Radikale Selbstbestimmung: Eine Untersuchung zum Freiheitsverständnis bei Harry G. Frankfurt, Galen Strawson und Martin Luther. Dissertationsschrift 9783161538476, 9783161539008, 3161538471

Ist radikale Selbstbestimmung freiheitstheoretisch relevant, d.h. ein konstitutives Moment von Freiheit? Und ist radikal

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German Pages 280 [289] Year 2015

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung
2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens
2.2 Regressproblematik und Identifikation
2.2.1 Identification and wholeheartedness
2.2.2 The Faintest Passion
2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation
3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung
3.1 Das Basisargument gegen letztgültige Verantwortlichkeit und radikale Selbstbestimmung
3.2 Die Bedeutung des Basisarguments für die Freiheitsproblematik
3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen
3.3.1 Der kompatibilistische Einwand und seine Erwiderung
3.3.2 Der libertarische Einwand und seine Erwiderung
3.3.3 Der Einwand des unabhängigen Selbst und seine Erwiderung
3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit
4. Zwischenfazit
5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung
5.1 Luthers Freiheitsverständnis in der Heidelberger Disputation (1518)
5.2 Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (1520)
5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)
5.3.1 Die menschliche Unmöglichkeit und die göttliche Wirklichkeit der radikalen Selbstbestimmung
5.3.1.1 Die Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung beim Menschen
5.3.1.2 Die Wirklichkeit der radikalen Selbstbestimmung bei Gott
5.3.2 Schlicht-kompatibilistische Freiheit
5.3.2.1 Allgemeine Struktur: Die Freiheit in niederen Dingen und die Freiwilligkeit des Wollens
5.3.2.2 Inhaltlich qualifizierte Freiheit: Unfreiheit als Bestimmtsein von Satan und Freiheit als Bestimmtsein von Gott
5.3.3 Begründungsstrukturen von Verantwortlichkeit
5.3.3.1 Verantwortlichkeit durch schlicht-kompatibilistische Freiheit
5.3.3.2 Verantwortlichkeit durch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung
6. Fazit
7. Ausblick: Was ist im lumen gloriae zu erwarten?
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Radikale Selbstbestimmung: Eine Untersuchung zum Freiheitsverständnis bei Harry G. Frankfurt, Galen Strawson und Martin Luther. Dissertationsschrift
 9783161538476, 9783161539008, 3161538471

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Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat /Advisory Board Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Douglas Hedley (Cambridge) · Johannes Hübner (Halle) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)

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Frank Dettinger

Radikale Selbstbestimmung Eine Untersuchung zum Freiheitsverständnis bei Harry G. Frankfurt, Galen Strawson und Martin Luther

Mohr Siebeck

IV Frank Dettinger, geboren 1983; Studium der Ev. Theologie in Tübingen und Wien; 2012–15 Ausbildungsvikariat in Perouse, Dekanat Leonberg; seit 2015 Pfarrer in Ditzingen.

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e-ISBN PDF 978-3-16-153900-8 ISBN 978-3-16-153847-6 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi­ kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel Garamond gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Dezember 2013 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertationsschrift angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 27. Mai 2014 statt. Anregungen aus den beiden Gutachten wurden für eine leichte Überarbeitung der Arbeit herangezogen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Christoph Schwöbel und meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Friedrich Hermanni, die die Gutachten erstellt und mich mit hilfreichen Hinweisen unterstützt haben. Meinem Doktorvater danke ich weit darüber hinaus. Die engagierte Be­ treuung dieser Arbeit und zahlreiche Seminare und Gespräche waren und bleiben prägend für mein theologisches Denken. Nicht zuletzt für das ungebrochene Vertrauen in dieses Projekt bin ich ihm verbunden. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Volker Leppin, der mir bereits in der Anfangszeit dieser Untersuchung und besonders im Blick auf die Veröffentlichung wertvolle Anregungen zum Luther-Kapitel gab. Nicht wenige Thesen der Arbeit wurden durch einen regelmäßigen und von mir geschätzten Austausch mit meinen Studienfreunden Manuel Stetter und ­Jeremias Gollnau geschärft. Dank gebührt außerdem der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und der Zimmermann-Stiftung für die finanzielle Ermöglichung der Arbeit, den Herausgebern der Reihe „Collegium Metaphysicum“ für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe, dem Mohr Siebeck Verlag für die gute Zusammenarbeit, stellvertretend nenne ich Frau Dr. Stephanie Warnke-De Nobili, sowie der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der EKD und UEK für Druckkostenzuschüsse. Meinen Eltern Brigitte und Christian Dettinger danke ich für ihre vielfältige Unterstützung während meiner Studien- und Promotionszeit. Der abschließende Dank gilt meiner Frau Dorothee Dettinger, zum einen für die Opferung ihrer Weihnachtsferien 2012 für einen kompletten Korrekturgang, zum anderen für unser bewährtes Team-Sein sowohl in ganz persönlicher Hinsicht als auch in unserem theologischen Austausch. Letztlich war mir unsere Partnerschaft selbst die größte mentale Unterstützung. Ihr soll dieses Buch gewidmet sein. Ditzingen, im Juli 2015

Frank Dettinger

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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     V 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     1 2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     9 2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Regressproblematik und Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Identification and wholeheartedness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 The Faintest Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     61 3.1 Das Basisargument gegen letztgültige Verantwortlichkeit und radikale Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Bedeutung des Basisarguments für die Freiheitsproblematik . . . . . . . . . . . 3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen . . . . . . . . . . 3.3.1 Der kompatibilistische Einwand und seine Erwiderung . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Der libertarische Einwand und seine Erwiderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der Einwand des unabhängigen Selbst und seine Erwiderung . . . . . . . . 3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit . . .

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4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  135 5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung . . .  141 5.1 Luthers Freiheitsverständnis in der Heidelberger Disputation (1518) . . . . . . . . 5.2 Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (1520) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Die menschliche Unmöglichkeit und die göttliche Wirklichkeit der radikalen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.1 Die Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.2 Die Wirklichkeit der radikalen Selbstbestimmung bei Gott . . . . 5.3.2 Schlicht-kompatibilistische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Allgemeine Struktur: Die Freiheit in niederen Dingen und die Freiwilligkeit des Wollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

5.3.2.2 Inhaltlich qualifizierte Freiheit: Unfreiheit als Bestimmtsein von Satan und Freiheit als Bestimmtsein von Gott . . . . . . . . . . . 5.3.3 Begründungsstrukturen von Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Verantwortlichkeit durch schlicht-kompatibilistische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.2 Verantwortlichkeit durch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . .

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6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  243 7. Ausblick: Was ist im lumen gloriae zu erwarten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  249 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  273 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  277

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1. Einführung Zwei Fragestellungen bilden den Orientierungsrahmen dieser Untersuchung: Inwiefern erscheint es angemessen, radikale Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis als relevant zu erachten? Und: Lässt sich radikale Selbstbestimmung im Zusammenhang einer Freiheitstheorie als möglich oder gar wirklich darstellen? Dabei wird unter radikaler Selbstbestimmung das Vermögen eines Handlungssubjekts verstanden, seine persönliche und charakterliche Beschaffenheit, aus welcher die Gründe und Ursachen seiner Entscheidungen und Handlungen resultieren, in einem unabhängigen Akt frei zu bestimmen. In diesem ersten Kapitel gilt es zum einen, die Vorstellung der radikalen Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis einleitend zu entfalten und zum anderen, die Grundkonzeption der Untersuchung mit ihrer Ausrichtung an den Freiheitstheorien Harry G. Frankfurts, Galen Strawsons und Martin Luthers begründet darzulegen. Entscheidend im Hinblick auf die Fragestellung, ob Handlungssubjekte in ihren Entscheidungen und Handlungen frei sein können, kann sich die Frage erweisen, ob Handlungssubjekte über die Fähigkeit verfügen müssen, ihre personalen und charakterlichen Eigenschaften, durch welche sich ihre Entscheidungen und Handlungen zureichend begründen lassen, selbst frei und unabhängig zu bestimmen. Es kann als unzweifelhaft gelten, dass Handlungssubjekte im Rahmen ihrer vorfindlichen Gründe frei zu agieren in der Lage sein können. Stehen keine äußeren oder inneren Hindernisse einer willentlichen Entscheidung bzw. Handlung entgegen und liegen überhaupt ausschlaggebende Gründe für eine Entscheidung bzw. Handlung vor, so vermag ein Handlungssubjekt sich in seiner Entscheidung bzw. Handlung entsprechend frei zu verhalten. Erweist sich jedoch für freie Handlungen und Entscheidungen zudem als notwendige Bedingung, dass ein Handlungssubjekt nicht allein mit Blick auf seine vorfindlichen Gründe frei entscheiden und handeln kann, sondern diese Gründe wiederum selbst radikal frei zu bestimmen in der Lage sein muss? Bedarf es einer – geradezu göttlichen – Fähigkeit, Grund der eigenen Existenz, gewissermaßen causa sui zu sein, um in einem angemessenen Verständnis frei zu sein? Und sofern es dieser Fähigkeit bedarf, das heißt sofern radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis Relevanz zuzuerkennen ist, lässt sich schließlich begründetermaßen annehmen, dass Menschen diese Fähigkeit tat-

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1. Einführung

sächlich besitzen können, das heißt dass radikale Selbstbestimmung als möglich bzw. wirklich dargestellt werden kann? Die Kontroverse um dieses Freiheitsverständnis im Sinn radikaler Selbstbestimmung stellt kein Theorieprodukt dar, sondern kann sich als Implikat der grundlegenden menschlichen Erfahrungen erweisen, im eigenen Handeln und Entscheiden einerseits frei zu sein und andererseits dennoch unvermeidlich Notwendigkeiten zu unterliegen. William Ernest Henley scheint in seinem viktorianischen Gedicht „Out of the night that covers me“ (1875), das später unter dem Titel Invictus (Unbesiegbar) bekannt wurde, von der Relevanz und der Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung Zeugnis zu geben: „Out of the night that covers me, Black as the Pit from pole to pole, I thank whatever gods may be For my unconquerable soul. In the fell clutch of circumstance I have not winced nor cried aloud. Under the bludgeonings of chance My head is bloody, but unbowed. Beyond this place of wrath and tears Looms but the Horror of the shade, And yet the menace of the years Finds, and shall find, me unafraid. It matters not how strait the gate, How charged with punishments the scroll, I am the master of my fate: I am the captain of my soul.“1

Wem oder was auch immer dafür zu danken wäre – das lyrische Ich in diesem Gedicht weiß um die Unbesiegbarkeit seiner mentalen Kraft. Nicht äußere noch innere Einflüsse vermögen die Freiheit dieses Handlungssubjekts zu bezwingen, ist es doch in der Weise Herr über sein Schicksal und Kapitän seiner Seele, dass es in keiner anderen Weise als frei zu bezeichnen wäre als im Sinn radikaler Selbstbestimmung. Diese Gewissheit, das Schicksal auf unangreifbare Weise in eigener Hand zu halten, kann jedoch auch von gravierenden Zweifeln infrage gestellt wer1 In: W. E. Henley: The Works of W. E. Henley, Vol. 1, Poems, hg. v. David Nutt, London 1908, 125. Den Hinweis auf dieses Gedicht verdanke ich Galen Strawson, vgl.: G. Strawson: Freedom and Belief, 2. Aufl., Oxford 2010, 42. Alle diesbezüglichen in dieser Untersuchung auftretenden Zitate und Anmerkungen rekurrieren auf die zweite Auflage.

1. Einführung

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den. Diese Zweifel können bis dahin reichen, sich als Handlungssubjekt radikal unfrei und als getrieben von fremden Mächten zu erfahren. In subtil reflektierender Weise hat Herman Melville diese Erfahrung in den Worten von Kapitän Ahab in seinem Roman Moby Dick ausgedrückt: „Was ist es? Welche namenlose, unergründliche, überirdische Macht, welcher trügerische, verborgene Herr und Meister, welcher grausame, erbarmungslose Tyrann befiehlt mir jeder natürlichen Regung von Liebe und Verlangen zum Trotz, für alle Zeiten so vorwärts zu stürmen, zu drängen und zu stoßen, rücksichtslos bereit zu tun, was ich in meinem eigenen Herzen nicht auszudenken wage. Ist Ahab denn Ahab? Bin ich es, Gott, oder wer hebt diesen Arm? Wenn aber die große Sonne sich nicht aus sich selbst bewegt, wenn sie nur ein Bote ist am Himmel, wenn sich kein einziger Stern bewegt, der nicht durch eine unsichtbare Macht getrieben wird, wie vermag dann dieses eine kleine Herz zu schlagen, dieses kleine Hirn zu denken, wenn nicht Gott dieses Schlagen, Denken, Leben veranlaßt? Und nicht ich selbst. Fürwahr, Mann, wie dieses Gangspill werden wir in dieser Welt um und um gedreht, und das Schicksal ist die Handspake.“2

Ahab nimmt seine Unfreiheit hier in der Weise wahr, dass er keine ihm offen stehende Möglichkeit erkennt, hinter die Gründe seines Handelns und Entscheidens zurückzugreifen. Ihm erscheinen seine Handlungen und Entscheidungen daher fremd, als Folgen von Gründen und Ursachen, auf die er keinen Einfluss auszuüben in der Lage ist, ganz zu schweigen davon, dass er über sie zu bestimmen imstande sein könnte. Die Erkenntnis über die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung verunsichert Ahab in seinem Selbstverständnis grundlegend. Freiheit scheint sich ihm schließlich als Illusion zu erweisen. Zu dem hier angerissenen Themenkomplex liegen eine Vielzahl kritischer Rückfragen und weiterführender Fragen nahe. So ließe sich etwa fragen, ob Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung, das heißt ein Freiheitsverständnis, das radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung von Freiheit auffasst, nicht unrealisierbar oder gar unerklärlich erscheint. Eine Anschlussfrage hierzu könnte lauten: Kann wirklich die Annahme als zutreffend gelten, dass die grundsätzliche Determiniertheit allen Geschehens – wie sie Kapitän Ahab beschreibt – Freiheit grundsätzlich ausschließt? Weiter könnte gefragt werden, wodurch eine Debatte um das Freiheitsverständnis im Sinn radikaler Selbstbestimmung motiviert ist. Auch mit folgender Bemerkung ließe sich dem hohen Anspruch dieser Freiheitsvorstellung kritisch begegnen: Stellt das Freiheitsverständnis im Sinn radikaler Selbstbestimmung nicht ein Merkmal einer fragwürdigen Radikalisierung und Verabsolutierung von Freiheit dar?3 Aus theo2  H. Melville: Moby Dick oder Der Wal, Aus dem Amerikanischen von R. Mummendey, Mit Nachwort und Zeittafel von W. Winkler und Anmerkungen von R. Mummendey, Düsseldorf 2006, 646. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Friedrich Hermanni, vgl. F. Hermanni: „Luther oder Erasmus? Der Streit um die Freiheit des menschlichen Willens“, in: Ders., P. Koslowski (Hg.): Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven, München 2004, 165–187, hier: 174. 3  Eine Radikalisierung der Freiheit beschreibt Christoph Schwöbel als charakteristisch

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1. Einführung

logischer Perspektive ließe sich ferner fragen, ob ein Freiheitsverständnis im Sinn radikaler Selbstbestimmung nicht einem solchen Freiheitsverständnis entspricht, das allein zur Beschreibung der Freiheit Gottes dienen kann. Diese Fragen unter anderen gilt es in dieser Untersuchung in den Blick zu nehmen. Dabei erweist es sich als klärend für das Vorgehen, den Fragenkomplex grundsätzlich auf die beiden schon eingangs formulierten Leitfragen nach der Relevanz und der Möglichkeit bzw. Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung hin zu konzentrieren: 1. Ist radikale Selbstbestimmung hinsichtlich des menschlichen Freiheitsverständnisses als relevant zu erachten? 2. Ist radikale Selbstbestimmung überhaupt als möglich und wirklich zu begründen? Beide Fragen zu stellen bedeutet, eine Antwort auf die Frage zu suchen, welche Rolle radikale Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik spielen soll bzw. spielen kann. Diese Frage wird in der vorliegenden Untersuchung in drei Teilen anhand des Freiheitsverständnisses bei Harry G. Frankfurt, bei Galen Strawson und bei Martin Luther bearbeitet. Die Auswahl dieser drei Konzepte ergibt sich – abgesehen von der gegebenen Grundvoraussetzung, dass sich diese Vertreter mit der Frage nach der Rolle radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis beschäftigen – insbesondere unter zwei methodischen und zwei inhaltlichen Gesichtspunkten. Der erste methodische Gesichtspunkt betrifft die Wahl zweier Freiheitstheorien, die sich im Rahmen der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte bewegen. Diese Debatte, deren Wurzeln am Anfang des 20. Jahrhunderts liegen und die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich etablierte4 und auch in der deutschsprachigen Philosophie ihre Rezeption fand5, erschien in der deutschsprachigen Theologie lange Zeit wenig beachtet. In aktuellen Diskussionen jedoch scheint das Potential der Methode, die für das menschliche Selbstverständnis in der Moderne und Postmoderne. Vgl. C. Schwöbel: „Imago Libertatis: Freiheit des Menschen und Freiheit Gottes“, in: Ders.: Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 227–256, hier: 233–237. 4  Einen hilfreichen Überblick über die neuere angelsächsische analytisch-philosophische Freiheitsdebatte bieten die Einführungen zu den Sammelbänden sowie die gesammelten Beiträge selbst bei Gary Watson und Robert Kane: G. Watson (Hg.): Free Will, 2. Aufl., Oxford 2003; R. Kane (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will, Oxford 2002; R. Kane (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will, 2. Aufl., Oxford 2011. 5 S. etwa B. Guckes: Ist Freiheit eine Illusion? Eine metaphysische Untersuchung, Paderborn 2003; M. Pauen: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2004; M. Pauen: „Freiheit: Wie viel Spielraum bleibt in einer gesetzlich bestimmten Welt?“, in: T. Fuchs, G. Schwarzkopf (Hg.): Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?, Heidelberg 2010, 229–248; P. Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2004.

1. Einführung

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Freiheitsproblematik in voneinander unterschiedenen theoretischen Ebenen zu entfalten, in der systematischen Theologie bisweilen wahrgenommen zu werden.6 Hieran schließt die vorliegende Untersuchung an, wenn sie die methodischen Interpretationsstandards dieses Diskurses aufgreift und sich in deren theoretischem Rahmen bewegt. Damit verbunden erscheint ein erster inhaltlicher Gesichtspunkt, der die Wahl der Freiheitstheorien bei Harry G. Frankfurt und Galen Strawson betrifft. Mit der Wahl dieser beiden Vertreter der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte erscheinen zunächst zwei Grundrichtungen dieser Debatte repräsentiert: Zum einen die Überzeugung, dass es ein Freiheitsverständnis anzustreben gilt, das mit deterministischen Voraussetzungen vereinbar verstanden werden kann – den so genannten Kompatibilismus; zum anderen die Überzeugung, dass es ein Freiheitsverständnis anzustreben gilt, das Freiheit und deterministische Voraussetzungen als unvereinbar versteht – entsprechend als Inkompatibilismus bezeichnet. Frankfurt versteht sich in diesem Kontext des anzustrebenden Freiheitsverständnisses als klassischer Kompatibilist, Strawson hingegen als eindeutiger Inkompatibilist. In Bezug auf die Frage nach der Wirklichkeit von Freiheit ergibt sich eine weitere Gegenüberstellung dieser beiden Theorien. So entfaltet Frankfurt sein Verständnis der Möglichkeit und Wirklichkeit kompatibilistischer Freiheit, während Strawson inkompatibilistisch verstandene Freiheit prinzipiell für unmöglich erachtet. Wird in der vorliegenden Untersuchung zwar mitunter deutlich werden, dass dieses Schema – Kompatibilismus/Inkompatibilismus – in der Weise, wie es sich mindestens teilweise in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte zeigt, letztlich mit Unschärfen behaftet ist, so erweist sich dennoch als wesentlicher inhaltlicher Gesichtspunkt zur Wahl der beiden Theorien Frankfurts und Strawsons ihr repräsentativer Charakter der beiden Grundrichtungen der Debatte.7 Mit Blick auf die Verbindung der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte mit dem Freiheitsverständnis Martin Luthers rücken ein zweiter methodischer sowie ein zweiter inhaltlicher Gesichtspunkt in den Blick. Zunächst ergibt sich folgender weiterer methodischer Gesichtspunkt: Vielversprechend und doch selten konsequent angewandt erweist sich die Methode, 6  Vgl. grundlegend F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 50 (2008), 16–36, ebenfalls erschienen in: F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, in: Ders.: Metaphysik. Versuche über letzte Fragen, Tübingen 2011, 93–115; vgl. ebenfalls R. Leonhardt: „Servum arbitrium und libertas christiana – ihr Verhältnis im Horizont neuerer Freiheitsdebatten“, in: M. Beyer, U. Liedke (Hg.): Wort Gottes im Gespräch, Matthias Petzoldt zum 60. Geburtstag, Leipzig 2008, 143–162; A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand. Ein anthropologischer Grundbegriff in Philosophie, Neurobiologie und Theologie, Göttingen 2009. 7 S. u. eine Zusammenfassung dieser Kritik am Schema von Kompatibilismus und Inkompatibilismus in Kap. 4, Zwischenfazit.

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1. Einführung

die Interpretationsstandards der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte zur Rekonstruktion klassischer Freiheitstheorien heranzuziehen. Dies geschieht in der vorliegenden Studie insofern, als zunächst die Freiheitstheorien bei Frankfurt und Strawson einen theoretischen Rahmen des Diskurses eröffnen, in dessen Begriffen und Kategorien Luthers Verständnis von Freiheit in den Blick genommen und in vielleicht ungewohnter, aber womöglich erhellender Weise rekonstruiert werden kann. Luthers Freiheitsverständnis, das begrifflich durchaus nicht immer konsequent und präzise erscheint, vermag hier inhaltlich übersichtlich und transparent beschrieben zu werden, indem manche freiheitstheoretischen Implikate der Aussagen Luthers im Licht der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte herausgearbeitet werden. In diesem Sinn scheint die Theologie bzw. die theologische Freiheitsdebatte über Luthers Freiheitsverständnis einen weiterführenden Gewinn durch die Verknüpfung mit der Methodik der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte zu erlangen. Dieser Gewinn erweist sich an sich als wertvoll, doch wäre darüber hinaus wünschenswert, dass dieser Austausch nicht allein in eine Richtung, sondern wechselseitig fruchtbar gemacht werden könnte. Gewinnt die theologische Freiheitsdebatte hier wesentliche methodische Impulse aus der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte, so ließe sich fragen, ob nicht auch die theologische Freiheitsdebatte – hier konkret das Freiheitsverständnis Martin Luthers – inhaltliche Impulse für die angelsächsische analytisch-philosophische Freiheitsdebatte zu geben in der Lage wäre. Diese zweifellos kreative Aufgabe greift jedoch über die Konzeption der hier vorliegenden Untersuchung hinaus und erscheint somit lediglich als womöglich vielversprechendes Anschlussprojekt. Denkbar wäre diesbezüglich, das in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte wenig beachtete qualitative Verständnis von Freiheit – in Luthers Sicht erscheint der Mensch dann in qualitativer, inhaltlicher Sicht frei, wenn sich seine persönliche und charakterliche Beschaffenheit in Gottes Willen gründet – als theologischen Impuls im Anschluss an Luther in die angelsächsische analytisch-philosophische Freiheitsdebatte einzubringen. Freiheit inhaltlich bestimmt zu verstehen, wie dies auch Kant und andere Philosophen des Idealismus getan haben, bildet schon traditionell keinen zentralen Topos der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte. Als zweiter und letzter inhaltlicher Gesichtspunkt zur Konzeption dieser Untersuchung unter Heranziehung der Freiheitstheorien bei Frankfurt, Strawson und Luther ergibt sich schließlich, dass sich Luthers Verständnis von Freiheit im Horizont des Verständnisses bei Frankfurt und Strawson gewissermaßen in einer für das Verständnis der Freiheitsproblematik aufschlussreichen Mittelposition darstellt. Zeigt sich zum einen für das Freiheitsverständnis bei Frankfurt, dass hier radikale Selbstbestimmung für unmöglich und irrelevant erachtet wird, und zum anderen für das Freiheitsverständnis bei Strawson, dass

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hier radikale Selbstbestimmung für unmöglich, jedoch relevant erachtet wird, so gilt letztlich für das Freiheitsverständnis bei Luther, dass Luther einerseits analog zur gemeinsamen Position Frankfurts und Strawsons radikale Selbstbestimmung als unmöglich beurteilt, jedoch andererseits hinsichtlich der Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis teilweise – analog zu Frankfurt – gegen die Relevanz radikaler Selbstbestimmung und teilweise – analog zu Strawson – für die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis argumentiert. Diese sich in der Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis ergebende Mittelposition bzw. uneindeutige Position Luthers wirft schließlich ein besonderes Licht auf die Freiheitsproblematik an sich und legt nahe, dass Luthers spannungsreich erscheinendes Freiheitsverständnis als durchaus plausibel gelten kann, entspricht es doch wohl am ehesten dem allgemein üblichen Freiheitsverständnis, auf dessen Hintergrund die Art bzw. die Alternativen der theoretischen Auseinandersetzung um Freiheit nachvollziehbar erscheinen können. Was sich hinter diesen einführenden Hinweisen im Konkreten verbirgt, zeigt sich in den nun folgenden sechs Kapiteln. In knapper Darstellung sei auf ihren Inhalt verwiesen: Die Kapitel (2) und (3) erfassen die Vorstellungen über Freiheit bei Harry G. Frankfurt und Galen Strawson in der Weise, dass jeweils die Fragen nach der Möglichkeit bzw. Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung und nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis beantwortet werden können. Daran schließt sich ein Zwischenfazit (Kapitel 4) an, in dem Frankfurts und Strawsons gemeinsame These der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung sowie ihre unterschiedlichen Thesen zur Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zusammenfassend beschrieben werden. An dieser Stelle wird schließlich für die angemessene Sicht der Unmöglichkeit und der zugleich unbestreitbaren Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis argumentiert. Auf diesem Hintergrund wird in Kapitel (5) das Freiheitsverständnis Luthers, wiederum anhand der Fragestellungen nach Möglichkeit bzw. Wirklichkeit und nach Relevanz der radikalen Selbstbestimmung, entfaltet und im Fazit (Kapitel 6) im Horizont der Freiheitstheorien bei Frankfurt und Strawson zusammenfassend beschrieben. Luther lässt sich – wie bereits oben deutlich wurde – hinsichtlich der These über die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung Frankfurt und Strawson eindeutig zuordnen, während er hinsichtlich der Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis teils der These der Irrelevanz bei Frankfurt und teils der These der Relevanz bei Strawson zugeordnet werden kann. Zeigt sich so bei Luther hinsichtlich der Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung ein uneinheitliches Bild, so ergibt sich damit ein klares Indiz für die These des Zwischenfazits, dass ra-

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1. Einführung

dikale Selbstbestimmung sich zwar als unmöglich erweist, für das Freiheitsverständnis in ihrer Relevanz allerdings nicht grundsätzlich zurückgewiesen werden kann. In einem abschließenden Ausblick (Kapitel 7) wird diese These aufgegriffen und schließlich danach gefragt, in welcher Weise sich ein angemessenes Freiheitsverständnis wohl eschatologisch – im Anschluss an Luther im lumen gloriae – herausstellen könnte. Hier zeigt sich zum einen eine Möglichkeit, wie Verantwortlichkeit schon unter irdischen Bedingungen in angemessener Weise begründet werden kann, während zum anderen – Luther gewissermaßen bestätigend – deutlich wird, dass die Anstößigkeit dieser Begründung wohl bis zum lumen gloriae erhalten bleiben und die Freiheitsproblematik somit unter irdischen Bedingungen wohl letztlich nicht befriedigend zu lösen sein wird. Um den grundlegenden gedanklichen Verlauf dieser Untersuchung transparent nachzuzeichnen, finden sich neben dieser Einführung weitere zusammenfassende und als Übersicht konzipierte Abschnitte. So enthalten die drei Kapitel über das Freiheitsverständnis bei Frankfurt, Strawson und Luther (Kapitel 2, 3 und 5) jeweils zu Beginn eine Einführung und eine Zusammenfassung über deren Inhalt. In Hinsicht auf das Kapitel über Luther erweist sich auch die Einführung zu De servo arbitrio (Abschnitt 5.3) als für den grundlegenden Gedankengang und die Hinführung zum Ausblick (Kapitel 7) wesentlich. Schließlich weisen vor allem das Zwischenfazit, das Fazit sowie abschließend der Ausblick (Kapitel 4, 6 und 7) auf die gedankliche Struktur der Gesamtuntersuchung hin.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung Ausgehend insbesondere von seinen beiden Aufsätzen „Alternate possibilities and moral responsibility“ und „Freedom of the will and the concept of a person“1 ist es Harry G. Frankfurt gelungen, nachhaltigen Einfluss auf die angelsächsische analytisch-philosophische Freiheitsdebatte zu gewinnen. Die Gründe für die Wirkmächtigkeit Frankfurts können dabei in mindestens zwei Impulsen gesehen werden, die von seinen Beiträgen ausgingen. Zum einen zeigt sich die Stärke seines Freiheitsmodells darin, dass es, in Anknüpfung an die traditionellen Begriffe der Handlungs- und Willensfreiheit, Freiheit so zu beschreiben in der Lage ist, dass ihre Einschränkung nicht nur äußerer, sondern auch innerer Art (zum Beispiel durch Suchtkrankheiten oder Kleptomanie) verstanden werden kann. Dabei entwirft Frankfurt sein Modell in der Weise, dass es auch innerhalb eines deterministischen Rahmens Geltung besitzt. Lässt sich die Freiheitsproblematik klassisch als Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus beschreiben, so erhebt Frankfurt den Anspruch, ein Freiheitsmodell zu präsentieren, das auch unter deterministischer Voraussetzung alle Bedingungen erfüllt, die an ein Freiheitsmodell sinnvoll gestellt werden können. Zum anderen argumentiert Frankfurt gegen eine gängige Intuition des Freiheitsverständnisses, die darin besteht, dass es für eine freie Handlung notwendig sei, sie unterlassen zu können. Sein Konzept ist in der Art angelegt, dass es die in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte in breitem Konsens anerkannte Bedingung des „Anders handeln Könnens“ für Frei1  Zuerst erschienen: H. Frankfurt: „Alternate possibilities and moral responsibility“, in: The Journal of Philosophy 66 (1969), 829–839 und H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, in: The Journal of Philosophy 68 (1971), 5–20, ebenfalls in Frankfurts Anthologie H. Frankfurt: The Importance of what we care about, Cambridge 1988, 1–10 und 11–25. Alle diesbezüglichen in dieser Untersuchung auftretenden Zitate und Anmerkungen rekurrieren auf diese Ausgabe. In deutscher Übersetzung: H. Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hg. v. M. Betzler und B. Guckes, Berlin 2001, 53–64 und 65–83. Alle für die vorliegende Untersuchung herangezogenen Aufsätze mit Ausnahme von „Coercion and moral responsibility“, „Identification and externality“ und „The Faintest Passion“ liegen in diesem von Betzler und Guckes herausgegebenen Band des Akademie-Verlags in deutscher Übersetzung vor.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

heit als irrelevant zurückweist. Besonders seine Argumentation in „Alternate possibilities and moral responsibility“ führte zu einem eigenen Forschungsgegenstand der Freiheitsdebatte, der sich als Auseinandersetzung mit so genannten „Frankfurt-style examples“ etabliert hat. Die folgenden drei Abschnitte dieser Untersuchung wollen Frankfurts Freiheitsverständnis unter dem Gesichtspunkt der Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit in den Blick nehmen. Dazu orientieren sie sich besonders an Frankfurts Verständnis der Identifikation von Handlungssubjekt und Willen. Es soll dabei erkennbar werden, welche Rolle Frankfurt der Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit zuweist, das heißt, ob Frankfurt radikale Selbstbestimmung für möglich bzw. wirklich hält und ob er radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis Relevanz zuerkennt. Im ersten Abschnitt – 2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens – wird, besonders unter Heranziehung von „Freedom of the will and the concept of a person“, Frankfurts Freiheitsmodell als Theorie des hierarchischen Wünschens in seinen Grundzügen entfaltet. Bereits in diesem Kontext, insbesondere in Hinsicht auf die von Frankfurt selbst erkannten Einschränkungen seines Modells, wird die Aufgabe einer Beschreibung der Identifikation von Handlungssubjekt und Willen erkennbar. Im zweiten Abschnitt – 2.2 Regressproblematik und Identifikation – gelangt Frankfurts eigene Auseinandersetzung mit der Regressproblematik, die er als nicht unerhebliche Schwierigkeit seines hierarchischen Modells des Wünschens ausmacht, in den Blick. Nachdem Frankfurt sich in „Freedom of the will and the concept of a person“ nur kurz mit der Frage beschäftigt, wie eine endlose Reihe von Wünschen in seinem hierarchischen Modell vermieden werden kann, entfaltet er seine Vorstellung darüber in zwei weiteren Kontexten näher. Zum einen (Abschnitt 2.2.1) führt ihn die Beschreibung des Bewusstseins auf das Moment der Reflexivität, das im Kontext seines Modells des hierarchischen Wünschens zur Verhältnisbestimmung von Wünschen eines Handlungssubjekts und damit zur theoretischen Gefahr des Regresses führt. Zum anderen (Abschnitt 2.2.2) führt ihn die Beschreibung der schmerzhaften Erfahrung des Belogenwerdens zum Gefühl der Ambivalenz, das sich ebenso wie bei der Erfahrung des Belogenwerdens auch im Zustand eines unentschiedenen Willens einstellt. Bezüglich der Frage, wie der ambivalente bzw. unentschiedene Wille überwunden werden kann, wird erneut die Bedeutung der Regressproblematik erkennbar. Frankfurt argumentiert in beiden Kontexten für die Möglichkeit einer unwillkürlichen Auflösung des Wünscheregresses. Im ersten Kontext bedient er sich des Beispiels über eine Rechenoperation, während er im zweiten Kontext eine Darstellung seines Verständnisses von innerer Zufriedenheit heranzieht. In beiden Kontexten zeigt sich, dass der Zustand der „wholeheartedness“, ein Zustand des ungeteilten Willens, jenen Zustand beschreibt, in dem der Regress auf

2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

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unwillkürliche Weise abgebrochen wird. Im Zustand der „wholeheartedness“ identifiziert sich ein Handlungssubjekt Frankfurt zufolge ungeteilt mit einem seiner vorgefundenen Wünsche, sodass sich die Gefahr eines Wünscheregresses nicht mehr ergibt. Hinsichtlich einer möglichen Rolle radikaler Selbstbestimmung für die Lösung der Regressproblematik äußert sich Frankfurt im ersten Kontext (Abschnitt 2.2.1) nicht, während er im zweiten Kontext (Abschnitt 2.2.2) radikale Selbstbestimmung als Mittel der Beschreibung von Identifikation von Handlungssubjekt und Willen zwar darlegt, in ihrer begründeten Möglichkeit und als grundsätzlich relevanten Aspekt für das Freiheitsverständnis jedoch zurückweist. Im dritten Abschnitt – 2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation – wird Frankfurts Verständnis der Bedingung der Zurechenbarkeit für Verantwortlichkeit thematisiert, das heißt die Frage, wie Frankfurt die allgemein anerkannte Bedingung auffasst, dass es für Verantwortlichkeit notwendig ist, eine Handlung oder Entscheidung dem Handlungssubjekt zurechnen zu können. Dabei gelangt zunächst Frankfurts wirkmächtige These in den Blickpunkt, dass die in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte viel diskutierte Bedingung des „Anders handeln Könnens“ keine notwendige Bedingung für Freiheit darstellt. Diese These erscheint im Kontext der Auffassung Frankfurts, dass Zurechenbarkeit hinreichend an die Bedingung der Identifikation von Handlungssubjekt und Willen im Sinn seines Verständnisses von „wholeheartedness“ gebunden ist. Im Rahmen seiner Darlegung der Identifikation von Handlungssubjekt und Willen als hinreichender Bedingung für Zurechenbarkeit zieht Frankfurt auch die Konsequenz, manipulierten Handlungssubjekten volle Verantwortlichkeit zuzusprechen. Damit nimmt er bewusst in Kauf, gängigen Intuitionen über Freiheit und Verantwortlichkeit grundsätzlich zu widersprechen. Er betont in diesem Zusammenhang nachdrücklich, dass die Bedingung radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz besitzt hinsichtlich des Verständnisses von Zurechenbarkeit. So zeigt sich insgesamt, dass Frankfurt sowohl im Kontext der Regressproblematik (Abschnitt 2.2) als auch im Kontext der Frage nach Zurechenbarkeit als Bedingung für Verantwortlichkeit (Abschnitt 2.3) für ein solches Verständnis der Identifikation von Handlungssubjekt und Willen argumentiert, das sich vom Verständnis der Identifikation im Sinn radikaler Selbstbestimmung bewusst abgrenzt. Radikale Selbstbestimmung erachtet Frankfurt zum einen für unmöglich und zum anderen hinsichtlich des Freiheitsverständnisses auch für gänzlich irrelevant.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens Frankfurt versteht seine Freiheitstheorie in Form einer Theorie des hierarchischen Wünschens in erster Linie als Beitrag zur Bestimmung des Personenbegriffs. In Abgrenzung von Theorien, die Personen mit Hilfe artspezifischer Attribute beschreiben 2, sieht Frankfurt den wesentlichen Unterschied zwischen Personen und anderen Kreaturen in der Struktur des Willens gegeben, der sich in ein hierarchisches System von Wünschen gliedern lässt. Verschiedene Kreaturen, die keine Personen sind, haben Wünsche und Motive und treffen Wahl­ entscheidungen entsprechend der Stärke ihrer Wünsche und Motive.3 Andere Wesen verfügen darüber hinausgehend über die Möglichkeit, sich die Wünschbarkeit ihrer Wünsche oder Motive bewusst zu machen bzw. zu reflektieren. Wer in der Lage ist, sich über seine Wünsche zu orientieren, das heißt, wer sich wünschen kann, welcher seiner Wünsche handlungswirksame Bedeutung haben soll, gilt nach Frankfurt als Person. Menschen sind dazu in der Regel fähig – sie können so genannte Wünsche zweiter Ordnung („second-order desires“ bzw. „desires of the second order“) ausbilden, das heißt Wünsche, die sich auf Wünsche beziehen.4 Hingegen sind Tiere beispielsweise allein dazu fähig, Wünsche erster Stufe auszubilden, das heißt Wünsche, die sich auf konkrete Handlungen beziehen. Über die Frage, welche Handlung ausgeführt wird, entscheidet bei Wesen, die keine Personen sind, schlicht derjenige Wunsch, welcher der stärkste in der Reihe ihrer Wünsche darstellt. Sie sind im Gegensatz zu Personen nicht in der Lage, auch hinsichtlich ihrer Vorlieben und Zwecke, die ihr Handeln bestimmen, Wünsche auszubilden.5

2  Frankfurt

nimmt Bezug auf P. F. Strawson: Individuals, London 1959, 101f, der den Personbegriff beschreibt als „the concept of a type of entity such that both predicates as­ cribing states of consciousness and predicates ascribing corporeal characteristics […] are equally applicable to a single individual of that single type.“ (Herv. i. O.); in deutscher Übersetzung: P. F. Strawson: Einzelding und logisches Subjekt. Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik, aus dem Engl. übersetzt v. F. Scholz, Stuttgart 1972, 130. Als weiteres Beispiel verweist Frankfurt auf A. J. Ayer: One Concept of a Person, New York 1963, 82. Zitiert bei Frankfurt: H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 11, Anm. 1. 3  Frankfurt hält es auch für möglich, dass Entscheidungen dieser Art durch Überlegung („in deliberation and […] based upon prior thought“) zustande kommen können (H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 12; 17). Später korrigiert er diese Sicht und sieht Überlegung als Kennzeichen von Entscheidungen, die Personen betreffen. Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, in: Ders.: The importance of what we care about, 159–176, hier: 176. 4  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 12. 5  „No animal other than man […] appears to have the capacity for reflective self-evaluation that is manifested in the formation of second-order desires“ (H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 12).

