen ließ.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Auf das am Bibliotheksbestand des reformierten Katharinenklosters ablesbare Bedürfnis der Nonnen nach mystischen Inhalten reagierten die verantwortlichen Seelsorger auf unter­ 83 Vgl. Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 58, fol. 77v-78r: „Wann du hast dir ymer erwelet gar einen hohen, köstlichen, mynsamen gesponsen, dem du also vertrewet pist. Es ist Christus Jesus, der sune gottes vnd auch der junckfrawen. Er ist leutselige, hübsche vnd schöne nach der form vor allen kyndem der werlt, in, den die heiligen engele allzeit begerent ze sehen vnd vor dez klarheit sich sunne vnd man [Mond] allzeit ver­ wundern. [fol. 78r] O sihe dich eben an, piß fursichtige, tu vff die äugen deiner sele vnd sihe, daz er auch keiner hant flecke an dir finde, vmbe die er dich möchte verwerffen oder verstossen. Vnd darumb, du aller liebste gesponse Christi, höre, höre was ye von not tun must vnd wie du dich im solt ersamlichen erpieten, welcher hant zierheit du must haben, also daz du gevallest seinen gotlichen äugen. Wann er, daz ist dein himelischer gesponse, ist dis art vnd natur, daz er nicht mynet die außwendigen zierheit, allein die innerlichen.“ Cent. VI, 431, fol. 246rf.: „Erkenn dein wesen, dein stat, dein fursatz! Du wirst genant ein gespuncz Jesu Christi. Sich, das du icht etwas vnwirdig tust gen den, dem du vermehelt pist. Er beschreibt pald das püchel der ee [fol. 246'] precherey, ist, das er in dir vindet ain eeprechery.“ 84 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 59, fol. 237r: „Lob vnd er sey gesagt Got dem vatter in seiner ewikeit, der euch erlöset hat von dem gewalt diser vinstemuß und hat euch erhaben in das reich seins lieben suns, Jhesu Cristi, dez edeln gespunczen, zu dem ir euch vermehelt habt, in dem ir besten schult vnd beleihen, vnd wandeln als er ge­ wandelt hat, daz ist in warer lieb, in tifer dymüttikeit, in stetiger gehorsam, in klar lauterkeit des leibs vnd der sei. Also daz ir mit den andern tugenten wert gezirt, daz ir im wolgevalen mugt. [...] Nun ist daz ye in der warheit, daz ein leipliche praut verlaßen muß vater vnd muter, swester vnd prüder, vnd an hangent irem prewtigam, vnd sich fleisen seines wilen. Also schol daz auch sein in der geistlichen vermehclung, daz sich ein iczliche prawt Jhesu Christi schol mit ganczem fleiß sich dor zu schiken zu volpringen sein wilen vnd sich zu ziren, im wol zu gevalen, nicht mit außwendiger zir der kleider oder des leibs, besunder mit der zier der tugend.“ Cent. VII, 13, fol. 140'-141r: „Den selben heyligen junckfrawen soltu nach volgen vnd dein lieb vnd trew also stet vnd trewlich an im hallten vnd dich auf das höchst fleissen [fol. 14 lr] seins gefallens.“ 85 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 58, fol. 79r v. Vgl. auch die gesamte Passage fol. 78r-80r.

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schiedliche Weise, tendenziell jedoch eher bremsend, indem sie erlebnis­ mystischen Phänomenen ihren Hinweischarakter auf außergewöhnliche Heiligkeit absprachen, Visionärinnen dazu anhielten, ihre Erlebnisse mit einem Theologen zu besprechen, und eher zu Passionsbetrachtung, zur freiwilligen Annahme von Leid und zur Angleichung des eigenen Willens an den Willen Gottes als zu einer schwelgerischen Haltung und zu indivi­ dualistischen frauenmystischen Höhenflügen rieten. Brautmystische Bilder und Topoi mussten deswegen nicht aus der Nonnenunterweisung verbannt werden. Im Sinne der Reformer ließ es sich mit ihnen vorzüglich morali­ sieren und die Nonnen domestizieren: Was stünde einer Sponsa-Christi denn besser zu Gesicht, als in demütiger und gehorsamer Unterordnung unter ihren Bräutigam und seine Stellvertreter im Orden keusch und abge­ schieden von der Welt die Ankunft ihres Bräutigams in ihrer Seele zu er­ warten? Als hochinteressant erscheint mir die Frage, welche Auswirkungen diverse dieser oben angesprochenen mystischen Inhalte auf die Gottesvorstellung und Christologie der Nonnen hatten. Sollten einzelne Nonnen mit ihren mystischen Bestrebungen zum Ziel gekommen sein, so dürfte die erlebbare und erfahrbare Nähe Christi ihr Gottes- bzw. Christusbild ebenso - wenn nicht weitaus mehr - geprägt haben wie andere katechetische oder hagiographische Inhalte der cura monialium. Auffällig ist: Im mystischen Kon­ text treten keine Bilder auf, die Gott oder Christus als richtenden oder gar strafenden Herrscher zeichnen. Hendrik Herps Vollkommenheitslehre zeugt vielmehr von einem Gott, der die Arme öffnet, um die Vereinigung mit dem Menschen zu erwarten. Gleichermaßen versichert der Autor des Sendbriefs ,Von Ihesus pettlein1, dass Christus sich mehr nach der Ver­ einigung mit ihrer Seele sehne als die Nonne selbst86. Christus begegnet in der lectio privata vielfach in der Gestalt des Bräutigams und - in der Pas­ sionsbetrachtung - als der Leidende. Die Texte malen ein menschliches und sehr maskulines Christusbild. Entscheidend ist die Auffassung, dass dieser Christus der Nonne in einer Paarbeziehung nahe kommt und für sie unmittelbar erfahrbar wird. Hierin liegt ein spezifischer Zug des religiösen Erlebens und eine individuelle Ausprägung der theologischen Vorstel­ lungswelt der Nonnen in St. Katharina. Im Gegensatz zu mancher Bezie­ hung zwischen weltlichen Ehepartnern besteht diese Partnerschaft nicht ausschließlich aus der Unterordnung der Ehefrau unter ihren Gatten als ihren Herrn und Gebieter. Lange bevor die Verbindung zwischen beiden zustande kam, hat der Bräutigam der Braut bereits den Zutritt zum ewigen Leben bezahlt. Seine in der Passionsbetrachtung vergegenwärtigte Liebe geht dem Aufruf der Seelsorger an die Nonnen, Christus zu lieben, voraus. 86

Hamburger: ,Von Ihesus pettlein4 (wie Anm. 78), S. 423,202-205.

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Eine Synthese aus Passionsbetrachtung und Brautkonzept machen Jesus in der Partnerschaft zu demjenigen, der zuerst geliebt hat. Beispielhaft für die in der Literatur an die Nonnen herangetragene Christologie ist die Be­ schreibung Christi in einer ,Lehre für Jungfrauen4: „Er [Christus] ist reich, wenn [denn] hymel vnd erd daz ist sein. Er ist edel, wenn er ist gotes sun. Er hat ewch lieb, wenn er hat sein plut für ewch vergoßen. Er ist auch starck, wenn er hat den tod überwunden. Er thut ewch gütlich, wenn vnter seiner zungen ist honig vnd sein prust ist peßer denn wemper [Mutterschoß] vnd zewcht [lockt] über alle edel salben [vgl. Cant 1, 3]. Den gespons nempt ewch vnd habt in vnd verliest in nicht, wenn er verlewst ewch nicht.“87 Die Moral mystischer Inhalte heißt demnach: Haltet diesem Bräutigam die Treue, der zuerst euch und den ihr dann für euch erwählt habt! In die­ ser Art von Christologie könnte neben anderen Ursachen ein Grund dafür liegen, dass sich während der lutherischen Reformation in Nürnberg trotz des massiven Drucks ihrer Verwandten nur einzelne Dominikanerinnen dafür entschieden, ihre besondere Verbindung mit Christus zu lösen und aus dem Kloster auszutreten, wohingegen eine Vielzahl von Mönchen re­ lativ problemlos zum protestantischen Glauben übertraten und ihre Klöster verließen88.

87 Stadtbibliothek Nürnberg, Cent. VI, 43b, fol. 71v. 88 Zum Verhalten der Nürnberger Dominikanerinnen während der reformatorischen Verunsicherung vgl. Barbara Steinke: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation (= Spätmittelalter und Re­ formation. Neue Reihe 30), Tübingen 2006.

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Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther Luther und die Mystik, Mystik bei Luther1: Das ist eine Fragestellung, die lange Zeit mit wenig Popularität in der lutherischen Forschung zumal Deutschlands rechnen konnte. Ulrich Köpf listet in seinem großen Abriss zur Mystik in der vierten Auflage von , Religion in Geschichte und Ge­ genwart' die illustre Reihe derer auf, die eine Diastase zwischen Mystik und Protestantismus konstruiert haben: Sie reicht von Albrecht Ritschl über Adolf von Harnack bis hin zur Dialektischen Theologie und ihren Folgen, durch die, so Köpf, Jedes ernsthafte theologische oder gar reli­ giöse Interesse an Mystik in der deutschsprachigen evangelischen Theolo­ gie von Ächtung bedroht“ war2. Und es dürfte nicht die geringste Rolle spielen, dass auch die Inanspruchnahme einer Deutung Luthers vor mysti­ schem Hintergrund durch Theologen wie Erich Seeberg3 und Erich Vogel­ sang4 im Dritten Reich Versuche, sich einem möglicherweise auch positi­ ven Verhältnis Luthers zur Mystik zu nähern, nachhaltig diskreditiert hat. Zumal im deutschen Sprachraum gab es daher nach 1945 gute Gründe, das Thema nur mit Vorsicht zu behandeln, auch wenn ein in der Zeit des Drit­ ten Reiches der bekennenden Kirche nahestehender5 Kirchenhistoriker wie Wilhelm Maurer keine Schwierigkeiten darin sah, 1949 in seiner Arbeit über die Freiheitsschrift Luther zwar von der mittelalterlichen Mystik zu unterscheiden, aber eine Verbindungslinie zu ihr zu ziehen, indem er als 1 Vgl. zum Forschungsstand auch meine Zusammenfassung in: Volker Leppin: Art. Mystik, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, S. 67-70. 2 Ulrich Köpf: Art. Mystik III.3. Christliche Mystik b) Mittelalter und Neuzeit, in: RGG4 5 (2002), Sp. 1663-1671: hier Sp. 1669. 3 Vgl. Thomas Kaufmann: „Anpassung als historiographisches Konzept und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der Zeit der Wei­ marer Republik und des „Dritten Reiches“, in: Thomas Kaufmann und Harry Oelke (Hg.): Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“, Gütersloh 2002 (= Ver­ öffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 21), S. 122-272. 4 Volker Leppin: In Rosenbergs Schatten. Zur Lutherdeutung Erich Vogelsangs, in: Theologische Zeitschrift. Basel 61 (2005), S. 132-142. 5 Vgl. Gerhard Müller: In memoriam Wilhelm Maurer, in: Luther-Jahrbuch 50 (1983), S. 16-19: hier S. 16; Maurer sah sich durchaus in seiner Lutherdeutung nahe bei Seeberg (ebd. S. 18).

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gemeinsame Wurzel Luthers und der Mystik die altkirchliche „Mysterien­ theologie“ annahm6 - wodurch er zugleich die starke Annäherung an die Vergottungslehre des Athanasius vorwegnahm7, die die Arbeiten der finni­ schen Lutherforschung prägen, um die seit einiger Zeit lebhaft gestritten wird8. Ungeachtet der möglichen Skepsis gegenüber dieser Forschungs­ richtung, die vor allem aus dem offenkundig sie steuernden ökumenischen Interesse im Blick auf eine Annäherung von Luthertum und Orthodoxie resultiert9, ist es doch symptomatisch, dass hier die Frage nach mystischen Themen und Wurzeln mit aller Deutlichkeit aus dem außerdeutschen euro­ päischen Luthertum gestellt wurde. Schon auf dem Lutherkongress von 1966 meldeten sich auffalligerweise mit Heiko Augustinus Oberman, Erwin Iserloh und Bengt Hägglund ein reformierter Lutherforscher aus den Niederlanden und ein Lutheraner aus Schweden sowie ein deutscher Ka­ tholik zu Worte - während die deutsche lutherische Lutherforschung nicht mit einem eigenen großen Referat vertreten war. Auch eines der wichtigsten Bücher, die die Debatte neu angestoßen ha­ ben, stammte von einem Niederländer: Theo Bell10. Mittlerweile ist nicht nur die offenkundige Nähe Luthers zu Bernhard ein wichtiger Gesichts-

6 Wilhelm Maurer: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei Untersuchun­ gen zu Luthers Reformationsschriften 1520/21, Göttingen 1949, S. 51. 7 Ebd. S. 36. 8 Vgl. exemplarisch: Simo Peura und Antti Raunio (Hg.): Luther und Theosis. Vergöttlichung als Thema der abendländischen Theologie, Helsinki/Erlangen 1990 (= Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft A 25); SlMO Peura: Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519, Mainz 1994 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 152); zur finnischen Kritik an der modernen Lutherforschung grundlegend: Risto Saarinen: Got­ tes Wirken auf uns. Die tanszendentale Deutung des Gegenwart-Christi-Motivs in der Lutherforschung, Stuttgart 1989 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 137). Die Fülle der von Tuomo Mannermaa angestoßenen finnischen Arbeiten stellte jüngst vor: Johanui Forsberg: Die finnische Lutherforschung seit 1979, in: Luther-Jahrbuch 72 (2005), S. 147-182. Eine gediegene kritische Auseinandersetzung hiermit liegt vor bei Albrecht BEUTEL: Antwort und Wort. Zur Frage nach der Wirk­ lichkeit Gottes bei Luther, in: Ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchen­ geschichte, Tübingen 1998, S. 28-44. 9 Insofern ist es bedeutsam, dass gerade an diesem Punkt der Annäherung die Arbeit von Reinhard Flogaus: Theosis bei Palamas und Luther. Ein Beitrag zum ökumeni­ schen Gespräch, Göttingen 1997 (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 78), äußerst kritisch ansetzt und zum Ergebnis einer „fundamentale(n) ontolo­ gische^) Differenz“ zwischen Luther und Palamas kommt (S. 438). 10 THEO Bell: Divus Bemhardus. Bernhard von Clairvaux und Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (= Veröffentlichungen der Instituts für Europäische Geschichte Mainz 148).

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punkt auch in der deutschen Forschung", sondern der Fragenkreis hat sich erweitert: Staupitz hat zunehmend Aufmerksamkeit nicht nur als Beichtva­ ter, sondern auch als Ideengeber für Luther gefunden11 12, in jüngster Zeit ist auch Johannes Tauler13 wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. In diesem Zusammenhang spielt allerdings auch die Überlegung eine Rolle, ob Luther solche mystischen Autoren denn tatsächlich als Mystiker gelesen oder nicht vielmehr in ganz unmystischer Weise rezipiert habe14. Eine solche Klassifizierung in „Mystisches“ und „Nichtmystisches“, die sich zunächst einmal nahezulegen scheint, bringt nun allerdings auch die Schwierigkeit mit sich, dass der Begriff der ,Mystik4 alles andere als trennscharf ist. Er ist vielmehr so schillernd und letztlich unbestimmt, dass Kurt Flasch in einem viel zitierten Appell ja sogar im Blick auf Meister Eckhart vor der Klassifizierung als Mystiker gewarnt hat15. Diese Forde­ rung hat für sich, dass sie es ermöglicht, Eckhart unter einer manches eher verdeckenden und verunklarenden Deutungsschicht hervorzuholen - frei­ lich mit dem dann wiederum in sich durchaus prekären Ergebnis, dass der so herauspräparierte Eckhart lediglich als neuplatonischer Philosoph übrig bleibt und seine theologischen Anteile in Flaschs Deutung unterbestimmt bleiben16. 11 Vgl. Ulrich Köpf: Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Bernhards von Clair­ vaux. Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Kaspar Elm (Hg.): Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994 (= Wolfenbütteier Mittelalter-Studien 6), S. 5-65: hier S. 13f.; Bernhard Lohse: Luther und Bernhard von Clairvaux, in: ebd. S. 271-301. 12 Vgl. zu Staupitz grundlegend Berndt Hamm: Johann von Staupitz (ca. 14681524)- spätmittelalterlicher Reformer und „Vater“ der Reformation, in: Archiv für Re­ formationsgeschichte 92 (2001), S. 6-41; vgl. zum Verhältnis zu Luther: David C. Steinmetz: Luther and Staupitz. An Essay in the Intellectual Origins of the Protestant Reformation, Durham 1980; Markus Wriedt: Gnade und Erwählung. Eine Untersu­ chung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz 1991 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 141). 13 Volker Leppin: „omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: Archiv für Reformationsge­ schichte 93 (2002), S. 7-25; Henrik Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 75); Markus Wriedt: Mystik und Protestantismus - ein Widerspruch?, in: Johannes Schilling (Hg.): Mystik, Religion der Zukunft - Zukunft der Religion?, Leipzig 2003, S. 67-87. 14 Bell: Divus Bemhardus (wie Anm. 10), S. 367; Otto: Tauler-Rezeption (wie Anm. 13), S. 207-211. 15 Kurt Flasch: Die Intention Meister Eckharts, in: Heinz Röttges (Hg.): Sprache und Begriff. Festschrift für Bruno Liebrucks, Meisenheim am Glan 1974, S. 292-318. 16 Entsprechend steht auch bei dem Eckhart, den Kurt Flasch unter den „Klassikern der Theologie“ präsentiert, die philosophische Vernunft stark im Vordergrund der Be­ schreibung; Kurt Flasch: Meister Eckhart, in: Klassiker der Theologie, hg. von Fried-

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Auch ohne diese in Flaschs spezifischem Deutungszugriff liegende Problematik scheint sein Vorschlag wenig geeignet, der angestrebten Klä­ rung des wissenschaftlichen Gespräches zu dienen: Durch Vermeidung des Begriffs ,Mystik4 wird man der in seiner Unschärfe liegenden Problematik kaum entgehen. Seine Stärke besteht umgekehrt gerade darin, dass er auf ein vortheoretisches Bewusstsein zurückgreifen kann, das eine Gruppe von Autoren und Schriften durchaus zielsicher, aufgrund ihres Kreisens um das proleptische Erleben der für das Eschaton verheißenen Einheit mit Gott, als mystisch identifizierbar macht. So besteht jenseits der Radikalposition Kurt Flaschs durchaus ein gewisser Konsens zumindest ,über einige Schriften, dass sie, in welchem Sinne auch immer, mystisch oder mindes­ tens mystagogisch seien. Das pesudodionysische Corpus ist hier zu nennen oder auch Bernhard von Clairvaux und in der Regel trotz Flaschs Einwän­ den auch Meister Eckhart. Aus diesem Befund hat der Germanist Kurt Ruh in seiner großen ,Geschichte der abendländischen Mystik4 die Folgerung gezogen, Mystik nicht durch eine abstrakte Wesensbestimmung zu definie­ ren, sondern durch einen textlichen Zusammenhang mit jenen unange­ fochten als mystisch geltenden Schriften17. Diese pragmatische Heran­ gehensweise entlastet zwar nicht völlig von den schwierigen Abgrenzungs­ fragen - vor allem ist natürlich jeweils zu fragen, ob in einem textlichen Traditionszusammenhang ganze Konzepte oder nur Bruchstücke tradiert werden -, aber sie erleichtert doch den Umgang mit dem Begriff der ,Mystik4, indem sie diesen von weltanschaulichen Vorannahmen, gar von Rekursen auf Erlebnisse und dergleichen befreit. Ausschließlich in diesem Sinne ist es also zu verstehen, wenn im Folgenden von ,Mystik4 im Zu­ sammenhang mit Luther die Rede ist. Es wird ausschließlich darum gehen, den Traditionszusammenhang mit der spätmittelalterlichen Mystik, wie er bei Luther fassbar ist, nachzuzeichnen. Mystik hatte dabei für den jungen, sich im Kloster zum Reformator entwickelnden Mönch Luther eine doppelte Dimension: eine theologische, in der Lektüre greifbare, und eine Erfahrungsdimension. Letztere spielt in der Lutherforschung in der Regel eine nur sehr geringe Rolle, obwohl Luther sie ausdrücklich benennt. So reportiert Georg Rörer in der Nach­ schrift von Luthers Predigt zum Pfingstmontag des Jahres 1523 Luthers Aussage: „Multos vidi monachos et clericos, qui incerti sunt, et ego semel raptus fui in 3um celum44’8. Die Paulusnachfolge Luthers also bezieht sich keineswegs nur, wie es protestantischen Wahrnehmungsmustern nahe liegt, rieh Wilhelm Graf, Bd. 1: Von Tertullian bis Calvin, München 2005, S. 145-173, besonders S. 152-159. 17 Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 13f. 18 WA 11, S. 117,35f.

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auf die plötzliche Bekehrung, die schon sein Ordensbruder Natin mit dem Erleben des Paulus parallelisiert hatte19, sondern auch auf die auch von Paulus selbst nur beiläufig und im Sinne des betonten Nicht-Rühmens an­ geführte visionäre Erfahrung im dritten Himmel (2 Kor 12,2), den klassi­ schen mittelalterlichen Beleg für den raptus Pauli, das Dahingerissen­ werden des Paulus in die himmlischen Sphären20. So weit man den späte­ ren Rückblicken trauen darf, hat Luther diese Erfahrungen keineswegs nur in biblischen Vorstellungen gedeutet, sondern wohl von früh an in den Kategorien des Corpus Dionysiacum: ln einem sehr späten Rückblick in­ nerhalb seiner Jesaja-Auslegung von 1543/4 erklärt er: „Nam fui et ego in ista schola, ubi putavi me esse inter choros Angelorum, cumtamen inter Diabolos potius sim versatus“21. Angesichts dessen, dass er schon sehr früh, in der Zeit seines Senten­ zenkommentars Dionysios kannte22, können die Hinweise auf die Chöre der Engel deutlich als Reflex auf die dionysischen himmlischen Hierar­ chien aufgeschlüsselt werden: Beide Texte gemeinsam weisen den jungen Luther durch seine spätere - und damit quellenkritisch immer problemati­ sche - Erinnerung als einen Mönch aus, der mystische oder visionäre Er­ fahrungen gemacht und diese offenbar auch mit Hilfe des dionysischen Corpus reflektiert hat. Das verweist auf den monastischen Kontext als Hintergrund einer mys­ tischen Ausrichtung bei Luther, die dann aber noch ein klareres Ziel durch Johann von Staupitz erhielt, dem Luther spätestens bei seinem ersten Wit­ tenberger Aufenthalt 1508/0923 begegnete und an dem er sich, seit seine gegen die Pläne des Staupitz gerichtete Mission in Rom auf der Reise ins transalpine Gebiet 1510/11 nicht zum Erfolg gekommen war, immer stär­ ker orientierte, bis hin zu seinem Wechsel nach Wittenberg und der Nach­ 19 Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), hg. von Otto Scheel, Tübingen 21929 (= Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften. Neue Folge 2), S. 53, Nr. 136. 20 Vgl. hierzu Volker Leppin: Geglaubte Wahrheit. Das Theologieverständnis Wilhelms von Ockham, Göttingen 1995 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmen­ geschichte 63), S. 125f. 21 WA 40/III, S. 657,35f. 22 WA 9, S. 63,6f.; vgl. Josef Wieneke: Luther und Petrus Lombardus. Martin Luthers Notizen anläßlich seiner Vorlesung über die Sentenzen des Petrus Lombardus Erfurt 1509/11, St. Ottilien 1995 (= Dissertationen. Theologische Reihe 71), S. 84-88; zum Verhältnis Luthers zu Dionysios vgl. Erich Vogelsang: Luther und die Mystik, in: Luther-Jahrbuch 19 (1937), S. 32-54, besonders S. 33-37. Dieser gelehrte Aufsatz von Erich Vogelsang bedarf allerdings der sensiblen zeithistorischen Einordnung; vgl. Leppin: Rosenbergs Schatten (wie Anm. 4). 23 Vgl. hierzu Volker Leppin: Martin Luther, Darmstadt 2006 (im Druck). Zu einer möglichen früheren Begegnung vgl. Martin Brecht: Martin Luther. Bd. 1: Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 31990, S. 77.

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folge des Staupitz in der Theologischen Professur24. Es ist vielfach betont worden, wie wichtig der Beichtiger Staupitz für Luther wurde - berühmt ist etwa jene Szene in Eisleben, die nach den Forschungen Wilhelm-Ernst Winterhagers wohl auf das Jahr 1516 zu datieren ist25: Luther erschrak im Zuge einer Fronleichnamsprozession in seiner Geburtsstadt Eisleben ange­ sichts des Allerheiligsten26. Und Staupitz, an den er sich damit wandte, tröstete ihn: „Es ist nicht Christus, was dich erschreckt hat, weil Christus nicht erschreckt, sondern tröstet“27. Immer wieder, hat Luther betont, wurde ihm im Kloster in solcher Weise durch Staupitz, aber auch durch andere, ein anderer Christus als der, den er wohl als erschreckenden Rich­ ter in seinem Elternhaus kennen gelernt hatte, vorgestellt. Schon sein Novizenmeister Johann Grevenstein28 - der nach Luther unter der „ver­ dammten Kutte“ ein wahrer Christ gewesen sei29 - hatte ihn nach einer späten Erinnerung in seinen Anfechtungen darauf verwiesen, dass Gott die Christen zur Hoffnung aufgefordert habe30: Der klösterliche Kontext war keineswegs so ganz und gar von der Vorstellung eines richtenden Christus bestimmt, wie es Luthers eigene Pauschalierungen immer wieder suggerie­ ren31. Von der „nahen Gnade“32 konnte Luther durchaus auch im Kloster 24 Dass hier nicht von einer spezifischen Bibelprofessur gesprochen werden kann und sollte, hat Ulrich Köpf: Martin Luthers theologischer Lehrstuhl, in: Irene Dingel und Günther Wartenberg (Hg.): Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602, Leipzig 2002 (= Leucorea-Studien 5), S. 71-86: hier S. 76, eindrücklich gezeigt. 25 Wilhelm-Ernst Winterhager: Martin Luther und das Amt des Provinzialvikars in der Reformkongregation der deutschen Augustiner-Eremiten, in: Franz J. Felten und Nikolas Jaspert (Hg.): Vita religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm, Berlin 1999, S. 707-738, S. 736f. 26 WA.TR 1, S. 59,8-12, Nr. 137: „Wie geschah mir? Ich erschrak ein mal für dem sacrament, das Doctor Staupiz zu Isleben in der procession trug corporis Christi. Da gieng ich auch mit und hett ein priester kleyd an, beichtets darnach Doctor Staupiz, et di­ cebat mihi: Vestra cogitatio ist nit Christus.“ 27 WA.TR 2, S. 417,14L, Nr. 2318a: „Non est Christus, quod te terruit, quia Christus non terret, sed consolatur“. Luther spricht hier nicht ausdrücklich von der Prozession in Eisleben, aber die Ähnlichkeit der argumentativen Figur zu dem direkt auf die Prozession bezogenen Bericht spricht dafür, dass es sich hier um dasselbe Ereignis handelt. 28 Vgl. zu ihm Adalbero Kunzelmann: Geschichte der deutschen AugustinerEremiten. Fünfter Teil: Die sächsisch-thüringische Provinz und die sächsische Reform­ kongregation bis zum Untergang der beiden, Würzburg 1974, S. 461. 29 WA 30/III, S. 530,25f.; vgl. auch WA.B 9, S. 133,40f.: „Mein Praeceptor Im Closter, ein feiner alter Man“. 30 WA 40/11, S. 411,14-412,1; vgl., offenbar auf dasselbe Ereignis bezogen, WA.TR 5, S. 439,35, Nr. 6017. 31 WA 10/III, S. 357,25f.; vgl. WA 41, S. 197,5-201,19; WA 47, S. 99,34-39; S. 109,42-110,2; S. 590,1-6. 32 Vgl. Berndt Hamm: Die „nahe Gnade“ - innovative Züge der spätmittelalterli­ chen Theologie und Frömmigkeit, in: Jan A. Aertsen und Martin Pickave (Hg.): „Herbst

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erfahren33, von Anfang an durch seinen Novizenmeister, später dann vor allem durch den Oberen Staupitz. Und bei diesem gewannen die Hinweise, wie schon der Trost in Eisle­ ben zeigt, eine stark christozentrische Zuspitzung, und zwar auf einen Christus, der in den mildesten, auch mystisch beeinflussten Tönen gezeich­ net werden konnte: Nicht zuletzt weil Luther selbst das Bild später in der Freiheitsschrift aufnehmen sollte, kann als besonders kennzeichnend hierfür die Analogie zwischen der Beziehung des Gläubigen zu Christus und der von Bräutigam und Braut gelten, die Staupitz in seinem .Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis1 am Vorabend von Luthers öf­ fentlichem Auftreten verwandte: „Die Verbindung Christi und der kirchen ist volkumen, dergestalt: ,Ich nim dich zu der meinen, ich nim dich mir, ich nim dich in mich'; und herwiderumb spricht die kirche oder die seel zu Christo: ,Ich nim dich zu dem meinen, ich nim dich mir, ich nim dich in mich'; domit Christus also sprech: ,Der Christen ist mein, der Christen ist mir, der Christen ist ich'; und die braut: ,Christus ist mein, Chirstus ist mir, Christus ist ich'.“34 Es liegt auf der Hand, dass hier direkt oder indirekt die Einflüsse Bern­ hards spürbar sind. Aber die Spur von Staupitz führt nicht unmittelbar und ausschließlich zu Bernhard. Der mystische Autor, den er in Wittenberg möglicherweise eingeführt hat, der jedenfalls in dem ihn umgebenden Kreis mit besonderer Intensität gelesen wurde, war Johannes Tauler35. Und die Erinnerung Luthers scheint dafür zu sprechen, dass es gerade die Christozentrik von Staupitz, der Hinweis auf den gnädig sich zuwendenden Christus war, den seine Anhänger durch ihre Tauler-Lektüre bestätigt sa­ hen. Für Luther ist hier jenes Geleitwort zu den Resolutiones einschlägig, auf dessen auffällige Parallelen zu Luthers ,Großem Selbstzeugnis' ich vor einigen Jahren hingewiesen habe36. Luther erinnert sich hier, wie Staupitz ihn in Fragen der Buße auf die gnädige Zuwendung Gottes verwiesen hat: „Ich erinnere mich, ehrwürdiger Vater, dass bei deinen so anziehenden und heilsamen Gesprächen, mit denen mich der Herr Jesus wunderbar zu trös­ ten pflegt, zuweilen das Wort ,Buße‘ gefallen ist. Es erbarmte uns des Gedes Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin/New York 2004 (= Miscellanea Mediaevalia 31), S. 541-557. 33 Zur prägenden Wirkung von Luthers Klosterzeit vgl. ULRICH Köpf: Martin Luther als Mönch, in: Luther 55 (1984), S. 66-84; ders.: Monastische Traditionen bei Martin Luther, in: Christoph Markschies und Michael Trowitzsch: Luther - zwischen den Zeiten. Eine Jenaer Ringvorlesung, Tübingen 1999, S. 17-35. 34 Johann von Staupitz: Sämtliche Schriften, Bd. 2: Lateinische Schriften II: Libel­ lus de exsecutione aeternae praedestinationis, hg. von Lothar Graf zu Dohna und Richard Wetzel, Berlin/New York 1979 (= Spätmittelalter und Reformation 14), S. 145-147. 35 Vgl. hierzu Otto: Tauler-Rezeption (wie Anm. 13). 36 Vgl. Leppin: „Omnem vitam“ (wie Anm. 13).

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Wissens vieler und jener Henker, die mit unerträglichen Geboten eine Beichtvorschrift (wie sie es nennen) vorlegen. Dich aber nahmen wir auf, als ob du vom Himmel herab redetest: Dass wahre Buße allein mit der Lie­ be zu Gerechtigkeit und zu Gott beginne. Was jene für das Ziel und die Vollendung der Buße hielten, das sei vielmehr der Anfang.“37 Es ist dieser Hinweis des Staupitz, durch den Luther sich auf die Wun­ den des Heilands verwiesen sieht38 - und er beschreibt das genau in offen­ barungsartiger Weise. Hier müssen die einzelnen Argumente nicht wiederholt werden, die den Text als überaus gewichtige Parallele zu dem ,Großen Selbstzeugnis4 von 1545 erscheinen lassen: Auch der bislang deutlichste Kritiker meiner Überlegungen, Martin Brecht, stimmt darin überein, dass die Parallelen frappierend sind - sogar so frappierend, dass er meint, beide Texte müss­ ten von demselben Ereignis sprechen39. Sollte dem so sein - dann käme zweifellos dem früheren Text die Priorität und damit die Schlüsselrolle zum Verständnis des jungen Luther zu, was ebenfalls gilt, wenn man - wie ich selbst es für wahrscheinlich halte - die These eines psychologischen Durchbruchs beim jungen Luther gänzlich in Frage stellt und die Durch­ bruchsberichte eher als autobiographische Stilisierungen im Stile von Kon­ versionsberichten40 versteht, in denen Luther langwährende Entwicklungen punktuell verdichtet41. Dann wäre jedenfalls nach seinem Erkenntnisstand im Jahre 1518 das entscheidende Leitwort für ihn die poenitentia gewesen, und der entscheidende Impulsgeber für seine Entwicklung Staupitz.

37 WA 1, S. 525,4-14: „Memini, Reverende pater, inter jucundissimas et salutares fa­ bulas tuas, quibus me solet dominus Ihesus mirifice consolari, incidisse aliquando mentionem huius nominis .poenitentia1, ubi miserti conscientiarum multarum carnificum­ que illorum, qui praeceptis infinitis eisdemque importabilibus modum docent (ut vocant) confitendi, te velut e caelo sonantem excepimus, quod poenitentia vera non est, nisi quae ab amore iusticiae et dei incipit. Et hoc esse potius principium poenitentiae, quod illis finis et consummatio censetur.“ 38 WA 1, S. 525,21-23. 39 Martin Brecht: Luthers neues Verständnis der Buße und die reformatorische Entdeckung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 101 (2004), S. 281-291; S. 290. Allerdings scheint mir hier letztlich das Verhältnis der beiden Erinnerungsberichte Luthers ungeklärt: Wenn sie, wie Brecht ebd. schreibt, „von demselben Ereignis und von derselben Sache“ handeln, müsste doch wohl dem früheren Bericht die Priorität zukom­ men. Dann aber wäre das berichtete Ereignis nicht nur früher als bislang von Brecht an­ genommen, sondern auch zu einem anderen Inhalt, nämlich zur poenitentia statt zur iustitia. 40 Vgl. hierzu Bernd Ulmer: Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattungen. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 19-33. 41 Vgl. zu dieser Argumentation Leppin: „omnem vitam“ (wie Anm. 13), S. 8-13.

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Hat man so in dem Begleitschreiben zu den ,Resolutiones4 den eigentli­ chen Schlüsseltext für die Entwicklung des jungen Luther, wie er selbst sie relativ zeitnah sah, in der Hand, so lassen sich die mystischen Beiklänge schwerlich ignorieren: Am auffälligsten dürfte sein, dass Luther den durch Staupitz entdeckten Christus mit eben jenem mystischen Epitheton „süß“ bezeichnet42, mit dem er am 14. Dezember 1516 Spalatin die Predigten Johannes Taulers empfohlen hatte43. Das Wortfeld jedenfalls weist auf ei­ nen mystischen Kontext hin, der sich bei einem Autor, der seine ersten Sporen als Herausgeber der ,Theologia deutsch4 verdient hat44, ja un­ schwer nahelegt. folgt man dieser Spur, so entsteht allerdings eine interessante Koinzi­ denz: Die Erinnerungen in den ,Resolutiones4 weisen in eine Zeit kurz vor der Kenntnisnahme des Erasmischen Griechischen Neuen Testaments, also in die Frühphase der Römerbriefvorlesung45 - und damit in jene Zeit, in der Luther aller Wahrscheinlichkeit nach mit Tauler konfrontiert wurde. Damit schließt sich nun der Kreis: Oben wurde bereits angedeutet, dass Staupitz die Wittenberger interessierten Anhänger nicht allein auf seine eigenen Lehren hinführte, sondern auch und gerade als Impuls verstanden wurde, den seit kurzem in zwei Drucken46 vorliegenden Johannes Tauler zu lesen und sich anzueignen. Wovon Luther also berichtet, ist eine von Staupitz beeinflusste Hinwendung zu Tauler. Wie für das Selbstzeugnis von 1545 ist es wohl auch hier müßig, der von Luther selbst gelegten Spur zu folgen und nach dem Moment zu suchen, an dem der Umschlag von einer vorherigen Zeit zu einer von Staupitz und Tauler beeinflussten Zeit erfolgte47: Dieses Geschehen ist nur in der nachträglichen Stilisierung mo42 WA 1, S. 522,23. 43 WA.B 1, S. 79,58-64: „Gusta ergo et vide, quam suavis est dominus, ubi prius gustaris et videris, quam amarus est, quicquid nos sumus44. 44 Vgl. die Vorworte WA 1, S. 153 (1516); S. 378f. (1518); zur theologischen Einord­ nung der .Theologia deutsch4 vgl. Christian Peters: Art. Theologia deutsch, in: TRE 33 (2002), S. 258-262, sowie jetzt den Beitrag von Andreas Zecherle in diesem Band. Anhand von Randbemerkungen, die er Luther zuweist, kommt auch Martin Brecht: Randbemerkungen in Luthers Ausgaben der „Deutsch Theologia44, in: Luther-Jahrbuch 47 (1980), S. 11-32, S. 32, zu der bemerkenswerten Feststellung, dass Luthers Anthro­ pologie „durch mystische Vorstellungselemente mit geformt worden ist44. 45 Der Erasmus-Text erschien am 1. März 1516 in Basel; vgl. Kurt Aland und Barbara Aland: Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 21989, S. 13. Luther be­ nutzte ihn spätestens seiner Auslegung von Röm 9,19 an (WA 56, S. 400,15). 46 Vgl. zur Druckgeschichte der Ausgaben von 1498 und 1508 Otto: Tauler-Rezeption (wie Anm. 13), S. 29-41. 47 Zu der langen Forschungsgeschichte, die sich immer wieder um das Selbstzeugnis von 1545 drehte, vgl. die instruktiven Sammelbände: Bernhard Lohse (Hg.): Der Durch­ bruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (= Wege der For­ schung 123); ders. (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther.

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menthaft und plötzlich, tatsächlich handelt es sich um einen allmählichen Prozess, innerhalb dessen die Begegnung mit Tauler eine, freilich gewich­ tige, Rolle gespielt hat. Wie gewichtig, das zeigt Luthers Schreiben an Staupitz vom 31. März 1518, in dem er irritiert auf den öffentlichen Sturm um seine Person seit dem Bekanntwerden der Ablassthesen zurückblickt: „Freilich bin ich der Theologie Taulers und jenes Büchleins gefolgt, das du neulich unserem Christian Goldschmied in den Druck gegeben hast.“48 Noch in dieser Phase also, in der Luther schon zu einer öffentlichen Person geworden ist, sieht er selbst sich ganz im Strom der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Mystik. Wenn das aber so ist, dann stellt sich in aller Vorsicht die Frage, was denn eigentlich aus diesen mystischen Anfängen bei Luther geworden ist. Und je weniger plausibel das psychologische Muster eines Durchbruchs ist, desto stärker wird man das, was man mit Pesch als einen „über ver­ schiedene Stufen“ sich vollziehenden Prozess einer „theologischem Um­ orientierung“ zu beschreiben hat49, auch daraufhin zu befragen haben, wie und inwiefern sich in ihm Trans-Formationen jener anfänglichen Mystik nachzeichnen lassen. Dabei wird man in dieser Transformation, wie es sol­ chen Prozessen eigen ist, die Differenz des Ergebnisses zum Vorgegebenen ebenso zu beschreiben haben, wie die beibehaltende Identität. Eine solche Untersuchung müsste eigentlich das Ganze von Luthers Theologie in den Blick nehmen, was aber beim derzeitigen Forschungs­ stand noch nicht sinnvoll zu leisten ist. Ein Zugang zu dem Umbau mysti­ schen Denkens bei Luther kann derzeit nur exemplarisch erfolgen. Genau hierzu soll aber die hier vorliegende Skizze einen Beitrag leisten: Damit die exemplarische Arbeit beanspruchen kann, einigermaßen repräsentativ zu sein, werden für die Untersuchung solche theologischen Themen herausgegriffen, deren genuin reformatorischer Charakter zunächst einmal außer Frage stehen dürfte: die Polarität von Gesetz und Evangelium, die Rechtfertigungslehre und die Lehre vom allgemeinen Priestertum. Dass die Kombination allein schon dieser drei Überzeugungen wichtige Elemente des Sets reformatorischer Theologie ausmachen, dürfte unmittelbar ein­ leuchten.

Neuere Untersuchungen, Stuttgart/Wiesbaden 1988 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 25). 48 WA.B 1, S. 160,8f. 49 Otto Hermann Pesch: Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Er­ gebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, in: Lohse: Durchbruch (wie Anm. 47), S. 445-505: hier S. 500.

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1. Gesetz und Evangelium'. Die Dialektik von Gesetz und Evangelium ist bekanntlich ein Angelpunkt von Luthers Denken50. In ihrer vollen Gestalt ist sie in den Antinomerdisputationen zu greifen, aber die Entwicklung setzt schon in der Zeit der frühen Vorlesungen ein, auch wenn hier noch nicht die volle Begriffsschärfe wie später zu beobachten ist51, ln den Tex­ ten der zwanziger Jahre, in denen man Luthers Theologie wohl unstrittig als reformatorisch ansprechen kann52, finden sich zwei wichtige Gesichts­ punkte, an denen Luther theologisch arbeitet: Der eine geht aus von der hamartiologischen Einordnung der Wirkung des Gesetzes, wie sie sich im Römerbrief (Röm 5,20; Röm 7,7ff.) findet, mit jenen harten Aussagen, nach denen das Gesetz geradezu als die Sünde mehrend vorzustellen ist. In der klaren Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die er in seiner lateinischen Epistel- und Evangelienpostille von 1521 vornahm, bearbeitet Luther ausführlich und in immer neuen Anläufen immer wieder diesen Gedankengang53. Wird durch diese Ausführungen der Gegensatz zum Evangelium besonders betont, so gibt es daneben, und der Sache nach un­ trennbar damit verbunden54, auch das Bemühen, die Zuordnung von Gesetz und Evangelium auszudrücken, die ja bei Augustin in ,De spiritu et littera4 vorgegeben war: „Lex ergo data est, ut gratia quaereretur, gratia data est, ut lex inpleretur“55. Charakteristisch für eine solche Zuordnung der beiden Weisen, in denen Gottes Wort ergeht, ist eine Aussage in der Kirchen­ postille von 1522, die das Gesetz als eine Art Hinführung auf Jesus Christus beschreibt: „Das ander, das der mensch sich alßo durchs gesetz erkenne, wie falsch und unrecht seyn hertz sey, wie fern er noch von gott sey, wie gar die natur nichts sey, das er seyn erber leben vorachte und 50 Vgl. WA 7, S. 502,34f; 36, S. 9,224-31; 39/1, S. 361,1-6; 40/1, S. 207,3-5. Entspre­ chendes Gewicht erhält diese Unterscheidung in den modernen Darstellungen der Theo­ logie Luthers: Paul Althaus: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 71994, S. 218238; Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 283-294; Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, S. 53-70; Albrecht Beutel: Theologie als Unterscheidungslehre, in: ders.: Luther Handbuch (wie Anm. 1), S. 450-454, besonders S. 451-453. 51 Vgl. hierzu Lohse: Luthers Theologie (wie Anm. 50), S. 284-287. 52 Zur Frage der allmählichen Entwicklung Luthers vgl. Leppin: Martin Luther (wie Anm. 23). 53 WA 7, S. 503,4-504,5. 54 Vgl. die explizite Zusammenführung von beidem in der Obrigkeitsschrift: WA 11, S. 250,29-31: „Datzu gibt S. Paulus dem gesetz noch eyn ampt Ro: .7. unnd Gal: .2. das es die sund erkennen leret, damit es den menschen demütigt zur gnad unnd zum glawben Christi.“ 55 AUGUSTIN: De spiritu et littera 19,34, in: Sancti Aureli Augustini opera (sect. 8, pars 1), hg. von Karl Urba und Joseph Zycha, Wien 1913 (= Corpus scriptorum eccle­ siasticorum Latinorum 60), S. 187,22f.

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erkenne, wie es nichts sey gegen dem, das tzu des gesetzes erfullunge ge­ höret. Und alßo gedemuettigt werde, tzum creutz krieche, Christum erfeufftze und sich nach syner gnaden sehne, an yhm selbs gar vortzage, alle seynen trost auff Christum setze“56. Über den augustinischen Hintergrund hinaus, verdichtet sich hier noch viel mehr: Die Vorstellung des Demütigens greift offenbar ebenso selbst­ verständlich auf die Demutstheologie der frühen Vorlesungen zurück57, wie der Hinweis auf Christus als den alleinigen Trost einen Reflex auf jene Tröstungen darzustellen scheint, die Luther bei Staupitz erfahren hatte, wenn dieser ihm gesagt hatte, es sei nicht Christus, der erschrecke, sondern Christus sei es, der tröste (vgl.o.). Der Satz aus der reformatorischen Kirchenpostille verweist also sprachlich auf die Gärungsphase von Luthers Theologie. Und in dieser Perspektive ist es bemerkenswert, in welchem Maße die Nichtigkeit des Tuns des Menschen ausgesprochen wird58: Die Nichtigkeit des Eigenen, die Erkenntnis der eigenen totalen Unzulänglich­ keit im Angesicht Gottes ist Ziel der Gesetzesbotschaft - in den Antinomerdisputationen wird Luther dies mit einem weiteren Begriff zusam­ menfassen, der auch in seinem klösterlichen Kontext immer wieder er­ scheint: desperatio59, die auch bereits in den .Operationes in psalmos1 als Voraussetzung für das Aufscheinen der Gerechtigkeit begegnet60: Was in der begrifflichen Schärfung der Lehre von Gesetz und Evangelium in der Antinomerdisputation leitend wird, hat seinerzeit, in der Psalmenvorle­ sung, seinen Ort in der Demutstheologie: Luther kann denselben Gedan­ kengang, den er mit der desperatio als Gerechtigkeitsvoraussetzung aus­ drückt, auch mit dem Gedankengang ausdrücken: „deus humiles solum respiciat“61. Grundstruktur und spirituell entscheidende Vokabeln bleiben gleich, während der Rahmen sich immer mehr zu einem worttheologischen Kontext hin verschoben hat.

56 WA 10/1/1, S. 455,5-11. 57 Vgl. zu diesem Konzept nach wie vor Ernst Bizer: Fides ex auditu. Eine Untersu­ chung über die Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen 31966. 58 Vgl. zu diesem Zusammenhang von Nichtigkeit und Sündenerkenntnis, vornehm­ lich in den Operationes in Psalmos, aber auch insgesamt im Zeitraum von 1518 bis 1523: Sammeli Juntunen: Der Begriff des Nichts bei Luther in den Jahren 1510 bis 1523, Helsinki 1996, S. 371-378. 59 WA 39/1, S. 50,36f.; 40/1, S. 368,12. 32f.; vgl. zur Verzweiflung im monastischen Kontext WA 4, S. 665,2lf.; 56, S. 266,25-28. 60 Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 2, S. 182,4-8; vgl. hierzu Hubertus Blaumeiser: Martin Luthers Kreuzestheologie. Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit. Eine Untersuchung anhand der Operationes in psalmos (1519-1521), Paderborn 1995 (= Konfessionskundliche und kontroverstheologische Stu­ dien 60), S. 154. 61 Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 2, S. 197,25.

Mystik bei Luther

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Eben jene desperatio, die in frühen wie späten Texten als Umschlag­ punkt zwischen Erniedrigung des Menschlich-Eigenen und Hinwendung zum Heil begegnet, erscheint in der Heidelberger Disputation als opus alienum Gottes62. Und in unmittelbarer Nähe hierzu konnte Luther 1518, in den , Resolutiones4 zu den Ablassthesen, als opus alienum auch die wahre contritio cordis bezeichnen - eine Zerknirschung, die nicht im Rahmen der bußtheologischen Trias zu stehen kommt, sondern allein für sich, parallelisiert mit der Demütigung63. Und damit verdichtet sich der Eindruck, dass jene gesetzestheologischen Aussagen über ihren paulinischen und augusti­ nischen Hintergrund hinaus auch einen haben, der in der monastischen, näherhin in der mystischen Tradition verwurzelt ist: Als erste Stufe der Selbsterkenntnis bedarf auch und gerade der Mystiker der Reinigung, und diese wird gerade in jenen Kontexten, die Luther bekannt waren, also in der deutschsprachigen Mystik eines Johannes Tauler, immer wieder in Bußterminologie ausgedrückt64. Exemplarisch möge hierfür eine Stelle aus Taulers Predigt über Joh 5,1 ff stehen: „Die dirte porte von disen daz ist ein war wesenlicher ruwe der sünden. Welicher ist daz? Das ist ein gantz war abeker von allem dem daz nüt luter Got enist oder des Got nüt ein wäre sache enist, und ein war gantz zuoker zuo Gotte mit allem dem daz man ist“65. Luther hatte diese Betonung der wahren inneren Reue schon früh, das heißt: während der Zeit seiner eigenen intensiven Taulerlektüre wahrge­ nommen: Eine knappe Notiz, „Hoc nota tibi“, findet sich gerade an einer Tauler-Stelle, an der dieser die Anerkenntnis der eigenen Nichtigkeit des Menschen als wichtiger gegenüber dem ritualisierten äußeren Beichtakt charakterisiert und damit durch den Verweis auf die wahre innere Zerknir­ schung die sakramentale Buße jedenfalls relativiert: „[...] so ile und tring dich in Got als swintlich das dir die sunde zemole enphallent, ob du der mitte zuo der bichte kumest, das du ir nut enwissest ze sagende. Dis ensol dich nut entsetzen; es enist dir nut uf gevallen ze schaden, sunder zuo eine bekentnisse dines nichtes und zuo einer versmehunge din selbes in einer gelossenheit, nut in einer swermuotikeit“66. Die Aussage ist noch radikaler als die oben zitierte Luthers zur Wirkung des Gesetzes, und gerade darin lässt sich nun auch der transformierende Weg bei Luther nachzeichnen. Schon von früh an ist bei Luther eine Hoch62 WA 1, S. 357,6-8. 63 WA 1, S. 540,23-25. 64 Vgl. etwa Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Hand­ schrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910, S. 65,22-27, Nr. 14. 65 Ebd. S. 36,10-14, Nr. 8. 66 Ebd. S. 355,36-356,2, Nr. 65; vgl. Luthers Randbemerkungen hierzu in WA 9, S. 104,11-14; vgl. zur Argumentation Leppin: Omnem vitam (wie Anm. 13), S. 15-17.

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Schätzung der Reue innerhalb der mittelalterlichen Elemente der Buße zu beobachten. Dies erklärt sich nicht allein, wie es spätere Rückblicke Luthers andeuten, aus der Diskussion um Attritionismus und Kontritionismus67, sondern sie ist zu guten Teilen auch mystisches Erbe, eben solcher Aussagen wie der eben zitierten Taulers. Diese wohl durch mystische Lek­ türe mit bewirkte Erkenntnis Luthers wird aber mit fortschreitender Entwicklung worttheologisch gebrochen, ohne dass die Struktur des mysti­ schen Weges gänzlich beseitigt würde: Der mystische Weg führte von einer Destruktion, einer immer wieder verbal anklingenden Ver- bzw. Zernichtung des Seins hin zu einer Offenheit für das Hineinkommen Gottes in die so entstehende Leere68. Das oben angeführte Tauler-Zitat aus der Pre­ digt über Joh 5,1 ff geht entsprechend weiter: „und daz ist alleine der kerne und daz marg des ruwen; und dan mit einer versaster getrüwunge ver­ sinken in das minnenkliche luter guot das Got ist, und an ime und in ime iemer zuo blibende und anzuohangende mit minnen und mit luterre meinunge in eime vollen bereiten willen, den liebsten willen Gottes zuo tuonde also verre also er mag“69. Diese Bewegung spiegelt sich in der soteriologischen Zuordnung von Gesetz und Evangelium bei Luther durchaus wieder, insofern auch hier die in Verzweiflung führende Vernichtung dessen, was der Mensch an Werken einzubringen hat, dem Verheißungswort70 und seiner Wirkung am Men­ schen nicht nur vorausläuft, sondern geradezu auf es zuläuft und ihm den Weg bereitet: Der Mensch erfahrt durch das Gesetz, so heißt es später in der zweiten Antinomerdisputation, dass ihm „die weite weit zu enge“ wird, und eben dadurch ist er auf Christus angewiesen71. Darin haben Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium und die mystische Beschreibung des Heilsweges eine Parallele: Dem Gnadenhandeln Gottes - und als solches ist natürlich auch die mystische Einung zu verstehen - läuft eine im Blick auf das menschliche Selbstverständnis notwendigerweise destruktive Vor­ bereitung voraus. Und dass die Parallele mehr ist als ein Zufall, macht die Überschneidung der Wortfelder aus den frühen Vorlesungen und ihrer Demutstheologie mit den ersten ausführlichen Darlegungen zur Gesetzes­ lehre bei Luther deutlich: Hier fand ein allmählicher Umbau statt, der frei­ lich in der Tat als Umbau zu verstehen ist, als eine Transformation hin zu einer neuen Konstitution der theologischen Grundkoordinaten: Jener nega­ tive, vorauslaufende Aspekt der Destruktion des allein Menschlichen wird WA 40/11, S. 411,39-412,20. 68 Vgl. Die Predigten Taulers (wie Anm. 64), S. 305,23-306,4, Nr. 60e. 69 Ebd. S. 36,14-18, Nr. 8. 70 Zum promissionalen Charakter vgl. nach wie vor Oswald Bayer: Promissio. Ge­ schichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Darmstadt 21989. 71 WA 39/1, S. 456,7f.

Mystik bei Luther

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bei Luther eindeutiger als bei den Mystikern auf Gott zurückgefuhrt. Zwar ist es auch für die Mystiker des späten Mittelalters selbstverständliche Voraussetzung, dass Gott der Handelnde im gesamten Heilsprozess ist72, aber bei Luther wird dieser Aspekt entschieden stärker - vermutlich ist ge­ nau dies die Stelle, an der das Denken der Via moderna mit ihrem starken Gottesbild73 prägend für sein Gottesbild und damit auch für die entspre­ chende Transformation der Mystik wird. Die zweite, wichtige Differenz ist aber natürlich die Einzeichnung des strukturellen Schemas der Mystiker in einen worttheologischen Zusam­ menhang. Gerade gegenüber vorgegebenen mystischen Denkweisen - und im weitesten Sinne gehört natürlich auch das, was Bizer als Demutstheo­ logie identifiziert hat, hierzu - ist ein solcher worttheologischer Kontext ein ganz entscheidender Gewinn, insofern er das Woher, anders ausge­ drückt, das Extra nos74 jener Vorgänge eindeutiger bestimmen lässt, als es in der Regel in den mystischen Texten des späten Mittelalters der Fall ist, die zwar in einer biblischen Bildwelt leben und auch von der festen Über­ zeugung äußerer Bewirkung ausgehen, diese aber nicht kriterienhaft be­ nennen. Eben hier liegt dann auch die Stärke der Lutherschen Transforma­ tion im Blick auf die später notwendig werdenden Grenzziehungen. 2. Rechtfertigungslehre'. Es kann schwerlich darum gehen, die Rechtfer­ tigungslehre schlicht als aus dem Geist spätmittelalterlicher Mystik gebo­ ren darzustellen. Die klassische Annahme einer Verwurzelung von Luthers Rechtfertigungslehre im Denken des Paulus und Augustins ist selbstver­ ständlich die nächstliegende und unzweifelhaft zutreffende Erklärung da­ für, dass Luther sich zunehmend theologisch im Horizont der Rechtferti­ gungslehre bewegte und diese zum Schlüssel seines Verständnisses der Situation des Menschen vor Gott machte. Gleichwohl gibt es auch struktu­ relle Analogien zu bestimmten Aspekten mystischen Denkens, die einen mystisch beeinflussten Denker wie Luther besonders empfänglich für die 72 Die Predigten Taulers (wie Anm. 64), S. 305,16-19, Nr. 60e: „Die nechste und die aller höchste bereitunge in ze enphahende die muos er selber bereiten und würken in den menschen. Er muos die stat selber bereiten zuo im selber und muos sich selber och enphahen in dem menschen“. 73 Vgl. hierzu William J. Courtenay: Capacity and Volition. A History of the Distinction of Absolute and Ordained Power, Bergamo 1990 (= Quodlibeta 8); Volker Leppin: Does Ockham’s Concept of Divine Power Threaten Man’s Certainty in His Knowledge of the World?, in: Franciscan studies 55 (1998), S. 169-180; HUBERT Schrocker: Das Verhältnis der Allmacht Gottes zum Kontradiktionsprinzip nach Wilhelm von Ockham, Berlin 2003 (= Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes 49). 74 Vgl. zur Brechung dieser mystischen Formel bei Luther Karl-Heinz zur MÜHLEN: Nos Extra Nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972 (= Beiträge zur historischen Theologie 46).

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Botschaft von der unverdienten Gnade machten, und das gehört nun in der Tat in diesen Kontext. Mystische Theologen wie Johannes Tauler oder auch der Autor der ,Theologia Deutsch4 gehörten zu jenen Frömmigkeits­ strömungen des späten Mittelalters, die Berndt Hamm kürzlich mit dem Begriff der „nahen Gnade“75 charakterisiert hat: Gott, in der Regel: Christus, wird bei ihnen auf eine Weise nahe, die die üblichen gradualistischen Formen76 der sakramentalen Heilsvermittlung im späten Mittelalter zwar nicht obsolet macht, aber doch relativiert77. Von besonderer Bedeu­ tung und Brisanz ist hierbei, dass das Heilsgeschehen aufgrund der hier erfolgenden Immediatisierung78 des Gottesverhältnisses nicht mehr zwin­ gend auf externe gestufte Vermittlungsinstanzen des Klerus angewiesen ist. Zumindest auf dieser Ebene also wird Christus und Gott insofern als „nahe Gnade“ präsent, als er der - auf prinzipieller Ebene in kirchenfrom­ men Kreisen der Mystiker niemals bestrittenen79 - sakramentalen Heils­ vermittlung einen Weg direkter Heilsvermittlung gegenüberstellt. Und diese geschieht nach Tauler gar „niemer von menschlichen werken noch von verdiende, sunder von lüttere genaden und von dem verdiende unsers herren Jhesu Christi“80. Damit ist in der Formulierung Taulers eine Annäherung an augustinische Terminologie erreicht, die deutlich macht, dass die Betonung der un­ mittelbaren Gnade jedenfalls eine Empfänglichkeit für augustinische Rechtfertigungslehre besaß. Vermutlich hat sich diese Empfänglichkeit bei Luther besonders stark ausgewirkt, weil bei ihm verschiedene Stränge spätmittelalterlicher Immediatisierungstheologie zusammenkamen: Es ge­ hört zu den Eigenarten der spätmittelalterlichen Entwicklung, dass man Anfang des 14. Jahrhunderts auf engstem Raum drei unabhängig von­ einander entstandene und sogar in offenem Konflikt miteinander entste­ hende Formen von Immediatisierung beobachten kann: Der Papalismus Johannes’ XII., die mystische Theologie Eckharts und die potentiaTheologie eines Wilhelm von Ockham waren gleichzeitig in Avignon prä­ sent - die beiden Letztgenannten, um sich vor dem Ersten wegen Häresie 75 Hamm: „Die nahe Gnade“ (wie Anm. 32). 76 Vgl. zum Gradualismus Berndt Hamm: Einheit und Vielheit der Reformation oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: ders., Bernd Moeller und Doro­ thea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 57-127, S. 69f. 77 Vgl. hierzu Volker Leppin: Mystische Frömmigkeit und sakramentale Heilsver­ mittlung im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 112 (2001), S. 189204. 78 Vgl. hierzu Volker Leppin: Wilhelm von Ockham. Gelehrter - Streiter - Bettel­ mönch, Darmstadt 2003, S. 169f. 79 Vgl. Leppin: Mystische Frömmigkeit (wie Anm. 77). 80 Die Predigten Taulers (wie Anm. 64), S. 123,7f., Nr. 32.

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zu verantworten81. Bei Luther nun laufen zwei dieser Stränge zusammen: Neben die mystische Beeinflussung zugunsten einer Immediatisierung des Gottesverhältnisses tritt auch die Tradition der Via moderna, die ihm in Er­ furt in ihrer seinerzeit überraschenden und neuen Zuspitzung auf Wilhelm von Ockham begegnet war: Es war keineswegs selbstverständlich, dass Wilhelm von Ockham sowohl in Tübingen bei Biel als auch bei Luthers Lehrern in Erfurt als großer Lehrmeister angesehen wurde82, aber genau in dieser Betonung hörte Luther von ihm und ordnete sich später der „Sekte“ Ockhams zu83. Was er nun bei Ockham wie bei dessen Adepten Biel wie auch bei seinen Erfurter Lehrern lernen konnte, war, dass Gott unmittelbar in das menschliche Geschehen eingreifen konnte und dies tatsächlich auch tat, zumal in Heilszusammenhängen: Der Fall, an dem Ockham in den ,Quodlibeta‘ die potentia Dei ausführte, war Paulus gewesen, der völlig unerwartet und ohne jede Disposition von Gott erwählt worden war84 - und Ockham stand damit selbst in einem breiteren Strom von Theologie, den Werner Dettloff, zugespitzt auf die franziskanische Lehrbildung85, in ihrer Betonung der acceptatio divina als eines direkten Aktes Gottes zum Heile des Menschen dargestellt hat. Tatsächlich gibt es innerhalb der starken Betonung der potentia Dei in der Via moderna zwei mögliche Schluss­ folgerungen: Wenn Ockham in der zweiten Quaestio der 17. Distinktion des ersten Buches seines Sentenzenkommentars in Auseinandersetzung mit Thomas erklärt: „Das halte ich schlicht für falsch, weil Gott eine rein aus natürlichen Gegebenheiten heraus gewählte gute Willensregung aufgrund seiner Gnade annehmen kann und folglich ein solcher Akt aufgrund der voraussetzungslosen Annahme Gottes verdienstlich sein wird“86, so kann man dies schlicht wegen der anstößigen Formulierung „ex puris naturali­ bus“ als Ausdruck eines Pelagianismus werten, der alle Hoffnung auf die Kräfte des Menschen setzt - und so haben es viele Ockham-Deuter, an-

81 LEPPIN: Wilhelm von Ockham (wie Anm. 78), S. 156-172. 82 Vgl. hierzu Erich Kleineidam: Universitas Studii Erfordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Teil 2: Spätscholastik, Humanismus und Reformation 1461-1521, Leipzig 21992 (= Erfurter Theologische Studien 22), S. 140. 83 WA.TR 5, S. 653,lf., Nr. 6419; 2, S. 516,6, Nr. 2544a. 84 Wilhelm von Ockham: Quodlibet VI, q. 1, in: Guilelmi de Ockham Opera Theo­ logica, Bd. 9, hg. von Joseph C. Wey, St. Bonaventura 1980, S. 587,53-58. 85 Die Zuordnung bestimmter Positionen zu speziellen Ordenstraditionen verdankt sich auch der ordensspezifischen Forschungsstrategie der Scholastikforschung der letzten Jahre. 86 Guilelmi de Ockham Opera Theologica, Bd. 3, hg. von Gerard Etzkorn, St. Bonaventura 1977, S. 469,10-13: „Istud reputo simpliciter falsum, quia bonum motum voluntatis ex puris naturalibus elicitum potest Deus acceptare de gratia sua, et per con­ sequens talis actus ex gratuita Dei acceptatione erit meritorius“.

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gefangen mit seinen Anklägern in Avignon87, getan. Es ist aber, legt man den Akzent auf das göttliche Vermögen zur acceptatio, auch eine starke Betonung des göttlichen Willens in diesen Sätzen, die Gott allein den Vor­ rang gegenüber allen Vermittlungswegen, auch den von ihm selbst gestif­ teten und an die Sakramente gebundenen, gibt. Auch wenn Luther die Heilslehre der Via moderna als pelagianisch be­ gegnet, so hat er doch in seinen frühen Studien den diesem Pelagianismus entgegenlaufenden starken Gottesbegriff der Via moderna kennen gelernt und damit auch Potenziale, die in eine Immediatisierungstendenz hinein­ laufen konnten. Sowohl aus der Mystik als auch aus der Via moderna also war ihm die Vorstellung von einer Überbrückung der Differenz zwischen Gott und Glaubendem vertraut, als er Augustin begegnete und damit einer Lehre, die der Unmittelbarkeit des göttlichen Rechtfertigungshandelns Gestalt gab und damit nach den exegetischen Einsichten des jungen Pro­ fessors die paulinische Theologie in höchst angemessener Weise zum Aus­ druck brachte. Insofern wird man zwar schwerlich die Rechtfertigungslehre als unmit­ telbare Transformation mystischen Denkens beschreiben können, wie dies bei der Lehre von Gesetz und Evangelium der Fall ist, aber die Mystik be­ reitete doch den Boden für die Aufnahme der augustinischen Theologie und ging damit wenigstens mittelbar auch in den mit der Aufnahme der antipelagianischen Theologie bei Luther verbundenen umfassenden Trans­ formationsprozess ein. Hierzu gehört dann auch, dass Luther Formulierun­ gen für das Nahewerden der Gerechtigkeit Gottes finden kann, die an mystische Identitätsaussagen grenzen. So heißt es in den Operationes in Psalmos: „Es heißt aber Gottes und unsere Gerechtigkeit, weil seine Gnade uns gegeben ist, so wie das Werk Gottes, das er in uns wirkt, so wie Gottes Wort, das er in uns spricht, so wie Gottes Tugenden, die er in uns wirkt, und vieles andere [...], damit durch dieselbe Gerechtigkeit Gott und wir gerecht seien, so wie durch dasselbe Wort Gott macht und wir sind, was er ist, auf dass wir in ihm sind und sein Sein unser Sein sei“88. Den Gipfelpunkt solcher Formulierungen, die die Nähe zwischen mysti­ schem Denken und der Rechtfertigungslehre unterstreichen, ist aber die Freiheitsschrift, die eben jenes oben zitierte Bild von Braut und Bräutigam

87 Vgl. Josef Koch: Neue Aktenstücke zu dem gegen Wilhelm Ockham in Avignon geführten Prozeß, in: Recherches de theologie ancienne et medievale 7 (1935), S. 353380; 8 (1936), S. 79-93 und 168-197: hier 8, S. 82,21-24. 88 Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 2, S. 259,1-3.12-14: „Vo­ catur autem iustitia dei et nostra, quod illius gratia nobis donata sit, sicut opus dei, quod in nobis operatur, sicut verbum dei, quod in nobis loquitur, sicut virtutes dei, quas in no­ bis operatur, et multa alia [...] ut eadem iustitia deus et nos iusti simus, sicut eodem verbo deus facit et nos sumus, quod ipse est, ut in ipso simus et suum esse nostrum esse sit“.

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aufnimmt und ausgestaltet89, das sich bei Staupitz und lange vor ihm schon bei Bernhard findet: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem gött­ lichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam“90. Man mag eine solche Redeweise auch als mystische Einkleidung von Rechtfertigungslehre verstehen. Es dürfte aber außer Zweifel stehen: Wer so formuliert, weiß von den neuprotestantisch konstruierten Gegensätzen zwischen reformatorischem Rechtfertigungsglauben und Mystik nichts. Wovon er freilich weiß, ist von den Unterschieden, das ist auch in der kur­ zen zitierten Passage zu sehen, in der nicht zufällig der Glaube die Zentral­ funktion hat und nicht etwa eine affektive Liebesfunktion die Einheit zwi­ schen Braut und Bräutigam stiftet91. Auch hier also gilt: Luther setzt nicht einfach ungebrochen fort, was er an mystischen Konzepten fand - so wie auch die mystischen Theologen des Mittelalters ja im Allgemeinen nicht einfach Vorfindliches weitertradierten, sondern selbst produktiv weiter­ dachten und -entwickelten. Luther bricht mystisches Denken, transformiert es, bleibt ihm aber doch in wesentlichen Grundanliegen verbunden. 3. Die vorgetragenen Überlegungen verweisen implizit schon auf den drit­ ten Gesichtspunkt der Transformation: die Lehre vom allgemeinen Pries­ tertum'. Zu jenen Instanzen, die durch die nahe Gnade überbrückt wurden, gehört in sozialer Perspektive zunächst der Priester als die zentrale heilsvermittelnde Figur. Und es überrascht von der Sache her kaum, dass man auch bei Tauler eine Formulierung findet, in der allgemeines Pries­ tertum zwar nicht als Heilstatsache für alle Getauften, wohl aber als Möglichkeit für mystisch lebende Menschen anklingt: „Dieser gotdehtiger mensche das ist ein inwendiger mensche, der sol ein priester sin“9 - eine Aussage, die übrigens ausdrücklich auch für Frauen gilt93. Mit der gemach­ ten Einschränkung ist schon deutlich, wo hier die Transformation Luthers einsetzt, wiederum an jeder Vereindeutigung der Voraussetzungslosigkeit 89 Es fällt bestätigend für die vorgetragene Interpretation auf, dass Bayer: Luthers Theologie (wie Anm. 50), S. 206, gerade diese Vorstellung mit der Lehre von Gesetz und Evangelium interpretiert, also zwei der oben dargestellten Komplexe an dieser überdeut­ lich von mystischen Vorstellungen geprägten Stelle in Beziehung miteinander setzt. 90 WA 7, S. 25,26-28. 91 Vgl. zur Verschiebung von der Liebe zum Glauben Berndt Hamm: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers. Ein Beitrag zur Bußgeschichte, in: Luther-Jahrbuch 65 (1998), S. 19-52. 92 Die Predigten Taulers (wie Anm. 64), S. 164,34-165,1, Nr. 40. 93 Ebd. S. 165,15-17, Nr. 40; vgl. Thomas Gandlau: Trinität und Kreuz. Die Nach­ folge Christi in der Mystagogie Johannes Taulers, Freiburg im Breisgau 1993 (= Freibur­ ger theologische Studien 155), S. 146f., mit der Unterscheidung von sakramentalem und geistlichem Priestertum.

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dieses Geschehens: Indem bei ihm jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, zum Priester oder Bischof geweiht ist, wird vereindeutigt, dass die bei Tauler auf prinzipieller Ebene gewollte Alleinigkeit der Gnade Gottes auch für den Ablauf der Heilsvermittlung gilt, also keine Voraussetzung auf Seiten des Menschen erfordert wird. Die Wirkung dieser theologischen Änderung ist aber eine ungeheure: Bei Tauler ist noch schlicht der Bezug auf eine soziale Sonderexistenz für mystische Frömmigkeit vorauszusetzen - die Predigten Taulers, die erhalten sind, sind in der Regel an geistliche Frauen, ehemalige Beginen gerichtet; seine Volkspredigten sind leider verlorengegangen, weswegen wir auch keine Rückschlüsse auf deren möglichen Inhalt ziehen können94. Eben dieser Bezug auf eine soziale Sonderexistenz aber fallt fort, wenn die Apostrophierung als Priester nun tatsächlich zu einer allgemeinen wird, das heißt: zu einer allgemein alle Getauften betreffenden - und dies wiederum aufgrund der angesprochenen Bedeutung der Souveränität Gottes im Heilsgeschehen, die eine Voraus­ setzung auf Seiten des Menschen im Sinne eines sich selbst in die Ab­ geschiedenheit Hineinbringens nicht dulden kann. Im Mittelalter besteht allein eine mögliche Differenz darüber, nach welchen Kriterien ein Pries­ terstand aus der Gemeinschaft der Christenheit auszusondern ist: durch Weihekriterien oder spirituelle Begabungskriterien. Zur mystischen Pries­ terkritik hatte, in latenter Spannung zur Lehre vom character indelebilis, auch die Kritik an der mangelnden Würde der Priester gehört, wenn etwa Tauler dazu mahnt, nicht einfach zu allen Messen zu gehen, sondern be­ vorzugt zu „den heiligen priestern [...] von den dis opher Gotte als geneme ist“95. Damit war eine das Weihesakrament überbietende Kriteriologie ge­ schaffen, das System der Auslese unter den Menschen aber keineswegs abgeschafft, sondern im Gegenteil auch noch an Qualitäten des Menschen gebunden worden. Durch Luthers reformatorische Theologie hingegen ent­ steht aus der theologischen Grundlegung tatsächlich ein, auch die Sozial­ gestalt des Christentums betreffender Systemumbruch, um noch einmal Berndt Hamm zu zitieren - ein Systemumbruch, zu dem selbstverständlich der in anderen Zusammenhängen gerne herangezogene Antiklerikalismus mit beigetragen hat; so wenig man ihn als alleinige Ursache für die refor­ matorische Priesterkritik heranziehen kann, so sehr hat er natürlich vor dem Hintergrund der entscheidenden theologischen Auseinandersetzung zu einer auch das mittelalterliche Ständesystem überholenden Neuformation der Frömmigkeit beigetragen. Man könnte an dieser Stelle weiter interpre­ tieren und die Bedeutung jenes inwendigen Menschen, den Tauler benannt hat, mit dem inneren Menschen bei Luther vergleichen: Wiederum dürfte, 94 Vgl. Volker Leppin: Art. Tauler, Johannes, in: TRE 32 (2001), S. 745-748, besonders S. 745. 95 Die Predigten Taulers (wie Anm. 64), S. 319,5-7, Nr. 60g.

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auch aufgrund der entsprechenden Nachweise bei zur Mühlen96, kein Zweifel bestehen, dass Luther dieses Begriffspaar aus der spätmittelalterli­ chen Mystik übernommen - und es doch zugleich grundlegend transfor­ miert hat. Der Durchgang dürfte deutlich gemacht haben, dass der Bezug Luthers auf mystische Ursprünge keineswegs als einliniger zu denken ist. Es geht nicht um die Frage, ob etwas schon da gewesen ist oder eben nicht, son­ dern es geht um die Frage, welche heterogenen Traditionsströme wie mit­ einander verbunden sind. Die Mystik scheint dabei, dies meine ich be­ haupten zu können, einen stärkeren Anteil an Luthers Entwicklung gehabt zu haben, als gemeinhin angenommen. Sie ist weder einfache Bestätigung von zuvor schon bei Luther Gedachtem noch bloße Einkleidung seines Denkens, sondern sie bildete einen wichtigen Impuls für die Entwicklung seines Denkens, der freilich, vielfach gebrochen, am Ende keineswegs mehr rein erkennbar, ja in äußerer Hinsicht geradezu vehement bestritten wurde. Aber den Verdikten über die Mystik einfach zu folgen, hieße, die fundamentale Einbindung Luthers in die mystische Tradition des späten Mittelalters nicht nur zu unterschätzen, sondern schlankweg zu ignorieren. Seine Theologie ist bis in ihre Kerninhalte hinein gar nicht anders zu ver­ stehen als vor dem Hintergrund ihrer mystischen Wurzeln. Von ihnen ging er aus, sie hat weitergedacht und sie hat er in transformierter Gestalt an das Luthertum weitergereicht.

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zur

Mühlen: Nos extra nos (wie Anm. 74), S. 155-161.

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Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie 1. Der junge Luther, die Mystik und der „reformatorische Durchbruch“ Die Frage, welches Gewicht die Mystik für den werdenden Theologen Martin Luther hatte, und insbesondere, welche sie für das Geschehen hatte, das man seinen „reformatorischen Durchbruch“ zu nennen sich gewöhnt hat, wird verschieden beantwortet. So berichtet Reinhard Schwarz von der Begegnung Luthers mit der „areopagitischen“ und der „romanischen Mys­ tik“, welche wohl schon vor 1512 stattfand, und erklärt, ab 1515/16 habe er „sich immer entschiedener von diesen Traditionen der Mystik distan­ ziert“1. Was die „deutsche“ Mystik betrifft, mit welcher sich Luther zwi­ schen 1516 und 1518 befasste, sagt Schwarz: „Die entscheidende theolo­ gische Förderung hat Luther in dieser Zeit allerdings durch seine Paulus­ exegese und durch den antipelagianischen Augustin erfahren. In dieser Hinsicht darf die Wirkung der deutschen Mystik auf Luther nicht überschätzt werden. Doch war sie ihm willkommen zur Unterstützung der kritischen Wendung gegen die scholastische Theologie und gegen die vielgeschäftige kirchliche Devotion.“2 Ähnlich meint Martin Brecht, Luther habe für seine „Demutstheologie“ - welche Brecht von der refor­ matorischen Theologie Luthers unterscheidet - eine „Bestätigung“ durch die Mystik erhalten3. Dies, aber nicht mehr. Weiter geht indes Volker Leppin in einem im Jahre 2002 erschienenen Aufsatz. Er urteilt: „Die Be­ deutung dieser von mystischer Lehre und Literatur geprägten Entdeckung eines neuen Bußverständnisses tur Luthers reformatorische Entwicklung 1 Reinhard Schwarz: Luther, Göttingen 1986 (= Die Kirche in ihrer Geschichte 3, 1), S. 19. Schwarz orientiert sich in der Begrifflichkeit und im Wesentlichen auch in der Be­ urteilung an dem grundlegenden Aufsatz von Erich Vogelsang: Luther und die Mystik, in: Luther-Jahrbuch 29 (1937), S. 32-54. 2 Schwarz: Luther (wie Anm. 1), S. 40, insgesamt S. 40-41. 3 Martin Brecht: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart (1981), 3., durchges. Aufl. 1990, S. 137, im Ganzen S. 137-144.