2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens

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Um die Struktur des Modells des hierarchischen Wünschens zu erläutern, diskutiert Frankfurt Möglichkeiten, die Aussage „A wants to X“ zu deuten.6 Sie kann sich zum einen auf einen Wunsch erster Ordnung und zum anderen auf einen Wunsch zweiter Ordnung beziehen. Diese beiden Möglichkeiten lassen sich wiederum jeweils zweifach differenzieren. Bezieht sich die Aussage „A wants to X“ auf einen Wunsch erster Ordnung, so kann dies entweder bedeuten, dass A wirklich dazu veranlasst wird, X auszuführen oder dass A nicht dazu veranlasst wird, X auszuführen. Denn die Aussage sagt an sich noch nichts darüber aus, wie stark As Wunsch ist oder wie wahrscheinlich es ist, dass A tatsächlich X ausführt. X auszuführen mag womöglich nur ein Wunsch unter vielen sein, die A hat, und nicht notwendig der stärkste. A kann also X ausführen wollen und zugleich etwas anderes noch mehr wollen, was er dann anstelle von X tatsächlich ausführt. Freilich kann aber „A wants to X“ bedeuten, dass der Wunsch X auszuführen, A tatsächlich dazu veranlasst, X auszuführen.7 In welchem Fall beschreibt die Aussage dabei As Willen? Frankfurt versteht den Willen eines Handlungssubjekts im Sinn der zweiten Bedeutung, das heißt nur dann, wenn einem Wunsch handlungswirksame Bedeutung zuteil ist, beschreibt dieser den Willen. Dies gilt gleichermaßen für verschiedene Modi und Zeitstufen: „To identify an agent’s will is either to identify the desire (or desires) by which he is motivated in some action he performs or to identify the desire (or desires) by which he will or would be motivated when or if he acts. An agent’s will, then, is identical with one or more of his first-order desires“8.

Der Wille bei Frankfurt darf zudem nicht missverstanden werden im Sinn eines bloßen Geneigtseins durch einen Wunsch, sondern der Wille entspricht einem effektiven oder handlungswirksamem Wunsch oder Wunschkomplex, der eine Person dazu bringt bzw. bringen wird oder bringen würde, die Handlung vollständig auszuführen.9 Hinsichtlich der zweiten Möglichkeit entfaltet Frankfurt eine analog strukturierte Differenzierung. Bezieht sich die Aussage, „A wants to X“ auf einen Wunsch zweiter Ordnung, das heißt wenn „X ausführen“ für einen Wunsch erster Ordnung steht, so kann dies entweder bedeuten, dass A tatsächlich den Wunsch hat, dass der Wunsch, X auszuführen, handlungswirksam wird, oder dass A nicht den Wunsch hat, dass der Wunsch, X auszuführen, handlungswirksam wird. Denn es könnte sein, dass jemand einen Wunsch hinsichtlich eines Wunsches hat, zugleich aber eindeutig wünscht, dass dieser Wunsch uner6 

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 13–16. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 13 f. 8  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 14. 9  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 14. 7 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

füllt bleibt. Frankfurt entfaltet das Beispiel eines Arztes, der sich psychotherapeutisch mit Drogensüchtigen befasst. Der Arzt glaubt, er könnte seine Patienten besser verstehen, wenn er wüsste, wie es sich anfühlt, nach Drogen süchtig zu sein. Daher wünscht er sich, drogensüchtig zu sein, das heißt, einen Wunsch nach Drogen zu haben. Gleichzeitig erscheint in diesem Beispiel die Annahme plausibel, dass der Arzt nicht wirklich das Verlangen nach Drogen haben will, denn er fürchtet eine Drogenabhängigkeit – sei es aufgrund der Sorge um seine eigene Gesundheit, sei es aufgrund der Sorge darum, dass er als Drogenabhängiger selbst die Hilfe eines Arztes beanspruchen müsste und seinen Patienten nicht mehr helfen könnte. Dennoch ist sein Wunsch, drogensüchtig zu sein, sein realer Wunsch, und je intensiver er mit seinen drogenabhängigen Patienten mitfühlt, umso deutlicher empfindet er diesen Wunsch, selbst drogensüchtig zu sein, um sie besser verstehen zu können.10 Es wäre falsch, aus der Tatsache, dass der Arzt sich wünscht, das Verlangen nach Drogen zu haben, zu schließen, er wünsche, dass das Verlangen nach Drogen handlungswirksame Relevanz besitzen solle – sprich, dass er wirklich drogensüchtig sein will. Der Arzt besitzt lediglich einen Wunsch, ohne dass dieser Wunsch gleichzeitig seinen Willen betreffen soll. Der Wunsch, nach Drogen zu verlangen, schließt somit nicht die Effektivität dieses Verlangens ein, das heißt der Wunsch, nach Drogen zu verlangen, bewegt ihn nicht zum Handeln. Der Wunsch, das Verlangen nach Drogen zu haben, stellt lediglich einen Wunsch neben verschiedenen anderen Wünschen dar, ohne dass der Arzt zugleich wünscht, dass das Verlangen nach Drogen die Rolle des Motivs für seinen Willen übernimmt.11 Die Aussage, „A wants to X“, die sich auf einen Wunsch zweiter Ordnung bezieht, kann aber auch so verstanden werden, dass der Wunsch, der gewünscht wird, auch handlungswirksam werden soll. Wenn die Aussage so verstanden wird, dann hat sie damit zu tun, was A möchte, dass es sein Wille sei. X auszuführen soll dann nicht einfach zur Gesamtheit seiner Wünsche zählen, sondern ihn tatsächlich zum Handeln bewegen, das heißt das Motiv für die Handlung abgeben, die A ausführt.12 Für diesen zweiten Fall gebraucht Frankfurt einen eigenen Begriff – er nennt Wünsche zweiter Stufe, die zugleich handlungswirksame Relevanz besitzen, Volitionen zweiter Ordnung („volitions of the second order“).13 Für den Per10 Vgl.

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 14 f. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 15. 12 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 15 f. 13  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 16. Der englische Terminus „volition“ kommt in der Regel eher in der Bedeutung von Handlungen im Sinn von Willensakten („acts of the will“) als im Sinn von Wünschen vor. John Stuart Mill gebraucht den Terminus beispielsweise in dieser Weise: „Among active states of the mind, there is however, one species which merits particular attention […] I mean volitions, or acts of the will“ (J. S. Mill: A System of Logic. Ratiocinative and Inductive. Being a Connected 11 Vgl.

2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens

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sonenbegriff erweisen sich nun die Volitionen zweiter Ordnung als bedeutsam. Mag logisch nichts gegen die Existenz von Wesen sprechen, die nur Wünsche zweiter Ordnung, aber keine Volitionen zweiter Ordnung besitzen, so erscheint dies doch unwahrscheinlich. Frankfurts Wortgebrauch versagt diesen Wesen den Begriff „Person“, wobei Frankfurt hierbei eine gewisse, der Praktikabilität seiner Darstellung geschuldete, Willkürlichkeit seines Vorgehens zugesteht.14 In einem späteren Aufsatz hat Frankfurt die folgende kompakte Zusammenfassung dieses Modells hierarchischer Wünsche formuliert: „My own preference has been for a model that involves levels of reflexivity or self-consciousness. According to this schema, there are at the lowest level first-order desires to perform one or another action. Whichever of these first-order desires actually leads to action is, by virtue of that effectiveness, designated the will of the individual whose desire it is. In addition, people characteristically have second-order desires concerning what first-­order desires they want, and they have second-order volitions concerning which first-order desire they want to be their will“15.

Einer Person, die zu Volitionen zweiter Ordnung fähig ist, steht in Frankfurts Darstellung ein Triebhafter („wanton“) gegenüber, der sich dadurch auszeichnet, sich die Wünschbarkeit seiner Wünsche nicht zum Gegenstand zu machen.16 Anders ausgedrückt: Er erwägt niemals, ob er auch möchte, dass sich aus dem Verhältnis seiner Wünsche eben der Wille ergibt, den er hat: „When a person acts, the desire by which he is moved is either the will he wants or a will he wants to be without. When a wanton acts, it is neither“17. Frankfurt illustriert sein Verständnis von Person und Triebhaftem anhand eines Beispiels, das die Situation zweier Drogensüchtiger beschreibt. Beiden Drogensüchtigen liegen identische physiologische Bedingungen ihrer Sucht zugrunde, entsprechend welchen sie in periodischen Abständen ihrem Verlangen nach der Droge ausgesetzt sind. Der eine Süchtige hasst seine Abhängigkeit und kämpft erbittert gegen sie – jedoch leider erfolglos. Er lässt nichts unversucht, um sein Verlangen nach der Droge zu überwinden und dennoch ist der Wunsch nach der Droge zu mächtig für ihn, sodass am Ende seines Kampfes in jedem View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation, hg. von J. M. Robson, Collected Works of John Stuart Mill, Vol. VII, Toronto, Buffalo, London 1973, 54, Herv. i. O.). Frankfurts Gebrauch des Terminus im Sinn von handlungswirksamem Wunsch stellt in diesem Sinn eine Neuinterpretation dar. Vgl. R. Stoecker: „Guidance. Ein Führer durch Frankfurts Handlungstheorie“, in: M. Betzler, B. Guckes (Hg.): Autonomes Handeln. Beiträge zur Philosophie Harry G. Frankfurts, Berlin 2000, 101–115, hier: 105, Anm. 2. 14 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 16, Anm. 5. 15  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 164. 16  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 16. Vgl. zu Frankfurts Darstellung des Triebhaften auch: H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 164–167; 176; H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, in: Ders.: Necessity, Volition, and Love, Cambridge 1999, 95–107, hier: 103, Anm. 14; 105 f. 17  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 19, Herv. i. O.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Fall das Verlangen nach der Droge siegt. Somit ist er ein Süchtiger wider Willen, der hilflos der Macht seiner eigenen Wünsche ausgesetzt ist. In der Perspektive des hierarchischen Wunschmodells lässt sich dies so beschreiben, dass dieser Süchtige einander widerstreitende Wünsche der ersten Stufe besitzt. Er möchte die Droge nehmen, und er möchte zugleich unterlassen, die Droge zu nehmen. Über diese beiden Wünsche erster Stufe hinausgehend besitzt er auch eine Volition zweiter Stufe. Durch diese steht er dem Widerstreit seiner Wünsche nicht neutral gegenüber, sondern er möchte, dass sein Wunsch, es zu unterlassen, die Droge zu nehmen, sein Wille sei, und nicht der Wunsch, die Droge zu nehmen. Dennoch wird sein Wunsch erster Stufe, die Droge zu nehmen, handlungswirksam und nimmt die Rolle seines Willens ein.18 Der andere Süchtige ist ein Triebhafter. All seine Handlungen entsprechen Wünschen erster Ordnung, wobei es für ihn nicht von Interesse ist, ob jene Wünsche, die ihn zum Handeln veranlassen, Wünsche solcher Art sind, durch die er sich zum Handeln veranlasst sehen möchte. Gelingt es ihm nicht, sich die Droge zu beschaffen, mag seine Reaktion auf das unbefriedigte Verlangen nach ihr durchaus Überlegungen einschließen. Doch er reflektiert dabei nie, ob er möchte, dass sich aus dem Verhältnis seiner Wünsche jener Wille hervortut, den er letztlich besitzt. In der Perspektive des hierarchischen Wunschmodells lässt sich zunächst auch für den triebhaft Drogensüchtigen sagen, dass es ihm möglich wäre, einander widerstreitende Wünsche erster Stufe zu besitzen. Es ist denkbar, er möchte die Droge nehmen und zugleich unterlassen, die Droge zu nehmen. Anders als der Süchtige wider Willen jedoch bevorzugt der triebhaft Süchtige keinen der beiden Wünsche in dem Sinn, dass er von einem der beiden möchte, dass dieser sein Wille sei.19 Missverständlich wäre zu sagen, der triebhaft Süchtige stehe dem Widerstreit seiner Wünsche gleichgültig gegenüber, denn dies könnte so verstanden werden, dass er beide Wünsche für gleichermaßen akzeptabel hält. Der triebhaft Süchtige besitzt jedoch keine Identität, die von den Wünschen erster Ordnung verschieden wäre – daher trifft es weder zu, dass er einem Wunsch gegenüber dem anderen eine Präferenz zubilligt, noch, dass er es bevorzugt, keine Stellung zu beziehen. Letztendlich setzt sich beim triebhaft Süchtigen der Wunsch, die Droge zu nehmen, deshalb durch, weil dieser Wunsch stärker ist als jener, es zu unterlassen, sie zu nehmen. Eine reflektierende Beurteilung dieses Prozesses findet – anders als beim widerwillig Süchtigen – dabei nicht statt. 20 Um das Verhältnis zwischen Handlungssubjekt und Willen zu beschreiben, greift Frankfurt auf den Begriff der Identifikation zurück. Der Süchtige wider Willen identifiziert sich mit seinem Wunsch erster Ordnung, es zu unterlassen, 18 Vgl.

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 17 f. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 18. 20 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 18. 19 Vgl.

2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens

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die Droge zu nehmen. Der triebhaft Süchtige hingegen identifiziert sich mit keinem seiner Wünsche. Identifikation mit Wünschen erster Ordnung ist somit gleichbedeutend mit der Ausbildung von Volitionen zweiter Ordnung. 21 Die Fähigkeit einer Person, Volitionen zweiter Ordnung auszubilden, steht auch im Zusammenhang mit einer Fähigkeit, die traditionell mit dem Personverständnis verbunden ist: die Fähigkeit zur Ausübung eines freien Willens. Frankfurt sieht in seinem Modell des hierarchischen Wünschens nicht zuletzt darin eine Stärke, in Anknüpfung an klassische philosophische Vorstellungen von Handlungs- und Willensfreiheit erklären zu können, warum die Freiheit des Willens für eine Person zum Problem werden kann. Mag das Verständnis von Handlungsfreiheit im Sinn der Freiheit zu tun, was man tun will, auch präzisierungsbedürftig sein 22, so trifft es Frankfurt zufolge doch zumindest einen Teil des Verständnisses, dass jemand frei handelt. Es enthält hingegen nichts von dem Verständnis, dass jemand einen freien Willen besitzt. 23 Frankfurts hierarchisches Modell des Wünschens bietet einen Vorschlag, Willensfreiheit im Sinn von frei sein, zu wollen, was man will, zu erläutern. Offensichtlich ist, dass Handlungsfreiheit keine hinreichende Bedingung für Willensfreiheit darstellt. Ein Tier mag Handlungsfreiheit besitzen, in die eine oder andere Richtung zu laufen, wie es ihm gefällt, doch würde man ihm dafür Frankfurt zufolge keine Willensfreiheit zusprechen. Handlungsfreiheit stellt jedoch auch keine notwendige Bedingung für Willensfreiheit dar. Wird einem Handlungssubjekt klar, dass es in gewisser Weise in seinen Handlungsmöglichkeiten gehindert ist, tangiert dies zwar seine Wünsche und die Grenzen des Bereichs, innerhalb dessen es Entscheidungen treffen kann. Aber es spricht laut Frankfurt nichts dagegen, anzunehmen, dass es sich seiner gehinderten Handlungsmöglichkeiten nicht bewusst ist. Dann ist deutlich, dass sich ein Handlungssubjekt weiterhin Wünsche so frei bilden kann, als ob seine faktische Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit nicht bestehen würde. 24 Willensfreiheit betrifft in Frankfurts Sicht weder die Frage nach der Umsetzbarkeit von Wünschen erster Stufe noch die Frage nach dem Verhältnis von dem, was jemand tut, und dem, was er tun will. Beide Fragen gehören zum Bereich 21 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 18. Vgl. ebenfalls H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 105: „On hierarchical accounts, a person identifies with one rather than with another of his own desires by virtue of wanting to be moved to action by the first desire rather than by the second. For example, someone who is trying to quit smoking is identified with his first-order desire not to smoke, rather than with his concurrent first-order desire for another cigarette, if he wants the desire not to smoke to be the one that effectively guides his conduct“. 22  Dies gilt beispielsweise hinsichtlich der Frage, wie „tun“ oder „wollen“ und die Beziehung zwischen beiden aufzufassen ist. Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 20. 23 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 19 f. 24 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 20.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

der Handlungsfreiheit. Willensfreiheit hingegen betrifft nach Frankfurt allein die Wünsche selbst. Um dies deutlich zu machen, konstruiert Frankfurt sein Verständnis von Willensfreiheit in analoger Struktur zu seinem Verständnis von Handlungsfreiheit. Entsprechend dem Verständnis von Handlungsfreiheit, das die Freiheit meint, zu tun, was man tun will bzw. was man sich wünscht, meint Willensfreiheit die Freiheit, zu wollen, was man will bzw. sich wünschen zu können, was man sich wünschen möchte. Oder anders ausgedrückt: Ein willensfreies Handlungssubjekt ist nach Frankfurt frei, denjenigen Willen zu haben, den es haben möchte. In der Terminologie des hierarchischen Wünscheverhältnisses macht jemand dann von seiner Willensfreiheit Gebrauch, wenn er sicherstellt, dass sein Wille und seine Volition zweiter Stufe übereinstimmen. 25 Einem Handlungssubjekt kann die Willensfreiheit nach Frankfurt aus zwei Gründen abhanden kommen: Zum einen dann, wenn die Übereinstimmung von Volition zweiter Ordnung und Willen nicht gelingt. Dies trifft auf den Fall des widerwillig Süchtigen zu. Zum anderen aber auch dann, wenn die Übereinstimmung von Volition zweiter Ordnung und Wille nicht das eigene Werk des Handlungssubjekts darstellt, sondern durch einen glücklichen Zufall zustande kommt. 26 An diesem Punkt wird erkennbar, dass für Frankfurt die Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch eine notwendige Bedingung für Willensfreiheit darstellt. Wie Identifikation dabei zu verstehen ist, wird in den folgenden Abschnitten 2.2 und 2.3 dieses Kapitels eine zentrale Rolle spielen. Schließlich bleibt zu fragen, ob der triebhaft Süchtige ebenfalls keine Willensfreiheit besitzt. Frankfurt geht in der Tat auch davon aus – doch erscheint ihm diese Unfreiheit des Willens von einer anderen Art als diejenige des widerwillig Süchtigen. Weder hat der triebhaft Süchtige den Willen, den er haben möchte, noch einen, der von dem unterschieden wäre, den er möchte. Da er keine Volitionen zweiter Ordnung besitzt, kann ihm die Freiheit seines Willens weder zur Freude noch zum Problem werden, sodass man schließlich sagen kann, dass er seine Willensfreiheit versäumt. 27 Frankfurt weist selbst auf verschiedene Herausforderungen für sein Modell hin. Zunächst erscheint nicht selbstverständlich, dass sich Volitionen zweiter Stufe immer und unbedingt klar ausbilden. Es kann auch ein Zustand ungeklärten Widerstreits verschiedener Volitionen zweiter Stufe eintreten. Wer sich in einem solchen Zustand befindet, ähnelt dem Triebhaften und wird zum hilflosen Betrachter der Mächte, die ihn treiben. 28 Ferner weist Frankfurt explizit 25 Vgl.

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 20. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 20 f. 27 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 21. 28 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 21. In „The Faintest Passion“ widmet sich Frankfurt später ausführlich dieser Schwierigkeit, die er dort als Zustand der Ambivalenz („ambivalence“) bezeichnet. S. Abschnitt 2.2.2. 26 Vgl.

2.1 Freiheitstheorie als Theorie des hierarchischen Wünschens

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darauf hin, dass Willensfreiheit nicht zwangsläufig zum Problem werden muss. In den Genuss der Willensfreiheit zu gelangen, fällt manchen leicht, während andere einen Kampf ausfechten, um sie zu erlangen. Entsprechend der jeweiligen natürlichen Anlagen behaupten sich Menschen unterschiedlich gut bei ihren Bemühungen, ihren Willen ihren Volitionen zweiter Ordnung entsprechen zu lassen. 29 Eine dritte und für den Kontext der vorliegenden Untersuchung entscheidende Problematik, mit der sich Frankfurt auch in weiteren Aufsätzen beschäftigt, und an der auch seine Zurückweisung der Relevanz des Freiheitsverständnisses der radikalen Selbstbestimmung deutlich wird, betrifft schließlich die Frage nach den Bedingungen der Identifikation eines Handlungssubjekts mit seinen Volitionen zweiter Ordnung, die sich ihm infolge des hierarchischen Charakters seines Modells als Regressproblematik stellt. Frankfurt konstatiert, dass es Volitionen dritten, vierten und höheren Grades geben kann, die sein Modell nicht zu berücksichtigen scheint. Jedoch geht er in „Freedom of the will and the concept of a person“ davon aus, dass der Entschluss einer Person, sich mit einem Wunsch erster Stufe zu identifizieren, den potenziell endlosen Raum höherer Stufen „durchhallt“ („resounds“) und einen Willenbildungsprozess beendet.30 Diese knappe Argumentation gegen die als unbedeutsam eingestufte Gefahr eines drohenden Regresses höherstufiger Wünsche stellt nicht den einzigen Beitrag Frankfurts zu dieser Schwierigkeit dar. Weitere Entfaltungen dieser Argumentation in späteren Aufsätzen lassen sich dahingehend deuten, dass diese Gefahr sich keineswegs als unbedeutsam zurückweisen lässt, sondern eine wegweisende Herausforderung der Freiheitsproblematik betrifft.31 Frankfurts Darstellung einer Freiheitstheorie in Form einer Theorie des hierarchischen Wünschens wurde im Kontext der angelsächsischen analytisch-­ philosophischen Freiheitsdebatte in unterschiedlicher Perspektive kritisiert.32 Die vorgebrachten Einwände hängen dabei zumeist mit der Frage nach der Möglichkeit der Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch zusammen, genauer mit der Frage nach der Normativität der handlungswirksamen Wünsche, die auch zur Lösung der Regressproblematik führen 29 Vgl.

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 22. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 21. 31 S. Abschnitt 2.2. 32  Eine Übersicht zu einigen Haupteinwänden gibt beispielsweise P. Baumann: Die Autonomie der Person, Paderborn 2000, 165–177. Neben verschiedenen Varianten des Regresseinwands werden unter anderem besonders das Verhältnis der Wünsche untereinander und die Problematik des Wunscherwerbs, insbesondere die Frage nach der Quelle der handlungswirksamen Wünsche, diskutiert, und entsprechend weiterentwickelte Varianten des hierarchischen Modells vorgeschlagen. Vgl. auch B. Guckes: „Willensfreiheit trotz Ermangelung einer Alternative? Harry G. Frankfurts hierarchisches Modell des Wünschens“, in: H. Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung, 1–17, hier: 11–17. 30 

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

kann. Es steht die Frage nach einer Bewertungsinstanz im Raum, die Wünsche als dem Handlungssubjekt zu eigen auszeichnet. Dies gilt im Übrigen grundsätzlich und nicht allein für Freiheitstheorien des hierarchischen Wünschens.33 Eine Theorie des hierarchischen Wünschens, wie jene Frankfurts, eignet sich jedoch besonders, um auf diese Schwierigkeit hinzuweisen. Ein Handlungssubjekt, das als causa sui verfasst wäre, das heißt zu Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung fähig, würde als erstklassiger, weil in seiner Durchschlagskraft wohl konkurrenzloser, Kandidat für diese Bewertungsinstanz gelten können. In den beiden folgenden Abschnitten wird jedoch deutlich werden, dass Frankfurt sich zu dieser möglichen Lösung abweisend verhält – zum einen scheint ihm radikale Selbstbestimmung als Bedingung für Freiheit nicht sinnvollerweise gefordert werden zu können, da sie ihm unmöglich erscheint, und zum anderen erscheint ihm diese Bedingung für das Freiheitsverständnis, das sich in seinem hierarchischen Modell hinreichend beschreiben lässt, gänzlich irrelevant.34

2.2 Regressproblematik und Identifikation Wie Frankfurt in „Freedom of the Will and the Concept of a Person“ selbst erkennen lässt, kann seinem Modell gegenüber die Frage gestellt werden, wodurch die Wünsche zweiter Stufe bestimmt sein sollen. Das Handlungssubjekt könnte sie bestimmen, indem es Wünsche dritter Stufe ausbildet. Diese wiederum könnten das Ergebnis Wünsche vierter Stufe darstellen ad infinitum. So kann die Iteration von Wünschen in diesem Modell in der Gefahr stehen, in einen infiniten Regress zu münden.35 33  Frankfurt selbst ist sich dieses Sachverhalts bewusst. Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 166, Anm. 9; H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 103. 34  Infolge des hier beschriebenen Vorschlags Frankfurts, Freiheit als Verhältnisbestimmung von Wünschen zu beschreiben, entstanden im Kontext der angelsächsischen analytischen Philosophie eine Reihe weiterer Freiheitsmodelle, die sich alle als Modelle des hierarchischen Wünschens bezeichnen lassen, und die sich, teils direkt, teils indirekt, kritisch mit Frankfurts Vorschlag auseinandersetzen. Es wäre ohne Zweifel lohnenswert, sich in Auseinandersetzung mit der Vielfalt an Einwänden, die gegen Frankfurts Modell erhoben wurde, die Problematik der Identifikation weiter zu verdeutlichen. Die Konzeption der vorliegenden Untersuchung lässt eine so breit angelegte Vorgehensweise jedoch nicht zu. Vgl. u.a. folgende weitere bedeutende Modelle des hierarchischen Wünschens: G. Dworkin: „Autonomy and Behavior Control“, in: Hastings Center Report 6 (1976), 23–28; G. Dworkin: The Theory and Practice of Autonomy, Cambridge 1988; W. Neely: „Freedom and Desire“, in: Philosophical Review 83 (1974), 32–54; G. Watson: „Free Agency“, in: Journal of Philosophy 72 (1975), 205–220 – alle diesbezüglichen in dieser Untersuchung auftretenden Zitate und Anmerkungen rekurrieren auf diese Ausgabe; ebenfalls in: G. Watson (Hg.): Free Will, Oxford 1982, 96–110. Zu den gängigen Einwänden, die in einigen Fällen nicht nur Frankfurts Modell, sondern auch andere hierarchische Modelle betreffen, s. Anm. 32. 35 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 21.

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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In „Identification and Externality“36 beschreibt Frankfurt eine vergleichbare Regressproblematik. In Hinsicht auf Vorlieben („passions“), die Menschen besitzen, thematisiert Frankfurt dazugehörige Haltungen („attitudes“), die darüber entscheiden, ob einem Menschen eine Vorliebe innerlich oder äußerlich bzw. fremd erscheint.37 Für diese Haltungen selbst gilt nun, dass ein Mensch sich mit ihnen identifizieren muss, damit sie geeignet sind, über die Innerlichkeit und Äußerlichkeit der Vorlieben zu entscheiden. Die Haltung selbst muss innerlich sein, um mit Blick auf eine zugehörige Vorliebe hinsichtlich Innerlichkeit und Äußerlichkeit entscheidungsfähig zu sein. Doch wie kann die Innerlichkeit der Haltung gewährleistet werden? – Wohl durch eine weitere Haltung, die jedoch wiederum innerlich sein muss, um in Hinsicht auf die erste Haltung hinsichtlich Innerlichkeit und Äußerlichkeit entscheidungsfähig zu sein. So ergibt sich hier ein infiniter Regress verschiedener Vorlieben bzw. dazugehöriger Haltungen, der dem Regress verschiedener Wünsche in „Freedom of the will and the concept of a person“ entspricht: „[G]iven that the question of attribution arises not only with regard to a person’s passions, but also with regard to his attitudes toward his passions, an infinite regress will be gener­ ated by any attempt to account for internality or externality in terms of attitudes. For the attitude that is invoked to account for the status of a passion will have to be an internal one; its internality will have to be accounted for by invoking a higher-order attitude – that is, an attitude toward an attitude; the internality of this higher-order attitude will have to be accounted for in terms of an attitude of a still higher order; and so on.“38

Wie kann der Regress verhindert werden? Ein Abbruch, der auf Gründe bzw. Ursachen zurückgreift, beendet den Regress nie, sondern führt nur in ein je weiteres Glied des Regresses. Ein Abbruch, der nicht auf Gründe bzw. Ursachen zurückgreift, steht jedoch in der Gefahr, willkürlich zu erfolgen. In „Identification and Externality“ stellt Frankfurt fest, dass eine endgültige Identifikation durch den Akt einer Entscheidung zustande kommen kann („making a particular kind of decision that the relation of the person to his passions is established“39), bemerkt jedoch einschränkend, dass die Vorstellung einer Entscheidung undurchsichtig bleibt.40 Was es bedeutet, sich mit einer Vorliebe zu identifizieren und mit einer anderen nicht, bezeichnet Frankfurt abschließend als ein grundsätzliches und frustrierend hartnäckiges Problem.41

36  H. Frankfurt: „Identification and Externality“, in: H. Frankfurt: The Importance of what we care about, 58–68. 37  H. Frankfurt: „Identification and Externality“, 65. 38  H. Frankfurt: „Identification and Externality“, 66. 39  H. Frankfurt: „Identification and Externality“, 68. 40  „In any event, the nature of decision is very obscure“ (H. Frankfurt: „Identification and Externality“, 68). 41 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and Externality“, 68.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Wird wiederum auf diese Schwierigkeit geblickt, wie sie in „Free will and the concept of a person“ erscheint, so argumentiert Frankfurt dort mit einem praktischen Argument für einen Abbruch des Regresses, der nicht als willkürlich eingestuft werden muss. Zunächst schildert Frankfurt die Regress-Problematik der hierarchischen Wünsche in seiner empirischen Plausibilität: „There is no theoretical limit to the length of the series of desires of higher and higher orders; nothing except common sense and, perhaps, a saving fatigue prevents an individual from obsessively refusing to identify himself with any of his desires until he forms a desire of the next higher order. The tendency to generate such a series of acts of forming desires, which would be a case of humanization run wild, […] leads toward the destruction of a person.“42

Anerkennt Frankfurt hier die Schwierigkeit, dass sich theoretisch eine endlose Serie von Wünschen bilden kann, und sieht er auch, dass dies zur Zerstörung einer Person seines Verständnisses führen würde, so weist er diesen Einwand doch als praktisch wenig relevant zurück. Denn es erscheint Frankfurt nicht plausibel, einen Handlungswunsch, mit dem sich ein Handlungssubjekt letztlich identifiziert, durch höherstufige Wünsche wieder und wieder in Frage zu stellen: „It would be a mistake to claim that, because he has not considered whether he wants the second-order volition he has formed, he is indifferent to the question of whether it is with this volition or with some other that he wants his will to accord. The decisiveness of the commitment he has made means that he has decided that no further question about his second-order volition, at any higher order, remains to be asked.“43

Es erscheint Frankfurt sowohl unpraktisch als auch unsinnig, immer auf höhere Stufen zu rekurrieren. Stellt sich der Zustand der Entschiedenheit bei einem Handlungssubjekt ein, so bleibt es ohne Zweck, die Handlung durch immer höhere Wünsche zu hinterfragen. Mit diesem praktischen Argument weist Frankfurt den Regresseinwand hier zurück. In den beiden späteren Arbeiten „Identification and wholeheartedness“ sowie „The Faintest Passion“ hat Frankfurt sein Verständnis von Entschiedenheit detaillierter entfaltet und als „wholeheartedness“ bezeichnet.44 Handlungssubjekte befinden sich im Zustand der „wholeheartedness“, wenn kein Konflikt besteht zwischen Volitionen zweiter Ordnung und höherstufigen Wünschen, die sich auf die Volitionen zweiter Ordnung beziehen.

42 

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 21. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 21 f. 44 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“ und H. Frankfurt: „The Faintest Passion“. 43 

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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Der englische Terminus „wholehearted“ bzw. „wholeheartedly“ lässt sich zunächst in zwei Grundbedeutungen verstehen. Zum ersten handelt jemand „wholehearted“, wenn er ernsthaft und aufrichtig das will, was er tut, zum zweiten, wenn jemand mit ganzem Herzen bei der Sache ist, das heißt auf engagierte und rückhaltlose Weise ganz und gar so handelt, wie er handelt.45 Frankfurt verwendet den Terminus in einer dieser zweiten Bedeutung nahe kommenden Variante – in seinen Ausführungen lässt sich ein Handlungssubjekt, dem „wholeheartedness“ zu eigen ist, als eines verstehen, das im Besitz einer ungeteilten Überzeugung ist. Eine Handlung im Sinn der „wholeheartedness“ zeichnet sich in Frankfurts Verständnis dadurch aus, dass sie rückhaltlos und ohne jegliches inneres Schwanken des Handlungssubjekts ausgeführt wird.46 Somit erarbeitet Frankfurt sein Verständnis von Entschiedenheit als Lösung der Regressproblematik neu und setzt sich dabei mit der Kritik an seinem praktischen Argument in „Freedom of the will and the concept of a person“ und auch mit der selbstkritisch beschriebenen Undurchsichtigkeit des Begriffs der Entscheidung in „Identification and externality“ auseinander. Im Folgenden werden diese Erwiderungen Frankfurts auf die Regressproblematik deutlich werden lassen, welche Rolle der Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit in Frankfurts Freiheitsmodell zukommt: Radikale Selbstbestimmung erscheint zum einen als unmöglich, zum anderen als für das Freiheitsverständnis irrelevant. Frankfurt führt zum einen in „Identification and wholeheartedness“ ausgehend von der Frage nach der Beschaffenheit des Bewusstseins (Abschnitt 2.2.1), und zum anderen in „The Faintest Passion“ ausgehend von der Frage nach der Erfahrung des Opfers einer Lüge (Abschnitt 2.2.2) zur Regress-Problematik hin – in entsprechender Form ergibt sich die hier folgende Darstellung in zwei Unterabschnitten.

2.2.1 Identification and wholeheartedness Anthony Kenny hat die Fähigkeit zur Unterscheidung als Merkmal des Bewusstseins beschrieben.47 Frankfurt stellt daran anknüpfend in „Identification and wholeheartedness“ fest, dass hiermit die Frage der unterschiedlichen Affektion durch verschiedene Dinge beschrieben ist. Der Bewusstseinszustand bleibt je nach Vorkommnis oder Abwesenheit eines bestimmten Umweltmerkmals 45 Vgl. M. Cop u.a. (Projektleitung): PONS. Wörterbuch für Schule und Studium. Teil 1, Englisch-Deutsch, vollständige Neuentwicklung, Stuttgart 2001, 1507. 46  Die deutsche Übersetzung des Aufsatzes „Identification and wholeheartedness“ trägt entsprechend die angemessene Übersetzung „Identifikation und ungeteilter Wille“. Vgl. H. Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung Ausgewählte Texte, hg. v. M. Betzler und B. Guckes, Berlin 2001, 116–137, vgl. auch 116, Anm. (*). 47 Vgl. A. Kenny: The Nature of Mind, Edinburgh 1972, 43, zitiert bei Frankfurt: H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 160.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

nicht derselbe – damit erfolgt eine Unterscheidung zwischen dem Vorkommnis und der Abwesenheit des Merkmals.48 Frankfurt kritisiert Kennys Verständnis als unzulänglich. Zwar stellt das Unterscheidungsvermögen durchaus ein zentrales Moment des Bewusstseins dar, doch wird dadurch keineswegs das erfasst, was gewöhnlich unter Bewusstsein verstanden wird: Reflexivität. Dieses Merkmal des Bewusstseins kommt nicht allein dem alltäglichen Verständnis entgegen, sondern zeigt seine Vorzüge auch in der Möglichkeit der Kontrastierung von Bewusstsein und Bewusstlosigkeit. Frankfurt sieht die nicht wünschenswerte Möglichkeit, das Kennysche Verständnis von Bewusstsein auf solche Entitäten anzuwenden, bei welchen die Kontrastierung von Bewusstsein und Bewusstlosigkeit unplausibel erscheint. Ein Stück Metall kann sich seiner Umgebungstemperatur insofern „bewusst“ sein, als es sich dem Temperaturwechsel entsprechend ausdehnt oder zusammenzieht. Doch dann erscheint es sinnvoller, Bewusstsein nicht dem Zustand der Bewusstlosigkeit – unter dem wir gewöhnlich tiefen Schlaf, Narkose oder Koma verstehen – sondern dem Zustand kausaler Isolation gegenüberzustellen. Das von Frankfurt bevorzugte Bewusstseinsmerkmal der Reflexivität vermag hingegen, Bewusstsein in Kontrastierung zu Bewusstlosigkeit zu verstehen, da es menschliches Bewusstsein vom Bewusstsein des Metallstücks unterscheidet.49 „When I am awake on a hot day, the heat raises the temperature of my skin; it also raises the surface temperature of a piece of metal. Both the metal and I respond to the heat, and in this sense each of us is aware of it. But I am also aware of my response, while the metal is not. The increase in the temperature of my skin is itself something which I discriminate, and this is essential to the mode of being conscious that consists in feeling warm.“50

Frankfurt schränkt ein, dass Bewusstsein selbst natürlich nicht durch Reflexivität erklärt werden kann. Bleiben die Gründe für Bewusstsein einer ersten Reaktion unklar, so ergeben sich keine neuen Gründe für Bewusstsein durch den Hinweis auf eine zweite Reaktion, welche sich auf die erste Reaktion bezieht. Dennoch kann Bewusstsein nicht ohne den Aspekt der Reflexivität erklärt werden. Es ist nicht erklärbar, was Bewusstsein von etwas wäre, ohne sich dieses Bewusstseins bewusst zu sein.51 48 Vgl.

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 160.

49 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 160 f. Als weitere Schwie-

rigkeit des Kennyschen Verständnisses erkennt Frankfurt, dass Schlaf als nahe liegendes Beispiel für Bewusstlosigkeit Reaktionsfähigkeit nicht grundsätzlich ausschließt. Dies ist schon allein durch die potentielle Reaktionsfähigkeit, während des Schlafs geweckt zu werden, einsichtig. Da dies für Menschen wie für Tiere gilt, muss auch Tieren ein gewisses Maß an Bewusstsein zugesprochen werden. Diesen Einwand bewertet Frankfurt jedoch weniger schwer als die Anwendbarkeit von Bewusstsein auf Entitäten wie das Metallstück. Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 160 f. 50  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 161. 51 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 161 f.

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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„It would mean having an experience with no awareness whatever of its occurrence. This would be, precisely, a case of unconscious experience. It appears, then, that being conscious is identical with being self-conscious. Consciousness is self-consciousness.“52

Bewusstsein kann nur als Selbstbewusstsein verstanden werden, ohne dass hierfür rationale Kapazitäten erforderlich wären. Die von Frankfurt beschriebene Reflexivität betrifft die Aufmerksamkeit des Bewusstseins es selbst betreffend – nicht die Aufmerksamkeit des Bewusstseins eines Selbst oder Subjekts bzw. des Bewusstseins der Tatsache, dass Aufmerksamkeit vorliegt.53 Auch darf Selbstbewusstsein nicht als doppeltes Bewusstsein missverstanden werden, als Bewusstsein in Hinsicht einer primären Aufmerksamkeit und einem davon trennbaren Bewusstsein, welches das erste Bewusstsein zu seinem Objekt hat. Insofern lässt sich das fragliche Selbstbewusstsein als „immanent reflexivity“54 auffassen, das einer Lichtquelle gleichkommt, die zuzüglich zur Beleuchtung all der von ihr beschienenen Gegenstände auch sich selbst sichtbar macht.55 Von der angemessenen Beschreibung des Bewusstseins durch sein Merkmal der Reflexivität wendet sich Frankfurt der Frage nach seiner Bedeutsamkeit zu. Scheint die grundsätzliche Frage nach dem Wozu von Bewusstsein rätselhaft zu bleiben, so kommt es Frankfurt auf die Bedeutsamkeit der Reflexivität innerhalb des Bewusstseins an, die einem jeden, in dessen Leben sie vorkommt, ohne Weiteres offenbar ist. Die Fähigkeit, die eigene Lage zu reflektieren („secondary responsiveness“), erscheint Frankfurt wesentlich für zielgerichtetes Verhalten.56 Ein Metallstück, das erhitzt wird, ändert sich nicht in zielgerichteter Weise – anders hingegen eine Sonnenblume, die sich dem Stand der Sonne entsprechend zuwendet. Dabei werden das Metallstück wie die Sonnenblume durch Umweltstimuli affiziert und gleichermaßen unterscheiden sie diese. Das Metallstück trifft jedoch allein Unterscheidungen erster Ordnung, während die Sonnenblume Unterscheidungen erster sowie zweiter Ordnung trifft. Anders als die Sonnenblume ist das Metallstück nicht empfänglich gegenüber dem, was mit ihm geschieht. Die Sonnenblume hingegen scheint zu einem zielgerichteten Wandel fähig zu sein, der in Reflexion auf ihr Affiziertsein durch die Sonne hervorgerufen wird.57 Frankfurt fragt auch danach, wozu die Reflexivität des Bewusstseins dienen kann und antwortet wie folgt:

52 

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 161 f., Herv. i. O. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 162, Anm. 5. 54  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 162. 55 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 162. 56  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 162. 57 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 163. 53 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

„A creature engaged in secondary responsiveness is monitoring its own condition; to that extent the creature is in a position, or at least is closer to being in a position, to do something about its condition. Thus reflexivity has a point, just as action itself does, in virtue of the riskiness of existence. It enables a creature, among other things, to respond to the circumstances that its interests are being adversely affected.“58

Reflexivität dient somit dem Umgang mit Existenzrisiken, insofern auf Widrigkeiten die eigenen Interessen betreffend zielgerichtet reagiert werden kann. Darüber hinaus sieht Frankfurt die Bedeutsamkeit der Reflexivität des Bewusstseins allgemeiner darin, dass Wesen mit solchem Bewusstsein Sorge59 dafür tragen, wer sie sind.60 Schließlich gelangt Frankfurt zu einer Darstellung der Möglichkeiten, die sich durch die Beschäftigung mit den eigenen Motiven des Handelns ergeben. Handlungen können sowohl aus Motiven erfolgen, die das Handlungssubjekt als seine eigenen erkennt, als auch aus Motiven, die dem Handlungssubjekt fremd erscheinen, und auch ohne jegliche Identifikation mit einem Motiv. Als glaubwürdigste und klarste Auffassung dieser Reihe von Phänomenen erscheint Frankfurt sein in „Freedom of the will and the concept of a person“ entfaltetes Modell des hierarchischen Wünschens. Auf unterster Stufe befinden sich Wünsche erster Ordnung, diese oder jene Handlung auszuführen. Derjenige Wunsch erster Stufe, der zur Handlung führt, entspricht dem festgelegten Willen des Individuums, dessen Wunsch er ist. Auf nächst höherer Stufe befinden sich – für Menschen kennzeichnend – Wünsche zweiter Ordnung, die sich darauf beziehen, welche Wünsche erster Ordnung man haben will. Volitionen zweiter Ordnung stellen bekanntlich jene Wünsche zweiter Ordnung dar, die sich auf den Willen des handelnden Individuums beziehen – das heißt auf einen handlungswirksamen Wunsch erster Ordnung. Darüber hinaus kann es auch Wünsche und Volitionen höherer Ordnungen geben.61 Frankfurt beschreibt zwei Möglichkeiten, wie innerhalb dieses Modells den Willen betreffende Aspekte des Lebens einer Person radikal geteilt oder zusammenhanglos erscheinen können („volitional aspects of a person’s life may

58 

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 163. Frankfurt widmet sich in einigen Beiträgen explizit dem Verständnis von Sorge – car­ ing/to care –, das im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter erörtert zu werden braucht. Vgl. H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, in: Ders.: The importance of what we care about, 80–94, in deutscher Übersetzung: H. Frankfurt: „Über die Bedeutsamkeit des Sich-Sorgens“, in: Ders.: Freiheit und Selbstbestimmung, 98–115 und H. Frankfurt: „On Caring“, in: Ders.: Necessity, Volition, and Love, 155–180, in deutscher Übersetzung: H. Frankfurt: „Vom Sorgen oder: Woran uns liegt“, in: Ders.: Freiheit und Selbstbestimmung, 201–231. 60 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 163. 61 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 163 f. 59 

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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be radically divided or incoherent“62). Zum einen besteht die Möglichkeit der Diskrepanz zwischen Volitionen höherer Ordnung und dem Willen, zum anderen zwischen verschiedenen Volitionen höherer Ordnung untereinander. Im ersten Fall ist der Wille einer Person nicht jener, den sie haben möchte, das heißt es gelingt ihr nicht, von einem Wunsch zur Handlung veranlasst zu werden, von dem sie möchte, dass er sie effektiv zum Handeln veranlasst. Eine Person, die eigentlich wünscht, nicht zu rauchen, jedoch dem starken Wunsch nach einer Zigarette unterliegt, kann hier als Beispiel dienen.63 „It is not the will he wants, but one that is imposed on him by a force with which he does not identify and which is in that sense external to him.“64

Im zweiten Fall ist nicht die Beziehung von Volitionen höherer Ordnung und Wille von Belang, das heißt es geht nicht um eine Frage der Willensstärke, sondern um die Frage, „whether the highest-order preferences concerning some volitional issue are wholehearted“65. Selbst wenn Wünsche eine komplexe und umfangreiche hierarchische Struktur bilden, ist es möglich, dass keine eindeutige Antwort auf die Frage gegeben ist, was eine Person wirklich möchte. Frankfurt unterscheidet zwei Möglichkeiten, wie der zweite Fall eintreten kann. Entweder ist eine Person ambivalent hinsichtlich des Objekts, das sie am meisten möchte. Dies kann zum Beispiel so sein, wenn sie sich nicht nur davon angezogen, sondern gleichzeitig auch davon abgestoßen fühlt. Oder es besteht eine Inkohärenz bzw. ein Konflikt zwischen den Präferenzen der Person hinsichtlich dessen, was sie will. Zusammenfassend weist Frankfurt auf die Differenz von äußerer und innerer Inkohärenz den volitionalen Komplex betreffend hin, welche den beiden Fällen entspricht: „Incoherence of the first kind (the kind that afflicts the smoker) might be characterized as being between what the person really wants and other desires – like the rejected but nonetheless inescapably preemptive desire to smoke – that are external to the volitional complex with which the person identifies and by which he wants his behavior to be determined. The second kind of incoherence is within this volitional complex. In the absence of wholeheartedness, the person is not merely in conflict with forces ‘outside’ him; rather, he himself is divided.“ 66

Frankfurt erkennt die Stärken seines Modells wie schon in „Freedom of the will and the concept of a person“ in der Möglichkeit der Erklärung beeinträchtigter Autonomie – wie zum Beispiel die des unfreiwilligen Rauchers – durch das Verhältnis verschiedener Arten von Wünschen sowie in Erklärungsmöglich-

62 

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 164. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 164 f. 64  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 165. 65  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 165, Herv. i. O. 66  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 165, Herv. i. O. 63 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

keiten, die Merkmale des Geistes betreffen, wie zum Beispiel Willensschwäche oder Ich-Ideal etc. Doch er räumt ein, dass der Rückgriff allein auf das Hierarchie­modell eine beachtliche Schwierigkeit nicht auszuräumen vermag – eine Schwierigkeit, die gleichermaßen Wünsche aller Stufen betrifft, und in der Frage besteht, wodurch die Identifikation von Wünschen mit dem Handlungssubjekt gewährleistet sein soll.67 „Someone does what he really wants to do only when he acts in accordance with a pertinent higher-order volition. But this condition could not be sufficient unless the higher-­ order volition were itself one by which the person really wanted to be determined.“68

Die nahe liegende Lösung zur Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch läge bekanntlich in einem Wunsch dritter Stufe, wobei dessen Identifikation durch einen Wunsch vierter Stufe gewährleistet sein müsste etc.: „That would lead to a regress which it would be quite arbitrary to terminate at any particular point.“69 Frankfurt befindet sich damit wieder an jenem Punkt, den er schon in „Freedom of the will and the concept of a person“ als Schwierigkeit ausgemacht hat. Die Schwierigkeit betrifft beide Arten volitionaler Inkohärenz, die er hier in Weiterführung seiner früheren Darstellung unterschieden hat. Es muss erklärt werden, wie manche Wünsche einer Person wesenseigen sein können, während andere Wünsche ihr äußerlich bleiben. Die Zuweisung von Wünschen zu verschiedenen Stufen einer Hierarchie erklärt nicht, was es bedeutet, sich mit einem bestimmten statt einem anderen Wunsch zu identifizieren. Es bleibt unklar, warum eine Person als Teilnehmerin eines in ihr bestehenden Konflikts zwischen Volitionen zweiter Ordnung und Wünschen erster Ordnung oder zwischen verschiedenen Volitionen zu verstehen ist. Gary Watson hat diese Schwierigkeit, wie Frankfurt anerkennt, prägnant formuliert: „Since second-order volitions are themselves simply desires, to add them to the context of conflict is just to increase the number of contenders; it is not to give a special place to any of those in contention.“70

Zwar bietet das hierarchische Modell die Möglichkeit, einen inneren Konflikt zwischen Wünschen verschiedener Wünsche zu beschreiben – doch dies sagt nichts über die Frage aus, „where (if anywhere) the person himself stands“71. Frankfurt ist sich darüber im Klaren, dass diese Schwierigkeit an seinem Modell

67 Vgl.

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 165 f. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 166, Herv. i. O. 69  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 166. 70  G. Watson: „Free Agency“, 218. Bei Frankfurt zitiert: H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 166. 71  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 166. 68 

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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besonders virulent wird, sie jedoch eine Grundschwierigkeit jeder Freiheits­ theorie darstellt.72 Hinsichtlich des Vorschlags zur Bewältigung dieser Schwierigkeit in „Freedom of the will and the concept of a person“ räumt Frankfurt ein, dass seine dort – und etwa auch in „Identification and externality“ – verwendeten Begriffe „identification“, „decisive commitment“ und „resounding“ sich letztlich als schrecklich undurchsichtig („terribly obscure“) erweisen.73 Darin erkennt er den Grund, warum sein Votum für eine endgültige Entschiedenheit dem Verdacht des willkürlichen Regressabbruchs ausgesetzt ist. Frankfurt gibt Watsons entsprechenden Einwand wieder: „We wanted to know what prevents wantonness with regard to one’s higher-order volitions. What gives these volitions any special relation to ‘oneself’? It is unhelpful to answer that one makes a ‘decisive commitment,’ where this just means that an interminable ascent to higher orders is not going to be permitted. This is arbitrary.“74

Watson geht es um die Frage, aus welchem Grund ein Handlungssubjekt fähig ist, sich mit einem seiner Wünsche zu identifizieren. Letztlich gibt Frankfurt keine Erklärung dafür, wie sich ein triebhaftes Handlungssubjekt, das sich in keiner Weise um seinen Willen kümmert, von einem Handlungssubjekt unterscheidet, das sich mit seinem Willen identifiziert. Frankfurt liegt als Antwort auf diese Problematik daran, sich mit Hilfe eines Beispiels über eine mathematische Rechenoperation den selbstkritisch als „terribly obscure“75 – schrecklich undurchsichtig eingeschätzten Begriffen so zuzuwenden, dass seine Sicht eines möglichen Abbruchs des Regresses nicht mehr dem Vorwurf Watsons ausgesetzt bleibt, willkürlich geschehen zu müssen. Eine Person, die eine arithmetische Berechnung ausgeführt hat, hat die Möglichkeit, diese Berechnung erneut auszuführen, um ihr Ergebnis zu überprüfen. Das Ergebnis der zweiten Berechnung stimmt mit jenem der ersten Berechnung überein, sodass das Ergebnis der ersten Berechnung durch jenes der zweiten Berechnung bestätigt wird. Nun ist es möglich, dass beide Berechnungen fehlerhaft sind – und eine dritte Berechnung könnte die Fehlerhaftigkeit der beiden ersten möglicherweise zutage treten lassen. Doch möglicherweise bestätigt auch die dritte Berechnung das Ergebnis der beiden ersten – und erst eine vierte 72 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 166, Anm. 9: „The problem of explaining is not, of course, peculiar to the hierarchical model. It must be dealt with by any account of the structure of volition. Accordingly, it is not a fault of the hierarchical model that it requires an explanation of identification“. 73  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 167. Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 19–22; H. Frankfurt: „Identification and externality“, 68. 74  G. Watson: „Free Agency“, 218, Herv. i. O. Bei Frankfurt zitiert: H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 167. 75 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 167.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Berechnung kann den Fehler, den alle drei zuvor durchgeführten Berechnungen gleichermaßen beinhalten, erkennbar machen. Die Folge von Berechnungen kann endlos fortgesetzt werden und nichts wird einer besonderen Berechnung eine endgültige Autorität verleihen, die nicht durch eine weitere Berechnung falsifiziert werden könnte.76 Frankfurt hält die Frage für entscheidend, was eine solche Berechnung aus der Reihe der Berechnungen kennzeichnet, mit welcher die Person die Folge der Berechnungen vernünftigerweise abschließen kann. Wie lässt sich verhindern, bei Abbruch der Berechnungsreihe unzuverlässig oder willkürlich zu verfahren, wenn doch an jeder Stelle die Reihe der Berechnungen fortgesetzt werden könnte? Die Unterscheidung zweier Varianten eines möglichen Abbruchs der Rechenoperation dient Frankfurt der Klärung dieser Frage.77 Der einen Variante gemäß wird die Rechenoperation abgebrochen, indem dem Ergebnis der letzten Rechnung gleichgültig zugebilligt wird, als ihre Lösung zu dienen. Die Gleichgültigkeit kann entweder dem verloren gegangenen Interesse an der Rechenaufgabe geschuldet sein oder einer nötigenden Ablenkung. Das Verhalten der Person, die die Berechnung auf diese Art abbricht, ähnelt dem des Triebhaften, denn er gesteht einem bestimmten Resultat Gültigkeit zu ohne Einschätzung der Angemessenheit und Reflexion über die Wünschbarkeit dieses Resultats als Lösung. So wird das Resultat weder gewählt noch gebilligt, sondern stellt eine Sache völliger Gleichgültigkeit dar. Der anderen Variante gemäß wird die Rechenoperation abgebrochen, indem die abbrechende Person aus gewissen Gründen entscheidet, ein bestimmtes Resultat anzunehmen. Diese aus Gründen getroffene Entscheidung kann entweder von der Überzeugung von der Richtigkeit des Resultats herrühren oder von der Einsicht darüber, dass sich – obwohl noch einiges für die Inkorrektheit des Ergebnisses spricht – die Kosten weiterer Prüfung nicht in einem angemessenen Verhältnis befinden zu dem Wert, der in der Verminderung der Wahrscheinlichkeit eines Fehlers liegt. In jedem Fall scheint nach Frankfurt hier eine entschiedene bzw. letztgültige („decisive“) Identifikation möglich zu sein, welche die endlose Reihe möglicher weiterer Überlegungen durchhallt („resounds“).78 Wird angenommen, dass eine Person sicher ist, zum richtigen Ergebnis gelangt zu sein, so erwartet diese Person, bei jeder weiteren sorgfältigen Berechnung zum gleichen Ergebnis zu gelangen. In dieser Hinsicht findet ihre Entscheidung, dass ein bestimmtes Ergebnis richtig ist, unendlichen Widerhall in diesem Sinn: Sie ermöglicht es, die Ergebnisse einer unbestimmten Anzahl weiterer Berechnungen vorwegzunehmen. Wird angenommen, dass eine Per76 Vgl.

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 167 f. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 168. 78  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 168. 77 Vgl.

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son nicht sicher ist, zum richtigen Ergebnis gelangt zu sein, jedoch sich sicher darüber ist, dass es dennoch am vernünftigsten wäre, ein bestimmtes Ergebnis als das richtige anzunehmen, so erwartet diese Person, dass sie in Hinsicht auf diese Überzeugung nicht revidiert werden kann. Mag die Person auch erwarten, dass eine weitere sorgfältige Berechnung ein anderes Ergebnis liefern würde, so ist nun ihre Entscheidung, aus Gründen ihres vernünftigen Abwägens dennoch keine weiteren Berechnungen anzustellen, von Belang, die sie ohne Einschränkung getroffen hat, und die nun bei weiterer Überprüfung dieser Entscheidung sich unendlich bestätigen würde.79 „The fact that a commitment resounds endlessly is simply the fact that the commitment is decisive. For a commitment is decisive if and only if it is made without reservation, and making a commitment without reservation means that the person who makes it does so in the belief that no further accurate inquiry would require him to change his mind. It is therefore pointless to pursue the inquiry any further.“80

Frankfurt erkennt in der Ausbildung Wünsche höherer Ordnungen eine strukturelle Entsprechung zu seinem Beispiel der mathematischen Berechnung. So wie jemand eine Berechnung prüft, weil er den Verdacht hat, dass sie falsch ist – sei es, weil er einen Widerspruch entdeckt zwischen dem von ihm erzielten Ergebnis und einem anderen, von dem er aus irgendeinem Grund glaubt, dass es richtig sei, oder sei es, weil er einfach einen allgemeinen Verdacht hegt, vielleicht einen Fehler gemacht zu haben – so kann eine Person veranlasst sein, über ihre Wünsche zu reflektieren – sei es, weil sie miteinander im Konflikt stehen, oder sei es, weil die Person ein allgemeineres Misstrauen hegt, ob sie mit ihren vorliegenden Motiven zufrieden sein kann. In jedem der Fälle, der mathematischen Berechnung wie der Reflexion der Wünsche, ist die Person in der Lage, eine potentiell unendliche Reihe von Beurteilungen ohne Willkür („without arbitrariness“) abzuschließen, wenn sie keinen störenden Konflikt dabei findet.81 Der einzige Grund, die Reihe fortzuführen, bestünde darin, einen aktuellen Konflikt oder einen möglichen und zukünftig erwarteten Konflikt zu bewältigen. Ohne Grund zur Fortführung der Reihe kann der Abbruch nicht als willkürlich erachtet werden.82 Schließlich gesteht Frankfurt einen letzten Einwand ein, der besagt, dass dennoch ein Rest Willkür bestehen bleibt, da das Urteil, dass kein entsprechender Widerspruch auszumachen ist, nicht definitiv sein kann, sondern der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt bleibt. So besteht die Möglichkeit der endlosen Neubeurteilung, ohne dass je eine der neuen Einschätzungen definitiv erscheinen kann. Frankfurt erkennt hierin jedoch kein Argument, das sein Prinzip, 79 Vgl.

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 168. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 168 f., Herv. i. O. 81  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 169. 82 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 169. 80 

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

dass eine Person zur Beendigung von Berechnungen bzw. Überlegungen berechtigt ist, schwächen kann. Denn dieses Argument ist allgemeiner Art – bei Anwendung egal welchen Prinzips ist es immer möglich, falsch oder ungerechtfertigt zu urteilen, dass die Bedingungen für die Anwendung des Prinzips erfüllt seien. Kein Kriterium wäre in der Lage zu garantieren, dass ein Prinzip sorgfältig und ohne jede Willkür Anwendung findet.83 Frankfurt müht sich intensiv um die Plausibilisierung der Möglichkeit, ein Handlungssubjekt mit seinem handlungswirksamen Wunsch bzw. Willen zu identifizieren, ohne hier – und wie gesehen auch weder in „Freedom of the will and the concept of a person“ noch in „Identification and externality“ – zu erwägen, ob ein Freiheitsverständnis im Sinn radikaler Selbstbestimmung geeignet wäre, die Identifikationsfrage letztgültig zu beantworten. Dass Frankfurt radikale Selbstbestimmung zweifellos in keiner Weise für geeignet hält, die Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch zu erklären, wird in einer weiteren, hier folgenden Erörterung der Regressproblematik erkennbar.

2.2.2 The Faintest Passion Nahmen die zurückliegenden Darstellungen zur Regressproblematik ihren Ausgangspunkt bei der Erörterung der Merkmale des Bewusstseins, die zur Reflexivität als jenem Merkmal führten, von dem ausgehend sich die Theorie des hierarchischen Wünschens nahelegt, so dient nun in diesem Unterabschnitt die Frage nach der Erfahrung des Belogenwerdens als Ausgangspunkt zur Erörterung des Kontrastbegriffs von „wholeheartedness“ – der Ambivalenz. Über diese Darstellung gelangt Frankfurt in seinem Aufsatz „The Faintest Passion“84 wiederum zur Regressproblematik und zu einer Neuformulierung seines Vorschlags zu ihrer Bewältigung. Belogen zu werden stellt eine schmerzvolle Erfahrung dar. Frankfurt geht davon aus, dass die Gründe dafür nicht in unserer Erschütterung über den Schaden liegen, der dem Gemeinwohl dadurch zugefügt wird, sondern in der Verletzung der persönlichen Würde des Belogenen.85 Wer lügt, betrügt sein Opfer nach Frankfurt in zweifacher Weise. Zum ersten in Hinsicht auf den Zustand der Dinge, über die er vorgibt, eine korrekte Darstellung zu liefern. Zum zweiten in Hinsicht auf seine eigene Haltung und das, was sein Inneres betrifft. Zuzüglich zu der Verzeichnung einer Tatsache über die Welt verzeichnet der Lüg83 Vgl.