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ist weit höher zu veranschlagen, als es die Rede von einer Bestätigung' durch die Mystik [...] andeutet.“4 Jedoch meint Leppin, dass etwa ab der Abfassung der ,Resolutiones' zu den Ablassthesen das mystisch fundierte Zentrum der Theologie Luthers überlagert und abgelöst würde durch ein anderes Zentrum, welches nun in der paulinischen Rechtfertigungslehre liege. Allein dieses neue Zentrum habe Luther im Blick in der Rückschau seines berühmten Selbstzeugnisses von 1545. Hingegen sei die „Wende zu einem neuen Verständnis der Buße unter dem Einfluß der mystischen Theologie [...] im Rückblick zur bloßen Etappe geworden“5. Gegenüber diesen Einschätzungen soll in dieser Studie gezeigt werden, dass die mystische Theologie für Luther - für den jungen Luther, aber auch für Luther nach der Phase des Werdens seiner reformatorischen Theologie - eine bleibende wesentliche Bedeutung hat und dass seine re­ formatorische Rechtfertigungslehre mit ihr in einem engen Verhältnis steht. Zugleich kann man das besondere Profil dieser Rechtfertigungslehre gerade dann erkennen, wenn man ihren Zusammenhang mit der von Luther aufgegriffenen Tradition mystischer Theologie betrachtet. Man muss sich dazu klar vor Augen führen, wie der gedankliche Zusammenhang von Rechtfertigung, Buße und theologia mystica gestaltet ist. Als erster Schritt zur Durchführung dieser Aufgabe sollen drei Gedan­ ken bzw. drei Berichte über die Entwicklung des jungen Theologen Luther miteinander verglichen werden. Diese Berichte sprechen davon, wie er zu Einsichten gelangte, die ihm neu und wichtig waren, und durch die er dazu kam, Vorstellungen abzulegen, die er und andere hegten. Waren diese bis­ herigen Vorstellungen für ihn mit Unruhe verbunden, so empfing er durch die neuen Überzeugungen Trost. Der bekannteste unter diesen Berichten ist das sogenannte Selbstzeugnis Luthers in seiner Vorrede zu Band 1 der Gesamtausgabe seiner lateini­ schen Schriften von 1545, ein Jahr vor seinem Tode6. Hier berichtet er da­ von, dass er, Tage und Nächte durchmeditierend, zu der Einsicht gelangte, dass iustitia Dei in Röm 1,17 als iustitia passiva zu verstehen sei, „qua nos 4 Volker Leppin: „Omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit“. Zur Aufnahme mystischer Traditionen in Luthers erster Ablaßthese, in: Archiv für Reformations­ geschichte 93 (2002), S. 24. Leppin verweist dabei sowohl auf die oben genannte Stelle bei Brecht als auch auf Leif Grane: Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515-1518), Leiden 1975, S. 125. 5 Leppin: Omnem Vitam (wie Anm. 4), S. 24. 6 Die Vorrede WA 45, S. 179-187, der Abschnitt darin 45, S. 185,12-186,24/BoA 4, S. 427-428,21. Eine Auswahl der Literatur zu diesem Thema: Bernhard Lohse (Hg.): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Darmstadt 1968 (= Wege der Forschung 123); Bernhard Lohse (Hg): Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 25).

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Deus misericors iustificat per fidem“7. Enthält man sich einer vorschnellen Beantwortung der Frage, ob sich mit dieser Erkenntnis der sogenannte „re­ formatorische Durchbruch“ ereignet habe, dann ist der erste Text, in wel­ chem man diesen Gedanken bei Luther finden kann, das Scholion zu Ps 71,2 der ,Dictata in Psalterium1, also etwa von 1514/15, insbesondere die Stelle, wo Luther erklärt: „Iustitia Dei [...] Tropologice est fides Christi“ folgt Röm 1,17, und im Corollarium 2 dazu: „Iustitia, scilicet qua nos facit [...] Iustos.“8 Der zweite Gedanke lautet „poenitentia vera non est, nisi quae ab amore iusticiae et dei incipit“ und ist enthalten in einem Bericht über seine geist­ liche und theologische Entwicklung, den Luther Staupitz in seinem Brief vom 30. Mai 1518 gibt, welchen er als Begleitschreiben seinen ,Resolutio­ nen1 über die Ablassthesen beifügte9. Der dritte Gedanke, auf den ich hier besonderes Augenmerk richten will, findet sich im Scholion zu Röm 8,16 („Ipse enim spiritus testimo­ nium11) in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 formuliert. Dort erklärt Luther: „testimonium istud sit ipsa fiducia cordis in Deum“10. Diesen Ge­ danken erläutert Luther durch ein längeres Zitat aus der ersten der Pre­ digten Bernhards von Clairvaux über die Verkündigung an Maria. Bern­ hard unternimmt zunächst eine vorläufige Bestimmung dieses Zeugnisses des Heiligen Geistes: „Es ist nämlich als erstes von allem notwendig, dass du glaubst, dass du Vergebung der Sünden nur durch den Nachlass Gottes haben kannst. Dann, dass du gänzlich nichts von einem guten Werk haben kannst, es sei denn, er selbst habe auch dies gegeben. Schließlich, dass du das ewige Leben durch keine Werke verdienen kannst, außer, auch dies wird durch Gnade gegeben.“11 Von dieser Bestimmung sagt Luther mit Bernhards Worten, dass sie noch keineswegs genügt, darum ist, etwa beim ersten Punkt hinzuzufügen, „dass du auch dies glaubst, dass dir die Sünden durch ihn vergeben werden. Das ist das Zeugnis, welches der Heilige Geist in deinem Herzen ausstellt, indem er sagt: ,Dir sind deine Sünden verge7 WA 54, S. 186,7. 8 WA 55/11, S. 427,104f./BoA 5, S. 154,2-4; WA 55/11, S. 440,186/BoA 5, S. 156,22. Dazu Schwarz: Luther (wie Anm. 1), S. 29, bei Anm. 7, im Ganzen S. 28-32. 9 WA 1, S. 525-527, das Zitat dort S. 525,11-12. Dieser Brief ist in dem unter Anm. 4 genannten Aufsatz von Leppin zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht worden. 10 WA 56, S. 369,27/BoA 5, S. 261,1 f. 11 WA 56, S. 370,1-5/BoA 5, S. 261,1-8: „Necesse est enim primo omnium credere, quod remissionem peccatorum habere non possis nisi per indulgentiam Dei. Deinde, quod nihil prorsus habere queas boni operis, nisi et hoc dederit ipse. Postremo, quod qternam vitam nullis potes operibus promereri, nisi gratis detur et illa.“ Damit ist zitiert aus Bernhards von Clairvaux: De Annuntiatione Dominica Sermo Primus. De versu Psal­ mi: Ut inhabitet gloria in terra nostra, 1.3f., in: S. Bernardi Opera, hg. v. Jean Leclercq, H. M. Rochais und C. H. Talbot, Bd. 5, Rom 1968, S. 13,10-13.

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ben? So nämlich urteilt der Apostel, dass der Mensch aus Gnaden durch Glauben gerechtfertigt wird [Röm 3,24.28]?‘12 Es handelt sich bei diesem Gedanken also um das, was man das lutheri­ sche „pro me“ zu nennen pflegt. Ich will ihn hier den Gedanken von der Reflexivität des Glaubens nennen. Es handelt sich darum, dass der Glaube an eine Verheißung einen Rückbezug auf den Glaubenden selbst enthalten muss, nämlich dass der Glaubende diese Verheißung auf sich selbst bezie­ hen, sich selbst unter diejenigen einschließen muss, denen die Verheißung gilt, damit sie sich auch an ihm erfüllt. Auch davon, wie Luther sich diesen Gedanken aneignete, gibt es einen Bericht. Er stammt indes nicht von Luther selbst, sondern von Melanchthon. Es handelt sich um die Vorrede zum zweiten Band der erwähnten Luther-Ausgabe, die 1546, wenige Monate nach Luthers Tod, erschien. Melanchthon hatte die Aufgabe, diese Vorrede zu schreiben, übernommen und erklärt zu ihrem Beginn, dass Luther in einer Autobiographie von sich hatte berichten wollen, der Tod ihn aber daran gehindert hat und nun er, Melanchthon, diese Biographie vortragen wolle, demgemäß, was er von Luther gehört oder was er selbst gesehen hat13. Melanchthon schreibt dort: „Auch erzählte er [Luther], daß er im Augustinerkollegium zu Erfurt oft durch die Reden eines Alten gestärkt worden sei. Als er ihm sein Entsetzen [über den Zorn Gottes] eröffnet habe, hörte er ihn vieles vom Glauben aus­ führen, erzählte auch, wie er von ihm zum Glaubensbekenntnis geführt worden sei, in welchem gesagt wird: ,ich glaube an die Vergebung der Sünden1. Diesen Artikel hatte jener ihm so ausgelegt, daß nicht bloß im allgemeinen zu glauben sei, daß einigen vergeben werde, wie auch die Dä­ monen glauben, daß dem David oder Petrus vergeben werde; sondern das Gebot Gottes sei, daß wir Menschen als einzelne glauben, uns werden die Sünden vergeben. Diese Auslegung werde auch bestätigt, sagt er, durch einen Ausspruch Bernhards, und zeigte ihm die Stelle aus der Predigt über 12 Ebd. S. 14,22-15,2: „ [...] sed adde adhuc ut et hoc credas, quia per ipsum tibi peccata donantur. Haec est testimonium quod perhibet in corde nostro Spiritus sanctus, dicens: Dimissa sunt tibi peccata tua. Sic enim arbitratur Apostolus hominem iustificari gratis per fidem.“ Luther bringt nach „credas“ einen Einschub: „non quod possis tu, Sed necesse est, ut spiritus faciat te hoc credere“ und lässt das „gratis“ aus dem Paulus-Zitat weg; WA 56, S. 370,8-12/BoA 5, S. 261,11-15. Hervorhebungen in der Übersetzung von mir. 13 Praefatio Melanthonis in „Tomum secundum omnium operum Reverendi Domini Martini Lutheri, Doctoris Theologiae“ etc., qui prodiit „Witebergae per Johannem Lufft 1546“ fol., vom 1. Juni 1546; abgedruckt in: PHILIPPI Melanchthonis Opera quae supersunt omnia, hg. von Karl Gottlieb Brettschneider, Bd. 6, Halle 1839 (= Corpus Re­ formatorum) 6, S. 155-170, Nr. 3478; übersetzt in: Martin HÜRLIMANN: Martin Luther, dargestellt von Freunden und Zeitgenossen, Berlin 1933, S. 44-64 sowie in: Melanchthon deutsch, hg. von Michael Beyer, Stefan Rhein und Günther Wartenberg, Bd. 2, Leipzig 1997, S. 169-188.

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die Verkündigung, wo die Worte stehen: ,Und füge hinzu, daß du auch die­ ses glaubest, daß durch ihn [Christus] dir die Sünden vergeben werden. Dies ist das Zeugnis, das der Heilige Geist in deinem Herzen ablegt, wenn er sagt: ,dir sind deine Sünden vergeben1. Denn so urteilt der Apostel, daß der Mensch aus Gnaden gerechtfertigt werde durch den Glauben [Röm 3,24.28].1 Durch dieses Wort, sagte Luther, sei er nicht bloß gestärkt, sondern auch erinnert worden, was die ganze Lehrmeinung des Paulus sei, der so oft das Wort einschärft: ,durch den Glauben werden wir gerecht1. Da er darüber die Auslegung vieler gelesen, so habe er dann, sowohl aus dieses [des Alten] Reden als auch aus der Tröstung seines eigenen Gemüts, die Nichtigkeit der Erklärungen bemerkt, die damals zu Händen waren. All­ mählich, indem er die Aussprüche und Beispiele, die in den Propheten und Aposteln vorgetragen werden, las und verglich, und durch tägliches Gebet den Glauben anfachte, drang mehr Licht ein. Damals fing er auch an, die Bücher Augustins zu lesen, wo er, sowohl in den ,Enarrationes in Psalmos1, als auch in ,De spiritu et littera1, viele klare Sätze fand, die diese Lehre und Tröstung vom Glauben bestätigten, der in seiner Brust entfacht worden war.“14 14 Melanchthonis Opera 6 (wie Anm. 13), S. 159: „Et senis cuiusdam sermonibus in Augustiniano Collegio Erphordiae saepe se confirmatum esse narrabat, cui cum consternationes suas exponeret, audivit eum de fide multa disserentem, seque deductum aiebat ad symbolum, in quo dicitur: credo remissionem peccatorum. Hunc articulum sic ille interpretatus erat, non solum in genere credendum esse, aliquibus remitti, ut et dae­ mones credunt, Davidi aut Petro remitti, sed mandatum Dei esse, ut singuli homines re­ mitti peccata credamus, Et hanc interpretationem confirmatam dicebat Bemardi dicto, monstratumque locum in concione de Annunciatione, ubi haec sunt verba: sed adde, ut credas et hoc, quod per ipsum peccata TIBI donantur. Hoc est testimonium, quod per­ hibet Spiritus sanctus in corde tuo, dicens: dimissa sunt tibi peccata tua. Sic enim arbitra­ tur Apostolus, gratis iustificari hominem per fidem. H c se voce non solum confirmatum esse Lutherus dicebat, sed commonefactum etiam de tota Pauli sententia, qui toties inculcat hoc dictum: fide justificamur. De quo cum multorum expositiones legisset, tunc et ex huius sermonibus et suae mentis con­ solatione animadvertisse interpretationum, quae tunc in manibus erant, vanitatem. Paulatim legenti et conferenti dicta et exempla in Prophetis et Apostolis recitata, et in quoti­ diana invocatione excitanti fidem, plus lucis accessit. Tunc et Augustini libros legere coepit, ubi et in Psalmorum enarratione, et in libro de spiritu et littera, multas perspicuas sententias reperit, quae confirmabant hanc de fide doctrinam et consolationem, quae in ipsius pectore accensa erat.“ Bei dem „Alten“ handelt es sich vielleicht um Johannes von Greffenstein, von dem Luther an anderen Stellen spricht als einem Lehrer, den er früher, wohl in den ersten Jahren seines Mönchtums, hatte. Melanchthons Briefwechsel, hg. von Heinz Scheible, Bd. 4, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983, S. 376, nennt in der Regeste zu Nr. 4277 (Melanchthons Vorrede) Johannes von Greffenstein als diesen alten Mönch. Unter „Grevenstein“ verweist das Register in WA 63 auf WA 6, S. 591,18 (von 1520), wo Luther ihn seinen inzwischen verstorbenen Lehrer nennt, sowie auf WA 30/111, S. 530,25,

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Die drei hier aufgeführten Gedanken befinden sich in einem Zusam­ menhang miteinander, der genau betrachtet werden muss. Dass die wahre Buße mit der Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott anfangen muss, wie der Brief von 1518 sagt, wird für Luther erst dann etwas Süßes und Tröstliches gewesen sein, nachdem er seinen Widerwillen gegen den Begriff „iustitia Dei“ überwunden hatte, von welchem er in seinem Selbstzeugnis von 1545 schreibt15. Die Reflexivität des Glaubens, die in dem Scholion zu Röm 8,16 zum Thema gemacht wird, ist in den Ausführungen der ,Dictata' zu Ps 71,2 schon impliziert. Die Gerechtigkeit Gottes besteht darin, dass er denjenigen gerecht macht, der an Jesus Christus glaubt. Dies geschieht aber in der Erfüllung eines Gebets, in welchem der Gläubige für sich bittet: „Richte mich Herr, das ist: gib mir wahre Demut und Abtötung meines Fleisches, Verdammung meiner selbst, auf dass ich so durch dich im Geis­ te gerettet werde.“16 Es besteht somit auch kein Grund, den Bericht Melanchthons als un­ historisch zu verwerfen, wie dies Otto Scheel getan hat. Er meint, Melanchthon habe damit den Bericht vom reformatorischen Durchbruch, von „der Entdeckung des Evangeliums“17 geben wollen. Hier unterstellt aber wo er - ohne Namensnennung! - den Lehrer rühmt, den er in den ersten Jahren seines Mönchtums hatte. Julius KOstlin: Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften, 5., neubearb. Aufl., nach des Verfassers Tod fortgesetzt von Gustav Kawerau, Bd. 1, Berlin 1903, S. 52, identifiziert diesen ersten Novizenmeister mit dem von Melanchthon er­ wähnten alten Mönch, ohne freilich selbst einen Namen zu nennen. 15 Was des Weiteren das Verhältnis von Rechtfertigungslehre und Bußlehre beim jun­ gen Luther betrifft, vgl. Berndt Hamm: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glau­ ben Luthers, in: Luther-Jahrbuch 65 (1998), S. 19-44, besonders S. 38-41. Man beachte auch die Formulierung in dem Brief an Staupitz: „ut sit poenitentia seu metanea resipis­ centia et post acceptum damnum et cognitum errorem intelligentia sui mali, quod sine mutatione affectus et amoris fieri est impossibile"; WA I, S. 525,26-29. Erst nach der Rechtfertigung durch den Glauben, zu welcher die Annahme der Strafe und die Erkennt­ nis des Irrtums gehört, setzt eine solche Einsicht in das Böse ein, welche den Affekt er­ fasst; dies ist die Einsicht der Buße. 16 BoA 5, S. 154,13-15: „Iudica me Domine, id est da mihi veram humilitatem et car­ nis mee mortificationem, meiipsius damnationem, ut sic per te salver in spiritu." 17 Otto Scheel: Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation. Bd. 2: Im Kloster, 3. u. 4., vollst. neu bearb. Aufl., Tübingen 1930, S. 258-260. Scheel meint, zu­ mindest sei die Verbindung der reflexiven Vergebungsgewissheit mit der paulinischen Glaubensgerechtigkeit von Luther nicht in der Erfurter Zeit gezogen worden, doch schließt Bernhard selbst die Aussage über die Vergebungsgewissheit mit dem Zitat von Röm 3,24. - Vgl. die bei weitem mehr Melanchthons Bericht anerkennenden Überlegun­ gen von Theo Bell: Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 148) [deutsche Übersetzung von: Bernhardus Dixit. Bemardus van Clairvaux in Martin Luthers werken, Delft 1989], S. 30-38; 104. Allerdings steht auch Bell unter dem Bann der Unterstellung, Melanchthon habe hier den Bericht von der „Wiederentdeckung

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Scheel dem Praeceptor Germaniae etwas, was wohl gar nicht dessen Ab­ sicht war. Melanchthon ist sicherlich das Selbstzeugnis Luthers in dem vorausgegangenen Band seiner Schriften bekannt gewesen und man darf annehmen, dass er es nicht hat verdrängen, sondern ergänzen wollen. Es ist weder im Selbstzeugnis von 1545 noch in Melanchthons Luther-Biogra­ phie noch in dem Brief von 1518 die Rede von „der Entdeckung des Evan­ geliums“, sondern lediglich von wichtigen, Luther tröstenden Einsichten in mehrere verschiedene Sachverhalte. Schaut man auf sie gemeinsam, dann entsteht das Bild von dem Werden eines jungen Theologen. Der Melanchthon-Bericht ist dabei mitzuverwenden. Was er besagt, nämlich dass ein al­ ter, erfahrener Mönch einem Novizen in einem Augustinerkloster im Jahre 1505 (oder etwas später) eine Predigt Bernhards von Clairvaux zeigt und ihm Entsprechendes vorträgt, ist nun so unwahrscheinlich wohl nicht. Bei alledem ist zu beherzigen, dass der sogenannte „reformatorische Durch­ bruch“ nicht an einem Punkt einer bestimmten Lehre erfolgte und auch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt. Melanchthon berichtet von einem längeren Prozess des Hörens, des Lesens, der Erfahrung und des Nach­ denkens, der „paulatim“ zum Licht geführt habe. Und auch im Selbstzeug­ nis von 1545 sagt Luther, sein Meditieren habe „Tage und Nächte“ ge­ dauert. Vielmehr muss beobachtet werden, wie ein ganzes Gefüge von Ge­ danken, von mehreren Lehrstücken in Bewegung gerät* 18. Für unser Thema ist nun von Interesse, dass Luther einen wesentlichen Punkt seiner reformatorischen Rechtfertigungslehre, die Notwendigkeit des reflexiven Glaubens, unter ausdrücklicher Berufung auf einen gemeinhin als Mystiker anerkannten Theologen vorträgt. Der junge Luther hat diese Stelle aus Bernhard mehrfach zitiert, mit oder ohne Nennung seines Na­ mens. So nach der Römerbriefvorlesung in der Hebräerbriefvorlesung, in den Scholien zu Hebr 5,1 und zu Hebr 11,619, im ,Sermo de digna praepades Evangeliums“ bieten wollen, doch bringt er selbst genügend Argumente, um die Historizität von Melanchthons Bericht zu stützen. 18 Zu bedenken ist hier auch die These von Reinhard Schwarz, die „Fortentwicklung von Luthers Theologie geschah innerhalb eines religiösen Erfahrungsprozesses und kann deshalb nicht einfach aus dem neuen Verständnis von iustitia Dei heraus konstruiert wer­ den“; vgl. Schwarz: Luther (wie Anm. 1), S. 32. 19 Pro hominibus constituitur, WA 57/III, S. 169-171/Luthers Vorlesung über den Hebräerbrief nach der Vatikanischen Handschrift, hg. von Emanuel Hirsch und Hanns Rückert, Berlin und Leipzig 1929 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 13), S. 172-174. Credere enim oportet accedentem ad deum, WA 57/III, S. 232,26-233,19/Luthers Vor­ lesung über den Hebräerbrief, S. 268,9-270,10. Im Scholion zu Hebr 9,24 zitiert Luther eine andere Predigt Bernhards, die er irrtümlich den Hoheliedpredigten zurechnet. Es handelt sich dabei aber um den ,Sermo V in Quadragesima de triplici modo orandi', auch genannt ,De luctu carnis ac diaboli adversus spiritum hominis et utilitate orationis*, Inc. Caritas, qua pro nobis, Abschnitt 4L, in: S. Bemardi Opera 4 (wie Anm. 11), S. 374,8375,4. Dort geht es um den verwandten Gedanken der Gewissheit der Gebetserhörung.

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ratione cordis pro suscipiendo eucharistiae sacramento*20 und im ,Sermo de poenitentia*21 von 1518, vor allem aber die Resolutio 7 zu den Ablass­ thesen aus demselben Jahr22, schließlich im Kleinen Galaterkommentar von 151923. Die Resolutio 7 aber war es, gemeinsam mit derjenigen zu These 58, in welcher Kardinal Cajetan bei dem Augsburger Verhör im Oktober 1518 einen Irrtum Luthers zu erkennen behauptete und von ihm Widerruf ver­ langte24. Es war gerade die Aussage, „necessariam esse fidem accessuro ad sacramentum aut in iudicium accessurum.“25, an welcher Cajetan Anstoß nahm. Diesen Punkt beurteilte Luther selbst nun als den wichtigsten26. In der schriftlichen Erklärung, die er dem Kardinal überreichte, nennt er am Schluss einer Reihe von Argumenten auch die bewusste Stelle in Bern­ hards Verkündigungspredigt27. 20 WA 1, S. 331,6-8. 21 WA 1, S. 323,23-37. Die Erwähnung Bernhards im vorausgehenden Abschnitt Zeile 15-22 bezieht sich hingegen auf einen anderen Gedanken. 22 Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, in: WA 1, S. 539-545. Un­ mittelbar relevant ist die Passage S. 543,14-30. 23 WA 2, S. 458,20-34, in der Auslegung von Gal 1,4. 24 Cajetan hatte diese Ablehnung Luthers schon formuliert und begründet in einem der Traktate, die er zur Vorbereitung des Augsburger Verhörs schrieb: ,Quaestio X, De fide ad fructuosam absolutionem necessaria*, vom 26. September 1518, ediert von Charles Morerod (Hg.): Cajetan et Luther en 1518. Edition, traduction et commentaire des opuscules d’Augsbourg, Bd. 1, Fribourg 1994 (= Cahiers CEucumeniques 26), S. 318339. 25 Acta Augustana, WA 2, S. 7,36. 26 WA 2, S. 18,7-17. Vgl. den Brief an Karlstadt vom 14. Oktober 1518, WA.B 1, S. 217,60-62, Nr. 100: „Aber ich will nicht zu einem Ketzer werden mit dem Wider­ spruch der Meinung, durch welchen ich bin zu einem Christen worden [...]“. Ist für die Bestimmung des reformatorischen Durchbruchs die Frage zu klären „nach dem wesenhaft Reformatorischen und dem wesenhaft Katholischen“ (Bernhard Lohse: Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, 3., vollständig überarb. Aufl., München 1997, S. 172), dann fällt diesem Punkt besonderes Gewicht zu. Cajetans Ablehnung der Notwendigkeit des reflexiven Glaubens für den Empfang der Gnade wurde übernommen in der Bannandrohungsbulle Leos X., ,Exsurge Domine*, These 11, und in Kap. 9 sowie Kanones 12-14 des Rechtfertigungsdekrets des Konzils von Trient (1547); vgl. Kompen­ dium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von Heinrich Denzinger und von Peter Hünermann unter Mitarbeit von Helmut Hoping verb., erw. und ins Dt. übertr. [lat.-dt.], 37. Aufl., Freiburg u.a. 1991, Nr. 1461; 1533T; 1562-1564. Zu erwägen ist dazu die These von Dorothea Wendebourg: „Das, was die Reformation zur .Reformation* machte, war das Urteil der Gegenreformation.“, vgl. Dorothea Wende­ bourg: Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: Berndt Hamm, Bernd Moeller und Dorothea Wendebourg: Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995, S. 34. 27 Acta Augustana, WA 2, S. 13-16, die Berufung auf Bernhard ebd. S. 15,35-16,3. Theo Bell hat die meisten der Stellen besprochen, an denen Luther auf diese Passage bei

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Man hat die Begegnung zwischen Luther und Cajetan in Augsburg eine verfehlte Begegnung genannt, in welcher neuzeitliches Bewusstsein und mittelalterlicher Geist verständnislos aufeinander getroffen seien* 28. Ohne auszuschließen, dass mit Luther sich auch etwas von einem bestimmten neuzeitlichen Bewusstsein zeigt, ist indes zu sagen, dass hier zwei bereits existierende Traditionen aufeinander gestoßen sind, ohne zu einer Ver­ mittlung zu finden. Luther war sich nicht bewusst, etwas Neues zu vertre­ ten. Er war von der schroffen Kritik Cajetans an diesem Punkt überrascht und konsterniert. Nichts, berichtet er, habe er weniger befürchtet29. Im weiteren Fortgang der Diskussion empfand Luther nicht nur den Gegensatz der Aussagen Cajetans zu den seinigen, sondern auch dessen andere Art, Theologie zu treiben. Sie war, nach seinem Urteil, nicht einem offenen Hören auf die Heilige Schrift entsprungen. Wenn Cajetan versuchte, mit der Bibel zu argumentieren, so Luther, vergewaltigte er sie. Diese Ver­ stellung des Zugangs zur Schrift war indes, wie Luther wahrnahm, nicht erst Cajetans persönlicher Makel. Sie stammte vielmehr aus einer Tradi­ tion: aus der Tradition der römischen Kurie und der Scholastik30. Die Tradition hingegen, der sich Luther verbunden fühlte, stammte aus der Bernhard verweist, vgl. BELL: Divus Bemhardus (wie Anm. 17), S. 91-108. Des Weite­ ren: Carl Stange: Bernhard von Clairvaux, Berlin 1954 (= Studien der Luther-Akade­ mie. Neue Folge 3), S. 6-8; Erich Kleineidam: Ursprung und Gegenstand der Theologie bei Bernhard von Clairvaux und Martin Luther, in: Wilhelm Emst, Konrad Feiereis und Fritz Hoffmann (Hg.): Dienst der Vermittlung. Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des philosophisch-theologischen Studiums im Priesterseminar Erfurt, Leipzig 1977 (= Erfur­ ter Theologische Studien 37), S. 221-247, zur Behandlung der Bernhard-Stelle bei Luther: S. 235-241; Peter Manns: Zum Gespräch zwischen M. Luther und der katholi­ schen Theologie. Begegnung zwischen patristisch-monastischer und reformatorischer Theologie an der Scholastik vorbei, in: Tuomo Mannermaa, Anja Ghiselli und Simo Peura (Hg.): Thesaurus Lutheri. Auf der Suche nach neuen Paradigmen in der LutherForschung. Referate des Luther-Symposions in Finnland 11.-12. November 1986, Hel­ sinki 1987 (= Veröffentlichungen der Finnischen Theologischen Literaturgesellschaft 153 in Zusammenarbeit mit der Luther-Agricola-Gesellschaft Schrift A 24), S. 63-154; Bernhard Lohse: Luther und Bernhard von Clairvaux, in: Kaspar Elm(Hg.): Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994 (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), S. 276-278 und 290-291. 28 Otto Hermann Pesch: „Das heißt eine neue Kirche bauen.“ Luther und Cajetan in Augsburg, in: Max Seckler u.a. (Hg.): Begegnung. Beiträge zu einer Hermeneutik des theologischen Gesprächs, Festschrift für Heinrich Fries, Graz 1972, S. 645-661: hier S. 649. 29 Acta Augustana, WA 2, S. 8,16-18. 30 Ebd. S. 16,21-17,20. Vgl. die Bemerkung aus dem gleichzeitigen Brief an Karlstadt über Cajetan: „Er ist vielleicht ein namhaftiger Thomist, aber ein undeutlicher, unver­ ständlicher Theologus oder Christ, und derhalb diese Sach zu richten, erkennen und ur­ teilen eben so geschickt als ein Esel zu der Harfen.“ WA.Br 1, S. 216,39-41, Brief Nr. 100, vom 14. Oktober 1518.

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monastischen Theologie, wie sie vor allem durch Bernhard geprägt worden war31. Quelle der monastischen Theologie ist in erster Linie die Heilige Schrift, mehr noch: sie drückt sich aus, indem sie die Bibel zitiert, paraphrasiert und auslegt. Das Unbehagen, das Luther gegen Cajetans Versu­ che in der Schriftauslegung empfand, wird letztlich darauf zurückzuführen sein, dass für ihn die Auslegung der Heiligen Schrift und nicht die Kom­ mentierung der Sentenzen des Lombardus oder - wie bei Cajetan - die der Summe des Thomas von Aquin - das wesentliche Geschäft des Theologen ausmachte32. Schon in seinem Brief an Johannes Braun vom 17. März 1509 drückt Luther seine Abneigung aus gegen eine Theologie, die, wie die scholastische, von der Philosophie dominiert ist, und seine Präferenz für eine Theologie, welche den Kern der Nuss, das Mark des Weizens, das Mark der Knochen erforscht33. So konzentriert sich die monastische Theologie auf das Herz des Christentums: auf das Mysterium des Heils, auf die Beziehung zwischen dem Menschen und Gott und auf ihre Vereini­ gung34. Dies letztere ist der Grund dafür, weshalb die Theologie Bernhards auch „mystisch“ genannt worden ist. Bernhard war nicht der einzige Vertreter dieses Typs von Theologie, der für den jungen Luther wichtig geworden ist. Hinzu kamen Johannes Tau­ ler, Johannes Gerson, auch Bonaventura und Dionysius Areopagita. All diese Autoren gehörten zu der geistlichen Lektüre eines ernsthaften Mönchs in dieser Zeit35. Schließlich muß der Traktat ,Theologia Deutsch1 genannt werden, den Luther selbst zuerst in Auszügen 1516, dann in einer 31 Jean Leclercq: Saint Bernard et la theologie monastique du XIIe siecle, in: Saint Bernard theologien. Actes du Congres de Dijon, 15-19 Septembre 1953, Rom 1953 (= Analecta Sacri Ordinis Cisterciensis IX/2), S. 7-23: hier S. 10-16, sowie ders.: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963 (dt. Übers, von: L’amour des lettres et le desir de Dieu, Paris 1957), S. 83-102. - Ein Beispiel, wie monastische und scholastische Theologie in der Vergangenheit sich verein­ baren ließen, bietet Bonaventura, vgl. Sven Grosse: Der Richter als Erbarmer. Ein eschatologisches Motiv bei Bernhard von Clairvaux, im Dies irae und bei Bonaventura, in: Theologische Quartalschrift 185 (2005), S. 52-73, besonders S. 66-69. 32 Zur Bibel als Hauptquelle der monastischen Theologie vgl. LECLERCQ: Saint Ber­ nard et la theologie monastique (wie Anm. 31), S. 10, sowie ders., Wissenschaft und Gottverlangen (wie Anm. 31), S. 83-102. 33 WA.Br 1, S. 17,40-45, Nr.5; vgl. Gerhard Ebeling: Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, S. 79-81. 34 Leclercq: Saint Bernard et la theologie monastique (wie Anm. 31), S. 13-14; vgl. die Charakterisierung von Kleineidam: Ursprung und Gegenstand (wie Anm. 27), in Bezug auf Bernhard S. 225-235, in Bezug auf Luther und zusammenfassend S. 241-247. 35 Karlfried Froehlich: Pseudo-Dionysius and the Reformation of the Sixteenth Century, in: Pseudo-Dionysius. The Complete Works, übers, und hg. von Colm Luibheid u. a„ New York 1987 (= The Classics of Western Spirituality), S. 41-43: hier S. 41: „Along with Bernhard of Clairvaux, Bonaventure, and more recent authors as John Tauler and Jean Gerson, Dionysius belonged to a serious monk’s spiritual diet.“

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vollständigen Fassung 1518 als erster zu Druck gebracht hat. Er ist noch im 14. Jahrhundert von einem unbekannten Deutschordensherrn in der Niederlassung seines Ordens in Sachsenhausen bei Frankfurt am Main ver­ fasst worden, der darum der „Franckforter“ genannt worden ist36, ln der Vorrede zu der Ausgabe von 1518 sagt Luther ausdrücklich, dass man an diesem Werk sehen kann, dass die Theologie der Wittenberger - also auch die seine - nicht, wie ihre Feinde verbreiten, etwas Neues sei. Nur sei an den Universitäten lange Zeit solches nicht verhandelt worden und die Bibel im Staube gelegen. Luther weist also seine Übereinstimmung mit einer durch die Bibel bestimmten Tradition nach, für welche die ,Theologia Deutsch1 ein Repräsentant ist37. Genau auf diese Zusammenstellung von Theologen bzw. ihren einschlä­ gigen Schriften kam bereits Erich Vogelsang, als er sich mit dem Thema ,Luther und die Mystik1 beschäftigte38. Es ist bekannt, dass sich Luther in seiner Frühzeit mit all diesen Theologen auseinandergesetzt hat39. Man kann diese Theologen auch der ,Frömmigkeitstheologie1 des späten Mittel­ alters zurechnen, bzw. handelte es sich um Theologen, die dieser für vor­ bildlich erklärt und mit Vorliebe rezipiert worden sind. Johannes Gerson war der einflussreichste Theologe dieser Art von Theologie, die eine Ver­ mittlung von Schultheologie und Frömmigkeit erstrebte40. Wenn wir uns also umfassender mit dem Verhältnis Luthers zur Mystik befassen, haben wir nicht nur mit Bernhard alleine zu tun, sondern mit die­ ser ganzen Gruppe, die Luther, unbeschadet der Unterschiede zwischen ihnen, als Vertreter eines gemeinsamen Typus von Theologie auffasste. Es genügt nun auch nicht, Luthers Theologie an diesem einen wichtigen Punkt, der Reflexivität des Glaubens, für mystisch zu erklären, nur weil er hier mit Bernhard übereinstimmt. Vielmehr muss in einem nächsten Schritt gezeigt werden, in welchem Zusammenhang der besagte Gedanke bei Bernhard und den anderen genannten mystischen Theologen steht. In ei36 Alois Haas: Einleitung in: ,Der Franckforter1, Theologia Deutsch. In neuhoch­ deutscher Übersetzung hg. und mit einer Einleitung versehen von Alois M. Haas, Ein­ siedeln 1980 (= Christliche Meister 7), S. 13-14. 37 WA 1, S. 378,12-379,7. 38 Vogelsano: Luther und die Mystik (wie Anm. 1), S. 32-43. Allerdings erweist sich Vogelsangs Unterteilung in areopagitische, romanische und deutsche Mystik als wenig zweckmäßig. Die Zusammenhänge sind, wie man sehen wird, zu stark. 39 Nachweise ebd. sowie bei Schwarz: Luther (wie Anm. 1). 40 Siehe Berndt Hamm: Frömmigkeit als Gegenstand theologiegeschichtlicher For­ schung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 74 (1977), S. 464-497: hier ab S. 479. Für diese Frömmigkeitstheologie war die monastische Theologie Bernhards von Clair­ vaux und des Bonaventura vorbildlich, vgl. ebd. S. 480f. und 485. Desgleichen wurde von ihr Tauler und Seuse rezipiert, vgl. ebd. S. 485. Auf Dionysius Areopagita berufen sich ausdrücklich immer wieder Tauler, die ,Theologia Deutsch1 und Gerson. - In diesem Bereich der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie ist auch Luther zu sehen.

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nem dritten Schritt kann dann gesehen werden, wie sich Luthers Theologie zu diesem Zusammenhang einer mystischen Theologie verhält.

2. Eckpunkte der mystischen Theologie 2.1 Die Konzentration auf das Ich Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Passage in Bernhards erster Verkündigungspredigt, die Luther mehrmals zitiert. Gewissheit hat das Zeugnis des menschlichen Gewissens (1. Kor 1,12) nur dann, wenn es zu­ gleich Zeugnis des Heiligen Geistes (Röm 8,16) ist. Dann hat es auch erst Wahrheit und Gewissheit. Dieses Zeugnis erlangt der Mensch, indem er glaubt. Dieser Glaube ist aber nicht hinreichend bestimmt, wenn er nur etwas von Gott glaubt - etwa, dass durch ihn allein die Sünden getilgt wer­ den können. Es muss vielmehr mitgeglaubt werden, dass dem Glaubenden selbst die Sünden verziehen werden. Gegenstand des Glaubens muss also die vollständige Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen sein: sowohl Gott als auch der Gläubige selbst sind darin enthalten. Diese Konzentration auf das einzelne Ich steht keineswegs isoliert bei Bernhard. Das zeigt sich bereits daran, welcher Auslegung des Hoheliedes er sich vor allem zuwandte, jenes biblischen Buches, auf welches sich die monastische Theologie am stärksten konzentrierte41 und in dessen Ausle­ gung Bernhard seine mystische Theologie am umfassendsten entfaltet. Durch seine Lektüre wird die höchste Stufe, die eines heiligen kontempla­ tiven Gesprächs, erreicht42. Bernhard entscheidet sich in seinen Hohelied­ predigten nicht für die ekklesiologische oder die mariologische, sondern für die mystische Auslegung. Die Braut, die dieses Gespräch mit dem Bräutigam führt, ist die einzelne Seele selbst: die Braut, „so ich es wagen darf zu sagen, sind wir.“43 Diese Auslegung kann indes hinübergeführt werden in die ekklesiologische Auslegung, wonach die Kirche die Braut ist, und umgekehrt: „Denn das wird nicht so auf die Kirche bezogen, als ob nicht wir einzelnen, die wir zugleich Kirche sind, an diesen ihren Selig­ preisungen Anteil haben dürfen.“44 Mit dem Wort ,Kirche1 wird lediglich die Einheit vieler Seelen, vielmehr ihre Einmütigkeit, ihre unanimitas, be­

41 Leclercq: Wissenschaft (wie Anm. 31), S. 99. 42 Bernhard: Sermones super Cantica Canticorum 1, 1,3, in: S. Bemardi Opera 1 (wie Anm. 11), S. 4,9: „acceditur ad hunc sacrum theoricumque sermonem“. 43 Ebd. 68, 1,1, in: S. Bernardi Opera 2 (wie Anm. 11), S. 196,21-22: „illa, si audeo dicere, nos sumus“. 44 Ebd. 57, 11,3, S. 120,24-121,2: „Non enim sic ista de ecclesia referuntur, ut non singuli nos qui simul ecclesia sumus, participare his eius benedictionibus debeamus.“

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zeichnet.“45 Die Kirche ist also konstituiert durch eine Vielzahl von Ichs, von denen jedes das, was der Bräutigam der Kirche ihr zuspricht, auf sich selber beziehen darf und soll. Einmütigkeit der Seelen in der Kirche und Ichhaftigkeit der Kirche entsprechen einander. Wenn der einzelne Gläubige sich selbst sich objekthaft vorstellt, spricht Bernhard meist von der christlichen Seele. Zum Wesen der Seele gehört aber, dass sie sich auf sich selbst zurückbeziehen kann. Soll die Seele nun Gott erkennen, dann muss sie damit die Erkenntnis ihrer selbst verbinden. Denn in der doppelten Erkenntnis sowohl Gottes als auch seiner selbst be­ steht der Inbegriff des Heils, die summa salutis^6. Die Erkenntnis seiner selbst ist dabei selbst eine doppelte: sie ist die demütigende Erkenntnis, in welcher der Mensch erkennt, dass er Sünder ist, und sie ist zugleich die Hoffnung spendende Erkenntnis, in welcher er erkennt, dass Gott sich um ihn selbst kümmert: „Deum pro se sollicitum videt.“47 Die Reflexivität des Glaubens ist mithin heilsnotwendig. Die gleiche Thematik der Selbsterkenntnis finden wir bei Tauler vor48. Er berührt den Gedanken, dass es im Wesen der menschlichen Natur liegt, sich auf sich selbst zurückzubeziehen49, und streicht vor allem heraus, dass es gerade unsere „ichtikeit“ ist, welche Gott hindert, an uns zu handeln50. 45 Ebd. 61, 1,2, S. 149,16f.: „et cum ipsos cogitantes amantes [...] Verbum [divinum] et animam sentiatis oportet. Et si Christum et Ecclesiam dixero, idem est, nisi quod Ecclesiae nomine non una anima, sed multarum unitas vel potius unamitas designatur.” Vgl. Friedrich Ohly: Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hohelied­ auslegung des Abendlandes bis um 1200, Wiesbaden 1958 (= Schriften der Wissen­ schaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Geisteswissenschaftliche Reihe 1), S. 147. 46 Bernhard: Sermones super Cantica Canticorum 37, 1,2, in: S. Bernardi Opera 2 (wie Anm. 11), S. 9,24f. Vgl. vorausgehend 1,1, ebd., S. 9,6-22. Zu diesem ganzen Zu­ sammenhang vgl. Kleineidam: Ursprung und Gegenstand (wie Anm. 27), S. 225-235. Kleineidam verweist dabei auf Augustin als Vorbild dieser Ausführungen Bernhards, S. 233-235. Man kann zu den von Kleineidam angeführten Augustin-Stellen noch die ganz grundsätzliche in den Soliloquia, I, 11,7 hinzufügen: „Quid ergo scire vis? [...] Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino.“ Sancti Aureli Augustini Opera, Sect. I, Pars IV, hg. von Wolfgang Hörman, Wien 1986 (= Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 89), S. 11,12-17. 47 Bernhard: In Dedicatione Ecclesiae Sermo 5, 5, in: S. Bernardi Opera 5 (wie Anm. 11), S. 391,19, im Kontext ebd. S. 391,10-20. Vgl. In Ascensione Domini Sermo 4, 2, ebd. S. 138,16f.: Alles, was Christus getan hat, ist um unseretwillen geschehen. 48 Alois Haas: Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Freiburg/Schweiz 1971 (= Dokimion 4), S. 76-153 zu Tauler. 49 Die Predigten Taulers, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (= Deutsche Texte des Mittelalters 11), S. 30,22f., Nr. 7; vgl. Haas: Nim din selbes war (wie Anm. 48), S. 130. 50 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 205,1 lf., Nr. 46; vgl. Haas: Nim din sel­ bes war (wie Anm. 48), S. 130f.

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In subtiler Differenziertheit hat dies Heinrich Seuse ausgeführt, darum sei sein Gedankengang hier eigens dargestellt. Er sagt, Sohn in Christus könne nur werden, wer sich selbst lässt, und erklärt dann, was mit diesem „sich“ gemeint ist. Es gibt ein fünffaches „Sich“: Erstens das bloße Sein, das der Mensch mit einem Stein gemeinsam hat, zweitens das Wachsen, also die vegetabile Seele, die er mit einer Pflanze gemeinsam hat, drittens das Empfinden, die anima sensitiva, die auch Tiere haben, viertens die allge­ meine menschliche Natur, was ihn mit allen Menschen verbindet, fünftens sein persönliches Ich. In diesem besteht sowohl der Adel als auch die „Zu­ fälligkeit“, das Eben-so-und-nicht-anders-Sein des Menschen. Es ist die Rückbezüglichkeit des Menschen, in welcher er nicht mehr sich mit etwas identifiziert, was er mit anderen Wesen gemeinsam hat, sondern nur noch mit sich selbst. Was den Menschen der Seligkeit beraubt, ist allein dieses fünfte „Sich“, wenn der Mensch sich nämlich in ihm von Gott abwendet und sich auf sich selbst hinwendet. Die Fähigkeit zur Reflexivität wird dem Menschen zum Verhängnis, wenn er sich selbst zuschreibt, was Gottes ist und an sich selbst hängen bleibt. Eben darum ist es notwendig, dass das Ich sich selbst lässt und ein christusförmiges Ich wird51. In der deutschsprachigen Mystik des 14. Jahrhunderts ist es nun gerade die ,Theologia Deutsch1, in welcher die Abwendung von der Eigenliebe ein durchgehendes Thema ist. Denn wenn „die Kreatur sich etwas Gutes zumißt wie Sein, Leben, Wissen, Erkennen, Können, kurz all das, was man gut nennen muß, so als ob sie das sei oder es ihr eigen sei oder ihr zuge­ höre, so wendet sie sich [von Gott] ab. Was tat der Teufel anderes [...] Diese Anmaßung und sein ,Ich‘ und sein ,Mich‘ und sein ,Mir‘ und sein ,Mein‘, das war seine Abkehr und sein Fall."52 Der Mensch wird wiederge­ 51 Heinrich Seuse: Das Buch der Wahrheit/Daz büchli der warheit, kritisch hg. von Loris Sturlese/Rüdiger Blumrich, mit einer Einleitung von Loris Sturlese, übersetzt von Rüdiger Blumrich, mittelhochdeutsch-deutsch, Hamburg 1993, Kap. V, S. 14-22,49-94. Dazu Haas: Nim din selbes war (wie Anm. 48), S. 162f. 52 Theologia Deutsch, Kap. 2, in der Übersetzung von Alois Haas (wie Anm. 36), S. 4L Sie hält sich an die Rekonstruktion des Urtextes in der Ausgabe .Der Franckforter' (.Theologia Deutsch1), Kritische Textausgabe von Wolfgang von Hinten, Mün­ chen/Zürich 1982 (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 78), dort S. 73,5-11: „Wan die creatur sich an nympt etwas guts als weßens, lebens, wissens, bekenns, vormugens vnd kurtzlich alles des, das man gut nennen sal, das sie das sey ader das eß yr sey ader yr czu gehöre ader von yr sey, ßo keret sie sich abe. Was thet der teufel anders [...] Diß annemen vnd seyne ich vnd sein mich vnd seyn mir und seyne myne, das was seyne abkeren vnd syn fal.“ In der Text-Version von Luthers vollständiger Edition von 1518, die von Hermann Mandel 1908 wieder herausgegeben wurde, heißt es: „wenn die creatur sich an nympt etwas gutz alß Wesens, lebens, beken­ nens, vermugens unnd kurtzlich alles des, das man gut nennen soll, das sie das sey oder das es yr sey, ßo kert sie sich ab. Was tett der teufel anders [...] Diß annemen und seyn

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bracht und gebessert dadurch, dass Gott Mensch wird und der Mensch infolgedessen vergottet. Bei diesem Prozess darf der Mensch nichts tun, sondern nur erleiden. Ansonsten würde er wieder sein „Ich“ ins Spiel brin­ gen und Gott hindern53. Andererseits kommt es gerade darauf an, daß Gott in mir sich vermenscht und ich selber in ihm vergottet werde54. Das Ich selbst ist also der Punkt, an dem sich Heil und Unheil des Men­ schen entscheiden. Darum formuliert die Zusammenfassung des 9. Kapi­ tels: „Wie es dem Menschen nützlicher und besser sei, daß er wahmehme, was Gott mit ihm wirken oder wozu Gott ihn gebrauchen wolle, als daß er wisse, was Gott mit allen Kreaturen je gewirkt habe oder noch wirken wolle [,..].“55 Es nützt dem Menschen nichts, wenn er nur allgemein an das Wirken der Gnade glaubt. Er muss vor allen Dingen auf das achten, was Gott an ihm selbst tun will, und sein Ich dem Gnadenwirken Gottes unter­ stellen56. ich und seyn mich und seyn myr und seyn mein, das was seyn abkeren unnd seyn vall.“ Theologia Deutsch, hg. von Hermann Mandel, Leipzig 1908 (= Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus 7) Kap. la, S. 10,8-11,2. Vgl. Georg Baring: Bibliogra­ phie der Ausgaben der .Theologia Deutsch1 (1516-1961). Ein Beitrag zur Lutherbiblio­ graphie. Mit Faksimileabdruck der Erstausgabe und 32 Abbildungen, Baden-Baden 1963 (= Bibliotheca Aureliana 8), S. 138, Nr. 158, zur Ausgabe Mandels. Die Selbstheit des Menschen als Inbegriff seiner Sünde ist ein durchgehendes Thema in der Theologia Deutsch, vgl. u.a. Kap. 1, Mandel, S. 9,4-14; Kap. 16, von Hinten, S. 92,46-48/Kap. 14, Mandel, S. 35,4f. 53 Theologia Deutsch, Kap. 3, Mandel (wie Anm. 52), S. 12,1-8. 54 Ebd., Mandel (wie Anm. 52), S. 11,20-29. 55 Theologia Deutsch, Haas (wie Anm. 36), S. 8; 50/ von Hinten (wie Anm. 52), S. 68; 80: „Wie das dem menschen nutzer vnd besser sey, das er war neme, was got mit ym wircken wolle, adder wor czu en got nutzen will, denne ab er wüste, was got mit allen creaturen ye gewurcht hat adder ymmer wircken will, [...]“. Mandel (wie Anm. 52), S. 3: „Wie dem menschen nutzer und pesser sey, das er war nem, was got mit ym wircken wolle oder war zu yn got nutzen woll, denn ob er weßte, waz gott mit allen creaturen ye gewurcket hatt oder ymer wurcken will, [...]“. Die .Brombacher Handschrift1, eine der Überlieferungen der .Theologia Deutsch1, bringt zu diesen Ausführungen des Kap. 9 den Grundsatz: „Denn sich selber eigentlich erkennen in der Wahrheit, das ist über alle Wis­ senschaft, denn es ist die höchste Wissenschaft.“ Sie fahrt fort: „Denn man sagt, es sei eine Stimme vom Himmel gekommen: .Mensch, erkenne dich selbst.“1 Haas (wie Anm. 36), S. 51/von Hinten (wie Anm. 52), S. 81, Apparat zu Z. 10: „Wan wer sich selber eygentlich wol erkennet yn der warheit Daß ist vber alle kunst Wan eß ist dy höchste kunste [...] Wan man spricht eß sey eyn stymm von dem hymel körnen Mensche erkenne dich selber.“ Vgl. Alois M. Haas: Et descendit de caelo gnwqi seauton (Juvenal, Satir. XI, 27). Dauer und Wandel eines mystologischen Motivs, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 108 (1979), S. 71-96. 56 Das Kapitel selbst beginnt mit dem Satz: „Man soll es beachten und in ganzer Wahrheit wissen, daß alle Tugend und Güte und gar das Gute, das Gott selber ist, den Menschen nimmer tugendsam, gut oder selig machen, solange das außerhalb der Seele geschieht.“ Haas (wie Anm. 36)/von Hinten (wie Anm. 52), S. 80,29-81,1: „Man sal

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2.2 Die Sündhaftigkeit des Menschen und die Neigung zum Nichts

Wir haben bislang von einem Abschnitt in Bernhards Verkündigungspre­ digt abgesehen, die Luther in seinen Zitaten übersprungen hat. Er geht gleich von der vorläufigen zu der hinreichenden Bestimmung des Glaubens über. Bernhard bringt dazwischen noch einen Exkurs, in dem er erklärt, warum der Mensch überhaupt auf Gott angewiesen ist, wenn es um die Vergebung der Sünden, um die Verdienstlichkeit seiner Werke und um das ewige Leben geht57. Was die Vergebung der Sünden betrifft, zitiert Bern­ hard Hi 14,4: „Wer kann den rein machen, der aus unreinem Samen emp­ fangen ist, wenn nicht der, der alleine rein ist.“58 Bernhard beruft sich also auf ein Ereignis in der Heilsgeschichte, den Sündenfall. Aus diesem Grun­ de ist der gefallene Mensch von sich aus auch nicht zu Verdiensten fähig. Bernhard nennt aber nun noch einen zweiten Grund dafür: „Es ist gewiss, dass alle Dinge von sich aus ihrem Ursprung zustreben und immer zu dieser Seite hin geneigt sind. So ist es auch mit uns: Weil wir aus nichts geschaffen sind, neigen wir, wenn wir uns selbst überlassen sind, immer der Sünde zu, die nichts ist.“59 Hier hat das, was Bernhard Sünde nennt, schon deswegen Macht über den Menschen, weil er aus Nichts geschaffen, also weil er Kreatur ist. Unter-der-Sünde-Sein ist also verknüpft mit Geschaffen-Sein als solchem. Der Mensch ist, weil er geschaffen ist, also, weil er nicht Gott ist, von dieser Tendenz zu dem Nichts, d.h. zur Sünde,

mercken vnd wissen yn gantzer warheit, das alle togent vnd güte vnd ioch das gute, das got selber ist, machen den menschen nymmer tugentsam, gut ader selig, die weile es ußwendig der sele ist.“ Mandel (wie Anm. 52), S. 19,11-14: „Man sol mercken und wis­ sen yn gantzer warheyt, das alle tugent und gut und auch das gut, das gott selber ist, machent den menschen und die seel nymer tugentsam, gut oder selig, die weil es außwendig der seel ist.“ In der sehr wahrscheinlich auf Luther zurückgehenden gedruckten Rand­ bemerkung in der Wittenberger Ausgabe von 1520 heißt es dazu: „Gerechtigkeyt muß in uns sein weßentlich durch genade.“ WA 59, S. 7,23, dazu das Vorwort von Martin Brecht, ebd. S. 1-3. Die Glosse konkretisiert also die Aussage der .Theologia Deutsch' auf das Thema der Gnade und der Rechtfertigung. 57 Bernhard: In Annuntiatione Dominica Sermo 1, lf., in: S. Bernardi Opera 5 (wie Anm. 11), S. 13,14-14,18. 58 Ebd. S. 13,14f. Diese Stelle war bei den lateinischen christlichen Schriftstellern der wichtigste Schriftbeweis für die Allgemeinheit der Sünde, vgl. Johann Baptist Bauer, in: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lateinisch/deutsch, hg. von Gerhard Winkler in Verbindung mit Alberich Altermatt, Denis Farkasfalvy und Polykarp Zakar, Bd. 8, Innsbruck 1997, S. 969, Anm. 27 zu S. 97. 59 S. Bernardi Opera 5 (wie Anm. 11), S. 14,4-7: „Certum est ad suam originem uni­ versa, quantum in eis est, tendere, et in eam semper esse partem procliviora. Sic et nos, quia de nihilo creati sumus, constat quia si nobis ipsis relinquimur, in peccatum semper, quod nihil est, declinamus.“

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bedroht60. Beide Betrachtungen, jene heilsgeschichtliche und diese, die man eine ontologische nennen kann, dienen dazu, den Menschen demütig zu machen und dazu anzuhalten, alles für sich selbst von Gott zu erwarten und sich seiner Verheißung zu unterstellen. Diese doppelte Betrachtung vollzieht auch Johannes Tauler. Als Grund zur Demut nennt er zweierlei. Erstens: „So wie wir aus dem Nichts gekom­ men sind, kehren wir wieder dahin zurück.“ Als zweiten Grund zur Demut nennt er unsere Neigung zur Sünde61. Die ,Theologia Deutsch4 erklärt die Nichtigkeit des Geschöpfes ontologisch so, dass das „Vollkommene“ allein das Wesen ist, „das in sich und in seinem Sein alles einbegriffen und be­ schlossen hält, und ohne das und außerhalb dessen kein wahres Sein ist [...]“62. Sobald also ein Sein aus diesem Vollkommenen, aus Gott, heraus­ tritt, also ein Geschöpf wird, ist es nur in einem äußerst uneigentlichen Sinne ein Sein und dem Nichts preisgegeben63. Andererseits wird der Sün60 Gerhard Winkler, in: Bernhard: Werke (wie Anm. 58), S. 969, Anm. 28 zu S. 99, bezieht Bernhards Aussage auf das platonische Motiv der Rückkehr des Geschöpfes zu seinem Ursprung. Damit wird verkannt, dass Bernhard hier genau das Gegenteil aus­ spricht: Er redet an dieser Stelle nicht von der Rückkehr zu Gott, sondern von dem Zu­ rückfallen ins Nichts. 61 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 322,19-31, Nr. 60h, Zitat 24-25: „also wir sint kummen von nichte, also werden wir wider zü nihte.“ Übersetzung aus: Johannes Tauler: Predigten. Vollständige Ausgabe, übertragen und hg. von Georg Hofmann, Freiburg u.a. 1961, S. 252. Es handelt sich bei Hofmann um Predigt 35. Vgl. auch Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 365,20-23, Nr. 67/Tauler: Predigten, S. 485-486, Nr. 63. 62 Theologia Deutsch, Kap. 1, Haas (wie Anm. 36), S. 39/von Hinten (wie Anm. 52), S. 71,3-5: „Das volkommende ist eyn weßen, das yn ym vnnd yn seynem weßen alles begriffen vnd beslossen hat, vnnd an das vnd vßwendig dem keine wares weßen ist [...]“/Mandel (wie Anm. 52), S. 7,3-6: „Das volkommen ist eyn weßenn, das yn yhm und yn seynem wesen alles begryffen und beschlossen hatt, und an das unnd außwendig dem kein wars weßen ist [...]“. 63 Die einzige legitime Möglichkeit, als Geschöpf zu existieren, ist, dem ewigen Gut das zu sein, was dem Menschen seine Hand ist, so die Zusammenfassung von Kap. 10, vgl. von Hinten (wie Anm. 52), S. 68,21-22/Mandel (wie Anm. 52), S. 4. Jegliche Eigen­ heit hingegen muss dabei verloren gehen: „Denn wo in einer Kreatur dieses Vollkom­ mene [d.i. Gott] erkannt werden soll, muß Kreatürlichkeit, Geschaffenheit, Etwas-Sein, Selbstheit verloren und zunichte werden. Das meint das Wort des Heiligen Paulus [1. Kor 13,10]: ,Wenn das Vollkommene kommt1, das ist Kreatürlichkeit, Geschaffenheit, EtwasSein, Selbstheit, Begehrlichkeit, völlig verschmäht und für gar nichts gehalten." Haas (wie Anm. 36), S. 40/von Hinten, S. 72,24-29: „Wan yn welcher creatur diß volkomen bekannt sal werden, da muß creaturlicheit, geschaffenheit, ichtheit, selbheit vorloren werden vnd zu nichte. Diß meynt das wort sant Paulus: ,wann das volkommen kompt’, das ist, wan eß bekannt wirt, ßo wirt das geteilte, das ist creaturlicheit, geschaffenheit, ichtheit, selbheit, meinheit, alles vorsmehet vnd vor nichtnitz gehalden." Mandel, S. 9,612: „Wan yn wilcher creatur diß volkommen bekant werden soll, da muß creaturlicheyt, geschaffenheit, icheit, selbheyt, verlören werden unde tzu nichte. Dis meint das wort sant

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denfall so beschrieben, dass die menschliche Kreatur sich diesem ihrem kreatürlichen Status nicht angemessen verhalten hat: Sie schreibt sich zu, was nicht ihr zu eigen ist - wo sie doch nicht einmal sich selbst zu eigen ist -, sondern was Gottes ist64. Welche Entwicklung der Gedanke von der Neigung zum Nichts bei Gerson nimmt, wird man im nächsten Abschnitt sehen können. 2.3 Das Erbarmen Gottes und das Ausfüllen des Nichts Bernhard vergleicht die Demut des Menschen mit einem Tal, in das die Quelle der Gnade, die Quelle, die der Heilige Geist selbst ist, sich ergießt, die ihrem Wesen gemäß den Weg nach unten sucht65. Dieses Bild nimmt Tauler unter ausdrücklicher Berufung auf Bernhard auf66 und denkt es wei­ ter: „Wo das Tal am tiefsten ist, da fließt das Wasser am reichlichsten, und die Täler sind im allgemeinen fruchtbarer als die Berge. Die wahre Ver­ kleinerung seiner selbst versinkt in den göttlichen inneren Abgrund Gottes. Da verliert man sich in völliger und wahrer Verlorenheit seines Selbst. ,Ein Abgrund ruft den anderen in sich hinein1 [Ps 41,8], Der geschaffene Abgrund zieht seiner Tiefe wegen an. Seine Tiefe und sein erkanntes Nichts ziehen den ungeschaffenen offenen Abgrund in sich; der eine fließt in den anderen, und es entsteht ein einziges Eins, ein Nichts in dem ande­ ren.“67 Diese Selbsterkenntnis des Nichts zieht Gott herbei, der, weil alles Sein übersteigend, „Nichts“ genannt wird. Pauls ,wen das volkommen kumpt, das ist: wenn es bekant wirt, ßo wirt das geteilt, das ist: creaturlicheyt, geschaffenheyt, icheyt, selbheyt, meinheit, alles verschmecht und für nichtz nit gehalten?“ 64 Vgl. oben bei Anm. 52. 65 Bernhard: ln Vigilia Nativitatis Sermo 4, 9, in: S. Bemardi Opera 4 (wie Anm. 11), S. 226,6-227,15. 66 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 164,19-24, Nr. 40/Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 325, Nr. 34. Dazu Louise Gnädinger: Der minnende Bernhardus. Seine Reflexe in den Predigten des Johannes Tauler, in: Citeaux Commentariis Cisterciensis 1 (1980) = FS P. Edmundus Mikkers, S. 387-409, hier: S. 394-397, insbesondere S. 397. 67 Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 394-395, Nr. 51/Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 200,33-201,7, Nr. 45: „So wo och das tal aller tieffest ist, da flüsset des wassers aller meist. Die telre sint vil fruchtbarer gemeinlichen wan die berge. Diese wore verkleinunge die versinkt in das gotlich innerlich abgründe. Kinder, da verliessent si sich al ze mole in rechte worer verlomheit ir selbs. ,Abyssus abyssum invocat, das abgründe das in leitet das abgründe1. Das geschaffen abgründe das in leitet vo siner tieffe wegen. Sin tieffe und sin bekant nicht das zühet das ungeschaffen offen abgründe in sich, und do flüsset das ein abgründe in das ander abgründe und wirt do ein einig ein, ein nicht in das ander nicht.“ - Es folgt eine Berufung auf Dionysius Areopagita. Vgl. Louise Gnädinger: Taulers Predigt ,Beati oculi' (V 45), in: Alois M. Haas und Heinrich Stirnimann (Hg.): Das .einig Ein1. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1980 (= Dokimion 6), S. 154-207. Vgl. auch noch Die Predigten Tau-

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Johannes Gerson entfaltet diesen Gedanken in gleicher Weise und ver­ knüpft ihn mit dem Gedanken, dem zufolge jedes Sein außerhalb Gottes fast ein Nichts ist und zum Nichts sich neigt: „Darum ist die Seele, sobald sie von Gottes Gutheit und Vollkommenheit ausgeht, um so vollkomme­ ner. Wundere dich nicht darüber, denn sie ist durch die göttlichen Gnaden und Gaben wie ein von Korn überquellendes Tal um so voller an Tugen­ den, so wie ein geistiger Abgrund die Flüsse lebendiger Wasser aufsaugt, gleichsam wie ein geistliches Vakuum, das zu füllen alles zusammenströmt und nicht zu füllen vermag, nur Gott kann es, wie Augustinus im ersten Buch der ,Confessiones1 [I,3f.] sagt. Diese vollkommenste Unvollkom­ menheit, diese beste Sündhaftigkeit, wenn man es so sagen kann, schrieb sich Paulus zu, wenn er sich den ersten unter den Sündern nannte [1. Tim 1,15]; und weil er nicht log, hat er wahr geurteilt.“ Gerson fährt fort, dass Jesus und Maria, die Gerson als sündlos anerkennt, da sie Paulus an Demut noch übertreffen, „sich mit um so größerer Wahrheit unter die ersten Sün­ der zählen würden, je demütiger sie von Gott in sich ausgehend ihre Un­ vollkommenheit entsprechend klarer erkannten.“ Er erläutert: Dies gilt „freilich nicht von der Sünde im engeren Sinne, das sei ferne, sondern von der Fähigkeit, in Sünde abzugleiten. Denn [...] jede Kreatur hat gleichsam nämlich um so mehr Eitelkeit und Tendenz zum Nichts, je mehr sie an Sein hat.“* 68

lers, Nr. 60e, S. 305,15-308,1/Tauler: Predigten, S. 170-173, Nr. 25, sowie ebd. Nr. 26 = Die Predigten Taulers, Nr. 26; sodann Die Predigten Taulers, Nr. 47, S. 210,3221 1,1/Tauler: Predigten, S. 471, Nr. 61; Die Predigten Taulers, Nr. 39, S. 162,1618/Tauler: Predigten, S. 306, Nr. 40. Die Selbstdemütigung bis zur resignatio in infer­ num in Die Predigten Taulers, Nr. 9, S. 45,11-46,4/Tauler: Predigten, S. 66f., Nr. 9; Die Predigten Taulers, Nr. 46, S. 205,3-206,5/Tauler: Predigten, S. 420f., Nr. 54. 68 Jean Gerson, Predigt ,A Deo exivit*, in: CEuvres Completes, hg. von Palemon Glorieux, Bd. 5, Paris u.a. 1963, S. 24f.: „Itaque anima quantum exit a divina bonitate et perfectione in suam vilitatem, dejectionem et imperfectionem, tanto est perfectior. Noli mirari hoc quia divinis gratiis et donis est eo plenior tamquam valis abundans frumento virtutum, tamquam intelligibilis quaedam abyssus fluenta sorbens aquarum viventium, quasi vacuum quoddom spirituale ad quod replendum confluunt omnia nec implere suffi­ ciunt, nisi Deus secundum Augustinum, 1° Confessionum. Hanc perfectissimam imper­ fectionem, hanc optimam, si sic dici poest, peccabilitatem sibimet adscripsit Paulus dum se primum inter peccatores nominavit; et quia non mentiebatur, ita vere sensit. [...] se tanto verius inter peccatores primos nominarent quanto humilius a Deo in se exeuntes suum imperfectum lucidius cognoverunt. [...] non quidem de peccato contracto, absit, sed de labilitate ad peccandum. Nam [...] quasi videlicet plus habeat creatura omnis de vani­ tate et tendentia in nihilum quanto plus de entitate.“

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Demut wird hier gefasst als Selbsterkenntnis, als die Erkenntnis dessen, dass man aus Gott ausgegangen und damit ein Nichts ist. Der Begriff,Sün­ de4 wird dementsprechend umgedeutet auf das „Außerhalb-Gottes sein.“69

2.4 Die Abwendung von der Sinnlichkeit und die Hinwendung über den Geist zu Gott

Die Theologie Bernhards ist ausgerichtet auf die Erkenntnis Gottes und auf die Selbsterkenntnis des Menschen. Indem der Mensch aber sich selbst erkennt, sich auf sich selbst zurückbezieht, unterscheidet er auch sich selbst von dem, was lediglich sein ist, aber nicht im eigentlichen Sinne er selbst. Wenn Paulus erklärt: „Ich halte mein Leben nicht für kostbarer als mich selbst.“ („nec facio animam meam pretiosorem quam me“; Act 20,24), dann unterscheidet er zwischen „Sich selbst“ als einem Höheren, und seiner „anima“, als einem Niederen. In dem ersten ist er mens und ratio und lebt nach dem Geist, dem spiritus. Das Niedere, das Bernhard hier, entgegen seinem sonstigen Sprachgebrauch, wegen der Stelle in den Acta anima nennt, ist dem Leib, dem corpus, verbunden. Es ist etwas Sinn­ liches und Fleischliches, sensuale atque carnale, und darum des geistli­ chen Menschen, des homo spiritualis, unwürdig70. Dementsprechend soll die Beziehung des Menschen zu Jesus Christus sich fortentwickeln von einer fleischlichen zu einer geistlichen Liebe, damit er als Geist mit Gott, der Geist ist, sich zu einem Geist vereinigt und sagen kann: „unus cum Deo spiritus sum.“71 Wenn der Mensch sich sich selbst zuwendet, wendet er sich zugleich Gott zu. Tauler lehrt darum, der Mensch solle als „Geist sich in die über allem Sein aufragende Höhe schwingen, alle niederen sinnlichen Dinge übersteigen [...]“72. Er beruft sich dabei ausdrücklich auf Bernhard und 69 Vgl. Sven Grosse: Existentielle Theologie in der vorreformatorischen Epoche am Beispiel Johannes Gersons. Historische Überlegungen zum ökumenischen Disput, in: Kerygma und Dogma 41 (1995), S. 80-111: hier S. 95. 70 Bernhard: Sermones super Cantica Canticorum 30, IV,9, in: S. Bemardi Opera 1 (wie Anm. 11), S. 215,21-216,16. 71 Bernhard: Sermones super Cantica Canticorum 71, 11,6, in: S. Bemardi Opera 2 (wie Anm. 11), S. 218,9f., nach 1. Kor 6,17. Neben dieser Stelle ist in diesem Zusam­ menhang für Bernhard die Lesart von Thr 4,20 ausschlaggebend: „Spiritus ante faciem nostram Christus Dominus.“ Siehe dazu Sven Grosse: Spiritus ante faciem nostram Christus Dominus. Zur Christozentrik der Mystik Bernhards von Clairvaux, in: Theologie und Philosophie 76 (2001), S. 185-205: hier S. 186, Anm. 3; S. 189, Anm. 18. Zur Ver­ wandlung der fleischlichen in die geistliche Liebe vgl. Sermones super Cantica Cantico­ rum 20, V,7, in: S. Bemardi Opera 1 (wie Anm. 11), S. 119,4-5. 72 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 238,35f, Nr. 52: „do sol dis gemüte uf swimmen in die hohi der über weselicheit und über klimmen alle nidere sinneliche ding [...]“. Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 444, Nr. 58.

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verbindet die Zuwendung zu Gott mit einer trichotomischen Anthropolo­ gie: Der Mensch auf der untersten Stufe ist durch die Sinne bestimmt, der Mensch auf der mittleren Stufe durch den Geist. Auf der obersten Stufe wird die Reflexivität geltend gemacht: Hier findet sich der sich zu sich selbst neigende Seelengrund. Vollzieht der Mensch seine Reflexivität so, dass er sich selbst nichts zuschreibt, alles aber Gott, und sich selbst in einem lauteren Nichts hält, dann wird dieser dritte Mensch aufgerichtet. Es ist der gottförmige Mensch, der an seinen Ursprung zurückkehrt - an sei­ nen Ursprung in dem Sinne, dass er wieder wird, wie er in Gott war vor seiner Erschaffung73. Die ,Theologia Deutsch1 vollzieht die gleiche Bewegung und beschreibt sie mit den Worten des Dionysius Areopagita: „Zur Beschauung göttlicher Heimlichkeit mußt du lassen Sinne und Sinnlichkeit und alles, was die sinnliche Wahrnehmung zu begreifen vermag, und die Vernunft und die Denktätigkeit und alles, was Vernunft begreifen und erkennen mag [...]“ 4. Johannes Gerson bringt wie Tauler eine trichotomische Anthropologie, untergliedert sie aber noch horizontal in eine kognitive und eine affektive Linie. So stehen gemäß seinem Traktat ,De mystica theologia1 unten die virtus sensualis (consideratio 12) bzw. der appetitus animalis (cons. 16), in der Mitte die ratio (cons. 11) bzw. der appetitus rationalis (cons. 15) und oben die intelligentia simplex (cons. 10) und die synderesis (cons. 14)75. 73 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 357,15-29, Nr. 65/Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 457f., Nr. 59, die Berufung auf Bernhard: Die Predigten Taulers, S. 357,2426, Nr. 65; Die Predigten Taulers, S. 348,21-25, Nr. 64/Tauler: Predigten, S. 409, Nr. 53; Die Predigten Taulers, S. 365,30-366,9, Nr. 67/Tauler: Predigten, S. 486, Nr. 63, vgl. Gnädinger: Der minnende Bemhardus (wie Anm. 66), S. 404f., sowie dies.: Johan­ nes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, S. 252f. Zur BernhardRezeption Taulers vgl. auch Georg Steer: Bernhard von Clairvaux als theologische Autorität für Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, in: Kaspar Elm (Hg.): Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung in Mittelalter und Neuzeit, Wiesbaden 1994 (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 6), S. 241-248. 74 Theologia Deutsch, Kap. 8, Haas (wie Anm. 36), S. 49/von Hinten (wie Anm. 52), S. 79,12-80,1: „Czu der schaubunge gotlicher heymlikeit saltu laßen synne vnd synnelickeyt vnd alles, das synne begriffen mugen, vnd vomunfft, vomunffticliche wirckunge vnnd alles, das vomunfft begriffen vnd bekennen magk [...("/Mandel (wie Anm. 52), S. 18,17-20: „zu der schawung gotlicher heymlichkeyt soltu lassen synn und synlicheyt und alles, was synne begreiffen mugen und vernufft, vernuftichliche wurckung und alles, dass vernufft begreiffen und bekennen mag [...]“. Der Text stammt aus der .Paraphrasis Pachymerae1 des als Brief an Timotheus formulierten Trakats ,De Mystica Theologia1, in: Patrologiae cursus completus. Accurante Jacque-Paul Migne. Series Graeca 3, 1015AB. 75 In der Edition Ioannis Carlerii DE Gerson De Mystica Theologia, hg. von Andre Combes, Lugano 1958 (= Thesaurus Mundi 8), handelt es sich bei diesem Traktat um den .Tractatus primus speculativus1, S. 1-123, in der Ausgabe GERSON: CEuvres (wie Anm. 68), Bd. 3, Paris 1962, um den Traktat ,De theologia mystica lectiones sex1, S. 250-

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Da Gerson für die Erneuerung des Menschen den affektiven Kräften das entscheidende Gewicht beimisst, ist es die Synderesis, auf welche er sein Augenmerk richtet. Er nennt die verschiedenen Namen, mit welchen sie in der Tradition benannt worden ist, u.a. auch scintilla intelligentiae und apex mentis16. Die Tätigkeit der Synderesis ist „die Liebe, nicht irgendeine, son­ dern die ekstatische und anagogische, das heißt die, die aufwärts fuhrt und in das Göttliche hineinreißt.“77 2.5 Die Synderesis

Gerson gibt auch die anderen Namen für die Synderesis an. So nennt er sie auch apex mentis1*. Tauler wiederum spricht an mehreren Stellen vom „grünt“ oder „boden“ der Seele, nennt ihn aber auch den Wipfel, den „dolden“, der Seele79. Diese Begrifflichkeit war auch Luther vertraut. In seinen Randbemerkungen zu Tauler vermerkt er zu einer Stelle, an welcher dieser seine trichotomische Anthropologie skizziert, zu der dritten Stufe, die Tau­ ler hier „ein lutere bloße substancie der seien“ nennt: „Mens vel apex men­ tis sive Syntheresis [...] Vide Gerson in mystica theologia.“80 Bernhard hat, soweit ich sehe, keine Lehre von einer Synderesis, in der ,Theologia Deutsch1 findet sich nur eine Andeutung davon81. Doch ist diese Lehre bei 292. Vgl. dazu Sven Grosse: Heilsungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seiner Zeit, Tü­ bingen 1994 (= Beiträge zur Historischen Theologie 85), S. 54-63, insbesondere S. 56-59. 76 De theologia mystica, cons. 14, in: Gerson: CEuvres 3 (wie Anm. 75), S. 260. 77 Ebd., cons. 27, S. 272: „[...] dilectio, non quaecumque, sed extatica et anagogica, id est sursum ducens et rapiens in divina.“ 78 Ebd., cons. 14, S. 261. Zu der Geschichte der Bezeichnung „Synderesis“ und zu der Geschichte des Begriffs vgl. Grosse: Heilsungewißheit (wie Anm. 75), S. 60-63. 79 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 262,13f., Nr. 56, vgl. Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 538, Nr. 70. Zum „grünt“ bei Tauler vgl. Steven Ozment: Homo Spiritualis. A Comparative Study of the Anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson and Martin Luther (1509-16) in the Context of their Theological Thought, Leiden 1969 (= Studies in Medieval and Reformation Thought 6), S. 15-21, insbesondere S. 20-21. Vgl. ebd. S. 49-83, die Ausführungen zu Gerson. 80 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 21,7-11, Nr. 4; WA 9, S. 99,36-40, im Ganzen S. 99,36-100,3. Luther fuhrt zuerst die kognitive, dann die affektive Reihe nach Gerson auf und nennt die höchste Stufe in beiden Fällen „Syntheresis“. Vgl. BoA 5, S. 307,20-27, mit Konjektur Vogelsangs, der in der zweiten Reihe „Syntheresis“ statt „Synthesis“ setzt. In der Randbemerkung zu Die Predigten Taulers, S. 191,9-12, Nr. 44, wo Tauler vom „gründe“ spricht, setzt Luther wiederum „Syntheresis“ ein. WA 9, S. 103,22-27/BoA 5, S. 308,15-19. Verwandt ist die bereits oben (Anm. 73) referierte Stelle Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 348,22-25, Nr. 64, wo Luther Taulers Trichotomie kommentiert mit der Dreiteilung von „Homo Sensualis - Rationalis - Spiritualis“, WA 9, S. 103,38/BoA 5, S. 308,24-30. 81 Kap. 9, von Hinten (wie Anm. 52), S. 18,17-19/Mandel (wie Anm. 52), S. 21,7-9.