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 169. Titel dieses Aufsatzes – „die schwächste Leidenschaft“ – bezieht sich auf die menschliche Liebe zur Wahrheit. Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 95. 85  Frankfurt beruft sich hierbei auf Kant und Montaigne, die das Übel der Lüge einstimmig in seiner Gefahr für die Funktionstüchtigkeit einer Gesellschaft sehen würden. Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 95. 84 Der

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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ner unterschiedliche Fakten über sich selbst. Beide Aspekte sind bedeutsam in ihrer eigenen Weise.86 Der erste Aspekt betrifft das Ziel des Lügners, seine Opfer glauben zu machen, dass ein Weltzustand existiert, den er selbst entworfen hat. Sofern er damit erfolgreich ist, ist er der Schöpfer der Realität seiner Opfer. Er maßt sich gewissermaßen das göttliche Vorrecht des schöpferischen Wortes an, indem er den allmächtigen Willen Gottes imitiert, durch den eine Welt allein durch das Verlangen nach ihr entsteht. Diese Arroganz verletzt in Frankfurts Sicht die Würde der Opfer. Sie sind erschüttert über die beleidigende Bemühung des Lügners, widerrechtlich die Bedingungen zu kontrollieren, unter welchen sie ihr Leben verstehen.87 Der zweite Aspekt betrifft den Ausschluss der Opfer aus der Welt des Lügners. Führt der Lügner seine Opfer in eine Welt, die sich von seiner eigenen unterscheidet, so trennt er sie grundsätzlich von sich. Aus seiner eigenen Welt kann der Lügner nicht entkommen, es sei denn, er gibt seine Lüge preis. Indem er seine eigenen Gedanken versteckt, macht er es für andere unmöglich, mit ihm in Verbindung zu sein, ihn zu verstehen oder auf ihn so zu reagieren, wie es seinem wahren Wesen entsprechen würde. Dies alles schließt nach Frankfurt eine Art elementarer und gewöhnlicher menschlicher Intimität aus, und auch aus diesem Grund ist eine Lüge verletzend.88 Als besonders verletzlich zeigen sich Frankfurt zufolge schließlich Lügen unter Freunden, da Freundschaften durch eine natürliche Intimität gekennzeichnet sind, die es unwahrscheinlich erscheinen lässt, belogen zu werden. Daher kann es zu einem Gefühl der Verrücktheit („feeling of being crazy“) führen, wenn wir entdecken, von einem Freund belogen worden zu sein.89 Diese Entdeckung stellt etwas über uns selbst bloß, das sich irritierender erweist als eine bloße Fehleinschätzung oder ein Fehlurteil. Sie enthüllt für Frankfurt die Unzuverlässigkeit unseres Wesens, das uns gewöhnlich davor schützt, auf Menschen zu zählen, die nicht verlässlich sind.90 Es ist selbstverständlich, so Frankfurt weiter, dass der Betrug durch einen Freund einen Fehler des Lügners beinhaltet. Aber der Betrug zeigt auch, dass das Opfer fehlerhaft ist – der Lügner betrügt das Opfer, doch das Opfer ist ebenfalls betrogen durch seine eigenen Empfindungen. Selbstbetrug hat nach Frankfurt mit Verrücktheit zu tun, weil er ein Kennzeichen von Irrationalität darstellt. Das Wesen von Rationalität besteht hingegen darin, einheitlich bzw. stimmig zu sein. Wer entdeckt, von einem Freund betrogen worden zu sein, entdeckt Frankfurt zufolge ebenfalls, dass er sich nicht auf seine festgelegten 86 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 96. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 96. 88 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 96 f. 89  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 97. 90 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 97. 87 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Empfindungen hinsichtlich der Frage, wem er trauen kann, verlassen kann. Sein Gefühl, wem er trauen kann, hat ihn betrogen. Seine Annahme, dass er sich durch sein Gefühl leiten lassen darf, führte ihn zum Selbstbetrug und folglich in die Irrationalität. Aus diesem Gefühl kann das Gefühl der Verrücktheit resultieren.91 Analog zu dieser Erfahrung der Verrücktheit möchte Frankfurt einen anderen Typus psychischer Instabilität oder psychischen Konflikts („type of psychic instability or conflict“) darstellen.92 Diesen bezeichnet er als Zustand der Ambivalenz („ambivalence“), wobei dieser Zustand nicht, wie bei der Erfahrung des Belogenwerdens, die geteilte Ratio, sondern den geteilten Willen betrifft:93 „Insofar as someone is ambivalent, he is moved by incompatible preferences or attitudes regarding his affects or his desires or regarding other elements of his psychic life. This volitional division keeps him from settling upon or from tolerating any coherent affective or motivational identity. It means that he does not know what he really wants.“94

Ambivalenz kann in verschiedenen Graden vorliegen. Frankfurt will in seinen Ausführungen nur jene Konflikte berücksichtigen, die stark genug sind zu verhindern, dass eine Person entschlossen („decisively“) handelt oder zu verhindern, dass eine Person ihre konfligierenden Wünsche in den Griff bekommt, indem sie einen Wunsch befriedigend erfüllen kann.95 Ambivalenz ist nach Frankfurt verfasst durch konfligierende, willentliche Bewegungen und Neigungen, seien sie bewusst oder unbewusst, die folgende zwei Bedingungen erfüllen: Zum Ersten sind sie von Natur aus und folglich unvermeidlich entgegengesetzt, das heißt sie konfligieren nicht aufgrund zufälliger Umstände. Zum Zweiten verhalten sie sich vollkommen innerlich zum Willen einer Person und nicht fremd, das heißt die Person steht ihnen nicht passiv gegenüber. Als Beispiel wählt Frankfurt eine Person, die sich verpflichtet weiß zu einer bestimmten Berufslaufbahn oder hinsichtlich einer bestimmten anderen Person, und sich gleichfalls verpflichtet weiß, sich davon zurückzuhalten.96 Frankfurt unterscheidet bekanntlich verschiedene Arten von Konflikten – Konflikte, die nur Wünsche erster Ordnung betreffen, und Konflikte, die Wünsche erster Ordnung und Volitionen höherer Ordnung betreffen, sowie 91 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 97 f. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 98. Frankfurt stellt sein Beispiel der Erfahrung von Verrücktheit infolge der Entdeckung, von einem Freund betrogen worden zu sein, auch in den Zusammenhang mit der Empfindung des Unbehagens durch Unwissenheit (Aristoteles) und durch Zweifel (Descartes), wobei Zweifel die Stabilität des Selbst nach Frankfurt stärker zu erschüttern in der Lage ist als Unwissenheit. (Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 98). 93  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 98 f. 94  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99. 95  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99, Anm. 11. 96 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99. 92 

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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Konflikte, die nur Volitionen höherer Ordnung betreffen. Konflikte, die nur Wünsche erster Ordnung betreffen, zum Beispiel ein Konflikt, der durch das gleichzeitige Angezogensein und Abgestoßensein von einem Objekt entsteht, haben mit einem Willenskonflikt des Handlungssubjekts nichts zu tun. Die beiden weiteren Arten von Konflikten betreffen indes den Willen, da Volitionen höherer Ordnung, also Wünsche, welche die handlungswirksame Wünschbarkeit anderer Wünsche betreffen, zu ihnen gehören. Frankfurts Begriff der Ambivalenz findet dabei nur Anwendung für die dritte Art von Konflikten, an denen allein Volitionen höherer Ordnung und keine Wünsche erster Ordnung beteiligt sind.97 Frankfurt macht die Differenzierung anhand eines Beispiels, das einen Konflikt der zweiten Art beschreibt, deutlich. Ein Süchtiger, der aufrichtig gegen seine Sucht ankämpft, ist sich nach Frankfurt im Klaren darüber, was er eigentlich will: Er will, dass sein Wunsch, nicht zur Droge zu greifen, sein handlungswirksamer Wunsch sei. Greift er dennoch zur Droge, so war der konkurrierende Wunsch, dass er zur Droge greifen will, stärker als der Wunsch, nicht zur Droge zur greifen. Der dann handlungswirksame Wunsch, zur Droge zu greifen, war entsprechend nicht der Wunsch, von dem der Süchtige wünschte, dass er handlungswirksam sei – das heißt der Süchtige identifiziert sich nicht mit dem Wunsch, der handlungswirksam ist, sondern mit dem konkurrierenden Wunsch, nicht zur Droge zu greifen. Sofern – wie in diesem Beispiel – Wünsche an dem Konflikt beteiligt sind, die dem Handlungssubjekt fremd sind, das heißt mit denen sich das Handlungssubjekt nicht identifiziert, liegt kein Zustand der Ambivalenz vor. Denn das Handlungssubjekt weiß eindeutig, was es will – es ist sich innerlich vollkommen klar, welchen handlungswirksamen Wunsch es haben will. Frankfurt bezeichnet den Zustand innerer Stimmigkeit hier wiederum als Zustand der wholeheartedness.98 „The unwilling addict is wholeheartedly on one side of the conflict from which he suffers, and not at all on the other. The addiction may defeat his will, but does not as such disrupt its unity.“99

Um Frankfurts Beispiel des Süchtigen einem Beispiel für Ambivalenz anzupassen, könnte man es folgendermaßen umgestalten: Ein Süchtiger ist sich nicht sicher, was er von seiner Sucht halten soll. Da er an Depressionen leidet, betrachtet er seine Sucht durchaus nicht nur negativ und ihm fremd, sondern identifiziert sich auch mit dem Wunsch, zur Droge zu greifen, da ihm das Leben insgesamt wenig lohnenswert erscheint und er sich mit dem Wunsch identifiziert, kurzfristigen Genuss ohne Gedanken an die Konsequenzen nicht abzulehnen. Gleichzeitig jedoch identifiziert er sich ebenfalls mit dem Wunsch, dass sein Le97 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99. 99  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99. 98 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

ben gelingt und er gesund und erfolgreich leben kann. Somit identifiziert er sich auch mit dem Wunsch, nicht zur Droge zur greifen, da die Sucht seinen positiven Lebenszielen entgegensteht. Die Zerrissenheit („disunity“100) einer ambivalenten Person hält diese Frankfurt zufolge davon ab, Ziele zu verfolgen und ihr Leben willentlich zu führen. Entsprechend dem durch die Entdeckung des Betrugs durch einen Freund entstandenen Konflikt im Verstand bzw. im rationalen Urteil führt auch der willentliche Konflikt zu einer Art Selbstbetrug bzw. dazu, sich selbst zu schlagen. Frankfurt stellt die Schwierigkeit in beiden Fällen als dieselbe dar: eine Art zusammenhangloses Streben in zwei entgegengesetzte Richtungen, die das Vorwärtskommen in eine Richtung überhaupt blockieren.101 Mag dieser Zustand, wie Frankfurt urteilt, in gewisser Weise typisch für die gegenwärtige Zeit sein, so findet er sich nach Frankfurt auch in klassischer Form beispielsweise bei Augustin formuliert: „Also nicht Unfaßliches ist es, teils zu wollen, teils nicht zu wollen“102. Als Krankheit des Geistes infolge der Erbsünde deutet Augustin dieses Leiden, das Frankfurt gemäß folglich in gewissem Grad untrennbar zum Schicksal der Menschen gehört.103 Die ausführliche Darstellung des Zustands der Ambivalenz vorausgesetzt zeigt sich nun Frankfurts Absicht, sich wesentlich mit deren gegenteiligem Zustand, dem Zustand der wholeheartedness zu befassen. Frankfurt argumentiert dabei für ein Freiheitsverständnis, das radikale Selbstbestimmung als ungeeignete und unnötige Bedingung ablehnt sowie mit der Darstellung seines Verständnisses von innerer Zufriedenheit („satisfaction“), die eine Reformulierung seiner Strategie zur Bewältigung der Regressproblematik darstellt.104 Eine Person ist bezüglich ihres Willens stabil und damit in Frankfurts Ter­ minologie „wholehearted“, wenn sie sich in einigem Zustand mit ihren höherstufigen Einstellungen und Neigungen befindet bzw. mit ihren Vorlieben, Entscheidungen und Bewegungen ihres Willens. Dabei steht „wholeheartedness“ in keinem Zusammenhang mit der Festigkeit des willentlichen Zustands einer Person, das heißt dem Grad ihres Enthusiasmus, der mit ihrem Willen einhergeht.105 Konfliktsituationen sind im Zustand der „wholeheartedness“ nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wie bereits das Beispiel des widerwilligen Süch100 

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99. 102  „Non igitur monstrum partim velle, partim nolle“ (Augustinus: Bekenntnisse, Lateinisch und Deutsch, eingeleitet, übersetzt und erläutert von J. Bernhart, mit einem Vorwort von E. L. Grasmück, Frankfurt a.M. 1987, 402 f. (Achtes Buch)). Bei Frankfurt zitiert: H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 99 f. 103 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 100. 104 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 100–107. 105 Vgl. auch H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 175. Michael Quante stellt in Frage, ob es Frankfurt gelingt, „wholeheartedness“ unverwechselbar mit einer psychischen Erlebnisqualität darzustellen. Vgl. M. Quante: „The things we do for love. 101 Vgl.

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tigen gezeigt hat. Es ist möglich, dass äußerliche Wünsche den Willen der Person bedrängen. Sofern die Person dann entschlossen auf einer Seite der Kräfte, die in ihr streiten, steht und nicht zugleich auf der anderen, bleibt die Person „wholehearted“. Anders gesagt, eine Person, die weiß, was sie will, ist „wholehearted“.106 Im Kontext der Beschreibung eines möglichen Missverständnisses von „wholeheartedness“ macht Frankfurt deutlich, dass radikale Selbstbestimmung nicht möglich ist und auch keine relevante Lösung des Identifikationsproblems bzw. des Problems des infiniten Regresses darstellen kann. Wenn eine Person dann „wholehearted“ ist, wenn sie weiß, was sie will, ist entsprechend eine Person dann ambivalent, wenn sie nicht weiß, was sie will. Die Schwierigkeit der ambivalenten Person könnte Frankfurt zufolge auf zwei Weisen behoben werden, die sich jedoch beide als ungeeignet erweisen. Die eine Möglichkeit besteht darin, Ambivalenz durch die Hinzufügung weiterer Informationen im Entscheidungsprozess zu beheben. Doch diese Möglichkeit scheitert, da sie Ambivalenz als erkenntnismäßigen Mangel missversteht.107 Die andere Möglichkeit besagt, dass Ambivalenz willentlich („voluntaristically“) überwunden werden kann, einfach durch einen Willensakt („merely by an ‚act of will‘“).108 Dieser Willensakt entspricht jenem Willensakt einer Person, die sich radikal selbst zu bestimmen fähig ist. Frankfurt stellt hierbei fest, dass diese Idee davon ausgeht, dass die Wirklichkeit sich abhängig von unseren Wünschen erweisen kann, das heißt die Wirklichkeit könnte unter unserer völligen und unmittelbaren willentlichen Kontrolle stehen. Diesen Gedanken lehnt Frankfurt jedoch entschieden ab – denn der Wille einer Person kann ihm zufolge nur dann existieren, wenn die Beschaffenheit des Willens nicht vollkommen von der Person abhängt („is not absolutely up to him“).109 Personen können ihre Volitionen zweiter Ordnung nach Frankfurt nicht derart unbedingt kontrollieren, wie ein Schriftsteller die Charaktere seiner Figuren schaffen kann. Unbestimmtheit im Leben einer wirklichen Person lässt sich nicht per Dekret in Bestimmtheit verwandeln. Mag eine ambivalente Person, so anerkennt Frankfurt, sich zwar dafür entscheiden, sich bewusst und eindeutig auf eine Seite ihrer Wünsche zu schlagen und dabei glauben, dass sie dadurch die Teilung ihres Willens überwunden hat, so bleibt dennoch fraglich, ob Zur Weiterentwicklung von Frankfurts Analyse personaler Autonomie“, in: M. Betzler, B. Guckes (Hg.): Autonomes Handeln, 117–135, hier: 124. 106 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 100. 107  Dies entspricht dem von Frankfurt anerkannten Vorwurf Watsons, dass die Hinzufügung weiterer Möglichkeiten prinzipiell nur die Zahl der Mitspieler innerhalb des Konflikts erhöht, diesen jedoch keinen Platz zuzuweisen in der Lage ist. Vgl. G. Watson: „Free Agency“, 218; zitiert bei H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 166. 108  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 100. 109  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

dem wirklich so ist. Wenn es hart auf hart kommt, kann die Person womöglich feststellen, dass sie sich doch nicht dauerhaft mit der Entscheidung identifiziert, die sie bewusst und entschieden anzunehmen glaubte.110 Frankfurt vergleicht diesen Fall mit einer Situation in Shakespeares Drama Heinrich IV. Owen Glendower prahlt im ersten Teil: „I can call spirits from the vasty deep“ und bekommt von Hotspur verschmitzt entgegnet: „Why, so can I, or so can any man, But [sic!] will they come when you do call for them?“111 Frankfurt zufolge können Handlungssubjekte nicht einfach, wie auf eine Aufforderung hin, den beliebigen Willen haben, den sie haben möchten. Sie können weder Gott sein noch souveräne Schriftsteller, die ihre eigene Geschichte von Grund auf erschaffen. Allein wer töricht sein will wie Owen Glendower, kann vorschlagen, seinen Willen durch gebieterisches Verlangen zu einem bestimmten Zeitpunkt so umzuformen, dass er nicht länger geteilt bleibt, sondern widerstandsfähig entschieden wird.112 Damit argumentiert Frankfurt unmissverständlich gegen die Möglichkeit bzw. Wirklichkeit von Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung: „We can be only what nature and life make us, and that is not so readily up to us“113. Die durch die Natur gegebene und durch Lebenserfahrungen geprägte persönliche Beschaffenheit eines Menschen bzw. eines Handlungssubjekts kann Frankfurt zufolge nicht durch dieses Handlungssubjekt grundlegend erschaffen oder verändert werden. Frankfurt weiß dabei auch darum, dass seine Sicht in Spannung zu der Vorstellung steht, „that our wills are ultimately free“114. Doch in dieser Vorstellung von Freiheit erkennt Frankfurt kein sinnvolles Verständnis von Freiheit – er erkennt dieser Vorstellung keinen sinnvollen Ort innerhalb der Freiheitstheorie und damit keine Relevanz für das Freiheitsverständnis zu. Die Möglichkeit, Ambivalenz durch einen ultimativen Willensakt zu überwinden, resultiert Frankfurt zufolge aus einem Missverständnis darüber, was unter Willensfreiheit zu verstehen ist. Zwar gilt es nach Frankfurt als natürliche Art und Weise, freien Willen so zu verstehen, dass dieser bedeutet, in dem Maße frei zu sein, zu wollen, was immer man will. Wenn dies jedoch bedeutet, den Willen unter „entirely unmediated voluntaristic control“115 zu haben, das heißt zu radikaler Selbstbestimmung fähig zu sein, dann besitzt dieser Wille, so

110  Vgl. hierzu Frankfurts ausführlichere Darlegungen in H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 106 f. 111  W. Shakespeare: King Henry IV, Part I. König Heinrich IV., Teil I, Englisch-deutsche Studienausgabe, Deutsche Prosafassung, Anmerkungen, Einleitung und Kommentar von W. Braun, Tübingen 2010, 183. Bei Frankfurt zitiert: H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. 112 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. 113  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. 114  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. 115  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101.

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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Frankfurts Argument, keine Realität, da Realität Widerstand gegenüber dieser Art von Kontrolle einschließt.116 „Must we, then, regard our wills either as unfree or as unreal?“117 – Gilt es folglich, den Willen als unfrei oder als nicht vorhanden zu verstehen? Diese entscheidende Frage beantwortet Frankfurt negativ – da er Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung als irrelevant für das Freiheitsverständnis zurückweist. Ihm scheint das Dilemma dann vermeidbar zu sein, wenn Freiheit nicht als Forderung nach einem Willen, der beliebig hervorbringen und kontrollieren kann, was er will, gedeutet wird, sondern als Forderung nach einem Willen, der sich im Zustand der „wholeheartedness“ befindet. Freiheit ist Frankfurt zufolge dann erklärbar, „if we construe the freedom of someone’s will as requiring, not that he originate or control what he wills, but that he be wholehearted in it“118. Ist der Wille einer Person nicht geteilt, folgt daraus, „that the will he has is the will he wants“119. „Wholeheartedness“ bedeutet so exakt, dass kein von innen kommender Wunsch etwas anderes zu wollen dem Willen entgegensteht. Mag die Person unfähig sein, sich einen anderen Willen zu schaffen als den, den sie besitzt, so ist ihr Wille nach Frankfurt zumindest in der Weise frei, dass sie ihn nicht ablehnt oder ihn behindert.120 Frankfurt beschreibt seine eigenen Darstellungen selbst als kurzen Entwurf des Verständnisses von „wholeheartedness“, den er in Verbindung mit dem zuvor dargelegten kurzen Entwurf des Verständnisses von Ambivalenz entfaltet. Darauf aufbauend will er sein Verständnis von „wholeheartedness“ ausführlicher in den Blick nehmen, indem er es als gleichbedeutend mit dem Verständnis von Selbst-Zufriedenheit („self-satisfaction“) bzw. innerer Zufriedenheit beschreibt.121 Frankfurt sieht sein Verständnis von Selbst-Zufriedenheit weit davon entfernt, mit einem negativ konnotierten Verständnis im Sinn narzisstischer Selbstgefälligkeit verwechselt zu werden. Sein Verständnis betrifft schlicht die Zufriedenheit mit dem Zustand des Selbst. In diesem Kontext der Darstellungen von Selbst-Zufriedenheit liegt nicht allein eine hilfreiche Möglichkeit, zu beleuchten, was mit „wholeheartedness“ zusammenhängt, sondern Frankfurt erkennt darin ebenfalls eine Hilfe, mit der – wie er urteilt – angeblichen Schwierigkeit der Regressproblematik zurechtzukommen, welche in hierarchischen Analysen des Selbst gesehen wird. Darüber hinaus will Frankfurt durch diese Darlegun116 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. 118  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. 119  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101. 120 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101 f. 121  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 102. Bereits in „Freedom of the will and the concept of a person“ beschreibt Frankfurt eine Person dann als zufrieden, wenn sie den Willen besitzt, den sie haben will. Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 22. 117 

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gen ebenfalls einen Beitrag zum besseren Verständnis der Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch leisten – einem Frankfurt zufolge mühevollen Gedanken, der für jede Philosophie des Geistes und für jede Handlungsphilosophie grundlegend ist.122 Nach Frankfurt kann eine Person im Zustand der „wholeheartedness“ etwas glauben, etwas fühlen, eine bestimmte Haltung einnehmen bzw. beabsichtigen oder eine bestimmte Handlung ausführen. Wenn dies der Fall ist, so zeichnet sich „wholeheartedness“ dabei dadurch aus, dass die Person damit zufrieden ist, dass diese psychischen Momente des Glaubens, Fühlens und Wollens und keine anderen innewohnenden konfligierenden Zustände zu den Gründen und Überlegungen gehören, die ihre kognitiven, gefühlsbedingten, einstellungsbezogenen und verhaltensbezogenen Prozesse bestimmen.123 Damit ist nach Frankfurt ebenfalls vereinbar, dass die Person auch hinsichtlich anderer psychischer Momente „wholehearted“ ist, die zufälligerweise mit diesen konfligieren und ihr wichtiger sind. Wenn eine Person mit einer Haltung, einem Gefühl oder einer Annahme zufrieden ist, folgt daraus keine notwendige Verpflichtung, daraus eine Handlung folgen zu lassen. Hinsichtlich eines bestimmten Moments „wholehearted“ zu sein, ist vereinbar damit, einem anderen Moment eine höhere Priorität zuzuweisen. Verschiedene Momente können gleichfalls aktive Rollen beanspruchen, ohne dabei in gleicher Weise dringend sein zu müssen. Ein weniger wichtiges Moment ist dabei nicht notwendigerweise fremd, indem es von außen die Struktur des Selbst bedroht. Es kann genauso Teil der Person sein wie andere Momente, die ihr wichtiger sind.124 Ferner verlangt Zufriedenheit in Frankfurts Sinn nicht, dass eine Person glaubt, sich im bestmöglichen Zustand zu befinden. Mögen auch manche Menschen sich nie mit weniger als dem Bestmöglichen zufriedengeben, so gilt doch als Regel, dass Zufriedenheit keine Maximierung kompromisslosen Ehrgeizes zur Bedingung hat, und so geben sich Menschen oft mit weniger als dem zufrieden, was sie annehmen, darüber hinaus haben zu können. Für Frankfurt bedeutet dies freilich nicht, dass es für eine zufriedene Person ausgeschlossen ist, eine Veränderung als annehmbar zu betrachten. Mit einem besseren Zustand wäre die Person selbstverständlich auch zufrieden. Jedoch gilt ebenso, dass sie auch mit einem schlechteren Zustand zufrieden sein könnte.125 Frankfurt legt weiterhin dar, dass Zufriedenheit die Abwesenheit von Ratlosigkeit und Widerstand einschließt. Würde eine zufriedene Person eine Veränderung ihres Zustands auch willentlich annehmen, so kann ihr nach Frankfurt 122 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 102 f. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 103. 124 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 103. 125 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 103. 123 Vgl.

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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doch aktives Interesse für diese Veränderung fernliegen. Selbst wenn die Person erkennt, dass sie besser dran sein könnte, geht diese Möglichkeit nicht unbedingt in ihre Belange ein – denn besser dran zu sein, kann ihr schlicht nicht interessant erscheinen bzw. nicht wichtig für sie sein. Gründe dafür sind dann weder die Kosten der Veränderung noch das Risiko, dass sie scheitert, sondern es kann als schlichte Tatsache gelten, dass ein Streben nach Verbesserung der Person nicht zu eigen ist. Die Dinge werden von ihr so angenommen, wie sie sind, ohne Vorbehalt und ohne praktisches Interesse, wie sie sich im Vergleich mit anderen Möglichkeiten darstellen. Könnte der Zustand auch zum Nulltarif verbessert werden und mag ihr dies auch bewusst sein – dies muss eine zufriedene Person in Frankfurts Verständnis nicht notwendig kümmern.126 Dabei ist Frankfurt zufolge auch nicht auszuschließen, dass eine zufriedene Person dennoch unzufrieden werden kann, wenn sie sich ihres minderwertigen Zustands bewusst wird. Doch dies bedeutet nicht, dass sie bereits vor dem Punkt ihrer Erkenntnis unzufrieden gewesen wäre.127 Frankfurt beschreibt die Zufriedenheit einer Person als eine Art unableitbare Zufriedenheit, die schließlich auch nicht verlangt, eine gewisse Annahme über Zufriedenheit zu besitzen oder ein bestimmtes Gefühl, eine Einstellung oder Absicht hinsichtlich Zufriedenheit vorauszusetzen. Es bedarf auch nicht, die Zufriedenheit als Zufriedenheit zu betrachten, ihr mit Wohlwollen zuzustimmen oder zu beabsichtigen, sie so zu belassen wie sie ist. Es gibt nach Frankfurt nichts, was sie bedingt, weder sie zu denken noch sie anzunehmen.128 Mit der ausführlichen Darstellung der Unableitbarkeit bzw. Bedingungslosigkeit der Zufriedenheit verfolgt Frankfurt ein Ziel, das nicht von Beginn an von ihm benannt wird: „This is important, because it explains why there is no danger here of a problematic regress“129. Das Problem des Regresses würde dann offensichtlich, wenn Zufriedenheit an gewisse Bedingungen geknüpft wäre. Wäre Zufriedenheit zum Beispiel daran gebunden, dieser Zufriedenheit zustimmen zu müssen, so müsste nun beantwortet werden, aus welchem Grund ihr zugestimmt werden kann. Dieser Grund müsste ebenfalls begründet sein, ad infinitum. Daher ist für Frankfurt entscheidend: „Satisfaction with one’s self requires […] no adoption of any cognitive, attitudinal, affective, or intentional stance. It does not require the performance of a particular act; and it also does not require any deliberate abstention. Satisfaction is a state of the entire psychic system – a state constituted just by the absence of any tendency or inclination to alter its condition.“130

126 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 103 f. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 104, Anm. 15. 128 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 104. 129  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 104. 130  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 104. 127 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Nimmt eine Person wahr, dass ihr Zustand gut genug ist, kann sie natürlich entscheiden, diesen nicht verbessern zu wollen. Doch entscheidet sie damit auch, dass sie mit ihrem Zustand zufrieden ist? Oder beinhaltet ihre Entscheidung, dass sie sich nicht verbessern will, wenigstens notwendig ihre Zufriedenheit? Beides ist Frankfurts Verständnis von Zufriedenheit zufolge nicht der Fall. Sich vom Streben nach Veränderung zurückzuhalten, spiegelt nach Frankfurt lediglich die bestehende Zufriedenheit. Zufriedenheit besteht nur dann, wenn sie nicht arrangiert oder durchgesetzt ist, sondern ganzheitlich der psychischen Verfassung einer Person entspricht, das heißt wenn diese psychische Verfassung uneingeschränkt getrennt ist von jeder Anstrengung der Person, sie so sein zu lassen, wie sie ist.131 In authentischer Weise zufrieden zu sein, hat daher laut Frankfurt nicht damit zu tun, zu wählen, Dinge zu belassen, wie sie sind oder ein Urteil oder eine Entscheidung zu treffen hinsichtlich der Wünschbarkeit einer Veränderung. Es hat damit zu tun, „simply having no interest in making changes“132. Erforderlich ist nur, dass bestimmte psychische Momente nicht auftreten.133 Ein Missverständnis, das sich durch die bisherige Deutung von Zufriedenheit ergeben kann, gilt es für Frankfurt noch auszuräumen. Zwar erfordert die Abwesenheit gewisser psychischer Momente keine wohlüberlegte Tätigkeit oder Beherrschung, aber dennoch muss ihre Abwesenheit reflektiert sein. Frankfurt geht es darum, dass die Tatsache, dass die Person nicht bewegt ist, Dinge zu verändern, nicht zufälliger Art ist, sondern dem Verstehen und Bewerten der Person entspricht, wie die Dinge mit ihr stehen. Die Abwesenheit gewisser psychischer Momente ist somit weder absichtlich arrangiert noch willkürlich unbefangen, sondern entwickelt sich und setzt sich durch als eine ungehandhabte („unmanaged“) Folge der Annahme des eigenen psychischen Zustands durch die Person.134 Schließlich fasst Frankfurt seine Ausführungen hinsichtlich ihrer Anwendung auf den hierarchisch-analytischen Zugang zum Konzept des Selbst und auf die Problematik der Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch zusammen. Das Beispiel eines Rauchers, dem der Wunsch erster Ordnung, nicht zu rauchen, ein weiterer Wunsch erster Ordnung nach der nächsten Zigarette gegenübersteht und der einen Wunsch zweiter Ordnung besitzt, dass sein Wunsch, nicht zu rauchen, sein handlungswirksamer Wunsch sei, führt auch hier zu der bekannten Frage: „[W]hat determines whether he [the person] identifies with this second-order preference?“135 Der Wunsch, den Wunsch zu rauchen zu besiegen, ist nicht mehr als ein weiterer Wunsch, 131 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 104. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 105, Herv. i. O. 133 Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 104 f. 134  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 105. 135  H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 105. 132 

2.2 Regressproblematik und Identifikation

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der nicht den Anspruch erheben kann, dafür konstitutiv zu sein, was der Raucher wirklich will. Die bloße Tatsache, ein Wunsch zweiter Ordnung zu sein, verleiht ihm keine besondere Autorität. Und es ist hinlänglich klar, dass kein Wunsch dritter Ordnung weiterhilft, der die Identifikation der Person mit dem Wunsch zweiter Ordnung sichern soll. Denn offensichtlich würde sich wiederum die Frage nach der Autorität des Wunsches dritter Ordnung stellen und so fort. So gesteht Frankfurt dieser Kritik zu, seinen gesamten hierarchischen Ansatz scheitern lassen zu können.136 Der Gefahr ist Frankfurt zufolge jedoch einfach zu entgehen, da der hierarchische Zugang zur Identität des Selbst gerade nicht annimmt, die Identifikation einer Person mit einem bestimmten Wunsch bestünde darin, dass dieser Wunsch durch einen Wunsch höherer Ordnung gebilligt wäre. Der billigende, höherrangige Wunsch muss zusätzlich ein Wunsch sein, mit dem die Person zufrieden ist. Hierin liegt Frankfurts neu formulierter Beitrag zur Regressproblematik. Wie er bereits zuvor deutlich machte, erfordert Zufriedenheit mit einem psychischen Zustand keine Zufriedenheit mit irgendeinem weiteren. Zufrieden zu sein mit einem bestimmten Wunsch beinhaltet entsprechend keine endlose Zunahme höherrangiger Wünsche.137 Zufriedenheit in dem hier beschriebenen Verständnis und nicht etwa radikale Selbstbestimmung führt Frankfurt zufolge zur Lösung der Regressproblematik. Das Verständnis von „wholeheartedness“, wie Frankfurt es in den dargestellten Passagen der beiden Aufsätze „Identification and wholeheartedness“ sowie „The Faintest Passion“ in unterschiedlichen Perspektiven entfaltet, stellt, wie deutlich wurde, seine Antwort dar auf die Frage nach der Erklärung der Identifikation eines Handlungssubjekts mit einem handlungswirksamen Wunsch bzw. mit seinem Willen. Die Frage nach der Erklärung dieser Identifikation wird in Frankfurts Theorie des hierarchischen Wünschens besonders anhand der sich darin ergebenden Regressproblematik virulent. In diesem Gesamtabschnitt (2.2) wurde erkennbar, dass Frankfurts Ansatz, das Regressproblem zu lösen, auch Auskunft über seine Sicht der Rolle radikaler Selbstbestimmung für Freiheitstheorien gibt. Denn anhand der Regress­ problematik wird eine grundsätzliche Schwierigkeit jeder Freiheitstheorie beschreibbar, eben diejenige der Erklärung der Identifikation von Willen und Handlungssubjekt. Kann sich ein Handlungssubjekt durch einen Akt radikaler Selbstbestimmung mit seinem Willen identifizieren? Stellt dieses Verständnis der Identifikation ein angemessenes Verständnis dar? Hinsichtlich dieser Fragen wurde deutlich, dass Frankfurt radikale Selbstbestimmung als Moment des Freiheitsverständnisses zwar beschreibt, es aber zum einen als problembeladen

136 Vgl. 137 Vgl.

H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 105. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 105.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

und schließlich unmöglich und zum anderen auch als für das Freiheitsverständnis irrelevant zurückweist. Im folgenden Abschnitt können diese Ergebnisse anhand einiger Darlegungen Frankfurts zum Zusammenhang von Verantwortlichkeit und Identifikation verifiziert werden. Es stellt für Freiheitstheorien grundsätzlich eine relevante Frage dar, wie die Bedingung der Zurechenbarkeit für Verantwortlichkeit aufzufassen ist. Frankfurts Verständnis unterscheidet sich grundlegend von jenem, anschließend darzustellenden, Galen Strawsons – und nicht zuletzt daran wird ihre unterschiedliche Bewertung der Relevanz der Bedingung radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis sichtbar.

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation Frankfurt begründet seine Darlegungen zur Problematik der Willensfreiheit dreifach.138 Zum Ersten strebt er an, mit seiner Theorie des hierarchischen Wünschens eine Erklärung dafür zu bieten, warum Menschen geneigt sind, Mitgliedern anderer Arten, insbesondere Tieren, den Genuss der menschlichen Art von Freiheit nicht zuzugestehen. Zum Zweiten soll seine Theorie plausibel machen, warum Willensfreiheit als etwas Wünschenswertes angesehen wird. Frankfurt will ein verständliches Modell darüber vorlegen, warum Willensfreiheit für Menschen zur Freude, aber auch zum Problem werden kann. Damit sieht er sein Modell in klarem Vorteil gegenüber anderen Theorien der Willensfreiheit, welche diese beiden Zwecke unzureichend erfüllen.139 Erst als dritten Grund für die Beschäftigung mit der Thematik der Willensfreiheit macht Frankfurt die Frage nach der Verantwortlichkeit eines Handlungssubjekts aus, genauer die Frage nach den Bedingungen dafür, dass eine Handlung einem Handlungssubjekt zugerechnet werden kann. Denn die Zurechenbarkeit stellt einen zentralen Aspekt der Frage nach Verantwortlichkeit dar, der letztlich für Frankfurt und auch für diese Gesamtuntersuchung im Fokus der Erörterung um Verantwortlichkeit steht.140 Die Drittrangigkeit lässt 138 Vgl.

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 22–25. „It is far from clear that certain other theories of the freedom of the will meet these elementary but essential conditions: that it be understandable why we desire this freedom and why we refuse to ascribe it to animals“ (H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 23). Explizit kritisiert Frankfurt Roderick Chisholms Freiheitsverständnis, wie dieser es darstellt in R. Chisholm: „Freedom and Action“, in: K. Lehrer (Hg.): Freedom and Determinism, New York 1966, 11–44, in deutscher Übersetzung: R. Chisholm: „Freiheit und Handeln“, in: G. Meggle (Hg.): Analytische Handlungstheorie I, Frankfurt a.M. 1977, 354–387. Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 23, Anm. 7. 140  Zurechenbarkeit wird hier als notwendige Bedingung von Verantwortlichkeit verstanden. Wird von Verantwortlichkeit in der angelsächsischen analytisch-philosophischen 139 

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

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erkennen, dass Frankfurt die Frage nach der Möglichkeit von Zurechenbarkeit mit relativem Gewicht für die Freiheitsdebatte beurteilt und sich von einer gängigen Sicht abgrenzt: „The most common recent approach to the problem of understanding the freedom of the will has been, indeed, to inquire what is entailed by the assumption that someone is morally responsible for what he has done.“141

Die Relativierung von Verantwortlichkeit als maßgeblichem Grund für die Beschäftigung mit der Willensfreiheitsproblematik steht im Zusammenhang mit der Haltung Frankfurts zu der im Diskurs der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte vorherrschenden Diskussion um die Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ für Freiheit. Für gewöhnlich wird die Bedeutung dieser Bedingung durch ihren vermeintlichen Zusammenhang mit der angemessenen Intuition von Verantwortlichkeit begründet. Peter van Inwagen drückt diese Sicht repräsentativ folgendermaßen aus: „Almost all philosophers agree that a necessary condition for holding an agent responsible for an act is believing that the agent could have refrained from performing the act.“142

Nach einem gängigen Verständnis der Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ ist ein Handlungssubjekt dann frei, wenn es eine Handlung H unter den gleichen Umständen sowohl auszuführen als auch nicht auszuführen in der Lage ist. Besonders für die so genannten kompatibilistischen Freiheitstheorien, die Freiheit und Determinismus für vereinbar halten, stellt diese Bedingung eine große Schwierigkeit dar. Denn die Anhängerinnen und Anhänger einer kompatibilistischen Freiheitstheorie haben sich mit einem Argument auseinanderzusetzen, das klassisch durch Peter van Inwagen in folgender Form formuliert und in der Debatte als so genanntes „Konsequenzargument“ bekannt wurde: „If determinism is true, then our acts are the consequences of the laws of nature and events in the remote past. But it is not up to us what went on before we were born, and neither is it up to us what the laws of nature are. Therefore, the consequences of these things (including our present acts) are not up to us.“143

Dieses Argument scheint die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus auszuschließen. Denn stellen unsere Handlungen wirklich die unausweichliFreiheitsdebatte gesprochen, so wird Verantwortlichkeit in der Regel – so auch bei Harry Frankfurt und Galen Strawson – im Sinn von Zurechenbarkeit verstanden. Entsprechend werden in der vorliegenden Gesamtuntersuchung Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit auch als gleichbedeutend verstanden und verwendet. 141  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 23. 142  P. van Inwagen: „The Incompatibility of Free Will and Determinism“, in: Philosophical Studies 27 (1975), 185–199, hier: 189, Herv. i. O. 143  P. v. Inwagen: An Essay on Free Will, Oxford 1983, 56.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

chen Folgen der Naturgesetze und der Ereignisse aus ferner Vergangenheit dar, so ist es uns nicht möglich, anders zu handeln, als wir handeln. Kompatibilistische Freiheitstheorien haben in verschiedener Weise versucht, die Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ so zu deuten, dass sie in einem deterministischen Rahmen erfüllt ist.144 Wäre die Bedingung jedoch grundsätzlich nicht notwendig, wäre die Problematik der Kompatibilisten umfassend gelöst. Tatsächlich gab Harry Frankfurt der Debatte genau diesen Impuls, indem er in dem bereits als klassisch angesehenen Aufsatz „Alternate possibilities and moral responsibility“ gegen die Notwendigkeit der Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ argumentierte. Dadurch beeinflusste dieser Aufsatz die Debatten noch lebhafter als sein zwei Jahre später erschienener Aufsatz „Freedom of the will and the concept of a person“. Frankfurt beschreibt verschiedene Varianten eines Beispiels, das Aufschluss über unsere moralischen Intuitionen geben soll. Folgende Variante kann in knapper Form Aufschluss über Frankfurts grundsätzliche Intention geben: Black möchte, dass Jones eine bestimmte Handlung ausführt. Er ist bereit, aufwändige Mittel einzusetzen, um sicherzustellen, dass Jones die Handlung ausführt. Er sorgt dafür, dass er Jones’ Gehirn so manipulieren kann, dass dieser das tut, was Black will. Wenn Jones sich nun selbst entscheidet, die Handlung auszuführen, von der Black möchte, dass er sie ausführt, greift Black nicht in das Geschehen ein. Entscheidet Jones hingegen, die Handlung nicht auszuführen, realisiert Black seine Möglichkeit, manipulativ in Jones’ Gehirn einzugreifen und ihn in solcher Weise zu manipulieren, dass Jones die Handlung ausführt.145 Wird nun der erste Fall genau betrachtet, scheint unsere moralische Intuition tatsächlich nicht an die Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ gebunden zu sein. Jones entscheidet sich ganz ohne das Eingreifen von Black für die bestimmte Handlung und wird dabei für verantwortlich erachtet, obwohl es ihm unmöglich gewesen wäre, anders zu handeln. Denn hätte er anders handeln wollen, hätte Black eingegriffen und dafür gesorgt, dass er doch die von Black gewünschte Handlung vollzieht. Die Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ stellt somit keine notwendige Bedingung für das Verständnis 144  Hervorgehoben seien die den Diskurs besonders der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts prägenden Versuche, „Anders-handeln-Können“ konditional zu deuten. Vgl. J. L. Austin: „Ifs and Cans“, in: B. Berofsky (Hg.): Free Will and Determinism, New York 1966, 295–321; G. E. M. Anscombe: „Causality and Determination“ (1971), in: Dies.: Metaphysics and the Philosophy of Mind, Minneapolis 1981, 133–147; M. R. Ayers: The Refutation of Determinism. Essay in Philosophical Logic, London 1968. Als grundlegender Versuch, „Anders-handeln-Können“ konditional aufzufassen, gilt der Ansatz G. E. Moores in G. E. Moore: „Free Will“, in: Ders.: Ethics (1912), London, Oxford, New York 1966, 102–115, in deutscher Übersetzung: G. E. Moore: „Freier Wille“, in: U. Pothast (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a.M. 1978, 142–156. 145 Vgl. H. Frankfurt: „Alternate possibilities and moral responsibility“, 6–8.

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

47

von Freiheit dar, das Relevanz besitzt in Hinsicht auf unsere Intuition von Verantwortlichkeit.146 Auch im letzten Teil von „Freedom of the will and the concept of a person“ wendet sich Frankfurt der Frage nach dem Zusammenhang einer Willensfreiheitstheorie und der Frage nach den Bedingungen für Verantwortlichkeit zu und bietet damit eine Art kurzer Zusammenfassung seiner Argumentation von 1969, auf die er explizit verweist.147 Darüber hinaus wird hier im Kontext der Theorie des hierarchischen Wünschens deutlich, mit welchem positiv verstandenen Verständnis von Verantwortlichkeit die Zurückweisung der Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ einhergeht. Frankfurt hält die Intuition von Verantwortlichkeit an die Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch im Sinn der „wholeheartedness“ gebunden. Moralische Verantwortlichkeit – und Zurechenbarkeit in einem allgemeinen Sinn – ist Frankfurt zufolge nicht daran geknüpft, dass ein Handlungssubjekt sich einen beliebigen Willen bilden kann: „For the assumption that a person is morally responsible for what he has done does not entail that the person was in a position to have whatever will he wanted.“148

Stattdessen kommt es darauf an, ob der Wille eines Handlungssubjekts der eigene Wille des Handlungssubjekts ist, der ihn im Handeln leitet. Das bedeutet, dass das Handlungssubjekt sich den Willen wünscht, den es hat. Denn so kann ein Handlungssubjekt Frankfurt zufolge nicht behaupten, sein Wille sei ihm aufgezwungen worden – oder es sei der Bildung seines Willens passiv gegenüber gestanden.149 Explizit weist Frankfurt darauf hin, dass Verantwortlichkeit an die Identifikation eines Handlungssubjekts mit seinem Willen gebunden ist und es dabei völlig unerheblich ist, ob die ausgeschlossenen Alternativen wirklich im Bereich der Möglichkeiten des Handlungssubjekts lagen.150 Als illustrierendes Beispiel dient Frankfurt wiederum die Person eines Drogenabhängigen, der körperlich abhängig seinen Willen nicht unter Kontrolle hat. Doch im Gegensatz zu dem Drogenabhängigen wider Willen und dem triebhaft Süchtigen, erscheint dieser dritten Variante des Süchtigen die Sucht als angenehm. Der willig Süchtige stellt für Frankfurt einen Fall von Überdetermination dar. Der Wunsch, die Droge zu nehmen, ist handlungswirksam zum einen aufgrund der körperlichen Ab146 Vgl.

H. Frankfurt: „Alternate possibilities and moral responsibility“, 7 f. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 24, Anm. 9. 148  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 24. 149 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 24. 150  „It is a vexed question just how ‚he could have done otherwise‘ is to be understood in contexts such as this one. But although this question is important to the theory of freedom, it has no bearing on the theory of moral responsibility“ (H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 24). 147 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

hängigkeit und zum anderen, weil der Süchtige auch möchte, dass dies so ist.151 Für den willig Süchtigen gilt: „His will is outside his control, but, by his second-order desire that his desire for the drug should be effective, he has made this will his own. Given that it is therefore not only because of his addiction that his desire for the drug is effective, he may be morally responsible for taking the drug.“152

Wenn das Verlangen nach der Droge nicht allein aufgrund der Sucht handlungswirksam ist, kann der Handelnde auch moralisch für den Drogenkonsum verantwortlich sein – selbst wenn er nicht anders hätte handeln können aufgrund seiner Sucht.153 Denn denkbar bleibt hier, dass sich der Handelnde „wholehearted“ mit seinem Verlangen nach der Droge identifiziert. In diesem Kontext ergibt sich auch Frankfurts Analyse über Zwang und moralische Verantwortung. Frankfurt weist in seinem Beitrag „Coercion and moral responsibility“ auf eine verbreitete mangelnde Sensibilität hinsichtlich des Verständnisses von Zwang hin.154 Zwang wird oft mit vermeintlichem Zwang verwechselt – und in diesen Fällen lässt sich Verantwortlichkeit nicht ausschließen, wie Frankfurt etwa mit folgendem Beispiel deutlich werden lässt: Zwar wird ein Gericht sich weigern, ein Geständnis öffentlich zuzugeben, das ein Gefangener unter Androhung von Gewalt und Folter gegeben und dabei seine Komplizen verraten hat – weiß es doch, dass dieses Geständnis angesichts der Gewaltandrohung erzwungen wurde. Zu einem anderen Urteil gelangen gewiss jedoch die verratenen Komplizen des Gefangenen – sie werden nicht eindeutig der Meinung sein, dass ihr gefangener Freund gezwungen war, sie zu verraten. Selbst unter Androhung von Gewalt – so ihre Sicht – hätte sich ihr Freund frei dafür entscheiden können, sie nicht zu verraten. Er hätte die Möglichkeit gehabt, Gewalt und Folter in Kauf zu nehmen, anstatt sie zu betrügen.155 Was die Komplizen erkennen, ist die womöglich verbleibende Möglichkeit, auch in einer vermeintlichen Zwangssituation entgegen der zwanghaft intendierten Handlung nach dem eigenen Willen zu handeln und entsprechend verantwortlich zu sein. Ein anderes Beispiel nutzt Frankfurt, um die Möglichkeit von Verantwortlichkeit auch in dem Fall deutlich zu machen, in dem ein Hand-

151 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 24 f. Entsprechend handelt es sich auch beim Jones-Black-Beispiel um einen Fall von Überdetermination: Jones’ Ausführung der von Black gewünschten Handlung ist bestimmt zum einen durch ­Jones’ eigenen Willen und zum anderen durch Black, der eingreift, sollte Jones sich nicht selbst zur Handlung entschließen. 152  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 25. 153 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 25. 154 Vgl. H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, in: Ders.: The Importance of what we care about, 26–46. 155 Vgl. H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, 26.

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

49

lungssubjekt der zwanghaft intendierten Handlung folgt. Dies ist der Fall, wenn ein Handlungssubjekt selbst genau das will, wozu es gezwungen werden soll. „[S]ometimes a threat will coincide with its victim’s own desires and move him in just the same direction in which they would otherwise have moved him.“156

Das Beispiel lautet wie folgt: Eine äußerst freigebige Person macht einen Spaziergang und nimmt sich vor, ihr Geld der ersten Person zu schenken, die ihr auf ihrem Spaziergang begegnet. Die erste Person, die ihr begegnet, ist jedoch ein Verbrecher, der eine Pistole auf ihren Kopf richtet. Die Person soll sich entscheiden, dem Verbrecher ihr Geld zu geben oder ihr Leben zu verlieren. In dieser plötzlichen Gefahrensituation erschrickt die Person und ängstigt sich, sodass sie ihre ursprüngliche Absicht vergisst. Um dem Tod zu entgehen, händigt sie dem Verbrecher ihr Geld aus.157 Frankfurt deutet dieses Beispiel wie folgt: Die Handlung, die die Person ausführt, indem sie dem Verbrecher das Geld gibt, ist eine solche Handlung, die die Person auszuführen beabsichtigt hatte. Hätte keine Bedrohungslage bestanden, hätte die Person die Handlung aus eigenem Antrieb ausgeführt. Darüber hinaus hätte die Person der Bedrohung durch den Verbrecher ohnehin nicht getrotzt, selbst wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Im Gegenteil, da die Person es wirklich vorzieht, eher ihr Geld zu geben als ihr Leben zu verlieren, hätte sie gegen jeden in ihr aufkommenden Impuls des Widerstands angekämpft. Wo besteht nun, so Frankfurts rhetorische Frage, Zwang in diesem Beispiel? Wodurch wird die Autonomie dieser Person beeinträchtigt?158 Zutreffend ist, so Frankfurt, dass die Person es aufrichtig vorzieht, durch den Wunsch, ihr Leben zu retten, geleitet zu werden und nicht durch den Wunsch, ihr Geld zu behalten. Sie zieht es vor, sich der Bedrohung zu unterwerfen, statt ihr zu trotzen. Jedoch stellen diese Möglichkeiten, so eine entscheidende Einsicht, nicht die alleinigen Möglichkeiten der Person dar. Neben Unterwerfung und Widerstand, so Frankfurt weiter, besteht für eine Person angesichts einer Bedrohung auch die Möglichkeit, von dieser Bedrohung nicht beeinflusst zu werden, sodass sie die Bedrohung schließlich gar nicht beachtet. In dem beschriebenen Beispiel wäre denkbar, dass die Person ihr Geld aus ihrer ursprünglichen, freigebigen Absicht an den Verbrecher übergibt und nicht in der Absicht, ihr Leben zu retten. Dann hätte die Person der Bedrohung entsprochen, wäre aber nicht zu der Handlung gezwungen gewesen. Ihr Handlungsmotiv wäre das von ihr gewünschte Handlungsmotiv gewesen und in dieser Weise hätte sich keine Einschränkung ihrer Autonomie ergeben.159

156 Vgl.

H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, 43. H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, 43. 158 Vgl. H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, 43. 159 Vgl. H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, 43. 157 Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Frankfurt konstatiert schließlich, dass Zwang allein dann vorliegt und Verantwortlichkeit aufgrund von Zwang allein dann auszuschließen ist, wenn ein Handlungssubjekt seine Autonomie in der Situation einer Bedrohung oder auch in der Situation eines sehr attraktiven Angebots verliert: „A coercive threat, like a coercive offer, is only coercive because it also violates its victim’s autonomy“160. Bleibt jedoch ein Handlungssubjekt unter Einwirkung einer Bedrohung selbstbestimmt, auch hinsichtlich der vermeintlich erzwungenen Handlung, so ist seine Verantwortlichkeit nicht ausgeschlossen – unter Berücksichtigung von Frankfurts Argumentation gegen die Notwendigkeit der Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ auch dann nicht, wenn eine alternative Handlungsmöglichkeit aufgrund der Zwangssituation ausgeschlossen wäre. Frankfurt bindet sein Verständnis, dass „Anders-handeln-Können“ keine notwendige Bedingung für Freiheit darstellt, schließlich in seine Freiheitstheorie des hierarchischen Wünschens und sein Verständnis der Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch ein.161 Fälle von Überdetermination ermöglichen es, deutlich zu machen, dass das Verständnis von Zurechenbarkeit nicht an die Bedingung eines „Anders-handeln-Könnens“ gebunden ist, sondern an die Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch im Sinn von „wholeheartedness“, wie dies im hierarchischen Modell des Wünschens nachvollziehbar beschrieben werden kann. Einen weiteren Begründungszusammenhang für die Irrelevanz der Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ liefert Frankfurt in seinem Konzept des „caring“162, in dessen Kontext sich ebenfalls der Zusammenhang von Identifikation und Verantwortlichkeit zeigt. Als besonders anschaulich erweist sich dabei Frankfurts Deutung des Verhaltens Martin Luthers vor dem Reichstag in Worms. Auf die Aufforderung hin, die Forderungen der Reformation zurückzunehmen, soll Luther dort am 18. April 1521 bekanntlich geantwortet haben: „Hier stehe ich! Ich kann nicht anders“. Frankfurts Verständnis dieser Szene 160  H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, 42. Vgl. zu Frankfurts Verständnis der Möglichkeit von Verantwortlichkeit in Situationen einer Nötigung ebenfalls: H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, in: Ders.: The importance of what we care about, 47–57, bes. 55–57, in deutscher Übersetzung: H. Frankfurt: „Drei Konzepte freien Handelns“, in: Ders.: Freiheit und Selbstbestimmung, 84–97. 161  Dabei stellt Frankfurts Freiheitsmodell des hierarchischen Wünschens auch unabhängig vom Gelingen der Argumentation gegen die Freiheitsbedingung des „Anders-handeln-Könnens“ in „Alternate possibilities and moral responsibility“ einen Versuch dar, Freiheit so zu beschreiben, dass die Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ nicht vermisst wird. Es könnte Frankfurt daher gelingen, diese Bedingung als irrelevant erscheinen zu lassen, selbst wenn Einwände gegen die Argumentation des Jones-Beispiels erfolgreich wären. 162 Vgl. H. Frankfurt: „The importance of what we care about“ und H. Frankfurt: „On Caring“.

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

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bringt einen neuen Aspekt seines Verständnisses von Identifikation zum Vorschein, der plausibel machen will, dass Zurechenbarkeit hinreichend an diese gebunden ist.163 Einer Person kann das, worum sie sich sorgt, so bedeutsam erscheinen, dass es ihr unmöglich ist, sich einer bestimmten Handlungsweise zu enthalten.164 Diesen Fall erkennt Frankfurt bei Luther. Das Charakteristische dieser Situation besteht darin, dass die Person sich dabei nicht zur Handlung gezwungen fühlt. Vielmehr erscheint eine alternative Handlung undenkbar. Damit unterscheidet sich dieser Fall nach Frankfurt von zwei ähnlichen Arten von Situationen. Zum einen von solchen Situationen, in denen ein Handlungssubjekt feststellt, dass es eine Handlung zu unterlassen unfähig ist, weil es zum Beispiel durch einen inneren Zwang getrieben wird, den es nicht zu überwinden in der Lage ist. Und zum anderen von solchen Situationen, in denen es eine Unterlassung verwerfen muss, weil es von Gründen, die es zur Verwerfung der Unterlassung führen, überzeugt ist. In beiden Situationen erlebt das Handlungssubjekt, von außen bzw. von ihm fremd erscheinenden Umständen oder Gründen getrieben zu sein.165 Ähnlich erscheinen diese Arten von Situationen nach Frankfurt der Situation Luthers dennoch in folgender Weise: Der ersten Art von Situationen ähnelt Luthers Situation darin, dass sich auch Luther durch eine Art unwiderstehlicher Leidenschaft getrieben weiß, sodass nur die Möglichkeit besteht, dieser nötigenden Macht zuzustimmen. Der zweiten Art von Situationen ähnelt Luthers Situation darin, dass auch Luther gute Gründe hat, die Unterlassung zu verwerfen.166 Was Frankfurt als das Entscheidende an der Situation Luthers ausmacht, beschreibt er mit dem Terminus der „volitionalen Nötigung“ („volitional necessity“):

163  Vgl. H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, 85–88. Dieses prominente Beispiel Luthers in Worms findet sich bei verschiedenen Autoren in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte diskutiert. Vgl. beispielsweise D. Dennett: Elbow Room. The Varieties of Free Will Worth Wanting, Oxford 1984, 133; G. Strawson: „On the Inevitability of Freedom from the Compatibilist Point of View“, in: Ders.: Real Materialism and other essays, Oxford 2008, 307–317, hier: 313, Anm. 17, zuerst erschienen in: American Philosophical Quarterly 23 (1986), 393–400; R. Double: The Non-Reality of Free Will, Oxford 1991, 65; R. Kane: „Some Neglected Pathways in the Free Will Labyrinth“, in: Ders.: (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will, Oxford 2002, 406–437, hier: 408. 164  Frankfurt ist bestrebt, ein Konzept über das, worum man sich kümmern soll, stärker im philosophischen Diskurs zu etablieren – es soll neben Erkenntnistheorie (woran man glauben soll) und Ethik (wie man sich verhalten soll) eine eigene Rolle spielen. Vgl. H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, 80. 165 Vgl. H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, 86. 166 Vgl. H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, 86.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

„It is clear, of course, that the impossibility to which Luther referred was a matter neither of logical nor of causal necessity. After all, he knew well enough that he was in one sense quite able to do the very thing he said he could not do; that is, he had the capacity to do it. What he was unable to muster was not the power to forbear, but the will. I shall use the term ‘volitional necessity’ to refer to constraint of the kind to which he declared he was subject.“167

Wird Luther vorgeworfen, er hätte mehr Willensstärke aufbringen müssen, um seine Unterlassung zu verwerfen, so trifft dieser Einwand Frankfurt zufolge nicht die Art der Unfähigkeit, die Luther an sich erkennt. Es geht Frankfurt darum, dass Luther sich selbst nicht durchzuringen vermag, etwas anderes zu wollen, als das, was er will. Er will es unterlassen, seine Reformforderungen zurückzunehmen, weil ihm dieser Wille zu eigen ist. Frankfurt erkennt Luthers Unfähigkeit zur Rücknahme seiner Forderungen letztlich darin, dass Luther sich mit dem Wunsch, so zu handeln, wie er handelt, in folgender Weise identifiziert:168 „The reason a person does not experience the force of volitional necessity as alien or as external to himself, then, is that it coincides with – and is, indeed, partly constituted by – desires which are not merely his own but with which he actively identifies himself.“169

Luthers ungetrübte Identifikation mit dem Wunsch, an seinen Reformforderungen festzuhalten, scheint hinreichend für die Intuition zu sein, ihn für verantwortlich im Sinn der Zurechenbarkeit seiner Handlung zu halten. Natürlich wäre es absurd, Luther in der Situation in Worms Verantwortlichkeit absprechen zu wollen, weil er nicht anders handeln konnte. Im Gegenteil scheint seine Aussage „Ich kann nicht anders“ die Intuition seiner Autonomie zu festigen. Je entschlossener Luther seinen Standpunkt deutlich macht, umso zurechenbarer scheint ihm dieser Standpunkt zu sein. Mit diesem eingängigen Beispiel bindet Frankfurt das Verständnis von Zurechenbarkeit an jenes bereits im vorigen Abschnitt deutlich gewordene Verständnis von Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch. Steht einem Willen kein anderer entgegen, das heißt befindet sich das Handlungssubjekt im Zustand der „wholeheartedness“, so ist die hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit erfüllt. Mit dieser These nimmt Frankfurt es jedoch auf sich, die Korrektur eines vortheoretischen Urteils zu verlangen, nämlich des Urteils, dass ein, beispielsweise durch Gehirnwäsche, manipuliertes Handlungssubjekt für seine Handlungen nicht verantwortlich ist, selbst wenn es sich im Sinn Frankfurts mit diesen Handlungen identifiziert und theorieimmanent nichts gegen seine Verantwortlichkeit spricht.170 167 

H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, 86, Herv. i. O. H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, 86 f. 169  H. Frankfurt: „The importance of what we care about“, 87. 170  Neben anderen halten Barbara Guckes und Martina Herrmann dies für eine entschei168 Vgl.

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

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Bereits in „Freedom of the will and the concept of a person“ zieht Frankfurt die Konsequenz, auch aus Manipulation hervorgegangenes Verhalten grundsätzlich als zurechenbar anzuerkennen, wenn er bemerkt: „There is no incoherence in the proposition that some agency other than a person’s own is responsible (even morally responsible) for the fact that he enjoys or fails to enjoy freedom of the will. It is possible that a person should be morally responsible for what he does of his own free will and that some other person should also be morally responsible for his having done it.“171

Frankfurt hält eine Person durchaus für verantwortlich, wenn sie eine andere Person manipulativ dazu bringt, dass diese drogensüchtig wird. Dadurch jedoch wird die manipulierte, drogensüchtige Person selbst keineswegs davon entlastet, für ihre Drogensucht ebenfalls verantwortlich zu sein. Hat Frankfurts Argumentation gegen die Notwendigkeit der Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ gezeigt, dass eine Person auch unter äußerem und innerem Zwang für ihre Handlung verantwortlich sein kann, wenn sie die Handlung nicht allein aus dem Grund des äußeren oder inneren Zwangs ausführt, so bestand die Überzeugungskraft dabei darin, dass eine Person, positiv ausgedrückt, deshalb verantwortlich ist, weil sie selbst als Miturheberin der Handlung verstanden werden kann. Diese Miturheberschaft sichert Frankfurt zufolge die gängige Intuition über Verantwortlichkeit, die er selbst als „Identifikation“ von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch versteht. Nun jedoch kann Frankfurts Modell dem Vorwurf ausgesetzt werden, kontraintuitiv zu sein. Dies wird etwa deutlich unter Berücksichtigung des Falls der Gehirnwäsche, insofern Frankfurts Beschreibung von Identifikation auch mit der Möglichkeit vereinbar ist, dass die Verfasstheit des verantwortlichen Handlungssubjekts durch eine andere, fremde Instanz vollständig verantwortet sein kann. Frankfurt begegnet dieser Herausforderung offensiv, indem er darauf hinweist, dass ein entscheidender Unterschied besteht zwischen alleiniger und völliger Verantwortlichkeit. So ist es möglich, für eine Handlung voll verantwortlich zu sein, ohne ebenfalls allein für sie verantwortlich sein zu müssen. Zwei Personen können Frankfurt zufolge gleichzeitig, aber unabhängig voneinander, zwei verschiedene Lichtschalter betätigen, welche dieselbe Lichtquelle betreffen. Dann ist keine der beiden Personen allein dafür verantwortlich, dass das dende Schwäche des Frankfurtschen Freiheitsmodells. Vgl. B. Guckes: Ist Freiheit eine Illusion?, 112 f.; 120–122; M. Herrmann: „Freier Wille ohne Wunschkritik. Autonomie als Zustimmung zum eigenen Wünschen“, in: M. Betzler, B. Guckes (Hg.): Autonomes Handeln, 153–166, hier: 159 f. 171  H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 25, Herv. i. O. Vgl. ebenfalls H. Frankfurt: „Coercion and moral responsibility“, 45, Anm. 17.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Licht angeht, und doch ist es zugleich richtig, dass beide voll dafür verantwortlich sind und nicht etwa jede Person nur zur Hälfte.172 In „Three concepts of free action“ legt Frankfurt sein Verständnis der Kompatibilität von Zurechenbarkeit und verdeckter Fremdbestimmung173, wie sich ein aus Manipulation, wie etwa Gehirnwäsche, ergebendes Verhalten sinnvoll bezeichnen lässt, ausführlicher dar.174 Frankfurt unterscheidet zwei Sachlagen, in denen es der Fall sein kann, dass ein Teufel oder ein Neurologe ein Handlungssubjekt manipuliert. Die erste Lage ist dadurch gekennzeichnet, dass das Subjekt ununterbrochen („on a continuous basis“), einer Marionette ähnlich, manipuliert wird, sodass jeder einzelne der mentalen und physischen Zustände des Handlungssubjekts das Ergebnis spezifischer Eingriffe durch den Teufel bzw. Neurologen darstellt.175 In diesem Fall kann das Handlungssubjekt Frankfurt zufolge nicht als Person betrachtet werden, da seine Geschichte keinen inhärenten Zusammenhang aufweist, sondern sich nur aus einzelnen Episoden zusammensetzt.176 „Whatever identifiable themes it may reveal are not internally rooted; they cannot be understood as constituting or belonging to the subject’s own nature.“ 177

Kann das Handlungssubjekt dabei zwar Wünsche und Volitionen verschiedener Ordnung innerhalb komplexer Strukturen besitzen, so fehlt ihm doch ein Charakter bzw. eine eigene Wesensart. Damit fehlt ihm die geringste Stetigkeit und Verständigkeit, ohne die eine Person Frankfurt zufolge nicht existieren kann. Folglich ist es nicht möglich, die Handlungen dem Handlungssubjekt legitim zuzuschreiben („they cannot legitimately be ascribed to him as his actions“178). Die andere Sachlage hingegen stellt sich so dar, dass der Teufel bzw. Neurologe das Handlungssubjekt mit einem dauerhaften Charakter oder einem Programm ausstattet, das infolge gar nicht oder zumindest nicht oft verändert werden muss. Die Reaktionen des Handlungssubjekts auf sein externes und internes Umfeld können dann auf den durch den Teufel bzw. Neurologen geschaffenen Charakter oder auf das Programm zurückgeführt werden und nicht auf einzelne Eingriffe des Teufels bzw. des Neurologen. In diesem Fall kann das 172 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 25, Anm. 10. Vgl. ebenfalls: H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54. 173  Diesen Terminus gebraucht etwa Friedrich Hermanni, vgl. F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 26 bzw. F. Hermanni: „Vom Wesen der menschlichen Freiheit“, 105. 174 Vgl. H. Frankfurt: „Three concepts of free action“. Frankfurt reagiert mit diesem Aufsatz auf D. Locke: „Three Concepts of Free Action: I“, in: Ders.: Proceedings of the Aristotelian Society, Ergänzungsband XLIX (1975), 96–112. 175  H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 53. 176 Vgl. H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 52 f. 177  H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 53. 178  H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 53.

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

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Handlungssubjekt in Frankfurts Verständnis sowohl als frei als auch als verantwortlich gelten: There are no „compelling reasons either against allowing that the subject may act freely or against regarding him as capable of being morally responsible for what he does“179. In diesem Fall verdeckter Fremdbestimmung stellt Identifikation des Handlungssubjekts mit dem handlungswirksamen Wunsch nach Frankfurt die hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit dar, sodass das Handlungssubjekt verantwortlich für seinen Wunsch erscheinen kann: „He may become morally responsible, assuming that he is suitably programmed, in the same way others do: by identifying himself with some of his own second-order desires, so that they are not merely desires that he happens to have or to find within himself, but desires that he adopts or puts himself behind.“180

Im Prozess der Identifikation ereignet sich unausweichlich die Übernahme von Verantwortung für den handlungswirksamen Wunsch. So gibt es Frankfurt zufolge nichts, wozu das Handlungssubjekt darüber hinausgehend fähig sein müsste, um die hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit erfüllen zu können. Frankfurt lehnt es ab, zu fordern, dass die Frage nach dem Ursprung der handlungswirksamen Wünsche beantwortet werden muss. Damit widerspricht er im Kontext seiner Darstellung Don Locke, der fordert, dass das Handlungssubjekt eines Teufels bzw. Neurologen deshalb nicht als frei handelnd angesehen werden kann, weil es nicht von dem Handlungssubjekt selbst abhängt, welche handlungswirksamen Wünsche es besitzt.181 Frankfurt unterstellt Locke, mit seiner Forderung zu übersehen, dass es für die Verantwortlichkeit des Handlungssubjekts ausreicht, in gewisser Weise und nicht vollständig für den handlungsbestimmenden Charakter verantwortlich zu sein. Sobald sich das Handlungssubjekt mit seinem Charakter identifiziert, übernimmt es Verantwortung für ihn. Locke hingegen scheint Frankfurt zufolge der Ansicht zu sein, dass „von X abhängen“ oder „der Kontrolle von X unterliegen“ letztendlich bedeutet, dass gar nichts von der Person oder der Kontrolle der Person abhängt, wenn jemand anders das Vorhandensein der Person bzw. Kontrolle bestimmt. Frankfurt verteidigt die Ansicht, dass nicht die Frage nach dem kausalen Ursprung der Handlung für die Beurteilung ihrer Zurechenbarkeit entscheidend ist, sondern die Frage nach der Aktivität oder Passivität, welche die Haltung des Handlungssubjekts hinsichtlich der Handlung auszeichnet.182 „Now a person is active with respect to his own desires when he identifies himself with them, and he is active with respect to what he does when what he does is the outcome of 179 

H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 53. H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 53. 181 Vgl. H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 53 f. 182 Vgl. H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54. 180 

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

his identification of himself with the desire that moves him in doing it. Without such identification the person is a passive bystander to his desires and to what he does, regardless of whether the causes of his desires and of what he does are the work of another agent or of impersonal external forces or of processes internal to his own body.“183

Explizit weist Frankfurt hier die Forderung zurück, nach dem Ursprung der Identifikation zu verlangen – und weist damit auch die Forderung nach radikaler Selbstbestimmung zurück – da es in dieser Hinsicht keinen Sinn ergibt, zu fragen, ob man sich mit der eigenen Identifikation identifizieren kann. Der einzige Sinn dies zu fragen, besteht nach Frankfurt darin, herauszufinden, ob die Identifikation ungeteilt, das heißt „wholehearted“ ist.184 Gegenüber den eigenen Volitionen zweiter Ordnung eine distanzierte und neutrale Position zu beziehen, stellt überhaupt keine Möglichkeit für ein Handlungssubjekt dar, da die Volitionen zweiter Ordnung selbst ihre Aktivität erst konstituieren bzw. mit dieser Aktivität selbst übereinstimmen.185 Radikale Selbstbestimmung erscheint in Frankfurts Verständnis folglich als unmöglich. Bei all dieser im Grunde klar erscheinenden Argumentation gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung räumt Frankfurt ein, dass sein Begriff der Identifikation etwas mystifizierend („mystifying“) bleibt und er sich über dessen exakte Erklärung nicht ganz sicher ist. Dennoch kommt diesem Begriff seiner Einschätzung nach unbezweifelbar eine zentrale Rolle innerhalb der Phänomenologie und Philosophie der menschlichen Natur („human mentality“) zu, unabhängig von der Frage nach der Möglichkeit seiner Analyse.186 Statt eine Analyse der Identifikation zu bieten, möchte Frankfurt sich mit folgender Erklärung begnügen, die auch von Frankfurts Sicht der Irrelevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zeugt: „[T]o the extent that a person identifies himself with the springs of his actions, he takes responsibility for those actions and acquires moral responsibility for them; moreover, the questions of how the actions and his identifications with their springs are caused are ir­ relevant to the questions of whether he performs the actions freely or is morally responsible for performing them.“187

Die Tatsache, dass ein Teufel oder Neurologe ein Handlungssubjekt dahin bringt, bestimmte Wünsche zweiter Ordnung zu besitzen und sich mit diesen zu identifizieren, lässt es somit nicht paradox erscheinen, dass dieses Handlungssubjekt als voll verantwortliches Wesen in Abhängigkeit des Teufels oder des Neurologen existiert. Die Verantwortlichkeit des Teufels und Neurologen ist damit natürlich, wie oben bereits deutlich wurde188, durch die Verantwort183 

H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54. H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54. 185 Vgl. H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54. 186  H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54. 187  H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54, Herv. F. D. 188 Vgl. H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 25, Anm. 10. 184 

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

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lichkeit des von ihnen kontrollierten Handlungssubjekts in keiner Weise gemindert. Vielmehr tragen auch Teufel und Neurologe durch ihre Identifikation mit ihren eigenen handlungswirksamen Wünschen volle und alleinige Verantwortung für die Manipulation des Handlungssubjekts und volle, wenn auch nicht alleinige, Verantwortung für die Handlungen des von ihnen kontrollierten Handlungssubjekts.189 Fälle verdeckter Fremdbestimmung können in Frankfurts Modell somit durchaus als zurechenbar beschrieben werden. Der kontraintuitive Aspekt, der hiermit einhergeht, lässt sich in einem weiter gefassten Zusammenhang wohl wie folgt deuten: Mag wohl jede Form von Determination möglicherweise eine intuitiv erfahrbare Einschränkung von Freiheit mit sich bringen, so zeigt sich diese empfundene Einschränkung des Werts der Freiheit mitunter am deutlichsten, wenn freie Handlungen und Entscheidungen als absichtlich manipulierte erscheinen bzw. der Wille dieser Handlungen und Entscheidungen sich als bewusst getäuscht und hintergangen darstellt. Eine kompatibilistische Theorie der Freiheit in der Art, wie Frankfurt sie vertritt, kann mitunter mehr oder weniger frei empfunden bzw. auch theoretisch beschrieben werden, abhängig jeweils davon, in welcher Weise die Determination oder die Notwendigkeit, mit der die Freiheit vereinbar sein soll, zu beschreiben ist.190 Entsprechend der Zurückweisung eines stärkeren Anspruchs an das Identifikationsverständnis als jenem von „wholeheartedness“, die sich im Beispiel über die Möglichkeit von Zurechenbarkeit unter dem Einfluss verdeckter Fremdbestimmung zeigte, beschreibt Frankfurt den Zusammenhang von Identifikation und Verantwortlichkeit auch in „Identification and wholeheartedness“. Nicht entscheidend für Frankfurt ist hier, dass das Handlungssubjekt seinen handlungswirksamen Wunsch schafft („originates“191). Auch wenn die Person keine Verantwortung dafür trägt, dass sie einen bestimmten Wunsch besitzt, so wird dieser Wunsch in vollem Sinn der ihr eigene, indem sie sich mit ihm identifiziert, das heißt, indem sie wünscht, dass er ihr handlungswirksamer Wunsch werde.192 „Through his action in deciding, he is responsible for the fact that the desire has become his own in a way in which it was not unequivocally his own before.“193

Radikale Selbstbestimmung als Bedingung für Verantwortlichkeit kann dabei nach Frankfurt nicht sinnvoll gefordert werden. Zwar beschreibt Frankfurt auch eine Art Hervorbringung oder Schaffung des eigenen Willens, doch stellt dies einen Prozess dar, der sich auf Grundlage vorhandener Wünsche ereignet. 189 Vgl.