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Bernhard vorbereitet, wenn er sagt, dass der Mensch als Geist - Geist mit dem Merkmal der Reflexivität und im Gegensatz zur Sinnlichkeit - sich mit Gott als Geist vereinigt. Dies erhellt aus folgenden Ausführungen Taulers: „Zuweilen wird der Geist ,Seele' genannt, das ist insofern gesagt, als sie dem Leibe Leben ver­ leiht [...] Zuweilen wird die Seele auch ,Geist' genannt, und das ist in­ sofern gesagt, als sie eine alle Maße übersteigende Verwandtschaft zu Gott hat. Denn Gott ist Geist, und die Seele ist Geist, und infolgedessen hat sie ein ewiges Sichhinneigen und Hinblicken in den Grund ihres Ursprungs [...] Dieses Sichneigen erlischt nie, nicht einmal bei den Verdammten.“82 Der Seelengrund ist also dem Menschen als solchem zu eigen. Mit ihm waren bereits die Heiden vertraut, Platon und Proclus83 lehrten von ihm, sie lebten für ihn und pflegten seiner. Ihre Kenntnis des Johannes-Prologs reichte, um mit Augustinus zu sprechen, vom Anfang bis zu dem Satz „Es ward ein Mensch gesandt.“ (Joh 1,6), also bis dahin, wo die Fleischwer­ dung des Logos angekündigt wird. Wir Christen hingegen, klagt der Predi­ ger Tauler, erkennen gar nicht mehr dieses unser eigenes Selbst, das in uns ist84. Die Verwandtschaft mit Gott wird auch zum Ausdruck gebracht, wenn die Seele „mens“ genannt wir. Hier ist sie der „grünt“, in dem das wahre Abbild des dreieinigen Gottes verborgen liegt85. Der Seelengrund ist also der Fluchtpunkt, auf den sich der Mensch zubewegt, wenn er sich inne

82 Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 537-538, Nr. 70/ Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 261,31-262,4, Nr. 56: „Under wilen heisset der geist ein sele; das ist das verre als si dem libe leben in güsset [...] Und etwenne heißet si ein geist, und denne hat si als nahe sipschaft mit Gotte, das ist über alle mosse; wan Got ist ein geist und die sele ein geist, und dannan ab hat si ein ewig wider neigen und wider kaphen in den grünt irs Ursprunges [...] Das wider neigen das enverlöschet niemer me och in den vertümten.“ 83 Zur Rezeption des Proklos durch Tauler vgl. Kurt Ruh: Geschichte der abend­ ländischen Mystik, Bd. 3, München 1996, S. 485f. 84 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 332,11-333,2, Nr. 61 / Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 338f., Nr. 44. Vgl. AUGUSTINUS: Confessiones VII, 9,13f. 85 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 262,10-12, Nr. 56. Vetter hat hier irrtüm­ licherweise nicht „mens“, sondern „ein mensche“, dagegen aber Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 538, Nr. 70; Jean Tauler: Sermons, Traduction de E. Hugueny, G. Thery, M.A.L. Corin, hg. von Jean-Pierre Jossua, Paris 1991, S. 568, Anm. 9, sowie Paul Wyser: Der Seelengrund in Taulers Predigten, in: Philosophische Fakultät der Universi­ tät Freiburg Schweiz (Hg.): Lebendiges Mittelalter. Festgabe für Wolfgang Stammler, Freiburg/Schweiz 1958, S. 218, Anm. 39. Dieser Abschnitt ist auch abgedruckt unter: Paul WYSER: Taulers Terminologie vom Seelengrund, in: Kurt Ruh (Hg.): Altdeutsche und altniederländische Mystik, Darmstadt 1964 (= Wege der Forschung 23), S. 326, Anm. 5. Ich danke Frau Professor Louise Gnädinger für diese Hinweise.

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wird, dass er Geist ist und sich von der Sinnlichkeit abwendet86. Erreicht er diesen Fluchtpunkt in seinem Innersten, so verschmilzt er dort gänzlich mit Gott und wird hineingezogen in die Liebe, die Gott von Wesen ist87. Die Synderesis ist demnach im Menschen der Ort der unio mystica. Er ist mit der Schöpfung des Menschen dazu vorgegeben, weil er gerade der Punkt ist, an dem das geschaffene Sein des Menschen das Sein berührt, das er als Idee Gottes war vor seiner Schöpfung und das er in Gott in Ewigkeit ist. 2.6 Der Weg durch die Sinnlichkeit zum Geist — die Passion Christi Der Weg zu Gott wird also beschrieben durch ein Koordinatensystem, das durch den Gegensatz von Sinnlichkeit und Geist bestimmt ist. Wird der Mensch sich seiner selbst bewusst, also dessen, dass er Geist ist, und er­ kennt er zugleich, dass er von Gott aus Nichts geschaffen ist, dann über­ steigt er sich selbst, wird in Gott hineingerissen und mit ihm vereinigt. Gleichwohl muss dieser Weg unten ansetzen, also bei den Sinnen. Der Status des sündigen Menschen besteht gerade darin, den Sinnen verhaftet zu sein. Er kann nicht anders von den Sinnen gelöst werden, als dadurch, dass ihm Gott selbst in sinnfälliger Gestalt erscheint und gerade den sinnli­ chen Teil seiner Seele affiziert. Bernhard entfaltet diesen Gedanken grundlegend in seiner zwanzigsten Hoheliedpredigt: „Mild und süß für dein Gefühl sei der Herr Jesus im Kampf gegen die unheilvoll süßen Ver­ lockungen des fleischlichen Lebens; eine Süßigkeit überwinde die andere, wie ein Nagel den anderen hinausschlägt.“88 Die Liebe des Menschen zu Christus wird darum erst einmal eine Liebe zu seinem Fleisch sein, zu dem, was er im Fleisch getan hat, von seiner Geburt bis zu seiner Himmel­ fahrt89. Insbesondere die fleißige Betrachtung der Wunden Christi ist nötig, bis der Mensch sich zur Herrlichkeit Gottes hinwenden darf90. Diese Akko­ modation an den sinnenverfangenen Menschen erklärt Bernhard sogar für

86 An einer Stelle über den Seelengrund beruft sich Tauler auch auf Bernhard, was das Hinaussteigen über die Sinnlichkeit betrifft; Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 357,15-358,24, Nr. 65, vgl. oben Anm. 73. 87 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 101,28-102,29, Nr. 24/Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 167f., Nr. 24. 88 Bernhard: Sermones super Cantica Canticorum 20, 111,4, in: S. Bernardi Opera 1 (wie Anm. 11), S. 117,4-6: „Sit suavis et dulcis affectui tuo Dominus Iesus, contra male utique dulces vitae carnalis illecebras, et vincat dulcedo dulcedinem, quemadmodum clavum clavus expellit.“ 89 Ebd. 20, V,6, in: ebd. S. 118,13-21. 90 Ebd. 62, IV,7, in: S. Bernardi Opera 2 (wie Anm. 11), S. 159,22-26.

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den hauptsächlichen Grund der Menschwerdung Gottes91. Nach dieser An­ fangsstufe muss die Liebe des Menschen zu Gott sich freilich weiterent­ wickeln zu der geistlichen Liebe, für welche Christus als Geist zum Ge­ genstand wird: „Geist ist vor unserem Angesicht Christus, der Herr.“92 Die Rezeption Bernhards führte nun gerade zu einer größeren Aufmerk­ samkeit auf die sinnliche Form der Liebe zu Jesus Christus in seiner Flei­ schesgestalt93. Tauler erklärt in Auslegung des Wortes Jesu Joh 11,1, dass die Menschheit Jesu alleine die Tür ist, durch welche man in den Schaf­ stall, d.h. in das Herz Gottes, des Vaters, gelangen kann94. Dabei ist es be­ sonders das Leiden Jesu, durch welches der Mensch zu der Höhe seiner Gottheit gelangt95. Tauler baut dann aber, unter ausdrücklicher Berufung auf die oben referierte Lehre Bernhards in der zwanzigsten Hohelied­ predigt, über der sinnlichen Jesusliebe die nächsthöheren Stufen der Liebe auf96. Die ,Theologia Deutsch1 erklärt ganz grundsätzlich an der bereits oben genannten Stelle im dritten Kapitel, dass der Mensch dadurch wiederge­ bracht und gebessert wird, dass Gott Mensch und der Mensch infolgedes­ sen vergottet wird97. Wie bei Tauler muss der Mensch darum das „Chris­ tusleben“ führen, d.h. Christus in seinem leidvollen Leben nachahmen98. Auch Johannes Gerson folgt der durch Bernhard vorgegebenen Linie. Er legt in seinem mystagogischen Werk ,La montaigne de contemplatiorf die Art der Kontemplation dar, die Bernhard an den Anfang gestellt hat. Es ist dies die sorgfältige Meditation des ganzen Lebens Jesu Christi, von der Empfängnis bis zur Himmelfahrt, ganz besonders aber der Strafen und Bit91 Ebd. 20, III,4, in: S. Bernardi Opera 1 (wie Anm. 11), S. 118,21-26: „Hane ego arbitror praecipuum invisibili Deo fuisse causam, quod voluit in came videri et cum ho­ minibus homo conversari, ut carnalium videlicet, qui nisi camaliter amare non poterant, cunctas primo ad suae carnis salutarem amorem affectiones retraheret, atque ita gradatim ad amorem perduceret spiritualem.“ 92 Ebd. 20, V,7, in: S. Bernardi Opera 1 (wie Anm. 11), S. 119,4-17, besonders 8 und 16: „Spiritus ante faciem nostram Christus Dominus.“ [Thren 4,20 var], „Geist“ ist dabei als im Gegensatz zu Sinnlichkeit bestimmt, vgl. Grosse: Spiritus (wie Anm. 71), S. 188194; vgl. oben Anm. 71. 93 GROSSE: Spiritus (wie Anm. 71), S. 201-203. 94 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 110,24-29, Nr. 27; S. 111,28-30. Vgl. Gnädinger: Johannes Tauler (wie Anm. 73), S. 293, zur Christologie und Lehre von der Christusnachfolge insgesamt: S. 286-297. 95 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 271,16-21. Nr. 57. Vgl. zum konkreten Vollzug dieser Versenkung in die Leiden Jesu Taulers Rat, ebd. S. 211,11-21, Nr. 47. 96 Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 247,11-253,24, Nr. 54. Bernhard wird ge­ nannt ebd. S. 248,32, Nr. 54. Vgl. Gnädinger: Der minnende Bernhardus (wie Anm. 66), S. 400f. 97 von Hinten (wie Anm. 52), S. 74,11-14/Mandel (wie Anm. 52), S. 11,15-19. 98 So etwa Kap. 19-21, insbesondere Kap. 20; 31; 45.

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ternisse, die er erlitten hat. Aus ihnen sammelte Bernhard sich das Myr­ rhenbüschel (Cant 1,12), das die Braut sich zwischen die Brüste legt, d.h. das der Christ sich mitleidend verinnerlichen soll. Damit beginnt der Auf­ stieg der Kontemplation". 2.7 Zusammenfassung Wir sehen also, dass der Gedanke von der Notwendigkeit des reflexiven Glaubens, auf welcher Luther so sehr insistiert, einem größeren stringenten Zusammenhang entstammt, welcher für christliche mystische Theologie charakteristisch ist. Mehr oder minder bei den vier ausgewählten Autoren ausgeprägt, lässt er sich so zusammenfassen: (1) Die Reflexivität des Glaubens ist darum nötig zum Empfang der Gnade, weil das Ich des Menschen das Edelste an ihm ist, eben das, worin er eigentlich er selbst ist. Macht er sich zum Zentrum alles Seins und schreibt sich alles zu, bewirkt er dadurch sein Unheil. Er kann nur gerettet werden, indem er sich lässt und sich Gott überlässt. Es hängt also alles davon ab, dass er sich selbst nicht von Gottes Gnade ausschließt, sondern sich ihr überliefert. Damit erweist er aber zugleich Demut. (2) Mit dieser Demut trägt er zwei Gegebenheiten Rechnung, die eng miteinander verbunden sind. Seine Demut geht aus seiner Selbsterkenntnis hervor: a) er ist Sünder, er schreibt also sich zu, was Gottes ist, und b) er ist ein aus dem Nichts geschaffenes Wesen. (3) Macht er sich in seiner Demut zunichte, dann stürzt Gottes Sein in ihn hinein und füllt ihn aus. Er gelangt zur unio mystica. (4 u. 5) Dieser Weg wird zugleich durch einen anderen Aspekt seiner Selbsterkenntnis gewiesen. Wie der Mensch aus Nichts geschaffen ist, so ist er zugleich ein aus Gott herausgesetzter Gedanke Gottes, der als solcher mit Gott selbst eins ist. Wendet der Mensch sich von der Sinnlichkeit ab, so wird ihm dies bewusst, und er gelangt in die ursprüngliche Einheit zu­ rück. Der Ort dieses Eins-Seins ist die Synderesis. (6) Dieses Ziel wird aber nur erreicht durch Jesus Christus, und zwar durch seine menschliche Natur. Die unsere Sinne berührende Vergegen­ wärtigung seiner leiblichen Gestalt und seines leiblichen Leidens sind die unumgehbare Eingangsstufe in den Weg zur unio.*

99 Der Traktat, von Gerson selbst auf französisch verfasst, Gerson: CEuvres (wie Anm. 68), Bd.7/1, Paris 1966, S. 47, war in Deutschland im 15. und 16. Jh. in lateini­ scher Übersetzung verbreitet: De monte contemplationis, cap. 38, in: Johannes Gerson: Opera Omnia, hg. von Louis Ellies Du Pin, Bd. 3, Antwerpen 1706, Sp. 572BC. Bei der referierten Bernhard-Stelle handelt es sich um Sermones super Cantica Canticorum 43, 11,3-111,4. Zu den Übersetzungen Gersons ins Lateinische in den frühen Gesamtausgaben vgl. Christoph Burger: Art. Gerson, in: TRE 12 (1984), S. 535,47-536,1.

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3. Luthers Stellung gegenüber den überlieferten mystischen Theologoumena 3.1 Das „pro me“ Wir haben bereits gesehen, dass der junge Luther mit Nachdruck die Not­ wendigkeit der Reflexivität des Glaubens vertrat. Dies bleibt auch beim reifen Luther. Es seien hier nur einige prägnante Sätze aus der Promotions­ disputation für Hieronymus Weller und Nikolaus Medler vom 11. Septem­ ber 1535 genannt: [These 17:] „Der erworbene Glaube oder der eingegos­ sene Glaube der Sophisten sagt von Christus: ,Ich glaube, dass der Sohn Gottes gelitten hat und auferweckt ist? Und hier hört er auf.“ [These 18:] „Aber der wahre Glaube spricht: ,lch glaube wohl, dass der Sohn Gottes gelitten hat und auferweckt ist, aber das alles für mich, für meine Sünden. Dessen bin ich gewiss? [...] [These 20:] Der erworbene Glauben hat als Ziel und Nutzen der Passion Christi die nackte Spekulation. Der wahre Glauben hat als Ziel und Nutzen der Passion Christi das Leben und das Heil. [...] [These 24:] Also macht jenes ,Für mich1 oder ,Für uns1, wenn es geglaubt wird, den wahren Glauben und unterscheidet von jedem anderen Glauben, welcher nur die Dinge hört, die geschehen sind.“100

3.2 Die Menschheit Christi, das leibliche Wort und der Glaube als Einlassbedingung Bereits der junge Luther hat das Kennen Christi, welches den Rückbezug auf sich selbst vermeidet, im pejorativen Sinne als „spekulativ“ bezeichnet. In der Hebräerbriefvorlesung, im Scholion zu Hebr 9,24, „Ut appareat vultui Dei pro nobis“ erklärt er: wer Christus nur speculative kennt, meint lediglich, Christus erscheine vor dem Angesicht Gottes für „irgendwen“; diejenigen, die ihn practice kennen, glauben, er erscheint vor Gott für i/«5101. Durch die Abgrenzung von dem Spekulativen respective Metaphy­ sischen verknüpft Luther nun die praktische, reflexive Christuserkenntnis 100 WA 39/1, S. 45,31-46,8: „17. Fides acquisita seu Sophistarum infusa de Christo dicit: Credo filium Dei passum et resuscitatum, Atque hic desinit. 18. Sed vera fides dicit: Credo quidem filium Dei passum et resuscitatum, Sed hoc pro me, pro peccatis meis, de quo certus sum. [...] 20. Fides acquisita habet finem seu usum passionis Christi nudam speculationem. Fides vera habet finem et usum passionis Christi vitam et salutem. [...] 24. Igitur illud, pro Me, seu pro Nobis, si creditur, facit istam veram fidem et secernit ab omni alia fide, quae res tantum gestas audit.“ 101 WA 57/111, S. 215,16-20: „Sicut dictum est, Christum alii speculative, alii practice cognoscunt. Illorum sensus est: Christus apparet vultui Dei pro illis, horum autem: Chris­ tus apparuit vultui Dei pro nobis. Quare oportet Christianum certum esse, imo certissi­ mum, Christum pro se apparere et pontificem esse apud Deum. Sicut enim credet, sic fiet ei.“

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mit der Ausrichtung zuerst auf die Menschheit und nicht auf die Gottheit Christi. Er verweist zurück auf das Scholion zu Hebr 1,2, wo er sagt, dass die Menschheit Christi für uns die heilige Leiter ist, auf welcher wir zur Liebe und zur Erkenntnis Gottes emporsteigen sollen. Demgegenüber wird Gott verfehlt durch die menschlichen und metaphysischen Versuche, ihn zu erkennen102. Dieses spezifische Element christlicher mystischer Theologie betont auch der alte Luther. 1542 erklärt er in einer Tischrede, alle Gotteserkennt­ nis, führe in die Irre, wenn „sie nicht von unten anhebt: von dem Wort und der Geschichte des Menschgewordenen und Gekreuzigten. Heb von unten an, von dem fleischgewordenen Sohn [...] Gott kam nämlich vom Himmel, um dich ganz gewiß zu machen [...] Der Christus wird dich bringen zu dem verborgenen Gott.“103 Aus diesem Grund lobt er auch Bernhard und Bona­ ventura: „Bernhard hat die Menschwerdung Christi geliebt, desgleichen Bonaventura. Diese beiden lobe ich sehr wegen jenem Artikel, über wel­ chen sie mit so großer Lust und Klarheit denken, und mit großer Freude und Frömmigkeit an sich selbst üben.“104 102 Diesen Rückverweis „Sicut dictum est“ beziehen Hirsch und Rückert in Luthers Vorlesung über den Hebräerbrief (wie Anm. 19), S. 236,8, Anm., auf ebd. S. 103,2, im Kontext von S. 102,28-103,7 = WA 57/III, S. 99,1-10: „Notandum quoque, quod prius humanitatem Christi quam divinitatem recitet, ut eo ipse regulam illam approbet Deum fideliter cognoscendi. Humanitas enim illa sancta scala est nostra, per quam ascendimus ad Deum cognoscendum, [folgen Gen 28,11; Joh 14,6; 6,44; 10,7] Igitur qui vult salubri­ ter ascendere ad amorem et cognicionem Dei, dimittat regulas humanas et metaphisicas de divinitate cognoscenda et in Christi humanitate se ipsum exerceat ..." 103 WA.TR 5, Nr. 5658a, S. 294,24f.27-29.34: „Heb von vnten an, ab incarnato Filio [...] Deus enim [...] venit de coelo, ut te [...] certissimum faceret [...] Christus wirt dich bringen ad absconditum Deum.“ Vogelsang: Luther und die Mystik (wie Anm. 1), S. 37, Anm. 5 nennt irreführenderweise als Quelle WA.TR 5, Nr. 5668. Die Tischrede stimmt überein mit Luthers Vorlesung über Gen 26,9 vom 18. Februar 1542, WA 43, S. 457,32-463,2, vgl. WA 48, S. 363f. und 631. Ich danke Herrn Professor Reinhard Schwarz für das Auffinden der richtigen Stelle und diese Hinweise. Vgl. die Predigt über Gen 28 von 1520, WA 9, S. 406,10-31. 104 Genesis-Vorlesung (1535-45), zu Gen 28,12-14a, WA 43, S. 581,11-13: „Bemardus valde dilexit incarnationem Christi, item Bonaventura, quos duos maxime laudo propter illum articulum, de quo tam libenter et praeclare cogitant, et magna laetitia et pietate in se ipsis exercent.“ Wenn also Luther in einer Tischrede im Jahre 1533 klagt, „Bonaventura [...] hett mich schir toll gemacht, quod cupiebam sentire unionem Dei cum anima mea [...]“ (WA.TR 1, S. 302,31-32, Nr. 644, als Ganzes S. 302,30-303,3; darin auch ein Angriff auf Dionysius Areopagita), dann kann diese Bemerkung nur ihren Grund haben in einem falschen Gebrauch Bonaventuras, bei dem nicht beachtet wird, dass auch er lehrte, dass man mit der Menschheit Christi anfangen muss, um zur Geistig­ keit Gottes zu gelangen; vgl. Itinerarium mentis in Deum, IV, lf. Zum Lob Bernhards und Bonaventuras, die Luther hier noch vor Augustin stellt, vgl. auch WA.TR 1, S. 435f. (Nr. 872), zwischen 1530 und 1535, vgl. ebd., Nr. 871. Vgl. auch die Bemerkung: „Bo­ naventura inter scholasticos doctores optimus est“, WA.TR 1, S. 3303,1, Nr. 683, aus der

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Die menschliche Natur Christi, insbesondere seine Leiblichkeit, ist eine Einlassbedingung für den mystischen Aufstieg. In Entsprechung dazu ist eine weitere Einlassbedingung das Hören auf das sinnliche, leibliche Wort. Auch hierin stimmt Luther mit Bernhard überein. Die „goldenen Kettchen, mit Silber verziert“ von Cant 1,10 versteht Bernhard als Schmuck der Oh­ ren. Denn es ist zuerst der Glaube zu üben, dann erst kommt das Schauen (2. Kor 5,7); die Stufe zum Sehen ist das Hören. Der Glaube aber kommt aus dem Hören, fides ex auditu, Röm 10,17. Der Mensch bedarf des Glau­ bens, weil er das Herz reinigt (Act 15,9)105. Ein Tableau von Ausgangspunkten späterer lutherscher Theologoumena ist das Scholion zu Ps 17,12 in den ,Dictata'. Gott ist verborgen, 1. weil er im Geheimnis des Glaubens wohnt, 2. weil der menschliche Verstand ihn nicht mit seinem eigenen Licht erkennen kann - dies lehrt Luther unter Be­ rufung auf Dionysius Areopagita 3. weil er unter der Menschheit Christi verborgen ist, 4. weil die Kirche - oder auch Maria - der Welt verborgen sind, 5. weil Gott im Sakrament der Eucharistie am allerdunkelsten verbor­ gen ist. Den dritten Punkt führt Luther so aus, dass Gott, in der Menschheit Christi verborgen, nicht gesehen, sondern nur gehört werden kann. Wort und Menschheit Christi sind so miteinander verknüpft106. Im gleichen Sinne sagt Luther in der Hebräerbriefvorlesung, dass das Leben des Christen als Leben nach dem Vorbild Christi ein verborgenes Leben ist. Es lebt von dem, was nirgends in Erscheinung tritt, außer durch das geringe Anzeichen des Wortes und durch das Gehör107. Ausgehend von dieser Position übt der junge Luther Kritik an einem solchen Umgang mit der mystischen Theologie, welche diese Einstiegsbe­ dingung Menschheit Christi - leibliches Wort - Glaube außer Acht lässt. Wir haben Zugang zu Gott, erklärt er im Scholion zu Röm 5,2, aber durch Jesus Christus! Er fahrt fort: „Davon sind auch diejenigen betroffen, die gemäß der mystischen Theologie danach trachten, in die inneren Finster­

ersten Hälfte der dreißiger Jahre. Dieses Lob hat wohl darin seinen Grund, dass Bona­ ventura eben nicht nur Scholastiker ist, sondern auch mystischer Theologe. Wenn Schwarz: Luther (wie Anm. 1), S. 19, bemerkt, dass Luther sich auch noch in späterer Zeit anerkennend über Bernhard und Bonaventura geäußert habe, aber „nicht wegen ihrer Mystik, sondern weil sie der Erfahrung, speziell der Christuserfahrung, einen hohen Stellenwert einräumen“, dann wird hier übersehen, dass doch gerade die Christuserfah­ rung wesentlich zum Konzept von Mystik bei diesen beiden Theologen gehörte. 105 Bernhard: Sermones super Cantica Canticorum 41, 11,2, in: S. Bernardi Opera 2 (wie Anm. 11), S. 29,12-30,6. 106 WA 55/11, S. 138,5-139,2, besonders S. 138,1 lf.: „Quia in humanitate absconditus latet, que est tenebre eius, in quibus videri non potuit. Sed tantum audiri.“ 107 Scholion zu Hebr 9,23, Vorlesung über den Hebräerbrief (wie Anm. 19), S. 234,14-236,6/WA 57/III, S. 214,23-215,14, besonders S. 215,4L: „quod nusquam apparet nisi modico verbi indicio soloque auditu“.

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nisse sich aufzuschwingen, aber dabei die Bilder des Leidens Christi bei­ seite lassen, und das ungeschaffene Wort hören und beschauen wollen, wo doch die Augen des Herzens noch nicht gerechtfertigt und gereinigt wor­ den sind durch das fleischgewordene Wort. Das fleischgewordene Wort ist aber zuerst notwendig zur Reinheit des Herzens. Wer sie hat, wird dann schließlich durch das fleischgewordene in das ungeschaffene Wort hinein­ gerissen durch die Anagoge.“108 Diese Kritik bezieht Luther 1520 in aller Schärfe auch auf Dionysius Areopagita: „In der ,Theologia mystica4 [...] ist er auch im höchsten Grade verderblich, denn er treibt mehr den Platonismus als das Christentum [...]. Christus lernst du dort so wenig kennen, dass du ihn, wenn du ihn bereits kennst, wieder verlierst. Ich rede aus Erfahrung. Paulus wollen wir lieber hören, auf dass wir Christus, und zwar als den Gekreuzigten, kennen ler­ nen [1. Kor 2,2], Der ist nämlich der Weg, das Leben und die Wahrheit: das ist die Leiter, auf der man zum Vater kommt, so wie er gesagt hat: ,Niemand kommt zum Vater, außer durch mich? [Joh 14,6]“109 110 Dabei soll aber nicht übersehen werden, dass Luther im selben Jahre 1520 die ,Theologia Deutsch4 nochmals herausgab, und eine der Glossen, die wahrscheinlich von ihm selbst stammen, keinerlei Anstoß an Dionysius nimmt, auf den die ,Theologia4 an einer Stelle verweist. Es handelt sich dort, wie bei dem Verweis in den ,Dictata4, um den Aufstieg über die Sinnlichkeit und über alle menschlichen Erkenntnisvermögen zu dem ver­ borgenen Gott. Die Glosse besagt: „Diß lernet sich nit mit Worten. Es muß versucht werden.44’10 Damit wird keineswegs Kritik an dem Konzept des Dionysius geäußert, sondern lediglich bekräftigt, dass der mystische Auf­ stieg keine Sache einer distanzierten Betrachtung sein darf, sondern - ganz im Sinne der Reflexivität des Glaubens - den Einsatz des Menschen selbst 108 Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, hg. von Johannes Ficker, 3., unveränderte Aufl., Leipzig 1925 (= Anfänge reformatorischer Bibelauslegung 1), Bd. 2: Die Scholien, S. 132,24-133,2/WA 56, S. 299,27-300,5: „Hinc etiam tanguntur ii. Qui secundum mysticam theologiam in tenebras interiores nituntur omissis imaginibus passionis Christi, Ipsum Verbum increatum audire et contemplari volentes, Sed nondum prius Iustificatis et purgatis oculis cordis per verbum incarnatum. Verbum enim Incarna­ tum ad puritatem primo cordis est necessarium, qua habita tunc demum per ipsum rapi in verbum increatum per Anagogen.“ Vgl. Dictata, Schol. zu Ps 91, WA 4, S. 64,27-65,12. 109 De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium, WA 6, S. 562,8-14: „In .Theolo­ gia1 vero ,mystica1, quam sic inflant ignorantissimi quidam Theologistae, etiam pernitiosissimus est, plus platonisans quam Christianisans, ita ut nollem fidelem animum his libris operam dare vel minimam. Christum ibi adeo non disces, ut, si etiam scias, amittas. Expertus loquor. Paulum potius audiamus, ut Iesum Christum et hunc crucifixum discamus. Haec est enim via, vita et veritas: haec scala, per quem venitur ad patrem, sicut dicit ,Nemo venit ad patrem nisi per me1.11 110 WA 59, S. 7,14, Glosse zu der Passage in der ,Theologia Deutsch1, vgl. oben Anm. 74.

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verlangt und dadurch zur Erfahrung wird. Nicht ein Lehrmeister, sondern ein Lebmeister ist hier gefragt111. Luther verwandelt also keineswegs ab 1519/20 die Verknüpfung „Zu­ erst der Menschgewordene, dann der ungeschaffene Logos“ in ein Entwe­ der-Oder112. Allerdings ist, aber schon in den ,Dictata4, vielleicht sogar schon früher, eine bestimmte Akzentsetzung bei ihm deutlich, die auch später bleibt, nämlich die Betonung der Bedingungen, ohne die es gar kei­ nen mystischen Aufstieg gibt: die Menschwerdung Christi, der reflexive Glaube an das leibliche Wort, die Rechtfertigung des Sünders, die daraus erfolgt. 3.3 Luther als Wendepunkt der Mystik, der Wechsel des Koordinaten­ systems und die Spannung zwischen Heilsgeschichte und Ontologie Bei Luthers Auseinandersetzung mit der mystischen Theologie tritt etwas ein, was christlicher Mystik eigentümlich ist. Es gibt sie nur der Voraus­ setzung wegen, dass Gott Mensch geworden ist und den Menschen zuerst geliebt hat, der nicht nur Kreatur, sondern auch Sünder ist, also ohne wahre Liebe zu Gott war. Diese Voraussetzung hat eine Folge: Der Mensch wird über sich selbst erhoben, er wird vergöttlicht, er wird, sich mit dem Gott vereinend, der Geist ist, selbst vergeistigt, er antwortet mit Gegenliebe auf die Liebe Gottes, er gelangt in das ihm gar nicht mehr aus­ sagbare Sein Gottes. So ist christliche Mystik aber einer dialektischen Spannung unterworfen zwischen zwei Tendenzen. Die eine Tendenz, wel­ che man die transzendierende nennen könnte, trachtet nach der Verwirkli­ chung dieser Konsequenz und will sich so von deren Voraussetzungen lö­ sen. Die andere Tendenz, man mag sie die kondeszendierende nennen, ruft zu ebendiesen Voraussetzungen zurück. Im Widerstreit der beiden Ten­ denzen kommt es immer wieder zu einem Wendepunkt: Die erste Tendenz schlägt in die zweite um. Ein solcher Wendepunkt ist die bernhardinische Mystik, genauer: die Rezeption der Mystik Bernhards im frühen 13. Jahr­ hundert in bestimmten Hymnen, welche die Meditation auf den Körper des leidenden Christus richten. Ein anderer Wendepunkt ist die Betonung der Unterschiedenheit der Personen der göttlichen Trinität gegenüber der Ein111 Das Gleiche ist ausgesagt mit der Stelle ,Operationes in psalmos4, WA 5, S. 163,17-29, insbesondere S. 163,28f.: „Vivendo, immo moriendo et damnando fit theolo­ gus, non intelligendo, legendo aut speculando.“ Was Vogelsang: Luther und die Mystik (wie Anm. 1), S. 35f. als ersten Einwand Luthers gegen die areopagitische Mystik for­ muliert, ist also vielmehr ein Einwand gegen einen unangemessenen Umgang mit Mystik überhaupt. 112 So die These von Vogelsang: Luther und die Mystik (wie Anm. 1), S. 35. Die von ihm selbst S. 37, Anm. 5 zitierte Tischrede von 1542 (siehe oben Anm. 103) beweist bereits das Gegenteil.

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fachheit des göttlichen Wesens, die sich bei Seuse in seiner Verteidigung Eckharts findet. Weil Gott in sich unterschieden ist, bleibt es auch bei der Unterschiedenheit zwischen Gott und Mensch. Bei Luther finden sich diese beiden Momente wieder; er fügt noch den Nachdruck auf der Rechtferti­ gung des Sünders allein durch den reflexiven Glauben hinzu113. Dieser Wendepunkt führt auch zu einem Wechsel des Koordinaten­ systems, in welchem der mystische Aufstieg zu Gott gedacht wird. Ist bei Bernhard die Polarität von Sinnlichkeit und Geist das Koordinatensystem, so ist dies in den bernhardinischen Hymnen nicht mehr der Fall114. Das Koordinatensystem, das an seine Stelle tritt, wird bei Luther deutlich er­ kennbar. Es ist bestimmt durch das innertrinitarische Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn. Der Aufstieg des Menschen beginnt, wenn er erkennt, weshalb Jesus für ihn starb: nämlich um den Willen des Vaters zu erfüllen, welcher voll Liebe gegenüber ihm, dem Sünder ist. Damit fängt der Vater an, ihn zu sich zu ziehen115. Damit hängt nun ein Weiteres zusammen: Wir hatten beobachtet, dass bei den ausgewählten Vertretern der mysti­ schen Tradition ein heilsgeschichtliches und ein ontologisches Deutungs­ muster vorliegt. Im Duktus der Heilsgeschichte wird das Dasein, aus dem der Mensch befreit werden muss, als das Sein verstanden, in welches er durch den Sündenfall gestürzt ist; und Sünde besteht in einem verkehrten Verhältnis zum Schöpfer und zu seiner Schöpfung. Nach dem ontologischen Modell hingegen muss der Mensch aus einem Sein herausgerissen werden, in dem er schon deswegen gefährdet ist, weil er geschaffen, also aus dem Nichts geschaffen oder, anders gewendet, weil er aus dem Sein Gottes herausgetreten ist. Er ragt durch sein Selbstbe­ 113 Siehe Sven Grosse: Wendepunkte der Mystik. Bernhard - Seuse - Luther, in: Gudrun Litz, Heidrun Munzert und Roland Liebenberg (Hg.): Frömmigkeit - Theologie Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History. Festschrift für Berndt Hamm zum 60. Geburtstag, Leiden/Boston 2005 (= Studies in the History of Christian Traditions 124), S. 281-295. Als Quellenbelege sei für die Passionssalven, welche lange Zeit Bernhard selbst zugeschrieben wurden, die Hymne des Arnulf von Löwen an das Angesicht Christi genannt, in: Patrologiae cursus completus. Accurante Jacques-Paul Migne. Series Latina 184, Sp. 1324C, für Seuse: Das Buch der Wahrheit (wie Anm. 51), Kap. VII, S. 58-62,48-95. 114 Vgl. GROSSE: Spiritus (wie Anm. 71), S. 201-203. 115 Besonders aufschlussreich ist hier der Brief Luthers an Spalatin vom 12. Februar 1519, WA.Br 1, S. 327-331, besonders S. 329,50-56: „quicunque velit salubriter de Deo cogitare aut speculari, prorsus omnia postponat praeter humanitatem Christi. Hanc autem vel sugentem vel patientem sibi praefigat, donec dulcescat eius benignitas. Tunc ibi non sistat. Sed penetret ac cogitet: Ecce non sua, Sed Dei patris voluntate h?c & h?c facit. Ibi incipiet placere suavissima voluntas patris, quam in humanitate Christi ostendit (et idipsum uam est trahere et dare patris).“ Vgl. auch den Sermo von der Betrachtung des Leidens Christi, BoA 1, S. 154-161; vgl. GROSSE: Spiritus (wie Anm. 71), S. 203-205.

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wusstsein über alle andere Kreatur hervor, ist Gott als Geist verwandt, hat sich aber in seiner Sinnlichkeit verfangen. Die Synderesis oder der Seelen­ grund ist der Ort im Menschen, wo er noch immer mit Gott eins ist und wieder eins werden kann. Beide Gedankenketten sind bei diesen Vertretern der mystischen Tradi­ tion eng miteinander verbunden. Das Aufgreifen des ontologischen Zu­ sammenhanges war eine Leistung der Kirche in der Spätantike, wie Tauler durchaus bewusst ist, wenn der die Stelle aus Augustins ,Confessiones1 referiert und Proklos nennt116. Es ist die Menschwerdung Gottes, die zu diesem Zusammenhang als Specificum des Christlichen hinzutritt. Dabei kann nun die Menschwerdung Gottes, nicht als Ereignis - als solches ist sie nicht ableitbar - , aber ihrem Gehalt nach an diesen Gedankenkomplex angepasst werden - oder genauer: es wird der Aspekt an ihr hervorgekehrt, der zu ihm passt. Dann wird sie so aufgefasst, dass der mit Sinnen nicht erfassbare Gott einen sinnlich wahrnehmbaren Leib angenommen hat, um den Menschen aus seiner Sinnenverfangenheit zu lösen: „quemadmodum clavum clavus expellit.“117 Ein anderes Beispiel für die Anpassung des heilsgeschichtlichen Zusammenhanges an den ontologischen ist, wenn Gerson in der Predigt ,A Deo exivit1 das Außerhalb-Gottes-Sein im über­ tragenen Sinne „Sünde“ nennt. Es ist jedoch umgekehrt auch eine Einfügung des ontologischen Zu­ sammenhanges in den heilsgeschichtlichen denkbar. Diesem zufolge ist Kreatur-Sein keineswegs Schuld, sondern etwas Gutes, im Falle des Men­ schen sogar etwas sehr Gutes. Schuld ist ein falscher Umgang des Men­ schen mit seinem Kreatur-Sein. Dies geschieht, wenn der Mensch von sei­ ner Fähigkeit, die ihn unter allen körperlichen Kreaturen herausragen lässt, seiner Fähigkeit zum Selbstbewusstsein, der Fähigkeit, etwas auf sich zu beziehen, den Gebrauch macht, dass er sich zuschreibt, was er ist und hat, wo es doch alles Gottes ist. Dies wird auch in der ,Theologia Deutsch1, Kap. 2, deutlich formuliert. Weil der Mensch von seinem Schöpfer abge­ wendet ist, verfällt er nun dem Nichts. Errettet wird er durch die Mensch­ werdung Gottes, und zwar deshalb, weil sie zum stellvertretenden Sühne­ tod Jesu Christi führt. Wem die Gerechtigkeit Christi angerechnet wird, der wird aus einem Sünder zu einem Gerechtfertigten. Der Tod Christi eröffnet ihm die Liebe, die zwischen Gott Vater und Gott Sohn besteht, und nimmt ihn in diese Liebe auf. Dies bedeutet nun auch ein Herausgehoben-Werden 116 Siehe oben bei Anm. 84. Grundsätzliche Überlegungen zu dieser Integration der Philosophie in die christliche Heilslehre finden sich, am Beispiel vor allem Tertullians exemplarisch formuliert, bei Sven Grosse: Christliche Apolegetik als Konfrontation und Integration. Grundstrukturen der Apologetik Tertullians, in: Theologie und Philosophie 79 (2004), S. 161-173. 117 Siehe oben Anm. 88.

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des Menschen über sein eigenes, kreatürliches Sein hinaus. Zwar verliert er dieses nicht, doch wird er zugleich Gott gleich gemacht, der von seinem Wesen Geist ist, über den Sinnen steht und an sich nicht von uns erfasst werden kann. Es werden also die Aspekte aus dem ontologischen Zusammenhang ausgewählt, die in die heilsgeschichtliche Ordnung passen, oder besser noch: Es wird aufgewiesen, auf welche Aspekte der Wirklichkeit der Heilsgeschichte die Aussagen dieses ontologischen Entwurfs zutreffen. Bereits der junge Luther vertrat das Anliegen der Betonung des heils­ geschichtlichen Zusammenhangs und der Unterordnung und Einordnung des ontologischen Zusammenhanges118. Dies wird schon in seinen Rand­ notizen zu Tauler erkennbar. In einer oben erwähnten Glosse schreibt er zu dem Begriff homo spiritualis „nititur fide“ und ergänzt: „Et hunc [homi­ nem spiritualem] attingunt Christiani veri“, während er von dem homo ani­ malis seu rationis sagt: „Et hunc attingunt philosophi [...]“119. Hält man entgegen, dass Tauler sagt, der geistliche Mensch werde dann aufgerichtet, wenn der Mensch sich in seinen Seelengrund versenkt, und behauptet, dass heidnische Philosophen wie Platon und Proklos dies bereits tun konnten und taten, ist Luthers Kurswechsel deutlich genug120. Exemplarisch kann dies an Luthers Beurteilung der Synderesis entfaltet werden. In den ,Dictata' erklärt Luther, die Synderesis sei ein unauslösch­ liches Verlangen nach dem Guten im Menschen, das von Gott erhört wird,

118 Hier liegt die Berechtigung von Vogelsangs These, Luther habe gegen die areopagitisch-neuplatonische Mystik einzuwenden gehabt, dass sie absehe von der Sünde und von Christus, siehe Vogelsang: Luther und die Mystik (wie Anm. 1), S. 35f.; vgl. S. 44f. Was Vogelsang als „Ja und Nein“ Luthers zu den jeweiligen Gestalten von Mystik wahrnimmt (ebd. S. 33-43), so dass er von Unmystischem und „Mystischem“ bei ihm spricht (ebd. S. 44-50) hat seinen Grund in dieser entschiedenen Überordnung des heils­ geschichtlichen Zusammenhanges über dem ontologischen, der gleichwohl nicht ausge­ schieden, sondern integriert wird. Wie Vogelsang bemerkt (ebd. S. 50) hängt die Be­ urteilung des Verhältnisses Luthers zur Mystik davon ab, wie man „Mystik“ definiert. Bei entsprechender Definition kann man beim alten Luther genauso Mystik antreffen wie beim jungen (ebd. S. 51-54). Dem ist zuzustimmen. Der in dieser Studie verwendete Begriff von Mystik kann aus den „Eckpunkten der mystischen Theologie“ entwickelt werden; er ist der Begriff einer spezifisch christlichen Mystik, siehe dazu GROSSE: Wen­ depunkte (wie Anm. 113), S. 283-285. 119 WA 9, S. 103,38-104,3/BoA 5, S. 310,25-31. Vgl. oben Anm. 80. 120 Ozment: Homo Spiritualis (wie Anm. 79), S. 1-3, hat diese Stelle „homo spiritua­ lis nititur fide“ zum Ausgangspunkt seiner scharfsinnigen Studie gemacht. Vgl. dort S. 149-152 und 186-197 zu den folgenden Ausführungen. - Allerdings ist zu bedenken, dass die Absicht des Predigers Tauler an dieser Stelle nicht darin bestand, zu behaupten, es sei letztlich gar kein Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Gottesbezie­ hung, sondern darin, die lauen Christen dazu anzuspomen, sich in ihren Seelengrund zu versenken.

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nachdem sich Christus zum Mittler gemacht hat121. In der Römerbrief-Vor­ lesung übt er schärfste Kritik an den „Sawtheologen“, die lehren, man könne Gott aus eigenen Kräften über alles lieben. Diese berufen sich darauf, dass „der Wille diese Synderesis hat, durch welche er, wenngleich schwach, ,zum Guten geneigt ist.1 Und von dieser kleinen Bewegung auf Gott hin, die man natürlicherweise vermag, träumen sie, sie sei ein Akt, in dem Gott über alles geliebt werde! Aber schau dir an, wie der ganze Mensch voll ist von Begierden [wider Gott], ohne durch diese winzigkleine Bewegung gehindert zu werden.“122 Nun ist es aber nicht so, dass Luther damit den ontologischen Begrün­ dungszusammenhang gänzlich ausscheidet. So schließen sich die Aussagen an diesen beiden Stellen auch nicht aus. Der Wechsel, der sich von der ersten zur zweiten Stelle vollzieht, ist dieser: Luther konzentriert sich ganz auf die Frage, ob etwas im Menschen sei, das imstande ist, zu seiner Ret­ tung, zu seiner Rechtfertigung etwas beizutragen. Er behauptet nun nicht, dass die Synderesis nicht vorhanden sei. Er behauptet nicht, dass sie nicht jedenfalls etwas Gutes wolle123 oder eine gewisse Kraft zum Guten hin habe. Er bestreitet nur, dass sie ausreiche, um den Menschen zu seinem Ziel, zu Gott, wirklich hinzuführen. Reicht sie aber nicht aus, dann ist der Mensch als Ganzes völlig auf die Gnade angewiesen. Mit dieser Überle­ gung ist keineswegs die Berechtigung der Frage aufgehoben, ob nicht Gott mit seinem rettenden Handeln selbst zurückgreift auf etwas, was er ge­ schaffen hat, so dass die Erlösung vollendet, woraufhin der Mensch, auch als gefallenes Geschöpf, angelegt ist. Der Mensch ist in seinem innersten Wesen Geist. Darin überragt er die anderen leiblichen Kreaturen und dies ist das, worin er Gott am nächsten ist. So ist es keineswegs widersprüch­ lich, wenn Luther weiterhin ein trichotomische Anthropologie lehrt - Geist - Seele - Leib - und vom Geist sagt, er „ist das hohste, tieffste, edliste teil des menschen, damit er geschickt ist, unbegreiflich, unsichtige, ewige ding zu fassen. Und ist kurtzlich das hausz, da der glawbe und gottis wort innen wonet.“124 121 Scholion zu Ps 41,8, WA 3, S. 238,9-15/WA 55/11, S. 231,156-162. 122 Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, Ficker (wie Anm. 108), S. 111,1-5/WA 56, S. 275,20-23, im Kontext von WA 56, S. 274,1 lff., Scholion zu Röm 4,7: „[...] Voluntas habens istam syntheresim, qua, licet infirmiter, .inclinatur ad bonum“. Et huius paruulum motum in Deum (quem naturaliter potest) illi somniant esse actum diligendi Deum super omnia!“ 123 Scholion zu Röm 3,10, WA 56, S. 236,31-237,8. Vgl. im Scholion zu Röm 1,19 die Synderesis als Wissen von der Gottheit, das aber gerade Bedingung der Möglichkeit der Sünde ist: WA 56, S. 176,26-177,33. 124 Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt (1521), in der Auslegung von Lk 1,46, WA 7, S. 550,28-30, im Kontext von S. 550,19ff. Vgl. VOGELSANG: Luther und die Mystik (wie Anm. 1), S. 47f. - Das Gleiche kann man übrigens beim freien Willen beob­

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Auch der Gedanke, dass der Mensch nur dann Gottes Barmherzigkeit erfahrt, wenn er sich zu dem Nichts macht, aus dem er geschaffen ist, wird von Luther integriert. In der Römerbriefvorlesung sagt er, dass dem Men­ schen Gott nur dann Gott und Schöpfer sein wird, wenn er, der Mensch, das Nichts sein will, dessen Schöpfer der Herr ist. Diesen Satz bringt Luther in Analogie zu dem Satz, dass nur dem, der verdammt sein will, Je­ sus ein „Jesus“, d.h. ein Heiland, sein wird125.

4. Die Krisis der Anfechtung und ihre Überwindung durch den Glauben an das Wort Wir haben gesehen, dass Luther mit alledem keineswegs die Möglichkeiten verlässt, welche die überlieferte mystische Theologie bot. Er vertritt ge­ wiss Gedanken und schuf Formulierungen, die in der Tradition nicht ge­ dacht und geschrieben wurden. Doch tritt er damit nicht aus dem Grund­ konzept mystischer Theologie heraus. Er nimmt vielmehr innerhalb dieses Konzepts eine radikale Position ein. „Radikal“ heißt hier: an der Wurzel ansetzend. Er fragt, unter welchen Bedingungen es geschieht, dass aus einem Sünder ein Gerechter wird, er also imstande wird, den Weg zur Einung mit Gott zu begehen, und er fragt selbst aus der Position des zu rechtfertigenden Sünders: Woran soll er sich halten, wenn Gott aus ihm einen Gerechten machen will? Der Impuls für diese radikale Akzentsetzung Luthers war also seine Er­ fahrung der Anfechtung126. Um Luthers Verhältnis zur Tradition der mystiachten. 1516 erklärt Luther in der Disputation .Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia', dieser Fragestellung entsprechend, im Corollarium 1: „Voluntas hominis sine gratia non est libera, sed servit, licet non invita", WA 1, S. 147,3f./BoA 5, S. 316,1 lf. In ,De servo arbitrio' von 1525, der Schrift, in welcher er diese These am tiefsten und reichsten entfaltet, formuliert er auch eine Neudefinition des liberum arbitrium, „vim liberi arbitrii eam dicemus, qua homo aptus est rapi spiritu“, und fügt hinzu, dass dies etwas sei, was den Menschen vor allen anderen irdischen Geschöpfen auszeichne. Auch hier bleibt ihm bewusst, dass der Mensch bereits durch das, was er als Geschöpf ist, über alle anderen leiblichen Wesen herausragt; WA 18, S. 636,16-22/BoA 3, S. 127,16-23. 125 WA 56, S. 303,10-15. 126 Vgl. Berndt Hamm: Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens?, in: Bernd Moeller und Stephen E. Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformations­ geschichte 1996, Gütersloh 1998 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), S. 115. Hamm beantwortet damit die in dem Titel seines Aufsatzes gestellte Frage. Aus der Anfechtungserfahrung erklärt sich, dass Luther unter den drei theologischen Tugenden diejenige auswählt, welche nach der Tradition „das Geringste des Christseins“ ausmacht, vgl. ebd. S. 105. Dem entspricht die Akzentsetzung auf die Leiblichkeit Christi und auf das leibliche Wort.

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sehen Theologie zu überdenken, ist darum geboten zu sehen, wie sich für die ihm vorausgehenden Theologen die Anfechtung und der Übergang von Sünder-Sein zum Gerecht-Sein darstellten. In einer Predigt über Mk 7,37, „Alles hat er gut gemacht: Die Tauben macht er hören und die Stummen reden.“, findet Tauler starke Worte für den Zustand des Sünders. Durch den Fall Adams und Evas sind alle Men­ schen taub geworden; „daher können wir die liebevolle Einsprache des ewigen Wortes weder hören noch verstehen. Und doch wissen wir, dass das ewige Wort uns so unaussprechlich nahe und in uns ist in unserem Grunde, dass wir uns selbst, unsere eigene Natur, unser Gedanke, alles, was wir nennen, sagen oder verstehen können, uns nicht so nahe, nicht so in uns ist wie das ewige Wort [,..]“127. So taub der Mensch nun geworden ist und so sehr dem Einsprechen des Teufels preisgegeben, dennoch ist es so: „Wollte der Mensch sogleich seine Ohren, seinen Seelengrund rasch (von solcher Versuchung) abkehren, sie wäre gar leicht zu überwinden.“ Darum befiehlt Tauler: „Kehre schnell und entschlossen dein Ohr von der Einflüsterung ab: Und du hast die Versuchung schon fast überwunden [,..]“128. Für Tauler ist es offensichtlich kein Problem, dass der Mensch das gar nicht mehr tun könnte, weil die Macht der Sünde zu stark ist. In der ,Theologia Deutsch1 wird in Kap. 11 das, was der Sünder sieht, wenn er sich selbst erkennt, noch schärfer beschrieben: „Wenn sich der Mensch selber erkennt und anschaut und findet sich selber so böse und un­ würdig alles Guten und Tröstlichen, das ihm von Gott oder von den Krea­ turen je geschehen mag, (dann erblickt) er nichts anderes als eine ewige Verdammnis und ein Verlorensein [...] Auch dünkt ihn rechtens, dass er ewig verdammt [...] sein soll [...] und will noch kann er Trost oder Be­ freiung begehren, weder von Gott noch von den Kreaturen [...]“129. Der 127 Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 377f„ Nr. 49/Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 191,9-14, Nr. 44: „[...] also das wir die minneklichen insprachen des ewigen wores nüt gehören enmügen noch verston, und wissent doch das das ewig wort uns also unsprechlichen nach und inwendig ist in unserem gründe das der mensche im selber und sine eigene nature noch sin gedank noch alles das man genemmen oder gesagen mag oder verston mag, das enist alles nüt als nach noch inwendig als das ewig wort in dem men­ schen ist, [...]“. Vgl. dazu Luthers Randbemerkung WA 9, S. 103,22-27/BoA 5, S. 310,15-20, der die Stelle auf die Syntheresis deutet. 128 Tauler: Predigten (wie Anm. 61), S. 378, Nr. 49/Die Predigten Taulers (wie Anm. 49), S. 191,33-35, Nr. 44: „Wer das der mensche nu al zehant snelleklichen sine oren, sin gemüte dannan ab ze mole kerte, so wer die bekorunge al ze licht ze über windent.“; ebd. S. 192,3f.: „Al zehant so kere mit herzen Verwegenheit din ore ze male dar ab; so hast du nach überwunden.“ 129 HAAS: Einleitung (wie Anm. 36), S. 55-56/von Hinten (wie Anm. 52), S. 84,2-12: „Wanne sich der mensche selber bekennet vnd an syhet vnd findet sich selber also boße vnd vnwirdig alles des gutes vnnd trostes, das ym von got ader von den creaturen gescheen mag, sundern nichts anders danne eyn ewig vordammen vnd vorloren seyn [...]

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Verfasser fahrt dann aber so fort: „Wer derart in der Zeit in die Hölle kommt, der gelangt nach dieser Zeitlichkeit in das Himmelreich und ge­ winnt davon in der Zeit einen Vorgeschmack, der alle Lust und Freude übertrifft Denn „Gott lässt den Menschen nicht in dieser Hölle, son­ dern nimmt ihn an sich Und „wenn er im Himmelreich ist, so kann ihn nichts betrüben oder veruntrösten; und glaubt nicht, dass er betrübt oder ungetrost werden könnte [...]“l3°. Für beide Zustände gilt nun: „Auch überkommt den Menschen diese Hölle und dieses Himmelreich, so dass er nicht weiß, woher es kommt, und der Mensch kann aus sich selber nichts dazu tun oder lassen, damit es kommt oder dahinfährt [...] wie geschrieben*

Auch dunckt yn recht, das er ewiclichen vordampt sal seyn [...] vnd will ader keynes trostes ader erloßunge begern wider von gote noch von creaturen [...]“. Mandel (wie Anm. 52), S. 25,3-15: „Wen sich der mensch selber bekennet und ansicht und findet sich selber alßo bös und unwirdig alles des guttes und trostes, das ym von got oder von den creaturen geschehen mag, sunder nit anders den eyn ewig verdamnenn und verlören sein [...] Auch dunckt yn recht, das er ewiglich verdampt sol sein [...] und will oder mag key­ nes trosts oder erlößung begeren, weder von got noch von creaturen [...]“. Im Fortlauf werden die Verse zitiert, Mandel, S. 26,11-14: „Verderben, sterben,/ ich leb ohn tröst;/ außen und ynnen verdampnet,/ niemant bitt, das ich werd erlöst.“ Mandel, S. 26, Anm. 3, behauptet, sie stammten von Meister Eckhart: Von dem Zorne der Seele und von ihrer rechten Stätte, in: Meister Eckeharts Schriften und Predigten, aus dem Mittelhochdeut­ schen übersetzt und hg. von Herman Büttner, Bd. 1, Jena 1903 bzw. 1917, S. 181. Laut von Hinten, S. 85, Anm. 7, handelt es sich indes um eine pseudo-eckhartsche Schrift und nicht um den von Franz Pfeiffer herausgegebenen Traktat ,Von dem zome der sele“, vgl. Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, hg. von Franz Pfeiffer, Bd. 2: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 542f. Einer mir von Herr Professor Georg Steer gegebenen Auskunft zufolge stammt das Zitat in der .Theologia Deutsch* nicht von Eckhart, der Traktat eben­ falls nicht. - Man beachte, dass es sich hier nicht um die resignatio in infernum als eine freiwillige Übung handelt, sondern um die Erkenntnis dessen, was faktisch gegeben ist. Die Beschreibung dieses Zustands stimmt auffallend überein mit derjenigen, die Luther in Resolutio 15 zu den Ablassthesen, Punkt 5, von sich gibt, nämlich wenn er in diesem Leben bereits die Hölle erleidet. Vorangehend bemerkt Luther, dass der den Schultheolo­ gen unbekannte Tauler in seinen Predigten nichts anderes lehrt als das Leiden der Höl­ lenstrafen im Leben, vgl. WA 1, S. 557,25-558,18. 130 Haas: Einleitung (wie Anm. 36), S. 56f./von Hinten (wie Anm. 52), S. 84,1785,40: „Vnde wer also yn der czite yn die helle kumpt, der kumpt noch der czite in das hymmelreich vnd gewynnet seyn yn der czeit eynen vorsmack, der vbirtrifft alle lüsten vnnd freude [...] Nu lesset got den menschen nicht yn disßer helle, sunder er nympt yn an sich [...] Aber wan er yn dem hymmelrich ist, so mag yn nichts betrüben ader vngetrosten vnd gloubet nicht, das er betrübt ade vngetrostet magk werden [...]“/Mandel (wie Anm. 52), S. 26,3-27,15: „(Und wer alßo yn der tzeyt yn die hell kumpt, der kumpt nach der tzeyt yn das hymelreych und gewint sein yn der tzeit einen vorsmack, der ubertrifft allen lust und freude [...]) [...] Nu lest got den menschen nit yn dißer hell, sunder er nympt yn an sich [...] Aber wenn er yn dez hymelreich ist, ßo mag yn nichtz betrüben oder unge­ trosten und gelaubt nit, das er betrübt oder ungetrost mag werden [...]“.

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steht: ,Der Geist geistet, wo er will, und du hörst seine Stimme (Jo 3,8) [...] aber du weißt nicht, woher er kommt oder wohin er geht?“131 In diesem Kapitel gesteht der „Franckforter“ dem Menschen keinerlei Verfügung zu, sich selbst in den Zustand der Sündenerkenntnis, der zeitli­ chen Hölle, oder des Getröstet-Seins, des zeitlichen Himmelreichs, zu brin­ gen. Anders ist es jedoch in Kap. 20. Dort erklärt er zwar zuerst, dass in analoger Weise wie von der Besessenheit durch den Geist des Teufels vom Heiligen Geist gilt: „Wer nämlich besessen und umgriffen wäre vom Geist Gottes, dass er nicht wüsste, was er täte oder ließe und seiner selbst machtlos wäre, und der Wille und der Geist Gottes wäre seiner gewaltig und wirkte und täte und ließe mit ihm und aus ihm, was und wie er wollte. Das wäre der Menschen einer, von denen der Heilige Paulus spricht: ,Die von Gottes Geist gelenkt und geführt werden, die sind Gottes Kinder und stehen nicht unter dem Gesetz? (Röm 8,14; Gal 5,18) [,..]“132 Dann lässt er jedoch jemand dazu sagen: „Ich bin zu allem diesem nicht bereitet, darum kann es in mir nicht geschehen“, und entgegnet darauf: „Dass der Mensch nicht bereitet ist oder wird, das ist wahrlich seine Schuld. Und hätte der Mensch nichts anderes zu besorgen und auszurichten, denn dass er der Be­ reitung wahmähme in allen Dingen und wie er in Wahrheit bereitet wür­ de - Gott würde ihn wohl bereiten! Gott hat so großen Eifer und Liebe und Ernst zu der Bereitung wie zu der Eingießung - wenn der Mensch nur be-

131 Haas: Einleitung (wie Anm. 36), S. 57/von Hinten (wie Anm. 52), S. 85,44-86,49: „Auch kumpt dem menschen diße helle vnd diß hymmelrich, da er nicht weiß, so von eß her kompt, vnnd der mensche kann wider gethun noch gelaßen ader nicht von dem seynen, da von eß kume ader fare [...] als geschrieben ist: ,Der geist geistet, wo er will, vnd du hörest seyne stymme [...] aber du weist nicht, wo von er kommet ader wo hin er ghet‘.“ Mandel (wie Anm. 52), S. 27,18-28,5: „Auch kumpt dem menschen diße hell und dis hymelreich, das er nit weiß, wo von es herkumpt, und der mensch kann weder getun oder gelassen oder nicht von dem seinen, da von es komme oder fare [...] als geschriben ist: ,der geist geystet wa er wil und du hörest seyn stymm [...] aber du weist nit, wa von er kommet oder wo hin er geet.“‘ 132 Haas: Einleitung (wie Anm. 36), S. 74 (dort Kap. 22)/von Hinten (wie Anm. 52), (Kap. 22), S. 99,7-13: „Der nu besessen vnd begriffen were mit dem geist gotis, das er nicht wessete, was er thete ader lisse, vnd seyn selbs vngewaldig were vnd der wille vnd der geist gotis were seyn gewaldig vnd wirckte vnd thete vnd lisse mit yhm vnd auß ym, was vnd wie er wolde. Das were der menschen eyner, da von sant Paul spricht: ,Die von gotis geiste gerichtet vnd gefuret werden, die synt gotis kint vnnd synt nicht vnder der ee‘ [...]“ Mandel (wie Anm. 52), S. 42,11-18: „Der nu besessen und begriffen were mit dem geist gottes, das er nit weßt, was er tete oder ließ, und sein selbs ungewaltig wer, und der will und der geist gottes were sein gewaltig und wurcket und tete und ließ mit ym und auß ym, was und wie er wolte: der were der menschen einer, da von sant Paulus spricht: ,die von gottes geist gericht und gefürt werdent, die sind gottes kinder und sint nit unter der ee‘ [...]“.

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reitet wäre.“133 Es folgen Anweisungen, wie der Mensch es lernen kann, sich selbst zu disponieren. Man kann den Verfasser dieses Traktats der Inkonsequenz zeihen: Wenn er von der Erfahrung der Anfechtung und von der Erfahrung des Trostes bzw. der Geisterfüllung spricht, weiß er nur etwas von der Passi­ vität des Menschen zu sagen, aber gegen den allzu wohlfeilen Einwand der Selbstentschuldigung antwortet er mit den Methoden der Selbstvorberei­ tung, unterstellt also, dass der Mensch dazu noch fähig ist. Doch lässt sich diese Inkonsequenz verschieden deuten. Die eine Deutung besagt: Sie ist als Symptom seiner Erfahrung zu sehen. Es ist für ihn offenbar nicht von so großem Gewicht, konsequent von der Passivität des Menschen zu reden und deswegen die Kunst der Selbstdisponierung abzulehnen. Die Erfah­ rung der Anfechtung schneidet nicht so tief, dass diese Konsequenz gezo­ gen würde. Die andere Deutung hingegen: Die Erfahrung der Anfechtung ist bei ihm nicht minder tief als bei Luther, aber seine denkerische Leiden­ schaft und Begabung sind geringer, so dass er die Konsequenzen seiner Erfahrung weniger stringent bedenkt. Ein letztes Bewahrtbleiben vor der Anfechtung kann man deutlich bei Johannes Gerson finden. Er lässt die christliche Seele, deren Feinde ihr einflüstern wollen, sie sei von Gott verdammt, so sprechen: „Sicher steht es mit mir nicht so, denn wenn Gott mich hätte verdammen wollen, dann hätte er das schon längst tun können, wo ich es freilich doch längst ver­ dient hätte - wäre mir nicht seine Barmherzigkeit zuvorgekommen. Und wenn er bestimmt hätte, mich der Verdammnis zu übergeben, dann wäre keinesfalls in mir, aufgrund seiner Gabe, diese heftige Sehnsucht zum Bü­ ßen da.“134 So heftig die Anfechtung auch sein mag, es bleibt, aufgrund 133 Haas: Einleitung (wie Anm. 36), S. 75/von Hinten (wie Anm. 52), S. 100,22-29: „Nv spricht man: Ich bin czu dissem allen sampt nicht bereite, dar vmmb mag eß yn mir nicht gescheen. [...] das der mensche nicht bereite ist ader wirt, das ist werlich seyne schult. Vnd hette der mensch anders nicht czu warten vnd czu schicken, den das er der bereitunge wäre neme yn allen dingen, vnnd wie er bereitet wurde yn der warhet. Gott solde yn wol bereiten. Vnd got hat also großen fleiß vnd liebe vnd ernst czu der berei­ tunge, also czu dem yngiessen, wen er bereitet were.“ Mandel (wie Anm. 52), S. 43,6-15: „Nu spricht man: ,lch byn zu dißem allemsampt nit bereyt, darumb mag es yn myr nit geschehen“, [...] Szo antwort man den und spricht: Das der mensch nit bereit ist oder wirt, das ist werlich sein schuld. Wan het der mensch anders nit zu warten oder zu schi­ cken, den daz er der bereitung war nem yn allen dingen und wie er bereyt wurde yn der warheyt, got sollte yn wol bereiten, und got hat alßo großen fleis und lieb und ernst zu der bereitung als zu dem yngießen, wen er bereit were.“ 134 GERSON: De mendicitate spirituali, in: Opera Omnia 3 (wie Anm. 99), Sp. 519AB: „Circa me certe ita non est, quoniam si me damnare Deus voluisset, jam dudum id facere potuisset, si quidem id dudum demerui, nisi misericordia ejus praevenisset me. Si etiam me damnatione tradendum decrevisset, minime mihi, suo munere, hoc tamen vehemens adesset poenitendi desiderium [...]“. In Gersons frz. Fassung: La mendicite spirituel, in:

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von Gottes Gnade, eine rettende Verbindung zu Gott, die nicht unter­ brochen wird. Wir wollen abschließend sehen, wie sich die Dinge bei Bernhard von Clairvaux darstellen, ln seiner fünften Predigt zum Kirchweihfest stellt Bernhard fest, dass bei den Menschen sich keine Möglichkeit befindet, gerettet zu werden, wohl aber bei Gott. Ob Gott es will, ist uns verborgen, wie Eccl 9,1 sagt, aber „hier muss uns der Glaube zu Hilfe kommen, hier muss uns die Frömmigkeit zur Seite stehen. Was über uns im Herzen des Vaters verborgen ist, soll uns durch seinen Geist enthüllt werden, und sein Geist bezeuge und versichere unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind [Röm 8,16]. Er überzeuge uns aber davon, indem er uns ruft und uns durch den Glauben gerecht macht, ohne dass wir es verdient haben. Ohne Zwei­ fel liegt darin gleichsam der Übergang, der die ewige Vorherbestimmung und die künftige Verherrlichung verbindet.“135 Diesen Gedanken entfaltet er in dem Brief 107 an Thomas, Probst von Beverley. Dort stellt er das Beispiel eines Menschen in der Welt dar, „von der Liebe zur Welt und seinem Fleisch noch zurückgehalten. Weil er das Bild des irdischen Menschen trägt [1. Kor 15,49], betreibt er das Irdische und denkt in keiner Weise an das Himmlische. Wer würde diesen nicht umgeben von schrecklicher Finsternis sehen [...]? Diesem ist nämlich noch kein Zeichen seines Heils aufgeleuchtet, noch nicht tut sich ihm irgendeine innerliche Eingebung kund, ob die Vorherbestimmung seit Ewigkeit für ihn etwas Gutes bereithält. Das ist aber der Fall, wenn ihn die himmlische Erbarmung einmal in Gnaden angeblickt und ihm den Geist der Reue [Röm 11,8] gesandt hat [..,]“136. Dann erfährt er an sich die Liebe Gottes, die ihm bis dahin - hier wendet Bernhard Eccl 9,1 an! - ungewiss war. Bernhard fährt fort, diese Erweckung zu beschreiben, und sagt dann: „Schon vertraut CEuvres Completes 7/1 (wie Anm. 68), S. 258. Vgl. die Aussagen über die Hoffnung in derselben Schrift, Opera Omnia 3, Sp. 528A/CEuvres Completes 7/1, S. 268, und in De consolatione theologiae, Prosa IV, CEuvres Completes 9, Paris 1973, S. 196-198. 135 Bernhard: In Dedicatione Ecclesiae Sermo 5, 7, in: S. Bernardi Opera 5 (wie Anm. 11), S. 393,7-13: „Hic iam plane fidem nobis subvenire necesse est, hic oportet sucurrere pietatem, ut quod de nobis latet in corde Patris, nobis per ipsius Spiritum reve­ letur, et Spiritus eius testificans persuadeat spiritui nostro quod filii Dei sumus. Persuadeat autem vocando et iustificando gratis per fidem, in quibus nimirum velut medius quidam transitus est ab aeterna praedestinatione ad futuram magnificationem.“ 136 Bernhard: Epistola 107. Ad Thomam, Praepositum de Beverla, 6, in: S. Bemardi Opera 7 (wie Anm. 11), S. 271,17-23: „Verbi gratia, ponamus hominem in saeculo, sae­ culi adhuc et suae carnis amore retentum, et, cum terrestris hominis imaginem portet, in­ cubantem terrenis, nil de caelestibus cogitantem. Quis hunc non videat horrendis circum­ fusum tenebris [...] Quippe cui nullum adhuc suae salutis signum eluxerit, cui necdum in aliquo interna testetur inspiratio, an boni de se quippiam aeterna teneat praedestinatio. At vero si superna eum miseratio dignanter quandoque respexerit immiseritque spiritum compunctionis [...]“.

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er, guter Vater, der geringste Wurm und des ewigen Hasses ganz und gar würdig, dass er dennoch geliebt wird, weil er fühlt, daß er liebt; vielmehr, weil er im voraus fühlt, dass er geliebt wird, schämt er sich nicht, wieder­ zulieben [...] Er liebt also nicht ohne Grund (non immerito}, weil er ohne Grund (sine merito) geliebt wird.“137 Bernhard arbeitet also heraus, dass der Mensch am Anfang, wenn er zu Gott in Beziehung tritt, nicht selbst Liebe zu Gott hat, und nur darauf sich verlassen kann, dass er von Gott geliebt ist. Bernhard variiert, seiner Ausdrucksweise gemäß138, diese Aussagen, in­ dem er zunächst über das Verhältnis von Rechtfertigung und Vorher­ bestimmung spricht, dann über Jesus Christus, den Gekreuzigten, und über den Heiligen Geist. Beide sind gemeinsam „zweifacher und als solcher sicherster Beweis der Liebe Gottes zu uns“139. Der Gedankengang wird so weitergesponnen, dass nun gesagt wird: „Der Glaube vermag nichts, wenn er nicht in der Liebe wirksam wird [Gal 5,6]. Die Liebe aber ist ein Ge­ schenk des Geistes.“140 Den Geist wiederum teilt Gott dem Menschen in der Rechtfertigung mit; durch den Geist erfährt der Mensch Kenntnis von seiner künftigen Seligkeit, „und kann sich ihrer schon rühmen, in der Hoff­ nung [Röm 5,2], freilich noch nicht in Sicherheit.“141 Man sieht, Bernhard ist imstande, klar zu sagen, dass der Mensch allein auf den Glauben, ohne die Liebe zu Gott zu haben, ohne Verdienste vor­ weisen zu können, ohne vorbereitet zu sein, angewiesen ist, dadurch aber vom Heiligen Geist die Gewissheit empfängt, von Gott geliebt zu sein, damit gerechtfertigt wird und darin auch Gewissheit der Vorherbestim­ mung erhält. Kaum hat man es sich versehen, ist Bernhard aber bei Aussa­ gen, welche erklären, der Glaube sei auf die tätige Liebe angewiesen und die Gewissheit wieder einschränken. Man muss daraus den Schluss ziehen, dass für Bernhard die Rechtfertigung des Gottlosen nicht in demselben Maße Thema war wie für Luther. Ist er bei diesem Thema, kann er so spre­ chen wie - ihm nachfolgend - Luther. Aber er bleibt nicht lange bei die­ sem Thema. 137 Ebd. 7, in: S. Bemardi Opera 7, S. 272,15-19. „Iam se, o bone Pater, vermis vilis­ simus et odio dignissimus sempiterno, tamen confidit amari, quoniam se sentit amare: immo, quia amari se praesentit, non redamare confunditur [...] Amat proinde non im­ merito, quia amatus est sine merito“. 138 Zur Charakterisierung von Bernhards Stil zu denken und zu sprechen, vgl. Grosse: Spiritus (wie Anm. 71), S. 198. 139 Bernhard: Epistola 107,8, in: S. Bernardi Opera 7 (wie Anm. 11), S. 273,9f.: „O geminum, ipsumque firmissimum Dei erga nos amoris argumentum!“ 140 Ebd. 9, in: S. Bemardi Opera 7, S. 273,24-274,1: „nec fides valet, si non operatur ex dilectione. Dilectio autem donum Spiritus est.“ 141 Ebd. 10, in: S. Bernardi Opera 7, S. 274,21-22: „interim glorietur in spe, nondum tamen in securitate.“

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Bei Luther gewinnt die Anfechtung, gewinnt die Gefährdung der Ver­ bundenheit des Menschen mit Gott eine Macht, die sie zuvor, bei Bern­ hard, bei Gerson, in der ,Theologia Deutsch1 und bei Tauler nicht hatte oder er denkt sie konsequenter durch. Im Angesicht dieser Gefährdung konzentriert sich Luther konsequent auf die biblischen Zeugnisse, die in dieser Lage den Menschen stützen können und filtert dabei aus der Tradi­ tion, in der er steht, die Aussagen, in welcher diese biblischen Zeugnisse aufbereitet werden.

5. Schlussfolgerungen 5.1 Die vorreformatorische Mystik Man kann der vorreformatorischen Mystik im Raume des Christentums den Vorwurf machen, sie sei de facto einer aus dem Neuplatonismus stammenden Ontologie gefolgt. Sie geht zwar mit den theologischen Aus­ sagen um, welche auf der Offenbarung Gottes in der Heilsgeschichte grün­ den und die von der Kirche verbürgt werden, aber sie dienen ihr dann nur noch als „symbolische Einkleidung“, als „inadäquates Symbol“142. Dieses Gefalle zur ontologischen Deutung hin scheint seinen Grund zu haben in der gemeinscholastischen Lehre von der Ungewissheit des Gnadenstandes, die vor allem mit Eccl 9,1 begründet wurde143. Wenn die Gnade ungewiss ist, worauf soll der Mensch vertrauen können, wenn nicht - jedenfalls im­ plizit - auf die Kräfte, die seiner Natur verblieben sind und unauslöschlich auf Gott hin ausgerichtet sind, also konkret auf die Kraft seiner Syn­ deresis?144 Die Einsicht in das dialektische Wesen christlicher Mystik, die von zwei gegenläufigen, aber zugleich miteinander verknüpften Tendenzen be­ stimmt wird, führt indes zu einer anderen Beurteilung. Betrachten wir noch einmal die oben gegebene Stelle aus Gerson ,De mendicitate spirituali1: „Sicher steht es mit mir nicht so, [dass ich verdammt bin,] denn wenn Gott mich hätte verdammen wollen, dann hätte er das schon längst tun können, wo ich es freilich doch längst verdient hätte - wäre mir nicht seine Barm­ herzigkeit zuvorgekommen. Und wenn er bestimmt hätte, mich der Ver­ 142 Karl Heim: Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher, Leipzig 1911, S. 139 und 108. 143 Siehe JOHANN AUER: Die Entwicklung der Gnadenlehre in der Hochscholastik un­ ter besonderer Berücksichtigung des Kardinals Matteo d’Acquasparta, Erster Teil: Das Wesen der Gnade, Freiburg 1942, S. 312-322. 144 Dies ist das Kernargument bei Grosse: Heilsungewißheit (wie Anm. 75), S. 131140 - dem entspricht dann die Gegenüberstellung Luthers, ebd. S. 140-158. Desgleichen in Grosse: Existentielle Theologie (wie Anm. 69), S. 97-99 und 99-111.

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dammnis zu übergeben, dann wäre keinesfalls in mir, aufgrund seiner Gabe, diese heftige Sehnsucht zum Büßen da.“145 Wir wollen annehmen, dass sich hier eine Hoffnung ausspricht auf die in Jesus Christus gegrün­ dete Barmherzigkeit Gottes und nicht bloß eine christlich eingekleidete Ausrichtung des Synderesis auf das summum bonum, welches diffusivum sui ist. Der angefochtene Christ vertraut demnach nicht auf etwas, das in ihm ist, weder auf die eingegossene Gnade noch auf seine Synderesis, son­ dern auf die Barmherzigkeit Gottes, die ihm unbezweifelbar ist. Die An­ fechtung gewinnt bei ihm nur nicht den Grad, dass diese Barmherzigkeit verborgen wäre, weil keine Sehnsucht zum Büßen da ist. Trotz aller Anfechtungserfahrung ist das Bewusstsein einer unver­ brüchlichen Verbundenheit mit Christus bei den mittelalterlichen Mysti­ kern sehr stark. Sie befanden sich nicht in der Lage vor dem Eintreten der christlichen Offenbarung in die Welt - so dass sie letztlich nichts als eine natürliche mystische Ontologie vertreten hätten -, sondern sie waren in der Lage nach ihrem Eintreten. Sie setzen die heilsgeschichtliche Offenbarung mit einer solchen Selbstverständlichkeit voraus, dass sie zuweilen gar nicht mehr zur Sprache gebracht wird146. Aus diesem Grunde sind sie so schnell bei der transzendierenden Tendenz der Mystik, auch wenn die kondeszendierende Tendenz, welche an die Herabkunft Gottes in seine Schöpfung und in die Geschichte erinnert, immer wieder zur Sprache kam. Aus die­ sem Grunde waren sie auch so unbekümmert in der Integration bestimmter neuplatonischer Philosophoumena. Sie wollten damit die Konsequenzen aus der Offenbarung für die Auffassung der Ordnung des Seins entwickeln und ausschöpfen. Unter der Hand hätte es allerdings zu einem Umkippen hochgemuten christlichen Integrationswillens in eine nur noch christlich verbrämte heid­ nische Philosophie kommen können. Vielleicht ist dies auch erfolgt. Aber das ist schwierig zu bestimmen. Die Krisis des Abendlandes zu Beginn des 145 Siehe oben bei Anm. 134. 146 Dies könnte bei Dionysius Areopagita der Fall gewesen sein, vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Freiburg u. a. 1994, Bd. 1, S. 267-269. - Was die ,Theologia Deutsch“ betrifft, lässt sich das Urteil von Alois Haas zitieren: „Es ließe sich für jeden philosophischen Gedanken und für jedes in der TD [= ,Theologia Deutsch“] vorgetragene Theologoumenon dieser archetypische Bezug auf Christus eigens ausweisen, wenn auch auf der anderen Seite - allerdings in bloßen Ansätzen - sich eine selb­ ständige philosophisch-neuplatonische Denkfigur abzeichnet, die allerdings immer wie­ der christologisch aufgefangen wird.“ Vgl. Alois Haas: Die .Theologia Deutsch“. Kon­ stitution eines mystologischen Texts, in: Das .einig Ein“ (wie Anm. 67), S. 411. Ebd. S. 41 lf., in Anm. 111 zu der zitierten Stelle die Vermutung: „Diese Christuszentriertheit, die rangmäßig durchaus über die neuplatonischen Denkgehalte der TD inhaltlich und formal hinausreicht, muß Luther fasziniert haben, auch wenn eine theologia crucis in der TD gewissermaßen nur in Spurenelementen vorhanden ist.“

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16. Jahrhunderts kam in einer solchen Anfechtungserfahrung zum Aus­ druck, wie Martin Luther sie machte. Die Christlichkeit des Abendlandes erkannte er als die eines Halb-, als eines Scheinchristentums147. Dies nö­ tigte ihn dazu, sich in einer viel radikaleren Weise als wohl jemals zuvor zu vergewissern, was christliche Existenz ist und auf welcher Grundlage sie ruht. Damit wurde aber die Trennlinie zwischen dem ontologischen und dem heilsgeschichtlichen Muster wieder deutlich. Die Zweideutigkeit der Mystik musste überwunden werden. Die kondeszendierende Tendenz musste die Oberhand gewinnen148. *

5.2 Luther Was Luther betrifft, so sehen wir, dass seine reformatorische Rechtferti­ gungslehre in einem unauflösbaren Zusammenhang mit einem Grund­ konzept christlicher mystischer Theologie steht. Die hier herausgearbeite­ ten Eckpunkte der traditionellen mystischen Theologie werden nie von Luther verworfen oder auch nur ignoriert. Umgekehrt erhält die Rechtfer­ tigungslehre gerade erst ihren Sinn durch ihre Zugehörigkeit zu dem Zu­ sammenhang der mystischen Theologie. Denn sie bestimmt, unter welchen Bedingungen ein Mensch überhaupt erst den mystischen Aufstieg zu Gott antreten kann. Wenn wir sagen, Luthers „reformatorische“ Rechtfertigungslehre, dann deswegen, weil dieser Zusammenhang sich auch noch 1520 oder noch später bis gegen Ende seines Lebens findet, also in einer Zeit, in welcher der „reformatorische Durchbruch“, für wann auch immer man ihn datiert, stattgefunden haben muss. Andererseits lässt sich dieser Zusammenhang und lassen sich die für Luther charakteristischen Akzentuierungen inner­ halb dieses Zusammenhanges schon in der ersten Psalmenvorlesung fin­ den, möglicherweise, wenn entsprechende Studien dies zeigen, auch schon früher. Damit soll nicht behauptet sein, dass sich nicht im Laufe seines Lebens Veränderungen in Luthers Lehre von der Rechtfertigung vollzogen hätten. Aber diese Veränderungen verlassen nicht den Rahmen dessen, was in der bisherigen mystischen Theologie denkmöglich war und gelegentlich auch gesagt worden ist. Damit ist auch entschieden, dass eine sogenannte „Demutstheologie“ nicht als ein Vorstadium der reformatorischen Rechtfertigungslehre in der Weise angesehen werden kann, dass sie sich von dieser wesentlich unter-

147 Scholion zu Ps 68,2, WA 55/11, S. 383,1-385,56. 148 Mit dieser Deutung der vorreformatorischen Mystik vollziehe ich eine Revision der in früheren Schriften geäußerten Spitzensätze, siehe oben Anm. 144 und Grosse: Spiritus (wie Anm. 71), S. 200f.