H. Frankfurt: „Three concepts of free action“, 54. zu sich in ihrem Wert der Freiheit unterscheidenden kompatibilistischen Freiheitstheorien auch unten Abschnitt 5.3.2.1. 191  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 170. 192 Vgl. H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 170. 193  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 170. 190  Vgl.

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2. Harry G. Frankfurt und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Frankfurt analysiert zwei Arten von Konflikten, die sich zwischen Wünschen abspielen können, um die Hervorhebung bzw. Schaffung des Willens zu verdeutlichen.194 Im einen Konflikt wetteifern Wünsche um ihre Stelle innerhalb der Hierarchie von Wünschen, die das Handlungssubjekt alle besitzt, das heißt der Konflikt betrifft die Frage, welchem Wunsch zuerst entsprochen werden soll. Im anderen Konflikt geht es grundlegender um die Frage, ob einem bestimmten Wunsch überhaupt eine Stellung innerhalb der Wünschehierarchie zugebilligt werden soll. Der erste Konflikt wird derart gelöst, dass der Konfliktwunsch innerhalb der Reihe von Wünschen einen bestimmten Ort erhält. Der zweite Konflikt wird hingegen derart gelöst, dass eine Entscheidung herbeigeführt wird darüber, ob dieser Wunsch ganz aus der Reihe der Wünsche ausgestoßen wird oder nicht. Für beide Arten von Konflikten gilt dabei: „It is these acts of ordering and of rejection – integration and separation – that create a self out of the raw materials of inner life“195. Um das Missverständnis der ultimativen Hervorbringung der Wünsche eindeutig auszuschließen, stellt Frankfurt seine Sicht der Forderung Aristoteles’ gegenüber, der eine Person nur dann für ihren Charakter, das heißt für die Gesamtheit und Ordnung ihrer handlungsentscheidenden persönlichen Eigenschaften, verantwortlich erachtet, wenn sie so handelt, dass diese Gesamtheit und Ordnung ihrer handlungsentscheidenden persönlichen Eigenschaften durch ihr Handeln bewirkt wird, das heißt ihr Charakter durch ihr Handeln ultimativ hervorgebracht wird. Frankfurts Entgegnung sei hier ausführlich zitiert: „I think that Aristotle’s treatment of this subject is significantly out of focus because of his preoccupation with causal origins and causal responsibility. The fundamental responsibility of an agent with respect to his own character is not a matter of whether it is as the effect of his own actions that the agent has certain dispositions to feel and to behave in various ways. That bears only on the question of whether the person is responsible for having these characteristics. The question of whether the person is responsible for his own character has to do with whether he has taken responsibility for his characteristics. It concerns whether the dispositions at issue, regardless of whether their existence is due to the person’s own initiative and causal agency or not, are characteristics with which he identifies and which he thus by his own will incorporates into himself as constitutive of what he is.“196

Es zeigt sich, dass Frankfurt Zurechenbarkeit nicht nur hinsichtlich einzelner Willensakte an die Bedingung der Identifikation des Handlungssubjekts mit denselben im Sinn der „wholeheartedness“ bindet. Frankfurt hält ein Handlungssubjekt ebenso für zurechenbar hinsichtlich seines Gesamtcharakters, wenn es sich im Sinn der „wholeheartedness“ mit diesem identifiziert. Weder hinsichtlich der Verantwortlichkeit für eine einzelne Handlung oder Entschei194 Vgl.

H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 170. H. Frankfurt: „Identification and wholeheratedness“, 170. 196  H. Frankfurt: „Identification and wholeheartedness“, 171 f., Herv. i. O. 195 

2.3 Verantwortlichkeit und Identifikation

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dung noch hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die persönliche, charakter­ liche Beschaffenheit eines Handlungssubjekts erachtet Frankfurt radikale Selbstbestimmung für notwendig. Gerade in Aristoteles’ Überlegung, ob einem Handlungssubjekt sein eigener Charakter zugerechnet werden kann, den es doch nicht selbst radikal hervorzubringen fähig ist, zeigt sich die Intuition, radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung für Freiheit aufzufassen. Wie dieses Kapitel zu Frankfurts Freiheitsverständnis insgesamt deutlich macht, lehnt Frankfurt die Sinnhaftigkeit dieser Bedingung jedoch entschieden ab. Für Frankfurt lässt sich alles, was über Freiheit zu sagen ist, im Rahmen seines hierarchischen Modells des Wünschens ausdrücken, das Identifikation von Handlungssubjekt und handlungswirksamem Wunsch im Sinn seines Verständnisses der „wholeheartedness“ deutet. Entsprechend drückt Frankfurt in „Freedom of the will and the concept of a person“ aus, dass sein Freiheitsmodell alle Bedingungen erfüllt, die an das Freiheitsverständnis gestellt werden können. Für ein Handlungssubjekt, das Handlungsfreiheit und Willensfreiheit im Sinn Frankfurts besitzt, gilt: „[H]e has, in that case, all the freedom it is possible to desire or to conceive. There are other good things in life, and he may not possess some of them. But there is nothing in the way of freedom that he lacks.“197

Wie sich im anschließenden Kapitel 3 zeigen wird, kommt Galen Strawson bei seiner Beurteilung der Bedingungen für Zurechenbarkeit zu einem anderen Ergebnis – und dies führt auch zu einem anderen Ergebnis seiner Einschätzung der Rolle radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis. Zwar teilt Strawson die Einschätzung Frankfurts hinsichtlich der Unmöglichkeit eines Freiheitskonzepts im Sinn radikaler Selbstbestimmung, doch entwickelt er hinsichtlich der Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung eine gegenüber Frankfurt konträre Position.

197 

H. Frankfurt: „Freedom of the will and the concept of a person“, 22 f.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung Galen Strawson, geboren 1952, lehrt seit dem Jahr 2000 Philosophie an der Universität Reading in Großbritannien. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören die Philosophie des Geistes, Theorien der Identität und des Selbst, die Kausalitätsproblematik und nicht zuletzt die Problematik der Willensfreiheit.1 Strawson selbst ordnet sein Freiheitsverständnis den inkompatibilistischen Theorien zu, die anders als kompatibilistische Theorien, wie etwa jene von Harry Frankfurt, Freiheit und Determinismus für nicht vereinbar halten. 2 Strawsons Selbstbeschreibung als Inkompatibilist kann jedoch das Missverständnis entstehen lassen, dass Strawson annimmt, Indeterminismus wäre als notwendige Bedingung von Freiheit anzusehen. Tatsächlich grenzt sich Strawson jedoch von Positionen, die Freiheit mit Hilfe des Indeterminismus zu begründen versuchen – sogenannte libertarische Freiheitstheorien – aus prinzipiellen Gründen entschieden ab. Kompatibilistische Freiheitstheorien, die Freiheit und Determinismus für vereinbar halten, lehnt Strawson deshalb ab, weil diesen Theorien seiner Sicht zufolge nicht das allgemein übliche Freiheitsverständnis zugrunde liegt. Unter Kompatibilismus versteht Strawson konsequent Kompatibilismus im Sinn Frankfurts und diesen Kompatibilismus trifft Strawsons Kritik. Ob eine kompatibilistische Freiheitstheorie denkbar ist, der das allgemein übliche Freiheitsverständnis zugrunde liegt und die sich konsistent begründen lässt, erwägt Strawson nicht.3 Strawson bezeichnet seinen eigenen Ansatz als pessimistisch. Er geht davon aus, dass Freiheit im allgemein üblichen Verständnis inkompatibilistisch gedeu1  Unter zahlreichen Veröffentlichungen sei neben Freedom and Belief auf folgende einschlägige Monographien hingewiesen: The Secret Connexion. Realism, Causation, and ­David Hume, Oxford 1989; Mental Reality, Cambridge 1994, 2. Aufl. 2010; Locke on Per­ sonal Identity. Consciousness and Concernment, Princeton, Oxford 2011; The Evident Connexion. Hume on Personal Identity, Oxford 2011. 2  Vgl. etwa zu Strawsons Einschätzung seiner eigenen Sichtweise als explizit inkompatibilistisch: „it is resolutely incompatibilist“ (G. Strawson: „Consciousness, Free Will, and the Unimportance of Determinism“, in: Ders.: Real Materialism and other essays, Oxford 2008, 337–358, hier: 345, Anm. 17). 3  Vgl. zu einem solchen Kompatibilismus das diese Gesamtuntersuchung abschließende Kapitel 7.

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tet wird bzw. inkompatibilistische Intuitionen für das Freiheitsverständnis eine relevante Rolle spielen – und bezeichnet sich in diesem Sinn als Inkompatibilist – argumentiert dabei jedoch für die These, dass dieses Verständnis von Freiheit weder unter deterministischen noch unter indeterministischen Voraussetzungen begründet werden kann. Entsprechend lässt sich sein Ansatz auch als Impossibilismus bezeichnen.4 Auf die angedeuteten Unschärfen hinsichtlich der Verwendung der Begriffe Kompatibilismus und Inkompatibilismus wird in der folgenden Darstellung Strawsons gelegentlich – zum Teil in Anmerkungen – hingewiesen, wobei jedoch nicht das Ziel gefährdet werden soll, Strawson in seinem eigenen Duktus und seiner originellen Perspektive darzustellen. Kurz gefasst orientiert Strawson die Begriffe Kompatibilismus und Inkompatibilismus an den beiden von ihm als wirkmächtig und plausibel erkannten, sich entgegengesetzten Intuitionen darüber, ob Freiheit mit dem Determinismus vereinbar ist – Kompatibilismus – und ob Freiheit mit dem Determinismus unvereinbar ist – Inkompatibilismus. Die an Intuitionen orientierte Verwendung der Begriffe ergibt dabei Spannungen zu dem, was die Begriffe an sich ausdrücken. Im Zwischenfazit (Kap. 4) wird diese Problematik schließlich zusammenfassend dargelegt. In der Darstellung über Strawsons Einschätzung zu radikaler Selbstbestimmung in diesem Kapitel spielt diese Problematik jedoch keine wesentliche Rolle. Inhaltlich orientieren sich die Abschnitte dieses Kapitels an der Frage nach Strawsons Einschätzung der Wirklichkeit bzw. Möglichkeit und der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis. Die folgenden Abschnitte lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zunächst wird in Abschnitt 3.1 das Basisargument Strawsons („basic argument“) gegen die Möglichkeit letztgültiger Verantwortlichkeit und der damit zusammenhängenden letztgültigen bzw. radikalen Selbstbestimmung in drei unterschiedlichen Versionen dargestellt. Dabei gilt es auch auf Strawsons Verständnis von Selbstbestimmung zu blicken. Anders als im vorangegangenen Kapitel zu Frankfurt wird der erste Abschnitt nicht die Grundlage einer Theorie über die Möglichkeit von Freiheit – in der Theorie des hierarchischen Wünschens – sondern die Grundlage einer Theorie über die Unmöglichkeit von Freiheit darstellen. In Abschnitt 3.2 wird deutlich, in welchem Verhältnis sich das Argument zu Strawsons Sicht der Freiheitsthematik befindet. Strawson versteht ein starkes, inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigendes Freiheitsverständnis als das allgemein übliche Freiheitsverständnis. Erkennbar wird dies für Strawson insbesondere anhand des von ihm als üblich beschriebenen Verständnisses von 4 Ähnliche impossibilistische Positionen vertreten z.B. auch R. Double: The Non-­ Reality of Free Will; B. Guckes: Ist Freiheit eine Illusion?; D. Pereboom: Living without Free Will, Cambridge 2001; S. Smilansky: Free Will and Illusion, Oxford 2000.

3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

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letztgültiger Verantwortlichkeit, das nur durch ein starkes Freiheitsverständnis und in dessen Reflexion durch Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung gewährleistet werden kann. Entsprechend gewinnt das Basisargument für die Freiheitsdebatte Relevanz, stellt es schließlich die angemessene Reflexion auf das übliche Freiheitsverständnis dar. Letztlich kann das Basisargument weder in seiner Relevanz noch in seiner Validität zurückgewiesen werden, sodass Strawson radikale Selbstbestimmung zugleich für relevant hinsichtlich des Freiheitsverständnisses und für unmöglich erachtet. Abschnitt 3.3 betrachtet drei von Strawson selbst aufgegriffene Einwände gegen das Basisargument sowie Strawsons Zurückweisung dieser Einwände. Zuerst gilt die Aufmerksamkeit in Abschnitt 3.3.1 dem als kompatibilistisch beschriebenen Einwand gegen die These des Basisarguments. Dieser Einwand besagt, dass Verantwortlichkeit für Entscheidungen und Handlungen durch Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit hinreichend begründet werden kann und radikale Selbstbestimmung keine notwendige Bedingung von Freiheit und Verantwortlichkeit darstellt. Strawson sieht die Intention kompatibilistischer Freiheitsstrategien, zu denen er Frankfurts Theorie klassischerweise zählt, darin, dass sie der Unmöglichkeit der Freiheit, die radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung anerkennt, ausweichen, indem sie für ein anderes, schwächeres Freiheitsverständnis votieren.5 Dieses schwächere Verständnis ist entweder völlig unabhängig von Fragen über das Zutreffen des Determinismus und der Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung konzipiert, oder es versucht sich mit deterministischen Voraussetzungen und der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung vereinbar zu zeigen. Es ist für Strawson klar, dass keiner dieser kompatibilistischen Versuche dem starken, inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigenden Freiheitsverständnis gerecht wird, das Strawson als das übliche Verständnis beschreibt. Strawson argumentiert mit Hilfe verschiedener Beispiele – in religiösen, juristischen und alltäglichen Kontexten – gegen die Plausibilität dieses kompatibilistischen Freiheitsverständnisses. Dabei wird auch deutlich, dass moralische Belange für sein Verständnis von Verantwortlichkeit zur Verdeutlichung dienen, jedoch keine explizite Rolle spielen, da die Kernfrage das Verständnis der Zurechenbarkeit einer Handlung zu ihrem Handlungssubjekt betrifft. Mag die Vorstellung von letztgültiger Verantwortlichkeit und radikaler Selbstbestimmung Strawson zufolge auch nicht kohärent zu beschreiben sein, so erkennt Strawson dennoch in ihr das Proprium menschlicher Freiheit. Schließlich führt eine Reflexion der inkompatibilistischen Intuitionen Strawson zufolge unweigerlich zur Anerkennung der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis. 5  Hier zeigt sich, dass Strawson Kompatibilismus im Widerspruch zu inkompatibilistischen Intuitionen versteht – was begrifflich jedoch nicht zwingend ist, sondern sich für Strawson aus der Wahrnehmung der intuitiven Plausibilität desjenigen Kompatibilismus, der keine inkompatibilistischen Intuitionen berücksichtigt, ergibt.

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Abschnitt 3.3.2 wendet sich dem libertarischen Einwand gegen das Basisargument zu, mit dem versucht wird, durch Heranziehung von indeterministischen Ereignissen die als notwendig anerkannte Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit zu erfüllen. Hier wird Strawsons Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen Möglichkeiten libertarischer Freiheitsstrategien dargestellt. Als aussichtsreichster Ort für das Auftreten indeterministischer Ereignisse erwägt Strawson den Prozess des Zustandekommens der Gründe einer Handlung. Handlungsgründe setzen sich laut Strawson aus Überzeugungen und Wünschen zusammen, sodass indeterministische Ereignisse hier auf zweierlei Weise eine Rolle spielen können. Überzeugungen können Strawson zufolge diese Rolle nicht übernehmen, sodass ein indeterministischer Beitrag einzig im Prozess des Zustandekommens von Wünschen eine Rolle spielen könnte. Diese letzte verbleibende Möglichkeit scheitert jedoch wie alle anderen Versuche prinzipiell an der Unmöglichkeit, indeterministischen Ereignissen eine Freiheit begründende Funktion zuzuschreiben. Denn kein indeterministischer Beitrag kann den infiniten Regress, den Strawson hinsichtlich der Begründung von zurechenbaren Handlungen erkennt, auf erforderliche Weise abbrechen. Indeterminismus kann letztlich nicht Selbstbestimmung, sondern nur Zufall begründen. Auch im Zusammenhang mit der libertarischen Theorie Robert Kanes wird Strawsons Kritik am Libertarianismus abschließend deutlich. Der Einwand gegen die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung ist damit widerlegt. Abschnitt 3.3.3 wendet sich schließlich einem Einwand gegen das Basisargument zu, mit dem versucht wird, durch das Postulat eines von der persönlichen bzw. charakterlichen Beschaffenheit des Handlungssubjekts unabhängigen Selbst so verstandene Freiheit und Verantwortlichkeit zu begründen, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird. Dieser Einwand richtet sich zum einen gegen die Notwendigkeit der Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit (entspricht dem ersten Einwand), argumentiert zum anderen jedoch gegen ein Frankfurt entsprechendes kompatibilistisches Verständnis von Freiheit und Verantwortung (entspricht dem zweiten Einwand). Die Idee scheitert Strawson zufolge jedoch daran, Handlungen durch das Selbst nicht hinreichend erklären zu können. Es wird deutlich, dass gegenüber Theorien des unabhängigen Selbst nur solche Theorien angemessene Freiheitstheorien darstellen, welche die Zurechenbarkeit einer Handlung mit Hilfe von Gründen, die das Handlungssubjekt besitzt, gewährleisten können. Radikale Selbstbestimmung wird in ihrer durch die Vorstellung eines unabhängigen Selbst nicht widerlegten Relevanz für das Freiheitsverständnis erkennbar. Abschnitt 3.4 behandelt schließlich Strawsons phänomenologische Untersuchung des Freiheitsverständnisses, die eine vertiefte Argumentation für die Relevanz der inkompatibilistischen Intuitionen und folglich auch für die Relevanz der radikalen Selbstbestimmung ermöglicht. Dieser Abschnitt knüpft an

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den vorausgehenden Unterabschnitt 3.3.3 in der Weise an, dass sich die Vorstellung eines unabhängigen Selbst in Strawsons Sicht nun als zentrale Figur des vorphilosophischen Freiheitsverständnisses herausstellt. Strawson argumentiert dafür, dass die Vorstellung des unabhängigen Selbst zunächst inkompatibilistische Intuitionen erklären kann, ebenso aber auch kompatibilistische Intuitionen auf diese Vorstellung zurückgeführt werden können. In diesem Abschnitt wird zunächst Strawsons These beleuchtet, dass ein menschliches Handlungssubjekt sich unausweichlich als unabhängiges Selbst versteht. Diese These erhält sodann maßgebliche Unterstützung durch ein von Strawson vorgeschlagenes Gedankenexperiment über die Konsequenzen der Erkenntnis des Determinismus. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird Strawsons Diskussion zweier Reaktionsmöglichkeiten auf die Erkenntnis des Determinismus ausgeführt. Die erste Möglichkeit besteht in einer inneren Hin- und Hergerissenheit zwischen dem Gefühl, als Selbst nicht mehr agieren zu können, und dem Gefühl, dennoch als Selbst agieren zu müssen. Dieser im Grunde konsequenten, aber seltenen Reaktionsmöglichkeit steht eine verbreitete und übliche Reaktionsmöglichkeit gegenüber. Diese zweite Reaktionsmöglichkeit besteht darin, die Unmöglichkeit, als Selbst zu agieren, anzuerkennen, aber dennoch unbewusst damit fortzufahren. Diese als inkonsistente Haltung dargestellte Position erweist sich bei Strawson als Hinführung zum Verständnis dessen, dass die Vorstellung des unabhängigen Selbst zum einen inkompatibilistische, zum anderen aber ebenso kompatibilistische Intuitionen beinhalten kann. Strawson argumentiert so nicht mehr allein für die Plausibilität der Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen, sondern leistet ebenfalls einen Beitrag zur Erklärung dafür, dass diese Relevanz von vielen nicht anerkannt wird. Indem Strawson dafür argumentiert, dass nicht nur inkompatibilistische, sondern auch kompatibilistische Intuitionen ihren Grund im Selbstverständnis des menschlichen Handlungssubjekts als unabhängiges Selbst haben, argumentiert er letztlich mit großer Plausibilität für ein Gesamtverständnis der Freiheitsproblematik. Dieses Verständnis bringt die Argumentation für die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen in überzeugender Weise mit sich und, deren Reflexion zugrunde gelegt, auch für die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

3.1 Das Basisargument gegen letztgültige Verantwortlichkeit und radikale Selbstbestimmung Strawson entfaltet sein so genanntes „Basisargument“ („basic argument“) zuerst in seiner grundlegenden Monographie Freedom and Belief (1986)6 und wiederholt bzw. variiert es in mehreren späteren Aufsätzen und Artikeln.7 Das Basisargument dient Strawson zur Argumentation dafür, dass Handlungssubjekte sich nicht im eigentlichen Sinn bzw. letztgültig selbst bestimmen und folglich nicht für ihre Handlungen im eigentlichen Sinn bzw. letztgültig (moralisch)8 verantwortlich sein können („truly or ultimately morally responsible“9). Für das Argument spielt es keine Rolle, ob von der Wahrheit des Determinismus, egal in welcher Spielart, ausgegangen wird. In jedem Fall wird gezeigt, dass Handlungssubjekte nicht letztgültig Verantwortung tragen können respektive sich nicht radikal selbst bestimmen können. Strawson beschränkt sich in seinem Determinismusverständnis auf eine schwache Version: „,Determinism‘ will be taken to be the thesis that every event has a cause – that every event or state of the world is brought about by something else, which is its cause. This intentionally highly unspecific definition is all that is needed for present purposes.“10

Während diese Definition recht allgemein gehalten ist, wird „Determinismus“ Strawsons Darstellung nach oft einschränkender als „physikalischer Determi 6  G. Strawson: Freedom and Belief, Oxford 1986. Alle diesbezüglichen in dieser Untersuchung auftretenden Zitate und Anmerkungen rekurrieren auf die zweite Auflage von 2010.  7  Vgl. z.B. „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, in: G. Strawson: Real Materialism and other essays, Oxford 2008, 319–331, zuerst erschienen in: Philosophical Studies 75 (1994), 5–24, ebenfalls in: G. Watson (Hg.): Free Will, 212–228; „The Unhelpfulness of Indeterminism“, in: Philosophy and Phenomenological Research 60 (2000), 149–155; „The Bounds of Freedom“, in: R. Kane (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will, Oxford 2002, 441–460; „Free Agents“, in: G. Strawson: Real Materialism and other essays, Oxford 2008, 359–386; zuerst erschienen in: Philosophical Topics 32 (2004), 371–402; auch in: Freedom and Belief, 2. Aufl., 291–316; Art. „Free Will“, in: E. Craig (Hg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy, Bd. 3, London, New York 1998, 743–752, gekürzte Version in: Concise Routledge Encyclopedia of Philosophy, London, New York 2000, 293–295, leicht überarbeiteter Artikel in: E. Craig (Hg.): The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, London, New York 2005, 286–294, in deutscher Übersetzung: Die Kleine Routledge Enzyklopädie der Philosophie, übersetzt von W. Sohst, Berlin 2007, Bd. 1, 494–510.  8  Strawson ordnet moralischen Belangen keine notwendige Funktion für sein Argument zu – Verantwortlichkeit wird von ihm im Sinn von Zurechenbarkeit gebraucht. Moralische Kontexte eignen sich laut Strawson jedoch besonders, um verständlich zu machen, was unter letztgültiger Verantwortlichkeit zu verstehen ist. S. dazu bes. Abschnitt 3.3.1. In der folgenden Darstellung erscheint „moralisch“ teilweise in Klammern, um deutlich zu machen, dass moralische Belange sich für das Verständnis nicht als notwendig, aber als hilfreich erweisen.  9  G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, in: G. Strawson: Real Materialism, 319. Alle diesbezüglichen in dieser Untersuchung auftretenden Zitate und Anmerkungen rekurrieren auf diese Ausgabe. 10  G. Strawson: Freedom and Belief, 4.

3.1 Das Basisargument gegen letztgültige Verantwortlichkeit

67

nismus“ gedeutet. Dieser kann als These beschrieben werden, die besagt, dass jedes physikalische Ereignis eine Ursache besitzt, oder, noch einschränkender, als These, die besagt, dass jedes physikalische Ereignis eine physikalische Ursache besitzt. Diese Unterschiede spielen für Strawsons Belange jedoch keine Rolle. Er kann sich schließlich eine noch schwächere Version des Determinismus als die bereits genannte vorstellen, die alle Zwecke im Kontext seines Basisarguments erfüllt: „[A]ll events are caused except one – the so-called ‚Big Bang‘“11. Strawson betont an verschiedener Stelle, dass die Idee des Basisarguments nichts Originelles darstellt.12 Seine Grundidee lässt sich mit einer ersten Version in einfacher Weise in drei Schritten deutlich machen [1]: 1) Nichts kann causa sui sein, das heißt nichts kann sein eigener Grund sein. 2) Um im eigentlichen Sinn (moralisch) verantwortlich für seine Handlungen sein zu können, müsste man causa sui sein, zumindest in gewisser entscheidender persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht. 3) Daraus folgt, dass es unmöglich ist, im eigentlichen Sinn (moralisch) verantwortlich zu sein.13 Was zur Ermöglichung letztgültiger Verantwortung erforderlich scheint, wird von Strawson an dieser Stelle als Möglichkeit einer causa sui bezeichnet. Dass Strawson damit ein solches Verständnis von radikaler Selbstbestimmung identifiziert, wie es auch als Leitfaden dieser Gesamtuntersuchung dient, zeigt sich deutlich etwa in folgenden Zitaten: „One can partially describe the state of affairs that would give us what we want in terms of the notion of self-determination: for if one is to be truly responsible for one’s actions, then, clearly, one must be truly self-determining or truly self-determined in one’s actions. True responsibility presupposes true self-determination“14; „One could equally well express this requirement as the requirement that one must be a true originator of one’s actions, but I shall stick to the formulation in terms of self-determination.“15

Die Vorstellung von Selbstbestimmung stellt sich Strawson zufolge zunächst jedoch zweideutig dar. Wenn man die Rede von Selbstbestimmung in Strawsons Sinn gebrauchen will, muss die Zweideutigkeit zuerst benannt und ausgeräumt 11 

G. Strawson: Freedom and Belief, 4, Anm. 6. Vgl. etwa: G. Strawson: Freedom and Belief, 24; G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 319; G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 443. 13  G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 319, vgl. G. Strawson: „Free Agents“, in: Real Materialism, 359 f. – alle diesbezüglichen in dieser Untersuchung auftretenden Zitate und Anmerkungen rekurrieren auf diese Ausgabe. Vgl. ebenfalls G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 443 f.; G. Strawson: Art. „Free Will“, in: Concise Routledge Encyclopedia of Philosophy, 294, u.ö. 14  G. Strawson: Freedom and Belief, 22, Herv. i. O. 15  G. Strawson: Freedom and Belief, 22, Anm. 2, Herv. i. O. 12 

68

3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

werden. Selbstbestimmung kann zum einen in einem kompatibilistischen Sinn verstanden werden:16 „(i) [O]ne is self-determined, or self-determining, in any particular case of action, just so long as what one does is indeed a result of one’s own choices, decisions, and deliberations.“17

In diesem Verständnis kann man hinsichtlich der eigenen (physischen) Handlungen selbstbestimmt sein, selbst wenn man nicht selbstbestimmt ist hinsichtlich der eigenen Wahlen oder Entscheidungen. Präziser ausgedrückt: Man kann selbstbestimmt hinsichtlich der eigenen Handlungen sein, selbst wenn die eigenen Wahlen, Entscheidungen und Überlegungen vollständig determinierte Phänomene darstellen – Phänomene, für deren Auftreten und Verfasstheit man nicht im eigentlichen Sinn verantwortlich ist. Dieses Verständnis von Selbstbestimmung stimmt mit einer Art Basisbedeutung von Freiheit überein.18 Strawson beschreibt Selbstbestimmung in dem von ihm als relevant erachteten, letztgültige Verantwortlichkeit rechtfertigenden Sinn dem gegenüber folgendermaßen: „(ii) [O]ne is truly self-determining, in one’s actions, only if one is truly self-determined, and one is truly self-determined if and only if one has somehow or other determined how one is in such a way that one is truly responsible for how one is.“19

Analog zu der Rede von Verantwortlichkeit gebraucht Strawson auch bei der Rede von Selbstbestimmung das Attribut „true“, um deutlich zu machen, dass es sich um die von ihm als üblich betrachtete, starke Konzeption von Selbstbestimmung handelt. Diese Art von Selbstbestimmung, die dem Verständnis radikaler Selbstbestimmung entspricht, scheint offensichtlich unmöglich zu sein. Tatsächlich hält Strawson radikale Selbstbestimmung weder unter deterministischen noch unter indeterministischen Voraussetzungen für realisierbar. Strawson legt jedoch Wert darauf, dass es ebenfalls offensichtlich zu sein scheint, dass diese Art von Selbstbestimmung notwendig ist, wenn ein Handlungssubjekt wirklich im eigentlichen Sinn verantwortlich für seine Handlungen sein soll und demzufolge frei in der darin enthaltenen, üblichen, starken Bedeutung.20 Das Basisargument richtet sich gegen die Möglichkeit von genau dieser Vorstellung radikaler Selbstbestimmung. Um die Möglichkeiten des Verständnisses von Selbstbestimmung zu vervollständigen, weist Strawson auf folgendes drittes Verständnis hin: 16 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 22. G. Strawson: Freedom and Belief, 22. 18 S. auch Abschnitt 3.2. 19  G. Strawson: Freedom and Belief, 22, Herv. i. O. 20 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 23. 17 

3.1 Das Basisargument gegen letztgültige Verantwortlichkeit

69

„(iii) [O]ne can somehow or other be truly self-determining in one’s decisions or choices, and hence in one’s actions, even if one is not truly responsible for how one is (in respect of character, etc.).“21

Dieses Verständnis von Selbstbestimmung entspricht der Vorstellung eines unabhängigen Selbst, das, wie die Vorstellung radikaler Selbstbestimmung, inkompatibilistische Intuitionen ernst nimmt. Dieses dritte Verständnis wird in den Abschnitten 3.3.3 und 3.4 ausführlich beschrieben werden. Die Möglichkeit dieses Verständnisses von Selbstbestimmung wird von Strawson schließlich ebenso zurückgewiesen wie die Möglichkeit des zweiten Verständnisses von Selbstbestimmung, das Verständnis der radikalen Selbstbestimmung. Zugleich wecken die üblichen inkompatibilistischen Intuitionen Strawson zufolge jedoch präzise dieses dritte Verständnis von Selbstbestimmung, das in Abschnitt 3.4. als Ausgangspunkt zu Strawsons grundsätzlicher Deutung der Freiheitsproblematik erkennbar wird. Die von Strawson ursprünglich formulierte, ausführliche Version des Basis­ arguments in „Freedom and Belief “ lautet folgendermaßen [2]: 1) Bezüglich freier Handlungen sind besonders jene freien Handlungen von Interesse, die aus einem Grund geschehen (im Gegensatz zu Reflexhandlungen oder unüberlegten, gewohnheitsmäßigen Handlungen). 2) Wenn jemand aus einem Grund handelt, ist das, was er tut, eine Ableitung dessen, wie er in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht beschaffen ist. 3) Daher gilt: Wenn jemand im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich sein soll, wie er handelt, muss er im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich sein, wie er in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht beschaffen ist, zumindest hinsichtlich der Aspekte, die für die bestimmte Handlung entscheidend sind. 4) Um jedoch im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich zu sein, wie man in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht beschaffen ist, zumindest hinsichtlich der entscheidenden Aspekte, muss man hervorgebracht haben, wie man in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht beschaffen ist, zumindest hinsichtlich der entscheidenden Aspekte. Und es reicht dabei nicht aus, dass man irgendwie verursacht hat, wie man in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht beschaffen ist, sondern man muss sich bewusst und ausdrücklich dafür entschieden haben, wie man in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht beschaffen ist, zumindest in den entscheidenden Aspekten, und muss dabei die Entscheidung auch erfolgreich ausgeführt haben. 5) Jedoch ist es nicht möglich, sich bewusst und vernünftig dafür zu entscheiden, überhaupt in irgendeinem Aspekt so in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht beschaffen zu sein, wie man beschaffen ist, bevor man bereits in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht existiert, bereits mit einigen 21 

G. Strawson: Freedom and Belief, 23.

70

3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Prinzipien der Entscheidung ausgestattet ist (P1) – Vorlieben, Werten, Einstellungen, Idealen – in deren Licht man entscheidet, wie man beschaffen ist. 6) Dann gilt jedoch: Um im eigentlichen Sinn verantwortlich zu sein aufgrund dessen, dass man sich entschieden hat, in persönlicher bzw. charakterlicher Hinsicht so zu sein, wie man ist, zumindest in den entscheidenden Aspekten, muss man im eigentlichen Sinn verantwortlich dafür sein, diejenigen für die Entscheidung relevanten Prinzipien P1 zu haben, in deren Licht man entscheidet, wie man beschaffen ist. 7) Dafür aber muss man so beschaffen sein, dass man sich für P1 entscheiden kann in vernünftiger, bewusster und absichtsvoller Weise. 8) Dafür wiederum, um so (7) beschaffen zu sein, muss man bereits einige Prinzipien P2 hinsichtlich der Entscheidung besitzen, in deren Licht man sich für die Prinzipien P1 entscheidet. 9) Und so fort. An dieser Stelle sind wir Strawson zufolge einem Regress ausgesetzt, der nicht zu beenden ist. Selbstbestimmung im eigentlichen Sinn („true self-determination“) ist unmöglich, weil sie die effektive Beendigung einer unendlichen Reihe von Entscheidungen über die Prinzipien von Entscheidungen erfordert. Das heißt, die unendliche Reihe müsste einen Anfang und ein Ende besitzen, was nicht möglich ist. 10) Schließlich folgt, dass (moralische) Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn unmöglich ist, weil sie Selbstbestimmung im eigentlichen Sinn erfordert, wie in Schritt (3) bemerkt. 22 Die Behauptung zielt darauf, dass Handlungssubjekte nicht dazu fähig sind, die Art und Weise, wie sie beschaffen sind, grundsätzlich zu verändern – eben sich radikal selbst zu bestimmen. Zwar können sie ihre Art und Weise in gewisser Hinsicht verändern 23, doch die Behauptung zielt auf den Gedanken, dass sich Handlungssubjekte nicht in dem Maß in ihrer Art und Weise verändern können, um dadurch letztgültig (moralisch) verantwortlich sein zu können für die Art und Weise ihrer Beschaffenheit und infolgedessen für ihre Handlungen. 24 Strawson erkennt selbst die komplexe Form dieser ursprünglichen, ausführlichen Version des Basisarguments und gibt etwa mit folgender Version eine natürlichere, womöglich eingängigere Form wieder [3]: 1) Man tut, was man tut, weil man ist, wie man ist. 25 22 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 24 f. und G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 319 f. 23  Strawson beobachtet hierbei, dass Nordamerikaner dazu tendieren, es mit dieser Überzeugung zu übertreiben und Europäer dazu tendieren, sie vielleicht zu unterschätzen. Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 320. 24 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 320. 25  Varianten dieser These lauten: „Man tut, was man tut, in jeder Situation, in welcher

3.1 Das Basisargument gegen letztgültige Verantwortlichkeit

71

Deshalb gilt: 2) Um im eigentlichen Sinn für das verantwortlich zu sein, was man tut, muss man im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich sein, wie man ist – zumindest hinsichtlich gewisser wesentlicher Aspekte. Aber: 3) Man kann nicht im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich sein, wie man ist, deshalb kann man nicht im eigentlichen Sinn für das verantwortlich sein, was man tut. Warum kann man nicht dafür verantwortlich sein, wie man ist? 4) Um im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich zu sein, wie man ist, muss man absichtsvoll hervorgebracht haben, dass man ist, wie man ist, und dies ist unmöglich. Warum ist dies unmöglich? – Angenommen, es ist nicht unmöglich: 5) Angenommen, man hat irgendwie absichtlich hervorgebracht, dass man ist, wie man jetzt ist, und dass man dies so hervorgebracht hat, dass man jetzt als im eigentlichen Sinn verantwortlich dafür bezeichnet werden kann, wie man jetzt ist. Damit dies wahr ist, muss gelten: 6) Man muss bereits eine gewisse Natur N besessen haben, in deren Licht man absichtsvoll hervorgebracht hat, dass man ist, wie man jetzt ist. Dann aber gilt: 7) Damit es wahr ist, dass man selbst – und wirklich allein man selbst – im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich ist, wie man jetzt ist, muss man im eigentlichen Sinn dafür verantwortlich sein, die Natur N besessen zu haben, in deren Licht man absichtsvoll hervorgebracht hat, dass man ist, wie man jetzt ist. Dann folgt: 8) Man muss absichtlich hervorgebracht haben, dass man die Natur N hatte. In diesem Fall muss man bereits mit einer vorangegangenen Natur M existiert haben, in deren Licht man absichtlich hervorgebracht hat, die Natur N zu haben, in deren Licht wiederum man absichtsvoll hervorgebracht hat, dass man so ist, wie man jetzt ist, etc. 26 man sich vorfindet, aufgrund der Art und Weise, wie man beschaffen ist“ bzw. „Was man absichtsvoll tut, unter Voraussetzung der Umstände, in welchen man sich befindet bzw. glaubt, sich zu befinden, folgt notwendig aus der Art und Weise, wie man beschaffen ist“. Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 324 f. 26  Vgl. zu dieser Version G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 325 f. und G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 149–151 sowie G. Strawson: Art. „Free Will“, in: Routledge Encyclopedia of Philosophy, 746 f., The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, 289, Die Kleine Routledge Enzyklopädie der Philosophie, 500 f.

72

3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Hier wiederum setzt der infinite Regress ein. Denn die Natur M würde eine Natur L voraussetzen usw. Nichts ist in der Lage, in der erforderlichen Weise causa sui zu sein. Selbst wenn kausale „Aseität“ als Gott zugehörig – wenn auch in unverständlicher Weise – anerkannt wird, kann Strawson zufolge nicht als plausibel angenommen werden, dass gewöhnliche, endliche, menschliche Wesen sie besitzen. 27 Strawson gibt Friedrich Nietzsche wieder, der den Gedanken der causa sui prinzipiell und eindrücklich zurückweist: „Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logische Nothzucht und Unnatur: aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach ‚Freiheit des Willens‘, in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortung für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen’schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in’s Dasein zu ziehn.“28

Die Einschränkung der Forderung der Verantwortlichkeit auf entscheidende Aspekte – „zumindest hinsichtlich gewisser wesentlicher Aspekte“ in These (2) dieser dritten Version – betrachtet Strawson als selbstverständlich. Offensichtlich ist man nicht verantwortlich für sein Geschlecht, seine grundlegende Körperfigur, seine Körpergröße und so fort. Doch wenn man für gar nichts verantwortlich wäre hinsichtlich seiner selbst, so fragt Strawson, wie könnte man dann verantwortlich sein für das, was man tut, vorausgesetzt These (1) ist gültig? Strawson hält dies für die grundlegende Frage und es erscheint ihm klar, dass, wenn man für irgendeinen Aspekt des Selbst verantwortlich sein soll, dann hinsichtlich der für die entsprechenden freien Handlungen entscheidenden wesentlichen, wohl persönlichen und charakterlichen Aspekte. 29 Bezüglich dieser dritten Variante des Basisarguments hält Strawson These (1) im Grunde für unangreifbar – These (2) hingegen kann Strawson zufolge zugegebenermaßen bestritten werden.30 Für diese Untersuchung wurde dies bereits durch das vorangegangene Kapitel deutlich. Frankfurt eben teilt These (2) nicht, sondern knüpft Verantwortlichkeit an „wholeheartedness“ – den von ihm vertretenen Sinn von Identifikation von Handlungssubjekt und Handlung bzw. Entscheidung.31 Die Infragestellung von These (2) zeigt sich durch zwei unter27 Vgl.

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 326. F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. V, München, Berlin, New York 1988, 35. Bei Strawson zitiert: G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 326; ebenfalls in: G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 444; G. Strawson: „Free Agents“, 360. 29 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 325. 30 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 325. 31 S. o. Abschnitt 2.3. 28 

3.2 Die Bedeutung des Basisarguments für die Freiheitsproblematik

73

schiedliche Einwände gegen die Relevanz der radikalen Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis in den folgenden Abschnitten 3.3.1 und 3.3.3. Zunächst gilt es jedoch im folgenden Abschnitt 3.2 Strawsons Einschätzung der Bedeutung des Basisarguments für die Freiheitsproblematik in den Blick zu nehmen.

3.2 Die Bedeutung des Basisarguments für die Freiheitsproblematik Welche Bedeutung misst Strawson dem Basisargument im Hinblick auf die Freiheitsproblematik zu? Zum einen zeigt es die Unmöglichkeit letztgültiger Verantwortlichkeit und radikaler Selbstbestimmung und zum anderen setzt es voraus, dass letztgültige Verantwortlichkeit und radikale Selbstbestimmung Relevanz für die Freiheitsproblematik besitzen. Beide Aspekte sollen in diesem Abschnitt einführend beleuchtet werden, bevor der folgende Abschnitt 3.3 sich mit konkreten Einwänden gegen die Relevanz (Abschnitte 3.3.1 und 3.3.3) und gegen die Unmöglichkeit (Abschnitt 3.3.2) sowie mit Strawsons Erwiderungen dieser Einwände auseinandersetzt. Was das Basisargument ausdrückt, ist Strawson zufolge eindeutig und keineswegs neu, und doch wird es in der gegenwärtigen Debatte um Willensfreiheit seiner Ansicht nach unterbewertet. Dabei sollte es nach Strawson erstrebenswertes Ziel sein, dem Argument die sachlich angemessene Aufmerksamkeit zuzuerkennen.32 Strawson beschreibt zwei Grundreaktionen, die ihm hinsichtlich des Basis­ arguments oft begegnen. Zum einen überzeugt es beinahe alle Studierenden, mit denen er die Thematik der Willensfreiheit und Verantwortlichkeit diskutiert, während es zum anderen in der gegenwärtigen philosophischen Debatte um Willensfreiheit und Verantwortlichkeit oft abgewiesen wird als falsch, irrelevant, einfältig, zu schnell geschlussfolgert oder als Ausdruck metaphysischen Größenwahns.33 Strawson hält das Argument für zweifelsfrei geeignet, zu zeigen, dass Handlungssubjekte nicht (moralisch) verantwortlich sein können in einer Weise, die viele annehmen.34 Welche Einschätzung bezüglich der Frage, ob Handlungssubjekte frei entscheiden und handeln können, getroffen wird, hängt Strawson zufolge verständlicherweise von der Bedeutung des Begriffs „frei“ ab. Strawson erhebt den Anspruch, den Begriff in der üblichen, starken, den inkompatibilistischen 32 Vgl. 33  Vgl.

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 319. etwa J. M. Fischer: Deep Control. Essays on Free Will and Value, Oxford 2012,

34 Vgl.

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 321.

171.

74

3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Intuitionen folgenden Bedeutung des Wortes zu gebrauchen, nach der ein freies Handlungssubjekt dazu fähig ist, im eigentlichen Sinn oder letztgültig verantwortlich („truly or ultimately responsible“) für seine Handlungen zu sein.35 Die Vorstellung, dass Menschen im eigentlichen Sinn oder letztgültig für ihre eigenen Handlungen verantwortlich, dass sie Schöpfer oder Urheber ihrer Handlungen in der Weise sein können, dass sie verantwortlich oder zurechenbar für sie sein können in der stärkstmöglichen Bedeutung, stellt nach Strawson eine vertraute Vorstellung dar und sie scheint Nicht-Philosophinnen und Nicht-Philosophen vollkommen klar zu sein. Philosophinnen und Philosophen hingegen könnten eine berechtigte Frage stellen: Was bedeutet es, für die eigenen Handlungen in dieser Weise verantwortlich zu sein?36 Um diese Frage kurz zu beantworten, hält Strawson fest: „[S]o far as moral agents are concerned (and we naturally take ourselves to be moral agents), to be capable of being truly or ultimately responsible for one’s actions is to be ­capable of being truly and ultimately deserving of praise and blame for them.“37

Strawson hält die Vorstellung von Verdienst, die Vorstellung, dass Menschen im eigentlichen Sinn und letztgültig Lob und Tadel für ihre Handlungen verdienen können, ebenfalls für eine vertraute Vorstellung. Philosophinnen und Philosophen werden jedoch vielleicht eine weitere Frage stellen wollen: Was bedeutet es, im eigentlichen Sinn und letztgültig dazu fähig zu sein, Lob und Tadel für die eigenen Handlungen zu verdienen?38 Strawson erwägt als beste Antwort an diesem kritischen Punkt, die Definitionskette, in der Freiheit mit letztgültiger Verantwortlichkeit und letztgültige Verantwortlichkeit mit Verdienst erklärt wird, in einen fest geschlossenen Zirkel zu überführen: Wenn ein Handlungssubjekt ein moralisches Handlungssubjekt ist, dann ist es dann und nur dann fähig, im eigentlichen, letztgültigen Sinn Lob und Tadel für seine Entscheidungen und Handlungen zu verdienen, wenn es zu freier Entscheidung und Handlung fähig ist. Nun ist Freiheit definiert durch letztgültige Verantwortlichkeit, letztgültige Verantwortlichkeit durch Verdienst und Verdienst durch Freiheit.39 Dieser Zirkel dient Strawson, um zu zeigen, was ihm entscheidend erscheint: Die Begriffe „Verantwortlichkeit“, „Verdienst“ und „Freiheit“ sind, was die übliche, starke Bedeutung des Wortes „Freiheit“ betrifft, genau in dieser Weise aufeinander bezogen. Dieses Definitionsgefüge dient dazu, in einem ersten An-

35 

G. Strawson: Freedom and Belief, 1. G. Strawson: Freedom and Belief, 1. 37  G. Strawson: Freedom and Belief, 1. 38 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 1. 39 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 1. 36 Vgl.

3.2 Die Bedeutung des Basisarguments für die Freiheitsproblematik

75

lauf deutlich zu machen, welche Vorstellung von Entscheidungs- und Handlungsfreiheit für Strawson zur Debatte steht.40 Manche Philosophinnen und Philosophen mögen Strawsons Einschätzung nach jedoch weiterhin darauf beharren, dass sie immer noch nicht richtig verstehen, welche Art von Freiheit hier gemeint ist. Strawson kann sich hier unter Umständen vorstellen, dass diese Kritikerinnen und Kritiker schließlich aus taktischen Gründen unaufrichtig sind, da die zur Debatte stehende inkompatibilistisch gedeutete Freiheit Strawsons Einschätzung nach eine Sache ist, die, real oder eingebildet, nahezu alle erwachsenen menschlichen Wesen, wenigstens der westlichen Welt und nicht ausschließlich dort, zu besitzen glauben. Zu behaupten, dass man hier nicht verstehe, was gemeint sei, kommt Strawson zufolge der Behauptung gleich, das grundlegendste Verständnis der Gesellschaft, in der man lebt, zu entbehren – und solch eine Behauptung erscheint Strawson nicht glaubwürdig.41 Strawson hält die Begriffe „frei“ und „letztgültig verantwortlich“ letztlich für austauschbar: „Questions about what freedom is, and about whether or not we are or could be free, will be understood to be questions about what true responsibility is, or might be, and about whether we are or could be truly responsible or truly deserving of praise and blame.“42

Die Gleichsetzung von „frei“ und „im eigentlichen Sinn bzw. letztgültig verantwortlich“ ist keineswegs selbstverständlich, da Strawson zufolge oft behauptet wird, dass, obwohl wir frei sind, wir nicht wirklich im eigentlichen Sinn verantwortlich für unsere Handlungen sind. Vertreterinnen und Vertreter dieser Position weisen Strawsons Gleichsetzung zurück. Sie schlagen vor, eine grundsätzliche Korrektur an der von Strawson als üblich und zentral beurteilten Bedeutung des Wortes „frei“ vorzunehmen. Diese schwache Bedeutung von „frei“ erscheint Strawson jedoch nicht das wesentliche Verständnis von Freiheit darzustellen.43 Es gibt Strawson nach zweifellos viele Bedeutungen des Wortes „frei“. Es ist beispielsweise unstrittig, dass wir in dem Sinn frei sein können, dass wir in der Lage sind, das zu tun, was wir wählen oder wozu wir uns entscheiden. Strawson nennt diese Bedeutung von Freiheit „Basisbedeutung“ („basic sense“44). Aber es wird Strawson zufolge weithin davon ausgegangen, dass, wenn wir allein in dieser Basisbedeutung frei sind, wir dann nicht frei sind in dem Sinn, den Strawson als übliche, starke Bedeutung des Wortes bezeichnet. Denn wir könnten frei sein entsprechend der Basisbedeutung, selbst wenn all unsere Wahlen und Ent40 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 1 f. G. Strawson: Freedom and Belief, 2. 42  G. Strawson: Freedom and Belief, 2. 43 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 2 f. 44  G. Strawson: Freedom and Belief, 3. 41 Vgl.

76

3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

scheidungen in uns vollständig determiniert wären. Freiheit im Sinn der Basisbedeutung reicht Strawson zufolge nicht aus für (moralische) Verantwortlichkeit im eigentlichen, Verdienst rechtfertigenden Sinn.45 Strawson räumt ein, dass Freiheit in diesem eigentlichen, Verdienst rechtfertigenden Sinn vielleicht nicht nur unmöglich ist, sondern nicht einmal vollständig beschrieben werden kann. Womöglich stellt sich die zentrale Pointe derer, die sagen, die Basisbedeutung des Wortes „frei“ sei die zutreffende Bedeutung, ebenso als negative wie als positive Pointe dar. Vielleicht behaupten sie nicht nur einfach, dass die Basisbedeutung alles ist, was Freiheit sein soll, sondern auch alles, was Freiheit sein kann.46 Und möglicherweise, so Strawson, trifft diese letzte Behauptung zu – vielleicht ist Freiheit im Sinn der Basisbedeutung alles, was wir uns in Bezug auf Freiheit wünschen können, wenn wir einen klaren Durchblick besitzen. Vielleicht ist dies auch alles, was wir uns wünschen sollten, weil es alles ist, was wir haben können.47 Freilich steht diese Sicht Strawsons eigener Sicht deutlich entgegen. Die übliche Bedeutung von Freiheit sollte nicht relativiert werden: „Coherent or not, it is our ordinary conception of freedom that is at present in question“48. Werden inkompatibilistische Intuitionen ernst genommen und das starke Freiheitsverständnis anstatt der Basisbedeutung von Freiheit als übliches Verständnis erkannt, so erscheint in Reflexion über dieses Freiheitsverständnis das Basisargument in seiner Bedeutung virulent. Ungeachtet der Kritikerinnen und Kritiker, die das Basisargument für nicht besonders bedeutsam und nicht besonders zentral für die Willensfreiheitsdebatte halten, stellt die Beschäftigung mit dem Basisargument Strawson zufolge einen äußerst natürlichen Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der Freiheitsproblematik dar. Zumindest sollte das Basisargument in der Debatte, sofern sie umfassend geführt sein will, an irgendeiner Stelle vorkommen – mag das Argument vielleicht auch noch so banal erscheinen. Nach Strawson spielte für die westliche Religion, Moral und Kultur das Verständnis absoluter mo45 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 3. zitiert David Hume: „By liberty, then, we can only mean […]“ (D. Hume: An Enquiry concerning Human Understanding (1743), in: D. Hume: Enquiries concerning Human Understanding and concerning the Principles of Morals, edited with introduction, comparative table of contents, and analytical index by L. A. Selby-Bigge, with text revised and notes by P. H. Nidditch, 3. Auflage, Oxford 1975, 95, Herv. G. S.). Er stellt Hume als Beispiel eines Vertreters der Basisbedeutung dar – „such freedom is sometimes called ‚liberty of spontaneity‘ and suggests that this is all we could possibly (or properly) mean by the word“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 3, Anm. 3). Vgl. in deutscher Übersetzung: D. Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übersetzt von R. Richter, eingeleitet und hg. von J. Kulenkampff, Hamburg 1984, 113. 47 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 3. 48  G. Strawson: Freedom and Belief, 3. S. zu Strawsons Erklärung, warum die Inkohärenz der Vorstellung letztgültiger Verantwortlichkeit keine Rolle spielt hinsichtlich ihrer Relevanz, Abschnitt 3.3.1. 46  Strawson

3.2 Die Bedeutung des Basisarguments für die Freiheitsproblematik

77

ralischer Verantwortlichkeit eine zentrale Rolle, selbst wenn dies gegenwärtig geringfügig nachlassen sollte, was nach Strawson jedoch erst noch zur Debatte steht. Letztgültige moralische Verantwortlichkeit kann Strawson zufolge mit gutem Grund gar als Hauptmotor für die Dynamik der Freiheitsproblematik verstanden werden:49 „It is a matter of historical fact that concern about moral responsibility has been the main motor – indeed the ratio essendi – of discussion of the issue of free will. The only way in which one might hope to show (1) that the Basic Argument was not central to the free will debate would be to show (2) that the issue of moral responsibility was not central to the free will debate. There are, obviously, ways of taking the word ‚free‘ in which (2) can be maintained. But (2) is clearly false none the less.“50

Strawson beurteilt den unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs „frei“ anhand eines Maßstabs, der letztgültige moralische Verantwortung als den zentralen Gegenstand der Debatte betrachtet: „Are human beings ever really – without qualification – responsible for their actions? Are they ever really morally (and not just causally) responsible for their actions? Are they ever ultimately responsible for their actions? Are they ever ultimately morally responsible for them? Are they ever responsible for their actions in such a way that they are, without any sort of qualification, morally deserving of praise or blame or punishment or reward for them? This question, with its various strengths, is the only really troublesome question when it comes to the problem of free will.“51

Mit der These, dass die Vorstellung moralischer Verantwortung, wie sie durch das Basisargument als unmöglich erkannt wird, eine zentrale Rolle für die westliche Tradition spielt, will Strawson nicht darauf hinaus, dass sie ein künstliches und regionales Konstrukt der jüdisch-christlich-kantischen Tradition darstellt. Er behauptet nicht, dass die Vorstellung von tiefer Verantwortlichkeit nirgendwo sonst in der Menschheitsgeschichte anzutreffen ist, obwohl dies die Thematik Strawson zufolge kaum in ihrer Bedeutung mindern würde. Letztgültige Verantwortlichkeit, zumeist und am deutlichsten erkennbar in moralischen Kontexten, besitzt nach Strawson eine entscheidende Bedeutung für das grundlegende menschliche Selbstverständnis.52 Strawsons vielfältige und breit angelegte Argumentationslinien zur Verteidigung der Relevanz dieses Verständnisses von Verantwortlichkeit und damit auch des Basisarguments und der Freiheitsvorstellung im Sinn radikaler Selbstbestimmung zeigen sich entsprechend breit angelegt in den folgenden Abschnitten 3.3.1, 3.3.3 sowie 3.4. 49 Vgl.

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 321. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 321. 51  G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 441, vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 269. 52 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 321. 50 

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Bildet die Vorstellung von Verantwortlichkeit Strawson zufolge die ratio essendi der Freiheitsproblematik und prägt sie damit auch das übliche Freiheitsverständnis – nämlich jenes Freiheitsverständnis, das die notwendige Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit anerkennt – so hängt Strawsons These von der Unmöglichkeit dieser Freiheit an der Validität des Basisarguments. Wie dieses Argument zeigt, können wir keine freien Handlungssubjekte in diesem Sinn sein, das heißt Freiheit in diesem starken Sinn ist unmöglich. Dies ist deshalb so, weil wir keine Handlungssubjekte causa sui sein können bzw. weil wir nicht die Fähigkeit radikaler Selbstbestimmung besitzen. Dies gilt nach Strawson zum einen, wenn der Determinismus zutrifft und wir und unsere Handlungen letztgültig ganz bestimmt sind von Ursachen, die unserer persönlichen Existenz vorausgehen. Und dies gilt nach Strawson zum anderen ebenso, wenn der Determinismus nicht zutrifft und es letztlich, vollständig oder teilweise, eine Sache des Glücks oder des Zufalls ist, dass unsere Charaktereigenschaften und unsere Handlungen so sind, wie sie sind.53 „Neither of two options, determined and random, seems able to give us or allow us what we want. But together they exhaust the field of options.“54

Strawson notiert, dass eine Handlung das Ergebnis einer komplexen Ursache sein kann, deren Komponenten zum Teil Ursachen haben können, die unendlich weit zurückverfolgt werden können, während andere Komponenten entweder selbst wirklich indeterminierte Ereignisse darstellen oder auf indeterminierte Ereignisse kausal zurückgeführt werden können. Es scheint seiner Ansicht nach jedoch klar zu sein, dass eine Mischung determinierter und indeterminierter früherer Vorgänge nicht dazu beitragen kann, eine freie Handlung hervorzubringen, wie auch immer sich das Verhältnis der Mischung darstellen mag.55 Strawsons Beschreibung der denkbaren Versuche, Freiheit im Sinn letztgültiger Verantwortung und der dafür erforderlichen radikalen Selbstbestimmung zu begründen und damit die Validität des Basisarguments zurückzuweisen, wird ausführlich in Abschnitt 3.3.2 thematisiert. Es zeigt sich bislang, dass Galen Strawson mit Harry Frankfurts Haltung hinsichtlich der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung übereinstimmt. Eine klare Differenz ist jedoch erkennbar hinsichtlich der Beurteilung der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik. Frankfurt erkennt diese Relevanz in keiner Weise gegeben, während Strawson sie als für die Freiheitsproblematik zentrale Frage versteht. Diese Übereinstimmung auf der einen 53 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 21. G. Strawson: Freedom and Belief, 21, Herv. i. O. 55 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 21 f. 54 

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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und Differenz auf der anderen Seite wird in den folgenden Abschnitten noch deutlicher und umfassender dargestellt. Denn ungeachtet der ersten Plausibilisierungen der Relevanz des Basisarguments und ungeachtet seiner prima facie Validität, die gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung spricht, bleibt eine Reihe von Einwänden, die Strawson in verschiedenen Beiträgen thematisiert und erwidert hat und die es im folgenden Abschnitt 3.3 zu betrachten gilt.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen In „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“ beschreibt Strawson prinzipiell drei mögliche Einwände gegen das Basisargument.56 Entsprechend dieser drei als Selbsteinwände formulierten Einwände und ihrer Erwiderungen durch Strawson gliedert sich der vorliegende Abschnitt.57 Der erste, im ersten Unterabschnitt 3.3.1 thematisierte Einwand steht im Zusammenhang mit dem im Basisargument vorausgesetzten Verständnis von Verantwortlichkeit. Die nähere Bestimmung von Verantwortlichkeit („responsibility“) durch „ultimate“ oder „truly“ macht deutlich, dass das Verständnis von Verantwortlichkeit – gemeint im Sinn des Verständnisses von Zurechenbarkeit einer Handlung zum zugehörigen Handlungssubjekt – kein unstrittiges Verständnis darstellt. Die Übersetzung von „ultimate“ durch „letztgültig“ und von „truly“ durch „im eigentlichen Sinn“ scheint dem am nächsten zu kommen, was Strawson hinsichtlich seines Verständnisses ausdrücken will. Der Einwand richtet sich gegen die Plausibilität dieses Verständnisses und stellt diesem Verständnis eine grundsätzliche Alternative gegenüber. Als entscheidende Frage zeigt sich die Frage danach, was eine notwendige Bedingung dafür darstellt, einem Handlungssubjekt seine Handlung zurechnen zu können. Der Einwand stellt Strawsons Prämisse infrage, die besagt, dass Verantwortung für Handlungen und Entscheidungen auch Verantwortung für die eigene persönliche und charakterliche Beschaffenheit voraussetzt.58 Strawson zufolge steht hinter diesem Einwand in der Regel ein kompatibilistisches Freiheitsverständnis, das heißt eine Theorie von Freiheit, die für die Vereinbarkeit von Freiheit und Determi56 Vgl.

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 327. drei Selbsteinwände lassen sich auch konkreten Einwänden zuordnen, die ausdrücklich gegen Strawsons Theorie erhoben wurden. Bezüglich des ersten Einwands ist etwa zu denken an: J. M. Fischer: Deep Control, 166–173; bezüglich des zweiten Einwands an: R. Kane: The Significance of Free Will, Oxford 1996, 181–183; bezüglich des dritten Einwands an: T. O’Connor: „Agent Causation“, in: G. Watson (Hg.): Free Will, 257–284, hier: 274–276. 58  Für die Betrachtung der dargestellten Versionen des Basisarguments in Abschnitt 3.1 gilt entsprechend: Die Kritik richtet sich in der ersten und dritten Version gegen These (2), in der zweiten Version gegen These (3). 57  Die

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

nismus argumentiert. Die oben dargestellte Freiheitstheorie Frankfurts gilt für Strawson als Beispiel – wie gesehen knüpft Frankfurt Verantwortlichkeit an eine mit dem Determinismus vereinbare Identifikation von Handlungssubjekt und Handlung im Sinn der „wholeheartedness“ und weist die darüber hinaus reichende Forderung nach Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung als irrelevant zurück. Im ersten Unterabschnitt wird ebenfalls Strawsons Erwiderung gegen diesen Einwand der Irrelevanz radikaler Selbstbestimmung deutlich, die auf seinem Verständnis von Verantwortlichkeit im Sinn von „ultimate“ bzw. „true responsibility“ aufbaut. Strawson weist Frankfurts Verständnis von Verantwortlichkeit damit auch explizit zurück und argumentiert für ein stärkeres Verständnis von Verantwortlichkeit, das ein Freiheitsverständnis voraussetzt, das die notwendige Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit anerkennt. Dabei führt Strawson seine Kritik als Kritik gegen den Kompatibilismus an sich aus, da er Kompatibilismus grundsätzlich mit jenem Kompatibilismus Frankfurts gleichsetzt.59 Vertreterinnen und Vertreter des zweiten Einwands akzeptieren im Gegensatz zu Vertreterinnen und Vertretern des ersten Einwands die Prämisse, die besagt, dass Verantwortlichkeit für Handlungen und Entscheidungen auch Verantwortung für die eigene persönliche und charakterliche Beschaffenheit voraussetzt. Doch sie akzeptieren nicht den Schluss des Basisarguments, dass es keine letztgültige Verantwortlichkeit und keine radikale Selbstbestimmung gibt. Stattdessen versuchen sie durch Einführung weiterer Prämissen dafür zu argumentieren, dass der Determinismus falsch ist, um durch Inanspruchnahme von Indeterminismus Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung, das heißt Freiheit in dem starken Sinn, der für letztgültige Verantwortlichkeit entscheidend ist, zu ermöglichen. Die Vertreterinnen und Vertreter dieses Einwands teilen Strawsons Ansicht über die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen und über die Relevanz radikaler Selbstbestimmung. Doch sie teilen Strawsons These nicht, dass Freiheit und Indeterminismus unvereinbar sind. Damit vertreten sie eine so genannte libertarische Position – das heißt eine inkompatibilistische Position, die von der Möglichkeit von Freiheit ausgeht. Der zweite Unterabschnitt 3.3.2 stellt Strawsons Erwägungen der Aussichten libertarischer Freiheitstheorien dar. Dabei erwidert Strawson Versuche, die durch das Basisargument vertretene These der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung zurückzuweisen und Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung zu begründen. Strawson lehnt die Aussichten libertarischer Freiheitstheorien ausnahmslos ab, da es, so Strawson, aus prinzipiellen Gründen keiner libertarischen Freiheitstheorie gelingen kann, plausibel zu machen, wie indeterministische Prozesse einen hilfreichen Beitrag zur Generierung von Freiheit leisten können. 59  In Kapitel 7 dieser Gesamtuntersuchung wird ein Verständnis des Kompatibilismus vorgestellt, das von dieser Kritik Strawsons nicht betroffen ist.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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Vertreterinnen und Vertreter des dritten Einwands (Unterabschnitt 3.3.3) halten radikale Selbstbestimmung analog zu Vertreterinnen und Vertretern des ersten Einwands sowohl für unmöglich als auch hinsichtlich der Freiheitsproblematik für irrelevant. Jedoch unterscheiden sie sich von Vertreterinnen und Vertretern des ersten Einwands dadurch, dass sie ein kompatibilistisches Verständnis von Freiheit und Verantwortlichkeit für zu schwach befinden und inkompatibilistischen Intuitionen Relevanz zuerkennen. Sie postulieren ein Selbst als eigene Entität, das unabhängig von der persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit des Handlungssubjekts frei entscheiden kann.60 So stehen die Vertreterinnen und Vertreter des dritten Einwands hinsichtlich des angemessenen Verständnisses von Freiheit und Verantwortlichkeit den Vertreterinnen und Vertretern des zweiten Einwands nahe. Die Vertreterinnen und Vertreter des dritten Einwands versuchen sich gewissermaßen bescheidener als die Vertreterinnen und Vertreter des zweiten Einwands zu geben, da sie letztgültige Verantwortlichkeit eines Handlungssubjekts für seine aktuellen Entscheidungen und Handlungen zu begründen versuchen, ohne dafür zu fordern, dass ein Handlungssubjekt für seine persönliche und charakterliche Beschaffenheit verantwortlich sein muss. Strawson sieht diese Strategie eines autonomen Selbst jedoch ebenso scheitern wie die libertarische Strategie der zweiten Reaktion. Die Theorie des unabhängigen Selbst erweist sich für Strawson jedoch in einer anderen Weise aufschlussreich. Über die kognitive Phänomenologie des Selbst gelangt Strawson zu grundsätzlichen Einsichten zur Freiheitsproblematik, die dazu führen, sowohl kompatibilistische Intuitionen als auch inkompatibilistische Intuitionen zu begründen und in ihrer Relevanz deutlich werden zu lassen. In dieser Weise knüpft Abschnitt 3.4 an Abschnitt 3.3.3 an.