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scheide149. Die Demutstheologie ist nichts anderes als die mystische Theologie, und in deren Grenzen bleibt Luther. Schließlich ist bei dem Begriff des „Durchbruchs“ oder des „Bruchs“ immer zu bedenken, woge­ gen denn der Durchbruch erfolgt. Bedenkt man das berühmte Selbstzeug­ nis von 1545 oder auch Melanchthons Lutherbiographie von 1546 oder den Brief vom 30. Mai 1518, dann ist dreierlei denkbar, wogegen sich der Durchbuch gewendet haben könnte. Erstens gegen die Überzeugungen und gegen die seelische Befindlich­ keit, die Luther persönlich damals hatte. Er verstand iustitia Dei als iustitia activa und sah sich unter denen, die Gott kraft seiner iustitia activa nicht belohnen, sondern bestrafen wird; er glaubte nur in einem allgemeinen, nicht in einem reflexiven Sinne an die Vergebung der Sünden und wurde erschüttert durch das Bewusstsein seines Sünder-Seins im Angesicht des Zornes Gottes; die Vorstellung, durch die Buße sich erst zur Liebe zu Gott durcharbeiten zu müssen, war ihm bitter. Gegen diese Überzeugungen vollzog der junge Luther schrittweise einen Durchbruch - oder, wenn man so sagen will: Er vollzog an mehreren Punkte Durchbrüche. Er gewann mit diesen neuen Überzeugungen Heilmittel gegen die seelischen Zustände der Anfechtung, auch wenn diese auch später noch immer wiederkehrten. Zweitens kann man fragen nach den Lehrsystemen, welchen diese ein­ zelnen Überzeugungen entnommen waren, die Luther schrittweise ab­ lehnte, also die Auffassung, die iustitia Dei in Röm 1,1 sei als iustitia activa zu verstehen, von der Sündenvergebung könne man nie eine mehr als eine vermutungsweise Gewissheit haben, und die Buße müsse der Liebe zu Gott vorangehen. Man wird diese Lehren in den Schulen der scholastischen Theologie - oder auch der Kanonisten - finden, wird aber auch genau darauf achten müssen, welche Scholastiker von dem Schlacht­ ruf getroffen sind, den Luther 1517 mit dem Titel der ,Disputatio contra scholasticam theologiam1 erhob. Drittens kann man fragen, ob sich die Durchbrüche des jungen Luther auch gegen die mystische oder - als „Frömmigkeitstheologie“ transfor­ mierte - monastische Theologie richtete. Diese Frage muss indes verneint

149 Zur Charakteristik dieser „Demutsfrömmigkeit“ vgl. Ernst Bizer: Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, 3., erw. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1966, S. 22; Martin Brecht: Martin Luther (wie Anm. 3), S. 134-137. Demgegenüber zeigt Hamm: Warum wurde für Luther (wie Anm. 126), S. 118-120, dass Demut und Glaube begrifflich notwendig miteinander ver­ bunden sind: Es gibt keinen Glauben ohne Demut, und umgekehrt. Es mag je nach Le­ benslage einmal mehr die „dunkle“ Seite der Demut vorherrschen oder die „helle“ Seite des Glaubens und der Hoffnung. Vgl. Luther: De servo arbitrio, WA 18, S. 632,27633,6/BoA 3, S. 123,34-124,15, verknüpft mit der Passage WA 18, S. 633,16-24/BoA 3, S. 124,16-37.

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werden150. Hier findet eine, allerdings charakteristische, in ihrer radikalen denkerischen Konsequenz wohl noch nie dagewesene Positionierung in­ nerhalb eines Grundkonzepts statt, das bewahrt wird. Diese Positionierung ist die Konsequenz aus der Erfahrung der Anfechtung. Um diese Erfahrung denkerisch zu bewältigen, greift er auf die antipelagianischen Schriften Augustins zurück, weil dort die völlige Angewiesenheit des Menschen auf die Gnade Gottes gelehrt wird. Augustin hätte auch als Vertreter des mys­ tischen Gesamtkonzepts herangezogen werden können, ist er doch ihm zuzurechnen. Doch seine spezifische Bedeutung für Luther erhält er durch seine Gnadenlehre, die Luther noch weiterentwickelt und radikalisiert. Weil die Mystik für Luther kein Durchgangsstadium gewesen ist, kann nun auch verstanden werden, weshalb seine Schüler, weshalb die ihm nachfolgende Epoche der „lutherischen Orthodoxie“ so intensiv und exten­ siv „vorreformatorische“ Mystik rezipiert hat. Nachdem man sich mittels der reformatorischen Rechtfertigungslehre darüber vergewissert hatte, auf welchen Grundlagen christliche Existenz beruhen muss, konnte und musste man sich wieder den Quellen zuwenden, die eine Anleitung für das inner­ liche christliche Leben boten151. All dies soll nun nicht besagen, dass sich in Luthers Umgang mit der Mystik nur bestimmte Akzentuierungen und Schlussfolgerungen finden. Aus seiner Fassung der mystischen Theologie entstanden auch Neuansätze, die an ihrer jeweiligen Stelle einen Bruch mit der Tradition darstellten und insofern „reformatorisch“ sind. Angesichts der Anfechtung konzentriert sich alles auf das Wort der Verheißung, das Gnade zusagt und nur geglaubt werden kann. Aus diesem Grunde bekommt der Gedanke Augustins für ihn ein solches Gewicht, dass das Sakrament einzig dadurch wirkt, dass man

150 Zu der Frage, ob nicht zumindest Dionysius Areopagita auch der Sache nach durch Luthers Verdikt in ,De captivitate babylonica' getroffen worden ist, siehe oben Anm. 146. 151 Dazu Johann Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio - Imago - Figura - Maria - Exempla, Leiden u.a. 2002 (= Studies in the History of Christian Thought 104), S. xv; zum Ganzen vgl. ebd. S. xi-xx und S. 52-58, DERS.: Johann Gerhard (1582-1637). Studien zu Theologie und Frömmig­ keit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997 (= Doctrina et pietas 1.1), S. 52-123. Bernhard von Clairvaux wurde geradezu der Kirchenvater der geistlichen lutherischen Literatur des 17. Jahrhunderts, vgl. Sven Grosse: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, Göttingen 2001 (= For­ schungen zu Kirchen- und Dogmengeschichte 83), S. 243-252 und 266-274; ders.: Fünffeckichte Brustwehr, Schmerzens-Schauspiel, gespießte Fledermauß. Die Passionsbetrachtung im .Pentagonum Christianum' des Johann Hülsemann, in: Johann Anselm Steiger, Ralf Georg Bogner, Ulrich Heinen, Renate Steiger, Melvin Unger und Helen Watanabe-O'Kelly (Hg.): Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 2005 (= Wolfenbütteier Arbeiten zur Barockforschung 43), Bd. 1, S. 391-404.

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dem Wort im Sakrament glaubt152. Luthers Konzentration auf die Anfangs­ bedingungen des mystischen Weges führt damit zu einer Neufassung der Sakramentenlehre. Auch das Sakrament der Eucharistie wird auf das in ihr enthaltene Wort konzentriert, welches die spezifische Gestalt des „testa­ mentum“ hat153. Daraus entstehen nun wiederum Konsequenzen für die Ekklesiologie. Weil nichts mehr bieten kann als das Wort der Verheißung, folgert Luther, dass es keine hierarchischen Stufen von Priestern, Bischö­ fen und Päpsten gibt; wer getauft ist, also die Verheißung in der Taufe empfangen hat, hat Teil am allgemeinen Priestertum154. Das Amt in der Kirche kann dann nichts mehr anderes sein als dasjenige, das Wort zu pre­ digen155. Die Kirche ist unsichtbar, weil sie im Glauben versammelt ist. Ihr geistliches Wesen tritt nach außen allein in dem Wort, welches den Glau­ ben hervorbringt, bzw. in den Sakramenten, in welchen das Wort das Ent­ scheidende ist, nicht aber in der Bindung an das Papsttum156. Die Gelübde für eine mönchische Lebensform sind nur dann christlich legitim, wenn man nicht beabsichtigt, sich mit ihnen das zu verschaffen, was allein durch den Glauben an Gottes Verheißung erlangt werden kann157. All dies sind bestimmte Anwendungen der Rechtfertigungslehre, durch welche Luther Einspruch gegen bisherige Traditionen der Kirche erhob. Andererseits muss man fragen, ob das so bestimmte Wesen des reformato­ rischen Christentums wirklich schlechthin unvereinbar ist mit dem mittel­ alterlichen Christentum oder dem Christentum des tridentinischen Katholi­ zismus, insofern dies durch den Gradualismus charakterisiert sein soll158. 152 Augustinus: In Iohannis Evangelium Tractatus CXXIV, tract. LXXX, 3, zu Joh 15,3, in: Patrologiae cursus completus. Accurante Jacques-Paul Migne. Series Latina 35, Sp. 1840/Corpus Christianorum. Series Latina 36, S. 529,5-11: „Accedit uerbum ad ele­ mentum, et fit sacramentum [...]. Vnde osta tanta uirtus aquae, ut corpus tangat et cor abluat, isi faciente uerbo, non quia dicitur, sed quia creditur?“ Von Luther in der An­ fangszeit zitiert etwa in der Hebräerbriefvorlesung, Scholion zu Hebr 5,1, Vorlesung über den Hebräerbrief (wie Anm. 19), S. 173,l4f./WA 57/III, S. 170,3f.; Sermo de poenitentia, WA 1, S. 324,17; Acta Augustana, WA 2, S. 15,28f., jeweils verbunden mit dem Zitat aus Bernhards Verkündigungspredigt. 153 Galaterbriefvorlesung, zu Gal 3,17, WA 57/11, S. 82,2-15, Hebräerbriefvorlesung, Scholien zu Hebr 9,14 und 9,16f„ WA 57/111, S. 207,27-209,13 und 211,16-212,23; vgl. Reinhard Schwarz: Der hermeneutische Angelpunkt in Luthers Meßreform, in: Zeit­ schrift für Theologie und Kirche 89 (1992), S. 340-364, insbesondere S. 342f. 154 An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6, S. 407,10-28/BoA 1, S. 366,30367,10. 155 De captivitate babylonica praeludium, WA 6, S. 564,15f./BoA 1, S. 501,34f. 156 Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (1520), WA 6, S. 300,32-301,10. 157 De votis monasticis iudicium, WA 8, S. 604,9-23. 158 Hamm: Von der Gottesliebe (wie Anm. 15), S. 29, Anm. 38, dort Verweis auf: Günther Müller: Gradualismus. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissen­ schaft und Geistesgeschichte 2 (1924), S. 681-720; Hamm: Einheit und Vielfalt der Re­

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Denn die Rechtfertigungslehre Luthers als der Ausgangspunkt seiner Neuerungen steht in einem unaufgekündigten Zusammenhang mit der mystischen Theologie, und für diesen Zusammenhang gilt das Wort Bern­ hards „Gradus est auditus ad visum.“159 Wohl ist im leiblichen Wort alles zugesagt, was der Mensch erhalten kann, aber all dies soll noch für ihn entfaltet werden.

formation - oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: Hamm, Moeller und Wendebourg: Reformationstheorien (wie Anm. 26), S. 69-71; Wendebourg: Die Einheit der Reformation als historisches Problem, in: ebd. S. 37. 159 Bernhard: Sermones super Cantica Canticorum 41, 11,2, in: S. Bernardi Opera 2 (wie Anm. 11), S. 29,28f.

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Wie mystisch war der Glaube Luthers? 1. Die Themenstellung angesichts der veränderten Forschungslage Wenige Themen wurden in den vergangen vierzig Jahren von der Luther­ forschung so intensiv und kontrovers und mit einem so großen Erkenntnis­ gewinn diskutiert wie das Thema ,Luther und die Mystik1’. Die Diskussion ist keineswegs abgeschlossen oder in einem Erschöpfungszustand, sondern in vollem Gange, ja man kann sagen, dass sie vielleicht gerade gegen­ wärtig in eine Phase der unbefangenen Klärung eingetreten ist. Die neue Unbefangenheit hat eine konfessionelle und eine historische Dimension. Zum einen ist auf evangelischer Seite eine typisch protestantische Be­ rührungsscheu allem Mystischen gegenüber im Verschwinden begriffen. Die Zeiten, in denen man sich aus konfessioneller Perspektive auf die Formel versteifte: Die Mystik ist ihrem Wesen nach katholisch (so etwa Adolf von Harnack als typische Stimme der liberalen Schule Albrecht

1 Eine gewisse Zäsur markieren die Vorträge und Diskussionen zu diesem Thema auf dem 3. Internationalen Kongress für Lutherforschung 1966 in Järvenpää (Finnland); vgl. den Kongressband: Ivar Asheim (Hg.): Kirche, Mystik, Heiligung und das Natürliche bei Luther, Göttingen 1967, und darin besonders die Beiträge von Heiko Oberman: Simul gemitus et raptus: Luther und die Mystik, S. 20-59, und Erwin Iserloh: Luther und die Mystik, S. 60-83. Obermans Aufsatz ist wieder abgedruckt in: DERS.: Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, S. 45-89 (danach zitiert), Iserlohs Aufsatz in ders.: Luther und die Reformation. Beiträge zu einem ökumenischen Lutherverständnis, Aschaffenburg 1974, S. 62-87 (danach zitiert). Iserlohs Studie halte ich für den vielleicht bemerkenswertesten Beitrag zum Thema aus der gesamten neueren Forschung, weil er als katholischer Lutherforscher die Quellen auf erfrischende Weise neu liest und so - ohne Sorge um das protestantische Profil Luthers - von der Mystik Luthers sprechen kann, ganz im Gegensatz zu Bengt Hägglund im gleichen Tagungsband (Luther und die Mystik, S. 84-94), der das dezidierte Urteil formuliert (S. 86): „Die Mystik ist katholisch, wird von einem Gottesgedanken oder einem religiösen Leitgedanken beherrscht, der dem Luthertum fremd ist. Deshalb kann zwischen Luther und der Mystik kein wirklich positi­ ves Verhältnis bestanden haben.“ - Seit Järvenpää ist für die wissenschaftliche Charakte­ risierung des Verhältnisses Luthers zur Mystik ein vorsichtiges Einerseits - Andererseits bestimmend geworden; vgl. den Forschungsüberblick von Volker Leppin: Luther-Lite­ ratur seit 1983 (II), in: Theologische Rundschau 65 (2000), S. 431-454: hier S. 439-442.

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Ritschls2), oder: Evangelischer Glaube und Mystik verhalten sich wie Feuer und Wasser zueinander (so Karl Barth und seine Richtung der Dia­ lektischen Theologie3), scheinen vorbei zu sein. Ein sehr differenzierter Mystik-Begriff lässt die Möglichkeit offen, auch das Glaubensverständnis der Reformation im Sinne einer pointiert evangelischen Mystik zu deuten. Vor allem aber wird so die Möglichkeit eröffnet, nicht nur die von Luther als ,Schwärmer' bekämpften reformatorischen Spiritualisten als mystische Theologen zu verstehen, sondern ihn selbst als Begründer einer evangeli­ schen Mystik und eines Heimatrechts mystischer Spiritualität im Protes­ tantismus zu sehen. Hinzu kommt zweitens eine völlig veränderte historische Perspektive: Wir haben es in den vergangenen vierzig Jahren gelernt, das Mittelalter nicht mehr monolithisch als katholisches Mittelalter zu sehen, sondern als eine Ära mit tiefgreifenden Zäsuren, Spannungen und Gegenläufigkeiten, aus der sowohl das römisch-katholische Christentum der Neuzeit als auch das reformatorische Christentum hervorgegangen sind4. Das bedeutet aber nun, dass wir die enorme Innovationsdynamik Luthers nicht nur als Wider­ spruch gegen bestimmte Erscheinungsformen der mittelalterlichen Kirche, Theologie und Frömmigkeit verstehen, sondern vor allem auch als kreative Fortsetzung einer typisch spätmittelalterlichen Reformdynamik und daher auch als Fortführung einer bestimmten Art von Christusmystik5.

2 Vgl. Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte III, 4. Aufl., Tübin­ gen 1910, S. 433f. 3 Vgl. Walther von Loewenich: Luthers Theologia crucis, 5. Aufl., Witten 1967, S. 170-173. Von Loewenich schließt sich dem Urteil von Karl Barth, Friedrich Gogarten und Emil Brunner an und kommt zum Ergebnis (S. 172): „Darum verhalten sich Glaube und Mystik zueinander wie Feuer und Wasser.“ Vgl. aber das sehr viel vorsichtigere Urteil des Autors im Nachwort zur 4. Aufl. (1954), aufgenommen in die 5. Aufl., S. 205f. 4 Zu dieser Auffassung von einem doppelgesichtigen Mittelalter, insbesondere einem Spätmittelalter der Gegensätze, vgl. VOLKER Leppin: Von der Polarität zur Vereindeutigung. Zu den Wandlungen in Kirche und Frömmigkeit zwischen spätem Mittelalter und Reformation, in: Gudrun Litz, Heidrun Munzert und Roland Liebenberg (Hg.): Frömmig­ keit - Theologie - Frömmigkeitstheologie. Contributions to European Church History, Festschrift für Berndt Hamm, Leiden/Boston 2005, S. 299-315; vgl. ebenso BERNDT Hamm: Die Stellung der Reformation im zweiten christlichen Jahrtausend, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 15 (2000), Neukirchen-Vluyn 2001, S. 181-220: hier besonders S. 198-205. Vgl. auch den Titel der folgenden Anm. 5. 5 Vgl. Berndt Hamm: Wie innovativ war die Reformation?, in: Zeitschrift für histo­ rische Forschung 27 (2000), S. 481-497.

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2. Spätmittelalterliche Reformtheologie als Resonanzraum einer diffundierenden Mystik Man kann dabei, um nur einen Kontinuitätsstrang zu nennen, an eine be­ stimmte Richtung der erbaulichen, lebenspraktischen und seelsorgerlichen Theologie des 15. Jahrhunderts denken, deren Merkmale ich so beschrei­ ben kann: (1.) eine Konzentration auf Verinnerlichung, Herzensgebet, Meditation, lebenslange Buße, Demut und Nachfolge des leidenden Christus; (2.) eine Betonung der menschlichen Armut, Schwäche und Sündhaftigkeit und der immensen göttlichen Barmherzigkeit, die gerade dem größten Sünder gilt und ihm in der Menschwerdung und Passion Christi nahe kommt; (3.) eine starke Akzentuierung der innigen Liebes­ gemeinschaft der Seele mit dem erniedrigten und auferstandenen Christus, dessen rettende Gegenwart von jedem Christen persönlich als Wirklichkeit für ihn und in ihm - pro me und in me - erfahren werden soll. Eine derart christozentrisch und gnadentheologisch zugespitzte Erfahrungstheologie fand ihre primäre Zielrichtung jenseits der Universitäten. Sie war stark klösterlich geprägt, indem sie vor allem aus den monastisch vermittelten Quellen Augustins und Bernhards von Clairvaux schöpfte6. Besonders cha­ rakteristisch für die Jahrzehnte vor der Reformation ist allerdings, dass diese theologischen Reformimpulse auch über den klösterlichen Bereich hinaus in gebildete Laienkreise hinein wirkten und deren religiösem Ver­ langen eine neue Intensität der Selbstbeobachtung, Seelentröstung und per­ sönlichen Lebensformung vermittelten. Der wichtigste Vertreter einer der­ artigen ,Frömmigkeitstheologie‘7 war für den jungen Mönch Martin Luther sein Ordensvorgesetzter, Seelsorger und Lehrer Johannes von Staupitz8. Staupitz ist nicht isoliert zu sehen, sondern ist - auf durchaus originelle Weise - ein Exponent jenes theologischen Veränderungsschubes vor und nach 1500, ohne den man die Genese von Luthers eigener Theologie nicht verstehen kann. 6 Zu dieser Art von Theologie (in Verbindung mit der intensiven Rezeption Bern­ hards von Clairvaux) vgl. Ulrich Köpf: Monastische Theologie im 15. Jahrhundert, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 11 (1992), S. 117-135; ders.: Monastische und scholastische Theologie, in: Dieter R. Bauer und Gotthard Fuchs (Hg.): Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, Innsbruck 1996, S. 96-135. 7 Vgl. Berndt Hamm: Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Hans-Jörg Nieden und Marcel Nieden (Hg.): Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit, Festschrift für Wolfgang Sommer, Stuttgart 1999, S. 9-45; dort S. 27f. eine Verhältnisbestimmung zwischen ,monastischer Theologie' und .Frömmigkeitstheologie' in dem Sinne, dass letztere die erstere als einen Teilbereich umfasst und zugleich aus dem Bereich des Monastischen herausführt. 8 Vgl. Berndt Hamm: Artikel ,Staupitz, Johann(es] von', in: TRE 32 (2001), S. 119127 (mit Literatur).

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Sieht man unbefangen, d.h. ohne Sorge darum, dass das unverwechsel­ bare theologische Profil Luthers und des evangelischen Glaubens aus dem Blick geraten könnte, die tiefe Verankerung der neuen Theologie Luthers in den Grundlagen jener spätmittelalterlichen Reformtheologie, die ich kurz charakterisiert habe, dann wird man auch wahrnehmen können, wie intensiv Luthers Theologie in bestimmten Traditionen der Mystik wurzelt. Ist doch für zahlreiche Vertreter dieser seelsorgerlichen Theologie vor der Reformation charakteristisch, dass sie aus mystischen Quellen schöpfen und in ihr theologisches Programm die Anleitung zu mystischer Erfahrung integrieren. Die Frömmigkeitstheologie wurde zur Grundlage einer diffun­ dierenden Mystik9. Ein Beispiel dafür ist die berühmte ,Imitatio Christi4 des frühen 15. Jahrhunderts10. 11 Aber noch eindrucksvoller präsentiert Stau­ pitz die Architektur seiner Theologie als eine bestimmte Form von Christusmystik. Diese ganz und gar auf den spirituellen Lebensvollzug der Gottesliebe ausgerichtete Theologie, wie er sie in der Adventszeit 1516 von der Kanzel der Nürnberger Augustinerkirche predigte" und schon vor­ her seinem Ordensbruder Luther im Hörsaal und im persönlichen Gespräch vermittelt hatte12, integrierte nicht nur mystische Begriffe, Motive und 9 Vgl. dazu meinen Beitrag ,Gott berühren1 oben S. 113 mit Anm. 11 und 12. 10 Die durch das Autograph des Thomas von Kempen (1441) überlieferte, vermutlich auch von ihm selbst redigierte .Imitatio Christi’ übt zwar Kritik an einer hochfliegenden spekulativen, visionären und nur genussorientierten Mystik, vertritt aber auf der Ebene des alltäglichen Umgangs mit dem leidenden Christus das durchaus anspruchsvolle Pro­ gramm einer Demuts-, Liebes- und Passionsmystik und einer so zu gewinnenden mysti­ schen Freiheit in Christus von den Verstrickungen der Welt als Antizipation himmlischer Seligkeit. Vgl. z.B. Buch II, Kap. 1, S. 128-135; Kap. 7 und 8, S. 148-155 mit der For­ mulierung in 8, Nr. 32, S. 154: „Et re vera ad hoc non pervenies, nisi gratia eius [Christi] fueris praeventus et intractus, ut omnibus evacuatis et licentiatis solus cum solo uniaris“; Buch III, Kap. 5-8, S. 196-215; Kap. 21, S. 254-259; Kap. 31, S. 290-295 mit der For­ mulierung in Nr. 10/1 1, S. 292: „Ad hoc magna requiritur gratia, quae animam levet et supra semetipsum rapiat. Et nisi homo sit in spiritu elevatus et ab omnibus creaturis libe­ ratus ac Deo totus unitus, quidquid scit, quidquid etiam habet, non est magni ponderis.“ Die Seitenangaben beziehen sich auf die von mir benützte zweisprachige Ausgabe von Friedrich Eichler: De imitatione Christi/Nachfolge Christi, München 1966. 11 Staupitz verarbeitete diese Adventspredigten zum Traktat ,De exsecutione aeternae praedestinationis1, der Anfang 1517 sowohl in der lateinischen Originalfassung als auch in der deutschen Übersetzung des Nürnberger Ratskonsulenten Christoph Scheurl d.J. erschien; beide Textfassungen sind ediert in der Ausgabe: Johann von Staupitz: Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis/Ein nutzbarliches büchlein von der entliehen volziehung ewiger fürsehung, bearbeitet von Lothar Graf zu Dohna, Richard Wetzel und Albrecht Endriß, Berlin/New York 1979 (= Staupitz: Sämtliche Schriften 2). Zur Position dieser Schrift in der Abfolge der gedruckten Traktate Johanns von Staupitz vgl. unten Anm. 52 und 53. 12 Keine andere Person gewann für Luther nach seiner Prägung durch die Eltern und vor seiner Begegnung mit Katharina von Bora eine so große Bedeutung wie sein , geistli-

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Erfahrungsaspekte, sondern ist, wie ich noch zeigen werde, in ihrer Grund­ struktur mystische Heilslehre. Vor diesem Hintergrund stellt sich mir die Frage nach dem mystischen Charakter der reformatorischen Theologie Luthers in einer Zuspitzung, die über den verbreiteten Konsens der gegen­ wärtigen Lutherforschung hinausblickt.

3. Die These: Der mystische Grundcharakter der Theologie Luthers Unbestritten ist unter den Spezialisten, dass Luther während seiner frühen Klosterjahre und der Ausbildung seiner neuen Theologie verschiedene Traditionen und Motive mittelalterlicher Mystik kennen lernte und verar­ beitete13 14 und dass er bestimmten mystischen Theologen wie Bernhard von Clairvaux, Johannes Gerson und besonders Johannes Tauler und dem sog. Frankfurter mit seiner ,Theologia deutsch114 größte, ja z.T. hymnische Hochschätzung entgegenbrachte15. Von daher wird nicht bezweifelt, dass eher Vater1 Johannes von Staupitz, wobei viel stärker, als es üblicherweise geschieht, auch besonderer Nachdruck auf die lehrhaft-theologische Dimension dieser Beziehung gelegt werden sollte - gemäß dem Zeugnis Luthers, dass Staupitz „die doctrinam ange­ fangen“ habe (WA.TR 1, S. 245,12, Nr. 526, Frühjahr 1533 = Otto Scheel (Hg.): Do­ kumente zu Luthers Entwicklung, 2. Aufl., Tübingen 1929, Nr. 274) und dass Staupitz „erstlich mein Vater ynn dieser lere gewest ist“ (Luther: Brief an Kurfürst Johann Friedrich, 27. März 1545, WA.B 11, S. 67,7, Nr. 4088 = Scheel: Dokumente, Nr. 512). Vgl. Richard Wetzel: Staupitz und Luther, in: Volker Press und Dieter Stievermann (Hg.): Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986, S. 75-87. Vgl. auch unten S. 256 mit Anm. 51. 13 So wurde Luther als Bibelausleger schon frühzeitig, spätestens während seiner Ers­ ten Psalmenvorlesung, mit mystischen Termini und Gedankengängen in den einschlägi­ gen exegetischen Werken der Schultheologie vertraut gemacht. Vgl. Oberman: Simul gemitus et raptus (wie Anm. 1), S. 73-82 (mit der übertreibenden Bezeichnung „Exegeti­ sche Mystik“, die dann von der folgenden Luther-Literatur bereitwillig übernommen wurde). Schon vorher aber, während seines Studiums, konnte Luther mystisches Gedan­ ken- und Begriffsgut in den von ihm eifrig studierten Werken Gabriel Biels, sowohl im ,Collectorium‘ als auch - noch intensiver - in der ,Expositio canonis missae' kennenler­ nen, so dass ihm gerade die exegetische und systematisierende Scholastik das Instrumen­ tarium seiner späteren Scholastik-Kritik bereitstellte. Vgl. DETLEF Metz: Gabriel Biel und die Mystik, in: Ulrich Köpf und Sönke Lorenz (Hg.): Gabriel Biel und die Brüder vom gemeinsamen Leben. Beiträge aus Anlaß des 500. Todestages des Tübinger Theo­ logen, Stuttgart 1998, S. 55-91. 14 Vgl. den Beitrag von Andreas Zecherle über die ,Theologia deutsch* oben S. 1-95. 15 Ihren Höhepunkt erreichte diese Hochschätzung mystischer Traditionen in der Tauler-Begeisterung Luthers; vgl. unten S. 281 mit Anm. 147. Über keinen anderen Theo­ logen hat er sich so ausschließlich positiv geäußert wie über Tauler. Zur andersartigen Rezeption Bernhards von Clairvaux, in der bei Luther lebhafte Zustimmung mit distan­

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es bei Luther in seiner Wendung gegen die Scholastik eine offene Tür für die erfahrungs- und gefühlsgesättigte Dimension mystischer Spiritualität gab und dass seine reformatorische Theologie durchaus wichtige Einzel­ momente und -aspekte enthält, die man mit aller Vorsicht als mystisch be­ zeichnen kann. Spannend und kontrovers wird es allerdings, wenn man nach der Gesamtarchitektur von Luthers neuer Theologie und nach dem Zentralbereich seines reformatorischen Heils- und Offenbarungsverständ­ nisses fragt. Die Vorstellung, dass der Entstehungsprozess dieser Theolo­ gie, ihre reformatorische Umgestaltung oder ,Wende*, in ihrem Grundcha­ rakter als Ausbildung einer neuen Gestalt von Mystik verstanden werden könnte, dürfte wohl in der gegenwärtigen Lutherforschung und erst recht in den lutherischen Kirchen eher auf ablehnende Skepsis als auf Zustim­ mung stoßen. Forschung aber lebt von der Bereitschaft zum Experiment, d.h. von der Offenheit, ungewohnte Denkwege über den bisherigen Kon­ sens hinaus zu erproben. Auf dieses Risiko möchte ich mich einlassen, indem ich folgende These aus den Quellen zu begründen versuche: Luthers ausgereifte Theologie, die man im Vollsinn des Wortes als re­ formatorisch* bezeichnen kann, hat nicht nur eine mystische Seite oder Dimension und rezipiert nicht nur traditionelle mystische Motive, Bilder und Begriffe, sondern zeigt in ihrer Gesamtkomposition mystischen Cha­ rakter. Wenn ich in der Themenformulierung frage: ,Wie mystisch war der Glaube Luthers?*, möchte ich also antworten: In der Weise war sein Glau­ bensverständnis mystisch, dass die wesentlichen Verbindungslinien in sei­ ner Theologie, etwa die zwischen göttlicher Gerechtigkeit und menschli­ cher Sünde, zwischen Christus und der Seele oder zwischen der göttlichen und menschlichen Natur in Christus, als ,Kommunikationsweisen* und Synapsen mystischer Art beschrieben werden können.

4. Überlegungen zum Mystikbegriff und zur Definition von ,Mystik‘ Dabei setze ich ein prononciertes Mystikverständnis voraus, das den Mystikbegriff nicht diffus auf alle möglichen verinnerlichten Frömmig­ keitsformen des ausgehenden Mittelalters anwendet: Eine Spiritualität und Theologie, die Wert legt auf den affektiven Erfahrungsbezug und das Erle­ bensmoment des Glaubens und auf eine persönliche Christusbeziehung der Liebe, des Vertrauens, der Meditation und des innigen Gebets, ist darum zierter Kritik verbunden ist, vgl. Theo Bell: Divus Bemhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, Mainz 1993; Bernhard Lohse: Luther und Bernhard von Clairvaux, in: Kaspar Elm (Hg.): Bernhard von Clairvaux. Rezeption und Wirkung im Mittelalter und in der Neuzeit, Wiesbaden 1994, S. 271 -301.

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noch nicht ,mystisch1 zu nennen, obwohl alle diese Momente wichtige In­ gredienzien einer mystischen Gottesbeziehung sind. Wenn ,Mystik1 mehr ist und wir uns auf dieses Besondere der Mystik als Grundform des lutherischen Heilsverständnisses einlassen wollen, dann kann das freilich nur gelingen, wenn man andererseits den Mystikbegriff öffnet. Es ist me­ thodisch fatal, wenn man von vornherein den Mystikbegriff so eng auf be­ stimmte Spielarten mittelalterlicher Traditionen festlegt, dass man dann nur noch die Folgerung ziehen kann: Luther hat das Gottesverhältnis des Menschen wesentlich anders gesehen, also ist er kein mystischer Theologe. Man wird sich umgekehrt darauf einlassen müssen, bei Luther einem neuen Typ von Mystik, einer reformatorischen Glaubensmystik, zu begeg­ nen, so wie es im Mittelalter wiederholt frappierende Neuaufbrüche der Mystik gab16. Was aber können wir darüber aus seinen Schriften erheben? Ein weiteres Vorgehen ist allerdings nur sinnvoll, wenn ich jetzt - spät genug - eine Überlegung einschiebe, wie man sinnvollerweise den Mystik­ begriff, nicht unnötig einengend, aber auch nicht ins Diffuse ausweitend, handhaben könnte. Ich halte ein terminologisches Verfahren für ratsam, das von solchen Quellencorpora und Überlieferungszusammenhängen der christlich-abendländischen Tradition ausgeht, die allgemein von den histo­ risch arbeitenden Disziplinen als ,mystisch1 bezeichnet werden. Das sind vor allem Schriften von Pseudo-Dionysius Areopagita, Bernhard von Clair­ vaux, Angela von Foligno, Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse und Jan Ruusbroec, und zwar nicht nur ihre Schriften selbst, sondern auch die Überlieferungszusammenhänge, in denen sie in profilierter Weise rezipiert wurden. Hat man dieses Spektrum sehr unterschiedlicher Zugänge zu einer mystischen Gottesbeziehung vor Augen und wählt man eine Formulierung, die evangelische Zugänge zur Mystik nicht von vornherein ausschließt, dann kann man zu folgenden be­ grifflichen Eingrenzungen gelangen: Wo von einem mystischen Gottes­ verhältnis des Menschen gesprochen wird, geht es immer um die persön­ liche, unmittelbare und ganzheitliche Erfahrung einer beseligenden Nähe Gottes, die ihr Ziel in einer innigen Vereinigung mit Gott findet17. Die we­ 16 Vgl. exemplarisch die vorzügliche Studie von SUSANNE KÖBELE: heilicheit durch­ brechen. Grenzfälle von Heiligkeit in der mittelalterlichen Mystik, in: Berndt Hamm, Klaus Herbers und Heidrun Stein-Kecks (Hg.): Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 185-221. 17 Indem ich mit dem Begriff der Mystik den der .Nähe1 - einer unmittelbaren Erfah­ rungsnähe Gottes - verbinde, knüpfe ich am Mystik-Verständnis McGinn’s an, der als definitorisches Merkmal vor allem das „unmittelbare Bewußtsein der Gegenwart Gottes“ nennt; vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland (engl. Originaltitel: The Presence of God. A History of Western Christian Mysticism), Bd. 1: Ursprünge, Freiburg i.Br. u.a. 1994, S. 11-19. Der Begriff der .Nähe' erscheint mir im Blick auf die Intensität und Direktheit der mystischen Gottesbeziehung noch angemessener als der Terminus

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sentlichen Elemente dieses Definitionsversuchs möchte ich nochmals ak­ zentuieren. Die christliche Mystik des vormodernen Abendlandes zielt stets auf die Ganzheit einer individuell-persönlichen Gottesbegegnung, in der alle Seelenkräfte, Verstand, Wille, Einbildungskraft und Gefühl, samt den leiblichen Erfahrungsbezügen des Menschen ergriffen werden. Dabei soll es zu einer unmittelbaren Direktheit der Gottesbeziehung kommen, einer Unmittelbarkeit, die alle störenden Faktoren und Instanzen, die sich zwischen Seele und Gott stellen, zurücktreten lässt. Durch diesen direkten Kontakt entsteht eine innige Gemeinschaft mit Gott, die das Innerste der Seele berührt und von ihr als tröstende, freudige und beseligende Gegen­ wart und Nähe Gottes erfahren und als Vereinigung mit ihm erlebt wird. In unterschiedlichsten Variationen bedeutet diese ,unio mystica4 liebendes Erkennen und erkennende Liebe. Eine Theologie, die eine derartige Erfah­ rungsnähe Gottes thematisiert, darüber reflektiert und sie als Lebenslehre vermitteln will, pflegt man im Mittelalter eine ,mystische Theologie1 (theologia mystica) im Unterschied zur scholastischen Theologie der Universitäten und Ordensstudien zu nennen18. War Luther in diesem Sinne ein ,mystischer Theologe1, der als Lehrer und Kirchenreformer auf die Glaubenspraxis einer mystischen Gottesbeziehung zielte? Ein Indiz dafür könnte sein, dass nach seiner eigenen Terminologie die ,theologia mystica1 die höchste, wahre und erstrebenswerte Form christlicher Theologie dar­ stellt19.

,Gegenwart1 (presence), da Nähe über pure Gegenwart hinaus noch die Qualität der Ver­ bundenheit und Vertrautheit, wie sie besonders für eine Liebesbeziehung charakteristisch ist, zum Ausdruck bringt. Tatsächlich geht es bei den Mystikern und Mystikerinnen des Mittelalters stets um das Bewusstsein und die Erfahrung einer Gegenwart Gottes, die unmittelbare Nähe - insbesondere ,unio‘ von Gott und Mensch - bedeutet. 18 Zum Sprachgebrauch im 15. und frühen 16. Jahrhundert, der vor allem auf der Ver­ wendung des Begriffs ,theologia mystica* bei Pseudo-Dionysius Areopagita und Johan­ nes Gerson beruht, vgl. das theologische Lexikon des Johannes Altenstaig (1517) in der Ausgabe von Johannes Tytz: Lexicon Theologicum [...], Köln 1619, Nachdruck: Hildesheim/New York 1974, S. 909L, mit der Charakterisierung: „Theologia mystica [als affektive Theologie im Unterschied zur ,theologia speculativa1], etsi sit suprema atque perfectissima notitia, tamen potest haberi a quolibet fideli, etiamsi sit muliercula vel idiota.“ In der Tradition dieser typisch Gersonschen Hochschätzung und .Demokratisie­ rung* der mystischen Theologie (siehe im Text weiter unten) steht Luther. 19 In konventioneller Art unterscheidet Luther die .theologia mystica* als .sapientia experimentalis* von der diskursiven .theologia rationalis* oder .theologia doctrinalis*: z.B. in den Randbemerkungen zu Tauler (1516), WA 9, S. 98,20f. und in der Hebräer­ briefvorlesung (1517/18), WA 57/III, S. 179,6-11 und S. 197,15-20 - wobei er die mysti­ sche Theologie, die dem ,homo spiritualis* entspreche, im Sinne Gabriel Biels und Jo­ hanns von Staupitz und in der Tradition Gersons höher bewertet.

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5. Luthers kritische Grenzziehung gegen eine Mystik für Ausnahmemenschen Zunächst wird man einschränkend sagen müssen: Luther war kein Vertre­ ter einer elitären Mystik. Weder berief er sich auf besondere mystische Entrückungen, ekstatische Erlebnisse, Erleuchtungen, Visionen und Audi­ tionen, noch wollte er dazu Anleitung geben20. Auch wandte er sich gegen eine spekulative Mystik, die in der Art des Pseudo-Dionysius Areopagita (um 500) den Aufstieg des erkennenden Geistes in das geheimnisvolle Dunkel des göttlichen Wesens erstrebte21. Er schrieb nicht für spirituelle Alpinisten und Virtuosen; und insofern war ihm das traditionelle Bild der Himmelsleiter, auf der die Seele in ihrem mystischen Aufwärtsdrang zur Vereinigung mit Gott emporsteigt, zuwider22. Für ihn gibt es keine beson­ deren Tugenden und Werke, Erlebnisse und Erkenntnisse, durch die sich der fromme Mensch zu Gott emporbewegt. Wenn er von Gnade spricht, meint er nie die besondere Begnadung mystischer Ausnahmemenschen, denen über die Normalebene des christlichen Lebens hinaus außerordent20 Vgl. z.B. Luther: Enarratio capitis noni Esaiae ([1543/44] 1546), WA 40/III, S. 657,11-18.32-36. 21 Zunächst allerdings konnte er sich durchaus positiv zur .theologia negativa1 des Pseudo-Dionysius äußern. Zur Entwicklung Luthers von seiner Dionysius-Bewunderung in der Ersten Psalmenvorlesung (1513-15) zur schroffen Ablehnung in der Zweiten Psal­ menvorlesung (1519-21) vgl. Karl-Heinz zur Mühlen: Mystische Erfahrung und Wort Gottes bei Luther, in: Johannes Schilling (Hg.): Mystik: Religion der Zukunft - Zukunft der Religion, Leipzig 2003, S. 45-66: hier S. 48-52; Paul Rorem: Martin Luther’s christocentric critique of Pseudo-Dionysian spirituality, in: Lutheran Quarterly 11 (1997), S. 291-307. Zu Luthers Dionysius-Kritik vgl. auch unten S. 272 mit Anm. 111 und Anm. 113. 22 Zur mittelalterlichen Tradition der Himmelsleiter vgl. Christian Heck: L’echelle celeste. Une histoire de la quete du ciel, 2. Aufl., Paris 1999; Gottfried Seebad: Die Himmelsleiter des hl. Bonaventura von Lukas Cranach d.Ä. Zur Reformation eines Holz­ schnitts, Heidelberg 1985 (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissen­ schaften, Phil.-hist. Klasse 1985/4). Zu LUTHERS Kritik an der mystischen Leiter vgl. z.B. eine Predigt des Jahres 1525: „Es ist viel davon geschrieben, wie der mensch soll vergottet werden; da haben sie leytem gemacht, daran man gen hymel steyge und viel solchs dings. Es ist aber eytel partecken [= armseliges, jämmerliches] werck; hie [seil, in Eph. 3,19] ist aber der rechte und nehiste weg hynan zu komen, angezeygt.“ WA 17/1, S. 438,22-25. Vgl. auch WA.TR 5, S. 295,21-25, Nr. 5658 a (Febr. 1542) sowie die autobiographische Notiz in einer Weihnachtspredigt von 1527: „Ich bin auch auff der selben treppen gewest, ich hab aber ein bein drüber zubrochen.“ WA 23, S. 732,8f. Zu der Art und Weise, wie Luther die Jakobsleiter von Gen. 28 als Christusleiter interpre­ tiert, vgl. unten S. 249f. mit Anm. 33 und 34. Inwiefern er im Rahmen seiner Inkar­ nations- und Kreuzestheologie auch von einer Aufwärtsbewegung des Glaubens auf der .Leiter1 in Gestalt des menschgewordenen und gekreuzigten Gottessohnes sprechen kann, wird unten gezeigt; vgl. S. 270 mit Anm 105 und S. 273 mit Anm. 113 und 114.

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liehe Erfahrungen heilsamer, beglückender Gottesnähe zuteil werden. Nein, für ihn ist Gnade in ihrer ganzen göttlichen Fülle und Kraft eine Be­ wegung, die alle glaubenden Christenmenschen ergreift, zwar sehr per­ sönlich, jeden auf seine Weise, aber prinzipiell doch gleichartig, ohne Ab­ stufungen einer qualitativen Rangordnung. Luther treibt damit eine Ent­ wicklung weiter, die seit dem 13. Jahrhundert immer stärker hervortritt und die man als Tendenz zu einer Entgrenzung, Demokratisierung1 oder Popu­ larisierung der Mystik beschreiben kann23. Im 15. Jahrhundert ist dieser Umformungsprozess bereits weit vorangeschritten: Die meisten mystischen Texte zielen schon damals nicht auf ekstatische Grenz- und Ausnahme­ erfahrungen, sondern auf eine einfache Christusliebe, die in den Kreuzweg des Alltags einwilligt und hier die innigste Verbundenheit mit dem menschgewordenen Gott erlebt24.

23 Von einer „Demokratisierung der Mystik“ - insbesondere im Blick auf die Devotio moderna und Gabriel Biel - sprach Heiko A. Oberman: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, S. 318-322. Mit Recht hat McGinn daraufhingewiesen, dass im Vergleich mit dem Charakter der monastischen Mystik der Prozess einer „Demokratisie­ rung und Säkularisierung“ der Mystik bereits im frühen 13. Jahrhundert beginnt und sich dann im Laufe der folgenden Jahrhunderte immer weiter verstärkt. Die Begriffe erläutert er so: „Mit .Demokratisierung1 meine ich in unserem Fall die Überzeugung, es sei nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch für alle Christen möglich, in den Genuß des un­ mittelbaren Bewußtseins der Gegenwart Gottes zu kommen. Mit .Säkularisierung1 meine ich hier, daß die Flucht aus der Welt nicht mehr als notwendige Vorbedingung dafür galt, dieses Geschenk der göttlichen Gnade zu erlangen; vielmehr war man überzeugt, Gott könne im weltlichen Milieu und mitten in der Alltagserfahrung gefunden werden.“ Diese Umformung der Mystik beobachtet er bereits in der frühen Beginenmystik, in den An­ fängen der franziskanischen Bewegung, bei Meister Eckhart und Katharina von Siena. Siehe McGinn: Die Mystik im Abendland, Bd. 3, Freiburg i.Br. u.a. 1999, S. 37-40. 24 Zu dieser Transformation der Mystik im 15. Jahrhundert vgl. Werner WilliamsKrapp: „Diese ding sint dennoch nit wäre Zeichen der heiligkeit.“ Zur Bewertung mysti­ scher Erfahrungen im 15. Jahrhundert, in: Wolfgang Haubrichs (Hg.): Frömmigkeitsstile im Mittelalter, Göttingen 1990 (= Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 80), S. 61-71; ders.: Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert, in: Joachim Heinzle (Hg.): Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, Stuttgart 1993, S. 301-313; BERNDT Hamm: Theologie und Frömmigkeit im ausgehenden Mittelalter, in: Gerhard Müller, Horst Weigelt und Wolfgang Zorn (Hg.): Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern, Bd. 1, St. Ottilien 2002, S. 159-211: hier S. 170-172 und 204-206; vgl. auch den Beitrag von Barbara Steinke oben S. 139164.— Eindrucksvolle Bild-Text-Beispiele einer popularisierten und passionszentrierten Mystik für den Alltag finden sich in dem Ausstellungskatalog: Peter Parshall, Rainer Schoch u.a. (Hg.): Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2005, Nr. 86 (Christus und die minnende Seele), Nr. 87 (Kreuztragende Minne), Nr. 88 (Christus zieht das Herz des Gläubigen zu sich), Nr. 91 (Der Heilsweg).

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6. Aussagen Luthers über die innige Vereinigung der Seele mit Christus im einen Leib der Christusgemeinde In Fortführung dieser Veränderungsdynamik hin zum Alltäglichen und Allgemein-Christlichen legt Luther den ganzen Nachdruck auf das, was durch einen lebendigen Glauben allen Christen geschenkt wird. Das Frap­ pierende ist aber, dass sich mit dieser christlichen Egalisierung keineswegs der mystische Impuls der Theologie verflüchtigt. Im Gegenteil: Was ich als ,Mystik1 charakterisiert habe, gewinnt bei Luther eine überraschende Intensivierung und Zuspitzung. Das zeigt sich auf den ersten Blick darin, wie pointiert Luther von seiner ersten Vorlesung an bis in seine späte Ge­ nesisvorlesung hinein immer wieder die Vereinigung des Christen mit dem Gottmenschen Jesus Christus thematisiert: Die innige Gemeinschaft der Glaubenden mit Christus beschreibt er in Anlehnung an johanneische und paulinische Texte als Sein Christi in uns und als unser Sein in Christo, als Vereinigung (unio) und Eins-Sein (unum esse) der glaubenden Seele mit Christus25. Im Traditionsstrom der - vor allem durch die Hoheliedaus­ legung des Bernhard von Clairvaux inspirierten - mittelalterlichen Brautund Ehemystik war es für Luther nahe liegend, den ganzheitlichen Ge­ meinschaftscharakter dieser Verbindung durch das Bild der Eheschließung zu verdeutlichen26. So sagt er in seiner berühmten Freiheitsschrift von 1520, dass der Glaube die Seele mit Christus wie eine Braut mit einem Bräutigam vereinigt. Aus zweien wird so eins: „ein Leib“, wie Luther im Anschluss an Eph 5,31 (und damit in der christologischen Auslegungs­ tradition der Schöpfungsgeschichte von Mann und Frau) fortfahrt27. Mit dem Verweis auf den Epheserbrief ist zugleich die ganze Gemeinde Jesu Christi, nicht nur das glaubende Individuum im Blick (Eph 5,32): Christi

25 Vgl. die zahlreichen Textbelege in dem sehr instruktiven Aufsatz von Reinhard Schwarz: Martin Luther (1483-1546), in: Gerhard Ruhbach und Josef Sudbrack (Hg.): Große Mystiker. Leben und Wirken, München 1984, S. 185-202 mit Anmerkungen auf S. 375-380: hier besonders S. 192-200. 26 Vgl. REINHARD Schwarz: Mystischer Glaube - die Brautmystik Martin Luthers, in: Wolfgang Böhme (Hg.): Von Eckhart bis Luther. Über mystischen Glauben, Karls­ ruhe 1981 (= Herrenalber Texte 31), S. 20-32. Schwarz legt in seinen Beiträgen das Hauptgewicht auf den Verlobungsaspekt. Dagegen möchte ich im Blick auf den für Luther so wesentlichen Gedanken ,Aus zwei Partnern wird ein Leib* den ganzheitlichen Charakter des Ehevollzugs im Zusammenhang der Braut/Bräutigam-Metapher betonen. 27 Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, § 12, WA 7, S. 25,2630; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 275,19-23: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem göttlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo als eyne brawt mit yhrem breudgam. Auß wilcher ehe folget, wie Sankt Paulus sagt [Eph. 5,31], das Christus und die seel eyn leyb wer­ den.“ - Vgl. auch unten S. 269 mit Anm. 98 und Anm. 114.

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Körper ist die Kirche, das ,corpus Christi mysticum1, innerhalb dessen alle Christen mit Christus und untereinander zu einer Leibeinheit zusammen­ geschlossen sind. Luther kann die Intensität dieser Vereinigung noch wei­ ter veranschaulichen, indem er mit der Symbolik des Leibes das Bild des ,einen Kuchens4 kombiniert: Wir, die Glaubenden, bilden mit Christus zusammen einen Kuchen, zu dem wir gleichsam zusammengebacken sind28. In seiner Galaterbriefvorlesung von 1531 geht Luther so weit, dass er mit individueller Zuspitzung sogar von einer Personeinheit spricht: „Der Glaube macht aus dir und Christus quasi eine Person, so dass du von Christus nicht getrennt werden kannst, sondern in ihm festhängst.“29 Mit dieser Formulierung interpretiert Luther die Stelle Gal 2,20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ In seiner weiteren Aus­ legung der Paulusstelle macht Luther deutlich, dass er die Personeinheit zwischen Christus und dem sündigen Menschen im Sinne einer wechsel­ seitigen Selbstidentifikation versteht. Der Sünder spricht: „Ich bin Chris­ tus; und umgekehrt sagt Christus: Ich bin jener Sünder, weil er an mir hängt und ich an ihm hänge. Denn wir sind durch den Glauben zu einem Fleisch und Bein verbunden, wie Eph 5 [V. 30] steht: ,Wir sind Glieder des Leibes Christi, von seinem Fleisch und Gebein4, so dass dieser Glaube Christus und mich enger verbindet als Gatte und Gattin verbunden sind.“30 28 Predigt über Joh 17,20f. (1528), zu V. 21 („ut omnes unum sint“), WA 28, S. 184,13f.: ,„Unum‘, id est unum corpus, res, Kuch, non tantum de concordia dicit, quia mundus etiam concors.“ Predigt über Joh 20,17 (1529), WA 29, S. 300,12f.: „Si ipse ad patrem fährt, da wird ex patre, Christo et fratribus ein Kuch.“ Ein Sermon am Gründon­ nerstag (1523), WA 12, S. 488,7-11: „So fasset er widerumb mein sunde auff sich, meyn todt, meyn hell, und backen also ynn einander, und werden eyn brot und eyn kuchen mit einander. Und so wyr denn mit Christo eyn kuchen sind, so wirckt das selbige soviel, das wyr auch unter einander eyn ding werden.“ Vgl. ebd. S. 485,1-3. Vgl. auch unten Anm. 117 und 128. 29 Kollegnachschrift 1531, WA 40/1, S. 285,5f.: „Fides facit ex te et Christo quasi unam personam, ut non segregeris a Christo, imo inherescas [...].“ In der Druck­ bearbeitung 1535 ist von einem Zusammengeleimtwerden (conglutinari) des Christen mit Christus durch den Glauben die Rede: „Verum recte docenda est fides, quod per eam sic conglutineris Christo, ut ex te et ipso fiat quasi una persona, quae non possit segregari, sed perpetuo adhaerescat ei [...].“ Ebd. S. 285,24-26; vgl. auch Kollegnachschrift, ebd. S. 284,6f.: „per conglutinationem, inhaesionem fidei, per quam reddimur quasi unum corpus in spiritu“. 30 Ebd. Druckbearbeitung, Fortsetzung des Zitats von Anm. 29, WA 40/1, S. 285,26286,17: „et dicat: Ego sum ut Christus, et vicissim Christus dicat: Ego sum ut ille pecca­ tor, quia adhaeret mihi et ego illi. Coniuncti enim sumus per fidem in unam carnem et os, Eph. 5: , Membra sumus corporis Christi, de came eius et de ossibus eius' ita, ut haec fi­ des Christum et me arctius copulet, quam maritus est uxori copulatus.“ Vgl. auch ebd. Kollegnachschrift, Fortsetzung des Zitats von Anm. 29, S. 285,6f.: „quasi dicas te Chris­ tum, et econtra: ego sum ille peccator, quia inheret mihi et econtra“.

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7. Die Vereinigung der beiden Naturen in Jesus Christus und die Gemeinschaft des fröhlichen Wechsels1 zwischen Christus und der Seele Wie sind solche mystischen Vereinigungs- und Einheitsformulierungen Luthers zu verstehen, die sich als ein Gewebe aus biblischen Fäden prä­ sentieren, zu dem auch die klassische Belegstelle der ,unio mystica4 1. Kor 6,17 gehört: „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm“?31 Das treffende Verständnis für Luthers unio-Mystik ist nur von jener Christolo­ gie her zu gewinnen, die den Orientierungsrahmen für alle seine Aussagen über die Christusgemeinschaft des Glaubenden bildet. Es ist die klassische Zwei-Naturen-Lehre von der wahren Gottheit und Menschheit Christi, in der Luther das Grundmodell - man könnte auch sagen: das Ursakrament für die Vereinigung Christi mit dem Sünder findet32. Immer wieder begründet er den Heilsstatus des gerechtfertigten Sünders mit der Vereini­ gung der göttlichen und menschlichen Natur zur einen Person Jesu Christi. Wenn schon von einer mystischen Himmelsleiter die Rede sein soll, dann nur von jener Leiter, auf der sich die erhabenste Gottheit in unendlichem Erbarmen zur irdischen Menschennatur herabgelassen und sich mit ihr zur allergeringsten, verachtetsten Person von Bethlehem und Golgatha verbun­ den hat33. Der menschgewordene Christus allein ist die Leiter: „Scala

31 Vgl. z.B. LUTHER: Hebräerbriefvorlesung (1517/18), Schol. zu Hebr 7,1, WA 57/111, S. 187,15-188,3: „In evangelio ,revelatur iustitia Dei ex fide in fidem‘ [Röm. 1,7], quod male exponitur de iusticia Dei, qua ipse iustus est, nisi sic intelligeretur, quia fides ita exaltat cor hominis et transfert de se ipso in Deum, ut ,unus spiritus' fiat ex corde et Deo ac sic ipsa divina iustitia sit cordis iusticia quodammodo, ut illi [scii, scholastici doctores] dicunt, ,informans*, sicut in Christo humanitas per unionem cum divina natura una et eadem facta est persona.“ 32 Zu dieser intensiven Verknüpfung von Christologie und Soteriologie vgl. Wilhelm Maurer: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei Untersuchungen zu Luthers Reformationsschriften 1520/21, Göttingen 1949, besonders S. 36-40 und 51-60; jetzt auch NOTKER Slenczka: .Christus*, in: Albrecht Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübin­ gen 2005, S. 381-392: hier S. 384f. 33 Vgl. z.B. Luther: Weihnachtspredigt über Ex 9 (1524), WA 16, S. 143,34-144,21: „er körnet zu dir und hat eine Leiter, einen Weg und Brücken zu dir gemacht“. Diesen .descensus* Jesu Christi versteht Luther als Abstieg und Erniedrigung zweifacher Art: 1.) als Verbindung der göttlichen Majestät mit der Menschheit und 2.) als Unterwerfung dieser Menschennatur unter das Elends-, Todes- und Höllenschicksal des Menschen Jesus von Nazareth (Krippe, Kreuz und Höllenfahrt). Vgl. z.B. Luthers Genesisvorlesung (1535-1545), zur Himmelsleiter (scala) von Gen 28,12f., WA 43, S. 579,40-580,1: „[...] de illa ineffabili coniunctione et consortio divinae et humanae naturae, quae est talis, ut non solum humanitas sit assumpta, sed talis humanitas morti, inferno obnoxia facta et subiecta.“ Vgl. auch Predigt über Joh 14,1-14 (Dez. 1520), WA 9, S. 494,24f.: „Scala stat

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Christus est, quia Christus est, via.“34 So interpretiert Luther die Jakobs­ leiter Gen 28 trinitarisch und christologisch, um in ihr Vorbild und Be­ gründung für die Vereinigung des sündigen Menschen mit dem allein ge­ rechten Jesus Christus zu finden: So wie in Christus zwei Naturen personal Zusammenkommen, ohne doch unterschiedslos ineinander zu verfließen, ebenso kommt es zur innigsten Persongemeinschaft der Seele mit ihrem Bräutigam Christus, zu einer Einheit, in der doch beide nicht wesenhaft­ substantiell miteinander verschmelzen35. Die Sinnspitze dieses Vereinigungsgeschehens aber liegt für Luther in dem, was er mit verschiedenen Begriffen als fröhlichen Wechsel' oder beseligenden Austausch zwischen der ewigen Gerechtigkeit des Gottmen­ schen Jesus Christus und der Sündhaftigkeit des Menschen beschreibt36: So wie sich die Gottheit im Weihnachtsgeschehen der Inkarnation erniedrigt und mit der Menschennatur Jesu den intensivsten Austausch der göttlichen und menschlichen Eigenschaften pflegt, die sog. ,communicatio idiomatum‘ (Idiomenkommunikation), das wunderbare Wechselspiel der beiden Naturen in der einen Person Jesu Christi37, ebenso kommt es im Rechtferti­ in terra, id est natura Christi descendit ac tetigit, immo adsumpsit formam contemptissi­ mam pauperis pueri.“ 34 Aus derselben Weihnachtspredigt von 1520: WA 9, S. 494,17. 35 Vgl. die bereits in Anm. 33 zitierte umfangreiche Interpretation der Jakobsleiter in Luthers Genesisvorlesung, hier besonders den Abschnitt, der den Übergang von der christologischen Zwei-Naturen-Lehre („est igitur scala admirabilis coniunctio divinitatis cum carne nostra“) zur persönlichen Vereinigung des glaubenden Menschen mit Christus vollzieht: „Postea alia coniunctio est nostra et Christi [...].“ WA 43, S. 582,15-29. Zur problematischen Überlieferung von Luthers Genesisvorlesung vgl. Peter Meinhold: Die Genesisvorlesung Luthers und ihre Herausgeber, Stuttgart 1936, S. 6-20, 141-277 und 370-428. 36 Vgl. Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, dt. Fassung, § 12, WA 7, S. 25,34 und S. 26,5; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 277,1 („der frolich wechßel und streytt“) und S. 277,10 („ein froliche wirtschafft“). Da Christus die Sünden des Menschen nicht nur auf sich nimmt, sondern im Kampf gegen den Satan überwindet (in den Sieg seines Lebens, seiner Vergebung und Seligkeit ,verschlingt“, vgl. unten S. 251 mit Anm. 39 und 40), spricht Luther nicht nur vom Wechsel oder Tausch, sondern auch vom ,Streit“ (in der lat. Fassung von § 12: „salutare bellum“, „stupendum duellum“, zit. unten in Anm. 39 und 40). Zum ebenfalls mitenthaltenen (schon bei Augustin rele­ vanten) ökonomischen Aspekt der (Tausch)wirtschaft (vgl. unten Anm. 38) vgl. Berndt Hamm: Den Himmel kaufen. Heilskommerzielle Perspektiven des 14. bis 16. Jahrhun­ derts, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 21 (2006): Gott und Geld, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 239-275: hier S. 264-268. - Zu weiteren Texten über den .fröhlichen Wechsel“ bei Luther sowie zu Herkunft und Interpretation dieses Motivs vgl. Thomas HohenberGER: Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521-22, Tübingen 1996, S. 117-120 und dort insbesondere die in Anm. 76 zusammen­ gestellte Literatur. 37 Vgl. auch hier wieder den entsprechenden Abschnitt in Luther: Genesisauslegung über die Jakobsleiter (wie Anm. 33 und 35), wo er das „mirabile spectaculum“ der

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gungsgeschehen zum wundersamen Eigentumsaustausch zwischen dem ge­ rechten Bräutigam Christus und dem „armen, verachteten, bösen Hürlein“, wie Luther in der Freiheitsschrift die sündige Seele nennt38. Christus nimmt ihre Sünde auf sich und umgekehrt wird sie mit seiner Gerechtigkeit beschenkt. Entscheidend an diesem Eigentumswechsel ist die siegreiche Überwin­ dung, die Luther im Anschluss an die Paulusstelle 1. Kor 15,54 („Der Tod ist verschlungen in den Sieg.“) zur Sprache bringt39. Indem sich Christus unsere Sünde zu eigen gemacht hat, als hätte er sie selbst getan, hat er auch die Folgen der Sünde, Tod und Hölle, auf sich genommen: Sein Leben endete mit Golgatha und Höllenfahrt. All dies aber wurde siegreich in sein gottmenschliches Wesen hinein ,verschlungen': die Sünde in seine Gerech­ tigkeit, der Tod in sein Auferstehungsleben und die Hölle in seine Selig­ keit40. Wenn somit der armen, sündigen, tod- und höllenverfallenen Men­ Selbsterniedrigung der erhabenen göttlichen Majestät in die tiefste und verachtetste Per­ son hinein („quae summa persona est, tremenda super omnes creaturas in maiestate, ea fit infima et contemptissima“) als Gemeinschaft und Austausch der beiden Naturen und ihrer Eigenschaften in der Person des menschgewordenen Gottes beschreibt: „Haec est communio idiomatum [...].“ WA 43, S. 579,34-36 und 580,2-24. - Vgl. auch Notker Slenczka: Artikel .Communicatio idiomatum1, in: RGG4 2 (1999), Sp. 433f. 38 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, § 12, WA 7, S. 26,4-7; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 277, 9-12: „Ist nu das nit ein froliche Wirtschaft, da der reyche, edle, frummer breüdgam Christus das arm, vorachte, bößes hürlein zur ehe nympt und sie entledigt von allem übell, zieret mit allen gutem.“ Den christologischen Begrün­ dungszusammenhang spricht Luther ausdrücklich an, indem er seinen Argumentations­ duktus mit der Formulierung eröffnet: „Dieweyl Christus ist gott und mensch“ („Cum enim Christus sit deus et homo eaque persona [...]“), ebd. WA 7, S. 25,34f. bzw. (lat.) 55,8f.; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 277, lf. bzw. S. 276,11. - Bereits in der Rö­ merbriefvorlesung (1515/16) stellt Luther einen Zusammenhang zwischen der christolo­ gischen Idiomenkommunikation und der simultanen Doppelexistenz des Christen als Sünder und Gerechter her: „Sic enim fit communio ideomatum, quod idem homo est spi­ ritualis et carnalis, iustus et peccator, bonus et malus. Sicut eadem persona Christi simul mortua et viva, simul passa et beata, simul operata et quieta etc. propter communionem ideomatum, licet neutri naturarum alterius proprium conveniat, sed contrariissime dissen­ tiat, ut notum est.“ WA 56, S. 343,18-23. 39 ln der lateinischen Fassung seiner Freiheitsschrift unterstreicht Luther, dass es in diesem .süßesten Schauspiel1 (.Süße1 bezeichnet in der mystischen Sprache die Qualität der beseligenden Naherfahrung Gottes) nicht nur um Gemeinschaft (von Gott und Mensch), sondern um einen heilsamen Kampf und den Sieg der Erlösung geht: „Hic iam dulcissimum spectaculum prodit non solum communionis, sed salutaris belli et victoriae et salutis et redemptionis." WA 7, S. 55,7f.; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 272,9f.; vgl. oben Anm. 36. Zur Verankerung dieser Kampf- und Siegesvorstellung im Gesamt­ zusammenhang von Luthers Erlösungsverständnis vgl. UWE Rieske-Braun: Duellum mirabile. Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie, Göttingen 1999. 40 Zur Terminologie des .Verschlingens1/,absorbere' vgl. ebd. deutsche Fassung WA 7, S. 25,38-26,1.8-12, Martin Luther Studienausgabe 2, S. 277,5f. („vorschlundenn und

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schenbraut die Gerechtigkeit ihres himmlischen Bräutigams geschenkt wird, ist ihr alles geschenkt: mit der Gerechtigkeit, d.h. ihrem Angenom­ men- und Geliebtsein durch Gott, auch das ewige Leben, die Bewahrung vor der Hölle und die himmlische Seligkeit. Durch den ,Brautring1 des Glaubens empfangt sie diese Güter41, und im Glauben ist sie sich ihrer ge­ wiss. Der Grund für diesen Glauben aber ist die Inkarnation des Gottes­ sohnes und das gottmenschliche Wesen Jesu Christi, jene innige Kommu­ nikation zwischen seinen beiden Naturen, die die beseligende Kommuni­ kation zwischen Christus und der Seele begründet. Nur als Gottmensch konnte Christus Sünde, Tod und Hölle siegreich verschlingen und sich selbst der glaubenden Seele mit seiner Gerechtigkeit, seinem Leben und seiner Seligkeit schenken. So begründet die ,unio mystica1 zwischen Christi Gottheit und Menschheit, d.h. die wundersame Vereinigung zwi­ schen Gottes Herrlichkeit und dem Elend des Menschen, den mystischen Austausch zwischen Christus und der Seele in seinem ,corpus mysticum1. Es ist der gleiche inkarnationstheologische Begründungszusammenhang der ,communicatio idiomatum1, in dem Luther auch die leibliche Präsenz Christi im Abendmahl als mystisches Vereinigungsgeschehen von Gott und Kreatur verankert sieht42.

8. Luthers Mystik: Das begründende Heilswiderfahmis und die Folge der aktiven Lebensheiligung Die personale Vereinigung und das ganzheitliche Einswerden Christi und der Seele ist nichts anderes als das für das gesamte Christenleben grundle­ gende Heilsgeschehen: die Rechtfertigung des Gottlosen. Ihrem Wesen nach ist sie Christusgemeinschaft, in der jede Art der Kommunikation eine erseufft“) und 13-17 (mit ausdrücklichem Hinweis auf 1. Kor 15,57 und 54); lat. Fassung WA 7, S. 55,11-17, Martin Luther Studienausgabe 2, S. 276,13-20: „Cum, inquam, talis persona peccata, mortem, infernum sponsae et propter annulum fidei sibi communia, immo propria facit et in iis non aliter se habet, quam si sua essent ipseque peccasset, laborans, moriens et ad infernum descendens, ut omnia superaret peccatumque, mors et infernus eum absorbere non possent, necessario in ipso absorpta sunt stupendo duello. Nam iustitia sua omnium peccatis superior, vita sua omni morte potentior, salus sua omni inferno invictior.“ Zu diesem ,Verschlungenwerden' („absorpta sunt“) vgl. auch die schöne Parallelstelle in Luther: Hebräerbriefvorlesung (1517/18), Schol. zu Hebr 2,14, WA 57/111, S. 127,20-131,3 (,absorbere': S. 128,18; 129,12), sowie später (1524) Luthers Osterlied .Christ lag in Todes Banden1, Strophe 4 („Es war ein wunderlich Krieg ...“). 41 Vgl. die vorausgehende Anm. 40 (.annulus' statt der üblichen Schreibung ,anulus') und in der deutschen Fassung WA 7, S. 25,37 und Martin Luther Studienausgabe 2, S. 277,4 („durch yhren braudtring, das ist der glaub"). 42 Vgl. unten S. 277 mit Anm. 128.

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Wirkung des Heiligen Geistes ist43. Es ist der Geist Jesu Christi, der die Herzen durchglüht, sie mit dem lebendigen Glauben, d.h. mit Vertrauen, Gottesliebe und Hoffnungsgewissheit, erfüllt und aus ihrem befreiten Ge­ wissen alle guten Werke der Nächstenliebe hervorgehen lässt. Es beginnt so eine umfassende Lebensheiligung, die Luther als Christusnachfolge thematisiert und als lebenslange Angleichung an Christi Selbsthingabe, seinen Kreuzesweg und seine Weltüberwindung charakterisiert44. Sofern mit dem Wirken des Heiligen Geistes Gott selbst in der Seele Wohnung nimmt und sie in die Nachfolge Christi hineinzieht, ist es keineswegs ab­ wegig, mit der finnischen Lutherforschung von einer mystischen Vergött­ lichung1 des Glaubenden zu sprechen45 - wenn man nur mit Luther selbst die unendliche und unaufhebbare Distanz zwischen Schöpfer und Ge­ schöpf und die bleibende Virulenz der Sünde im Leben des gerechtfertig­ ten Menschen im Blick behält46. Man kann im Sinne Luthers nicht nachdrücklich genug davon sprechen, dass der wahre Christenglaube eine lebensverändernde göttliche Kraft im Geiste der Gottes- und Nächstenliebe ist. Noch wichtiger aber ist es, mit

43 Im Sinne des abendländischen .Filioque' integriert Luther das Wirken des Heiligen Geistes so intensiv in den Wirkungszusammenhang des erhöhten Christus und des Evan­ geliums als der glaubensbegründenden Christusverkündigung, dass er z.B. in seiner Frei­ heitsschrift die inspirierende Kraft des Heiligen Geistes mit keinem Wort eigens erwähnt. Das ändert aber nichts am eminent pneumatologischen Charakter der Glaubensgemein­ schaft der Seele mit Christus. Vgl. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer histori­ schen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, S. 248-256 (mit Literatur zum Thema ,Spiritus Creator' - so auch der Titel des Buches von Regin Prenter, München 1954). 44 Luther thematisiert die Nachfolge und Nachahmung Christi als .exemplum' des christlichen Lebens einerseits als Imitatio in Anfechtungen (im Blick auf Christi Verhal­ ten in seinem Leiden), andererseits als freien Liebesdienst am Nächsten (im Blick auf Christi freie Selbsthingabe zum Heil der Menschen). Zum ersten Aspekt vgl. z.B. Luther: Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519), § 15, WA 2, S. 141,8-142,8; zum zweiten Aspekt vgl. z.B. LUTHER: Von der Freiheit eines Christen­ menschen, § 26-29, deutsche und lateinische Fassung WA 7, S. 34,23-38,5 bzw. 64,1369,11; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 294 (Nr. 46)-304 (Nr. 56). 45 Vgl. besonders Mikka Ruokanen (Hg.): Luther in Finnland - Der Einfluß der Theo­ logie Martin Luthers in Finnland und finnische Beiträge zur Lutherforschung, Helsinki 1984 (= Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft A 22); Simon Peura, Antti Raunio (Hg.): Luther und Theosis. Vergöttlichung als Thema der abendländischen Theologie, Helsinki/Erlangen 1990 (= Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft A 25/Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg 15); Simon Peura: Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519, Mainz 1994. 46 Zur Kritik an der Theosis-Theorie der finnischen Lutherforschung unter der Ägide von Tuomo Mannermaa vgl. Albrecht Beutel: Antwort und Wort. Zur Frage nach der Wirklichkeit Gottes bei Luther, in: ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kir­ chengeschichte, Tübingen 1998, S. 28-44.

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Luther zwischen dem begründenden Heilswiderfahrnis und der Folge die­ ses Grundes zu unterscheiden. Das begründende Geschehen tritt dann ein, wenn die erlösende Heilsgeschichte Jesu von der Menschwerdung bis zu Kreuz und Auferstehung für mich persönlich wirksam wird, wenn mir das widerfahrt, was Luther als seligen Tausch beschreibt, wenn sich Christus ohne mein Zutun, allein aus Gnade, mit meinem Elend verbindet, meine Verworfenheit auf sich nimmt und mir seine ganze Huld, Leben und Selig­ keit schenkt. Das ist Mystik im reinsten Sinne: eine persönliche und voll­ kommene Vereinigung von Gott und Mensch47 und in ihrem Zentrum die unmittelbare, ganzheitliche und innige Erfahrung der beseligenden Nähe Gottes, die das Herz befreit, tröstet und zu freudiger Gewissheit erhebt. Aus dieser Art von Mystik ist jedes Bedingungs- und Vorleistungsdenken verbannt, das die Heilsgabe an irgendeine Qualität oder Disposition und irgendein Verdienst des Menschen knüpft. So gesehen steigert Luther die Intensität mystischer Unmittelbarkeit und Gnadennähe Gottes: Keine menschliche Tugend und kein menschliches Werk kann sich zwischen das pure Erbarmen Gottes und meine absolute Nichtigkeit stellen. Hier gibt es keine Stufen, die den Abstand zwischen Gott und Mensch überbrücken, sondern nur den direkten Kontakt zwischen Gottes Heilsfülle und der Heil­ losigkeit des Sünders. In purer Passivität empfängt die Seele alle Heils­ gaben Gottes. Soweit zur heilsbegründenden Rechtfertigung. Was sich aber aus dieser mystischen Grundbeziehung zwischen Gott und Mensch als Folge ergibt, alle aktive Heiligkeit, die der Heilige Geist im glaubenden Menschen als innere Lebendigkeit seines liebenden Herzens und in Gestalt seiner guten Werke wirkt, steht zwar in einem unmittelbaren Lebens- und Erfahrungs47 Diese auf Erden unüberbietbare Vollkommenheit und Ganzheit in der beschenken­ den Vereinigung Gottes mit dem Menschen und in der Christusgemeinschaft des Glau­ bens bringt Luther in seinem Traktat ,Von der Freiheit eines Christenmenschen' wie­ derholt mit dem Wort ,alles' zum Ausdruck; vgl. z.B. § 12, WA 7, S. 25,32f.; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 275,25f.: „So hatt Christus alle gütter und Seligkeit: die seyn der seelen eygen“; § 16: WA 7, S. 28,19-21; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 283,4-7 „Darauß man dar sihet, wie eyn christenmensch frey ist von allen dingen und ubir alle ding, alßo das er keyner gutter werck datzu bedarff, das er frum und seligk sey, sondern der glaub bringts ym alles uberflußsig“; § 20, WA 7, S. 30,1 lf.; Martin Luther Studien­ ausgabe 2, S. 285,35f.: „Ob wol der mensch ynwendig nach der seelen durch den glauben gnugsam rechtfertig ist und alles hatt, was er haben soll [...]“; § 27, WA 7, S. 35,22f.3O32; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 297, 27f. und 299,7-9: „der [Glaube] yhm gibt allis, was Christus und gott hat“; Gott hat dem Menschen „gebenn durch und ynn Christo vollen reychtumb aller frumkeit und selickeit, das ich hynfurt nichts mehr bedarff denn glauben, es sey also“; § 29, WA 7, S. 37,3lf.; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 303,27f.: „so du gnug hast am glaubenn, daryn dir gott alle ding geben hat“. - Vgl. auch unten Anm. 60, S. 263 mit Anm. 78 (hier neben dem Terminus .alles' besonders die For­ mulierung: „wirt mit yhm voreynigt so gantz und gar“) sowie Anm. 117.

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Zusammenhang mit dem grundlegenden und ganzheitlichen Heilswider­ fahrnis, kann aber zum Heilsgewinn und zur Heilsgewissheit nichts beitra­ gen. Das Bemerkenswerte und Besondere an Luthers Mystik kann daher in einem ersten Resümee so beschrieben werden: Luther verwirft das traditio­ nelle Prozess- und Stufenmodell des mystischen Aufstiegs zur vollkom­ menen Vereinigung mit Gott. Stattdessen stellt er die vollkommene, in die­ sem Leben unüberbietbare und letztgültige Vereinigung der Seele mit Christus an den Anfang jeder christlichen Glaubensbeziehung zu Gott. Es ist diese bedingungslose Heilsvorgabe, das Aufgenommensein in den Heilsleib Christi, das den Glaubenden durch Anfechtungen, Sünde und Tod hindurch trägt und bewahrt. An die Stelle der Aufwärtsbewegung des immer heiliger werdenden Menschen tritt die Abwärtsbewegung Christi zum unheiligen Sünder, eine radikale Deszendenzmystik48. Wo der barm­ herzige Christus den Menschen in seinem tiefsten Elend vorfindet, kann es zur intensivsten ,unio‘ kommen, wie sie Luther mit den Bildern der Ehe, des Austausches und des Verschlungenwerdens ausmalt und in den Begriff der christlichen Freiheit verdichtet. Es ist die ,unio‘, in der dem Menschen Gerechtigkeit und Seligkeit zugleich geschenkt werden und daher eine Frei­ heit, „welche alle andere Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde“49.

9. Staupitz’ Ehemystik der Inkarnation und des seligen Tauschs Mit dieser Antihaltung gegen die pseudodionysisch-platonisierende Tradi­ tion eines vergeistigenden Aufstieges zum Himmel knüpft Luther an eine andere mystische Tradition des Mittelalters an, die schon vor ihm das Hauptgewicht auf die Herabkunft Gottes zum armseligen Menschen im Heilsgeschehen der Inkarnation und Passion legte50. Eine Konzeption wie 48 Vgl. die zahlreichen Texte Luthers, in denen er das Herabkommen Christi aus der Majestät seines Gottseins in das Elend der Menschen als ,descendere* und ,descensio* beschreibt: z.B. WA 9, S. 494,24f. (Predigt über Joh 14,1-4, Dez. 1520), zit. oben Anm. 33; WA 16, S. 144,3f. (Weihnachtspredigt über Ex 9, 1524): „ipse descendit et paravit scalam“; WA 40/III, S. 657,37f. (Expositio cap. 9 Esaiae [1543/44] 1546): „descende cum Filio, qui ideo ad te descendit, ut in illo Deum congnosceres“; WA 43, S. 580,25581,10 und 582,26-28 (Genesisvorlesung, 1535-1545), dazu oben Anm. 33 und 35. Zur mittelalterlichen Tradition einer pointiert inkamations- und passionstheologischen Des­ zendenzmystik, an der Luther anschließt (vgl. seine Erwähnung Bernhards von Clairvaux und Bonaventuras ebd. WA 43, S. 581,11 ff.), vgl. diese Seite unten mit Anm. 50 und S. 276 mit Anm. 126. 49 Siehe Zitat unten in Anm. 106. 50 Diese Tendenz kann im späteren Mittelalter vor allem die inkamations- und passionstheologische Ausrichtung der Zisterzienserschule Bernhards von Clairvaux und

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die Luthers lag um 1500 geradezu in der Luft, und der junge Mönch konnte dieser Denkrichtung besonders in seinem eigenen Orden begegnen. Mein Blick fällt dabei besonders auf den schon erwähnten Johannes von Stau­ pitz. Er stand ja Luther persönlich - nicht nur als Beichtvater, sondern auch als sein theologischer Lehrer51 und Vorgänger auf dem Wittenberger Lehrstuhl - besonders nahe, und Luther hat seine drei 1515, 1517 und 1518 veröffentlichten Druckschriften hoch geschätzt und daher zweifellos auch gründlich gelesen52. Ein besonderes Gewicht kommt unter diesen Ab­ handlungen dem Ende 1516 entstandenem Traktat ,De exsecutione aeter­ nae praedestinationis* (Vom Vollzug der ewigen Prädestination) zu53, ist er doch nichts weniger als eine kunstvoll komponierte und systematisch verdichtete Gesamtdarstellung der biblischen Theologie des Augustiner­ oberen. Sie schlägt - in Orientierung an Röm 8,30-32 - den Bogen von der prädestinierenden Gnadenwahl Gottes zur Verwirklichung des göttlichen Heilsplans in der Menschwerdung Christi, in der Rechtfertigung des Sün­ ders und in den vielfältigen Manifestationen des Heiligen Geistes im Le­ ben des Gerechtfertigten54. Auffallend ist dabei das hohe Maß der Übereinstimmung mit Luthers Gesamtkonzeption einer mystischen Theologie. Wie Luther beschreibt Staupitz das für jeden Christen zentrale Heilswiderfahrnis als mystische Vereinigung von Gott und Mensch zu einem Leibe. Auch bei Staupitz ge­ winnt dabei die Stelle Eph 5,30-32 mit ihrer Übertragung der ehelichen die starken Impulse zur Leben-Jesu-Meditation in der Spiritualität des Franziskaner-, Dominikaner-, Kartäuser- und Augustinereremiten-Ordens aufnehmen und mit kritischer Wendung gegen spekulative Ambitionen eines vergeistigenden Aufstiegs der oberen See­ lenkräfte akzentuieren. Im Orden Luthers denke man besonders an die Impulse eines Simon Fidati von Cascia (gest. 1348) oder eines Jordan von Quedlinburg (gest. 1370 oder 1380); vgl. Eric L. Saak: High Way to Heaven. The Augustinian platform between reform an reformation, 1292-1524, Leiden u.a. 2002, besonders S. 467-583. Vgl. auch unten Anm. 126. 51 Man denke insbesondere an Luthers Wittenberger Studienaufenthalt von Herbst 1508 bis Herbst 1509, als er erstmals über einen längeren Zeitraum mit Staupitz zusam­ men war. Vgl. Martin Brecht: Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483-1521, Stuttgart 1981, S. 98. Vgl. auch oben Anm. 12. 52 Außer der im Folgenden genannten Hauptschrift ,De exsecutione1 (gedruckt An­ fang 1517) sind dies die Traktate ,Ein büchlein von der nachfolgung des willigen Ster­ bens Christi1 (Druck 1515) und ,Von der lieb gottes1 (auf der Grundlage der in der Ad­ ventszeit 1517 gehaltenen Münchener Predigten publiziert Anfang 1518); ediert von Joa­ chim Karl Friedrich Knaake, in: Johann von STAUPITZ: Sämmtliche Werke, Bd. 1: Deutsche Schriften, Potsdam 1867, S. 50-88 bzw. 88-119. 53 Siehe oben Anm. 11. Ich kann mich im Folgenden auf die Verwendung dieses Traktats beschränken, da die beiden anderen Staupitz-Traktate dieser Jahre 1515-1518 nichts zum Thema einer mystischen Theologie bieten, was er nicht enthält. 54 Vgl. die sorgfältige und einfühlsame Analyse der Inhaltsstruktur des Traktats in der Einleitung zur Edition (wie Anm. 11), S. 29-34.

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Gemeinschaft auf das Verhältnis Christi zur Kirche eine Schlüsselfunktion - wobei er mit individuell-personaler Zuspitzung die Gleichung „ecclesia sive anima“ vornimmt55. Das Kapitel von der Ehe zwischen Christus und dem ,Christenmenschen* (De matrimonio Christi et christiani) bildet den Mittelpunkt der ganzen Staupitzschrift56. Bemerkenswert aber ist vor al­ lem, dass bereits Staupitz in seinem geistlichen Eheverständnis eine enge Verklammerung von Inkarnation, Zwei-Naturen-Personalität und indivi­ duellem Rechtfertigungsgeschehen vornimmt: Das grundlegende eheliche Heilsereignis vollzog sich in der Menschwerdung Christi, als der Gottes­ sohn menschliche Natur annahm und sich so mit der Kirche (den erwählten Seelen) zu einem Leibe verband. Was Staupitz damit ganz im Sinne der späteren Gedankenfiihrung Luthers hervorhebt, ist die Pointe der radikalen, absolute Gegensätze überbrückenden Deszendenz Gottes, das Herabkom­ men Christi in die Gottferne des Menschen oder - mit seinen Worten for­ muliert - „die Verbindung (coniunctio) der größten Barmherzigkeit mit dem größten Elend“57. Dies sei ein Vorgang von derartiger Unmittelbar­ keit, dass „die ,summa misericordia* direkt auf die ,summa miseria* herab­ fallt“58. Prononcierter war das kaum zu formulieren. Wie Luther holt Stau­ pitz damit das christologische Zwei-Naturen-Schema und die Lehre von der Idiomenkommunikation aus ihrer metaphysischen Abstraktheit heraus und legt ihre soteriologische Intention frei59. So aber gewinnt bereits die Inkarnation und der wunderbare Austausch der göttlichen und menschli­ chen Eigenschaften Christi den Charakter eines mystischen Heilsgesche­ hens, in dem alles auf Vereinigung, innige Kommunikation und Austausch 55 Staupitz: De exsecutione (wie Anm. 11), § 56, S. 144. Staupitz setzt den mysti­ schen Leib der Kirche mit den erwählten Seelen gleich; vgl. Berndt Hamm: Frömmig­ keitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und sei­ nem Umkreis, Tübingen 1982, S. 234-236. 56 Staupitz ebd. Kap. IX = § 53-62, S. 142-149. 57 Ebd. § 64, S. 150/152: „Ego admiror coniunctionem summae misericordiae cum summa miseria. Admiror, inquam, et gratias ago, quia inde venit salus peccatori, inde processit gloria maxima salvatoris; inde deus suavis nobis factus est, inde peccator deo acceptus. Gratias igitur habeo et misericordias domini in aeternum cantabo.“ Vgl. auch die Überschrift zum gesamten Kap. X = § 63-70, S. 150-155: „De correspondentia sum­ mae misericordiae cum summa miseria“. - Zum Begriff ,süß* aus dem Bereich der mysti­ schen Terminologie vgl. oben Anm. 39. 58 Ebd. § 69, S. 154: „Amor enim iste sponsalis summa misericordia est et super sum­ mam miseriam directe cadit, de exstinctione peccati prae cunctis sollicitus.“ 59 Vgl. Einleitung zur Edition, S. 31, über die Abfolge der Kapitel X-X1V (§ 63-106): „Nachdem Caput X in §§ 63f das Zwei-Naturen-Schema aus der Höhe und Ferne meta­ physischer Spekulation herausgeholt hat, machen sie alle von der Grammatik der com­ municatio idiomatum, die sie - am klarsten Caput Xll und XIV - auch eigentlich ver­ wenden, einen übertragenen Gebrauch, in welchem der - ja ursprüngliche - soteriologi­ sche Sinn jener patristischen Christologie wieder erlebbar wird.“

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zwischen Gott und Mensch zielt60. In unmittelbarer Verbindung damit ge­ winnt dann auch die Rechtfertigung des Sünders, wie sie Staupitz darlegt, den Charakter einer Christusmystik, die nichts anderes als eine konsequent fortgeführte Zwei-Naturen-Kommunikation ist. Hier, im Blick auf die in­ dividuelle Seele und ihr Elend, erreichen die Aussagen über die geistliche Ehe und über die mystische Vereinigung zu einem Leibe61 ihren Höhe­ punkt, und - wie dann bei Luther - zielen sie auf den fröhlichen Wechsel' oder seligen Austausch zwischen den Eigenschaften der beiden Ehepart­ ner62. In der Kommunikation miteinander finden sie ihre Identität im ande­ ren, so dass Christus über seine sündige Braut sagt: „Der Christ ist Ich“ und umgekehrt die Braut sagt: „Christus ist Ich.“63 Das sind Formulierun­ gen, die unmittelbar an Luthers oben zitierte Aussagen über die Person­ einheit von Christus und Ich denken lassen64. Die Konsequenz dieser ehe­ mystischen ,Übertragung'65 vom Ich auf das Du und vom Du auf das Ich artikuliert Staupitz, indem er die Braut zu Christus sprechen lässt: „Darum bist du mein, und alles, was du hast, hast du für mich. Ich bin dein, und al­ les, was in mir ist, gehört dir. Und weil wir eins sind, ist das Deinige so das Meinige, dass es doch das Deinige bleibt; und das Meinige ist so das Deinige, dass es doch das Meinige bleibt. So bin ich also durch deine Ge­ rechtigkeit gerecht und durch meine Schuld Sünder; und du bist durch meine Schuld Sünder und durch deine Gerechtigkeit gerecht.“66 Der sündi­ 60 Vgl. außer Kap. X-XIV insbesondere auch Kap. IX, § 61, S. 148: „Ex his omnibus consequens est, quod omnia, quae habet Christus, verbum incarnatum, per assumptionem humanae naturae nostra fecit, ad salutem nostram omnia donavit, dicente scriptura: ,Qui proprio filio non pepercit, sed pro nobis omnibus tradidit illum, quomodo non etiam cum illo omnia nobis donavit.'“ Zum Begriff ,alles' (omnia), wie ihn Staupitz hier aus Röm 8,32 übernimmt, vgl. oben Anm. 47. 61 Vgl. besonders die Aufnahme von Eph 5,29-32 (bzw. Gen 2,24) in Kap. IX, § 53f., S. 142/144. 62 Diesen wunderbaren Austausch (admirabile commercium) preist Staupitz wieder­ holt mit hymnischen Worten: Kap. X (§ 64f.), Kap. XI (§ 76f.), Kap. XII (§ 78 und 82), Kap. XIV (§ 102-105). Vgl. Einleitung zur Edition, S. 31. 63 Kap. IX, § 56, S. 146: „[...] ut sic Christus dicat: ,Christianus est meus, christianus est mihi, christianus est ego'; et sponsa: .Christus est meus, Christus est mihi, Christus est ego.“‘ In den weiteren Paragraphen (§ 57-62) des Kapitels entfaltet Staupitz die Aspekte ,meus‘, ,mihi' und ,ego' und sagt zum letzten (in Anlehnung an Röm 5,2-4): „Postremo, si Christus est ego, ius ad coelum habeo, spem habeo, et glorior in spe filio­ rum dei, et non solum, sed etiam in omnibus, quae mediate vel immediate spem operan­ tur." § 62, S. 148. 64 Vgl. oben S. 248. 65 Vgl. die Überschrift zu Kap. XI, S. 156: „De translatione peccati nostri in Christum.“ 66 Kap. XI, § 76fi, S. 158: „Ideo tu es meus, et universa quae habes mihi habes. Ego sum tuus, et quidquid in me est tibi est. Et quia sumus unum, tua ita mea sunt, quod maneant tua; mea sic tua sunt, quod etiam maneant mea. Sum igitur sic ego tua iustitia iustus et mea culpa peccator; tu es mea culpa peccator et tua iustitia iustus.“ Vgl. auch

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gen Seele wird so die völlige Vergebung ihrer Sünden und die vollkom­ mene Gerechtigkeit des Gottessohnes zuteil, die ihre Annahme zur himmli­ schen Seligkeit und ihre feste Hoffnungsgewissheit des Heils67 begründet. All dies ist, wie Staupitz deutlich macht, schenkende Bewegung des göttli­ chen Erbarmens auf den armseligen Menschen zu. Aus purer Gnade wird er in die eheliche Heilsgemeinschaft mit Christus, d.h. in den kirchlichen Leib der Prädestinierten, aufgenommen, ohne dazu irgendetwas aus eige­ nem Vermögen und durch eigenes Zutun beitragen zu können.

10. Staupitz und Luther: Heilsbegründende Basis-Mystik für alle Christen Wie bei Luther nimmt also auch bei Staupitz die mystische Heilslehre eine theologische Zentralstellung ein. Die beseligende Vereinigung der Seele mit ihrem Bräutigam ist nicht das Ergebnis eines seelischen Entwicklungs­ prozesses, sondern die ,unio‘ bildet die Basis des gesamten Christseins, die gnadenhafte Seinsvorgabe vor aller menschlichen Qualität, Moralität und Aktivität; sie ist ihrem Wesen nach nichts anders als das Hineingenom­ menwerden in die Heilskommunikation des Leibes Christi. Gleich zu Be­ ginn der christlichen Existenz, im Moment der Rechtfertigung der sündi­ gen Seele, geschieht die persönliche, ganzheitliche und vollkommene Ver­ einigung von Gott und Mensch - eine Ganzheit der unio, die Staupitz wie Luther mit den Begriffen ,omnia‘ und ,universa' zum Ausdruck bringt68: Indem Christus sich mit dem sündigen Menschen vereint, schenkt er ihm all seine Heilsgaben. In dieser Basismystik für alle Christen liegt die wichtigste Übereinstimmung zwischen Staupitz und Luther, weil sie die Grundstruktur ihrer Theologie betrifft. Sie ist in ihrem Gesamtduktus mys­ tisch gepolt, da für beide die Vereinigung zwischen dem gerechten Gottes­ sohn und der sündigen Seele das allein Heilsnotwendige im Leben des

den Beginn des Kapitels § 71, S. 156: „[Christus] nostra peccata sua facit, quatenus sicut christianus Christi iustitia iustus, Christus christiani culpa iniustus sit et peccator." 67 Zur Staupitzschen Heilsgewissheit als Hoffnungsgewissheit auf der Grundlage des stellvertretenden Wirkens und Leidens Christi vgl. - außer oben Anm. 63 (§ 62) - folgen­ de Stellen in De exsecutione: Kap. VIII, § 51, S. 138: „in istis [scii, meritis Christi] fun­ damus collocamusque firmam spem seu certe fundatam cognoscimus"; Kap. XIX, § 170f., S. 234f.: die „vera spes“, die sich im Unterschied zur „stulta“ oder „vana con­ fidentia“ auf die göttliche Prädestination stützt; Kap. XXIII, § 238f., S. 286f.: über die „certa spes“, die ihre „certitudo“ nicht durch innere Selbsterforschung, sondern durch die von Gott eingesetzten unfehlbaren Zeichen („per infallibilia signa ad hoc instituta“) in Gestalt der Sakramente gewinnt. 68 Vgl. oben Anm. 60 und 66; zu Luther vgl. oben Anm. 47.

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Christen ist. Der traditionellen Brautmystik geben sie so eine unerhörte gnaden- und rechtfertigungstheologische Zuspitzung. Zum Heilsnotwendigen gehört zwar auch, dass die Gabe dieser Chris­ tusgemeinschaft der Seele in ihrem Innersten bewusst wird und sie sich ih­ rem Heiland voller Vertrauen anheim gibt; so lässt der Heilige Geist die ,unio‘ zur persönlichen Grunderfahrung der Gottesnähe werden. Alles aber, was sich daraus an weiteren geistlichen Erfahrungen und Wirkungen ergibt - jene diversen Manifestationen des Heiligen Geistes im lebendigen Vollzug christlicher Lebenspraxis, die den mittelalterlichen Mystikern und Mystikerinnen so wichtig waren rückt für Staupitz in den nachgeordneten Rang des Nicht-Heilsnotwendigen (wenn auch nicht Heilsirrelevan­ ten)69. Es sind intim beseligende, köstlich-,süße’ und beflügelnde Erfah­ rungen der das Herz erfüllenden Gottesliebe und daher unmittelbare Wir­ kungen der ehelichen Gemeinschaft mit Christus, die der Seele über das Notwendige und Allgemein-Christliche hinaus geschenkt werden. Im Un­ terschied zur heilsbegründenden Basismystik des Zusammenkommens von Erbarmen Gottes und Elend des Menschen entfaltet Staupitz nun eine mys­ tische Theologie der Geistesgaben70; er charakterisiert sie als Erfahrungs­ weisen eines Vorgeschmacks der himmlischen Seligkeit (praegustus salutis)71 von abgestufter Intensität72. So kostbar ihm also diese lebensver­

69 Diese Unterscheidung zwischen dem Grundlegenden, was für das Heil notwendig und für dessen Erlangung notwendig zu glauben ist („quae ad salutem sunt necessaria et necessario credenda pro consecutione eiusdem“), und den darüber hinaus geschenkten Gaben des Heiligen Geistes nimmt Staupitz in De exsecutione (wie Anm. 11), Kap. 15, § 107, S. 186 vor. Allerdings ist hinzuzufügen: Diese besonderen Gnadenwirkungen des Heiligen Geistes, die über das Heilsnotwendige der grundlegenden Rechtfertigungsbezie­ hung der Seele zu Christus hinausführen und daher nicht mehr die Alternative .Seligkeit oder Verdammnis' tangieren, sind gleichwohl relevant für den Heilsgewinn des Men­ schen. Denn alles, was im Prozess des christlichen Lebens aus der verwandelnden Kraft der (durch Gottes Geist gewirkten) Liebe geschieht, steht für Staupitz in einem kausalen und finalen (meritorischen bzw. satisfaktorischen) Bezug zu einer Seligkeit, die nach allgemein katholischem Heilsverständnis durch unterschiedliche Intensitätsstufen ge­ kennzeichnet ist. Zu Staupitz’ Lehre vom genugtuenden und verdienstlichen Charakter des christlichen Lebens vgl. Adolar Zumkeller: Johannes von Staupitz und seine christliche Heilslehre, Würzburg 1994, S. 176-183; Hamm: Frömmigkeitstheologie (wie Anm. 55), S. 240-242. 70 Die heilsbegründende Basismystik legt Staupitz im ersten Teil seines Traktats ,De exsecutione aeternae praedestinationis' dar (Kap. I-XIV, S. 76-185), die weiterführende mystische Theologie der besonderen Geistesgaben entfaltet er im zweiten Teil (Kap. XVXXIV, S. 186-303). Zur Architektur des zweiten Teils im Verhältnis zum ersten vgl. die sehr instruktive Einleitung zur Edition, S. 31-34. 71 Den gesamten zweiten Teil seines Traktats leitet Staupitz durch ein Kapitel „De praegustu salutis" (Kap. XV) ein. Zur .schmeckenden' Erfahrung („quod solo experi­ mento discitur“) vgl. insbesondere § 110, S. 188.

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wandelnden Geistesgaben der empfangenden und weiterschenkenden Liebe sind, unterscheidet er sie doch deutlich von der grundlegenden Heilsbezie­ hung jedes Menschen, den Christus mit seiner Gerechtigkeit beschenkt. In dieser Hinsicht hat Staupitz Luthers Art der Christusmystik in wesentli­ chen Zügen vorgeformt72 73. Damit will ich allerdings nicht sagen, dass Stau­ pitz’ Traktate Luther als unmittelbare literarische Vorlage gedient haben müssen. Eher wird man sagen können, dass Luther bereits in seinen frühen Klosterjahren durch Staupitz und vermutlich auch durch andere Impulse seines Ordens mit einer Art von Christusmystik vertraut gemacht wurde, die in älteren patristischen und mittelalterlichen Traditionen wurzelt und zum Nährboden seiner eigenen mystischen Theologie wurde74. Jedenfalls ist auffallend, dass er schon in der Römerbriefvorlesung (1515/16) den Rechtfertigungsvorgang in einer Weise beschreiben kann, die in größte Nähe zu seinen späteren Darstellungen des seligen Tauschs und fröhlichen Wechsels führt75. 72 Vgl. besonders seine Ausführungen über die vier Stufen der Liebe: Kap. XV, § 116-121, S. 192-197. Staupitz führt hier die Symbolsprache der Braut- und Ehemystik bis zur sexuellen Vereinigung der dritten und vierten Stufe, wenn sich der nackte Christus mit der nackten Seele in der puren Unmittelbarkeit vertrautester und intimster Liebe verbindet; § 120 („nudae copulantur nudo“) und § 121 („nunc in oscula ruit, nunc nudus nudae condormit“). Das ist gerade nicht mehr - wie im ersten Teil des Traktats Basismystik aller Christen, sondern elitäre Mystik, deren oberste, vierte Stufe allein von Maria erlebt wird. 73 Vgl. Richard Wetzel: Staupitz und Luther, in: Volker Press und Dieter Stievermann (Hg.): Martin Luther. Probleme seiner Zeit, Stuttgart 1986, S. 75-87: hier S. 86f. Wetzel weist nach, dass literarisch Staupitz vor Luther die Christologie und Soteriologie des ,fröhlichen Wechsels' oder ,wunderbaren Tauschs' „voll [...] ausgebildet vorgetragen hat“ (Ende 1516). Bei Luther erscheine der Gedanke „in nuce in den Sieben Bußpsalmen 1517 (WA 1, S. 229,30-32), in voller Ausformung im ,Sermo de duplici iustitia' 1518 (erst 1519 gedruckt) (WA 2, S. 145ff.)“. Durch genaue Synopse zeigt Wetzel: „Doch die Fassung des Gedankens, wie sie in Luthers ,Sermo de duplici iustitia' vorliegt, hat fast Satz für Satz ihre Entsprechung bei Staupitz, nicht nur hinsichtlich des frei formulierten Textes, sondern auch und gerade in der ,orchestration scripturaire' [...].“ 74 Zu den altkirchlichen und mittelalterlichen Wurzeln der Vorstellung vom seligen und wunderbaren Tausch zwischen Gottheit und Menschheit sowie Gerechtigkeit und Sünde vgl. oben Anm. 36, WETZEL ebd. S. 86 und den Traditionsapparat der Edition von STAUPITZ: De exsecutione (wie Anm. 11) zu den entsprechenden, von mir oben zitierten Textabschnitten. 75 Vgl. besonders die Passage WA 56, S. 204,14-25, in der auch bereits die für Luthers spätere Darstellung in der Freiheitsschrift so charakteristische Terminologie des Verschlingens/absorbere (vgl. oben S. 251) vorkommt, und zwar in Verbindung mit dem typisch mystischen Begriff des göttlichen , Abgrunds' (abyssus) und mit dem Hinweis auf die Gottheit Christi („ipse deus“): Das Herz des Glaubenden wendet sich von der Selbst­ anklage weg zu Christus und spricht: „Hic autem satisfecit, hic iustus est, hic mea defen­ sio, hic pro me mortuus est, hic suam iustitiam meam fecit et meum peccatum suum fecit. Quod si peccatum meum suum fecit, iam ego illud non habeo et sum liber. Si autem

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11. Luthers Transformation der traditionellen Mystik in die Vereinigung von Wort und Glaube Trotz der auffallenden Übereinstimmung Luthers mit Staupitz, wie ich sie skizziert habe, gewinnt das Verständnis der grundlegenden Rechtferti­ gungsbeziehung zwischen Christus und der Seele bei Luther ein deutlich verändertes Profil gegenüber der mystischen Theologie des väterlichen Mentors und Freundes. Den Unterschied kann man am besten erfassen, wenn man darauf achtet, dass Luther anders als Staupitz und alle mysti­ schen Texte der Vergangenheit das gesamte Vereinigungsgeschehen der sündigen Seele mit ihrem himmlischen Bräutigam als Beziehung zwischen Wort und Glaube beschreibt76. Sobald er darlegen will, wie es denn zur ehelichen Vereinigung und Heilsgemeinschaft zwischen der sündigen Seele und der beschirmenden Gerechtigkeit des Gottessohnes kommen kann, weist er auf das heilbringende Wort Gottes. Dem durch Gottes Ge­ setz bedrängten Sünder begegnet dieses befreiende Heilswort in den Zusa­ gen des biblischen Evangeliums des Alten und Neuen Testaments. In ihnen tritt Christus selbst in direkten Kontakt zum armseligen Menschen und schenkt ihm alles, was er braucht: Gottes Huld, Gottes freisprechende Sündenvergebung und die Annahme zum ewigen Heil, alles zusammenge­ fasst in den Begriffen ,Gerechtigkeit1 (iustita, frumkeyt) und .Rechtferti­ gung1. Und weil dieses Zusagewort der ,Promissio Dei1 ein lebendiges Wort ist, das wirksame Gegenwärtigwerden Christi und seines Heiligen Geistes77, bringt es dem Menschen nicht nur all diese Heilsgüter nahe, son­ dern schenkt es ihm auch die innere Bereitschaft, sich in dieser Weise von Gott beschenken zu lassen. Das ist der Glaube, der dem verzagten Sünder durch Gottes Wort und Geist geschenkt wird - der Glaube als festes Ver­ iustitiam suam meam fecit, iam iustus ego sum eadem iustitia, qua ille. Peccatum autem meum illum non potest absorbere, sed absorbetur in abysso iustitia eius infinita, cum sit ipse deus benedictus in saecula. Ac sic ,deus maior est corde nostro1 [1 Joh 3,20], Maior est defensor quam accusator, etiam in infinitum. Deus defensor, cor accusator. Quae proportio! Sic, sic, etiam sic!“ Zur Römerbriefvorlesung vgl. auch oben Anm. 38. 76 Vgl. besonders Karl-Heinz zur Mühlen: Mystische Erfahrung und Wort Gottes bei Martin Luther, in: Johannes Schilling (Hg.): Mystik: Religion der Zukunft - Zukunft der Religion, Leipzig 2003, S. 45-66; Gerhard Müller: Die Mystik oder das Wort. Zur Geschichte eines Spannungsverhältnisses, Stuttgart 2000 (= Akademie der Wissenschaf­ ten und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 2000/3). 77 Vgl. Oswald Bayer: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971; ders.: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegen­ wärtigung, Tübingen 2003, besonders S. 46-61. Es ist auffallend, dass Bayers worttheo­ logische Interpretation Luthers anders als die Karl-Heinz zur Mühlens (wie Anm. 76, S. 64) keine Perspektive einer „evangelischen Mystik“ eröffnet.

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trauen darauf, dass mir so geschieht, wie Gott verspricht: dass ich ohne Verdienst und Würdigkeit, aus purem göttlichen Erbarmen geliebtes Kind Gottes bin und Erbe des Heils. Nimmt man ernst, dass für Luther das Evangelium nicht nur ,signum‘, kraftloses Zeichen, ist, sondern ,res‘, die Sache selbst, ein Tat- und Gabe­ wort, in dem sich Christus selbst dem Sünder schenkt, dann versteht man, weshalb er in seiner Freiheitsschrift von 1520 die mystische Vereinigung der Seele mit Christus und den ehelichen Tausch ihrer Eigenschaften in die Beziehung zwischen Wort und Glaube hineinlegen kann. Über die göttli­ chen Zusagen und ihre ganzheitlich vereinigende Kraft schreibt er daher: „Nun sind diese und alle Worte Gottes heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam, frei und aller Güte voll; darum: wer ihnen mit einem rechten Glauben anhangt, dessen Seele wird mit ihm [d.h. mit Gottes Wort] vereinigt so ganz und gar, dass alle Tugenden [d.h. guten Eigenschaften] des Wortes auch zu eigen werden der Seele und also durch den Glauben die Seele von dem Wort Gottes heilig, gerecht, wahrhaftig, friedsam, frei und aller Güte voll, ein wahrhaftiges Kind Gottes wird [,..].“78 Der aktiv-wirkende Part in diesem Vereinigungsgeschehen kommt dem Gotteswort, der empfangende dem Glauben des Gotteskindes zu. Wenige Zeilen später überträgt Luther das alte mystische Bild von der Vereinigung des Eisens mit dem Feuer79 * * * * auf die ,unio‘ zwischen Wort und Glaube: „Denn kein gutes Werk hanget an dem göttlichen Wort wie der Glaube, kann auch nicht in der Seele sein, sondern allein das Wort und der Glaube regieren in der Seele. Wie das Wort ist, so wird auch die Seele von ihm: gleichwie das Eisen wird glutrot wie das Feuer aus der Vereinigung mit dem Feuer. So sehen wir, dass an dem Glauben ein Christenmensch genug hat, bedarf keines Werks, damit er fromm [= gerecht] sei; bedarf er denn keines Werkes mehr, so ist er ge78 Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, § 10, WA 7, S. 24,2229; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 273,11-18: „Nu seyn diße und alle gottis wort heylig, warhafftig, gerecht, fridsam, frey und aller gütte voll; darumb wer yhn mit eynem rechten glauben anhangt, des seele wirt mit yhm voreynigt ßo gantz und gar, das alle tugent des Worts auch eygen werden der Seelen und alßo durch den glauben die seele von dem gottis wort heylig, gerecht, warhafftig, fridsam, frey und aller gütte voll, eyn warhafftig kind gottis wirt, wie Johan. 1 [V. 12] sagt: ,Er hatt yhn geben, das sie mugen kynder gottis werden alle, die ynn seynem namen glauben?“ 79 Vgl. die Traditionsbelege (aus Origenes und Cyrill von Alexandrien) in der Martin Luther Studienausgabe 2, S. 273, Anm. 54 und S. 189, Anm. 111. Den Herausgebern der Studienausgabe ist entgangen, dass die naheliegendste Parallele zu Luthers mystischem Bild des glühenden Eisens bei einem Autor zu finden ist, den er hoch schätzte: bei Bernhard von Clairvaux: De diligendo Deo 10,28. Vgl. meinen Beitrag ,Gott berüh­ ren4 oben S. 118 mit Anm. 30; vgl. dort auch den Hinweis darauf, wie umstritten dieser und andere Vergleiche Bernhards im Spätmittelalter (besonders unter dem Einfluss der Kritik Gersons) waren. Umso bemerkenswerter ist es, dass Luther an dieser Bernhardschen unio-Metapher festhält.

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wisslich entbunden von allen Geboten und Gesetzen; ist er entbunden, so ist er gewisslich frei. Das ist die christliche Freiheit: der bloße Glaube [- j 4480

nes Versuchs einer Mystik-Definition gesprochen habe84, in eine Unmittel­ barkeit zum Wort: Die unmittelbare Beziehung der Seele zu Gott wird bei ihm zur unmittelbaren Beziehung der Seele zu Gottes lebendigem Wort. Diese Unmittelbarkeit hat eine zweifache Perspektive. Sie bezieht sich zum einen auf die Irrelevanz der persönlichen Qualität und Moralität des handelnden Menschen: Die befreiende Beziehung des Glaubenden zu Got­ tes Evangelium geschieht ohne Vermittlung menschlicher Tugenden und Werke85. Wenn der Mensch mit kindlichem Vertrauen auf die Verheißung der Gnade antwortet: ,Lieber Vater!‘, „dann“, heißt es in Luthers Ausle­ gung des Galaterbriefs, „kommen Vater und Kind zusammen und es wird die Ehe geschlossen ohne allen Aufwand und Pomp. Das heißt, da tritt gar nichts mehr [zwischen die Ehepartner], kein Gesetz und kein Werk wird hier gefordert.“86 Die zweite Perspektive der Unmittelbarkeit ist ekklesiologischer Art: Die Beziehung der Seele zu Gottes beschenkendem Wort schließt jede Art priesterlicher Heilsvermittlung aus. Mit Volker Leppin sehe ich in Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften und Glaubenden eine Art von vereindeutigender Transformation mystischer Vorstellungen von Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch87. Luther vertritt damit auf zweifache Weise eine neue, nach bisherigen Kategorien typisch häretische Art der Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch. Zwar ist das biblische Verkündigungswort ein irdisch-sinnliches Sprachmedium, aber für Luther gleichwohl ein Medium der Unmittelbar­ keit, weil durch das Evangelium in einer Weise, die auf Erden unüberbiet­ bar ist, Gott selbst, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, dem Men­ schen nahe kommen und eins werden mit ihm; weil sich in der Zusage Gott selbst mit seiner Huld dem Sünder zueignet. Darum kann Luther auch sa­ gen, dass derjenige, der Gottes Wort recht versteht, es „on mittel“ vom Heiligen Geist hat - in einem unmittelbaren Erfahren, Schmecken und Empfinden88. Indem Luther die Unmittelbarkeit der mystischen Tradition in eine Unmittelbarkeit des Wortes transformiert, wird für ihn zugleich der

Durch die Metapher des glühenden Eisens, die Luther auch sonst ver­ wendet81, artikuliert er im Kontext seiner Rechtfertigungs- und Wort­ theologie einerseits die intensivste Vereinigung von Gott und Mensch: Wie die beiden Substanzen des Feuers und Eisens82 werden sie im Kontakt des Glaubens mit dem Gotteswort so vollkommen miteinander verbunden, dass die göttlichen Eigenschaften des Wortes auch die der Seele werden: Sie wird aller Güte, Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes „voll“83. Andererseits aber ist deutlich, dass die Substanzen oder Naturen nicht ineinander ver­ wandelt werden: Das Eisen wird auch als glühendes Eisen nicht Feuer, sondern bleibt Eisen. Ebenso wird die Vollkommenheit und Ganzheit der heilbringenden Gerechtigkeit Christi dem Menschen geschenkt und ihm zu eigen, ohne doch in seine menschliche Natur, Substanz und Qualität hin­ einverwandelt zu werden und das menschliche Wesen in ein göttliches zu verwandeln. Was Gottes Evangelium und Geist im glaubenden Menschen verändern, bleibt menschlich-fragmentarisches, kreatürliches Wesen und ist nicht mit der Heilsgabe des göttlichen Wortes und seinen zugeeigneten Vollkommenheitseigenschaften gleichzusetzen. Davon wird noch mehr unter dem Gesichtspunkt der äußeren Gerechtigkeit Christ zu sagen sein.

12. Luthers Glaubensmystik: Unmittelbarkeit der glaubenden Seele zum Evangelium Im Blick auf diese innige, mystische Beziehung zwischen Glaube und be­ freiendem Gotteswort kann man sagen: Luther überträgt die typisch mysti­ sche Unmittelbarkeit und Direktheit, von der ich im Zusammenhang mei­

WA 7, S. 24,31-25,2; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 273,20-28: „Den keyn gut werck hanget an dem göttlichen wort wie der glaub, kan auch nit yn der Seelen seyn, sondern alleyn das wort und glaube regiren yn der seelen. Wie das wort ist, ßo wirt auch die seele von yhm, gleych als das eyssen wirt gluttrodt wie das fewr auß der voreynigung mit dem fewr. Alßo sehen wir, das an dem glaubenn eyn christenmensch gnug hatt, darff keynis wercks, das er frum sey; darff er den keynis wercks mehr, ßo ist er gewißlich empunden von allen gepotten und gesetzen; ist er empunden, so ist er gewißlich frey. Das ist die christlich freiheit: der eynige glaub [...].“ 81 Vgl. Martin Luther Studienausgabe 2, S. 189, Anm. 111. 82 Vgl. Martin Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520), WA 6,510,4-8; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 189,10: „Ecce ignis et ferrum duae sub­ stantiae [...].“ 83 Vgl. das Zitat oben in Anm. 78.

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84 Siehe oben S. 243f. 85 Vgl. oben S. 254. 86 Vorlesung über den Galaterbrief, Druckbearbeitung 1535, zu Gal 4,7, WA 40/1, S. 593,21-25: „Primum ergo offert mihi Pater suis promissionibus gratiam et paternita­ tem; reliquum est, ut ego accipiam. Hoc fit, cum isto gemitu clamo et respondeo corde fi­ liali isti voci: ,Pater!' Ibi tum conveniunt pater et filius et contrahuntur sponsalia sine omni apparatu et pompa. Hoc est, nihil prorsus intercedit, nulla lex, nullum opus hic exigitur.“ 87 Vgl. den Beitrag von Volker Leppin oben S. 183-185. 88 Auslegung des Magnificat (1521), WA 7, S. 546,24-27: „Denn es mag niemant got noch gottes wort recht vorstehen, er habs denn on mittel von dem heyligen geyst. Nie­ mant kansz aber von dem heiligenn geist habenn, er erfaresz, vorsuchs und empfinds denn.“

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Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens: der Glaube als ver­ trauendes Empfangen des Evangeliums. Das bedeutet aber, dass Luther die traditionelle Zentralstellung der Liebe, die auch noch für Staupitz bestim­ mend bleibt, preisgibt89. Aus der mittelalterlichen Liebesmystik wird bei ihm die reformatorische Glaubensmystik. Pointierter kann man den Um­ bruch, den Luthers Theologie in der Geschichte der abendländischen Mys­ tik bedeutet, kaum auf den Begriff bringen. Aber was ist mit diesem Sprung von der Liebe zum Glauben gemeint? Warum spricht Luther da, wo die mittelalterlichen Mystiker vom Einswerden der Liebenden spra­ chen, von der Vereinigung der glaubenden Seele mit dem göttlichen Heils­ wort?

13. Luthers Weg aus der inneren Anfechtung nach außen: Äußere Gerechtigkeit Christi und äußeres Wort Das Ausmaß der Zäsur lässt sich nur verstehen, wenn man von der grund­ legenden Anfechtungssituation im Leben Luthers ausgeht. Sie prägt die Gesamtarchitektur seiner neuen Theologie und damit auch seiner neuen Mystik, während in Staupitz’ mystischer Theologie die Anfechtungsdimen­ sion keine tragende Bedeutung besitzt, sondern nur am Rande vorkommt. Staupitz steht ganz in jener scholastischen und mystischen Tradition, die in der Rechtfertigung des Sünders den Übergang des Menschen aus der Lieb­ losigkeit in eine neue Liebesfähigkeit sieht90. Auch für ihn liegt in diesem Übergang das Wesentliche der rettenden Gottesbeziehung des Menschen91. Die sündige Seele wird gleichsam aus der egozentrischen Umlaufbahn um sich selbst herausgenommen und in die Umlaufbahn um Gott, das Gravita­ tionsfeld der Liebe Gottes um seiner selbst willen, geholt. Die mystische Theologie des Spätmittelalters thematisiert daher in erster Linie die beseli­ gende Liebesvereinigung der Seele mit ihrem himmlischen Bräutigam. Dieses mystische und monastische Perfektionsideal der reinen Gottesliebe ist dem jungen Mönch Luther aber so völlig zerbrochen, dass er in eine 89 Vgl. Berndt Hamm: Von der Gottesliebe des Mittelalters zum Glauben Luthers, in: Lutherjahrbuch 65 (1998), S. 19-44. Zur Zentralstellung der Liebe in Staupitz’ Theologie des geistlichen Lebens vgl. die folgenden Ausführungen mit Anm. 90 und 91. 90 Vgl. außer den zahlreichen Passagen in Staupitz’ Traktat ,De exsecutione1 (vgl. z.B. unten S. 269 mit Anm. 100) seine gesamte Schrift .Von der lieb gottes1 (wie Anm. 52). 91 Dieses Wesentliche, das lebensverwandelnde Ankommen der Liebe Gottes (im Sinne eines Genitivus subiectivus und obiectivus zugleich) im menschlichen Herzen, ist allerdings für Staupitz nichts Anderes als der Vollzug der ewigen göttlichen Prädestina­ tion („exsecutio aeternae praedestinationis11) in der Zeit. Insofern liegt für jeden Men­ schen das Heilsentscheidende im vorzeitlichen Prädestinationsdekret Gottes.

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verzweifelte Anfechtungskrise geriet: Er konnte in seinem Inneren nicht jene Liebesfahigkeit finden, die er erstrebte, sondern musste die völlige Nichtigkeit seiner Heiligungsbemühungen vor Gott realisieren. Der Weg nach innen, wie er durch die Verinnerlichungsprogramme mystischer Theologen empfohlen wurde, als Weg zu tiefstem Erkennen und Lieben, war für ihn nicht der Weg zur intimen Erfahrung beseligender Gottesnähe, sondern die Konfrontation mit der eigenen Grundsünde, einer völligen Un­ würdigkeit und absoluten Gottesferne, ja mit dem furchtbaren Zorn Gottes, der ihn richtet und verdammt. In dieser Anfechtungsnot einer vernichtenden Selbst- und Gottes­ erkenntnis, als sein Gewissen - das Innerste seines religiösen Bewusstseins - in den obsessiven Angstvorstellungen des Jüngsten Gerichts, der Sünde, des Todes und der Hölle zu ertrinken drohte, fand Luther den befreienden Ausweg in der radikalen Wendung nach außen. Es war seine Hinwendung zur äußeren Gerechtigkeit Christi, die den Sünder wie ein beschützender Mantel umgibt oder wie die Flügel der Henne das vom Raubvogel bedrohte Küken beschirmt92. Durch den Glauben eignet sich zwar die geängstigte Seele die Justitia Christi1 innerlich an, doch wird diese in ihrer rettenden Vollkommenheit nie mit einer inneren Qualität des Menschen, einer seeli­ schen Liebesfahigkeit, identisch vollzogen. Die so vollzogene Wendung nach außen war dann für Luther in ihrer Konsequenz auch die Hinwendung zum äußeren biblischen Wort des Evangeliums, das dem Menschen von außen eine Ganzheit des Gerechtseins und des Heils zuspricht, die er im Blick auf sein Inneres lebenslang nicht vorfinden kann93. Gerade weil die­ ses Heilswort und der mit ihm verbundene Heilige Geist ganz von außen kommen, können sie den Sünder in seinem Innersten treffen und ihn dort, in seinem gequälten Gewissen, ganz auf die befreiende Außendimension des ,Christus pro me‘ hin ausrichten. Dies aber ist die Ausrichtung des Glaubens, der seinem Wesen nach nicht auf das Eigene der Person, ihre innere Substanz und ihre guten Werke blickt, sondern sich ganz auf das

92 Vgl. z.B. Luther: Römerbriefvorlesung (1515/16), zu Röm 4,7 („Beati, [...] quo­ rum tecta sunt peccata“), WA 56, S. 278,1-7: „Tegitur, inquam, per Christum in nobis habitantem, sicut in figura dixit Ruth [3,7.9] ad Boos: .Expande pallium tuum super fa­ mulam tuam, quia propinquus es!‘ ,Et levato pallio proiecit se ad pedes eius‘, id est anima proiicit se ad humanitatem Christi et tegitur ipsius iustitia. Item Ezech. 16,[8]: ,Et expandi amictum meum super te et operui ignominiam tuam? Et Ps. 62 [63,8]: ,Et in velamento alarum tuarum exultabo?“ - Zum Bild der Henne und der Küken vgl. z.B. Kirchenpostille (1522) zu Mt 23,37, WA 10/1/1, S. 280,11-285,9. 93 Zur allmählichen Genese dieser Extra-nos-Dimension in der Theologie des jungen Luther vgl. Karl-Heinz zur Mühlen: Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mys­ tik und Scholastik, Tübingen 1972.

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Verheißungswort und Versprechen Christi bezieht und nur hier seine bese­ ligende Gewissheit findet94.

14. Der Glaube und nicht die Liebe als Zentralbegriff der rechtfertigenden Vereinigung mit Christus Es ist von größter theologischer Tragweite, dass Luther - aufgrund seiner desillusionierenden Anfechtungserfahrung - nicht mehr den Liebesbegriff verwendet, um die rettende Grundbeziehung der sündigen Seele zum barm­ herzigen Gott zu artikulieren95. Als mystischen Grundterminus wählt er ausgerechnet den Glaubensbegriff, der in der traditionellen Theologie die affektschwächste und frömmigkeitsfernste Dimension des Christseins be­ zeichnete, denn nicht der Glaube an sich, sondern erst das Lieben-Können rettet nach mittelalterlich-katholischer Vorstellung den Menschen. Indem nun Luther die Rechtfertigung des Gottlosen gerade an den Glauben und das glaubende Hören des Wortes knüpft, will er sagen, dass der Mensch nicht durch seine geistlichen Affekte, nicht durch fromme Gefühle wie Gottesliebe und Liebesreue gerechtfertigt und gerettet wird - so sehr das Vertrauen des Glaubens auch die Gottesliebe belebt96 -, sondern allein durch sein passives Empfangen von außen her. Glaube ist für ihn die Wei­ se des reinen Empfangens, das im Gewissen des sündigen Menschen ankommende Beschenktwerden mit der Gerechtigkeit Jesu Christi; sie wird dem Glaubenden zuteil, indem er dem Evangelium vertraut, d.h. sich selbst nichts, aber alles dem rettenden Handeln Gottes zutraut. Die Pointe dieses ,evangelischen1 Glaubens liegt in seinem ,nur‘: Du brauchst ,nur‘ zu glau­ ben - „glaubst du, so hast du“97; du brauchst und darfst nicht auf dein

94 Vgl. Bayer: Promissio (wie Anm. 77). 95 Dieser Wandel von der Liebe zum Glauben, der die Koordinaten des gesamten theologischen Heilsverständnisses veränderte, zeigt sich schon in Luthers Erster Psal­ menvorlesung (1513-15); vgl. Berndt Hamm: Warum wurde der Glaube für Luther zum Zentralbegriff des christlichen Lebens, in: Bernd Moeller und Stephen Buckwalter (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 103-127. 96 Theologisch präzise muss man sagen: Als herzliches Vertrauen auf Gottes rettende Güte ist Glaube, wie Luther ihn versteht, immer eine Art von radikaler Gottesliebe, d.h. er ist darin ganz und gar Liebe, dass er alles von Gott erwartet und alles von ihm empfangt. Aber rechtfertigend ist der Glaube nicht durch seine aktive Liebesfahigkeit, nicht durch seine affektive Glut, sondern allein durch sein passives Empfangen. Nicht der liebende, sondern der sündige Mensch wird bis an sein Lebensende freigesprochen. Ge­ nau das will Luther sagen, wenn er die rettende Beziehung zwischen Mensch und Gott nicht Liebe, sondern Glauben nennt. 97 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, § 9, WA 7, S. 24,13f.; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 273,2: „Glaubstu, so hastu; glaubstu nit, so hastu nit.“

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Lieben-Können, deine Buße und deine Werke des Gottesgehorsam reflek­ tieren, weil all dies für dein Heil irrelevant ist.

15. Mystischer ,raptus‘: Das ekstatische Wesen des Glaubens Der mystische Charakter dieses Glaubens, der die Seele mit dem Evange­ lium und so mit Christus selbst eins werden lässt, wird von Luther entfal­ tet, indem er den traditionellen mystischen Begriff des ,raptus1, des eksta­ tischen Emporgerissen- und Entrücktwerdens, auf den Glauben und nur auf ihn bezieht: „Nos ergo per fidem rapimur et efficimur una caro cum ipso [Christo].“98 Auch Staupitz kennt nicht nur die besonderen Ekstase-Erfah­ rungen speziell begnadeter Ausnahmemenschen, sondern wendet den ,raptus‘-Begriff auf die mystische Grunderfahrung aller Christen an98 99. Be­ zeichnend ist aber, dass er dieses ,Aus-sich-selbst-Herausgerissenwerden‘ wie die mystische Tradition vor ihm mit dem ekstatischen Wesen der Liebe verbindet, die den Sünder aus seiner Selbstbezogenheit holt100. Das völlig Neue bei Luther liegt in der Verknüpfung von ,raptus4 und Glaube. Ja man kann sagen: Der Glaube ist für Luther seinem Wesen nach ,raptus1, ein existentielles Entrücktwerden, weil er den Menschen aus allem Sicht­ baren, Erfahrbaren (,Fühlbaren1) und Verfügbaren dieser Welt und seiner eigenen Existenz herausholt und in die ganz andere, wahre Gotteswirklich­ keit des Christuswortes hineinversetzt, d.h. in die transzendente Wirklich­

98 WA 43, S. 582,21 f. (Genesisvorlesung, 1535-1545); dazu oben Anm. 35. Vgl. wei­ tere Quellenbelege bei Oberman: Simul gemitus et raptus (wie Anm. 1); Iserloh: Luther und die Mystik (wie Anm. 1), S. 71f.; zur Mühlen: Nos extra nos (wie Anm. 93), S. 51-66 und 104 (Luthers Terminologie ,exstasis‘, ,raptus' und ,excessus mentis' und ihr möglicher mittelalterlicher Hintergrund in der sog. »exegetischen Mys­ tik', vgl. oben Anm. 13); Miikka Ruokanen: Luther und Ekstase, in: Kerygma und Dog­ ma 32 (1986), S. 132-147; Athina LEXUTT: Luthers Verhältnis zur Mystik. Ein kir­ chengeschichtlicher Lösungsversuch zur Frage: Mystik und Protestantismus - Himmli­ sches Paar oder Duo infernale?, in: Der evangelische Erzieher 49 (1997), S. 19-40: hier S. 25. 99 Vgl. STAUPITZ: De exsecutione (wie Anm. 11), § 117 und 126, S. 194 und 200, an der zweiten Stelle mit der Formulierung: Die ,lex Christi' „rapit totum hominem sibimet et totaliter extra se ipsum ponit“. 100 Dies wird deutlich, wenn man die in Anm. 99 genannten Stellen der StaupitzSchrift in Beziehung setzt zu den folgenden Passagen § 128-132, S. 202-205, z.B. § 129, S. 202f.: Die durch den Heiligen Geist entflammte heiße Liebe der Braut zu ihrem Bräu­ tigam (Christus) bewirkt: „ut non sit ei dulcius quidquam quam recedere a se ipso propter nimiam complacentiam dei“; das .recedere se ipso' - in der Übersetzung Scheurls: „von im selbst außgeen“ - entspricht genau dem mystischen Wortfeld ,raptus', .exstasis', .ex­ cessus mentis', ,exire de se‘.

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keit der Christusgerechtigkeit und der ewigen Seligkeit101. So gesehen ha­ ben die Glaubenden ihr Sein außerhalb ihrer selbst: ,extra nos‘. Ein Christ, sagt Luther am Ende seiner Freiheitsschrift, „lebt nicht in sich selbst“102: „Durch den Glauben fahrt er über sich in Gott (per fidem sursum rapitur supra se in deum), aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe, gleichwie Christus sagt Joh 1 (V. 51): ,Ihr werdet noch sehen den Himmel offen stehen und die Engel auf- und absteigen über den Sohn des Menschen?“103 Wieder begeg­ net uns hier das Bild der Jakobsleiter von Gen 28; und es ist deutlich, wie weit Luther damit das mystische Motiv der Himmelsleiter hinter sich lässt104. Der Mensch steigt nicht über die Stufen seiner Erkenntnis- und Liebeskräfte zu Gott empor, sondern wird durch Gottes Wort aus seinem Elend herausgerissen. Diese Aufwärtsbewegung des Glaubens bleibt zeit­ lebens an die Abwärtsbewegung Christi zu uns in seinem Wort gebun­ den105.

101 Vgl. z.B. eine Stelle aus Luther: Hebräerbriefvorlesung (1517/18), Schol. zu Hebr 3,7, WA 57/III, S. 144,10-12: „Ideo arduissima res est fides Christi, quia est raptus et translacio ab omnibus, que sentit intus et foris, in ea, que nec intus nec foris sentit, seil, in invisibilem, altissimum, incomprehensibilem Deum.“ Vgl. auch Anm. 31. 102 Vgl. in derselben Schrift § 6, WA 7, S. 22,31-23,1; Martin Luther Studien­ ausgabe 2, S. 269,18-22: „Das [= damit] du aber auß dir und von dir [= aus dir heraus und von dir los], das ist auß deynem vorterbenn, kommen mögest, ßo setzt er [d.h. Gott] dir für seynen lieben ßon Jhesum Christum und leßsit dir durch seyn lebendigs, trostlichs wort sagen: Du solt ynn den selben mit festem glauben dich ergeben und frisch ynn yhn vortrawen.“ 103 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, § 30, WA 7, S. 38,6-12; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 305,12-18: „Auß dem allenn folget der beschluß, das eyn christenmensch lebt nit ynn yhm selb, sondern ynn Christo unnd seynem nehstenn: ynn Christo durch den glauben, ym nehsten durch die liebe. Durch den glauben feret er über sich yn gott, auß gott feret er widder unter sich durch die liebe und bleybt doch ymmer ynn gott und göttlicher liebe, gleych wie Christus sagt Johan. 1: ,Ihr werdet noch sehen den hymell offen stehn und die engeil auff und absteygenn ubir den sun des menschen?“ Mit der Parallelformulierung im lateinischen Text, WA 7, S. 69,14-16; Martin Luther Studienausgabe 2, S. 304,14-16: „Per fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo et charitate eius.“ Offensichtlich enthält der Text einen Anklang an 1. Joh 4,16: „Deus charitas est; et qui manet in charitate, in deo manet et deus in eo.“ Dieser biblische Bezug in Verknüpfung mit 1. Joh 4,7 („charitas ex deo est“) legt es nahe, die Aussage Luthers so zu paraphrasieren: ... und bleibt doch immer durch seinen Glauben in Gott (der die Liebe ist) und in der Liebe, die aus Gott kommt und ihn mit seinem Nächsten verbindet. 104 Vgl. oben S. 249f. mit Anm. 33 und 34 und S. 245 mit Anm. 22. 105 Vgl. unten S. 273 mit Anm. 113 und 114 sowie oben S. 249f. mit Anm. 34.

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16. Das Herausgerissenwerden (,raptus‘) als Kreuzweg der Seele Für Luther liegt im ,raptus1 und ,extra nos1 des Glaubens nicht nur das Befreiende der christlichen Freiheit106, sondern auch die harte Bitterkeit des Kreuzes107. Es zeigt sich hier die intensive Verwobenheit seiner mysti­ schen Theologie mit der Kreuzestheologie, in der er seine Anfechtungs­ erfahrung christologisch verarbeitet. ,Anfechtung1 in ihrer schlimmsten, aber auch heilsamsten Bedeutung heißt ja für Luther vor dem Hintergrund seiner eigenen, klösterlichen ,experientia1, dass dem Menschen alle inner­ weltlichen Sicherheiten zerbrechen, vor allem jedes Vertrauen auf eigenes Sein und Vermögen, Erkennen und Wirken, dass er Tod und Hölle durch­ lebt und so mit dem Christus der Passion gleichgestaltet wird108. Das mystische Bild der bräutlichen Umarmung mit Christus109 deutet er in die­ sem Sinne um, indem er in seiner Zweiten Psalmenvorlesung (1519-1521) sagt: „Die Umarmungen aber sind Tod und Hölle.“110 In der gleichen Psal­ menauslegung spricht er vom mystischen Erlebnis des ,raptus1, der die Seele durch das Wort in die Einsamkeit des ehelichen Schlafgemachs (Christi) führt, um aber sogleich klarzustellen, dass diese Art von ,Heraus­ 106 Auf die raptus- und extra-nos-Aussage am Ende der Freiheitsschrift (Zitat in Anm. 103) folgt unmittelbar der Satz: „Sihe, das ist die rechte, geystliche, christliche freyheyt, die das hertz frey macht von allen sundenn, gesetzen und gepotten, wilch alle andere freyheyt ubirtrifft wie der hymell die erdenn.“ WA 7, S. 38,12-14; Martin Luther Stu­ dienausgabe 2, S. 305,19-21. 107 Vgl. Luther: Hebräerbriefvorlesung (1517/18), Schol. zu Hebr. 6,12, WA 57/111, S. 185,2-4.6-8: „Fides enim facit cor fixum haerere in coelestibus penitusque rapi et ver­ sari in invisibilibus. [...] Sic enim fit, ut fidelis inter coelum et terram pendeat et ,inter medios cleros1, ut Psalmus [67/68,14] ait, .dormiat1, hoc est in Christo in aere suspensus crucifigatur.“ Zur Härte dieser Kreuzeserfahrung vgl. Zitat in Anm. 110, zum ,Hängen zwischen Himmel und Erde1 vgl. Zitat in Anm. 111. 108 Zur Anfechtungserfahrung Luthers während seiner frühen Erfurter und Wittenber­ ger Klosterjahre (1505/1515) vgl. Berndt Hamm: Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Christoph Bultmann, Volker Leppin und Andreas Lindner (Hg.): Luther und das monastische Erbe. Tübingen 2007. 109 Vgl. meinen Beitrag ,Gott berühren1 oben S. 120-124. 110 WA 5, S. 165,18-27; Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 2, S. 301,17-302,6: „Hinc Taulerus, homo Dei, et experti dicunt deum suis filiis non esse umquam gratiorem, amabiliorem et dulciorem ac familiariorem quam post tribulationis prolationem. [...] Sicut et filii patrem carnis dulcius amant post virgam, qua verberati sunt, ita cami contraria voluptate sponsus sponsam suam afficit Christus, nempe post am­ plexus. Amplexus vero ipsi mors et infernus sunt. Hic viget et regnat .sacramentum1 illum .magnum1: ,Erunt duo in carne una1, .Christus et ecclesia1 [Eph 5,3lf.], vere .mag­ num1, quia durissimum, sed suavissimos producens fructus prolemque deo simillimam, opera prorsus inculpata, quia sic vitis purgatur, ,ut fructum plus afferat1 [Joh 15,2].“

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gerissenwerden4 nicht Genuss, sondern bitterstes Leiden in der Gemein­ schaft mit dem Gekreuzigten bedeutet: den völligen Entzug alles Ge­ wohnten und aller Stützen, die bisher Halt gegeben hatten, ein Zunichte­ werden, Sterben und Zur-Hölle-Fahren. Luther versteht diese Ausführun­ gen als eine kritische Korrektur solcher mystischen Theologen des Mittel­ alters, die unter dem Einfluss des Pseudo-Dionysius-Areopagita und seiner ,theologia negativa4 davon sprechen, dass die Seele über alle positiven Seinsvorstellungen hinaus in die Finsternis Gottes emporsteige. Für Luther hingegen ist der Weg des Weltentzugs und der Gottesverfinsterung keine ,actio4 geistiger Tugenden, sondern die ,passio4 des Glaubens, ein passives Widerfahrnis und ein Geführtwerden auf dem Kreuzweg Christi. So lässt er diesen Gedankengang in den Satz münden: „Das Kreuz allein ist unsere Theologie.44"1 Darin liegt für ihn die eigentliche Negativität mystischer Er­ fahrungstheologie: im Zu-Schanden-Werden und Zerbrechen alles mensch­ lichen Seins und Vermögens vor Gott.

17. Der erlösende ,raptus‘ des Glaubens: Durch die Verborgenheit des Heils zur Heilsgewissheit Mit dieser Art von ehelicher Christusverbundenheit kommt aber sofort wieder das Befreiende des mystischen Heraus- und Emporgerissenwerdens in den Blick. Der ,raptus4 des Glaubens wird durch die Gemeinschaft mit dem leidenden Christus zur Rettung aus Anfechtung, Sünde, Tod und Ver111 WA 5, S. 176,16-33; Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers 2, S. 318,5-319,3 (dort auch Nachweis aus Ps.-Dionysius): „Denique caeterae virtutes ver­ santur circa res crassas et corporales externe, illae vero circa purum verbum dei interne, quo capitur et non capit anima, hoc est exuitur tunica et calciamentis suis, ab omnibus tam rebus quam phantasmatibus rapiturque per verbum (cui adhaeret, immo quod eam apprehendit et ducit mirabiliter) ,in solitudinem4 (ut Oseae 2 [14] dicit), in invisibilia, in cubiculum suum, in ,cellam vinariam' [Cant 2,4]. At hic ductus, hic raptus, haec expoli­ tio misere eam discrutiat. Arduum est enim et angusta via [vgl. Mt 7,14] relinquere om­ nia visibilia, exui omnibus sensibus, educi ex consuetis, denique hoc mori est et ad in­ feros descendere. Videtur enim ipsa sibi funditus perire, dum subtractis omnibus, in qui­ bus stetit, versabatur, haerebat, nec terram tangit nec caelum, nec se sentit nec deum, dicens: ,Nunciate dilecto meo, quia amore langueo' [Cant 5,8], quasi dicat: Redacta sum in nihilum et nescivi, in tenebras et caliginem ingressa nihil video; fide, spe et caritate sola vivo et infirmor (id est patior), ,cum enim infirmor, tunc fortior sum' [2. Kor 12,10]. Hunc ductum theologici mystici vocant ,in tenebras ire4, ,ascendere super ens et non ens*. Verum nescio, an se ipsos intelligant, si id actibus elicitis tribuunt et non potius crucis, mortis infernique passiones significari credunt. CRUX sola est nostra theologia.“ Zur Interpretation dieser Passage („das scheint doch stilreine Mystik zu sein“) in einem antimystischen Sinne vgl. von Loewenich: Luthers Theologia crucis (wie Anm. 3), S. 92-94.

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dammnis; in der Befreiung von allem falschen Vertrauen auf irdische Si­ cherungen wird die glaubende Seele zu ihrem wahren Leben und Heil ge­ führt: „Denn gleichwie Christus durch die Einigung mit der unsterblichen Gottheit durch das Sterben den Tod überwand, so überwindet auch der Christ, durch die Einigung mit dem unsterblichen Christus, die durch den Glauben an ihn geschieht, gleichfalls durch das Sterben den Tod. Und so nimmt Gott dem Teufel durch den Teufel selbst die Macht und vollendet durch das fremde sein eigenes Werk.“112 Was Luther hier in seiner frühen Hebräerbriefvorlesung (1517/18) von der Überwindung des Todes sagt, gilt analog von der Überwindung der Hölle durch die Seligkeit, der Sün­ denmacht durch die Sündenvergebung und der geistlichen Anfechtung der geängstigten Seele durch ihre Heilsgewissheit. All das ist soteriologisch angewandte Christologie der beiden miteinander vereinten Naturen Christi, die nun auch den Christen mit Christus zusammenfügen. So kann Luther das von ihm so problematisierte Bild der mystischen Leiter positiv auf­ nehmen und vom gekreuzigten Christus sagen: „Das ist die Leiter, auf der man zum Vater kommt.“113 In diesem kreuzestheologisch qualifizierten Sinne wird denn aus der Deszendenzmystik eine Art von Aszendenzmystik: ein ,ascendere4 im Glauben an Gottes Erbarmen114. Es ist die Eigenart des Glaubens, wie Luther ihn versteht, dass er kein Schauen ist und keine Ausgangsbasis zu übersinnlichen Jenseitserfahrun­ gen bildet. Als Glaubender bleibt der Christ gebunden an die Diesseits­ evidenz von Sünde, Leiden und Tod. Daher begegnen ihm Gottvater und Christus zu Lebzeiten nie in ihrem ungeschaffenen Wesen, in der „nuda divinitas“ ihrer enthüllten Majestät, sondern nur unter der Gegensatzgestalt irdischen Elends. Diese Art von Christusmystik, wie sie Luther mit schar112 Luther: Hebräerbriefvorlesung (1517/18), Schol. zu Hebr 2,14, WA 57/111, S. 129,21-25: „Sicut enim Christus per unionem immortalis divinitatis moriendo mortem su­ peravit, ita Christianus per unionem immortalis Christi, que fit per fidem in illum, eciam moriendo mortem superat ac sic Deus diabolum per ipsummet diabolum destruit et alieno opere suum perficit.“ 113 Luther: De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520), WA 6, S. 562,12-14: „Expertus loquor; Paulum potius audiamus, ut Jesum Christum et hunc crucifixum* discamus [1 Kor 2,2], Haec est enim ,via, vita et veritas* [Joh 14,6], haec scala, per quam venitur ad patrem, sicur dicit: ,Nemo venit ad patrem nisi per me* [Joh 14,6].“ Eingebettet ist diese kreuzestheologische Anwendung der mystischen Leiter in eine scharfe Kritik an der .Theologia mystica* des Pseudo-Dionysius Areopagita, der „mehr plantonisiere als christianisiere" („plus platonisans quam christianisans“); ebd. S. 562,3-11. 114 Vgl. WA 9, S. 494,32f. und 495,16f. (Predigt über Joh 14,1-14, Dez. 1520); WA 43, S. 582,24-26 (Genesisvorlesung, 1535-1545, zur Jakobsleiter Gen 28,12f.): „Ita in ipsum Christum ascendimus et rapimur per verbum et spiritum sanctum, et ipsi adhae­ remus per fidem unum existentes corpus cum eo et ipse nobiscum.“ Zu Luthers .Deszen­ denzmystik* vgl. oben S. 255 mit Anm. 48.

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fer Wendung gegen jede Spielart einer pseudodionysisch-spekulativen und schwärmerischen1 Mystik vertritt, kann nie die Verborgenheit Gottes im Passionsgeschehen durchbrechen und sich zu einer unmittelbaren Wesens­ schau des Ewigen emporschwingen115. Sie bleibt stets Kreuzesmystik, und das bedeutet: Sie ist Anfechtungsmystik angesichts der Verborgenheit des Heils. Allerdings ist sie zugleich Wortmystik, die, wie wir sehen konnten, den Glaubenden mit dem Verkündigungswort des Evangeliums eins wer­ den lässt116. Dieses Wort aber schenkt dem angefochtenen Sünder die Offenbarung des Verborgenen. Als Wort hat es zwar Anteil an der irdi­ schen Verborgenheit Gottes und seiner Heilsgüter: Es ist ,nur‘ Wort und nicht enthüllende Schau. Aber dem Hörenden, dem der Heilige Geist das innere Gehör öffnet, offenbart es in befreiender, unmissverständlicher Klarheit die heilsame Wahrheit hinter der verhüllenden Vordergründigkeit: hinter der verbergenden Menschheit des gemarterten Jesus die Gottheit Christi, hinter dem Tod die Auferstehung, hinter der Schuld den vergeben­ den Freispruch und hinter der Evidenz von Hölle und Verdammnis die ewige Seligkeit. So aber gewinnt der ,raptus4 des Glaubens die Dimension der Heils­ gewissheit. Aus der belastenden Ungewissheit über die eigene Liebes­ fähigkeit und der quälenden Verborgenheit des göttlichen Heilswillens reißt das Evangelium den Glaubenden empor in eine Gewissheit, die aus keiner irdischen Erfahrung ableitbar ist. In dieser persönlichen Heilsge­ wissheit findet Luthers mystische Wendung nach außen ihren Abschluss117. Aus seiner Sicht liegt darin eine Überbietung aller mystischen Gottesnähe des Mittelalters. Denn in den Traditionen vor Luther wie auch bei Staupitz gab es zwar einen , Vorgeschmack4 des ewigen Heils, wenn sich die Seele an der ,süßen4 Naherfahrung der göttlichen Liebe ergötzen darf118, ja es 115 Vgl. Luther: Erste Antinomerdisputation von 1537, WA 39/1, S. 389,10-391,20. 116 Vgl. oben S. 262-268 und das Zitat in Anm. 111: „rapiturque per verbum“. 117 Vgl. z.B. eine Passage aus Luther: Predigt am Gründonnerstag 1523, in der er das Motiv der Gütergemeinschaft des fröhlichen Wechsels (vgl. oben S. 250-252) mit der Gemeinschaftsgabe des Abendmahls (vgl. unten S. 276f.) und der Metapher des Kuchens („das wir ein küch werden mit dem herren Christo“, vgl. oben S. 248 mit Anm. 28) ver­ bindet und darin die Grundlage der Heilsgewissheit sieht: „Darumb byn ich sicher und gewiß, das mir Christus alle gueter schencket, die er hat, und alle seine krafft und macht.“ „Wen nun mit Christo ein küchen bist, was wiltu mer haben? Du hast alles uberschwengklich, was dein hertz begeret, unnd sitzest nun ym paradeyß.“ WA 12, S. 486,8487,26; Zitate S. 487,6f.l9.25f. 118 Vgl. oben S. 260 mit Anm. 71. Bereits auf der ersten Stufe (vgl. oben Anm. 72) erfreuen sich die Gottliebenden an jenem allersüßesten Wort, dass sie nicht sterben, be­ vor Christus in ihr Herz spricht: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Lk 23,43); Staupitz: De exsecutione (wie Anm. 11), § 117, S. 194: ,,[...] illo dulcissimo verbo gau­ dent, quod non moriuntur, nisi Christus dixerit in cor eorundem: .Hodie mecum eris in paradiso.“4

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gab sogar eine persönliche Heilsgewissheit im affektiven Seelenvermögen der Hoffnung119; doch eine persönliche Heilsgewissheit als Wahrheits­ erkenntnis des Glaubens lag nicht in der Perspektive mystischer Texte120. Für Luther aber offenbarte sich in solcher Glaubensgewissheit die Fülle der schenkenden Gegenwart Gottes und seiner erquickenden Heilsnähe. Sie gab ihm das Gefühl der Wiedergeburt und den Eindruck des geöffneten Himmels: dass er „durch offene Pforten in das Paradies selbst eingetreten“ sei121. 122 Über den seligen Tausch zwischen Christi Gerechtigkeit und unserer Ungerechtigkeit sagt er daher in einer Predigt von 1523: „Sihe, wenn du dahin kompst, was wiltu mehr? Do bist du schon ym paradeys und bist

18. Die Gebrochenheit der Mystik Luthers und ihre beseligende Kraft In der besonderen Art und Weise, wie Luther das mystische Motiv des ,raptus‘, der ,exstasis' und des ,excessus1 mit der Glaubensexistenz des Christen verbindet, zeigt der Gesamtcharakter seiner Christusmystik eine eigentümliche Gebrochenheit. Sie macht verständlich, warum die traditio­ nelle Lutherforschung größte Vorbehalte gegenüber der Anwendung des Mystikbegriffs auf Luthers Theologie und ihr Glaubensverständnis hegt: Luther lässt die Vereinigung der Seele mit der Gottheit durch mehrere Bre­ chungen hindurchgehen: durch die Erfahrungstiefe der Anfechtungen des Sünders, durch die Passionswirklichkeit des gekreuzigten Christus, durch die Verborgenheit der göttlichen Heilsnähe unter dem Gegensatz furchtba­ rer Gottferne und durch die Bindung der Christusgemeinschaft an die Be­ ziehung von Wort und Glaube. Ein unmittelbarer mystischer Kontakt zwi­ schen dem Innersten der Seele und den verborgenen Geheimnissen Gottes ist daher für Luther keine christliche Möglichkeit mehr. Man kann in diesem kritischen Verhältnis zur mystischen Tradition aber auch eine Weiterführung und Transformation der Mystik sehen, im Sinne jener Neukonzeptionen und Neuformulierungen, die für die Geschichte der 119 Vgl. oben Anm. 67. 120 Zur Unterscheidung zwischen dem Gewissheitscharakter der spätmittelalterlichen Hoffnungsgewissheit und dem der Glaubensgewissheit Luthers vgl. Hamm: Warum wur­ de der Glaube (wie Anm. 95), S. 107-123. 121 Luther: Vorrede zum ersten Band seiner Opera latina, 5. März 1545; WA 54, S. 186,8f.; Martin Luther Studienausgabe 5, S. 637,2f.: „Hic me prorsus renatum esse sensi et apertis portis in ipsum paradisum intrasse.“ Vgl. z.B. auch Luther: Scholien zur Jesajavorlesung (1532-34), zu Jes 65,19, WA 25, S. 388,6-13. 122 WA 12, S. 487,1-3; aus der bereits in Anm. 117 zitierten Textpassage; vgl. dort eine parallele Aussage über das Paradies.

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abendländischen Mystik insgesamt charakteristisch sind123: Die Brechun­ gen des menschlichen Gottesverhältnisses hindern Luther nicht daran, für jeden Christen eine innige Vereinigung seiner Seele mit Christus geltend zu machen, in der sich die Fülle der Gottheit mit der Armseligkeit der Seele zur beseligenden Heilsgewissheit des Glaubens verbindet. Wo in der Einwohnung des Christusgeistes und im ,raptus1 des Glaubens Außen und Innen Zusammenkommen, entsteht eine neue Einheit von Gott und Mensch. Sie kann eine einzigartige Vereinigungskraft entfalten, weil die Heilsgewissheit nicht einen Anlaufweg menschlicher Heiligung voraus­ setzt124, sondern inmitten der Zerbrochenheit der menschlichen Gottesbe­ ziehung und in der Not furchtbarer Gottferne befreiende Wirklichkeit wird. Die Gebrochenheit der Mystik und ihre beseligende Kraft bilden so einen unmittelbaren Lebenszusammenhang.

19. Luther in der Tradition der spätmittelalterlichen Passionsmystik Luther hat sich mit dieser neuen Mystik nicht nur von der mittelalterlichen Mystik abgegrenzt, sondern hat sie - auf seine Weise - auch beerbt, fortge­ führt und intensiviert. Dies war besonders eindrücklich am Beispiel des Johannes von Staupitz zu sehen. Mit Staupitz zusammen steht Luther in einer mystischen Tradition, die - vor allem seit Bernhard von Clairvaux ihre Zentralperspektive im Herabkommen Gottes zum Elend des Menschen fand125. Für diese Art von Mystik bedeutet Vereinigung der Seele mit Christus immer Eingefugtwerden in Christi ,unio‘ mit menschlichem Fleisch und Blut, Teilhabe an seinem Inkarnations- und Passionsleib und Gezeichnetwerden durch sein Kreuz. Charakteristisch ist in diesem Kon­ text das Bild von der Seele, die in Christi Wunden Zuflucht und Wohnung findet126. Bis hinein in Luthers Abendmahlsverständnis wirkt diese leibhaf­ 123 Vgl. oben S. 243 mit Anm. 16. 124 Vgl. oben S. 265 mit Anm. 85 und 86. 125 Vgl. oben S. 255 mit Anm. 50. 126 Vgl. Thomas Lentes: Nur der geöffnete Körper schafft Heil. Das Bild als Ver­ doppelung des Körpers, in: Christoph Geissmar-Brandi und Eleonora Louis (Hg.): Aus­ stellungskatalog: Glaube Hoffnung Liebe Tod, 2. Aufl., Wien 1996, S. 152-155; Petra Seegets: Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. Der Nürnberger Franziskaner Stephan Fridolin (gest. 1498) zwischen Kloster und Stadt, Tü­ bingen 1998; Ulrich köpf: Die Passion Christi in der lateinischen religiösen und theo­ logischen Literatur des Spätmittelalters, in; Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Die Passion Christi in Literatur und Kunst des späten Mittelalters, Tübingen 1993, S. 2141; DERS.: Artikel .Passionsfrömmigkeit1, in: TRE 27 (1997), S. 722-764. - Als Seelsor­ ger gab der Passionstheologe Staupitz Luther den Rat, in seinen Prädestinationsanfech­

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tige unio-Vorstellung, die den Sünder und den erniedrigten Christus zu einer innigen Lebensgemeinschaft des leiblich-sakramentalen Essens und Trinkens zusammenschließt. Darum ist Luther die leibliche Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl so wichtig, weil er sich hier als glaubend Kommunizierender in einen Heilsvorgang von mystischer Vereinigungs­ kraft aufgenommen findet: in das Herabkommen Gottes hinein „inn unser armes fleysch und blut“127, in die leibhaftige Verbindung von Gott und Mensch, in den gottmenschlichen Heilsleib Christi und in den beseligen­ den Austausch, der in diesem Leibe zwischen der rettenden Unschuld des Gekreuzigten und unserer Schuld geschieht128. Die kreuzestheologische Gebrochenheit der lutherischen Mystik und die für sie charakteristische sub-contrario-Struktur der Heilspräsenz Gottes wurzelt somit in einer spätmittelalterlichen Spiritualität, die der gott­ suchenden Seele statt spekulativer Höheflüge ein inniges Vertrautwerden mit dem armseligen, menschgewordenen und gemarterten Christus nahe­ legte. Diese Passions- und Niedrigkeitsmystik des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts wurde von Luther zur kreuzestheologischen Prägung seiner Wort- und Sakramentsmystik weitergeführt.

20. Luthers Begegnung mit der Anfechtungsmystik Johannes Taulers Was Luther bei Staupitz nicht finden konnte, war ein tieferes Verständnis für die Abgründe seiner Anfechtungserfahrungen. Als Beichtvater und Theologe wies ihn zwar Staupitz auf die tröstenden Heilsschätze der Menschwerdung und Passion des Gottessohnes, insbesondere auf den un­ mittelbaren Zusammenhang zwischen Gottes liebevollem Erbarmen seiner stellvertretenden Passion und einem innig liebenden Heilsvertrauen des tungen bei den Wunden des gekreuzigten Christus und nirgendwo sonst Trost zu suchen; Textbelege bei Hamm: Johann von Staupitz (ca. 1468-1524) - spätmittelalterlicher Re­ former und .Vater' der Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), S. 6-42: hier S. 32f. mit Anm. 103. 127 Zitat aus Luthers Weihnachtslied .Gelobet seist du, Jesu Christ' (Winter 1523/24), Strophe 2: „Des ewigen vaters eynig kind/ itz man ynn der krippen find./ Inn unser armes fleysch und blut/ verkleydet sich das ewig gut./ Kyrieleys.“ Archiv zur Weimarer Aus­ gabe der Werke Martin Luthers 4 (1985), S. 166 (vgl. S. 147f); vgl. auch WA 35, S. 435,7-11. 128 ln diesem Sinne hat das Bild des einen Leibes und einen Kuchens, in dem Christus und die Gläubigen vereint bzw. .zusammengebacken' sind, zugleich eine rechtferti­ gungstheologische, ekklesiologische und sakramentale und insofern eine dreidimensio­ nale mystische Bedeutung, die sich in dem Bild des seligen Gütertauschs verdichtet; vgl. oben Anm. 28 und 117.

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Sünders; mit seiner schrecklichen Erfahrung der Gottesferne und des Got­ teszornes aber fand Luther bei Staupitz keine adäquate Resonanz, weil die­ sem solche extremen Seelenzustände des völligen Irrewerdens an Gott und sich selbst fern lagen129. Es gab aber in der spätmittelalterlichen Mystik einen Traditionsstrang, der genau diese Extremzustände absoluter Gott­ verlassenheit, Nichtigkeitserfahrung und Trostlosigkeit thematisierte und ins Zentrum der geistlichen Lebenslehre stellte. Dieser Zweig der Mystik begegnete Luther relativ spät, d.h. noch nicht während seines Theologiestudiums, und auch noch nicht zu Beginn seiner Vorlesungstätigkeit, sondern erst 1515/16, als er an seiner Römerbrief­ vorlesung arbeitete und schon die Grundlagen für sein neues Rechtferti­ gungsverständnis gelegt hatte130. Auch jetzt war es bezeichnenderweise ein Angehöriger seines Augustinerordens, der ihm weiterhalf, zwar nicht Staupitz selbst, aber der Staupitzschüler und Freund Johannes Lang aus dem Erfurter Konvent. Es war in Staupitz’ Einflussbereich und unter dem Eindruck seiner christozentrischen Liebesmystik offensichtlich nahelie­ gend, sich mit deutsprachigen mystischen Texten der Taulerschen Art zu beschäftigen131. Lang gab Luther ein Exemplar der Predigten des Straßbur­ ger Dominikanerseelsorgers Johannes Tauler (gest. 1361), einen Druck von 1508132, den Luther dann 1516 auch mit Randbemerkungen versah133. Für Luther war die Begegnung mit Tauler ein elektrisierendes Leseerlebnis. Wenige Monate später erging es ihm ebenso mit der Lektüre der stark von Tauler beeinflussten Schrift eines spätmittelalterlichen Autors, des sog. Frankfurters1, die er unter dem Titel ,Ein deutsch Theologia1 zuerst un-

129 Zu Staupitz’ Rat- und Verständnislosigkeit gegenüber Luthers Anfechtungen, die er nicht mehr in den bekannten Koordinaten der Skrupulosität, des zu .engen' Gewissens, einzuordnen wusste, vgl. Luther: Tischredenzeugnisse: WA.TR 1, S. 62,lf., Nr. 141 (Dez. 1531); 1, S. 240,12-15, Nr. 518 (Frühjahr 1533); 2, S. 26,4-6, Nr. 1288 (Dez. 1531); 2, S. 403,19-22, Nr. 2283 (2. Hälfte 1531); 6, S. 106,32-107,3, Nr. 6669 (unda­ tiert). 130 Vgl. Brecht: Martin Luther (wie Anm. 51), S. 137-144 (.Bestätigung durch die Mystik1). 131 Vgl. Luther: Brief an Staupitz vom 31. März 1518, WA.B 1, S. 160,8-14, Nr. 66. 132 .Sermones: des hochgeleerten in gnaden erleüchten doctoris Johannis Thauleri [...]', Augsburg: bei Johann Otmar, 1508; Verzeichnis der im deutschen Sprachgebiet erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, J 783; Exemplar: Zwickau, Ratsschul­ bibliothek, Signatur: 20.6.12. Zur Provenienz des Exemplars und zu seinem Weg von Lang zu Luther und zurück zu Lang vgl. Henrik Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, Gütersloh 2003, S. 53, 69, 175-177, 317-320 (Nr. 106). 133 WA 9, S. 95-104. Vgl. Otto ebd., S. 183-214 (.Luthers Taulerrezeption im Spie­ gel seiner Randbemerkungen').

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vollständig 1516 und dann vollständig 1518 im Druck herausgab134. Er las sie anfänglich als genuinen Text Taulers. Der Funke der Taulerbegeisterung sprang auch auf andere reformatorische Theologen wie Andreas Bodenstein von Karlstadt und Thomas Müntzer über. Luther und sein Wittenberger Kreis135 wurden so zum Bahnbrecher einer variantenreichen protestantischen Rezeption spätmittelalterlicher Mystik-Texte, die über viele Stationen bis zu Johann Arndt (1555-1621) und über diesen bis in den Pietismus hineinreichte136. Was Luther bei Tauler und im Taulerschen Geiste in der ,Theologia deutsch1 fand, war ein für ihn neues Paradigma mystischer Theologie, das die traditionelle Inkamations- und Kreuzesmys­ tik weiterentwickelte zu einer Lebenslehre der Gottesferne.

21. Die Strukturverwandtschaft zwischen der Mystik Taulers und Luthers Charakteristisch für Tauler ist die Unterscheidung zwischen drei Lebens­ ebenen des mystischen Weges zu Gott137: Auf der ersten Ebene erlebt der fromme Mensch, der sich von den geschaffenen Dingen und aller Kreatur­ liebe abwendet, eine erquickende Nähe Gottes, die Freude über seine un­ ermessliche Güte und den Genuss seiner liebevollen Umarmung138. 139 Auf der zweiten Stufe wird ihm dieses Süßigkeitsempfinden seiner geistlichen Sinne und alles, was er bisher von Gott gefühlt und gewusst hatte, genom­ men. Gott entzieht sich ihm in die völlige Verborgenheit und stürzt ihn in eine so qualvolle Vereinsamung und Finsternis, dass ihm sein Leben wie eine Hölle, ja „mehr als Hölle“ erscheint134. In dieser Gottesferne wird dem armseligen Menschen seine völlige Nichtigkeit bewusst; er erlebt seine

134 Vgl. den Beitrag von Andreas Zecherle über die ,Theologia Deutsch1 oben S. 1-95; Otto ebd., S. 177-180. 135 Vgl. Otto ebd. S. 175-254 (.Taulerrezeption im Umkreis Luthers1), insbesondere S. 175-177 (.Taulerrezeption in Wittenberg1). 136 Vgl. Volker Leppin: Art. .Tauler, Johannes (ca. 1300-1361)‘, in: TRE 32 (2001), S. 745-748: hier S. 747 (mit Literatur). 137 Vgl. z.B. Die Predigten Taulers, hg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910, Predigt 40, S. 154-162: hier S. 159,29-162,23. Außer dieser dreistufigen Gradualisierung des mystischen Weges zum Heil kann Tauler auch andere Beschreibungen der drei Stufen wählen, auf die hier nicht näher einzugehen ist. 138 Vgl. ebd. S. 160,24-26: “Und so wirt er von unserm herren mit grosser süssikeit begobet, und wirt im ein innerlich umbevang in bevintlicher vereinunge.“ 139 Ebd. S. 161,24f.: „Möchte helle gesin in disem lebende, so düchte si das me denne helle: sere minnen und des geminten gutes darben.“

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,Vernichtung*140. Er ist aus dem Sinnkosmos seines Lebens herausgefal­ len141. Wenn er diesen tiefsten Punkt erreicht, gelangt er zur dritten Exis­ tenzebene: Gott kommt zu ihm herab, strömt mit seiner beseligenden Geis­ tesfülle in seine Leere, lässt sein Gemüt zum Seelengrund der Gottesgeburt werden und hebt ihn über sich selbst empor142 in die Vereinigung mit dem göttlichen Wesen. Hier widerfahrt ihm die Vergöttlichung seines inneren Menschen: Durch Gottes Gnade wird er das, was Gottes Sein von Natur ist143. Und je tiefer er vorher durch die Qual der Gottesferne und Ich-Vernichtung gesunken ist, desto höher wird er nun durch diesen mystischen ,raptus*, durch diese Ekstase seines Geistes aus seinem Selbst herausge­ hoben144. Was Luther an dieser Taulerschen Erfahrungstheologie besonders faszi­ niert, ist zum einen das dominierende Leitmotiv der Passivität: dass der Mensch sich nicht aktiv-zielstrebig auf Gott zubewegt, sondern dass ihm durch Gott jeder eigene Halt genommen wird und so die ,Gelassenheit* zuteil wird, sich allezeit völlig dem heilsamen Wirken Gottes zu überlas­ sen. Zum andern aber wird Tauler für Luther zum Lehrer der verzweifelten Anfechtung und der getrosten Verzweiflung. Er zeigt ihm eine Mystik, die sich auf die bittersten Erfahrungen der Gottesverfinsterung und eigenen Nichtigkeit einlässt und in der Hölle der Gottverlassenheit die Voraus140 Ebd. S. 162,14-17: „Kinder, in disem in der worheit ze sinde, das ist der tiefster grünt gerechter demütkeit und vomichtkeit den man mit sinnen nüt begriffen enmag in der worheit. Wan in disem ist das aller woreste bekentnisse sines eigenen nichtes.“ 141 Zu dieser schlimmsten Anfechtung, in der dem Menschen nicht nur irdisch-kreatürliches Behagen genommen wird, sondern sich Gott selbst dem Menschen völlig entzieht vgl. Bernd Moeller: Die Anfechtung bei Johann Tauler, Diss. theol. [masch.], Mainz 1956, S. 46-48; Christine Pleuser: Die Benennungen und der Begriff des Leides bei J. Tauler, Berlin 1967, S. 198-200; Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption (wie Anm. 132), S. 192-201. 142 Zu diesem Herausgeführtwerden über sich selbst oder außerhalb seiner selbst - ei­ nem vorlutherischen Modus des ekstatischen ,raptus extra nos‘ - vgl. z.B. Die Predigten Taulers (wie Anm. 137), Predigt 37 (Zitat in Anm. 143); Predigt 39, S. 162,4L; Predigt 53, S. 245,13f.; Predigt 54, S. 252,16-19. Vgl. Volker Leppin: Externe Personenkonsti­ tution bei Johannes Tauler, in: Günther Mensching (Hg.): Selbstbewusstsein und Person im Mittelalter, Würzburg 2005, S. 55-64. 143 Zu dieser wiederholten Zentralaussage Taulers vgl. z.B. Die Predigten Taulers (wie Anm. 137), Predigt 26, S. 109,23L; Predigt 37, S. 146,21-27: „In disem wirt die sele alzemole gotvar, gotlich, gottig. Si wirt alles das von gnaden, das Got ist von naturen, in der vereinunge mit Gotte, in dem inversinkende in Got, und wirt geholt über sich in Got. Also gotvar wirt si do: were das si sich selber sehe, si sehe sich zemole für Got. Oder wer si sehe, der sehe si in dem kleide, in der varwe, in der wise, in dem wesende Gotz von gnaden, und wer selig in dem gesichte, wan Gott und si sint ein in diser vereinunge von gnaden und nüt von naturen.“ Ebenso Predigt 39, S. 162,1 Of. 144 Zu dieser mystischen Regel Taulers ,Je tiefer... desto höher' vgl. z.B. ebd. Predigt 39, S. 162,17f. und Predigt 53, S. 245,14-18 und 25-29.

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Setzung für die beseligende Vereinigungserfahrung mit Gott findet. Diese Dialektik von schrecklicher Gottesferne und tröstender Gottesnähe ent­ sprach Luthers monastischem Erfahrungshorizont und dem Gedanken­ duktus seiner ersten Vorlesungen145. In einer der Taulerpredigten konnte Luther nach einer bewegenden Schilderung des jammervollen Geschicks, das den Menschen aller Gottes­ empfindungen beraubt, den Satz lesen: „In solcher Qual kann die arme Seele nicht glauben, dass diese unerträgliche Finsternis jemals Licht wer­ den könnte.“146 Genau diesen Ton nimmt Luther in seinen ,Resolutiones* zu den Ablassthesen (1518) auf, nachdem er einen Lobpreis auf Tauler vorausgeschickt hat, der mehr echte und reine Theologie biete, als alle scholastischen Doktoren aller Universitäten - ein Urteil, das auch seinen sonstigen, zahlreichen positiven Äußerungen über Tauler entspricht147. Luther lässt ein dramatisches Selbstzeugnis seiner Anfechtungsqualen fol­ gen, um dann mit Tauler zu sagen: „In einem solchen Augenblick kann die Seele - wie schrecklich! - nicht glauben, dass sie jemals erlöst werde.“148 145 Vgl. Bernd Moeller: Tauler und Luther, in: La Mystique Rhenane, Paris 1963 (= Travaux du Centre d’etudes superieures specialise d’histoire des religions de Stras­ bourg), S. 157-168: hier S. 160-162; Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption (wie Anm. 132), S. 192-201; Hamm: Naher Zorn und nahe Gnade (wie Anm. 108). 146 Die Predigten Taulers (wie Anm. 137), Predigt 39, S. 161,31-33: „Das ist der ar­ men seien in dem qwellende als ungelöiplich, das das unlidelich vinstemisse iemer ze liechte müge komen.“ 147 In diesem Zeugnis über Tauler zeigt Luther auch deutlich, was ihn an den Predig­ ten des Straßburger Mystikers inhaltlich fasziniert: dass er mehr und anders als andere Theologen etwas über die Erfahrung und den Wert des Purgatoriums der Anfechtungen („poenarum passiones“) zu sagen weiß (vgl. auch oben Anm. 110): „Quinto. Quam multi sunt, qui usque hodie has poenas gustant! Nam et Joan[nes] Taulerus in suis teutonicis sermonibus quid aliud docet quam earum poenarum passiones, quarum et exempla nonnulla adducit? Atque hunc doctorem scio quidem ignotum esse scholis theologorum, ideoque forte contemptibilem. Sed ego plus in eo (licet totus Germanorum vernacula sit conscriptus) reperi theologiae solidae et sincerae, quam in universis omnium universi­ tatum scholasticis doctoribus repertum est aut reperiri possit in suis sententiis.“ WA 1, S. 557,25-32. - Vgl. MOELLER: Tauler und Luther (wie Anm. 145), S. 158T: Luther hat sich „in Vorlesungen und theologischen Schriften, Briefen und Predigten nicht selten über den Mystiker geäussert, und unter den - soweit mir bekannt: 26 - uns überlieferten Erwähnungen Taulers in Luthers Schrifttum ist keine einzige, an der er ihn kritisiert, kaum eine, an der man eine gewisse Reserve, ein gewisses Abstandhalten spürt. Diese Erinnerungen an Tauler ziehen sich etwa von der Jahreswende 1515-16 an bis in die dreissiger Jahre hinein, sie häufen sich zwischen 1516 und 1522.“ Vgl. auch Otto: Vorund frühreformatorische Tauler-Rezeption (wie Anm. 132), S. 211-214. Dieser Befund unterscheidet sich deutlich von Bemerkungen Luthers über andere Theologen, die er hoch schätzte, wie Augustin, Bernhard von Clairvaux, Bonaventura oder Johannes Ger­ son: Ihnen gegenüber äußert er auch deutlich Kritik. Vgl. oben Anm. 15. 148 WA 1, S. 558,1-3: „ln hoc momento (mirabile dictu) non potest anima credere, sese posse unquam redimi, nisi quod sentit nondum completam poenam.“ Dieser ganze

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Luther fühlte sich von Tauler verstanden. Und in der Tat kann man mit Bernd Moeller von einer „Strukturverwandtschaft ihres Denkens“ spre­ chen149. Beide entfalten auf ihre Weise eine mystische Theologie, die nicht nur die Polarität extremer Gottesverlassenheit und innigster Gottesver­ trautheit kennt, sondern beide Pole so intensiv miteinander verbindet, dass daraus eine einzige Existenzbewegung - durch die Hölle der Verborgen­ heit Gottes zur beseligenden Christusgemeinschaft - wird.

22. Luthers Distanz zu Tauler und seine Begründung eines neuen Typs abendländischer Mystik Der Vergleich mit Tauler zeigt freilich auch den zeitlichen und theologi­ schen Abstand Luthers. Er nimmt den Duktus der Taulerschen Gedanken auf und gibt ihnen eine Wendung, die einen Bruch mit dieser mystischen Tradition wie überhaupt mit jeder Spielart mittelalterlicher Mystik bedeu­ tet. Die Differenz kündigt sich bereits im Anfechtungsverständnis an, denn für Luther liegt der Kern der Anfechtungsschrecken nicht nur in der Ver­ borgenheit Gottes und in der gottverlassenen Verfinsterung der Existenz, sondern im genauen Gegenteil zur heilvollen Gnadennähe Gottes: in der bedrängenden Nähe des göttlichen Zorns150. Gott entzieht sich als feindse­ lig attackierende Macht; als unerbittlich fordernder, richtender und ver­ dammender Gott ist er dem Sünder schrecklich nahe - eine mystische Naherfahrung ex negativo. Damit hängt unmittelbar der entscheidende Unterschied im Verständnis der beseligenden Vereinigung mit Gott zu­ sammen. Für Tauler ist die Befreiung aus der Seelenqual ein Emporgeho­ benwerden des inneren Menschen zur vergöttlichenden ,unio mystica'. Dieser mystische ,raptus' geschieht, wenn der Mensch in sein Innerstes ge­ kehrt wird und sich in seinem Seelengrund die Gottesgeburt ereignet. Die

Abschnitt der Resolutiones (S. 557,33-558,18) zeigt auffallende Parallelen zu Taulers Predigt 39, in: Die Predigten Taulers (wie Anm. 137), S. 161,8-33, die Luther allerdings nicht mit Randbemerkungen versehen hat. Dass Luther gerade diese Passage der Taulerpredigt besonders intensiv gelesen hat, könnte sich auch in folgendem Anklang (Zi­ tat?) zeigen: ln der zweiten Antinomerdisputation (Jan. 1538), WA 39/1, S. 456,7f. schreibt er: „Talis enim est doctrina legis, ut, si vere tangat cor, so wirt einen die weite weit zu enge.“ Vgl. Tauler ebd. S. 161,18f.: „das im alle dise wite weit ze enge wirt“. Eine bemerkenswerte Parallele zum zitierten Abschnitt der Resolutiones (ebenfalls mit ausdrücklichem Hinweis auf Tauler) findet sich in WA 5, S. 203,10-16; Archiv zur Wei­ marer Ausgabe der Werke Martin Luthers 2 (1981), S. 366,7-14 (Operationes in Psalmos, 1519-21). 149 Moeller: Tauler und Luther (wie Anm. 145), S. 167. 150 Vgl. Iserloh: Luther und die Mystik, S. 70.

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Aufwärtsbewegung ist so zugleich Bewegung in die Tiefe. „Höhe und Tie­ fe“, sagt Tauler, „sind hier ein und dasselbe“151. Luther hingegen erlebt in der Anfechtung eine derartige Krise des inne­ ren, geistigen Menschen, eine so angstvolle Wahrnehmung der Grund­ sünde in der Tiefe des Herzens, dass er im mystischen Weg nach innen nicht mehr den Weg zur befreienden Gottes- und Heilsgewissheit finden kann152. So wichtig ihm ist, dass die christliche Befreiung gerade dem In­ nersten des Menschen, seinem Gewissen, gilt, so wichtig wird ihm nun, dass diese Befreiung dem inneren Menschen nur von außen her widerfahrt, in der Zusage und Zueignung der äußeren, fremden Gerechtigkeit Jesu Christi, und dass der innere Mensch durch den Glauben in dieses äußere Zusagewort des Evangeliums hineinversetzt wird und nur dort die innige Vereinigung mit Christus finden und seine Heilsgewissheit verankern kann. Luther begründet damit einen neuen Typ der Mystik in Anknüpfung und Widerspruch zum Staupitzschen und zum Taulerschen Paradigma der Christusmystik. Die charakteristische Gebrochenheit der spätmittelalterli­ chen Mystik, wie sie uns beispielhaft in Staupitz’ Erniedrigungstheologie und in Taulers Anfechtungstheologie begegnete, nimmt Luther auf, aber in beiderlei Hinsicht radikalisiert er die mittelalterlichen Brechungen der Gottesunmittelbarkeit. Die Distanz zwischen der Heiligkeit Gottes und der Unheiligkeit des Sünders und die Kluft zwischen der erhabenen Gottheit Christi und der armseligen Menschheit Jesu wird von ihm bis ins Extreme durchdacht. Diesen unendlichen Abstand kann nur Gott selbst durch seine 151 Die Predigten Taulers (wie Anm. 137), Predigt 39, S. 162,18: „Wan hoch und tief ist do ein.“ 152 Vgl. die Beobachtungen zu den Themenbereichen der Taulerschen Predigten, die Luther offensichtlich aufgrund wesentlicher theologischer Differenzen nicht interessier­ ten (vor allem Taulers Zielperspektive der Gottesgeburt im Seelengrund), bei MOELLER: Tauler und Luther (wie Anm. 145), S. 163-165 (in diesem Zusammenhang S. 164 die „kategorische Feststellung“ im Anschluss an Heinrich Bornkamm: „Luther war kein Mystiker.“) sowie Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption (wie Anm. 132), S. 201-206 (,Skepsis gegenüber dem Ziel unmittelbarer Gotteserfahrung“) und S. 207-211 (.Distanz zum „Grund“ beziehungsweise zur „Syntheresis““). Wichtig ist die Beobachtung Ottos (S. 148-161), dass sich bereits in der Taulerrezeption des frühen 16. Jahrhunderts vor Luthers Randbemerkungen (vgl. oben S. 278 mit Anm. 133) eine des­ interessierte Zurückhaltung und kritische Distanz gegenüber den - von der neuplatoni­ schen Anthropologie geprägten - Spitzenaussagen Taulers über die vergöttlichende unio und den Seelengrund zeigen. Allerdings enthält Luthers Distanz zur Mystik Taulers nicht nur die Absage an ein unio- und Seelengrund-Verständnis neuplatonischer Prägung, son­ dern die viel weiter reichende, grundsätzliche Ablehnung aller Rechtfertigungs- und Heiligungskonzeptionen, die den Heilsweg des Menschen als Transformation und Perfek­ tionierung des inneren Menschen verstehen. Dies geht aus meiner folgenden Darstellung hervor.

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barmherzige Kommunikation und seinen fröhlichen Wechsel1 über­ brücken.

23. Luthers Intensivierung der Mystik Damit aber kommt abschließend die besondere Intensität der Mystik Luthers als Charakter seiner Gesamttheologie in den Blick. Kein Theologe, kein Mystiker und keine Mystikerin vor ihm haben die Kluft zwischen Gott und Kreatur so scharf akzentuiert wie er. Keiner hat zugleich Gott und Mensch durch das Geschehen der Inkarnation so intensiv miteinander verbunden gesehen und die heilvolle Kommunikation Gottes mit der sün­ digen Kreatur so konsequent von allen Voraussetzungen und Bedingungen auf Seiten der Kreatur gelöst: Jede Art von qualitativer Disposition der Seele und jede Form hierarchischer Heilsvermittlung werden anders als in den für Luther relevanten mystischen Texten des Mittelalters ausgeschlos­ sen. Die Überbrückung der Kluft und die beseligende Kommunikation Gottes mit dem Elend der Kreatur gewinnt so einen unerhörten Grad des Wunderbaren, schlechthin Beschenkenden und Gnadenreichen. Die Weihnachts- und Osterlieder Luther geben davon einen lebendigen Eindruck. Indem Gott den Himmel öffnet, sich selbst in Christus und Christus sich in seinem Evangelium schenkt und indem Gott diese schenkende Bewegung von jeder menschlichen Qualität und Würdigkeit unabhängig sein lässt, entsteht die Intensität einer gott-menschlichen unio und communio, wie sie nach Luthers Vorstellung auf Erden nicht intensiver, nicht vertrauter, inni­ ger, tröstlicher, erquickender und beseligender gedacht und empfunden werden kann. Dem Sünder wird, wie er betont, in Gottes Zusage, d.h. in der Heiligen Schrift, in der Evangeliumspredigt, in Taufe und Abendmahl, die ganze Fülle des Heils153, der Gottesgegenwart, der Gnadennähe, der Gemeinschaft mit Christus und der Gemeinschaft der Glaubenden im Leibe Christi geschenkt. Luthers Extra-nos-Denken, das sein Evangeliums- und Glaubens­ verständnis kennzeichnet, scheint auf den ersten Blick mit wirklicher Mystik unverträglich zu sein. Es ist aber nur dann mit Mystik unvereinbar, wenn man den Mystikbegriff auf ein ganz bestimmtes Innerlichkeitsideal und substanzontologisches Verhältnis zwischen Gott und Mensch festlegt und nicht wahrnimmt, dass schon in der mittelalterlichen Mystik starke Impulse lebendig sind, die gegenüber einer platonisierenden Geist- und 153 Zu diesem Totalaspekt, der nur dann einen Sinn ergibt, wenn man die Gabe Gottes an den glaubenden Menschen in ihrer nicht zu überbietenden Ganzheit personal, relatio­ nal und imputativ-extem, nicht aber substanzontologisch-intem versteht, vgl. Luthers Terminologie des ,alles1: oben Anm. 47.

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Identitätsontologie die christusbestimmte Außendimension der Gnade und des Heils geltend machen'54. So gesehen kann Luther als Fortführung einer mittelalterlichen Mystik-Entwicklung verstanden werden. Er selbst jeden­ falls hat in der Externität, im ,Von-außen-her' des Gnadenwortes und des Heiligen Geistes, den entscheidenden Möglichkeitsgrund für die persönli­ che Heilsgewissheit des Glaubenden gesehen. Die spätmittelalterliche Mystik vor Luther strebte immer nach dem Ideal der Sicherheit, Gewiss­ heit und Ruhe der Seele. „Fliege sicher in die Umarmungen des Bräuti­ gams!“, ruft ihr Johannes Gerson am Ende seines berühmten Traktats über die mystische Theologie zu154 155. Für Luther, den zutiefst Angefochtenen, lag in der Heilsgewissheit das entscheidende Moment der Gnadennähe Gottes und des Einswerdens mit Christus. Was man auf der mystischen Heilsleiter zu erreichen suchte, war für ihn in der Heilsgewissheit des Glaubens letzt­ gültig und unüberbietbar präsent - zu überbieten nur durch die Schau der himmlischen Herrlichkeit nach dem Tode. Sieht man, wie Luthers gesamte Theologie auf diese getröstete Geborgenheit und Gewissheit des Gewis­ sens zielt und wie für ihn darin die innigste und unmittelbarste Gemein­ schaft mit Christus beschlossen ist, dann wird man ihn als einen der herausragenden Vertreter der abendländischen Mystik würdigen können.

24. Warum es sinnvoll ist, Luther als ,mystischen Theologen4 zu bezeichnen und zu verstehen Warum eigentlich, so möchte ich zum Schluss - eine mögliche Kritik vor­ wegnehmend - fragen, soll man sich die terminologische Problematik auf­ bürden, Luther als ,mystischen1 Theologen und den Hauptduktus seiner Theologie als ,mystisch1 zu bezeichnen? Was ist mit einer solchen Etiket­ tierung gewonnen? Für die von mir gewählte terminologische Entschei­ dung sprechen starke historische Gründe. Luther nimmt ein Grundanliegen bestimmter abendländischer Traditionen, die man allgemein als ,mystisch1 154 Vgl. z.B. den Beitrag von Barbara Steinke oben S. 139-164, insbesondere die Bemerkungen zum Christusbild in den interpretierten mystischen Texten des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina, S. 163f. mit Anm. 87. Vor allem in der franzis­ kanischen Mystik wird die grundlegende Sühnewirkung und vorbildhafte Bedeutung des Leidens und Sterbens Christi als Basis des mystischen Heiligungsweges hervorgehoben; vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 23), S. 85-138 und 214280. 155 Johannes Gerson: De mystica theologia, tract. 2, in: Ioannis Carlerii de Gerson De mystica theologia, hg. von Andre Combes, Lugano 1958 (= Thesaurus mundi), S. 216,130f. : „[...] tunc vola securus in amplexus sponsi!11 Vgl. Sven Grosse: Heils­ ungewißheit und Scrupulositas im späten Mittelalter. Studien zu Johannes Gerson und Gattungen der Frömmigkeitstheologie seinerzeit, Tübingen 1994, S. 128f.

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zu bezeichnen pflegt, auf: die Intention, Gottes beseligende Erfahrungs­ nähe zum armseligen Menschen und seine innige Vereinigung mit ihm vor dem Hintergrund seiner unendlichen Weltüberlegenheit, Ferne und Ver­ borgenheit zu artikulieren. Insbesondere stellt er sich in die Tradition der Braut- und Ehemystik und in die Tradition der dunklen Anfechtungs­ mystik, gibt beiden Traditionen aber eine christologische Vertiefung, die eine neue Dimension der soteriologischen Verbundenheit der Seele mit Christus auslotet. Den für die abendländische Mystik seit dem 13. Jahr­ hundert so charakteristischen Spannungsbogen zwischen tiefster Angst­ erfahrung der Gottesverborgenheit und unerhörter Trosterfahrung der ret­ tenden Gnadennähe und Gottesgeborgenheit156 macht Luther auf der Grundlage seiner eigenen biographischen Erfahrung und durch den refor­ matorischen Umbruch hindurch zum Strukturprinzip seiner Gesamttheolo­ gie. Damit aber wird deutlich, dass sich die reformatorische Neuorientie­ rung Luthers nicht nur auf der rationalen Ebene der diskursiven Schul­ theologie, sondern auch auf der affektiven Ebene der mystischen Erfah­ rungstheologie vollzieht. Diese Neuorientierung ist daher auch als Qualität einer neuen Mystik zu erfassen. Die Verwendung der Mystik-Terminologie bietet aber vor allem die Chance, Luthers Christologie und Rechtfertigungstheologie nicht nur in ihrer forensischen Dimension - auf der Linie Anselms von Canterbury -, sondern in ihren ganzheitlichen Lebens-, Erfahrungs- und Frömmigkeits­ bezügen zu verstehen. Sie zeigt Luther in einem theologie- und spirituali­ tätsgeschichtlichen Zusammenhang, in dem es in verschiedensten Variatio­ nen um drei Hauptthemen geht: um die Stellung des heilsbedürftigen und heilsemplänglichen Menschen unter dem geöffneten Himmel Gottes; um die immense Gnadennähe Gottes als ,vergöttlichende' Christusgemein­ schaft des Leibes Christi; und um das Innewerden einer persönlichen und doch die Individualität unendlich transzendierenden Heilsgewissheit. Zu diesen drei Perspektiven, die ihm vorgegeben waren, verhält sich Luther kritisch korrigierend, aber auch intensivierend. Um diese reformatorische Intensivierungskraft adäquat zu formulieren, ist meines Erachtens der Mystikbegriff - mit seiner spannungsreichen Differenziertheit - unver­ zichtbar. Alle dezidierten Urteile aber, Luther sei kein Vertreter einer mys­ tischen Theologie, müssen sich fragen lassen, ob ihr Mystik-Begriff diffe­ renziert genug ist, ob er nicht zu stark älteren geistesgeschichtlichen Be­ griffskonventionen verhaftet ist - und damit insbesondere den ontologi­ schen Vorgaben einer pseudo-dionysischen oder Eckhartschen Mystik und ob er dem breiten phänomenologischen und terminologischen Spek­

156 Zur neuen Mystik des 13. Jahrhunderts und danach vgl. meinen Beitrag ,Gott berühren' oben S. 129-132 und 136f.

Wie mystisch war der Glaube Luthers?

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trum, wie es die neuere Mystikforschung von der Patristik bis zum neuzeit­ lichen Protestantismus bietet157, standhalten kann.

157 Vgl. Anselm Steiger: Fünf Zentralthemen der Theologie Luthers und seiner Erben. Communicatio - Imago - Figura - Maria - Exempla. Mit Edition zweier christologischer Frühschriften Johann Gerhards (= Studies in the History of Christian Thought 104), Leiden/Boston/Köln 2002, Register s.v. .Mystik'.

Heidrun Munzert

Unio mystica versus Teufelsbuhlschaft. Überlegungen zur Vergleichbarkeit von mystischer Erfahrung und Hexenvorstellung am Beispiel von Gertrud von Helfta und Else Rodamer 1. Einleitung oder: Am Anfang war der schöne Mann „Ich stand in jener Stunde im Schlafsaal und erhob gerade den Kopf wie­ der - gemäß der Ordensregel hatte ich eine ältere Schwester gegrüßt da sah ich an meiner Seite einen liebenswürdigen, zartgliedrigen, etwa 16jährigen jungen Mann stehen von schöner Gestalt, wie er damals für meine äußeren Augen wünschenswert gewesen wäre und ihnen gefallen hätte.“1 Diese Erscheinung, die der 26jährigen Gertrud am 27. Januar 1281 im Kloster Helfta zuteil wird, verändert das Leben der jungen Nonne von Grund auf: Der hübsche Jüngling erweist sich als Christus selbst, und er wird ab sofort bis zu Gertruds Tod im Jahr 1302 zu ihrem vertrauten Be­ gleiter, der sie regelmäßig mit seiner göttlichen Gegenwart beglückt. Zahl­ reiche mystische Erfahrungen und Erlebnisse Gertruds sind die Folge, in deren Verlauf sie sich von Gott mit großen Gnadengaben ausgezeichnet sieht. Die spätere katholische Tradition wird Gertrud deshalb mit dem Bei­ namen „die Große“ ehren. Rund 300 Jahre später, im Jahr 1585, erscheint einer anderen Frau, der etwa 20jährigen Else Rodamer, ebenfalls ein adretter Jüngling: „Item, da­ mals, als sy auf die Wiesen gelangt und ir Tuech volgegraset gehabt, auch einbinden und heimbgehen wollen, seie ein junger starker Gesell, der ein schwartz Berdtlein, in schwartzer Kleidung und ein zimblichs hochs Filtz' Gertrud die Grosse von Helfta: Gesandter der göttlichen Liebe [Legatus divi­ nae pietatis], übersetzt von Johanna Lanczkowski, Heidelberg 1989 (= Sammlung Welt­ literatur, Reihe Mittellateinische Literatur), II, I, S. 13f. Vgl. den lateinischen Original­ text in: Gertrude D'Helfta: CEuvres spirituelles, Bd. 2: Le Heraut (Livres I et II), hg. von Pierre Doyere, Paris 1968 (= Sources chretiennes 139, Serie des Textes Monastiques d’Occident 25), II, 1, 2,1-6, S. 228 und 230: „Igitur in praedicta hora dum starem in me­ dio dormitorii et secundum reverentiam Ordinis obvianti mihi seniori caput inclinatum erigerem, astantem mihi vidi juvenem amabilem et delicatum, quasi sedecim annorum, in tali forma qualem tunc juventus mea exoptasset exterioribus oculis meis placiturum.“

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hüttlein aufgehabt, zu ir kommen und [habe ihr] aufhelffen wollen“2, so notiert elf Jahre später der Protokollführer. Auch für die Rodamerin wird diese Begegnung zum entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens: Es be­ ginnt für sie eine Zeit der engen, auch körperlich intimen Beziehung zu dem Mann. Doch anders als bei Gertrud entpuppt sich bei Else der schöne Jüngling nicht als Christus, sondern als Teufel in Menschengestalt, der sie ihrem Willen unterwirft und in seine Dienste zwingt. Else Rodamer muss für diese Verbindung einen hohen Preis zahlen: Am 27. Februar 1596 wird sie in Sugenheim wegen Hexerei verurteilt und nach der Hinrichtung durch das Schwert auf dem Scheiterhaufen verbrannt3. Die zwei Begegnungen, die so konträre Lebensläufe zur Folge haben, muten in mancher Hinsicht recht ähnlich an: Beide Frauen sehen sich einer attraktiven Männergestalt gegenüber, mit der sie langfristig eine intensive, auch körperlichen Kontakt beinhaltende Beziehung aufnehmen. Beide Frauen machen auf diese Weise Erfahrungen, die über den normal-mensch­ lichen Erfahrungshorizont hinausreichen, da ihre Partner einer überirdi­ schen, eigenen Strukturen und Gesetzmäßigkeiten unterworfenen Wirk­ lichkeit angehören. Von diametraler Unterschiedlichkeit ist jedoch diese überirdische Wirklichkeit selbst: Während Gertrud einen Vorgeschmack vom Leben im himmlischen Reich Christi kosten darf, erfährt Else am eigenen Leib, was es heißt, unter der höllischen Herrschaft des Teufels zu stehen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen soll die Frage nach der Art der Beziehung stehen, die die Frauen hier jeweils mit ihrem göttlichem bzw. teuflischem Partner eingehen. Lassen sich über gewisse äußere, struk­ turelle Ähnlichkeiten hinaus inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen der mystischen Erfahrung einer als Heiligen verehrten Frau einerseits und der Teufelszugehörigkeit einer als Hexe klassifizierten Frau andererseits auf­ zeigen, die es rechtfertigen, um des besseren historischen Verständnisses willen beide Phänomene vergleichend in den Blick zu nehmen?

2 Traudl Kleefeld und Gernot Stepper: Transkription der Sugenheimer Urgich­ ten (1596), in: Traudl Kleefeld, Hans Gräser und Gernot Stepper (Hg.): Hexenverfolgung im Markgraftum Brandenburg-Ansbach und in der Herrschaft Sugenheim, mit Quellen aus der Amtsstadt Crailsheim, Ansbach 2001 (= Mittelfränkische Studien 15, Veröffentli­ chungen zur Ortsgeschichte und Heimatkunde in Württembergisch Franken 19), I, 2f., S. 388. Im Folgenden zitiert als: Sugenheimer Urgichten. 3 Vgl. ebd. I, Deckblatt, S. 387, und I, 28, S. 401.

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2. Methodische Überlegungen Von einem historisch-religionsphänomenologischen Ansatz her ist dieser Vergleich längst gezogen worden, ln seinem erstmals 1995 erschienenen Buch ,Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen* versuchte Peter Dinzelbacher anhand einer Fülle von Material aufzuzeigen, dass der Schritt von der Heiligen zur Hexe und umgekehrt von der Hexe zur Heiligen oft­ mals nur klein war. Die Gemeinsamkeit zwischen beiden ,Typen* von Frauen, so die These Dinzelbachers, bestehe aus religionsphänomenologi­ scher Sicht darin, dass sie im religiösen Bereich ein Verhalten an den Tag legen, das als normabweichend aus dem Rahmen des Üblichen fällt4. Die Frauen besitzen jeweils auffällige Fähigkeiten und Fertigkeiten, durch die sie bei ihren Zeitgenossen Aufmerksamkeit erregen und die sie von der Gruppe der ,normalen* Christen absetzen. Aufgrund ihrer besonderen Ga­ ben wird den Frauen von ihren Zeitgenossen ein Sonderplatz innerhalb der religiösen Rangordnung eingeräumt, der, je nachdem, ob sich ihre Bega­ bungen Gott oder dem Teufel verdanken, entweder ganz oben (mystische Heilige) oder ganz unten am Ende der Skala (Hexe, Ketzerin) angesetzt wird. Die Phänomene selbst jedoch, die die Frauen an den Tag legen, äh­ neln sich nach Dinzelbacher in bemerkenswerter Weise: Beiden Typen et­ wa erscheint - wie die eingangs erwähnten Beispiele bereits deutlich ge­ macht haben - die jeweilige Gottheit in menschlicher Gestalt5; beide verrechtlichen die Beziehung zur jeweiligen Gottheit, indem sie in Form eines Verlöbnisses (sponsa Christi) oder eines Paktes (Teufelsbund) eine gleich­ sam juristische Vereinbarung treffen6; beide erleben eine direkte, intime, körperliche Beziehung zu ihrer Gottheit (Christusminne, Unio mystica ver­ sus Teufelsbuhlschaft)7; äußerlich sichtbar wird dieser enge Kontakt nicht selten dadurch, dass die Gottheit jeweils Spuren an dem Leib der Heiligen bzw. der Hexe hinterlässt (Stigmata versus Teufelsmal)8; sowohl die Hei­ lige als auch die Hexe erhalten aufgrund der engen Verbindung zu ihrer Gottheit häufig geheimes Wissen oder die Fähigkeit, Taten zu bewirken, die über normales menschliches Vermögen hinausgehen (Wunder versus Schadenszauber)9. Die genannten Beispiele für Analogien zwischen mystischer Heiligkeit und Hexerei - die Liste ließe sich noch um einige Punkte verlängern - ha­ 4 Vgl. Peter Düsseldorf 2001, 5 Vgl. ebd. S. 6 Vgl. ebd. S. 7 Vgl. ebd. S. 8 Vgl. ebd. S. 9 Vgl. ebd. S.

Dinzelbacher: Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen, S. 15. 173-177. 192-195. 177-186. 195-199. 211-236.

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ben durchweg eines gemeinsam: Sie zeigen ein normabweichendes Verhal­ ten im religiösen Bereich, das größtenteils dem Bereich des Parapsychi­ schen zuzuordnen ist10. Es handelt sich jeweils um teilweise nur für die Frauen selbst (z.B. Visionen, Teufelserscheinungen), teilweise auch für Außenstehende äußerlich sichtbare, wahrnehmbare Phänomene (z.B. Stig­ mata, Teufelsmal). Da sie den normal-menschlichen Erfahrungshorizont übersteigen, bedürfen sie einer besonderen Interpretation, die auf religiöser Ebene geleistet wird. Die richtige Zuordnung, so Dinzelbacher, stellte für die Zeitgenossen dabei oftmals ein ernst zu nehmendes Problem dar. So herrschte beispielsweise Uneinigkeit darüber, ob Margery Kempe den Teu­ fel oder den Heiligen Geist in sich habe und ihre übermäßig ausgeprägte Tränengabe folglich positiv als Zeichen ihrer Heiligkeit oder negativ als Ausdruck ihrer Ketzerei zu interpretieren sei. Das Symptom selbst, die Tränengabe, eröffnete zunächst jedenfalls beiden Deutungen Spielraum11. Das große Verdienst Dinzelbachers besteht m.E. darin, dass er auf der Grundlage eines breiten Quellenmaterials mittels der historisch-religions­ phänomenologischen Methode eine neue, produktive Fragestellung ermög­ licht hat. Mystische Heiligkeit und Hexerei werden - so lautet seine Kri­ tik - in der Regel als isolierte Phänomene betrachtet, was zur Folge hat, dass unter Umständen größere Zusammenhänge, die über unmittelbare, mi­ krohistorisch nachweisbare Kausalbeziehungen hinausreichen, nicht wahr­ genommen werden. Diesem Defizit versucht Dinzelbacher mit seiner Stu­ die abzuhelfen. Im Ergebnis meint er eine mentalitätsgeschichtliche Ent­ wicklung feststellen zu können, die zwischen der „mystischen Invasion“ einerseits und dem „Hexenwahn“ andererseits insofern Verknüpfungen er­ kennen lässt, als ihnen „die gleiche Sensibilisierung für charismatische, paranormale, magische Verhaltensweisen zugrundeliegt“12. Diese Sensi­ bilität, so Dinzelbachers These, beginnt sich in Westeuropa im Hochmit­ telalter auszuformen und lässt sich in seinen Ausläufern bis ins 18. Jahr­ hundert nachweisen. Die religions-phänomenologische Betrachtungsweise gelangt jedoch recht schnell an ihre - gewissermaßen natürlichen - Grenzen. Der Ver­ gleich muss sich, methodisch bedingt, mit einem nur formal bestimmten Begriff von mystischer Heiligkeit bzw. Hexerei (definiert als „normabwei­ chendes Verhalten im religiösen Bereich“) zufrieden geben. Entsprechend werden die Merkmale, an denen die Heiligkeit bzw. Hexerei einer Person festgemacht wird, auf übermenschliche, paranormale Erscheinungen (z.B. Stigmata, Wundergabe) reduziert. Auf diese Weise erhalten Phänomene, die für eine inhaltliche Begriffsbestimmung unter Umständen nur eine 10 Vgl. ebd. S. 154. " Vgl. ebd. S. 15-20. 12 Ebd. S. 13.

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Randbedeutung haben13, ein unverhältnismäßig starkes Eigengewicht. Daraus ergibt sich die Gefahr, dass zwar viele Berührungspunkte zwischen Mystik und Hexerei festgestellt werden können, diese jedoch nicht die ent­ scheidenden Wesensmerkmale beider in den Blick nehmen und der Ver­ gleich deshalb notgedrungen auf einer recht oberflächlichen Ebene stecken bleibt. Will man diese Problematik vermeiden, so muss der Weg zurück zu ei­ ner historisch-phänomenologischen Methode gegangen werden, die sich auch mit dem inhaltlichen Verständnis von Mystik bzw. Hexerei auseinan­ dersetzt und, vom konkreten Einzelfall ausgehend, das Besondere des je­ weils zugrunde liegenden Konzeptes in den Blick nimmt. Die so gewonne­ nen Einsichten müssen dann einer vergleichenden Analyse unterzogen werden, deren Ergebnisse daraufhin zu befragen sind, ob und inwiefern aus ihnen allgemeine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Vergleich­ barkeit von mystischer Heiligkeit und Hexerei abgeleitet werden können. Die Schwierigkeiten, die sich bei solch einem Vorhaben ergeben, sind je­ doch erheblich. Nur zwei Punkte seien kurz umrissen: 1. Die Quellenlage ist daraufhin zu überprüfen, ob sie für solch ein Vor­ gehen überhaupt geeignet ist. Im Bereich der Frauenmystik werden vor allem die Heiligenviten und Offenbarungsberichte die Materialgrundlage bilden. Auch wenn in diesen die Erfahrungen der Frauen oft nur durch Vermittlung eines Dritten (z.B. durch den aufschreibenden Seelsorger) und damit möglicherweise in domestizierter, zensierter, ja sogar manipulierter Form vorliegen, so bieten sie doch trotzdem im Großen und Ganzen eine Sichtweise, die gleichsam aus der Innenperspektive heraus das mystische Erleben in Worte zu fassen sucht: Sie enthalten das, was es nach dem Ver­ ständnis derjenigen als wesentlich festzuhalten gilt, die entweder für sich selbst mystisches Erleben reklamieren oder aber mystisch begnadete Per­ sonen auf ihrem Weg seelsorgerlich begleiten. In jedem Fall dient die Auf­ zeichnung der mystischen Erfahrungen dazu, die aus ihnen gewonnenen Einsichten zum Nutzen, zur Belehrung oder zur Anleitung für einen mysti­ schen Weg an Dritte weiterzugeben. Mystik wird daher in der überwiegen­ den Zahl der Quellen von einem parteilichen Standpunkt aus als etwas Po­ sitives gesehen, das anderen als Vorbild, zur Unterweisung oder Erbauung, dienen kann. Dies ist nicht zuletzt einer der Gründe dafür, weshalb mysti­ sche Literatur überhaupt entstanden ist.

13 Vgl. beispielsweise den im vorliegenden Band neu in die Diskussion gebrachten Definitionsvorschlag von Berndt Hamm, der Mystik als die „persönliche Erfahrung einer unmittelbaren Nähe Gottes“ bestimmt und damit seinen Fokus auf die besondere Qualität der Gottesbeziehung und nicht auf die ungewöhnliche charismatische, ,paranormale' Be­ gabung der Mystikerin legt. BERNDT Hamm: Gott berühren, oben S. 134-136.

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Im Bereich der Hexerei sind dagegen völlig andere Voraussetzungen ge­ geben. Als Quellengrundlage kommen hier vor allem die aus den Hexen­ prozessen erhaltenen Verhörprotokolle sowie die Traktatliteratur in Frage, die unter ganz anderen Umständen und zu ganz anderen Zwecken abge­ fasst wurden. Die Verhörprotokolle enthalten Angaben über Hexerei von Menschen, denen sie unterstellt wurde. In einer Situation, die alles andere als frei war - in der Regel gehörte die Folter zu den Verhörmethoden -, wurden die Beschuldigten zu entsprechenden Aussagen genötigt. Auch wenn sie sich hierbei zur Hexerei bekannten, kann keineswegs als ausge­ macht gelten, dass sie sich selbst tatsächlich als Hexen - mit den dazuge­ hörigen Erfahrungen - verstanden (es kann umgekehrt allerdings auch nicht völlig ausgeschlossen werden). Stattdessen haben sie möglicherweise nur das zu Protokoll gegeben, was sie vom Hörensagen über Hexerei wuss­ ten bzw. für solche hielten. Erschwerend kommt hinzu, dass sie in ihren Geständnissen nicht einfach frei erzählen, sondern Antworten auf gezielt gestellte Fragen seitens der Verhörenden geben (die Fragen folgten oft einer standardisierten, schematischen Form, den sog. Interrogatorien). Die Urgichten geben daher teilweise eher Einblick in den Erwartungshorizont der Fragenden als in den Erfahrungsraum der Angeklagten. Auch die Trak­ tatliteratur (die ich hier in einem weiten Sinn verstehe, zu der ich also z.B. auch Predigten, Rechtsgutachten u. Ä. zählen würde) schreibt gleichsam per definitionem aus einer dezidierten Außenperspektive. Anders als die mystischen Texte wurden die Abhandlungen über Hexerei von Personen verfasst, die, selbst wenn sie Gegner von Hexenverfolgungen waren, He­ xerei auf keinen Fall gutheißen konnten. Oft peinlich darum bemüht, nicht selbst in den Verdacht der Hexerei zu geraten, entfalten diese Autoren als Außenstehende von einem gegnerischen Standpunkt aus ihre Ausführun­ gen über Hexerei. Was uns hier überliefert ist, gibt uns zwar Einblick in die jeweiligen zeitgenössischen Vorstellungen über Hexerei, nicht aber in das Selbstverständnis von Hexen. Eine solche Innenperspektive ist - wenn es sie überhaupt jemals gegeben hat - aufgrund der Quellenlage praktisch nicht zu gewinnen. Im Blick auf die Frage nach der Vergleichbarkeit von mystischer Erfah­ rung und Hexerei stellt sich daher von Anfang an die Frage, ob sich nicht notgedrungen immer eine gewisse Schieflage einstellt bei dem Versuch, Phänomene miteinander zu vergleichen, von denen das eine durch Zeug­ nisse vermittelt ist, die uns größtenteils aus der Innenperspektive mit einer überwiegend positiven Grundhaltung Bericht erstatten, das andere dagegen durch solche, die nahezu ausschließlich die ablehnende Position der Au­ ßenstehenden referieren. 2. Ein zweites Problemfeld, das nur kurz erwähnt sein soll, betrifft die Schwierigkeit, Phänomene miteinander zu vergleichen, die in sich so viel­

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fältig und vielschichtig sind, dass es - wie es gerade im Bereich der Mys­ tik der Fall ist - der Forschung bis heute schwer fällt, die unterschiedli­ chen Ausprägungen und Strömungen definitorisch auf einen Begriff zu bringen. Mir erscheint es deshalb als angebracht, den Vergleich fürs erste auf eine bestimmte Einzelvariante von Mystik mit einer bestimmten Ein­ zelvariante von Hexerei zu beschränken, um von hier aus weiterreichende, ins Grundsätzliche zielende Fragen und Überlegungen anzuschließen. Als Beispiel für solche Einzelvarianten greife ich die zwei eingangs er­ wähnten Frauen Gertrud von Helfta und Else Rodamer wieder auf. Die bei­ den wurden deswegen ausgewählt, weil die Bewegungen, denen sie zuge­ rechnet werden, zu ihren Lebzeiten jeweils eine besondere Hochphase durchlaufen. Gertrud von Helfta gilt als wichtige Vertreterin der im 13. Jahrhundert aufblühenden Frauenmystik. Else Rodamer wird dagegen im Jahr 1596 als Hexe angeklagt, zu einer Zeit also, in der die Hexenverfol­ gung in Deutschland - mit gewissen regionalen Verschiebungen - einen Höhepunkt erreicht14. Sie ist auch insofern ein ,typischer* Fall, als sie eine von insgesamt 15 Personen ist, denen im Rahmen einer Verfolgungswelle innerhalb des Herrschaftsgebietes der Ritterschaft Sugenheim der Prozess gemacht wird.

3. Mystische Erfahrung bei Gertrud von Helfta Gertrud, über deren Herkunft, Familiennamen und Stand der Eltern nichts bekannt ist15, wird am 6. Januar 1256 geboren. Im Alter von fünf Jahren wird sie als Oblatin in das Kloster von Helfta gegeben, wo sie eine hervor­ ragende Ausbildung erhält. Ihre Lehrerin ist Mechthild von Hackeborn, die Schwester der zu dieser Zeit amtierenden Äbtissin Gertrud von Hackeborn. Die heranwachsende Gertrud studiert die sieben freien Künste, sie schreibt mühelos Latein und übertrifft mit ihrer raschen Auffassungsgabe und wa­ chen Intelligenz alle Gleichaltrigen und Ordensschwestern16. Mit 25 Jahren gerät sie in eine schwere Krise, die in die entscheidende geistliche Wende ihres Lebens mündet: Gertrud erfahrt ihre erste mystische Begnadung. Die Visionen, Erscheinungen und Auditionen, die ihr von nun an in reichem Maß zuteil werden, beginnt sie im Jahr 1289 schriftlich aufzuzeichnen; sie bilden heute das 2. Buch des ,Legatus divinae pietatis*. 1300/01 setzt die 14 Vgl. GerhardSchormann: Hexenprozesse in Deutschland, Göttingen 21986, S. 55. 15 Als Quellen sind wir auf die erhaltenen Schriften Gertruds, den ,Legatus divinae pietatis* sowie die ,Exercitia spiritualia', angewiesen, die jedoch nur in sehr beschränk­ tem Maß biographische Angaben enthalten. Vgl. das Nachwort von Johanna Lanczkowski, in: Gertrud: Gesandter (wie Anm. 1), S. 568. 16 Vgl. Gertrude: (Euvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), I, 1, 1,16-19, S. 118 und 120.

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Niederschrift der Bücher 3-5 ein, die Gertrud einer oder mehreren Mit­ schwestern diktiert. Nach Gertruds Tod im Jahr 1302 entsteht schließlich das 1. Buch des ,Legatus4, das im Stil einer traditionellen Heiligenvita ver­ fasst ist17. 18 Gertruds Bekehrung zu einem Leben tieferer mystischer Frömmigkeit wird eingeleitet durch das eingangs erwähnte Erscheinen des schönen Jünglings am 27. Januar 1281. Dieser erweist sich recht schnell im Sinne des Titels von Gertruds Aufzeichnungen als ,Gesandter der göttlichen Lie­ be118. Er kündigt ihr - unter Bezugnahme auf Jes 56,1 - die baldige An­ kunft ihres Heils an19 und verspricht ihr unter Anspielung auf Ps 7,2 ihre Erlösung und Rettung20. Zur Bekräftigung dieses Versprechens nimmt er

17 Vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Bd. 3: Blüte. Männer und Frauen der neuen Mystik (1200-1350). Aus dem Englischen übersetzt von Bemardin Schellenberger, Freiburg/Basel/Wien 1999, S. 470. Die folgenden Ausführungen zur Mystik Gertruds beziehen sich im Wesentlichen auf das 2. Buch des ,Legatus1, das Ger­ trud selbst geschrieben hat, in dem ihr mystisches Erleben also ungefiltert durch Dritte zur Sprache kommt. Bereits Kurt Ruh hat darauf hingewiesen, dass sich die geistige Phy­ siognomie Gertruds ausschließlich aus dem 2. Buch des ,Legatus1 sowie den ,Exercitia spiritualia1 ergebe, während in den anderen Büchern des ,Legatus1 ein davon abweichen­ des Gertrud-Bild tradiert werde; vgl. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit. München 1993, S. 320f. Das 2. Buch des ,Legatus1 unterscheidet sich auch in formaler Hinsicht von den übrigen vier, da nur dieses in der Ich-Form als Dialog zwischen Gertrud und ihrem Bräutigam gestaltet ist. 18 Im 1. Buch des ,Legatus1 wird berichtet, wie Christus auf die Frage, welchen Titel das Buch erhalten solle, antwortet: „Liber iste meus Legatus divinae pietatis nominabi­ tur, quia pietatis meae supereffluentia in ipso aliqualiter praelibabitur.11 Gertrude: CEuv­ res spirituelles 2 (wie Anm. 1), Prologus, 4,13-15, S. 112. Auf Gertruds Frage, welche Autorität er diesem Buch zugestehe, da doch Gesandte mit ziemlich großer Autorität aus­ gestattet seien, antwortet Christus: „Ex virtute divinitatis hoc concedo ut quicumque ad laudem meam cum recta fide et humili devotione devotaque gratitudine in ipso legerit, et aedificari querit, venialium peccatorum remissionem consequatur, et obtinebit gratiam spiritualis consolationis et insuper habilitabitur ad gratiam ampliorem.11 Ebd. Prologus, 4,19-24, S. 112. Das Prädikat .Gesandter1 wird für die Nachgeborenen - Buch 1 mitsamt seinem Prolog ist ja erst nach Gertruds Tod entstanden - also vor allem auf das ent­ standene Buch hin gedeutet: Dieses selbst wird zum Gesandten der göttlichen Liebe, da, wer mit Andacht in ihm liest und Stärkung sucht, Vergebung der lässlichen Sünden, geistlichen Trost und sogar die Befähigung zu größeren Gnaden in ihm finden wird. Der/die Leserin kann aus der - richtig vollzogenen - Lektüre also den gleichen Nutzen ziehen wie Gertrud aus ihren mystischen Erlebnissen: den reichen Überfluss der Liebe Gottes zu erfahren. Während Gertrud diese aber unmittelbar durch ihre Begegnungen mit Christus zuteil wird, wird der Nachwelt das Studium von Gertruds Aufzeichnungen emp­ fohlen. 19 Ebd. II, 1, 2,7, S. 230: „Cito veniet salus tua“. 20 Ebd. II, 1, 2,12, S. 230: „Salvabo te et liberabo te, noli timere“.

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Gertruds rechte Hand in die seine - Gertrud empfindet sie als sehr zart21 und kündigt der Nonne mit Blick auf Ps 35,9 (Vulgata) an, sie durch den Strom seiner göttlichen Wonne trunken zu machen22. Daraufhin bemerkt Gertrud einen unendlich langen Zaun zwischen sich und dem jungen Mann, der von Domen bekrönt ist und keinen Durchgang eröffnet. Während sie vor Sehnsucht nach dem Jüngling zu brennen beginnt und fast zu vergehen vermeint, fühlt sie, wie dieser sie mühelos ergreift, in die Höhe hebt und neben sich stellt. Sie erkennt in seiner rechten Hand, also derjenigen, aus der sie zuvor das Versprechen erhalten hat, die Wundmale Christi. Voller Dankbarkeit beginnt Gertrud Gott zu preisen und zu loben für das süße Joch, unter das ihr widerspenstiger Nacken gebeugt wurde23. Nach dieser Begegnung mit Christus beginnt Gertrud unter dessen An­ leitung mit der Erforschung ihres Herzens; sie findet dort aber nur Verwor­ renheit, Chaos und Unreinheit, die sie als unwürdig erweisen, den Herrn zu empfangen24. Dieser lässt sich von ihrer Niedrigkeit jedoch nicht abschrecken und beschenkt sie in den kommenden Tagen während des Empfangs der Eucharistie25 mit seiner sichtbaren Gegenwart. Zwar bleibt seine Ge­ stalt für sie nur schemenhaft wahrnehmbar, etwa so, wie man Gegenstände in der Morgendämmerung erkennt26; trotzdem treibt die Freude über die

21 Ebd. II, 1, 2,13, S. 230: „teneram dexteram et delicatam“. 22 Ebd. II, 1, 2,16f., S. 230: „ego torrente voluptatis meae divinae inebriabo te“. 23 Vgl. ebd. II, 1, 2,17-33, S. 230 und 232. 24 Ebd. II, 2, 1,3-10, S. 232: „pro inusitata illa gratia qua introduxisti animam meam ad cognoscenda et consideranda interiora cordis mei, de quibus mihi antea parva cura erat, sicut de interioribus, si dici posset, pedum meorum; sed tunc sollicite plura sensi in corde meo quae tuam mundissimam puritatem offenderent et caetera omnia tam inordina­ ta et incomposita, ut nullam omnino tibi inhabitare volenti praeberet mansionem“. 25 Die Erfahrung des Einswerden mit Christus ist bei Gertrud, wie überhaupt bei den Mystikerinnen in Helfta, häufig mit der Kommunion verbunden, die in Helfta offensicht­ lich relativ oft - zum Teil mehr als einmal die Woche - ausgeteilt wurde; vgl. McGinn: Die Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 17), S. 473. 26 Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 2, 1,11-14, S. 232: „quin fre­ quenter illis diebus quibus ad vivifica alimenta corporis et sanguinis tui accederem, visi­ bili praesentia tua me dignareris, licet te clarius non viderem quam ea quae videntur dilu­ culo“. Gertrud macht hier keine Angaben darüber, in welcher konkreten Gestalt sich die­ se sichtbare Gegenwart manifestiert. Da im 2. Buch des ,Legatus1 bis zur vorliegenden Stelle aber nur von der Erscheinung des jungen Mannes die Rede ist und Gertrud im glei­ chen Zusammenhang ihr Gegenüber als „Jesu mi amantissime“ (Ebd. II, 2, 1,11, S. 232) anspricht und darum bittet, „ut tibi familiarius uniretur“ (Ebd. II, 2, 1,16, S. 232), ist wohl weiterhin an die Gestalt eines erwachsenen Mannes zu denken. Erst im 6. Kapitel des 2. Buches ändert sich dies explizit, wo Gertrud während einer Übung zur Verehrung der himmlischen Geburt Christus als neugeborenes Kind in ihr Herz aufnimmt. Gleich­ wohl spricht Gertrud auch hier in erotischer Liebessprache vom Geliebten, der in ihr Herz eingesenkt wurde, und vom Bräutigam, an dessen holder Gegenwart sie sich erfreut:

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Erscheinung Gertruds Seele zu dem Entschluss, sich in Zukunft eifriger zu bemühen, damit sie in nicht allzu langer Zeit mit Christus inniger vereint würde und ihn klarer erkennen und freier genießen könne27. Doch noch bevor Gertrud ihre vermehrten geistlichen Anstrengungen in die Tat Um­ setzen kann, kommt Christus ihr zuvor. Am Fest der Verkündigung Ma­ riens schenkt er Gertrud die erhoffte Vereinigung. Mit welch herzlicher Liebe und Süßigkeit das geschieht, kann die Nonne kaum in Worte fas­ sen28. Von dieser Zeit an darf Gertrud die unmittelbare Nähe zu Gott mit nur einer Unterbrechung neun Jahre lang stets von Neuem erleben29. Dabei zeigt sich ihr Gott mal milder, mal strenger, immer der Vervollkommnung oder der Nachlässigkeit ihres Lebenswandels entsprechend30. Insgesamt dominiert für Gertrud jedoch die Erfahrung von Güte und Liebe, mit denen sie — obwohl sie ihrem Selbstverständnis nach dieser Gnadengaben keines­ wegs würdig ist31 - in reichem Maß überschüttet wird. So wird an einem Tag zwischen Ostern und Himmelfahrt, als sie vor der Prim im Hof des Klosters an dem Fischteich sitzt und über die Lieblichkeit dieses Ortes so­ wie die geistlichen Lehren, die sie aus ihm ziehen könne, nachdenkt, in ihr „cum dilectum praecordiis suis immissum se continere sentiret et cum jucundissimae blandidatis sponsi gratam praesentiam sibi non deesse gauderet“; ebd. II, 6, 2,16-18, S. 258. 27 Ebd. II, 2, 1,14-17, S. 232: „tamen ipsa cum benigna dignatione animam meam allexisti satagere, ut tibi familiarius uniretur, perspicacius intueretur et liberius frueretur“. 28 Ebd. II, 2, 2,1-9, S. 232 und 234: „Et cum disponerem laborare hoc perficiendum in festo dominicae Annuntiationis sanctae Mariae, quando humanam naturam in utero virginali tibi desponsaveras, tu qui antequam invoceris dicis: ecce adsum, anticipasti diem illum praeveniendo me indignissimam in benedicitionibus dulcedinis in vigilia praedicti festi, dum propter diem dominicam Capitulum fieret post matutinas. Quali mo­ do me tunc visitaveris Oriens ex alto per viscera pietatis et dulcedinis tuae cum nullis litteris valeam commendare“. 29 Vgl. Ebd. II, 3, 3,6-11, S. 238. Die Unterbrechung dauert elf Tage bis zum Fest Jo­ hannes des Täufers; Gertrud wird hier, so ihre eigene Deutung, für eine zu interessiert ge­ führte weltliche Unterhaltung gestraft. 30 Ebd. II, 3, 2,15-18, S. 238: „quia sic Deus meus, ab illa hora exhibuisti te mihi, quandoque sereniorem, quandoque severiorem, pro congruentia emendatioris seu negligentioris vitae meae“. Auch die Strenge wird aber letzlich von der Milde und Nachsicht gegenüber Gertruds Schwächen überboten; vgl. ebd. II, 3, 2,22-27, S. 238: „quia nimia suavitas tua frequenter praetendit te meis commissis magis turbatum quam iratum, com­ mendans, ut mihi videtur, majorem virtutem patientiae tuae in eo quod tot defectus meos tam aequanimiter supportasti, quam cum tempore mortalitatis tuae Judam proditorem tuum patereris.“ 31 Gertruds Klagen über ihre eigene Nachlässigkeit, Unwürdigkeit und sogar Undank­ barkeit gegenüber den ihr geschenkten Gnaden, denen sie nicht die gebührende Ehre er­ weist, nehmen im ,Legatus1 einen breiten Raum ein; vgl. z.B. ebd. II, 3, 2,7-15, S. 236 und 238 und ebd. II, 5, 4,1-13, S. 252.

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das Verlangen nach einem liebenswürdigen, geselligen, verständnisvollen, sie in ihrer Einsamkeit tröstenden Freund übermächtig32. Gertrud erkennt, dass sie in ihrem Herzen eine ähnlich liebliche Wohnstätte für Gott berei­ ten soll, wie sie sich ihren äußeren Augen in der Natur darbietet33. Abends beim Nachtgebet kommt ihr unvermittelt Joh 14,23 („wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen“) in den Sinn: Da fühlt sie in ihrem Herzen aus Staub die Ankunft des Ersehnten34. Der Freund, der voller Verständnis, Einfühlungsvermögen und nachsichtiger Zuwendung all ihre Sorgen und Probleme mit ihr teilt, hat sich in der be­ reiteten Wohnung ihres Herzens niedergelassen. Die Begegnungen mit ihm erreichen in der Folgezeit unterschiedliche Dimensionen der Intensität. Einen besonderen Höhepunkt bildet für Ger­ trud der Moment, als ihr tief innen in ihrem Herzen - als wäre es am Kör­ per - die Stigmata eingeätzt werden35. Ein stufenweises Emporschreiten und allmähliches Sich-Annähern an den Empfang der Gnade erlebt Gertrud dagegen wiederholt beim Beten der ersten fünf Verse von Ps 102 (Vul­ gata): Beim Rezitieren des ersten Verses wird ihr geschenkt, all ihre Sün­ den und weltlichen Begierden bei den Wunden der Füße Christi ablegen zu dürfen; beim Beten des zweiten Verses wird ihr gewährt, im Bad der Liebe, aus dem für sie Wasser und Blut fließen, allen Makel des Fleisches und vergänglicher Freuden abzuwaschen; während sie den dritten Vers spricht, eilt sie zur linken Wunde Christi, um dort in Ruhe zu nisten wie eine Taube im Felsen; unter den Worten des vierten Verses darf sie zur Rechten Christi herantreten und sich alles zu eigen nehmen, was ihr selbst an Vollkommenheit der Tugend fehlt; das Beten des fünften Verses führt

32 Vgl. ebd. II, 3, 1,1-12, S. 234 und 236. 33 Als Bilder gebraucht Gertrud hier das vor ihren Augen vorüberfließende, klare Wasser, die grünenden Bäume, die frei herumfliegenden Tauben und die Ruhe des Plat­ zes. Diese deutet Gertrud auf sich selbst hin folgendermaßen: Die überströmende Gnade Gottes soll Gertrud mit der gebotenen Schuldigkeit zurückgeben, wie Wasser, das zu­ rückfließt. Durch eifriges Bemühen um gutes Denken und Tun soll Gertrud grünen und wachsen wie die Bäume im Frühling. Und wie die Tauben frei herumfliegen, so soll auch Gertrud alles Irdische verachten und in freiem Flug das Himmlische erstreben, ihre Sinne vom Lärmen der Außenwelt lösen und in ihrem Geist nur frei für Gott sein; vgl. ebd. II, 3, 1,12-21, S. 236. 34 Ebd. II, 3, 2,6f., S. 236: „Interque luteum cor meum sensit te sibi praesentialiter adventatum.“ 35 Ebd. II, 4, 3,4-8, S. 244: „scilicet intus in corde meo quasi corporalibus locis per spiritum cognovi impressa colenda illa et adoranda sanctissimorum vulnerum tuorum stigmata; quibus vulneribus animae meae medicasti, necnon mihi poculum nectarei amo­ ris propinasti.“ Vgl. auch ebd. II, 5, 2,10-15, S. 250.

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schließlich zum Höhepunkt: In der keuschen Umarmung Christi erfahrt sie die Freude seiner unmittelbaren Gegenwart36. Ein charakteristisches Merkmal der Beziehung, die Gertrud mit Christus pflegt, ist deren Ausschließlichkeit. Nichts bzw. niemand soll sich zwi­ schen die beiden drängen. Entsprechend beauftragt Gertrud eine nament­ lich unbekannt bleibende Person, täglich vor einem Kruzifix für sie darum zu beten, dass ihr Herz so von der Kraft der Liebe Christi durchbohrt werde, dass es nichts mehr von dieser Welt umschließen könne, sondern einzig von der göttlichen Allgewalt erfüllt werde37. Auf gnädige Erhörung dieser Fürbitte führt Gertrud es zurück, dass sie an einem Mittwoch wäh­ rend der Messe die Anwesenheit Christi fühlt und gleichzeitig merkt, wie eine Wunde in ihr Herz eingebrannt wird. Dort soll, wie Christus ihr zu erkennen gibt, die Aufwallung all ihrer Gefühle zusammenfließen; all ihre Lust, ihre Hoffung, ihre Freude, ihr Schmerz, ihre Furcht und alle anderen Empfindungen sollen in seiner Liebe festgehalten werden38. Ihr von Chris­ tus umschlossenes Herz wird so zum Fixpunkt aller emotionalen und kog­ nitiven, körperlichen und geistigen Regungen Gertruds. Dies bedeutet frei­ lich nicht, dass die Welt außerhalb ihres Herzens, ihre Mitmenschen, aus ihrem Blick geraten. Bereits zu Beginn ihrer Aufzeichnungen, kurz nach ihren ersten mystischen Erlebnissen, bittet Gertrud nicht nur für sich, son­ dern auch für die Auserwählten Christi darum, häufiger die süße Einigung und die einigende Süße erfahren zu dürfen39. Die Unio soll also nicht ein ihr allein vorbehaltenes Privileg bleiben, sondern auch andere Menschen, namentlich ihre Mitschwestern, sollen die intime Nähe zu Christus erfah­ ren dürfen40. Letztendlich lässt sich Gertrud deshalb auch von Christus da­ 36 Vgl. ebd. II, 4, 3,8-14; 4,1-17; 5,1-3, S. 244 und 246. 37 Ebd. II, 5, 1,1-7, S. 248: „Post haec anno septimo, ante Adventum, te auctore totius boni ordinante, obligaveram quamdam personam ut singulis diebus ante imaginem cruci­ fixi pro me orationi suae intersereret haec verba: Per tuum transvulneratum Cor, trans­ fige, amantissime Domine, cor ejus jaculis amoris tui, in tantum ut nihil terreni continere possit, sed a sola efficacia tuae divinitatis contineatur.“ 38 Ebd. II, 5, 2,10-15, S. 250: „et ecce tu aderas velut ex improviso infigens vulnus cordi meo cum his verbis: ,Hic confluat tumor omnium affectionum tuarum verbi gratia: summa delectationis, spei, gaudii, doloris, timoris, caeterarumque affectionum tuarum stabiliantur in amore meo.1“ 39 Vgl. ebd. II, 2, 2,9-13, S. 234: „da, dator munerum, da mihi proinde immolare hos­ tiam jubilationis in ara cordis mei, ut obtineam ex voto me et omnes electos tuos fre­ quenter experiri dulcem unionem et unientem dulcedinem quae mihi ante illam horam sa­ tis incognita fuit.“ 40 McGinn hat herausgearbeitet, wie entscheidend für Gertruds mystisches Erleben die Einbindung in den Konvent ist. Gertrud interpretiert ihre Visionen und Ekstasen nicht isoliert in Bezug auf ihre eigene Person, sondern erlebt sie als Manifestationen des Zu­ stands der ganzen Kommunität, die mit Gott vereint ist. Vgl. McGinn: Die Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 17), S. 475.

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zu überreden, ihre Erlebnisse schriftlich aufzuzeichnen: Zum Heil und Nutzen ihrer Nächsten sollen sie an diese weitergegeben werden41. Die Ex­ klusivität der Gottesbeziehung, in der sich die Nonne ganz auf ihren Bräu­ tigam Christus fokussiert, birgt somit eine soziale Dimension in sich: Aus der Liebe, die der Braut von ihrem himmlischem Bräutigam zuteil wird, fließt für diese sowohl die Aufgabe als auch die Befähigung, sich anderen Menschen in Liebe zuwenden42 und sie an die Liebe Christi zu verweisen. Über das konkrete Wie der Unio äußert sich Gertrud eher verhalten43. Schon beim Beschreiben ihrer ersten mystischen Erlebnisse gerät sie an die Grenzen ihrer Sprachfahigkeit; sie kann mit Worten nicht ausdrücken, was ihr widerfahren ist44. Doch die Gefühle, die durch die Vereinigung mit Christus bei ihr ausgelöst werden, sind durchweg positiver Natur: Sie ist durch neue Fröhlichkeit des Geistes erheitert45, da ihr herzliche Liebe und Süße zuteil wird46. Die süße Einigung und die einigende Süße47, die Süße 41 Vgl. Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 10, S. 272, 274 und 276. Gertrud hält sich eigentlich für unwürdig, diesem Anspruch nachzukommen. Erst auf den ausdrücklichen Auftrag Christi hin und dank seiner Mithilfe bei der Verschriftlichung - er gibt Gertrud vier Tage lang jeweils nur so viele Worte klar und deutlich ein, wie sie fassen und aus dem Gedächtnis mühelos niederschreiben kann - stellt sich Gertrud der schwierigen Aufgabe. 42 Christus selbst formuliert diesen engen Zusammenhang zwischen Gottes- und Menschenliebe, wenn er gegenüber der krank zu Bett liegenden Gertrud deren Nähe zu ihm von ihren Werken der Nächstenliebe abhängig macht: „Infirmitas qua nunc laboras, animam tuam in hoc sanctificavit, ut quandocumque mei causa cogitationibus, verbis vel factis aliis condescendis, nunquam longius a me progrediaris quam tibi in fluvio isto [= der Strom, der aus Christi Seitenwunde fließt; H. M.] demonstratum est.“ Ebd. II, 9, 1,11-15, S. 268 und 270. Umgekehrt wird aber auch durch Gertruds Werke der Nächs­ tenliebe das Heilswerk Gottes zu den Menschen gebracht: „Et sicut color iste aureus et roseus nitet per crystallinam puritatem, sic cooperatio aureae divinitatis meae et perfectio patentiae roseae humanitatis meae per omnem intentionem tuam placebunt.“ Ebd. II, 9, I, 15-19, S. 270. Gertrud selbst allerdings klagt darüber, dass sie die erfahrene Gottes­ liebe nicht immer in die entsprechende Liebe zu den Menschen umsetzen kann, da sie so kaltherzig, gefühllos und falsch mit den Menschen umgehe: „Si dominus [...] tam vera­ citer esset mecum, sicut se frequenter mihi praesentem exhibet, quomodo possibile esset ut tam frigido corde tamquam inhumane imo perverse inter homines conversarer?“ Ebd. II, 17, 1,4-9, S. 298. Trotz ihrer Unwürdigkeit erhält Gertrud von Christus aber sogar die Vollmacht, dass ihre Bitten um Beistand oder Verzeihung für andere dieselbe Wirkung haben sollen, wie wenn Christus selbst sie gesprochen hätte; vgl. ebd. II, 20, 3,1-6, S. 310 und 312. 43 McGinn hält die bräutliche Bilderwelt Gertruds ausdrücklich „frei von ungesundem Begehren oder erotischer ,Liebeswut1“; vgl. McGinn: Die Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 17), S. 473. 44 Vgl. Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 2, 2, 7-9, S. 234; vgl. auch S. 298 mit Anm. 28). 45 Ebd. II, 1, 2,34, S. 232; „nova spiritus hilaritate serenata“. 46 Ebd. II, 2, 2,8, S. 234: „per viscera pietatis et dulcedinis tuae“.

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der überaus beseligenden Vereinigung47 48 lassen sie in ein Meer grenzenlo­ ser Liebe49 tauchen. Ein zentrales Charakteristikum in Gertruds Unio-Erfahrungen ist die Vereinigung der Herzen50. Christus bietet Gertrud die „edelste Lade seiner Gottheit“, sein göttliches Herz, dar. Zuweilen schenkt er es umsonst, zu­ weilen tauscht er es zum noch stärkeren Zeichen gegenseitiger Vertrautheit mit Gertruds Herz51. Dieser Tausch der Herzen ist für Gertrud die zweite der drei Gnadengaben, die ihr am teuersten sind52. Daneben erlebt sie eine besondere Nähe zu Christus vermittels unterschiedlicher Sinneswahrneh­ mungen53. Von grundlegender Bedeutung sind das Hören und Sehen: Konstitutiv für alle Begegnungen sind die Gespräche, die Gertrud mit Christus wie mit einem Freund führt und in denen er ihr Trost, Rat und Zu­ spruch angedeihen lässt. Während der Fastenzeit wird Gertrud darüber hinaus eine beglückende Schau zuteil, in der die Sonnen der Augen Christi den ihren direkt gegenüber sind54, sodass unschätzbar beseligendes Licht von diesen in ihre Augen dringt55. Zudem verbindet sich diese Schau mit taktilem Empfinden: Gertrud fühlt, wie sich ein anderes Gesicht, nämlich das göttliche, an das ihre anschmiegt56. Diese Berührung zieht Gertruds ganzen Körper in Mitleidenschaft. Sie wird gewahr, wie Gott nicht nur ihre Seele, sondern auch ihr Herz und alle ihre Glieder ergreift57, und wie das 47 Ebd. II, 2, 2,12, S. 234: „dulcem unionem et unientem dulcedinem“. 48 Ebd. II, 6, 3,8f., S. 260: „illius beatissimae unionis suavitas“. 49 Ebd. II, 23, 10,5f., S. 340: „pelagus incontinentissimae pietatis“. 50 Gertrud gilt daher als Wegbereiterin der späteren Herz-Jesu-Verehrung; vgl. das Nachwort von JOHANNA Lanczkowski, in: Gertrud: Gesandter (wie Anm. 1), S. 583; vgl. auch McGinn: Die Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 17), S. 473. 51 Gertrude: (Euvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 23, 8,2-6, S. 338: „diversis mo­ dis illam nobilissimam arcam divinitatis, scilicet deificatum Cor tuum praebendo in co­ piam omnium delectationum mearum; nunc gratis dando, nunc ad majus indicium mutuae familiaritatis illud mihi pro meo commutando“. 52 Die erste dieser Gnadengaben ist das Einprägen der Wundmale in ihr Eierz; vgl. ebd. II, 23, 7, S. 336. Die dritte Gnadengabe überragt alles andere so sehr und ist so groß und erhaben, dass Gertrud sie nicht aussprechen kann; vgl. ebd. II, 22, 1, S. 328. 53 Entsprechend preist Gertrud denjenigen, der sich Christus, von seiner Gnade ge­ führt, nahen darf: „O quid videt, quid audit, quid olfacit, quid gustat, quid sentit!“ Ebd. II, 8, 5,1 lf., S. 268. 54 Ebd. II, 21, 1,12-14, S. 322: „Ex hac melliflua visione cum solares oculi tui oculis meis directe oppositi viderentur“. 55 Ebd. II, 21, 3,3f., S. 324: „ex deificis oculis tuis sensi per oculos meos intrantem lucem quamdam inaestimabilem, suavificant“. 56 Ebd. II, 21, l,8f., S. 322: „apparuit mihi tanquam faciei meae applicata facies quaedam“. Ebd. II, 21, 3,1-3, S. 324: „Cum itaque illam desideratissimam faciem ex­ hibentem copiam totius beatitudinis, ut praedixi, mihi immeritae applicuisses“. 57 Ebd. II, 21, 1,14-16, S. 322: „qualiter tu suavis dulcedo mea tunc affeceris non so­ lum animam meam, verum etiam cor meum cum omnibus membris“.

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Licht der göttlichen Augen bis in ihr Innerstes dringt, sodass sich ihr Fleisch und Bein aufzulösen scheinen58. Von solch unermesslicher Wucht ist diese beseligende Schau, dass sie der Mensch, dem sie zuteil wird, nur mit göttlicher Hilfe ertragen kann59. Gertrud wird diese geschenkt, und zwar, wie sie ausdrücklich erklärt, nicht nur dieses eine Mal60. Weitere Formen der Berührung, deren sich Gertrud regelmäßig erfreuen darf, sind die Umarmung sowie der Kuss61. Letzteren erhält Gertrud immer dann, wenn sie sich in ihrem Herzen zu Christus hinwendet, beispielsweise wäh­ rend der kanonischen Gebetszeiten oder des Gedenkens für die Verstorbe­ nen; allein beim Beten eines einzigen Psalms kann sie so zehnmal oder öfter des Kusses der Liebe teilhaftig werden62. Die intime Nähe zu Christus, die für Gertrud auf diese Weise auch kör­ perlich erfahren wird, zeugt von einer Beziehung, die auf einer nahezu gleichberechtigten Ebene geführt wird. Zwar wird Gertrud nicht müde, ihre Unwürdigkeit und Niedrigkeit zu betonen; doch gerade wegen ihres defi­ zitären Zustands reißt Christus sie heraus, um mit ihr in ein besonderes Verhältnis einzutreten63. Die Position, in der Gertrud sich nun ihrem Ge­ liebten gegenüber sieht, ist die eines Freundes zu seinem Freund oder einer Braut zu ihrem Bräutigam64, ja sogar die einer Königin zu ihrem König65.

58 Ebd. II, 21, 3,7-12, S. 324: „primo quidem quasi evacuans omnes medullas ossium meorum, hinc etiam ipsa ossa simul cum carne annihilans in tantum quod tota mea sub­ stantia nihil aliud sentiebatur esse quam splendor ille divinus, qui ultra quod dici posset delectabili modo in seipso colludens inaestimabilem animae meae exhibuit serenitatis ju­ cunditatem.“ 59 Vgl. ebd. II, 21, 4,10-12, S. 324 und 326. 60 Ebd. II, 21, 4,12-16, S. 326: „quamvis non ignorem inscrutabilem omnipotentiam tuam ex abundantia pietatis, tam visionem quam etiam amplexum et osculum cum caeteris amatoriis exhibitionibus pro loco, pro tempore et pro persona, te solitum congruentis­ sime temperare, cum saepius experta sum.“ 61 Vgl. ebd. 62 Ebd. II, 21,4,18-22, S. 326: „Dignationem persuavissimi osculi tui, in tantum quod quandoque sedenti mihi et intendenti tibi in intimis, et legenti horas canonicas, seu vigi­ lias pro defunctis, saepe inter unum psalmum decies vel pluries praedulce osculum infi­ xisti ori meo“. 63 Christus erklärt Gertrud gegenüber seine besondere Liebe zu ihr einmal mit dem Bild des Familienvaters, der sich über die schöne Gestalt aller seiner Kinder freut; beson­ ders nimmt er sich jedoch eines kleineren Kindes an, das nicht zu solcher Schönheit herangewachsen ist wie die anderen. Er macht ihm besondere Geschenke und zieht es den anderen Kindern vor. Vgl. Ebd. II, 18, 1,8-15, S. 300. 64 Ebd. II, 23, 5,22-25, S. 334: „mecum agere coepisti miris et occultis modis ut dein­ ceps quasi in domo propria amicus cum amico, imo sponsus cum sponsa in corde meo de­ licias tuas jugiter cum anima mea posses habere“. 65 Ebd. II, 23, 6,19-21, S. 336: „concessisti me indignissimam pariter tecum frui tan­ quam reginam cum rege".

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Wie sehr Gertrud auf dieser Sonderstellung beharrt, illustriert eine Be­ gebenheit anlässlich der Lesung des Weihnachtsevangeliums. Ein wohl­ meinender Mensch ermahnt Gertrud im Anschluss an Lk 2,16, dass sie ihre Sinne mit ebensolcher Sorgfalt bewachen solle wie die Hirten ihre Herden. Gertrud weist diese Belehrung zunächst entrüstet von sich. Sie erscheint ihr als unpassend, da Christus ihren Geist auf andere Weise ergriffen habe; entsprechend will sie ihm auch nicht dienen wie ein bezahlter Hirte seinem Herrn66. Erst nachdem sich Gertrud den ganzen Tag den Kopf über die An­ gelegenheit zerbrochen hat, erhält sie von Christus eine Erklärung, die bei­ des miteinander zu vereinbaren vermag: Gertrud in ihrer privilegierten Position zu bestätigen und die erfolgte Ermahnung als berechtigt anzuer­ kennen. Wenn eine Braut, so erläutert Christus, manchmal die Falken ihres Bräutigams mit Futter versorge, so müsse sie deswegen die Umarmung ihres Bräutigams nicht missen67. Die Botschaft ist klar: Auch Gertrud kann und soll sich vorbereiten auf die Ankunft ihres Herrn; aber sie tut dies nicht unter den Rahmenbedingungen eines formalisierten Rechtsverhältnis­ ses als Dienerin, die ihrem Herrn pflichtgemäß das leistet, was sie zu tun schuldig ist, und entsprechend nur einen distanzierten, auf Förmliches be­ schränkten Umgang mit diesem pflegt. Statt dessen vollbringt sie ihr Werk als von vornherein Bevorzugte. Mit der liebenden Hingabe einer Braut, die sich um die Belange ihres Bräutigams kümmert, sieht sie, was dieser be­ darf, und bereitet alles zu seinem Gefallen. Obwohl sie auf diese Weise zwar möglicherweise die gleichen Aufgaben erledigt wie eine bezahlte Dienerin, ist sie doch himmelweit von dieser entfernt: Ihr Verhältnis zu ihrem Herrn bleibt von privater, ja intimer Nähe geprägt, was sich auch in entsprechenden Gnadengeschenken von seiner Seite bemerkbar macht. Die hierarchische Beziehungsstruktur zwischen Herr und Lohnabhängiger wird somit zugunsten eines eher horizontal verlaufenden Partnerschaftsver­ hältnisses abgelöst68. Gleichzeitig wird aus dem Tun für einen bestimmten 66 Ebd. II, 13, 1,5-12, S. 282: „Quae dum proponeret mihi secundum Evangelium te in terris natum primo a pastoribus inventum, addidit mihi hunc sermonem a te transmis­ sum, ut si veraciter te vellem invenire, tamquam pastores gregibus, sic sensibus meis in­ vigilare studerem. Quod ego minus gratanter acceptans et mihi valde incongruum judi­ cans, cum scirem te mentem meam aliter affecisse quam ut deservirem tibi sicut pastor mercenarius domino suo“. 67 Ebd. II, 13, 1,15-19, S. 284: „quia si sponsa accipitribus sponsi quandoque escam procuret, non ob hoc omnino ipsius amplexu frustratur; sic nec ego, si causa tui custodiae affectionum mearum et sensuum insudaverim, proinde dulcedine gratiae tuae fraudarer“. 68 Lanczkowski hat bereits darauf hingewiesen, dass Gertrud ihrem Bräutigam gegen­ über einen gewissen Ton von Gleichberechtigung oder sogar Ebenbürtigkeit anschlägt; vgl. Johanna Lanczkowski: Gertrud die Große von Helfta: Mystik des Gehorsams, in: Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer (Hg.): Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, Köln/Wien 1988 (= Beihefte zum Archiv für Kulturge­ schichte 28), S. 153-164, besonders S. 161 f.

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Lohn ein höherrangiges Tun „causa tui“, um Christi selbst willen. Die Braut erfüllt den Willen ihres Herrn nicht nur auf eine äußerliche Weise wie eine lohnabhängige Magd, sondern sie strebt danach, ihr gesamtes Le­ ben auf den Bräutigam hin auszurichten. Für Gertrud bedeutet dies, ihr ganzes Wollen und Handeln mit Christus zu vereinen und sich so dem Wil­ len Gottes bedingungslos zu unterwerfen. Diesen vollkommenen Gehor­ sam will Gertrud als angemessene Antwort auf die ihr gewährten Gnaden leben. Konkret heißt das für die von vielen Krankheiten gequälte Nonne vor allem: Nachfolge Christi im Leiden69. Dass die besondere Nähe zwischen Gertrud und Christus nicht eine punktuelle Ausnahmesituation, sondern eine auf Dauer angelegte Verbin­ dung darstellt, wird auf Gertruds Insistieren hin sogar formell festgelegt: Gertrud beklagt sich eines Tages, dass Christus ihr die gewährten Gnaden­ gaben nicht, wie es bei einem Versprechen üblich sei, mit einem Hand­ schlag bestätigt habe70. Christus fordert sie darauf hin auf, vor ihn hinzu­ treten und die Bestätigung seines Paktes in Empfang zu nehmen. Danach öffnet er mit beiden Händen sein Herz und befielt Gertrud, ihre rechte Hand hineinzulegen. Während er sein Herz mit Gertruds eingeschlossener Hand darin zurückzieht, verspricht er ihr, die gewährten Gnadengeschenke unversehrt zu bewahren. Sollte er sie ihr doch zeitweise vorenthalten, dann werde er sie ihr dreifach wiedererstatten71. Als Gertrud ihre Hand schließ­ lich zurücknimmt, findet sie an ihr sieben goldene Ringe, an jedem Finger einen und am Ringfinger drei, die zeichenhaft die gewährten Gnaden be­ kräftigen. Die Ringe sollen Gertrud stets an ihre Unwürdigkeit erinnern sowie an die Notwendigkeit, allein der gütigen Liebe ihres Bräutigams zu vertrauen; sobald sie dies tue, entrichte sie den schuldigen Zins für die ge­ währten Gaben72. Der Pakt zwischen Gertrud und Christus beruht also auf 69 Zur Bedeutung des vollkommenen Gehorsams innerhalb der Mystik Gertruds vgl. ebd. besonders S. 157f. 70 Ebd. II, 20, 14,2-7, S. 318: „Nam cum die quodam ea mente revolverem et ex com­ paratione pietatis tuae ad impietatem meam quam tam longe superabundare gaudeo, us­ que ad illam praesumptionem ducta fuissem, quod causarer te mihi ea, more pollicitan­ dum, manu ad manum non firmasse“. 71 Ebd. II, 20, 14,9-21, S. 318: „,Ne haec causeris accede et suspice pacti mei firma­ mentum? Et statim parvitas mea conspexit te quasi utrisque manibus expandere arcam illam divinae fidelitatis atque infallibilis veritatis, siclicet deificatum Cor tuum, et juben­ tem me perversam, more judaico signa quaerentem, dextram meam imponere, et sic aper­ turam contrahens manu mea inclusa dixisti: ,Ecce dona tibi collata me tibi illibata serva­ turum promitto, in tantum quod si ad tempus dispensative ipsorum effectum subtraxero, obligo me postmodum triplici lucro persoluturum, ex parte Omnipotentiae, Sapientiae et Benignitatis virtuosae Trinitatis, in cujus medio ego vivo et regno, versus Deo, per aeter­ na saecula saeculorum?“ 72 Ebd. II, 20, 15,1-9, S. 320: „Post quae suavissimae pietatis tuae verba, cum manum meam retraherem, apparuerunt in ea septem circuli aurei in modum septem annulorum, in

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einer beiderseitigen Leistung der Vertragspartner: Während Christus Ger­ trud verspricht, sie auch in Zukunft in reichem Maß mit seiner Gnade zu beschenken, bietet Gertrud ihm das Wenige, was sie in ihrer Begrenztheit zu geben vermag: das uneingeschränkte Eingeständnis ihrer Nichtigkeit so­ wie das Vertrauen auf Christus, ihren Bräutigam, Freund und Retter. Diese auf Wechselseitigkeit hin angelegte Vertragsstruktur, bei der beide Seiten das Ihre zur Erfüllung des Kontraktes beitragen, bestätigt das partner­ schaftliche Verhältnis zwischen Gertrud und Christus, das sich durch ge­ genseitiges Geben und Nehmen auszeichnet. Und wieder vollzieht sich die wechselseitige Hingabe auch auf körperliche Art und Weise: Christi Herz und Hände sowie Gertruds rechte Hand sind der Ort bzw. das Medium, mittels derer der gemeinsame Bund geschlossen wird. Dabei überbietet Christus Gertruds ursprüngliche Forderung sogar noch, indem er den Pakt nicht nach Menschenart bloß mit der Hand, sondern in und mit seinem Herzen besiegelt. Bei all den beseligenden Wonnen, die Gertrud in der Gemeinschaft mit Christus erfährt, ist sich die Nonne jedoch stets bewusst, dass diese sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht etwas Vorläufiges dar­ stellen. Die endgültige Einung, die nicht mehr überbietbar sein wird, wird erst durch die mors mystica erlangt, wenn die Nonne ihren transitus hin­ über in die völlige Freude der bräutlichen Vereinigung vollzieht73. Doch auch die unter irdischen Bedingungen vollzogene Unio sprengt bereits alles menschlich Fassbare; staunend steht Gertrud deshalb vor dem Wun­ der, dass sie nach den Stunden der innigen Vereinigung mit ihrem Bräuti­ gam überhaupt noch als Mensch unter Menschen leben kann74.

4. Else Rodamers Buhlschaft mit dem Schwellner Teufel Erweisen sich die biographischen Angaben über Gertrud von Helfta schon als recht spärlich, so gestaltet sich die Quellenlage bezüglich der im Jahr 1596 als Hexe verurteilten Else Rodamer noch schwieriger. Während Ger­ trud einen Teil ihrer mystischen Erfahrungen selbst aufgezeichnet hat, wir quolibet digito unus et in annulari tres, in testimonium fidele quod praedicta septem pri­ vilegia mihi ad votum meum essent confirmata. Hinc etiam incontinentia pietatis tuae ad­ jecit haec verba: .Quoties tu indignitatem tuam recogitans te immeritam donorum meo­ rum et insuper de pietate confidis, toties offers mihi debitum censum de bonis meis.'“ 73 Vgl. McGinn: Die Mystik im Abendland 3 (wie Anm. 17), S. 481. 74 Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 23, 13,2-7, S. 340 und 342: „sed specialius in festo sacratissimae Nativitatis, et in una Dominica, scilicet ,Esto mihi', et alia etiam Dominica post Pentecosten, induxisti, imo rapuisti me ad talem tui unionem, quod supra miraculum miror quod post illas horas amplius potui vivere sicut homo inter homines".

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somit also über Texte verfügen, die unmittelbar von ihrer eigenen Hand stammen, sind die Erlebnisse der Rodamerin nur in Form der Aussagen überliefert, die der bei ihrem Verhör beteiligte Protokollführer für wichtig befunden und niedergeschrieben hat. Alles, was wir über das Leben der Rodamerin in Erfahrung bringen können, muss aus dieser Prozessakte bzw. aus den Akten der anderen in Sugenheim wegen Hexerei angeklagten Per­ sonen rekonstruiert werden. Mit zehn handschriftlichen Seiten gehört die Urgicht der Else Rodamer zwar zu den eher ausführlichen75, aufgrund der speziellen Zielsetzung dieser Textgattung bleiben aber wesentliche Teile von Elses Lebens im Dunkeln bzw. können nur indirekt erschlossen wer­ den. So erfahren wir beispielsweise nichts über Else Rodamers Herkunft, we­ der über den Tag oder den Ort ihrer Geburt noch über ihren ursprünglichen Familiennamen. Als sie zum Verhör vorgeladen wird, ist sie bereits „bey 30 oder 31 Jaren alt“76 und die Ehefrau des Bauers Bastian Rodamer in Su­ genheim77. Dass die junge Else irgendeine Ausbildung erhalten hat, durch die sie lesen und schreiben gelernt hat, ist eher unwahrscheinlich. Im Alter von etwa 19 Jahren arbeitet sie in Gutenstetten bei ihrer Base Barbara Beller als Magd78. Ungefähr ein Jahr später quittiert sie diesen Dienst und zieht aufgrund ihrer Heirat zu ihrem künftigen Ehemann nach Sugen­ heim79. Else Rodamers Ruf scheint nicht makellos gewesen zu sein. Nach zehn Ehejahren gerät sie in den Verdacht, mit einem gewissen Lorenz Schwab aus Diespeck80 eine länger anhaltende Affäre gehabt zu haben81. Obwohl das Vergehen zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre zurückliegt82, muss sich Else Rodamer deswegen am 28. und 31. Januar 1596 öffentlich ver­ antworten83. Wer die Rodamerin diesbezüglich ins Gerede gebracht hat und warum dies so lange nach der eigentlichen Tat geschah bzw. warum 75 Vgl. dagegen beispielsweise die nur etwa eine handschriftliche Seite umfassende Aussage des Hans Rodamer, der im weiteren Verlauf der Sugenheimer Prozesswelle als einziger Mann angeklagt und hingerichtet wurde; Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), II, 1-2, S. 403. 76 Ebd. I, 2, S. 388. 77 Vgl. ebd. I, Deckblatt und I, 1, S. 387. 78 Vgl. ebd. I, 2, S. 388. 79 Vgl. ebd. I, 6, S. 390. 80 Auch Lorenz Schwab scheint einen eher schlechten Leumund gehabt zu haben. In der Akte wird er als „ein Jauffert“, ein umherziehender, Possen treibender Bettler be­ zeichnet, der sich eine Zeitlang in Sugenheim aufgehalten hat; vgl. ebd. I, 2, S. 388. 81 Else Rodamer bekennt, dass sie „die ungebüem und verbottene Lieb zu vil unwis­ senden Malen gepflogen und also mit demselben [= Lorenz Schwab; H. M.] den hochsträfflichen Ehebruch begangen“ habe; ebd. 82 So Else Rodamer in ihrem Geständnis; vgl. ebd. 83 Vgl. ebd. I, 1, S. 387.

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man sich erst so viel später dazu veranlasst sah, sie deswegen zur Rechen­ schaft zu ziehen, entzieht sich unserer Kenntnis84. Jedenfalls wird die Ro­ damerin auf diesen Verdacht hin verhört und sie gibt die Verfehlung auch recht schnell zu85. Trotzdem behält man die Rodamerin weiterhin in Haft, da sie nun zusätzlich auch noch in den Verdacht der Hexerei geraten ist. Wie und durch wen es zu diesem neuen Anklagepunkt gekommen ist, geht aus der Akte ebenfalls nicht hervor. Es wird nur mitgeteilt, dass Else Ro­ damer „ferner durch die von der Herrschafft darzu deputierten, deß ob ir getragenen Verdachts des verfluchten zauberischen Hexen- oder Trudenwercks bespracht worden“86 ist, und auch in diesem Punkt erweist sie sich als geständig. Allerdings scheint dieses zweite Geständnis nicht ganz so schnell zustande gekommen zu sein wie das erste; das Protokoll vermerkt ausdrücklich, dass die Befragung diesmal „guetlichen und peinlichen“, al­ so teilweise unter Anwendung der Folter, erfolgt sei, betont aber gleich­ zeitig, dass Else Rodamer „mehr güetlichen dann peinlichen bekendt und außgesagt“ sowie später keine ihrer Aussagen widerrufen habe87. Welche Foltermethoden bei der Rodamerin konkret angewendet werden, ist nicht überliefert. Zudem ist dem Protokoll nicht zu entnehmen, an welchen Punkten des Verhörs die Beschuldigte der Folter bzw. einem neuen Grad der Folter unterzogen wird. Dass bestimmte, von der Rodamerin gemachte Aussagen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Tortur stehen und von dieser her erklärt werden können, ist somit zwar möglich, lässt sich aber heute nicht mehr eindeutig nachweisen. Überhaupt enthält die Akte der Else Rodamer keinerlei Angaben über den Verlauf des Verhörs; weder die an die Rodamerin gerichteten Fragen noch sonstige Untersu­ chungsmethoden (beispielsweise die Begutachtung ihres Körpers hinsicht­ lich eines möglicherweise vorhandenen Teufelsmals) sind protokolliert. Statt dessen beschränkt sich die Akte darauf, ausschließlich die Aussagen der Beschuldigten wiederzugeben. Diese sind ungewöhnlich ausführlich,

84 Möglicherweise spielt Hans Georg von Seckendorff-Aberdar hier eine maßgebliche Rolle, in dessen alleinigen Besitz Sugenheim seit 1591 übergegangen war und der, nach dem Vorbild des benachbarten Markgrafen Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach, in seinem Herrschaftsgebiet nun ebenfalls Gottesfurcht und Ordnung gewährleisten will und deshalb einen strengeren Kurs verfolgt, als dies bislang geschehen war. Vgl. Traudl Kleefeld: Hexenprozesse in Sugenheim 1596, in: Kleefeld, Gräser und Stepper: Hexen­ verfolgung (wie Anm. 2), S. 347-385: hier S. 350 und 352. 85 Die Prozessakte vermerkt, dass sie „güetlichen bekennt“, dass also keine Folter an­ gewendet worden ist. Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 1, S. 387. 86 Ebd. I, 1, S. 387. 87 Vgl. ebd. I, 1, S. 388.

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sodass an manchen Stellen der Eindruck eines fortlaufenden, in sich ge­ schlossenen erzählenden Textes entsteht88. Mit der Verhaftung und dem Verhör der Else Rodamer kommt in Su­ genheim eine Welle von Hexenprozessen ins Rollen, an deren Ende die Hinrichtung von elf Frauen und einem Mann sowie der Landesverweis für drei Frauen steht. Eine weitere Frau verstirbt nach 88 Tagen in der Haft89. Diese Folgeprozesse sind auf Besagungen zurückzuführen, die zunächst von Else Rodamer, später auch von den anderen Inhaftierten gemacht wer­ den. Else Rodamer nennt als Mittäterinnen zwar vor allem Verstorbene - dazu gehört beispielsweise die oben erwähnte Base Barbara Beller aus Gutenstetten, die zu dieser Zeit seit etwa zwei Jahren tot ist90 sie bezichtigt daneben aber auch zwei Verwandte, das Ehepaar Anna Schnei­ der und Hans Rodamer, sowie die Bäuerin Agnes Sack, die daraufhin ebenfalls gefangen genommen werden und ihrerseits weitere Personen be­ sagen müssen. Auf diese Weise kommt es in Sugenheim im Jahr 1596 zu mehreren parallel laufenden Verfahren, von denen die ersten vier am 27. Februar 1596, die nächsten acht am 12. Mai 159691 mit dem Vollzug der Hinrichtungen enden. Die Urgichten der Verurteilten sind, den beiden Hin­ richtungsterminen entsprechend, in zwei Heften zusammengefasst und im Staatsarchiv Nürnberg überliefert92. Das Geständnis der Else Rodamer bil­ det mithin das erste von vier weiteren der ersten Hinrichtungswelle bzw. das erste von insgesamt dreizehn Urgichten aus dem Jahr 1596. Ein Vergleich der Aussagen zeigt, dass sie in ihrem Aufbau gewisse Ähnlichkeiten zeigen. Nach der Angabe des Namens, des Ehepartners, des Berufs sowie des Alters wird zunächst berichtet, wie bzw. durch wen die jeweilige Person zur Hexerei gekommen ist und aus welchen Gründen sie sich darauf eingelassen hat. Danach kommt die Rede in der Regel sehr schnell auf den Teufel, dem sich die Person mit Leib und Seele hat über­ geben müssen. Den größten Teil des Geständnisses bilden jeweils die Aus­ sagen über den vollbrachten Schadenszauber - in der Hauptsache das An­ 88 Einen ganz anderen Charakter haben beispielsweise die Aussagen der Margaretha Dasing, die am 23. November 1594 in Crailsheim verhört wird und die auf jede der ihr gestellten Fragen mit einem, höchstens zwei Sätzen antwortet. Vgl. Gernot Stepper: Transkription der Crailsheimer Hexenprozessakten, in: Kleefeld, Gräser und Stepper: Hexenverfolgung (wie Anm. 2), Akte 7, 257,24-26, S. 177f. 89 Vgl. Kleefeld: Hexenprozesse (wie Anm. 84), S. 355f. 90 Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 2, S. 388. 91 Als neunte Person wird Margaretha Keget, geb. Zeller, zum Tod verurteilt. Da sie jedoch schwanger ist, wird ihre Hinrichtung laut Protokoll bis zu ihrer Niederkunft ver­ schoben. Die Todesstrafe wird jedoch auch später nicht vollzogen; statt dessen wird die Verurteilte des Landes verwiesen. Vgl. Kleefeld: Hexenprozesse (wie Anm. 84), S. 354. 92 Staatsarchiv Nürnberg, Rep. 320ZC Herrschaft Sugenheim, Akten, Nr. 708. Heft 2 ist eine Abschrift aus dem Jahr 1674.

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hexen von Krankheiten an Mensch und Vieh sowie Manipulationen an der Natur, die Missernten zur Folge haben - sowie Berichte über die abge­ haltenen Hexenversammlungen, die in Sugenheim eher fröhlichen Trinkund Essgelagen als diabolischen Zusammenkünften geähnelt zu haben scheinen. In vielen Details weisen die Urgichten erstaunliche Parallelen auf. Daraus können mehrere Schlüsse gezogen werden: 1. Die Angeklagten ha­ ben nicht einfach frei erzählt, sondern gezielt auf ihnen gestellte Fragen geantwortet. Ob dies nach einem festgelegten Schema geschah, ob der Richter Johann Krants von Elchingen sowie die zwölf bei den Vernehmun­ gen anwesenden, aus Sugenheim, Ezelheim, Deutenheim und Ingolstadt stammenden Schöffen also ein Interrogatorium vorliegen hatten, das sie mit den Beschuldigten jeweils der Reihe nach durcharbeiteten, kann wohl nicht eindeutig aus den Urgichten rekonstruiert werden93. Jedoch scheinen die Fragen bei allen Betroffenen im Kern - mit leichten Variationen in der Reihenfolge - dieselben gewesen zu sein. In den Protokollen sind die Momente, an denen die Inquisitoren zu einem neuen Punkt übergehen, ansatzweise noch sprachlich an dem regelmäßig wiederkehrenden „Item“ zu erkennen, das jeweils einen gedanklichen Neuanfang markiert. 2. Die später Inhaftierten werden offenbar gezielt zu bestimmten Einzelheiten, die von anderen bereits gestanden wurden, befragt. Übereinstimmende Anga­ ben zu bestimmten Zeiten, Orten, anwesenden Personen und vollbrachten Taten sind so zu erklären. 3. Erweisen sich bestimmte Geständnisse ver­ schiedener Angeklagter nicht nur in sachlicher Hinsicht, sondern bis in die Formulierung hinein als identisch, so könnte dies auf den Schreiber zurückzuführen sein, der nicht wortwörtlich protokolliert, sondern summa­ risch zusammenfasst. Möglicherweise geben die überlieferten Prozessakten die Aussagen der Angeklagten also nicht immer im Originalton, sondern in der Wahrnehmung des Schreibers wieder, der selektiert, systematisiert und vielleicht auch mit eigenen Worten formuliert. 4. Manche Urgichten re­ flektieren wohl einfach das, was weite Teile der Bevölkerung, vor allem aber der Richter und die Schöffen, für typische Ausformungen des Hexen­ verbrechens hielten. Bestimmte Delikte, wie z.B. die Teufelsbuhlschaft, der Flug durch die Luft, die Hexenversammlung und der Schadenszauber, gehörten aus deren Sicht offenbar konstitutiv dazu94, und die Angeklagten, 93 Zu dieser Annahme kommt Kleefeld: Hexenprozesse (wie Anm. 84), S. 357. 94 Damit gehen die Sugenheimer Vorstellungen völlig mit denen der meisten Zeitge­ nossen konform. Die neuere Hexenforschung sieht im frühneuzeitlichen Hexenverbre­ chen deshalb ein Kumulativdelikt, das aus den fünf Elementen Teufelspakt, Teufelsbuhl­ schaft, Flug durch die Luft, Hexensabbat und Schadenszauber besteht. Vgl. Wolfgang Behringer: „Vom Unkraut unter dem Weizen“. Die Stellung der Kirchen zum Hexen­ problem, in: Richard van Dülmen (Hg.): Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1987, S. 15-47: hier S. 23.

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denen die Ausweglosigkeit ihrer Lage wohl sehr schnell bewusst wurde, gaben mehr oder weniger bereitwillig zu Protokoll, was sie persönlich mit diesen Stereotypen in Verbindung bringen konnten. Damit verlieren die Urgichten ein großes Stück ihrer Individualität. Sie berichten nicht einfach etwas Unverwechselbares, nur singulär von der einzelnen Person Erlebtes, sondern lassen das Bemühen erkennen, persönliche Erfahrungen mit diesen allgemeinen Vorstellungen in Beziehung zu setzen, um so den Charakter des Typischen zu wahren und damit den Erwartungen der Befragenden ge­ recht zu werden. Auch bei dem Geständnis der Else Rodamer muss immer in Rechnung gestellt werden, dass in ihm reale Erlebnisse und stereotype Hexenvorstellungen eine heute nicht mehr auflösbare Einheit eingegangen sind. Vor allem Punkte, die sachlich und sprachlich in ganz ähnlicher Wei­ se auch in den anderen Sugenheimer Urgichten zu finden sind, deuten auf eher allgemein verbreitete Meinungen statt auf individuelle Erfahrungen hin. Else Rodamers erste Schritte auf dem Weg zur ,Hexe‘ liegen zum Zeit­ punkt ihrer Inhaftierung bereits elf Jahre zurück und nehmen ihren Anfang bei der eingangs erwähnten Begegnung mit dem Jungen starken Gesel­ len“, der ihr nach dem Grasschneiden auf der Wiese beim Aufstehen be­ hilflich sein will. Dieses Zusammentreffen ereilt die Rodamerin jedoch nicht völlig unvorbereitet oder unerwartet. Ihre Base Barbara Beller, bei der Else zu dieser Zeit als Magd dient, hat es mit deren Einwilligung für sie arrangiert. Barbara lockt Else mit dem Versprechen, sie etwas zu leh­ ren, und wenn Else ihr folge, so würde sie Geld und anderes bekommen, um sich etwas kaufen und gute Sachen haben zu können95. Else lässt sich auf das Angebot ein, und so vermittelt Barbara besagtes Treffen auf der Wiese. Unter dem Anschein, dort Gras holen zu wollen, macht Else sich eines Tages zwischen 6 und 7 Uhr morgens auf den Weg. Von ihrer Base weiß sie, dass dort ein Fremder kommen und Kontakt mit ihr aufnehmen wird, und sie hat den Auftrag, nicht zu erschrecken, sondern sich diesem auf sein Ansprechen hin zu ergeben. Als der Fremde schließlich erscheint, kommt er offensichtlich recht schnell zur Sache. Er gibt zu verstehen, dass er durch Elses Base herbeschieden worden sei und verlangt, dass Else 95 Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 2, S. 388. Der Anzreiz, zu etwas Reichtum zu kommen, bildet auch bei anderen Sugenheimer Angeklagten das entschei­ dende Motiv, sich auf die Hexerei einzulassen. So gesteht etwa Anna Schneider, die Frau des Hans Rodamer und allgemein als „Mertens Anna“ bezeichnet, dass ihre Mutter sie zur Hexerei überredet hat mit dem Argument, ,,d[aß] sie nit allein guet Sach habe, son­ dern anders mehr darbey bekommen mög“; ebd. I, 11, S. 393. Bei Anna Schreiber ist es der Teufelsbuhle selbst, der „im ein grosse Summa Gelts zu geben versprochen“ und sie auf diese Weise zur Hexerei bringt; vgl. ebd. 1, 23, S. 399. Agnes Sack beklagt sich dage­ gen, dass der Teufel ihr „vil Gelts zu geben versprochen und zugesagt, aber einigen Pfen­ ning niemals geben.“ Ebd. I, 20, S. 397.

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„sich an ine begeben, auch seines Willens thüe“96. Else folgt seinem Wil­ len, d.h. sie hat sexuellen Verkehr mit ihm97. Nach dem Vollzug sieht sie, dass ihr Gegenüber einen Klumpfuß hat und vorn an den Zehen gehörnt ist. Spätestens an dieser Stelle der Urgicht wird deutlich, dass es sich bei Else Rodamers sexuellem Abenteuer nicht um eine normale Liebesaffäre, son­ dern um eine Buhlschaft mit dem Teufel handelt. Welche Haltung Else diesem Umstand gegenüber einnimmt, ob sie sich beispielsweise viel von der neuen Verbindung verspricht oder doch eher erschrocken ist, darüber schweigt das Protokoll. Nur eine direkte Folge ihres Gehorsams ist überlie­ fert: Für ihre bereitwillige Dienstfertigkeit erhält Else 3 Halbbatzen, von denen sie später Ausgaben fürs Schuheflicken und für Nähfaden be­ streitet98. Von dieser ersten Begegnung an steht Else in regem Kontakt mit ihrem Buhlen, der den Namen „Schwellner Teufel“ trägt99. Zunächst erscheint er ihr wieder auf besagter Wiese, später häufen sich seine Besuche: Tag und Nacht stellt er ihr nach, er kommt an ihr Bett in ihrer Kammer ebenso wie auf verschiedene Wiesen und Äcker, und dies „so offt, daß sy nit aigentlich anzuzeigen wiß“100. Hauptsächlich hat er bei diesen Zusammenkünften seinem „Willen nach mit ir gelebt“101, also geschlechtlichen Verkehr mit ihr gehabt. Ob die Rodamerin dies umgekehrt auch will und vielleicht so­ gar Freude daran hat, darüber ist nichts vermerkt. Auch von anderen For­ men der körperlichen Intimität, etwa von Küssen oder zärtlichen Berührun­ 96 Ebd. I, 3, S. 388. 97 Vgl. Art. ,Wille*, in: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin, Bd. 14, II, 2. Abt., Leipzig 1960, Sp. 138f.: „der bedeutungsumfang und verwendungskreis des Wortes ist ursprüng­ lich ein viel weiterer, als der heutige Sprachgebrauch erwarten läszt. er umfaszt nicht nur das wollen oder die äuszerungen des wollens im eigentlichen sinn, sondern erstreckt sich auch auf das fühlen, vor allem auf die gesinnung und die gemüthsstimmung, ferner auf die triebhaften regungen und begierden, vor allem auf den geschlechtstrieb.“ Beispiele für den Gebrauch im letzteren Sinne, der in der alten Sprache reich entwickelt war, vgl. ebd. Sp. 162. 98 Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 3, S. 388. Auch die Buhlteufel der anderen Sugenheimer Hexen entlohnen diese nach vollzogenem Beischlaf: Anna Schnei­ der bekommt 4 Halbbatzen, von denen sie die eine Hälfte für eine kleine Sichel, die an­ dere für Sonstiges ausgibt; vgl. ebd. I, 13, S. 394. Anna Schreiber erhält einen Gulden, den sie in Wein umsetzt; vgl. ebd. I, 23, S. 399. 99 Ebd. I, 3, S. 388. In Sugenheim hat jede Hexe ihren eigenen Buhlteufel, der jeweils einen besonderen Namen trägt. Der Buhle von Anna Schneider heißt beispielsweise „Schwartz Hannsen“ (ebd. I, 12, S. 393), der von Agnes Sack „Schwartz Hennsei“ (ebd. I, 20, S. 397). 100 Ebd. I, 4, S. 389. 101 Ebd. Der Ausdruck ,seinen Willen mit ihr leben, verrichten oder verbringen* als Bezeichnung für den Geschlechtsverkehr begegnet auch in anderen Urgichten, so etwa bei Anna Schneider (ebd. I, 11, S. 393) oder bei Anna Schreiber (ebd. I, 27, S. 400).

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gen, ist nirgends die Rede. Beim zweiten Zusammentreffen der beiden wird die enge Verbindung zwischen ihnen nach Vollzug des Geschlechts­ verkehrs zusätzlich durch Elses Taufe im Namen ihres Buhlteufels formell bestätigt: Der Teufel schöpft mit seinem Hut Wasser aus dem Bach, schüt­ tet es über sie aus und gibt ihr den Namen „Elisy“; dazu muss die Roda­ merin Gott den Allmächtigen sowie ihre Eltern verleugnen. Damit hat sie sich endgültig mit „Leib und Seel“102 an den Teufel ergeben. Ein Zeichen, das der Teufel ihr auf dem Rücken neben der linken Seite mit einem harten Schlag hinterlässt, dokumentiert diese Unterwerfung auch äußerlich103. Aus der Sicht der Rodamerin scheint die Beziehung zu ihrem Buhlteufel nicht ganz befriedigend gewesen zu sein. Das, was ihre Base ihr ursprüng­ lich angekündigt hat, nämlich dass sie zu Geld kommen würde, bewahrhei­ tet sich nur bedingt. Die ersten Male gibt der Schwellner Teufel ihr nach vollzogenem Beischlaf zwar etwas Geld104, mit dem sie sich ein Paar Schu­ he sowie Nähfaden und Nadel kaufen bzw. das sie als Badegeld und zum Erwerb anderer Kleinigkeiten verwenden kann. Doch insgesamt scheint die Rodamerin von den finanziellen Gegenleistungen ihres teuflischen Lieb­ habers eher enttäuscht zu sein; sie betont ausdrücklich, dass sie „sonsten nie nichts von ime empfangen, wiewol er ir viel verheissen“ habe105. Zudem scheint der Schwellner Teufel stets seine eigenen Interessenim Zweifelsfall auch gegen den Willen der Rodamerin - zu verfolgen. So berichtet Else, dass sie das „Sacrament des Abendtmals in ires Buelen, 102 Ebd. I, 3, S. 389. Auch in den Geständnissen anderer Frauen ist ausdrücklich ver­ merkt, dass sich die Beschuldigte mit Leib und Seele dem Teufel ergeben hat, so bei­ spielsweise bei Anna Schneider (ebd. I, 12, S. 393), Agnes Sack (ebd. I, 20, S. 397) und Anna Schreiber (ebd. I, 23, S. 399). 103 Interessanterweise berichtet das Protokoll nichts darüber, ob die Befrager das Vor­ handensein dieses Teufelsmals am Körper der Rodamerin verifizieren. Haben sie es nicht gesucht oder nur nicht gefunden? Vgl. die Urgicht der Agnes Sack, wo gleich zu Beginn festgehalten ist, dass an der Beschuldigten ein Trudenzeichen gefunden worden sei. Vgl. ebd. I, 20, S. 397. 104 Ebd. I, 4, S. 389: Ihr Buhle habe ihr „auch uf einmal ein Ort eines Güldens an Haibatzen und neüen Pfenningen, [...] volgendts hernach zu dreyen Malen das ein Mal 3 Haibatzen, dann das ander an neüen und alten Pfenningen zween Zwölffer, das drit und letzte Mal bey 20 d geben“. Vgl. auch S. 312 mit Anm. 98. 105 Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 4, S. 389. Damit klingt hier das klassi­ sche Motiv vom Teufel als dem Betrüger an, der seine Versprechungen nicht einzuhalten pflegt. Ein weiteres Mal erscheint dieses Motiv am Schluss der Urgicht. Else Rodamer gesteht hier, dass ihr Buhlteufel sie mehrfach im Gefängnis besucht und ihr prophezeit habe, was mit ihr geschehen werde, dass sie nämlich verbrannt würde. Jedoch, „wann sy an der grosten Noth sey, wolle er ir Beistand thun und ein schwartzen Kroen [= Krähe] an die Statt stellen.“ Ebd. I, 10, S. 393. Die Rodamerin kann in dem Moment, in dem sie dies zu Protokoll gibt, zwar noch nicht wissen, ob der Teufel dieses Versprechen halten wird oder nicht; spätestens bei ihrer Hinrichtung offenbart sich jedoch, dass der Teufel sich auch in diesem Punkt als eitler Betrüger erwiesen hat.

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Schwellner Teuffels Namen [habe] empfahen und einnemen müessen“106, was sie in Gutenstetten zweimal, später in Sugenheim etwa zwanzigmal getan habe. Darüber hinaus verlangt der Teufel von ihr, dass sie die Hostie aus ihrem Mund herausholen und auf den Boden werfen solle, was ihr aber nicht gelungen sei, da sich die Hostie in ihrem Mund zu schnell aufgelöst habe. Wenn sie dann nach Hause gekommen sei, habe sie „auß Zwang besagts, ires Buelens, einen Finger in Halß stecken und sich Unwillen [= sich übergeben] müessen“107. Was sie auf diese Weise aus sich herausbefördert habe, habe der Teufel „mit seinem Gaißfueß verscharrt und vertretten“108. Muss sich die Rodamerin also auf den massiven Druck ihres Liebhabers hin der unangenehmen Prozedur des erzwungenen Erbrechens aussetzen, so kann sie dafür an einem anderen Punkt ihren Willen durchsetzen: Der Teufel verbietet ihr mehrfach, zur Kirche zu gehen, „welches aber sy underm Schein, als were sy so gottsförchtig, nit ghalten“109. Damit gibt sie zu verstehen, dass der Gottesdienstbesuch ihren Abfall von Gott zwar nicht rückgängig machen kann, doch geht ihre Loyalität dem Teufel gegenüber offensichtlich nicht so weit, dass sie ihre Zugehörigkeit zu ihm durch ein entsprechendes Verhalten nach außen hin dokumentieren würde. Den Schwellner Teufel scheint dieser nur halbherzige Treuebeweis jedoch nicht zu stören. Was der Teufel darüber hinaus von der Rodamerin verlangt, sind vor allem verschiedene Formen von Schadenszauber. In neutralem Ton berich­ tet das Protokoll, welches Verderben Else zusammen mit ihren Gespielin­ nen angerichtet hat: Das Abkehren von Apfelblüten etwa, um die Apfel­ ernte zu verringern110, das Drücken von Kühen und Säuen, die daraufhin sterben oder keine Junge mehr bekommen111, oder das Kochen eines ge­

106 Ebd. I, 4, S. 389. 107 Ebd. 108 Ebd. In ähnlicher Weise berichten auch andere Sugenheimer Frauen von den Wün­ schen ihres Buhlteufels: Von Anna Schneider wird verlangt, entweder gar nicht zum Abendmahl zu gehen oder, wenn sie es schon tue, die Hostie hinterher wieder aus dem Mund zu nehmen und zu Boden zu werfen. Sie hält sich jedoch nicht daran, nimmt dafür aber das Abendmahl ungefähr 40-mal im Namen ihres Buhlteufels ein; vgl. ebd. I, 12, S. 393. Agnes Sack wird ebenfalls verboten, „zu Gottes Tisch“ zu gehen; auch sie hält sich nicht daran und geht „dannocht in Kirchen und 60 oder mehr Mal, wie eine Kue oder sonst ein ander unvemünfftigs Thier zum Nachtmal“; vgl. ebd. I, 20, S. 397. 109 Ebd. I, 5, S. 389. Auch das Motiv der vorgeschobenen Gottesfürchtigkeit im Zu­ sammenhang mit dem gegen den Willen des Teufels durchgesetzten Kirchgang begegnet bei anderen Sugenheimer Angeklagten, etwa bei Anna Schneider (vgl. ebd. I, 12, S. 393) und Anna Schreiber (vgl. ebd. I, 23f., S. 399). 110 Ebd. I, 5, S. 389. 111 Z.B. ebd. I, 5, S. 390.

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heimnisvollen Elixiers, das das Erfrieren der Eicheln bewirkt112. Auch dass sie Menschen direkt geschadet hat, indem sie sie nachts im Bett gedrückt hat, gibt die Rodamerin zu Protokoll"3. Nur an einer Stelle wird deutlich, dass sie auch gegen ihren Willen Schadenszauber verüben muss: Und zwar, als es ihren Mann, genauer, dessen Pferd, und damit indirekt ja auch sie selbst treffen soll. Die Rodamerin gibt dazu ausdrücklich an, dass sie zusammen mit zwei anderen Personen „auß Zwang des bösen Geists“, also unfreiwillig, „im Stall ein rot Roß getruckt und umbgebracht“ hat114. Als „böser Geist“ wird Elses Buhle in dem Protokoll sehr häufig titu­ liert115. Abgesehen davon, dass dies ein allgemein gebräuchliches Syno­ nym für den Teufel ist, scheint es für den Schwellner Teufel auch eine sachlich angemessene Bezeichnung zu sein. Er stiftet seine Hexe nicht nur zu „bösen“ Taten an, sondern benimmt sich auch ihr gegenüber in dieser Weise. Ohne Rücksicht auf ihre Wünsche oder Bedürfnisse setzt er seine eigenen Interessen notfalls auch mit Gewalt durch. Für die Rodamerin be­ steht, wie sie am eigenen Leib merken muss, keine Möglichkeit, diesem Zwangsjoch zu entfliehen. Denn als nach einem Jahr der Beziehung mit dem Teufel ihre Heirat mit Bastian Rodamer bevorsteht, teilt ihr Buhle ihr unmissverständlich mit, dass Elses Hochzeit und Umzug von Gutenstetten ins etwa 20 km entfernte Sugenheim keine Trennung von ihm bedeute: „er 112 Ebd. Else Rodamer berichtet noch von einer anderen Methode, Wein und Eicheln erfrieren zu lassen: Zusammen mit Anna Schneider gräbt sie die bereits beerdigte Früh­ geburt der Frau des Fritz Roth wieder aus und kocht sie in einem großen Topf in der Küche Annas; vgl. ebd. I, 7, S. 391 und das Geständnis der Anna Schneider, ebd. I, 15f., S. 395. 113 Z.B. ebd. I, 6, S. 390. Ein Vergleich mit den Urgichten der anderen in Sugenheim als Hexen verurteilten Personen zeigt auffallende Ähnlichkeiten bezüglich der Arten des ausgeübten Schadenszaubers. Eine große Rolle spielt bei allen der Schaden an Kühen, sei es in Form des Milchzaubers (z.B. Else Rodamer: ebd. 1, 10, S. 392; Anna Schneider: I, 11, S. 393; I, 16, S. 395; I, 18f., S. 397; Agnes Sack: I, 22, S. 398; Anna Schreiber: I, 24, S. 399) oder in Form des „Kuhdrückens“ (z.B. Else Rodamer: I, 5, S. 390; I, 7, S. 391; Anna Schneider: 1, 13, S. 394). Auch andere Tiere wie Pferde, Säue oder Schafe werden oft gedrückt, teilweise so sehr, dass sie daran sterben (z.B. Else Rodamer: I, 5, S. 390; I, 9, S. 392; Anna Schneider: I, 15, S. 395; I, 18, S. 396; Agnes Sack: I, 21f., S. 398; Anna Schreiber: I, 26f., S. 400). Daneben wird versucht, auf verschiedene Weise die Ernte zu beeinträchtigen. Auch Personen wird mehrfach direkter Schaden zugefügt, meist in Form von Krankheiten; manche davon führen sogar bis zum Tod (so etwa bei Lienhardt Raben­ stein, der an Anna Schneiders vergiftetem Atem stirbt; vgl. I, 19, S. 397). 114 Vgl. ebd. I, 9, S. 392. Eine der beteiligten Personen, Anna Schneider, die Frau des Hans Rodamer, hat das Geschehen anders in Erinnerung. Nach ihren Angaben ist es Else, die sie, Anna, dazu zwingt, das rote Ross des Bastian Rodamer so zu drücken, dass es hernach gestorben ist. Aus ihrer Sicht ist also Else Rodamer die treibende Kraft. Vgl. ebd. I, 15, S. 395. 115 Insgesamt sechsmal; vgl. ebd. 1, 3, S. 389; I, 4, S. 389 (dreimal); I, 9, S. 392; I, 10, S. 392.

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wolle sy wol finden“, kündigt er ihr an, und tatsächlich ist „er dann in 3 Wochen nach gehaltener Hochzeit als ir Man im Veldt gewesen und sy in der Küchen das Feüer geschürt, zu ir kommen und [hat sie] sy abermals zu seinem Willen gebracht.“116 Für Else gibt es kein Entkommen. In deutlich fröhlicherem Ton sind dagegen Elses Berichte über die Zu­ sammenkünfte mit ihren Gespielinnen und deren Buhlen gehalten. An die­ sen scheint sie stets gern und freiwillig teilgenommen zu haben, da sie hier augenscheinlich durchaus auf ihre Kosten kommt. Zum ersten Mal nimmt die Rodamerin an solch einem Treffen im ersten Jahr nach ihrer Wende zur ,Hexe‘ teil. Unter der Führung von Anna Schneider (= Anna Rodamer bzw. Mertens Anna) bestreichen die beiden Frauen eines Sonntagmorgens eine Ofengabel mit einer Salbe117 und fliegen nach Ezelheim in das Haus des Hans Sack. Durch ein Loch fahren sie dort in den Kornboden hinein, wo ein Tisch mit Essen bereit steht, und sie Elses Buhlen sowie andere Gespielen antreffen. Zur weiteren Bereicherung des bevorstehenden Festes stiehlt Anna Schneider aus dem Keller des Wirtes von Ezelheim noch einen ledernen Sack voll Wein. Damit kann das gesellige Zusammensein beginnen: „sy [haben] ein gueten Mueth, getantzt und genug gessen und truncken“118. Auch für die musikalische Unterhaltung ist gesorgt; ein frän­ kischer Pfeiffer spielt mit einer polnischen Sackpfeife zum Vergnügen der Gäste auf119. Spätere derartige Zusammenkünfte scheinen aus Elses Sicht ebenfalls vor allem den Zweck gehabt zu haben, in großen Mengen Wein zu trinken120. Die Teufelsbuhlen nehmen an diesen Zechgelagen teil, spie­

116 Ebd. I, 6, S. 390. 117 Vgl. ebd. Später erhält Else Rodamer von besagter Anna Schneider eine Büchse mit Flugsalbe, die angeblich zu Hause in ihrer Kammer zu finden sei; vgl. ebd. I, 7, S. 390. Leider ist im Protokoll nichts darüber vermerkt, ob diese Büchse tatsächlich ge­ sucht und gefunden wurde. 118 Ebd. I, 6, S. 390. Mit fast den gleichen Worten beschreiben auch andere Sugenhei­ mer Hexen das ausgelassene Treiben bei ihren Zusammenkünften, so z.B. Anna Schnei­ der: „bei demselben [= dem Ezelheimer „Trudenbirnbaum“ bzw. dem Birnbaum im Weingarten des Hanns Winckler; H. M.] gedantzt, gessen und trunckhen, und miteinan­ der sambt im Bueln ein gueten Mueth gehabt“; ebd. I, 19, S. 397; Agnes Sack: „guten Mueth und volauf an Essen und Trincken gehabt“; ebd. I, 22, S. 398; Anna Schreiber: „alda gedanzt, einen gueten Mueth, auch Essen und Trincken, von gesottnem und gebratnem Flaisch gehabt“; ebd. I, 25, S. 399. 119 Ebd. I, 6, S. 390. Von diesem berichtet auch Anna Schneider; Vgl. I, 14, S. 394f. 120 So haben sie und zwei ihrer Gespielen vor zehn Jahren im Keller des Wirtes von Ezelheim „Weins genug miteinander getrunckhen“; ebd. I, 7, S. 391. Kurz darauf haben Else sowie Anna Schneider und Hans Rodamer nebst ihren jeweiligen Buhlen dort noch einmal „miteinander volauff Wein getruncken, nachgehents ein jedes wider an sein Ort und heimbgefahren“; ebd. I, 8, S. 391. Insgesamt sind die Hexen „zu vil Malen, und wie offt wisse sy [Else] nit, in der Wirth alhie zu Sugenheim, Deyttenheim und Etzelheim Weinkeller gewest und [haben] genug miteinander getruncken.“ Ebd. 1, 9, S. 392.

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len dort aber offensichtlich keine besonders herausragende Rolle; weder müssen die Hexen ihnen dort noch einmal einen Treueeid leisten, noch ist von ausschweifenden sexuellen Orgien oder verschwörerischem Planen zukünftiger Schadensfälle die Rede. Für Else Rodamer steht ganz eindeu­ tig die Tatsache im Vordergrund, dass in ausreichenden Mengen Essen und Trinken vorhanden ist. Ihre Berichte von den Hexenversammlungen muten daher aus heutiger Sicht in gleicher Weise harmlos wie anrührend an. Durch den nüchternen Protokollstil scheint hin und wieder Elses Sehnsucht nach einer anderen, sorgenfreien Welt hindurchzuschimmern, die schon al­ lein deshalb zu einer erstrebenswerten wird, weil in ihr die Befriedigung der einfachsten Grundbedürfnisse in vollem Maß gewährleistet ist121. Auch ein Teil des verübten Schadenszaubers zielt in die gleiche Richtung. Was Else Rodamer stiehlt, sind samt und sonders Lebensmittel für den tägli­ chen Bedarf: Milch, die sie aus den Kühen etlicher Leute hinausmelkt und nach Hause trägt122, oder das Kalbfleisch, das sie einem Nachbarn, der frisch geschlachtet hat, entwendet, zu Hause kocht und isst123. Auch hier entsteht der Eindruck, als ob die Rodamerin mit ihrer Hexerei vor allem eines bezweckt: den harten Realitäten eines Alltags zu entkommen, in dem es keineswegs selbstverständlich zu sein scheint, jeden Tag ausreichendes und nahrhaftes Essen und Trinken auf dem Tisch zu haben. Um etwas von diesem Glück zu bekommen, ist Else bereit, einen hohen Preis zu zahlen: ihren Körper für sexuelle Liebesdienste an einen unbekannten Mann zu verkaufen und damit Gefahr zu laufen, sich dem Einflussbereich dunkler Mächte auszusetzen. Aus der Sicht von Elses Zeitgenossen war der Schritt von der Prostitution zur Hexerei jedenfalls vorhersehbar, wenn nicht gar folgerichtig und zwangsläufig.

5. Gertrud von Helfta und Else Rodamer - ein Vergleich Was ergibt nun ein Vergleich der beiden Frauen Gertrud von Helfta und Else Rodamer?

121 Das gilt in ähnlicher Weise auch für die anderen Angeklagten. Auch deren Urgich­ ten zeigen, dass die Hexenversammlungen vor allem dem ausreichenden Essen und Trin­ ken, speziell dem Weintrinken, sowie dem geselligen Zusammensein bei Musik und Tanz dienen. Vgl. S. 316, Anm. 118. 122 Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 10, S. 392. 123 Vgl. ebd.

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1. Quellenproblem Zunächst sei nochmals auf das schon eingangs erwähnte Quellenproblem hingewiesen, das auch hier gewisse Schwierigkeiten aufwirft. Für die Ana­ lyse sind wir auf Texte angewiesen, die unter höchst unterschiedlichen Voraussetzungen entstanden sind. Während Gertrud im Auftrag Gottes124 ihre Geschichte selbst niederschreibt bzw. diktiert, sind Else Rodamers Be­ richte über ihr Hexendasein nur in Form des Verhörprotokolls überliefert. Der Schreiber notiert dort - möglicherweise mit seinen eigenen Worten das, was die Rodamerin auf die ihr gestellten Fragen zur Antwort gibt; all ihren Angaben geht also eine Selektion bzw. Fokussierung auf bestimmte Aspekte voraus, die sowohl durch ihre Befrager als auch durch den Schreiber vorgenommen werden. Zudem bleibt fraglich, ob Else Rodamer sich selbst überhaupt als Hexe verstand. Vielleicht ist ihr Geständnis, das ja zum Teil unter Anwendung der Folter erfolgte, nur mit dieser zu erklären und entbehrt jeder realen Grundlage. Andererseits erweist sich die Urgicht der Rodamerin in mancher Hinsicht als erstaunlich detailreich und lebensnah; an vielen Stellen schimmern konkrete, individuelle Bezüge zu ihrem Leben durch. So erscheint es keineswegs als unwahrscheinlich, dass Else Rodamer mit mehreren anderen Personen, wie etwa den ebenfalls angeklagten Frauen Anna Schneider und Agnes Sack, auf vertrautem Fuß stand und mit diesen des Öfteren heimliche Ess- und Trinkgelage abhielt. Auch dass sie sich als junge Frau auf Anraten ihrer Base einem Unbekann­ ten sexuell hingab, weil sie sich davon gewisse materielle Gegenleistungen versprach, ist durchaus möglich. Inwiefern Else Rodamer solche Werge­ hen1 aber tatsächlich als Teil eines größeren Verbrechens, nämlich dem der Hexerei, interpretierte, darüber kann heute nur spekuliert werden. Bei Ger­ trud dagegen steht außer Frage, dass sie ihre außergewöhnlichen Erlebnis­ se als Zeichen besonderer Begnadung deutete, sich selbst also durchaus als Mystikerin verstand. Trotz dieser Unsicherheit bezüglich des Selbstverständnisses der Else Rodamer halte ich es für methodisch legitim, ihren Fall als historisches Beispiel für eine Hexe zu verwenden. Die Frage, ob sie tatsächlich eine Hexe war, d.h. ob sie tatsächlich Dinge getan und erfahren hat, die nach frühneuzeitlichem Verständnis konstitutiv für die Hexerei sind, ist aus heutiger Sicht zwar nicht mehr zu beantworten; aber dies ist, wie ich mei­ ne, für eine pragmatische Verwendung des Hexenbegriffs auch nicht von Belang. Entscheidend ist, dass Else Rodamers Zeitgenossen ihr die Rolle einer Hexe eindeutig zuschrieben und dass sie selbst in ihrem Geständnis Aussagen machte, die dieser Rollenzuschreibung ebenso eindeutig ent­ sprachen. Insofern tradiert das Verhörprotokoll, unabhängig davon, was 124

Vgl. S. 301 mit Anm. 41.

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davon auf realen Begebenheiten beruht, ein zuverlässiges Bild dessen, was man sich in Sugenheim im ausgehenden 16. Jahrhundert unter einer ,Hexe‘ vorstellte. Dieses Verständnis von Hexerei kann, wie ich meine, durchaus probeweise mit einem bestimmten Verständnis von Mystik kontrastiert werden, zumal sich dort das ,Realitätsproblem1 in ganz ähnlicher Weise stellt. Auch hier kann der/die Historiker/-in letztlich nicht wissen und nicht entscheiden, ob und wieweit bestimmten mystischen Texten ein entspre­ chendes reales Erleben zugrunde liegt, und es ist für eine Definition des Mystikbegriffes ebenfalls nicht ausschlaggebend12^. Entscheidend ist auch hier, dass bestimmte Traditionen, Begriffe, Gefühle, Erinnerungen, Imagi­ nationen und Theorien zum Ausdruck gebracht werden, die mit gutem Grund als mystisch bezeichnet werden, unabhängig davon, welcher Erfah­ rungsgehalt sich hinter ihnen verbirgt. Was das Verhörprotokoll der Else Rodamer von den Aufzeichnungen Gertruds von Helfta somit maßgeblich unterscheidet, ist nicht so sehr das Problem der ungesicherten historischen Realität, sondern die unterschiedliche Erzählperspektive. Während in dem Verhörprotokoll aufgrund der gezielten Auswahl der Fragen und des mit­ tels Folter durchgesetzten Versuches, ,wahre1 Antworten zu erhalten, vor allem die Außenperspektive der untersuchenden Inquisitoren125 126 in unser Blickfeld tritt, schreibt Gertrud dezidiert aus der Innenperspektive. In bei­ den Fällen erfahren wir aber etwas über ein konkretes historisches Hexenbzw. Mystikverständnis, das einen Vergleich lohnen kann. 2. Biographische Ausgangsbedingungen Bevor dieses Hexen- dem Mystikverständnis kontrastierend gegenüber gestellt wird, soll der Blick zunächst auf die Lebenswelt der Frauen gewor­ fen werden, von denen die eine zur Mystikerin, die andere zur Hexe wurde. Die biographischen Ausgangsbedingungen gestalten sich für Gertrud und Else sehr unterschiedlich. Während die eine zu Beginn des 13. Jahrhun­ derts als kleines Mädchen in ein in voller Blüte stehendes Kloster gegeben wird und dort - ein Glücksfall angesichts ihrer hohen intellektuellen Bega­ 125 Vgl. Hamm: Gott berühren, oben S. 134. 126 Diese Außenperspektive kann jedoch schnell in eine neue Art von Innenperspek­ tive Umschlagen, nämlich dann, wenn die anwesenden Schöffen erfahren, dass sie selbst Opfer vom Schadenszauber der Angeklagten geworden sind. So geben beispielsweise Else Rodamer und Anna Schneider übereinstimmend an, vor ein paar Jahren eine Kuh des Hans Holtzapfel gedrückt und getötet zu haben. Eine Unvoreingenommenheit dieses als Schöffe fungierenden Betroffenen ist nach diesen Aussagen kaum mehr zu erwarten. Auch Anna Schneiders Beteuerungen, sie habe es nicht gern gemacht, Hans Holtzapfel habe ihr sehr leidgetan, haben daran wohl kaum etwas ändern können. Tatsächlich wird Anna Schneider gemeinsam mit Else Rodamer wegen Hexerei verurteilt und hingerichtet. Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 8, S. 391 und 1, 13, S. 394.

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bung - eine ausgezeichnete Ausbildung erhält, verbringt die andere ihr ganzes Leben im bäuerlichen Milieu, wo ihr bildungsmäßig keinerlei En­ twicklungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Erschwert durch die ungüns­ tigen klimatischen Bedingungen des späten 16. Jahrhunderts127 gilt, soweit sich dies heute noch rekonstruieren lässt, Else Rodamers hauptsächliche Beschäftigung der Sicherung des täglichen Lebensbedarfs; sie verbringt den größten Teil ihrer Zeit mit körperlich anstrengender Arbeit im land­ wirtschaftlichen Bereich, sei es als Magd bei ihrer Base Barbara Beller, sei es später als Bäuerin an der Seite ihres Mannes Bastian Rodamer. Gertrud dagegen, die hinter schützenden Klostermauern aufwächst, weiß sich der Sorge um die tägliche Nahrungsaufnahme weitgehend enthoben; früh schon zeigt sie darüber hinausgehende geistige wie geistliche Interessen128. Zudem ermöglicht ihr die begünstigte Lebenssituation, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen selbst in lateinischer Sprache aufzuschreiben und so der Nachwelt zu tradieren. Für Else Rodamer ist dies undenkbar; von ihr wis­ sen wir heute nur deswegen etwas, weil sie sich in den Augen der Sugen­ heimer Obrigkeit zu einer derartig großen Gefahr entwickelt hat, dass sie vor Gericht zur Verantwortung gezogen wird. Zunächst gerät sie einfach wegen ihres freizügigen sexuellen Lebensstils in Misskredit; die Tatsache, dass sie sich ausgerechnet mit einem herumziehenden Fremden auf eine Liebesaffäre einlässt, verstärkt bei ihren Zeitgenossen möglicherweise den Eindruck, dass sie Umgang mit zwielichtigem, höchst verdächtigem Gesin­ del pflegt. Von hier aus ist es dann offensichtlich nur noch ein kleiner Schritt hin zu dem Verdacht, dass auch der Teufel ihr enger Vertrauter sei. Gertrud von Helfta dagegen brauchte dergleichen Unterstellungen wohl kaum zu furchten. In den uns überlieferten Quellen erscheint sie durch­ gängig - auch schon vor ihrer mystischen Wende - als fleißiges, gehorsa­ mes, frommes, dem Klosterleben freudig zugeneigtes Wesen. Ihr Ruf war, 127 Forschungen haben ergeben, dass im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die Durchschnittstemperaturen extrem gesunken sind mit der Folge, dass es zu einer Serie von Missernten und Hungersnöten kam. Diese sog. „Kleine Eiszeit“ wird als eine ent­ scheidende Ursache dafür angesehen, dass gerade zu dieser Zeit die großen Hexenverfol­ gungen einsetzten. Vgl. Hartmut Lehmann: Hintergrund und Ursachen des Höhepunk­ tes der europäischen Hexenverfolgung in den Jahrzehnten um 1600, in: Sönke Lorenz und Dieter R. Bauer (Hg.): Hexenverfolgung. Beiträge zur Forschung, Würzburg 1995 (= Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie 15), S. 359-373, besonders S. 361. 128 Zwar mussten die Helftaer Nonnen, trotz ihrer mehrheitlich adligen Herkunft, ebenfalls manuelle Arbeiten verrichten - ihnen oblag neben der Mithilfe in der Landwirt­ schaft vor allem das Spinnen und Stricken -, darüber hinaus betätigten sie sich aber auch im Skriptorium. Gertrud scheint hier sogar Handschriften illuminiert zu haben; vgl. Michael Bangert: Die sozio-kulturelle Situation des Klosters St. Maria in Helfta, in: ders. und Hildegund Keul (Hg.): Vor dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht. Die Mystik der Frauen von Helfta, Leipzig 21999, S. 29-47: hier S. 36.

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nicht zuletzt auch in moralischer Hinsicht, stets unbescholten129, sodass sie vermutlich einigermaßen sicher sein konnte, dass ihre ungewöhnlichen Erlebnisse seitens ihrer Mitschwestern nicht vorschnell ad malam partem interpretiert würden. Anders als Else weiß sich Gertrud mit einem Ver­ trauensvorschuss ausgestattet, der es ihr einfacher macht, unkonventionelle Wege zu beschreiten, ohne deshalb in einen grundsätzlichen, bösen Ver­ dacht zu geraten. Zudem kommen ihr ihre hohe Bildung und ihre sprach­ liche Eloquenz dabei zugute, aus dem Rahmen fallende, schwer fassbare Dinge ihren Mitmenschen verständlich zu machen oder diesen gegenüber argumentativ zu verteidigen.

3. Unio versus Teufelsbuhlschaft Befragt man die Quellentexte nun nach der Beziehung, die die beiden Frauen jeweils zu ihrem überirdischen Gegenüber eingehen, so ergeben sich, ganz im Sinne von Dinzelbacher, mehrere auffallende Parallelen: Bei­ den Frauen erscheint eine attraktive Männergestalt; beiden Frauen wird zu Beginn eine Verheißung gegeben (Gertrud erhält sie direkt von ihrem himmlischen Bräutigam, der ihr baldiges Heil und Erlösung zusagt130, bei Else wird sie durch eine Dritte übermittelt, nämlich durch ihre Base, die ihr Geld bzw. materiellen Vorteil für ihre Folgsamkeit verspricht131); beide stehen in einem sehr engen Verhältnis zu ihrem Gegenüber, das körper­ lichen Kontakt mit einschließt; beide erhalten zum Ausweis der engen Verbindung ein Zeichen (Gertrud werden die Stigmata in ihr Herz einge­ prägt und sie empfangt sieben Ringe, während Else links auf dem Rücken das Teufelsmal erhält). Beide Frauen führen die Beziehung über Jahre hin­ weg, wobei die Besuche ihres Liebhabers regelmäßig und häufig statt­ finden132. Doch über diese strukturellen Gemeinsamkeiten hinaus unter­ scheiden sich die zwei Paare in vielerlei Hinsicht, wie im Folgenden ge­ zeigt werden soll.

129 Gertrud gilt als eine schon vom Mutterleib an Auserwählte, die die Jahre der Kindheit und des Heranwachsens mit reinem Herzen, voller Lernbegierde und Freude an den freien Künsten durchlief. Vgl. Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), I, 1, 1,19-21, S. 120 und 1, 1,2,lf., S. 120. 130 Vgl. ebd. I, 1,2,7-12, S. 230. 131 Vgl. oben S. 311 mit Anm. 95. 132 Auch den Pakt könnte man als Vergleichspunkt anführen, den Gertrud bei ihrem göttlichen Geliebten ausdrücklich einklagt; vgl. oben S. 305f. Bei Else Rodamer wird der Bund dagegen zwar nicht explizit erwähnt; das Kumulativdelikt von Buhlschaft, Unter­ werfung mit Leib und Seele, Teufelstaufe samt neuer Namensgebung und Teufelsmal be­ deutet aber letztlich nichts anderes als das Zustandekommen eines Paktes.

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3. 1 Die körperliche Dimension der Beziehung

In beiden Beziehungen spielt die körperliche Dimension eine wesentliche Rolle. Bei der sog. ,Teufelsbuhlschaft1 steckt schon im Begriff selbst ganz klar eine sexuelle Konnotation, die auf der Vorstellung beruht, der Teufel und die Hexe hätten geschlechtlichen Verkehr miteinander. Auch Else Ro­ damer bekennt sich zu diesem Vergehen. Sie bezeichnet das Wesen, auf das sie sich eingelassen hat, mehrfach133 als ihren „Buhlen“134. Der Ge­ schlechtsakt selbst wird im Protokoll durchgängig mit den Worten „seinen Willen mit ihr tun“, „seinen Willen an ihr verrichten“, „seinen Willen mit ihr verbringen“ oder „sie zu seinem Willen bringen“135 umschrieben. Von weiteren Formen der Intimität, etwa liebkosenden Berührungen, ist nicht die Rede. Der einzige Körperkontakt zwischen Else und ihrem Schwellner Teufel, der eigens erwähnt wird, ergibt sich beim Aufdrücken des Teu­ felsmals; dieses kommt durch einen Schlag auf den Rücken zustande, der ausdrücklich als „hart“ apostrophiert wird.136 Die körperliche Dimension der Beziehung zwischen Else und ihrem teuflischen Liebhaber wird also auf ein Minimum reduziert: den puren Coitus. Anders verhält sich dies bei Gertrud. In ihren Aufzeichnungen findet sich für das, was sie erlebt, kein Begriff, der das Geschehen zwischen ihr und Christus auf eine rein ge­ schlechtliche Ebene beschränken würde. Das von ihr verwendete Wort ,unio‘ bezeichnet nicht den Geschlechtsakt, sondern drückt, ebenso wie das deutsche Wort ,Vereinigung1, ganz allgemein das Zusammenkommen zweier ursprünglich unterschiedener Getrenntheiten aus, die nun eine Ein­ heit bilden137. Der Transfer auf eine körperliche Ebene findet erst dadurch statt, dass Gertrud mittels unterschiedlicher sinnlicher Wahrnehmungen die erfahrene Nähe zu Christus beschreibt: Sie hört Christus freundlich und tröstend zu sich sprechen, sie sieht seine jugendlich schöne Gestalt, sie blickt in seine strahlenden Augen, sie fühlt, wie sich sein Gesicht an das 133 Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 3, S. 388; I, 3, S. 389; I, 4, S. 389 (viermal); 1, 6, S. 390 (zweimal); I, 7, S. 391; I, 8, S. 391; 1, 10, S. 392. 134 Das Wort .Buhle1, das ursprünglich als Anrede für einen nahestehenden (verwand­ ten, vertrauten) und geliebten Menschen verwendet wurde, erhält im 15. Jahrhundert einen pejorativen Beigeschmack. Vgl. Art. Buhle, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet im Zentralinstitut für Sprachwissenschaft, Berlin, unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, München 21997, S. 182. Die Anwendung des Begriffs auf den Teufel im Zusammenhang mit Hexerei verstärkt diese pejorative Komponente noch, so­ dass man davon ausgehen kann, dass er in Elses Verhörprotokoll ganz klar negativ konnotiert ist. 135 Vgl. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 9, S. 388; I, 3, S. 388f.; I, 4, S. 389; I, 6, S. 390; 1, 10, S. 392. 136 Vgl. ebd. I, 3, S. 389. 137 Vgl. Art. ,unio‘, in: Karl Emst Georges (Hg.): Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Berlin 2002 (= Digitale Bibliothek 69), Bd. 2, Sp. 3307.

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ihre anschmiegt und wie ihr Geliebter sie umarmt und küsst. Ungeahnte Lustgefühle werden dadurch bei Gertrud freigesetzt. Sie erlebt rauschhaftes Glück und süßes Beseligtsein und brennt vor Verlangen und Sehnsucht nach erneutem Zusammensein mit ihrem Bräutigam. Deutlich offenbart sich hier der erotische Charakter ihrer Beziehung zu Christus, der einer­ seits in zärtlichen Anreden wie „amantissime Jesu“, andererseits aber auch in Gertruds Sprachlosigkeit zum Ausdruck kommt. Ihr Erleben übersteigt das Normal-Menschliche so unendlich, dass sie an bestimmten Punkten mehr ver- als enthüllend darüber reden kann. So bleibt beispielsweise un­ erklärt, worin die dritte der drei für sie wichtigsten Gnadengaben besteht. Mit keinem Wort wird hier darauf angespielt, dass diese Begnadung mit dem menschlichen Geschlechtsakt in eine Analogie zu stellen wäre; gleichwohl schwingt jedoch mit der Bemerkung, Gertrud habe auch hier den liebreichen Besuch Christi138 empfangen dürfen, ein erotischer Unter­ ton mit. Der Unterschied zu dem, was Else Rodamer erlebt, ist eklatant: Während deren Beziehung zu ihrem Buhlteufel auf einer rein sexuellen Ebene abläuft - wobei Sexualität hier auf den bloßen Geschlechtsakt redu­ ziert ist -, zeichnet sich Gertruds Erleben durch Erotik, durch Lustgefühle und Verlangen aus, die jedoch frei von Sexualität im gerade genannten, engeren Sinn sind. An Else wird etwas vollzogen, wenn der Teufel „seinen Willen mit ihr lebt“, d.h. ihr wird eine höchst passive Rolle in dem Ge­ schehen zuteil139. Die Beziehungsstruktur zwischen ihr und ihrem Buhlen ist einseitig und hierarchisch zugunsten des Teufels angelegt. Anders ist dies beim mystischen Erleben Gertruds: Auch hier steht Christus als der Erlöser zwar in machtvoller Weise über der Nonne als derjenige, der allein beseligende Gnadengeschenke zu vergeben hat. Doch mit seinen Gunst­ beweisen holt er die Nonne gerade aus ihrer Niedrigkeit zu sich herauf, um mit ihr in ein neues Verhältnis auf Augenhöhe einzutreten. Christus be­ rührt Gertrud, er umarmt und küsst sie, worauf diese mit glühender Liebe und sehnsuchtsvollem Verlangen antwortet. Mit Gertrud wird also nicht einfach etwas gemacht, sondern sie übernimmt selbst einen aktiven Part: Sie freut sich und genießt, oder, sobald ihr Zusammensein mit Christus unterbrochen wird, sehnt sich nach ihm zurück, verzehrt sich und brennt vor Verlangen. Das Wenige, was sie geben kann, möchte sie ihrem Bräuti­ gam schenken: sich selbst. Insofern ist die Verbindung, auch wenn Chris­ 138 Gertrude: (Euvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 22, l,10f„ S. 328: „permittam hoc tam praejucundissimum visitationis tuae donum“. 139 Dies entspricht ganz der mittelalterlichen Vorstellung von einer (menschlichen) geschlechtlichen Beziehung, nach der beim Geschlechtsakt nicht zwei Personen etwas miteinander machen, sondern eine Person etwas mit einer anderen. Es wird klar zwischen dem .aktiven1 Partner als dem, der eindringt, und dem .passiven1 Partner als dem, der empfängt, unterschieden. Vgl. Ruth Mazo Karras: Sexualität im Mittelalter. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Hartung, Düsseldorf 2006, S. 19.

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tus letztlich der unendlich Überlegene bleibt, von einer gewissen Gegen­ seitigkeit, von Geben und Nehmen auf beiden Seiten geprägt. Am eindrücklichsten kommt diese auf Wechselseitigkeit angelegte Beziehungs­ struktur körperlich im Bild vom Tausch der Herzen zum Ausdruck. 3. 2 Die Struktur der Beziehung

Was sich im körperlichen Bereich bereits angekündigt hat, findet in beiden Fällen auf der Beziehungsebene seine Entsprechung. Während Gertrud eine gleichsam partnerschaftliche Beziehung zu Christus auf nahezu gleichberechtigter Ebene führt, befindet sich Else in einem hierarchisch angelegten Verhältnis am unteren Ende der Machtskala. Wo Gertrud sich als Freundin, Braut und Königin sehen darf und die Rolle einer lohnab­ hängigen Dienerin ausdrücklich von sich weist, ist Else noch weniger als dies: Sie hat im Auftrag ihres Herrn bestimmte Dienstleistungen zu brin­ gen, für die sie manchmal - aber eher selten - finanziell entlohnt wird; in der Regel geht sie für ihr Tun leer aus. Dass Else dem Schwellner Teufel angesichts solcher geringen Anreize überhaupt Gehorsam leistet, liegt daran, dass er seinen Anspruch über sie gleich zu Beginn ihrer Bekannt­ schaft machtvoll mittels des Vollzugs der Buhlschaft, der Taufe in seinem Namen sowie des Eindrückens des Teufelsmals begründet hat. Else ist nun mit Leib und Seele sein Eigentum. Entsprechend ist ihr Gehorsam keine Frage des Wollens mehr, sondern eine Notwendigkeit, der sie sich nicht entziehen kann. Auch wenn sie angehalten wird, Dinge zu tun, die ihr eigentlich widerstreben, bleiben ihr als Ausweg allenfalls kleinere Formen des Widerstandes, wie etwa der Besuch des Gottesdienstes trotz Verbotes. Im Zweifelsfall erweist sich der Teufel jedoch immer als der mächtige, der Elses Folgsamkeit gewaltsam einfordern und durchsetzen kann. So bringt sein unerbittliches Joch Else dahin, dass sie sogar das Pferd ihres eigenen Mannes tötet, obwohl sie sich damit selbst Schaden zufügt. Ganz anders sieht der Gehorsam dagegen bei Gertrud aus. Wo Else gezwungen werden muss, bietet Gertrud ihrem Herrn freiwillig als Dank für die gewährten Gnadengaben ihren vollkommenen Gehorsam an. Auch wenn sie an die­ sem Anspruch immer wieder scheitert und darüber in Klagen und Selbst­ vorwürfe ausbricht - das Anliegen bleibt: Sie möchte all ihr Wollen und Tun mit Christus vereinen und sich so dem Willen Gottes unterwerfen140. Gertruds Haltung ist die der Liebe, der Hingabe, des Sich-Darbringens, des Sich-Christus-ganz-Überantwortens. So erfüllt sie freiwillig das, was der Teufel sich bei Else durch Tricks und falsche Versprechungen erschleichen und stets neu gewaltsam einfordern muss. Während Gertruds vollkomme­ ner Gehorsam zudem selbstverständlich mit einschließt, dass es für sie 140

Vgl. Lanczkowski: Gehorsam, (wie Anm. 68), S. 158.

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neben ihrem Bräutigam Christus keinen konkurrierenden Nebenbuhler gibt, fuhrt Else keineswegs eine so ausschließliche Beziehung mit ihrem Teufel. Abgesehen davon, dass sie etwa ein Jahr nach Beginn ihrer Buhl­ schaft eine (menschliche) Ehe schließt, hat sie noch einmal sechs Jahre später eine Affäre mit einem (menschlichen) Fremden. Else ist nach eige­ nen Aussagen im Jahr 1592 also mit drei ,Männern1 gleichzeitig körperlich intim: mit ihrem Ehemann Bastian Rodamer, mit ihrem Liebhaber Lorenz Schwab und mit dem Schwellner Teufel. Aus dem Protokoll geht nicht hervor, ob diese ,Mehrgleisigkeit‘ mit Billigung des Teufels geschieht oder gegen dessen Willen. Beides wäre denkbar. Im einen Fall wäre es deutbar als Versuch des Teufels, mittels des sittenlosen, sündhaften, ,fleischlichen* Verhaltens der Hexe seinen Herrschaftsbereich in der Welt zu festigen. Im anderen Fall könnte es als eine Art Aufbegehren Elses verstanden werden, durch das sie ihrem teuflischen Liebhaber seine Betrügereien heimzahlt. So wie er sie hintergeht, indem er ihr gar keinen oder nur sehr geringen Lohn für ihre Dienste zahlt, so hintergeht sie ihn umgekehrt im sexuellen Bereich. Unabhängig davon, welche Deutung zu bevorzugen ist, Tatsache bleibt, dass Else nicht ausschließlich auf ihren teuflischen Liebhaber fest­ gelegt ist. Gertrud dagegen gibt sich nur ihrem himmlischen Bräutigam hin. Sie hat auch allen Grund dazu, denn dieser erweist sich gerade nicht als Betrüger, sondern als der verlässliche Freund, dem sie all ihr Leid be­ denkenlos anvertrauen kann. Während Gertruds Verhältnis zu Christus von Liebe, gegenseitigem Vertrauen und Verlässlichkeit geprägt ist, zeichnet sich die Verbindung zwischen Else und dem Schwellner Teufel durch Un­ terwerfung sowie wechselseitige Unehrlichkeit und Untreue aus.

3. 3 Die Funktion der Buhlschaft bzw. der Unio im größeren Kontext Die genannten Unterschiede sowohl im körperlichen Bereich als auch auf der Beziehungsebene sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Buhlschaft bzw. die Unio jeweils unterschiedliche Funktionen innerhalb des Gesamtkontextes des Hexenverbrechen bzw. der mystischen Erfahrung einnehmen. Für die Mystikerin Gertrud steht durchweg die Frage nach ihrem ewigen Heil im Mittelpunkt, weshalb die Christusbeziehung für sie von alles entscheidender Bedeutung ist. Die unter irdischen Bedingungen größtmögliche Nähe zu Christus erlebt sie in der Unio; ihr gilt deshalb ihr ganzes Hoffen, Sehnen und Streben. Der Weg dahin ist jedoch lang und vollzieht sich in unterschiedlichen Phasen der Annäherung. Die verschie­ denen körperlichen Empfindungen, das Hören, Sehen und Berührt-Werden bis hin zu einem nicht mehr in Worten ausdrückbaren sinnenhaften Erle­ ben, zeugen dabei von unterschiedlichen Formen und unterschiedlicher Intensität der erfahrenen Nähe Christi. Ganz anders verhält es sich bei der Teufelsbuhlschaft. Der höchste Grad der Annäherung zwischen Hexe und

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Teufel ist kein langer Weg des Bittens, Wünschens und Sehnens, sondern ereignet sich nach dem Willen des Teufels gleich in den ersten Minuten des ersten Zusammentreffens. Die sexuelle Vereinigung zwischen Else und ihrem Schwellner Teufel markiert den Beginn und gleichzeitig auch den Höhepunkt ihrer gemeinsamen Beziehung. Sie wird danach zwar regel­ mäßig wiederholt, eine steigernde Wirkung ist damit aber nicht verbunden. Mit der Buhlschaft begründet der Teufel seinen Herrschaftsanspruch über Else, die nun mit Leib und Seele sein Eigentum ist. Selbst wenn sie wollte, kann sie - wie ihr missglückter Versuch, sich anlässlich ihrer Verheiratung und dem damit verbundenen Ortswechsel dem Teufel zu entziehen, zeigt den Fängen ihres Buhlen nicht mehr entkommen. Während Gertrud mit der Möglichkeit rechnen muss, dass sie der bereits erlebten Freuden verlustig geht, dass die Unio sich für sie nicht wiederholt und sie wieder aus dem Stand der Gnade fallt141, begründet die Teufelsbuhlschaft eine im wört­ lichen Sinn todsichere Verbindung. Dabei hat die Buhlschaft, anders als die Unio, ihren Endzweck nicht in sich selbst. Else Rodamer lässt sich nicht deswegen auf den Handel mit dem Teufel ein, weil sie eine intensive persönliche Nähe zu diesem herbeiwünscht, sondern weil sie sich schlicht materiellen Vorteil davon erhofft. Auf der anderen Seite funktionalisiert auch der Teufel die Buhlschaft, indem er sie zum Akt der Unterwerfung stilisiert, den die Hexe anschließend durch gehorsames Ausführen seiner Befehle stets neu unter Beweis stellen muss. Auch für den Teufel besteht das letzte Ziel also nicht einfach in der fleischlichen Vermischung mit der Frau; vielmehr nutzt er die aus dieser Vereinigung gewonnene Macht­ position dazu, die Hexe zum Schadenszauber anzustiften und so seine Herrschaft in der Welt zu festigen und auszubauen. Eine andere bedeutsame Funktion nimmt die Buhlschaft im Blick auf das Bewusstsein der Frau ein. Der sexuelle Verkehr setzt bei Else einen Erkenntnisprozess in Gang. Glaubt sie zunächst, sich lediglich mit einem fremden Mann einzulassen, der sie für ihre sexuellen Dienste mit gewissen finanziellen oder materiellen Gegenleistungen entlohnen wird, so wird ihr unmittelbar nach dem Beischlaf mit einem Schlag die wahre Identität ihres Gegenübers bewusst. Erst jetzt, wo es für sie bereits zu spät ist, nimmt sie den Klumpfuß und die gehörnten Zehen wahr und erkennt dadurch, mit wem sie es in Wirklichkeit zu tun hat. Bei Gertrud ist es dagegen umge­

141 Tatsächlich erlebt Gertrud dies im Laufe von neun Jahren nur einmal für einen Zeitraum von elf Tagen; vgl. oben S. 298 mit Anm. 29. Auch wenn Gertrud insofern ein Sicherheitsbedürfnis zeigt, als sie sich die Dauerhaftigkeit der gewährten Gnaden von Christus in einem Pakt bestätigen lässt (vgl. oben S. 305f.), so ist das 2. Buch des ,Le­ gatus' keineswegs von einem Grundton der Angst geprägt. Gertrud weiß sich, wiewohl unverdient, vollkommen begnadigt; vgl. dazu auch Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik 2 (wie Anm. 17), S. 325 und 331.

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kehrt. Die Einsicht in ihre wahre Situation, in die Sinn- und Nutzlosigkeit ihres bisherigen Lebens, steht am Beginn ihres mystischen Weges. Vor ihrer geistlichen Wende widmet Gertrud all ihre geistigen Kräfte dem Stu­ dium; kurz vor ihrer ersten Begegnung mit ihrem Bräutigam erkennt sie schließlich, in welchen Hochmut sie sich dadurch verstrickt hat, in wel­ chem Turm der Eitelkeit und Überheblichkeit sie gefangen war, sodass sie vom wahren Heilsweg abgekommen und umsonst den Namen sowie das Kleid einer Nonne getragen hat142. Erst nachdem sie dies begriffen hat, ist sie bereit, sich Christus als ihrem Retter und Erlöser zu öffnen, sodass die in der Unio erlebte Erfüllung für sie Wirklichkeit werden kann. Zudem geht Gertruds Selbsterkenntnis auch mit einer Neujustierung ihres Willens einher. Statt wie bisher ihrem eigenem Drang zu folgen, gleicht sie nun ihren Willen an den Willen Christi an. Bei Else dagegen ist keine Ände­ rung ihrer Willensrichtung zu erkennen. Auch nach der Buhlschaft und der mit ihr verbundenen Einsicht in ihre Lage scheint sie weder ihren Hang zu materiellen Dingen aufzugeben noch passt sie ihre Wünsche denen des Teufels an, wie ihr Übertreten des Verbots, den Gottesdienst zu besuchen, zeigt. Zudem geht aus dem Protokoll nicht hervor, dass sie die zahlreichen Fälle von Schadenszauber aus dem inneren Wunsch heraus, wie ihr Herr Böses zu tun, verübt und nicht einfach nur im notwendigen Gehorsam ge­ genüber seinem Befehl143. Das Beispiel vom Pferd ihres Ehemannes zeigt zumindest, dass sie zu dessen Tötung erst gezwungen werden muss. Else scheint also, anders als Gertrud, bis zuletzt auf ihrem Eigenwillen zu be­ harren und diesen, wo immer es ihr möglich ist, durchzusetzen versuchen. 4. Die Motivation der Frauen

Im Vorhergehenden klang bereits mehrfach an, dass Gertrud und Else aus völlig unterschiedlichen Gründen zu ihrer Liebschaft mit einem überirdi­ schen Gefährten kommen. Gertrud treibt die Frage nach ihrem Seelenheil um. Aus der Erkenntnis heraus, dass sie sich aus eigener Kraft die Krone des ewigen Lebens nicht erwerben kann, sondern angewiesen ist auf das 142 Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 1, 1,13-16, S. 228: „destruere nitebaris turrim vanitatis et curialitatis meae, in quam superbia mea excreverat, quamvis heu! inaniter nomen et vestem Religionis gestarem“. 143 Aus dem Geständnis der Mitangeklagten Anna Schneider wird an einem Punkt er­ sichtlich, dass diese den Wunsch, Böses zu tun, nicht verinnerlicht hat und sich umge­ kehrt sogar zur Anwältin der Schwachen und ungerecht Behandelten berufen fühlt, zu deren Gunsten sie unter Zuhilfenahme ihrer Hexenkräfte Rache übt: „Item, alls der alt Fritz Steinmetz noch alhie uf seinem Hofe gewont, hab ime ir Magd in der Ämdt schnei­ den lassen, und als die Magd den Schnitterlohn gefordert, habe er ir in 5 d abgebrochen. Deßwegen sy über in erzürnet und bey Nacht ine, Frickhen, am Beth hart getruckht.“ Su­ genheimer Urgichten (wie Anm. 2), 1, 16, S. 395.

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Erbarmen und die Mitwirkung Christi, nimmt sie dessen Gnadenangebot dankbar und voller Vertrauen an. Else dagegen ist mit weit schlichteren und irdischeren Fragen und Problemen beschäftigt. Sie ist erfüllt vom Wunsch nach Geld und materiellen Gütern, um ein weniger hartes, sorgen­ freieres Leben führen zu können. Für dieses Ziel ist sie sogar bereit, ihren Körper zur käuflichen Liebe anzubieten. Beides, sowohl ihr Wunsch nach Geld als auch ihr daraus resultierender unsittlicher Lebenswandel, lassen sie nahtlos in die Fänge des Teufels geraten. Auch wenn sie die Gemein­ schaft mit diesem nicht bewusst gesucht hat, haben ihre Haltung und ihr Verhalten sein Kommen aus zeitgenössischer Sicht geradezu provoziert. Denn gerade weil sie ihr Herz an nichtige und trügerische Werte bindet und damit ihr gesamtes Leben verkehrt ausrichtet, hat der Teufel ein so leichtes Spiel mit ihr. 5. Die soziale Dimension der Beziehung

Für Gertrud ist Christus der alleinige Heilsmittler, auf ihn richtet sich des­ halb ihr ganzer Fokus. Dritte können Christus in dieser Funktion weder ersetzen noch ergänzen; sie können aber durch ihre Fürbitte Christi gnä­ dige Zuwendung für Gertrud erflehen helfen. So dankt Gertrud Christus ausdrücklich dafür, dass er ihr die Fürsprache Mariens144 und der Engel ge­ währt hat145. Auch lebende Personen schließen Gertrud auf deren Wunsch hin manchmal in ihr Gebet mit ein146. In der Regel bevorzugt Gertrud aber den direkten Weg zu Christus, indem sie sich ohne den Umweg über Dritte direkt an ihn wendet. Umgekehrt gilt in der Frage, was Gertrud für ihre Mitmenschen bedeuten kann, dasselbe: Gertrud kann für diese nicht an Christi Statt als Heilsmittlerin fungieren, aber sie kann andere zu Christus hinführen, indem sie diese beispielsweise in ihr fürbittendes Gebet auf­ nimmt147. Auch die Niederschrift des ,Legatus4 kann als Versuch Gertruds 144 Gertrud Jeron Lewis hat nachgewiesen, dass auch Maria für Gertrud von Helfta nicht die Rolle einer mediatrix, sondern nur einer mediatrix mediatoris (Mittlerin des Mittlers) bzw. einer interventrix (Fürsprecherin) spielt. Aufgrund der Inkarnation nimmt Maria zwar eine wichtige Funktion im göttlichen Heilsplan ein, aber Maria wird dadurch nicht vergöttlicht, sondern durch die Gnade Gottes zum voll verwirklichten Menschen. Vgl. Gertrud Jaron Lewis: Maria im mystischen Werk Gertruds von Helfta, in: Ban­ gert und Keul: Schale meiner Sehnsucht (wie Anm. 128), S. 81-94, besonders S. 82-84 und 92. 145 Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 23, 20,lf., S. 346: „mihi suffragia gloriosae Matris tuae, beatissimorumque Spirituum dignatus es praebere“. 146 Vgl. beispielsweise die Person, die in Gertruds Auftrag täglich vor einem Kruzifix für sie beten soll; vgl. oben S. 300 mit Anm. 37. 147 Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 20, 7,1-7; S. 314: „His, ex incontinentia liberalitatis tuae, benigne Deus, superaddidisti, quod si quis post obitum meum intelligens quod parvitati meae dignantius fuerit familiaritas tua in vita mea accii-

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verstanden werden, anderen die Liebe Christi nahe zu bringen; in diesem Sinn will ja der Titel der Schrift gelesen werden148. Gertruds Bezug zu ih­ rer sozialen Umwelt bleibt somit immer christusbezogen: Entweder wird sie durch andere auf Christus verwiesen oder sie verweist umgekehrt an­ dere auf Christus. Stets bleibt jedoch Christus der Mittelpunkt, auf den hin alles zuläuft. Elses Beziehungen zu ihrer sozialen Umwelt sind anders strukturiert. Zwar wird auch Else durch eine Dritte, nämlich ihre Base, an den Teufel verwiesen - man könnte hier sogar von einer Mittlerschaft sprechen, denn Barbara Beller vermittelt das Treffen ja im wörtlichen Sinn -, umgekehrt wird von Else aber nicht berichtet, dass sie andere Personen dem Teufel zuführt149. Zudem kann man auch nicht sagen, dass für die Sugenheimer Hexen der Teufel den innersten Kern der Hexenverschwörung bildet, da dort ja viele Teufel am Werk sind. Jeder Hexe wird ihr persönlicher Buhl­ teufel zugeteilt, der in den meisten Fällen sogar einen eigenen Namen trägt. Wie diese Teufel einander zugeordnet sind, ob sie beispielsweise in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, ist den Verhörproto­ kollen nicht zu entnehmen. Diese Teufel bilden insgesamt ein eher diffuses Zentrum, von dem aus die Bewegung über die einzelnen Hexen hinaus in die Welt geht. Indem die Teufel jeweils ,ihre‘ Hexe zum Schadenszauber anstiften, verursachen sie Hagelschläge, Frostschäden, Krankheiten oder andere Katastrophen, die mehr oder weniger die gesamte Dorfgemein­ schaft betreffen150. Durch diese äußerlich sichtbaren Schadensfälle werden zahlreiche Außenstehende unmittelbar in die Beziehung Hexe - Teufel in­ volviert bzw. mit den Folgen dieser Beziehung konfrontiert. Das Hexenun­ wesen darf daher niemandem gleichgültig sein, denn jeder kann schneller als gedacht von seinen Auswirkungen betroffen sein.

nata et ob hoc vellet se orationibus meis licet indignis humiliter commendasse, illum procul dubio velles tam dignanter exaudire sicut per alicujus preces velles aliquem exau­ dire“. 148 Vgl. oben S. 296, Anm. 18. 149 Dieser Aspekt, der in Hexenprozessakten aus anderen Gebieten oft eine bedeu­ tende Rolle spielt, fehlt in den Sugenheimer Akten größtenteils. Die Besagungen funktio­ nieren hier so, dass die Angeklagten lediglich die Namen der am Schadenszauber oder an den Hexenversammlungen Beteiligten nennen. 150 Traudl Kleefeld hat herausgearbeitet, dass in Sugenheim fast die Halte der Bevöl­ kerung in die Hexenprozesse involviert war, da, statistisch gesehen, entweder ein Fami­ lienmitglied mit der Anklage belastet war oder umgekehrt als geschädigte Person zu gel­ ten hatte. Vgl. Kleefeld: Hexenprozesse (wie Anm. 84), S. 373.

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6. Individualität versus Stereotyp

Ein letzter, ganz wesentlicher Unterschied zwischen der Teufelsbeziehung Elses und der Christusbeziehung Gertruds liegt in der Frage, inwieweit es sich jeweils um ein eher individuelles, singuläres oder umgekehrt um ein eher ,typisches1, verallgemeinerbares Erleben handelt. Gertruds Erfahrun­ gen sind - wie alle mystischen Erfahrungen, nur insofern sind sie auch Typisch1! - höchst individuell. Was sie erleben darf, wird in dieser Weise nur ihr zuteil. Sie ist die besonders Erwählte, die bevorzugte sponsa Chris­ ti, die von ihrem Bräutigam mit ganz besonderen Gnadengaben ausge­ zeichnet wird. Andere Mystikerinnen mögen zwar eine ähnlich intensive Nähe zu Christus erfahren, in welcher Form sich diese aber realisiert, darin unterscheiden sich die Erfahrungsberichte nicht unwesentlich151. Elses Er­ fahrungen mit ihrem Teufel wirken dagegen, vergleicht man sie mit an­ deren Hexenurgichten, in vielfacher Weise wiederhol- und austauschbar. So wie sie im Sugenheim des Jahres 1596 nicht die einzige Hexe, sondern ,nur‘ eine von zwölfen ist, so teilt sie mit diesen zum großen Teil auch die­ selben Erfahrungen. Ebenso wie den anderen drei Frauen, die zeitgleich mit ihr hingerichtet werden, wird ihr ein Buhlteufel zugeteilt, mit dem sie regelmäßig Geschlechtsverkehr hat; wie ihre Mitangeklagten bekennt sie, dass sie zusammen mit ihren Gespielinnen auf einem mit Salbe beschmier­ ten Besen zu Hexenversammlungen fliegt, bei denen gegessen, getrunken, getanzt und gelacht wird; und wie diese übt sie eine ganze Reihe von Scha­ denszauber aus. Die Analogien gehen so weit, dass nicht nur in der Sache, sondern teilweise sogar im Wortlaut Entsprechungen zu finden sind152. Das Verbrechen, dessen sich Else schuldig bekennt, ist gleichsam per defini-

151 Dies gilt auch für die sog. .Helftaer Mystik'. Bereits der Name ist irreführend, da er eine besonders intensive Verbreitung und Pflege mystischer Frömmigkeit innerhalb des dortigen Klosterlebens suggeriert. Tatsächlich scheint sie aber eher ein Randphäno­ men gewesen zu sein. Innerhalb von 20 Jahren erfuhren gerade einmal drei Nonnen mys­ tische Begnadungen. Zudem ist eine Rezeption der mystischen Texte innerhalb der Helf­ taer Schwesternbücher nicht nachweisbar; vgl. dazu Siegfried Ringler: Die Rezeption Gertruds von Helfta im Bereich süddeutscher Frauenklöster, in: Bangert und Keul: Schale meiner Sehnsucht (wie Anm. 128), S. 134-155. Darüber hinaus unterschieden sich die Mystikerinnen von Helfta in ihrer Spiritualität nicht unbeträchtlich voneinander. Dass dies nicht immer so wahrgenommen wurde, liegt nicht zuletzt daran, dass offensichtlich dieselbe Schwester, die Mitverfasserin des ,Liber specialis gratiae' Mechthilds von Hackeborn ist, auch die Bücher 1 und 3-5 von Gertruds ,Legatus' entscheidend mitge­ staltet und in vielerlei Hinsicht an Mechthilds Werk angepasst hat; vgl. RUH: Geschichte der abendländischen Mystik 2 (wie Anm. 17), S. 314-333. 152 Dabei ist natürlich in Rechnung zu stellen, dass diese möglicherweise nicht auf die Befragten selbst, sondern auf die Befrager, die den Angeklagten die Worte in den Mund legen, oder den Protokollführer, der die Aussagen mit seinen eigenen Worten zusammen­ fasst und niederschreibt, zurückzuführen sind. Vgl. oben S. 310.

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tionem ein Gemeinschaftsverbrechen, das von vielen Hexen und Teufeln zusammen ausgeübt wird. Es kann, ähnlich wie eine Krankheit, von Gene­ ration zu Generation weitervererbt werden153 und sich, bietet man ihm kei­ nen Einhalt, seuchenartig in der Bevölkerung ausbreiten. Die Tatsache, dass, wie in Sugenheim, Hexenverfolgungen oft wellenartig verlaufen sind, wobei in Hochphasen jeweils mehrere Prozesse parallel geführt werden, zeugt davon, dass Hexerei konstitutiv als ein Massenphänomen begriffen wurde. Auch wenn die Geständnisse der Verurteilten im Detail gewisse in­ dividuelle Besonderheiten aufweisen - so kommt beispielsweise nicht jede Hexe wie Else Rodamer durch Prostitution zur Hexerei -, so lassen sich doch grundlegende Überschneidungen feststellen, die so oder ähnlich in vielen Urgichten Vorkommen. Diese stereotypen Gemeinsamkeiten sind es auch, die es der neueren Hexenforschung möglich gemacht haben, eine re­ lativ enge Definition des frühneuzeitlichen Hexenverbrechens zu formulie­ ren, die heute als common sense gilt. Demnach wird unter Hexerei ein Ku­ mulativdelikt verstanden, das sich aus den einzelnen Elementen Teufels­ pakt, Teufelsbuhlschaft, Flug durch die Luft, Hexenversammlung und Schadenszauber zusammensetzt154. In der Mystikforschung dagegen wird die Frage, was unter ,Mystik1 eigentlich zu verstehen sei, trotz einer lan­ gen Forschungstradition bis heute noch lebhaft diskutiert155. Der Grund da­ für liegt nicht zuletzt darin, dass mystisches Erleben immer etwas Unver­ wechselbares und Persönliches ist, das sich aufgrund seiner Einmaligkeit nachträglichen Kategorisierungsversuchen zu entziehen sucht.

6. Schlussfolgerungen Der Vergleich zwischen der Christusbeziehung Gertruds von Helfta einer­ seits sowie der Teufelszugehörigkeit Else Rodamers andererseits hat neben parallelen Strukturen auch zahlreiche Unterschiede erkennen lassen. Wie ist dieser Befund zu werten angesichts der von Peter Dinzelbacher in die Diskussion gebrachten Thesen über den Zusammenhang von Heiligkeit und Hexerei? Drei auch ins Grundsätzliche zielende Überlegungen möchte

153 ln Sugenheim sind mindestens sieben Angeklagte miteinander verwandt (Familie Rodamer); darüber hinaus werden noch fünf Verwandte besagt, die entweder bereits ge­ storben sind oder anderswo leben. Vgl. Kleefeld: Hexenprozesse (wie Anm. 84), S. 369. 154 Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es durchaus unterschiedliche Ausprägungen und Variationen des Hexenbildes gab. Vgl. dazu Richard van Dülmen: Die Dienerin des Bösen. Zum Hexenbild in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Histori­ sche Forschung 18 (1991), H. 4, S. 385-398. 155 Vgl. z.B. den von Berndt Hamm in diesem Band neu in die Diskussion gebrachte Vorschlag; Hamm: Gott berühren, oben S. 111-137.

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ich an die anhand von Gertrud und Else gewonnenen Einsichten an­ schließen: 1. Welche der beiden Seiten fallt stärker ins Gewicht: das Analoge, Ver­ wechselbare oder das Trennende, Differenzierende? Oder, um Dinzelba­ chers These von der Uneindeutigkeit der Phänomene und der daraus resul­ tierenden doppelten Zuordnungsmöglichkeit aufzugreifen: War es auch für die jeweiligen Zeitgenossen von Gertrud und Else schwierig, die beiden Frauen eindeutig zu klassifizieren? Hätte Gertrud bei ihren Mitschwestern genauso gut in den Verdacht der Hexerei geraten können? Und wäre es umgekehrt möglich gewesen, dass Else Rodamer in Sugenheim als Mys­ tikerin verehrt worden wäre? Wohl kaum. Vor allem vier Gründe scheinen mir dafür ausschlaggebend zu sein: a) Gertrud und Else ähneln sich vor allem darin, dass sie über einen län­ geren Zeitraum hin eine auch körperliche Intimitäten einschließende Lie­ besbeziehung mit einem überirdischen Wesen führen. Doch abgesehen da­ von, dass es für die Zeitgenossen einen, um nicht zu sagen, den entschei­ denden Unterschied macht, ob der Partner in dieser Beziehung Christus oder der Teufel ist - weder Gertrud noch Else ziehen die Identität ihres Partners jemals in Zweifel15 so bildet auch der gesamte biographische Kontext der Frauen sowie die Art, wie sie die Beziehung im Einzelnen füh­ ren, einen Gesamtzusammenhang, der die von den Frauen behauptete Iden­ tität ihres Partners klar bestätigt und damit eine eindeutige Interpretation möglich macht. Dinzelbacher wählte in seiner Untersuchung dezidiert den Weg der historisch-religionsphänomenologischen Methode. Dieser Vorge­ hensweise ist geschuldet, dass einzelne Phänomene, wie etwa die Vision oder der Pakt, isoliert in den Blick genommen werden, ohne dass dabei grundsätzlich die Umstände der Genese, Überlieferung oder Intention der Quellen, der diese Phänomene entnommen sind, berücksichtigt werden156 157. Dadurch gelingt es zwar - und dies war es, was Dinzelbacher beabsichtig­ te „das Typische bestimmter religiöser Grundphänomene sichtbar zu machen“158; in gleichem Maß aber, wie der Zusammenhang, in den diese ursprünglich hineingehörten, methodisch bedingt ausgeblendet wird, steigt 156 Gertrud wird einmal von einem verachtenswerten Wesen („quidam despicabilis“) in Versuchung geführt. Sie besteht die Anfechtung, indem sie weiterhin ungebrochen auf Gott vertraut. Anschließend dankt sie ihrem Herrn dafür, dass er zur Übung in der Voll­ kommenheit dem Feind („hosti“) manchmal die Macht der Versuchung einräumt, gleich­ zeitig aber für diejenigen, die sich auf seinen Schutz verlassen, den Kampf selbst führt. Vgl. Gertrude: CEuvres spirituelles 2 (wie Anm. 1), II, 11, 2,1-15; 3,1-12; 4,1-7, S. 276, 278 und 280. Gertrud weiß also eindeutig zwischen Christus und dem „Feind“ zu unter­ scheiden. Von ihren Mitschwestern scheint diese Urteilsfähigkeit niemals in Zweifel ge­ zogen worden zu sein, zumindest überliefern die Quellen nichts dergleichen. 157 Vgl. Dinzelbacher: Heilige (wie Anm. 4), S. 153. 158 Ebd. S. 12.

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die Unsicherheit darüber, in welche Richtung sie zu interpretieren seien. Um es am Beispiel von Gertrud und Else zu illustrieren: Ob die Männer­ gestalt, die Gertrud am Beginn ihres mystischen Weges erscheint, tatsäch­ lich Christus ist oder nicht doch ein Dämon, der sie täuschen und betrügen will, ist ohne Kenntnis der näheren Umstände nicht zweifelsfrei zu beant­ worten. Berücksichtigt man aber, dass Gertrud auf diese Begegnung inner­ lich vorbereitet wird, indem ihr zuvor die Einsicht in die Sinn- und Nutzlo­ sigkeit ihres bisherigen, auf intellektuelle Erfolge ausgerichteten Strebens zuteil wird, dass ihr die falsche Grundausrichtung ihres alten Lebens also bewusst geworden und sie bereit ist für neue, heilsbringendere Wege, dann liegt es viel näher, die Männererscheinung auf Christus hin zu deuten und nicht auf einen trügerischen Dämon. Umgekehrt steht für Else Rodamer in dem Moment, als sie auf die Wiese geht, um sich mit einem unbekannten Fremden auf die käufliche Liebe einzulassen, kaum zu erwarten, dass die­ ser sich als Christus entpuppen wird. Der jeweilige Kontext macht das­ selbe Phänomen, in diesem Fall die Erscheinung eines überirdischen We­ sens in Männergestalt, also recht eindeutig. b) Zudem scheint es mir notwendig, nicht nur jeweils ein einzelnes Phä­ nomen, wie etwa die Männererscheinung, sondern, so weit möglich, die Gesamtheit aller Phänomene, die einer bestimmten Hexe bzw. einer be­ stimmten Mystikerin zuteil werden, für einen Vergleich heranzuziehen. Dadurch können sich erhellende Einsichten im Blick auf eine klare Zuord­ nung ergeben. Dinzelbacher betont in seiner Studie ausdrücklich sein se­ lektives Vorgehen, dass er nämlich nur auf diejenigen Verhaltensweisen sein Augenmerk richten wolle, bei denen Deckungsgleichheit gegeben sei; daneben gäbe es jedoch auch solche, die nur jeweils eine der beiden Grup­ pen prägen würden. Während sich die Hexen beispielsweise im Allgemei­ nen durch materielles Besitzstreben auszeichneten, ließen sich die Heiligen oft vom Ideal der Armut leiten. „Aber diese [= die nicht deckungsgleichen; H. M.] Bestandteile des jeweiligen ,Idealtyps1 sind nicht Gegenstand unse­ rer Darstellung, da sie ja (theoretisch) eine eindeutige Zuordnung zu einer der beiden Gruppen ermöglichten“159. Das ist der springende Punkt! An­ hand von Gertrud und Else ließ sich zeigen, dass die abweichenden Phä­ nomene genauso zum Gesamtbild der jeweiligen Frau gehören wie die­ jenigen, die sich überlappen, und erstere für die Interpretation der letzteren enorm aussagekräftig sein können. So bildet Elses Streben nach Geld bei­ spielsweise die Ursache dafür, dass sie sich überhaupt auf den unbekann­ ten Fremden einlässt. Diese - aus zeitgenössischer Sicht - verurteilenswerte Motivation bildet ganz klar ein weiteres Glied in der Kette der Indizien, dass es sich bei Elses überirdischem Gefährten im Zweifelsfall nur um den Teufel handeln kann. Blendet man solche zusätzlichen Hinweise jedoch 159

Ebd. S. 153.

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bewusst aus, ist klar, dass man schnell den Eindruck gewinnen kann, die Zeitgenossen müssten in der Interpretation der Phänomene unsicher gewe­ sen sein. c) Doch selbst wenn man nur ein einzelnes Phänomen einer verglei­ chenden Betrachtung unterzieht, können sich gravierende Unterschiede er­ geben. Gertruds Unio-Erfahrungen unterscheiden sich deutlich von den­ jenigen Elses mit der Buhlschaft. Beiden gemeinsam ist lediglich die Tat­ sache, dass eine intime, körperliche Nähe zu einem jenseitigen Wesen er­ lebt wird. Doch hinsichtlich der Art und Weise, in der sich diese vollzieht, sowie bezüglich der Empfindungen, die bei den Frauen dadurch jeweils ausgelöst werden, endet jede Vergleichbarkeit. Die Differenz kommt auch sprachlich zum Ausdruck: Weder hätte Gertrud jemals davon reden kön­ nen, dass Christus „seinen Willen mit ihr vollbracht“ habe, noch hätte Else von einer „süßen und beseligenden Vereinigung“ mit dem Schwellner Teu­ fel berichten können; beides hätte das Geschehen nicht angemessen wie­ dergegeben. Auch in der Frage, was die Unio bzw. die Buhlschaft für die beiden Frauen jeweils bedeutet, fallen die Antworten recht unterschiedlich aus. Bei einer rein historisch-religionsphänomenologischen Betrachtungs­ weise kann dies jedoch nur bedingt ins Blickfeld geraten. Auf diese Weise können im Nachhinein Unsicherheiten in der Interpretation des Phänomens entstehen, die für die Zeitgenossen noch kein Problem darstellten. d) Nimmt man einmal den hypothetischen Fall an, dass Gertruds Mit­ schwestern oder ihr Beichtvater ernsthafte Zweifel an der Herkunft ihrer Erscheinungen, Visionen und Auditionen gehabt und sie den Einfluss eines Dämons oder Teufels vermutet hätten, dann hätten sie Gertrud wohl trotz­ dem noch lange nicht der Hexerei verdächtigt. Man hätte sie für besessen halten oder in ihr eine Häretikerin sehen können, aber für eine Hexe fehl­ ten ihr noch weitere Verdachtsmomente: Dass sie etwa einen Bund mit dem Teufel geschlossen habe, dass sie an Hexenversammlungen teilnehme und dass sie Schadenszauber verübe. Umgekehrt wäre Else Rodamer, auch wenn man in ihrem Gefährten nicht den Teufel gesehen hätte, deswegen noch lange nicht als potentielle mystische Heilige ins Gespräch gekom­ men. Soweit wir dies heute noch rekonstruieren können, fällt Else in reli­ giöser Hinsicht kaum auf. Alles, was wir diesbezüglich über sie wissen, ist, dass sie regelmäßig den Gottesdienst besucht und das Abendmahl emp­ fängt; sie zeigt also ein eher unauffälliges, konformes Verhalten. Insge­ samt scheint Else jegliche religiöse Motivation zu fehlen. Für ihre Zeitge­ nossen besteht deshalb nicht der entfernteste Anlass, sie in irgendeiner Weise mit mystischer Heiligkeit in Verbindung zu bringen. Die Frage, die sich ihnen stellte, lautete vermutlich eher: Ist Else Rodamer eine Hexe oder nur eine ,normale1 Sünderin, die sich des Ehebruchs und anderer Ver­ gehen (z.B. des Weintrinkens, des Tanzens) schuldig gemacht hat?

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Darin, dass die gegensätzlichen Alternativen bei Gertrud von Helfta und Else Rodamer gerade nicht ,Mystische Heilige oder Hexe?‘ bzw. ,Hexe oder mystische Heilige?1 heißen, sind sie m.E. keine Einzelfalle. Dass Din­ zelbacher in seiner Studie so oft die für die Zeitgenossen bestehende Un­ sicherheit in der Interpretation der Phänomene konstatieren kann, liegt nicht zuletzt in seiner unscharfen Terminologie begründet. So unterschei­ det er auf der einen Seite ebenso wenig zwischen Heiligen und Mystikerin­ nen, wie er auf der anderen Seite zwischen Häretikerinnen und Hexen dif­ ferenziert. Dies mag in gewisser Weise methodisch bedingt sein, da Din­ zelbacher aufgrund seines historisch-religionsphänomenologischen An­ satzes ja nur mit einer rein formalen Bestimmung der Begriffe arbeiten kann160. In der Sache erweist es sich jedoch als wenig hilfreich, da klar voneinander zu unterscheidende Phänomene auf diese Weise unzulässig in eins gesetzt werden161. Kehrt man zu einer Begrifflichkeit zurück, die mys­ tische Heiligkeit als eine besondere Form von Heiligkeit und Hexerei als einen Sonderfall von Häresie klassifiziert, dann lauteten die Interpreta­ tionsmöglichkeiten, zwischen denen die Zeitgenossen zu wählen hatten, in den meisten Fällen eher: Mystische Heilige oder Häretikerin?162 Sie laute­ 160 Vgl. oben S. 291f. 161 So ist es beispielsweise eher irre- als weiterführend, wenn Dinzelbacher Margery Kempe als Beispiel für eine Frau heranzieht, bei der sich die Zeitgenossen unklar darüber sind, ob sie eine Heilige oder eine Hexe sei. Wodurch Margery vor allem Verwunderung und Bestürzung auslöst, ist ihre - für eine verheiratete Frau damals unangemessene weiße Kleidung und ihre immens ausgeprägte Tränengabe, deren Herkunft man sich nicht so recht erklären kann. Sie gerät dadurch in den Verdacht, eine Häretikerin, eine Besesse­ ne, eine Lollardin oder eine Jüdin zu sein; der Vorwurf der Hexerei fehlt jedoch bezeich­ nenderweise. Vgl. Dinzelbacher: Heilige (wie Anm. 4), S. 15-20. Bei sorgfältiger Un­ terscheidung der verschiedenen Formen von Ketzerei würden wahrscheinlich auch viele andere von Dinzelbacher aufgeführten Fälle, bei denen sich die Zeitgenossen in der Zu­ ordnung angeblich nicht sicher waren, einer genaueren Prüfung nicht Stand halten. 162 Zu dieser Kategorie kann man beispielsweise Dorothea von Montau rechnen, der 1391 in Danzig die Verbrennung angedroht wird, da sie angeblich im Glauben irre. Doro­ thea ist aufgrund ihres unkonventionellen Frömmigkeitsstils auffällig geworden: Oft kann sie sich bei der Elevation der Hostie vor lauter Fülle der Empfindungen nicht erhe­ ben. sie fällt häufig in Ekstase, ist so voller göttlicher Süßigkeit, dass sie sich entweder wie eine Trunkene gebärdet oder ohnmächtig zu sein bzw. zu schlafen scheint. In visio­ nären Schauungen erfährt sie Dinge, die Menschen ganz unbekannt sind. Das Misstrauen, das sie dadurch bei Heinrich von Stein, dem Offizial der Diözese Leslau, und dem Pfarrer von St. Martin in Danzig erregt, ist so groß, dass diese sie hingerichtet sehen wollen. Dorothea hält ihrem göttlichen Bräutigam jedoch die Treue und ist sogar bereit, um sei­ netwillen den Scheiterhaufen zu ertragen. Dazu kommt es jedoch - nicht zuletzt aufgrund des Einsatzes von Dorotheas Beichtvater Johannes Marienwerder - nicht; vgl. Dinzelba­ cher: Heilige (wie Anm. 4), S. 23-25. Keiner der Vorwürfe, die gegen Dorothea erhoben werden, ist charakteristisch für das Hexenverbrechen. Schon die nach außen hin offen praktizierte, betont christlich-religiöse Lebensweise Dorotheas, ihre Pilgerreise nach

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ten vermutlich nur sehr selten: Mystische Heilige oder Hexe? Zudem er­ scheint es als unwahrscheinlich, dass die Fragerichtung beliebig umgedreht werden konnte, dass sich also auch die Frage: Hexe oder mystische Hei­ lige?163 in einer großen Zahl der Fälle ergeben hat. Wer in den Verdacht der Hexerei geraten war, konnte froh sein, wenn er diesen entkräften und dem Automatismus des juristischen Verfahrens entgehen konnte; dass er bzw. sie statt dessen sogar den Ruf der Heiligkeit erwerben konnte, stand wohl kaum im Bereich des Möglichen164. Rom 1389 und ihr Leben als Reklusin am Dom in Marienwerder seit 1393, ist für eine Hexe keine klassische Form der ,Tarnung'. Dass Dorothea die Verbrennung, die traditio­ nelle Todesstrafe für Hexen, angedroht wird, reicht als Beleg dafür, dass man sie für eine Unholdin hielt, nicht aus. Sämtliche Formen der Ketzerei, nicht nur die Hexerei, wurden mit der Verbrennung geahndet. 163 Vor diese Alternative stellt Chiara Signorini 1519 in Modena ihre Ankläger, die ihr vorwerfen, anderen Leuten Krankheiten angehext zu haben. Chiara bestreitet dies nicht, führt ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten jedoch nicht auf die Macht des Teufels, sondern auf die Hilfe Marias zurück. Durch ihre eigenen sowie die Gebete ihrer Kinder sei sie so eng mit Maria verbunden, dass diese ihr oft erscheine und all ihre Bitten er­ fülle, sogar, wenn sie jemanden bestrafen wolle. Das Gericht sieht in all dem jedoch nur Vorspiegelungen des Satans; unter der Folter gesteht Chiara schließlich, dass sie doch den Teufel angebetet und dieser auch die Malefizien ausgeführt habe; die Teufelsbuhl­ schaft und den Besuch der Hexenversammlung streitet Chiara aber weiterhin ab. Vgl. Pe­ ter Dinzelbacher: Echte und falsche Mystik aus historischer Sicht, in: Dieter Fauth und Daniela Müller (Hg.): Religiöse Devianz in christlich geprägten Gesellschaften. Vom hohen Mittelalter bis zur Frühaufklärung. Würzburg 1999, S. 45-68: hier S. 5 lf.; ders.: Heilige (wie Anm. 4), S. 234-236. Chiara kann als ein Beispiel für eine der Hexerei Be­ schuldigte gelten, die ihren Anklägern nicht nur ihre Unschuld beteuert, sondern darüber hinaus sogar eine besondere Nähe zur Jungfrau Maria für sich reklamiert, deren Heilig­ keit auf sie selbst zurückfallen soll. Ob Chiara deswegen allerdings schon als Mystikerin einzuordnen ist, scheint fraglich. Abgesehen davon, dass Maria ganz an die Stelle Christi tritt, liegt für Chiara das Segensreiche an ihrer engen Verbindung zur Jungfrau offen­ sichtlich nicht in einer wie auch immer gearteten Unio, sondern in Marias Fähigkeit, Rache an unliebsamen Zeitgenossen zu üben. Maria gerät hier ein wenig in die Rolle einer guten Fee, die alle - auch die unfrommen - irdischen Wünsche dienstfertig erfüllt. Mit Mystik hat dies nicht mehr viel gemein. 164 Dies gilt namentlich für die große Zahl der von Verfolgungswellen betroffenen Personen. Die häufigsten Formen der Anzeige waren hier das durch Zeugenaussagen be­ legte Gerücht und die Besagung durch geständige Hexen. Vor allem letztere bildete eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich die Hexenprozesse zu Massenprozessen auswei­ ten konnten (im Unterschied zu den auf Einzelfalle beschränkten Zaubereiprozessen frü­ herer Jahrhunderte); vgl. Schormann: Hexenprozesse (wie Anm. 14), S. 48-52. Wer von bereits inhaftierten Hexen besagt wurde, war in den Augen der Inquisitoren ganz klar ne­ gativ disqualifiziert; es lagen ja bereits entsprechende ,Zeugenaussagen' für eine Beteili­ gung am Hexensabbath oder eine Mitwirkung beim Schadenszauber vor. Unter diesen Umständen konnte die Frage bestenfalls lauten: Hexe oder nicht Hexe? Heiligkeit stand als Alternative kaum zur Disposition. Zudem zeigen diese Fälle, dass die Inquisitoren in der Interpretation paranormaler Phänomene häufig keineswegs unsicher waren. Aufgrund

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2. Lassen sich aus dem Beispiel von Gertrud und Else auch Einsichten bezüglich der von Dinzelbacher behaupteten, vom 13. bis zum 18. Jahr­ hundert andauernden „Sensibilisierung für charismatische, paranormale, magische Verhaltensweisen“165 gewinnen? Der wichtigste Vergleichspunkt zwischen Gertrud und Else liegt in der auch körperlich erfahrenen Beziehung zu einem überirdischen männlichen Wesen, wobei die engste Form der Zusammengehörigkeit einerseits als Unio mystica, andererseits als Teufelsbuhlschaft erlebt wird. Beide Phäno­ mene sind, in modernen Kategorien gesprochen, paranormale Erfahrungen. Für Gertrud bildet die Unio den intensivsten und wichtigsten Moment ihrer religiösen Heilssuche. Else dagegen kommt eher auf Umwegen und ohne eine anfängliche religiöse Motivation zur Teufelsbuhlschaft. Sie ist nicht auf der Suche nach ihrem ewigen Seelenheil, sondern kämpft mit den schwierigen Bedingungen ihres harten Lebensalltages, den sie unter Ein­ satz auch äußerster Mittel verbessern will. Was sie daraufhin an konkreten Taten folgen lässt, gerät dann sehr schnell in einen Gesamtzusammenhang, der von ihren Zeitgenossen (und vielleicht auch von Else selbst) religiös interpretiert wird: Else sei von Gott abgefallen und habe sich stattdessen (auch geschlechtlich) mit dem Teufel eingelassen. Wodurch Else bei ihren Zeitgenossen zunächst Aufmerksamkeit erregt, ist also nicht ein norm­ abweichendes Verhalten im religiösen Bereich, sondern eher ein norm­ abweichendes Verhalten im sozialen Bereich (Prostitution), das erst im Nachhinein religiös überhöht bzw. mit magischen, ,paranormalen1 Fähig­ keiten und Verhaltensweisen erklärt wird. In einer gewissen Weise ist diese nachträgliche Zuschreibung für das Hexenverbrechen typisch und geradezu notwendig, denn es zeichnet sich ja ausdrücklich durch sein heimliches, nur im Verborgenen stattfmdendes Wirken aus. ,Normale1 Menschen können Hexen eben nicht dabei Zusehen, wie sie einen Teufels­ bund schließen oder mit dem Teufel buhlen; sie können sie nicht beim Flug durch die Luft, bei der Hexenversammlung oder beim Ausfuhren von Schadenszauber beobachten. Was Außenstehende wahrnehmen, sind ledig­ lich die Wirkungen dieser Taten, insbesondere des Schadenszaubers. So kann Else beispielsweise nicht in flagranti beim Abkehren der Apfelblüten ertappt werden; daran, dass die Apfelblüte in einem bestimmten Jahr aus­ bleibt, kann aber auf ihr entsprechendes Tun als Hexe geschlossen werden. Die Sensibilisierung für Magisches, Paranormales ist daher, so meine ich, beim Hexenverbrechen im Vergleich zur Mystik sogar auf zweifache Wei­ se gesteigert. Zum einen durch die stattfindende Entsakralisierung: Das Wirken paranormaler Kräfte wird nicht mehr nur in einem genuin reli­ der Besagungen stand das Meinungsurteil nicht selten schon vor der direkten Konfronta­ tion mit den Angeklagten fest. 165 Vgl. oben S. 292.

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giösen Zusammenhang (z.B. angesichts der bräutlichen Liebe einer Nonne zu Christus) vermutet, sondern in nahezu allen Lebensbereichen. Hexen treiben ihr Unwesen überall, und so muss man auch überall mit ihnen rechnen: Im eigenen Ehebett, wo sie dem Ehemann die Potenz rauben166, im Stall des Nachbarn, wo die Kuh plötzlich keine Milch mehr gibt167, draußen im Feld, wo die Früchte verderben168, aber eben auch im Gottesdienst, den die Hexen zur Tarnung besuchen. Zum zweiten ist auch eine .Demokratisierung4 oder Popularisierung zu beobachten: Nicht nur den Personen, die im religiösen Bereich durch ihr normabweichendes Ver­ halten auffallen, werden paranormale Fähigkeiten zugeschrieben. Auch bei Menschen, die wie Else in anderer Hinsicht, z.B. in sozialer, aus dem Rahmen des Üblichen fallen, wird mit solchen Fertigkeiten gerechnet. Vor allem aber - und das ist das Neue an den Hexen - wird bei Personen das Wirken heimlicher magischer Kräfte als Interpretationskategorie bemüht, die nach außen hin völlig unauffällig sind. Es stehen nicht allein Heile­ rinnen, Kräuterweiblein oder Hebammen unter Generalverdacht169, sondern Leute wie du und ich, die ein scheinbar normales, harmloses Leben führen, sind grundsätzlich fragwürdig geworden; nie kann man sich restlos sicher sein, ob sie in Wahrheit nicht doch ein verborgenes Hexenleben führen. Dabei verläuft der Demokratisierungsschub in zwei Richtungen: So wie jede/-r, ohne es zu wünschen oder wenigstens zu wissen, von Hexerei ge­ schädigt werden kann, so kann umgekehrt auch jede/-r, ohne dass andere dies merken, selbst zur Hexe werden. Magie wirkt potentiell in allem, ge­ gen alle und in allen. Dass die Zeitgenossen dieser zunehmend als be­ drohlich empfundenen Entwicklung nicht nur sehr sensibel, sondern auch wachsam und kampfbereit gegenüberstanden, zeigt die in Deutschland im 16. Jahrhundert einsetzende und bis ins 18. Jahrhundert andauernde He­ xenverfolgung auf erschreckende Weise. 3. In welchem Verhältnis stehen Hexenstereotyp und mystisches Erle­ ben auf lange Sicht zueinander? Beeinflussen sie sich wechselseitig in der 166 Dies bekennt Agnes Sack, die damit ihren Ehemann strafen will, weil sie ihn im Verdacht hat, „als solte er an der Magd hangen“. Sugenheimer Urgichten (wie Anm. 2), I, 23, S. 398. 167 Vgl. beispielsweise Else Rodamers Aussage, sie habe „ettlichen Leütten die Küe außgemolcken und die Milch in einem liderin Secklein ambeimbs [sic!] gefuert“; ebd. 1, 10, S. 392. 168 Anna Schneider bekennt, dass, „wann das Trudenwerckh nicht so gar gros und überhand genommen hette, würde Wein und Korn und anders der Überfluß und gnug sein“. Ebd. 1, 26, S. 400. 169 Dass diese Gruppen von Frauen überproportional von Hexenprozessen betroffen waren, lässt sich historisch nicht nachweisen. Vgl. dazu beispielsweise Rita VOLTMER: Hebammen, Heilerinnen und Hexen, in: Incubi Succubi. Hexen und ihre Henker bis heute. Ein historisches Lesebuch zur Ausstellung. Luxemburg 2000, S. 105-117.

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Entwicklung ihrer Vorstellungswelten? Bilden sie langfristig Gegensatz­ paare aus, denen, wie Dinzelbacher es formulierte, „ein und dasselbe reli­ giös vom Durchschnitt abweichende Verhalten, namentlich paranormales Verhalten,“ zugrunde liegt, sodass es „vom Zufall der jeweiligen lokalen Gegebenheiten“170 abhing, in welche Richtung es interpretiert wurde? Innerhalb der Mystik verstärkt sich seit dem 15. Jahrhundert eine Ten­ denz weg von einer durch außergewöhnliche Begnadungen gekennzeich­ neten Erlebnismystik hin zu einer schlichteren, in den Alltag problemlos integrierbaren Mystik, die die Nähe zu Gott vor allem in einer demütigen und gehorsamen Lebensweise zu erfahren sucht und die eigenen Bemü­ hungen auf die Betrachtung der Passion Christi sowie die Angleichung des eigenen Willens an den Willen Gottes konzentriert171. Visionen, Auditio­ nen, Ekstasen und ähnliche Phänomene sind zwar nicht grundsätzlich ver­ dächtig geworden, doch werden Frauen, denen diese zuteil werden, immer öfter einer Kontrollinstanz - in der Regel übernimmt diese Funktion der Beichtvater - unterstellt, die die Echtheit und Authentizität der Erlebnisse kritisch zu prüfen hat. Dabei wird nun zunehmend die Möglichkeit in Be­ tracht gezogen, dass der Ursprung der genannten Phänomene nicht gött­ licher, sondern teuflischer Natur sein könnte. Die discretio spirituum, die Unterscheidung der Geister, wird so zu einer drängenden Aufgabe, deren Lösung sich beispielsweise Johannes Gerson in seinen Traktaten ,De distinctione verarum visionum a falsis1 (1401) und ,De probatione spiri­ tuum4 (1415) annimmt. Seine Ansicht, dass nur ein Theologe mystische Erlebnisse richtig einzuschätzen und zu beurteilen weiß, auch wenn er selbst solche nicht aus eigener Erfahrung kennt, wird schließlich auf dem V. Laterankonzil 1519 insofern festgeschrieben, als von nun an alle Visio­ nen und Prophezeiungen der Autorität der Kirche in Gestalt des Papstes bzw. der Bischöfe zu unterwerfen sind172. In der Folgezeit nimmt die Skep­ sis gegenüber erlebnismystischen Offenbarungen weiter zu; das neue Mo­ dell von Heiligkeit, das sich mehr auf moralische Tugenden denn auf außergewöhnliche Begnadungen gründet, gewinnt im 16. und 17. Jahrhun­ dert schließlich endgültig die Oberhand173. Das zeitliche Zusammenfallen von aufkommender Hexenverfolgung und dem Zurückdrängen erlebnismystischer Phänomene ist gewiss kein Zufall. Jedoch scheint die von Dinzelbacher vorgetragene These, dass der „beginnende Hexenwahn“ zur Verwerfung des mystischen Heiligkeitsmo­ 170 Dinzelbacher: Echte und falsche Mystik (wie Anm. 163), S. 65. 171 Vgl. oben die Beiträge von Hamm: Gott berühren, S. 112f. und Steinke, S. 162f. 172 Vgl. Dinzelbacher: Echte und falsche Mystik (wie Anm. 163), S. 57f. 173 Einen guten Überblick über die Entwicklung der - immer rigidere Formen anneh­ menden - Prüfungsstrategien gegenüber fragwürdigen Heiligen gibt Dinzelbacher ebd. S. 57-64.

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dells führte und folglich „dieselben paranormalen Phänomene einmal als Zeichen göttlicher Begnadung, dann als Zeichen dämonischer Obsession und eines Teufelspaktes interpretiert“174 wurden, zu kurz zu greifen. Rich­ tig daran ist sicher, dass mit dem Siegeszug der frühneuzeitlichen Hexen­ vorstellung, die den Unholden magische, in allen Lebensbereichen wirken­ de und den Mitmenschen zum Nachteil gereichende Fähigkeiten und Kräf­ te zuschrieb, der gesamte Bereich des ,Paranormalen1 zunehmend suspekt wurde, auch da, wo er zunächst positiv besetzt bzw. nicht mit schädigen­ den Wirkungen verbunden war. Der Teufel, der, wie man glaubte, zusam­ men mit den Hexen überall sein Unwesen trieb, wurde immer stärker auch in genuin christlich-religiösen Kontexten als heimliche Triebkraft vermu­ tet, sodass man ihn unter anderem auch im vermeintlich frommen Gebaren mystisch begabter Frauen zu erkennen können meinte. Dass der Teufel und nicht Gott der eigentliche Ursprung ihrer außergewöhnlichen Erfahrungen sei, wurde so zu einer immer häufiger in Betracht gezogenen Deutungs­ möglichkeit175. Dennoch meine ich im Unterschied zu Dinzelbacher, dass es nicht dieselben Phänomene sind, die innerhalb der Mystik zunächst so hoch geschätzt, während der Hexenverfolgungen dann so verpönt und pa­ rallel dazu in der Mystik allmählich zurückgedrängt wurden. Wie sich am Beispiel von Gertrud von Helfta und Else Rodamer zeigen ließ, gibt es zwar eine Reihe analoger Strukturelemente zwischen Hexenvorstellung und mystischem Erleben, doch bilden diese nicht einfach nur jeweils eine positive und eine negative Variante desselben Grundphänomens. Innerhalb

174 Ebd. S. 66. 175 Dass Erlebnismystik seit dem 15. Jahrhundert zunehmend skeptisch gesehen wird, heißt übrigens nicht unbedingt, dass das Interesse an ihr nachlässt. Siegfried Ringler hat am Beispiel Gertruds von Helfta nachgewiesen, dass die Rezeption ihrer Werke, abge­ sehen von der ersten Generation in Helfta, die die Überlieferung entscheidend mitprägt, erst hundert Jahre nach ihrem Tod zum entscheidenden Durchbruch kommt. „Die Breitenwirkung Gertruds setzte erst im 16. Jahrhundert ein. Wenn sie als Mystikerin heute bekannt ist und sogar zur Ehre der Altäre gelangte, dann verdankt sie das nicht ihren Nachfahren in ihrem Kloster, sondern den großen Seelsorgern der Gegenreforma­ tion, besser: der katholischen Erneuerung des 16. Jahrhunderts, und dann vor allem den Spaniern und Franzosen des 16. und 17. Jahrhunderts.“ Ringler: Die Rezeption Gertruds (wie Anm. 151), S. 139. Dass Gertrud ihre Aufwertung als anerkannte Mystikerin erst zu einer Zeit erfährt, als die Scheiterhaufen für Hexen bereits in großer Anzahl lodern, scheint bemerkenswert. Die Fragen, die sich dabei aufdrängen, hier aber nicht weiter verfolgt werden können, suchen nach einem möglichen Zusammenhang: Welche Aspekte im Werk Gertruds sind für die Nachwelt gerade zu dieser Zeit besonders interessant? Soll ihr mystischer Werdegang auch jetzt noch anderen als Vorbild dienen oder gilt das be­ reits als zu .gefährlich'? Wird erbaulichen Inhalten der Vorrang vor mystischen einge­ räumt, weil dies besser in das theologische und seelsorgerische Konzept der Zeit passt? Warum gerät Gertrud nachträglich nicht in den Verdacht, möglicherweise eine Hexe ge­ wesen zu sein?

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der Hexenvorstellung werden zwar zahlreiche Motive aus der Mystik auf­ genommen - wie der Hexenvorstellung überhaupt als Strukturschema die Verkehrung christlicher Gedanken, Riten und Gebräuche zugrunde liegt176-, doch werden diese, während sie ins Negative transponiert wer­ den, noch auf verschiedene andere Weisen transformiert und in neue Ge­ samtzusammenhänge gestellt. Elses Teufelsbuhlschaft ist nicht einfach das genaue Gegenteil von Gertruds Unio-Erfahrungen. Im Blick beispielsweise auf die Frage, was die Beziehung der Frau zum Teufel einerseits und zu Christus andererseits zentral kennzeichnet, werden voneinander abwei­ chende Antworten gegeben (Buhlschaft: purer Koitus; Unio: geistige, see­ lische, emotionale und körperliche Nähe, Liebe, Erotik, Hingabe); Buhl­ schaft und Unio haben für die Frauen nicht einfach nur eine gegen­ sätzliche, sondern eine jeweils anders geartete Bedeutung (Teufels­ buhlschaft: Preis, der für das Erlangen materieller Güter zu zahlen ist; Unio: erfüllende, unüberbietbare, heilsbringende Liebesbeziehung), und sie nehmen innerhalb des gesamten Vorstellungskomplexes verschiedene Funktionen ein (Buhlschaft: Unterwerfung der Frau, Ausbreitung des Reichs des Teufels in der Welt; Unio: kein über sich selbst hinaus­ weisender Zweck). Dass ein bestimmtes Phänomen wie die Vorstellung, eine intime Beziehung mit einem transzendenten Wesen zu führen, in sei­ ner ,negativen1 Ausformung andere Aspekte akzentuierte als in seiner po­ sitiven1 Variante und sich entsprechend auch auf andere Weise im Lebens­ wandel der betreffenden Frau manifestierte, war für die Zeitgenossen selbstverständlich und konnte von ihnen im konkret vorliegenden Einzel­ fall in der Regel auch ohne Schwierigkeiten nachgeprüft werden. Auch hierin liegt einer der Gründe, weshalb die Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte Person Symptome mystischer Heiligkeit oder hexerischer Teufelsbündlerei an den Tag legte, nicht einfach vom Zufall abhing, sondern aus zeitgenössischer Sicht nach klaren Kriterien und mit recht großer Si­ cherheit erfolgte. Dass viele der damals getroffenen Entscheidungen, be­ sonders die große Zahl der Todesurteile im Rahmen der Hexenprozesse, heute als fragwürdig und unrechtmäßig angesehen werden, steht dabei auf einem anderen Blatt.

176 Zu diesem Motiv der verkehrten Welt, das der Forschung seit langem bekannt ist, vgl. z.B. Ingrid Ahrendt-Schulte: Weise Frauen - böse Weiber. Die Geschichte der Hexen in der Frühen Neuzeit, Freiburg i. Br. 1994, S. 73f.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. dr. Christoph Burger Vrije Universiteit Amsterdam, Faculteit der Godgeleerdheid, Karner 14 A36, De Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam Privatdozent Dr. Sven Grosse Agnesstr. 43, D-80798 München

Prof. Dr. Berndt Hamm Universität Erlangen-Nürnberg, Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte, Kochstr. 6, D-91054 Erlangen Prof. Dr. Volker Leppin Universität Jena, Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Fürstengraben 6, D-07743 Jena Heidrun Munzert Universität Erlangen-Nürnberg, Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte, Kochstr. 6, D-91054 Erlangen

Dr. Barbara Steinke An den Weihern 11, D-91301 Forchheim Andreas Zecherle Westenstraße 115, D-85072 Eichstätt

Bibelstellenregister Genesis (Gen) 2,24 26,9 28 28,11 28,12f.

2,4 2,10 2,13 2,16 3,4 4,7 5,6 5,8

272A 100 100 133 143 102 117 272A

Jesaja (Jes) 56,1 65,19

296 275A

28,12-14a

258A 214A 250, 270 214A 249A, 250A, 255A, 269A, 273A 214A

Exodus (Ex) 9

249A, 255A

Ruth 3,7.9

267A

Klagelieder (Thr) 206A 4,20

Hiob (Hi) 14,4

202

Ezechiel (Ez) 16,8

267A

Matthäus (Mt) 7,14 7,37 23,37 26,50

272A 223 267A 65

Kohelet/Prediger (Koh) 227,229 9,1

Lukas (Lk) 2,16 23,24 23,43

304 65 274A

Hohelied (Cant) 1,1 1,2 1,3 1,10 1,12

Johannes (Joh) 1,6 1,12 1,51 3,8 5,1 ff.

209 263A 270 225 177f.

Psalmen (Ps) 7,2 17,12 35,9 41,8 63,8 71,2 102

296 215 297 204 267A 189,192 299

117A 143 164 215 212

346 6,44 10,7 11,1 14,1-4 14,1-14 14,6 14,23 15,2 17,20 20,17

Bibelstellenregister 214A 214A 211 255A 249A, 273A 214A.216, 273A 299 271A 248A 248A

Apostelgeschichte (Act) 15,9 215 20,24 206

Brief an die Römer (Röm) 232 1,1 249A 1,7 188f. 1,17 3,24.28 190f. 4,7 267A 5,2 215,228 5,2-4 258A 5,20 175 7,7ff. 175 7,22 43 8,14 68, 225 8,16 189, 192, 198, 227 8,30-32 256 8,32 258A 10,17 215 11,8 227

Erster Brief an die Korinther (1. Kor) 1,12 198 2,2 216,273A 6,17 135, 206A, 249 13,10 18,203A 13,12 127 15,49 227 15,54 251 15,57 252A

Zweiter Brief an die Korinther (2. Kor) 4,16 43A 5,7 215 12,2 169 12,10 272A

Brief an Galater (Gal) 1,4 194A 2,20 248 265A 4,7 5,6 228 5,18 225

Brief an die Epheser (Eph) 3,16 43 5 248A 5,29 258A 5,30 248, 256, 258A 5,31 247,256, 258A.271A 5,32 247, 256, 258A

Brief an die Philipper (Phil) 4,7 133A

Erster Brief an Timotheus (1. Tim) 1,15 205

Erster Brief des Johannes (Joh) 3,20 262A 4,7 270A 4,16 270A

Brief an die Hebräer (Hebr) 214 1,2 2,14 252A, 273A 3,7 270A 193 5,1 6,12 271A 249A 7,1 9,23 215A 9,24 193A, 213 11,6 193

Offenbarung des Johannes (Apk) 4,11-12 101 19,7 101 22,17 100

Personenregister Agricola, Johann 9-11 Altenstaig, Johannes 244A Angela von Foligno 120,130,243 Anselm von Canterbury 286 Aristoteles 105 Arndt, Johann 88, 279 Arnulf von Löwen 218 Augustinus 1, 40, 80, 140f., 146, 175f., 177, 179f„ 182, 187, 191, 199, 205, 209, 214A, 219, 233, 239, 250A, 281A

Bake, Alijt 109, 114A Beller, Barbara 307, 309, 311,320, 329 Bernhard von Clairvaux 112,118, 120f., 126A, 134, 143, 159, 166, 168, 171, 183, 189-194, 196-199, 202-204, 206, 208-211, 214L, 217f„ 227-229, 233-235, 239, 241, 243, 247, 255A, 263A, 276, 281A Bernhard von Waging 114 Biel, Gabriel lllf., 114A, 13 lf., 134, 181,241 A, 244A Boethius 80 Bonaventura 142A, 148, 196f, 214f, 255A, 281A Braun, Johannes 196 Birgitta von Schweden 114A, 149 Bruchese, Seguwit van 102

Dorothea von Montau 114A, 335f.

Ebner, Christine 149A Ebner, Margareta 144A, 149A Eckhart, Meister (Eckhart von Hochheim) 2, 6-8, 20, 22, 24-26, 28, 31f„ 34, 36, 40f„ 43-46, 48f„ 58,60, 65f„ 80-84, 88, 104, 111, 130, 132, 149, 167f, 180,218, 224A, 243, 245A, 286 Elisabeth von Schönau 149 Erasmus von Rotterdam 173

Falder-Pistoris, Georg 156 Franz von Assisi 120

Cajetan, Thomas de Vio 194-196 Cyrill von Alexandrien 263A

Gebhart, Kustos 3 Georg Friedrich, Markgraf von Brandenburg-Ansbach, 308A Gerard, Kartäuser in Herne 105 Gerson, Jean 106-108, 111-113, 133f. 142A, 196f, 204f, 207f„ 21 lf., 219, 226, 229, 241, 244A, 263A, 281A, 285, 339 Gertrud von Hackeborn 295 Gertrud (die Große) von Helfta 289f., 295-335, 337, 340f. Goldschmied, Christian 174 Gorchem, Griet van 103 Grevenstein, Johann 170, 191A Groß, Erhard 156 Grote, Geert 105

Damiani, Petrus 126A Dasing, Margaretha 309A Diana von Andalo 145A Diemar, Johannes 159 Dionysius Areopagita 24, 59, 80f., 108, 169, 196f, 204A, 207, 214-216, 230A, 233A, 243-245, 272f„ 286

Hadewijch von Antwerpen 103,130 Hartmann, Johannes 8, 72f. Hartmann von Aue 5A, 15A Hass, Georg 114A, 150f., 155 Hass, Heinrich 151A Heinrich von Bergen (Heinricus de Berge) 2f.

348

Personenregister

Heinrich von Nördlingen 144A Heinrich von Stein 335A Heinrich von St. Gallen 148 Herp, Hendrik 114A, 150-156, 163 Holtzapfel, Hans 319A Hugo von Balma 108 Johannes XII., Papst 180 Johannes vom Kreuz 130A Johannes von Zazenhausen 148 Johann Friedrich, Kurfürst von Sachsen 241A Jordaens, Willem 107 Jordan von Sachsen 145A Jordan von Quedlinburg 256A

Kannler, Konrad 7f., 72f. Karlstadt, Andreas Bodenstein von 195A, 279 Katharina von Bora 240A Katharina von Siena 246A Keget, Margaretha (geh. Zeller) 309A Kempe, Margery 292, 335A Kirchschlag, Peter 114A, 150f., 155 Krants, Johann (von Elchingen) 310 Lägeler, Johannes (Johannes de Francfordia) 3f. Lang, Johannes 278 Leo X., Papst 194 Ludwig III., Kurfürst von der Pfalz 3 Luther, Martin 1, 9-14, 83f., 88, 111, 130f„ 136, 165-179, 181-183, 185f„ 188-198, 200A, 202, 208, 212-218, 220-222, 224A, 226, 228f„ 231-235, 237-259, 261-286

Magdalena von Freiburg 115A, 158f. Mardach, Eberhard 147, 152f., 156 Margareta von Kenzingen 115A, 158f. Marienwerder, Johannes 335A Marquard von Lindau 148 Matthäus von Krakau 148 Mechthild von Hackeborn 149,295, 330A Mechthild von Magdeburg 130, 149A, 243 Medler, Nikolaus 213 Melanchthon, Philipp 190, 192L, 232 Merswin, Rulman 148

Meyer, Johannes 140,158 Müntzer, Thomas 279

Natin, Johannes 169 Nider, Johannes 147f., 158 Nikolaus von Dinkelsbühl 145A Nikolaus von Kues 108 Nikolaus von Nürnberg 144A

Ockham, Wilhelm von 180f. Origenes 263A Otmar, Silvan 14 Palamas 166 Petrus Lombardus 196 Platon Ulf., 136A, 167, 209, 220 Porete, Marguerite 73, 104, 130, 137 Proklos 209,219 Prumers, Jde 115-117,119

Rabenstein, Lienhardt 315A Raimund von Capua 146A Rodamer, Anna 309, 311-316, 318f, 327A, 338A Rodamer, Bastian 307, 315, 320, 325 Rodamer, Else 289f, 295, 306-309, 31 1-335, 337f.,340f. Rodamer, Hans 307A, 309, 311A, 316A Rörer, Georg 168 Roth, Fritz 315A Ruijtkens, Berte 103 Rupert von Deutz 126A Ruusbroec, Jan van 105-108,111,243 Sack, Agnes 309, 311-316, 318, 338A Sack, Hans 316 Scheurl, Christoph d.J. 240A Schneider, Anna 309, 311-316, 318f„ 327A,338A Schoonhoven, Jan van 106A Schreiber, Anna 311-316 Schwab, Lorenz 307, 325 Seckendorff-Aberdar, Hans Georg von 308A Seuse, Heinrich 2, 25f„ 48, 82, 111, 130, 149, 197, 200, 218, 243 Signorini, Chiara 336A Simon Fidati von Cascia 256A Spalatin, Georg Burkhardt 173, 218A

Personenregister

Spener, Philipp Jakob 88 Staupitz, Johann(es) von 167, 169T, 171-174, 176, 183, 189, 192, 239241, 244A, 255-262, 266, 269, 274, 276-278, 283 Steinmetz, Fritz 327A Sticken, Salome 103

Tertullian 219A Thomas von Aquin 22, 31,44, 82, 142A, 181, 196, 227 Thomas von Beverley 227 Thomas von Kempen 131,240A Tücher, Katharina 150 Tytz, Johannes 244A

Tauler, Johannes 2, 5-8, 1 OF., 16, 24, 26, 29A., 34f„ 37, 40f„ 43f„ 46A., 48f., 55, 58, 64, 66, 75f., 80-83, 88, 111, 130, 136, 148f., 167, 171, 173f., 177T, 180, 183f„ 196f„ 199, 203T, 206-211,219f., 223T, 229, 241,243f., 277-283

Vend, Johannes 143A Venturin von Bergamo 141, 156 Weller, Hieronymus 213 Winckler, Hanns 316A

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Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe Begründet von Heiko A. Oberman herausgegeben von Berndt Hamm (Erlangen-Nürnberg) in Verbindung mit Johannes Helmrath (Berlin), Jürgen Miethke (Heidelberg) und Heinz Schilling (Berlin)

Arnold, Matthieu: siehe Martin Bucer zwischen Luther und Zwingli. Atkinson, Catherine: Inventing Inventors in Renaissance Europe. 2007. Band 33. Ballweg, Jan: Konziliare oder päpstliche Reform. 2001. Band 17. Benad, Matthias: Domus und Religion in Montaillou. 1990. Band 1. Burger, Christoph: Marias Lied in Luthers Deutung. 2007. Band 34. Faix, Gerhard: Gabriel Biel und die Brüder vom gemeinsamen Leben. 1999. Band 11. Flachmann, Holger: Martin Luther und das Buch. 1996. Band 6. Freedman, Joseph S.: siehe Späthumanismus und reformierte Konfession. Gause, Ute; Paracelsus (1493-1541). 1993. Band4. „ Gottes Nähe unmittelbar erfahren “. Herausgegeben von Berndt Hamm und Volker Leppin. 2007. Band 36. Hamm, Berndt: Lazarus Spengler (1479-1534). 2004. Band 25. -: siehe „ Gottes Nähe unmittelbar erfahren “. -•siehe Martin Bucer zwischen Luther und Zwingli. -;siehe Spätmittelalterliche Frömmigkeit. Hinz, Ulrich: Die Brüder vom Gemeinsamen Leben im Jahrhundert der Reforma­ tion. 1997. Band 9. Hohenbergen Thomas: Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatori­ schen Flugschriften der Jahre 1521-22. \996.Band6. Holtz, Sabine: Theologie und Alltag. 1993. Band 3. Johannes a Lasco (1499-1560) — Polnischer Baron, Humanist und europäi­ scher Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14. bis 17. Oktober 1999 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden. Herausgegeben von Christoph Strohm. 2000. Band 14. Jürgens, Henning P: Johannes a Lasco in Ostfriesland. 2002. Band 18.

Spätmittelalter und Reformation

Kaufmann, Thomas: Konfession und Kultur. 2006. Band 29. Kleinöder-Strobel, Susanne: Die Verfolgung von Zauberei und Hexerei in den fränkischen Markgraftümem im 16. Jahrhundert. 2002. Band 20. Kuropka, Nicole: Philipp Melanchthon: Wissenschaft und Gesellschaft Ein Gelehrter im Dienst der Kirche (1526-1532). 2002. Band 21. Lentes, Thomas: siehe Spätmittelalterliche Frömmigkeit. Leppin, Volker: siehe „Gottes Nähe unmittelbar erfahren“. Litz, Gudrun: Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstäd­ ten. 2007. Band 35. Lotz-Heumann, Ute: Die doppelte Konfessionalisierung in Irland. 2000. Band 13. Mantey, Volker: Zwei Schwerter - Zwei Reiche. 2005. Band 26. Martin Bucer zwischen Luther und Zwingli. Herausgegeben von Matthieu Arnold und Berndt Hamm. 2003. Band 23. Der Medici-Papst Leo X. und Frankreich. Herausgegeben von Götz-Rüdiger Tewes und Michael Rohlmann. 2002. Band 19. Miethke, Jürgen: De potestate papae. 2000. Band 16. Müller, Harald: Habit und Habitus. 2006. Band 32. Nieden, Marcel: Die Erfindung des Theologen. 2006. Band 28. Rohlmann, Michael: siehe Der Medici-Papst Leo X. und Frankreich. Schlotheuber, Eva: Klostereintritt und Bildung. 2004. Band 24. Schulze, Manfred: Fürsten und Reformation. 1991. Band 2. Seegets, Petra: Passionstheologie und Passionsfrömmigkeit im ausgehenden Mittelalter. 1998. Band 10. Selderhuis, Herman J. /Wriedt, Markus: Bildung und Konfession. 2006. Band 27. -/siehe Späthumanismus und reformierte Konfession. Simon, Wolfgang: Die Messopfertheologie Martin Luthers. 2002. Band 22. Späthumanismus und reformierte Konfession. Herausgegeben von Christoph Strohm, Joseph S. Freedman und Herman J. Selderhuis. 2006. Band31. Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis. Herausgegeben von Berndt Hamm und Thomas Lentes. 2000. Band 15. Steinke, Barbara: Paradiesgarten oder Gefängnis? 2006. Band 30. Stoodt, Hans Christoph: Katharismus im Untergrund. 1996. Band 5. Strohm, Christoph: siehe Johannes a Lasco. -/siehe Späthumanismus und reformierte Konfession. Tewes, Götz-Rüdiger: siehe Der Medici-Papst Leo X. und Frankreich. Vogel, Sabine: Kulturtransfer in der frühen Neuzeit. 1999. Band 12. Weinbrenner, Ralph: Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis 1996. Band 7. Wriedt, Markus: siehe Selderhuis, Herman J.

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