3.3.1 Der kompatibilistische Einwand und seine Erwiderung Das Basisargument zeigt, dass ein Handlungssubjekt sich hinsichtlich seiner persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit nicht so bestimmen kann, dass es im eigentlichen Sinn und letztgültig für seine Beschaffenheit verantwortlich ist und demzufolge für seine durch seine persönliche und charakterliche Beschaffenheit bedingten Entscheidungen und Handlungen. Denn die persönliche und charakterliche Beschaffenheit ist ihrerseits durch der Existenz des Handlungssubjekts vorausgegangene Gründe und Ursachen vollständig bestimmt. Notwendig wäre ein den Regress sich aufeinander beziehender Gründe

60  Damit argumentieren Vertreterinnen und Vertreter des dritten Einwands und Vertreterinnen und Vertreter des ersten Einwands gemeinsam gegen These (2) der in Abschnitt 3.1 dargestellten ersten und dritten Variante des Basisarguments bzw. gegen These (3) der dargestellten zweiten Variante.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

und Ursachen aufhebender Akt radikaler Selbstbestimmung, den das Basisargument als unmöglich zurückweist.61 Strawson zufolge reagieren kompatibilistische Strategien auf diese Annahme der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung oft durch eine Relativierung ihrer Bedeutung: „They [sc. the compatibilists] agree that true responsibility and true self-determination are impossible if determinism is true. That is why they standardly attempt to define freedom in such a way that it does not involve true responsibility (or true self-determination): for they want to reach the conclusion that we are indeed free.“62

Manche kompatibilistischen Freiheitstheoretikerinnen und Freiheitstheoretiker lassen sich Strawsons Sicht nach von der Vorstellung versuchen, dass allein der Besitz der Fähigkeit, Überlegungen in vollem Selbstbewusstsein anzustellen, eine hinreichende Bedingung für Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn darstellt – Verantwortlichkeit im unüberbietbaren Sinn, ungeachtet der Frage nach deterministischen oder indeterministischen Voraussetzungen und ungeachtet der Frage, ob Selbstbestimmung im eigentlichen Sinn, das heißt im Sinn radikaler Selbstbestimmung möglich ist oder nicht. Strawson erkennt auch andere Vertreterinnen und Vertreter kompatibilistischer Strategien, die versuchen, darüber hinaus zu zeigen, dass ein Handlungssubjekt auch unter deterministischen Voraussetzungen in gewisser Weise für seine Handlungen Verantwortung im eigentlichen Sinn übernehmen kann. In Strawsons Perspektive verfolgt jedoch jede dieser kompatibilistischen Strategien ein falsches Ziel, da nicht Freiheit in der üblichen, starken Bedeutung thematisiert ist.63 Unter die an zweiter Stelle genannten kompatibilistischen Theorien fällt auch Harry Frankfurts Freiheitstheorie, die Strawson in diesem Kontext zurückweist: „Frankfurt’s theory of freedom, as expounded in ‚Freedom of the Will and the Concept of a Person‘ and ‚Three Concepts of Free Action‘, is (among other things) an interesting attempt to characterize a notion of self-determination which shows it to be compatible with determinism. As an attempt to define a notion of true-responsibility-entailing freedom, however, it is open to fundamental objections.“64

Eine Art kompatibilistische Verantwortlichkeit erfordert nach Strawson nicht, dass das Handlungssubjekt im eigentlichen Sinn für seine Beschaffenheit in irgendeiner Weise verantwortlich sein muss. Kompatibilistische Verantwortlichkeit ist, so Strawsons Darstellung, erschwinglich, „even if the way one is is totally determined by factors entirely outside one’s control“65. Dies ist je61 

Vgl. etwa G. Strawson: Freedom and Belief, 25. G. Strawson: Freedom and Belief, 23. 63 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 23. 64  G. Strawson: Freedom and Belief, 23, Anm. 4. 65  G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 327. 62 

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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doch Strawson zufolge der Grund, warum kompatibilistische Verantwortlichkeit das unterschreitet, was gewöhnlicherweise unter (moralischer) Verantwortlichkeit verstanden wird. Man handelt, wie man handelt, aufgrund der eigenen Beschaffenheit, aber man ist in keiner Weise letztgültig für diese Beschaffenheit verantwortlich. Strawson erwidert den kompatibilistischen Einwand gegen die Relevanz radikaler Selbstbestimmung mit der Frage, wie man unter diesen Voraussetzungen gerechterweise für seine Handlungen bestraft werden kann. Kompatibilisten liefern zunehmend ausgefeilte Darstellungen der Umstände, in welchen Strafe angemessen bzw. an sich gebührend erscheinen kann. Aber Strawson sieht Kompatibilisten in keiner Weise in der Lage, die Bedeutung des Basisarguments zurückzuweisen.66 In „The Bounds of Freedom“ unterscheidet Strawson drei Spielarten der kompatibilistischen Reaktion auf das Basisargument.67 Position (1) gesteht zu, dass eine wichtige Bedeutung der These existiert, dass Menschen nicht für ihre Beschaffenheit letztgültig verantwortlich sein können und tatsächlich folgt daraus eine wichtige Bedeutung der These, dass sie nicht für ihre Handlungen letztgültig verantwortlich sein können. Doch das Attribut „letztgültig“ („ultimate“) wird letztlich nicht gebraucht. Mag letztgültige Verantwortlichkeit auch nicht möglich sein, können Menschen dennoch für ihre Handlungen in anderer, hinreichender Weise verantwortlich sein, sodass ihnen moralisches Lob und moralischer Tadel sowie Strafe und Belohnung zukommen können.68 Position (2) stellt eine spezielle und beliebte Variante der allgemeiner gehaltenen Position (1) dar. Sie urteilt, dass es sich bei vollkommener, in einem letztgültigen Sinn verstandener Verantwortlichkeit für eine Handlung um Verantwortlichkeit in dem Sinn handelt, wie wir gewöhnlicherweise einem Erwachsenen Verantwortlichkeit zugestehen, einem normalen, selbstbewussten, erwachsenen Menschen, der nicht in irgendeiner Weise gezwungen ist, soweit dies die betreffende Handlung angeht. Ein normales, selbstbewusstes, erwachsenes menschliches Wesen zu sein, genügt bereits, um in einem hinreichenden Sinn für Handlungen verantwortlich sein zu können, was auch immer darüber hinaus noch für dieses Wesen notwendig oder nicht notwendig ist. Strawson stellt in zynischer Form folgende Selbstbeschreibung der Vertreterinnen und Vertreter dieser Position dar: Da wir wissen, dass solche normalen, menschlichen Wesen existieren, wissen wir auch, dass Verantwortlichkeit für Handlungen möglich und wirklich ist. Metaphysische Belange brauchen nicht 66 Vgl.

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 327. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 449–451. 68  In entsprechender Weise wendet sich John Martin Fischer gegen Strawson: „We do not have ‚ultimate responsibility,‘ but it would seem much more plausible to suppose […] that such responsibility is not required for genuine, legitimate moral responsibility than to conclude that we are thereby rendered incapable of being held morally responsible“ (J. M. Fischer: Deep Control, 169). 67 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Gegenstand der Erwägung sein. Mögen Philosophinnen und Philosophen zwischen letztgültiger Verantwortlichkeit und nicht letztgültiger Verantwortlichkeit auch unterscheiden. Sie können schwierige Debatten darüber entfachen, ob man letztgültig verantwortlich sein kann für seine Beschaffenheit oder nicht. Sie sollen einfach weiter diskutieren. Verantwortlichkeit für Handlungen ist möglich und wirklich, was auch immer sich Erbsenzähler und Griffelspitzer („scintilla-loving philosophers“)69 ausdenken mögen in Bezug auf einfache Verantwortlichkeit und letztgültige Verantwortlichkeit für die eigene Beschaffenheit. Haben sie letztgültige Verantwortlichkeit für Handlungen so definiert, dass sie weder möglich noch wirklich sein kann? Verantwortlichkeit für Handlungen ist möglich und wirklich trotz alledem.70 Strawson charakterisiert eine dritte Position, die jeden Unterschied zwischen einfacher Verantwortlichkeit und letztgültiger Verantwortlichkeit für eine Handlung zurückweist. Sie macht deutlich, dass all das, was als wirkliche oder volle oder uneingeschränkte Verantwortlichkeit für eine Handlung gelten kann, nichts anderes als letztgültige Verantwortlichkeit für eine Handlung darstellen kann. Das Adjektiv „letztgültig“ fügt inhaltlich nichts hinzu. Verantwortlichkeit für Handlungen existiert ohne Zweifel und Verantwortlichkeit für Handlungen ist daher zugleich letztgültige Verantwortlichkeit für Handlungen. Strawson beschreibt hierzu folgenden Gedanken: Angenommen, es liegt eine klare und unleugbare Einsicht vor, dass menschliche Wesen nicht letztgültig für ihre Beschaffenheit verantwortlich sein können. Dann folgt daraus schlicht nicht, dass sie nicht letztgültig für ihre Handlungen verantwortlich sein können. Denn (einfache) Verantwortlichkeit für Handlungen ist möglich und (einfache) Verantwortlichkeit entspricht letztgültiger Verantwortlichkeit für Handlungen. Jene Vorstellung, dass es eine weitere Art radikaler, letztgültiger Verantwortlichkeit für Handlungen geben könnte, eine Art, die über die Art der Verantwortlichkeit hinausgeht, die von einem normalen, selbstbewussten, erwachsenen menschlichen Wesen unbestritten besessen wird, ist dieser Sicht zufolge Unsinn („moonshine“).71 Strawson beschreibt diese Vorstellung von Verantwortlichkeit als eine kompatibilistische Vorstellung, die sich durch Freiheit, die im Sinn von Freiwilligkeit verstanden wird, hinreichend beschreiben lässt. Kompatibilisten haben ihre Struktur und ihre Varianten Strawsons Urteil zufolge mit großer Raffinesse und Hingabe über viele Jahre hin ausgelegt. So weist Strawson auf einige charakteristische und prominente Beispiele eines solchen kompatibilistischen Verständnisses von Verantwortlichkeit hin72: Thomas Hobbes’ Leviathan, John Lockes Essay Concerning Human Understanding, David Humes An Enquiry concer69 

G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 450. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 450. 71  G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 450. 72 Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 450, Anm. 19. 70 Vgl.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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ning Human Understanding, R. E. Hobarts „Free Will as Involving Determinism and Inconceivable without It“, Moritz Schlicks „Fragen der Ethik“, Harry Frankfurts „Freedom of the Will and the Concept of a Person“, Gary Watsons „Free Agency“ und John Martin Fischers „Responsibility and History“.73 Bezüglich dieser Werke gesteht Strawson, dass er nichts kennt, was er dem hinzufügen könnte, was hier bereits in kompatibilistischer Intention auf scharfsinnige Weise gesagt worden ist. Stattdessen beschreibt er die Aufgabe, die er sich gestellt hat, darin, das in Erinnerung zu rufen, was Kompatibilismus seiner Sicht zufolge nicht bietet und nicht bieten kann.74 Strawson erinnert mit zwei Zitaten von Kant und Anscombe daran, was Kompatibilismus ist, wenn er für mehr gehalten wird als er leisten kann: Ein „elender Behelf“ und eine „Wortklauberei“75 bzw. jede Menge Kauderwelsch („so much gobbledegook“)76. Wie lässt sich nun das Verständnis von Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn erklären, von dem Strawson sagt, es sei zwar unmöglich, aber gleichzeitig in seiner Annahme weithin verbreitet? Strawson gibt zu dieser Frage eine alte Geschichte wieder, die ihm sehr hilfreich erscheint:77 „This is the story of heaven and hell. As I understand it, true moral responsibility is responsibility of such a kind that, if we have it, then it makes sense, at least, to suppose that it could be just to punish some of us with (eternal) torment in hell and reward others with (eternal) bliss in heaven.“78

Die Betonung der Worte „makes sense“ ist für Strawson wichtig, da es nicht notwendig ist, an irgendeine Version der Geschichte von Himmel und Hölle zu glauben, um die Vorstellung von (moralischer) Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn zu verstehen. Auch ist es, so Strawson weiter, nicht notwendig, an irgendeine Version der Geschichte von Himmel und Hölle zu glauben, um von 73  T. Hobbes: Leviathan (1651), Introduction by A. D. Lindsay, London 1959; J. Locke: An Essay concerning Human Understanding (1689), hg. v. P. H. Nidditch, Oxford 1975; D. Hume: An Enquiry concerning Human Understanding; R. E. Hobart: „Free Will as Involving Determinism and Inconceivable without It“, in: Mind 43 (1934), 1–27, ebenfalls erschienen in: B. Berofsky (Hg.): Free Will and Determinism, New York 1966, 63–95; M. Schlick: Fragen der Ethik, Wien 1930; H. Frankfurt: „Freedom of the Will and the Concept of a Person“; G. Watson: „Free Agency“; J. M. Fischer: „Responsibility and History“, in: Midwest Studies in Philosophy 19 (1994), 430–451. 74  Auch hier wird deutlich, dass Strawson Kompatibilismus grundsätzlich mit dem Kompatibilismus, den Frankfurt vertritt, gleichsetzt. Die Frage nach einem Kompatibilismus, der inkompatibilistische Intuitionen ernst nimmt bzw. radikale Selbstbestimmung als relevant anerkennt, stellt Strawson nicht. 75  I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1787), hg. v. K. Vorländer, unveränd. Nachdruck der 9. Aufl. v. 1929, Hamburg 1959, 112 (Originalausgabe: 172). 76  G. E. M. Anscombe: „Causality and Determination“, 146. 77 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 322 f. Vgl. zur Kritik am Kompatibilismus auch: G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 451–454; G. Strawson: Freedom and Belief, 1–4. 78  G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 322.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

der Existenz (moralischer) Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn überzeugt zu sein. Strawson geht im Gegenteil davon aus, dass auch viele Atheisten an die Existenz dieser Verantwortlichkeit glauben. Die Geschichte von Himmel und Hölle hält Strawson deshalb für hilfreich, weil sie in eigentümlich anschaulicher Weise jene Art von absoluter oder letztgültiger Zurechenbarkeit oder Verantwortlichkeit („the kind of absolute or ultimate accountability or respon­ sibility“79) erläutert, die viele sowohl früher als auch heute zu besitzen glauben. Die Geschichte drückt den Wirkungsbereich und die Triebkraft dieser Vorstellung von Verantwortlichkeit Strawson zufolge sehr klar aus.80 In diesem Kontext weist Strawson darauf hin, dass diese Art von Verantwortlichkeit nicht notwendig moralischer Art zu sein hat. Damit wird ein Missverständnis ausgeräumt, das den Blick auf den Kern der Strawsonschen Argumentation für die Relevanz seiner Vorstellung von Verantwortlichkeit verdecken kann. Strawsons Verständnis von Verantwortlichkeit entspricht dem Verständnis von Zurechenbarkeit – die zur Debatte stehende Frage betrifft die Bedingungen, die es möglich erscheinen lassen, Handlungen einem Handlungssubjekt zuzurechnen.81 Es kann nach Strawson beobachtet werden, dass selbstbewusste Handlungssubjekte, die schwierigen, lebensbestimmenden, moralisch neutralen Entscheidungen gegenüberstehen, dennoch eine Vorstellung von letztgültiger Verantwortlichkeit besitzen können, eine Vorstellung von radikaler, absoluter „Zu-mir-Gehörigkeit“ („up-to-me-ness“)82 in ihren Entscheidungen und Handlungen. Diese Vorstellung steht der Vorstellung von letztgültiger Verantwortlichkeit im Kontext moralischer Belange in nichts nach. Die Vorstellung der „Zu-mir-Gehörigkeit“ gewinnt im Kontext moralischer Belange jedoch oft einen besonders anschaulichen Charakter.83 Die Vorstellung von Zurechenbarkeit, die Verdienst oder Strafe in dem mit Himmel und Hölle konnotierten Sinn rechtfertigen kann, beschreibt Strawson auch weniger schillernd: Letztgültige Verantwortlichkeit ist solcher Art, dass sie dann und nur dann existieren kann, wenn Strafe und Belohnung fair oder gerecht sein können, ganz ohne pragmatische Rechtfertigung oder Rechtfertigung, die auf die Vorstellung distributiver Gerechtigkeit rekurriert, in Anspruch zu nehmen.84 Strawson gibt folgendes Beispiel einer alltäglichen Situation wieder, um die Vorstellung dieser Art von Zurechenbarkeit schließlich ohne Rückgriff auf religiöse oder juristische Anschauungsformen zu vermitteln: Angenommen, man 79 

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 322, Herv. i. O. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 322. 81 Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 452. 82  G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 452. 83 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 2; 56. 84 Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 452. 80 Vgl.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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ist abends unterwegs zu einem Geschäft und beabsichtigt, mit dem letzten Fünf-Euro-Schein einen Kuchen zu kaufen. Auf den Stufen hinauf zur Tür des Geschäfts sammelt jemand Spenden für eine Wohltätigkeitsorganisation. Man bleibt nun stehen und es scheint einem vollkommen klar zu sein, dass es ganz und gar an einem selbst liegt, was man als nächstes tut. Das heißt, es kommt einem so vor, als sei man im eigentlichen Sinn radikal frei zu entscheiden – in dem Sinn, dass man auch letztgültig (moralisch) verantwortlich sein wird dafür, wie man sich entscheidet. Selbst wenn man glaubt, dass der Determinismus wahr ist und dass man fünf Minuten später in der Lage sein wird, zurückzublicken und zu sagen, dass, was man tat, determiniert war – dann scheint dies die Vorstellung davon, dass man absolut und unausweichlich frei ist und dass einem die Entscheidung vollkommen zurechenbar ist, nicht zu untergraben. Dasselbe scheint auch zuzutreffen, selbst wenn man die Gültigkeit des Basisarguments anerkennt, das schlussfolgert, dass man in keiner Weise letztgültig verantwortlich sein kann für seine Beschaffenheit und seine Entscheidungen. In beiden Fällen bleibt es wahr, dass demjenigen, der da auf den Stufen hinauf zum Geschäft steht, seine Freiheit und (moralische) Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn offensichtlich und absolut klar erscheint.85 Gewichtig oder unbedeutend, moralisch bedeutsam oder moralisch neutral – solche Situationen der Entscheidung ereignen sich Strawson zufolge regelmäßig im menschlichen Leben.86 Strawson hält sie für den Kern der Erfahrung von Freiheit und (moralischer) Verantwortlichkeit und damit für die fundamentale Quelle unserer Unfähigkeit, den Glauben an radikale oder letztgültige Verantwortlichkeit und damit die Notwendigkeit radikaler Selbstbestimmung aufzugeben. Nach Strawson mag man durchaus fragen, warum Menschen Situationen der Entscheidung so erleben, wie sie sie erleben. Es stellt eine interessante Frage dar, ob ein kognitiv hoch entwickeltes, rationales, selbstbewusstes Handlungssubjekt Situationen der Entscheidung notwendig so erleben muss.87 Jedenfalls stellen diese Situationen nach Strawson den „Fels der Erfahrung“ dar, auf welchem der Glaube an moralische Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinne gegründet ist.88 Könnte dennoch eingewandt werden, dass diese Plausibilisierungen für die Relevanz der Vorstellung von letztgültiger Verantwortlichkeit und der darin in85 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 322 f.; vgl. auch: G. Strawson: Freedom and Belief, vii; G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 455 f.; u. ö. 86  Als Lebensbereiche, in denen dies von besonderer Bedeutung erscheint, beschreibt Strawson auch Dankbarkeit und Liebe. Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 270–272. 87  Strawson verweist hier auf D. M. McKay: „On the Logical Indeterminacy of Free Choice“, in: Mind 69 (1960), 31–40, und auf Freedom and Belief, 246–250; vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 323, Anm. 6. 88  „[T]he experiental rock on which the belief in true moral responsibility is founded“ (G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 323).

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

begriffenen Vorstellung von Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung sinnlos sind, da diese Vorstellung sich rein begrifflich nicht fassen lässt? Wie schon in Abschnitt 3.2 deutlich wurde, akzeptiert Strawson den Einwand der Inkohärenz der Vorstellung, ohne die Schlussfolgerung ihrer Irrelevanz zu akzeptieren. Strawson führt aus, dass möglich sein könnte, dass die Vorstellung letztgültiger Verantwortlichkeit nicht kohärent ist, wobei daraus Strawson zufolge nicht notwendig folgt, dass die Vorstellung unverständlich oder ohne wirklichen Gehalt wäre. Das ist ausgeschlossen, da es sich um eine Vorstellung handelt, die eine zentrale Rolle spielt für das allgemeine moralische Bewusstsein, zumindest in der westlichen Welt, jedoch nicht allein dort. Man mag, so Strawson, den Inhalt dieser Vorstellung mit Rückgriff auf die Vorstellung von Himmel und Hölle oder mit Rückgriff auf juristische Vorstellungen oder mit Rückgriff auf alltägliche Situationen schwieriger Entscheidungen vermitteln – es liegt immer (nur) an einem bereits vorhandenen Zugang zum Verständnis des Inhalts dieser Vorstellung, dass es der Fall sein kann, dass man in der Lage ist, zu sehen, oder dazu gebracht werden kann, zu sehen, dass die Vorstellung nicht kohärent ist. Strawson argumentiert, dass hier dasselbe gilt wie für die Vorstellung eines runden Quadrats. Manche mögen sagen, sie wüssten in der Tat nicht, was der Inhalt dieser Vorstellung ist. Dabei ist der Inhalt leicht zu bestimmen. Ein rundes Quadrat ist eine gleichwinklige, geradlinige, viereckige, geschlossene, zweidimensionale Figur, für die gilt, dass alle Punkte ihres Randes den gleichen Abstand zu einem Punkt innerhalb der Figur besitzen. Da wir den Inhalt der Vorstellung kennen, und nur deshalb, wissen wir, dass es die Figur eines runden Quadrats nicht geben kann. Und Entsprechendes gilt für die Vorstellung letztgültiger Verantwortlichkeit und radikaler Selbstbestimmung. Strawson beklagt, dass Äußerungen oder Konzeptionen, die selbstwidersprüchlich sind, oft als sinnlos erachtet werden. Dabei ist Sinnhaftigkeit nach Strawson eine notwendige Bedingung von Widersprüchlichkeit. Daher ergibt sich kein Einwand durch die Beobachtung, dass über das übliche Verständnis von Freiheit zu sprechen, manchmal so scheinen mag, als ob man sich auf einen gemeinsamen Konsens berufen will, der aber nicht existiert.89 Strawson sieht hier auch einen von Frankfurts Argumentation differierenden Punkt im Verhältnis der Freiheit von Menschen und der Freiheit von Tieren bzw. von Wesen, die sich ihrer selbst nicht bewusst sind. Glaubt Frankfurt, dass die einer Reflexion hierarchischer Wünsche entstammende, mit dem Determinismus im Sinn der Freiwilligkeit vereinbare Identifikation eines Handlungssubjekts mit seiner Entscheidung oder Handlung das Proprium menschlicher Freiheit darstellt, plädiert Strawson für ein stärkeres Verständnis dieser

89 Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 452; G. Strawson: Freedom and­ Belief, 3.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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Identifikation – eben für das Verständnis der Identifikation im Sinn radikaler Selbstbestimmung.90 Strawson sieht die Relevanz dieses Verständnisses auch darin begründet, dass sich viele Menschen für die Art und Weise ihrer persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit oder zumindest für gewisse wesentliche Aspekte ihrer persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit verantwortlich fühlen. Sicherlich vermutet man gewöhnlicherweise nicht, tatsächlich eine Art aktiven Prozess der Selbstbestimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit durchlaufen zu haben. Und doch erscheint es Strawson richtig zu sagen, dass man sich in vielerlei Hinsicht unreflektiert in solcher Weise erfährt, wie man sich erfahren würde, wenn man in eine solche Art Prozess der Selbstbestimmung einbezogen gewesen wäre – oder zumindest in eine Art Prozess des Untersuchens und Bestätigens der eigenen persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit. Dieser Prozess setzt freilich eine Position voraus, in der man dazu fähig ist, eine Veränderung der eigenen Beschaffenheit zu veranlassen. Vielleicht empfinden manche, so Strawson, dass die Tatsache des Aufwachsens bzw. Erwachsenwerdens einfach gleichbedeutend damit ist, zur Verantwortlichkeit für die eigene Beschaffenheit zu gelangen.91 Manche Menschen bedauern Strawson zufolge Eigenschaften, die sie besitzen, oder erfahren sie als fremd und fühlen sich machtlos, diese zu verändern. Dies stellt Strawsons Punkt jedoch nicht in Frage, sondern es bleibt entscheidend, dass persönliche Eigenschaften zwar als bedauernswert oder fremd erscheinen können, dass dies aber nur deshalb so sein kann, weil dieses Empfinden einen Hintergrund solcher persönlicher Eigenschaften voraussetzt, die nicht bedauernswert oder fremd erscheinen, sondern mit denen sich das Handlungssubjekt identifiziert. „In general, people have a strong sense of general identification with their character (it may well be strengthened, not weakened, by the experience of some tendency as alien), and this identification seems to carry within itself a powerful implicit sense that one is, generally, somehow in control of, and in any case answerable for, how one is.“92

Damit argumentiert Strawson dafür, dass Verantwortlichkeit für die eigene Beschaffenheit bzw. radikale Selbstbestimmung für das alltägliche (moralische) Denken relevant erscheinen kann. Er hält die Wahrnehmung der Identifikation eines Handlungssubjekts mit seinen persönlichen Eigenschaften für wenig überraschend, reflektiert doch ein Handlungssubjekt seine eigene Charakterstruktur stets aus einer Perspektive, eben dieser Charakterstruktur, die es reflektiert.93 90 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 3 f. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 453 f. 92  G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 454. 93 Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 454, Anm. 29. 91 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Die Vorstellung, dass Verantwortlichkeit für Handlungen Verantwortlichkeit für die eigene persönliche bzw. charakterliche Beschaffenheit voraussetzt, entsteht, so Strawson, mit starker Selbstverständlichkeit und in ausdrücklicher Form, wenn Menschen beginnen, sich über das Wesen (moralischer) Verantwortlichkeit Gedanken zu machen, was durchaus häufig der Fall sein kann.94 Viele, die ein sicheres Empfinden darüber haben, für eine Handlung verantwortlich zu sein, gehen auch explizit davon aus, dass diese Verantwortlichkeit Verantwortlichkeit für ihre Beschaffenheit voraussetzt und entsprechend haben sie auch ein sicheres Empfinden darüber, für ihre eigene Beschaffenheit verantwortlich zu sein. Strawson hält folgendes Fortschreiten dieses Prozesses der Beurteilung von Verantwortlichkeit für üblich: 1. Es besteht eine nicht in Frage gestellte Überzeugung, dass Menschen für ihre Handlungen letztgültig verantwortlich sind. 2. Nach einer gewissen Reflexion wird erkannt, dass letztgültige Verantwortlichkeit für Handlungen Verantwortlichkeit für die diese Handlungen bedingende persönliche und charakterliche Beschaffenheit voraussetzt. 3. Es entsteht die Überzeugung, deren Überprüfung bzw. Reflexion vermieden wird, dass Verantwortlichkeit für die persönliche und charakterliche Beschaffenheit möglich, wirklich und üblich ist.95 Strawson verweist beiläufig auch darauf, dass vielen Vertreterinnen und Vertretern von Freiheitstheorien klar vor Augen stand, was den Kern der Freiheitsproblematik ausmacht, nämlich die Erkenntnis, dass, obwohl man handeln kann, wie man will, man nicht letztgültig wollen kann, wie man will.96 „[T]rue self-determination seems a clearly necessary condition of freedom, as freedom is ordinarily conceived. And many thinkers – those who have not either simply avoided the question, or decided that we are not really free at all – have supposed it to be fulfilled.“97

Nach Strawson sollte es möglich sein, die Notwendigkeit radikaler Selbstbestimmung für Verantwortlichkeit dort ausdrücklich einsichtig zu machen, wo es im moralisch-metaphysischen Bewusstsein noch nicht der Fall ist, indem quasi mit sokratischer Methode umsichtig und ungezwungen zur Reflexion der Bedingungen von Verantwortlichkeit angeregt wird.98 Strawson gesteht dabei aber zu, dass in gleicher Weise die gegenteilige These plausibel hervorgelockt 94  „[W]hen people begin to reflect about the nature of moral responsibility, as they quite often do“ (G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 454). 95 Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 454, Anm. 30. 96  Strawson verweist auf Kant, Sartre, Aristoteles und auf aktuelle Vertreterinnen und Vertreter wie Robert Kane, Ted Honderich, Martha Klein, Derk Pereboom, Saul Smilansky u.a. Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 454, Anm. 31. 97  G. Strawson: Freedom and Belief, 42. 98 S. auch Strawsons Gedankenexperiment in Abschnitt 3.4.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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werden kann.99 Wenn nun beides gilt, kann, so Strawson, eine in sich schlüssige kompatibilistische Freiheitstheorie zumindest nicht als hinreichende Bearbeitung der Freiheitsproblematik verstanden werden. David Hume kann Strawson zufolge als Beispiel dafür gelten, zum einen zwar im Enquiry eine klassische kompatibilistische Darstellung von Freiheit in Übereinstimmung mit Hobbes und Locke gegeben zu haben, jedoch zum anderen indirekt festgestellt zu haben, dass das eigentliche Problem der Freiheitsthematik an anderer Stelle liegt, wobei er dieses Problem bewusst unbeantwortet lässt.100 Der zurückliegende Unterabschnitt 3.3.1 konnte zeigen, dass im Kern der Argumentation Strawsons der Hinweis auf die Unabweisbarkeit inkompatibilistischer Intuitionen steht, die sich besonders im Zusammenhang des Verständnisses von Verantwortlichkeit als bedeutsam erweisen, und die in ihrer Reflexion zur Anerkennung der notwendigen Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit führen. Der Einwand gegen das Basisargument, dass Verantwortlichkeit für Handlungen und Entscheidungen keine Verantwortung für die diese Handlungen und Entscheidungen bestimmende persönliche und charakterliche Beschaffenheit voraussetzt und Freiheit durch Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit bzw. im Sinn Frankfurts hinreichend beschrieben werden kann, ist somit erwidert. Im folgenden Unterabschnitt 3.3.2 richtet sich ein weiterer Einwand gegen Strawsons These der Unmöglichkeit von Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung, bevor in den verbleibenden Abschnitten dieses Kapitels 3.3.3 und 3.4 erneut Strawsons Argumentation für die Relevanz des Basisarguments bzw. der radikalen Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik im Vordergrund steht.

3.3.2 Der libertarische Einwand und seine Erwiderung Sollte es möglich sein, radikale Selbstbestimmung zu begründen, wäre das Basisargument widerlegt. Wie könnte der Einwand konkret lauten? Libertarier können Strawson zufolge gegen das Basisargument einwenden, dass es vorschnell seinen Schluss zieht. Strawson zeigt dies anhand folgender Version des Basisarguments auf [4]: 1) Es ist unbestreitbar, dass man so beschaffen ist, wie man ist, als Ergebnis der Vererbung und der früheren Erfahrungen, und es ist unbestreitbar, dass man für Vererbung und frühere Erfahrungen in keiner Weise verantwortlich (im moralischen oder in anderem Sinn) sein kann.

 99 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 43, Anm. 36. D. Hume: An Enquiry concerning Human Understanding, 99–103, in deutscher Übersetzung: D. Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 117–121. 100 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

2) Man kann auch zu keinem späteren Zeitpunkt des Lebens hoffen, (moralische) Verantwortung im eigentlichen Sinn für die Art, wie man beschaffen ist, zu übernehmen, indem man versucht, die Art, wie man bereits beschaffen ist, als Ergebnis von Vererbung und früherer Erfahrung, zu verändern. 3) Denn sowohl die bestimmte Art und Weise, in welcher man bewegt wird, den Versuch, sich zu verändern zu unternehmen, als auch der Grad des Erfolgs hinsichtlich dieses Versuchs wird davon bestimmt sein, wie man bereits beschaffen ist als Ergebnis von Vererbung und früherer Erfahrung. Und alle weiteren Veränderungen, die man erst erfolgreich zustande bringen kann, wenn man die ersten Veränderungen zustande gebracht hat, werden wiederum bestimmt sein durch die ersten Veränderungen bzw. durch Vererbung und Erfahrung.101 Strawson räumt ein, dass Libertarier gegen die dritte These dieser Version des Basisarguments einwenden können, dass damit noch nicht alles gesagt sei. Denn es könnte sein, dass manche Veränderungen hinsichtlich der eigenen Beschaffenheit nicht auf Vererbung und Erfahrung zurückführbar sind, sondern auf den Einfluss indeterministischer oder zufälliger Faktoren.102 Die Frage, warum es offensichtlich klar ist, dass diese Strategien keine Aussicht auf Erfolg haben, beantwortet Strawson bündig: „[I]t is absurd to suppose that indeterministic or random factors, for which one is ex hypothesi in no way responsible, can in themselves contribute in any way to one’s being truly morally responsible for how one is.“103

Strawson tritt trotz der für ihn unbestreitbaren Evidenz der Aussichtslosigkeit libertarischer Strategien einen Schritt hinter diese Position zurück und erörtert die denkbaren Möglichkeiten eines Beitrags indeterministischer Ereignisse zur Ermöglichung von Freiheit. Unter Inkompatibilismus versteht Strawson die Auffassung, dass das Nicht-Zutreffen des Determinismus eine notwendige Bedingung von Freiheit darstellt. An sich selbst beinhaltet der Inkompatibilismus keine Ansicht darüber, ob der Determinismus zutrifft oder nicht, oder darüber, ob wir frei sind oder nicht. Libertarianismus hingegen stellt eine positive inkompatibilistische Freiheitstheorie dar, die vorgibt, zu zeigen, dass wir frei sind und daher davon ausgeht oder dafür argumentiert, dass der Determinismus nicht zutrifft.104 101 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 25 f.; G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 320; G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 151. 102 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 320; G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 151. 103  G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 320, Herv. i. O. 104 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 27.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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Diese Definition wird Strawson zufolge allseits akzeptiert. Jedoch nimmt Strawson weiterhin an, dass keine Theorie wahrhaft zu den libertarischen Theorien zählen kann, solange sie nicht mit einer Darstellung der Hervorbringung von Handlungen einhergeht, welche in Einzelheiten zeigt, wie und warum irgendein auftretendes indeterministisches Vorkommnis ein notwendiges Element der Hervorbringung irgendeiner und jeder freien Handlung darstellt, das heißt zu den früheren Vorgängen irgendeiner und jeder freien Handlung gehört. Eine libertarische Theorie, die allein inkompatibilistisch annimmt, dass das Nichtzutreffen des Determinismus eine notwendige Bedingung freier Handlungsfähigkeit ausmacht, und dabei scheitert, diese negative notwendige Bedingung in die positive, detaillierte Darstellung über das Zustandekommen freier Handlungsfähigkeit zu integrieren, empfindet Strawson als nicht seriös.105 Mit folgendem Argument macht Strawson seine Position deutlich: Gegeben ist eine Beschreibung V der früheren Vorgänge einer Handlung H, von der Libertarier behaupten, sie sei eine freie Handlung. V macht deutlich, warum H frei ist und beinhaltet zu diesem Zweck keine indeterministischen Vorgänge. – Hierzu kann Folgendes gesagt werden: 1) Angenommen, die früheren Vorgänge sind auf deterministische Weise zustande gekommen, da V dies nicht ausschließt. 2) V soll aber zeigen, warum H frei ist. 3) Dann bedeutet zu sagen, ‚Wenn diese früheren Vorgänge auf deterministische Weise zustande gekommen sind, dann ist H keine freie Handlung‘ – wie Libertarier behaupten müssen – zuzugeben, dass V nicht auf hinreichende Weise deutlich gemacht hat, warum H eine freie Handlung ist. 4) Daraus folgt, dass jede angemessene libertarische Darstellung freier Handlungen, die vorgibt, zu zeigen, wie und warum Handlungen frei sein können, auf wirkliche indeterministische Elemente unter ihren früheren Vorgängen hinweisen und zusätzlich erklären muss, auf welche Weise die indeterministischen Elemente zur Freiheit der Handlungen beitragen.106 Strawson weiß, dass nicht alle Libertarier diesem Argument zustimmen. Einige Libertarier konstatieren, dass ihre Gründe, zu behaupten, dass das Nicht-Zutreffen des Determinismus eine notwendige Bedingung für Freiheit darstellt, völlig unabhängig sind von einer positiven, detaillierten Darstellung freier Handlungsfähigkeit. Zwar ist dies nach Strawson tatsächlich richtig – doch es greift Strawsons Argument und dessen Schluss nicht an: „Libertarians are notoriously bad at giving any positive account of freedom at all.“107 Eine positive

105 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 27. G. Strawson: Freedom and Belief, 27 f. 107  G. Strawson: Freedom and Belief, 28. 106 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Darlegung der Möglichkeit von Freiheit hält Strawson für notwendig, wenn Libertarier es wert sein möchten, ernst genommen zu werden: „A libertarianism that gives no role to indeterminism in its detailed account of free action is little more than a covert compatibilism with an idle incompatibilist premiss dangingly subjoined.“108

Den entscheidenden Punkt formuliert Strawson wie folgt: Freiheit, Ursachen und Indeterminismus – freie Handlungen, Handlungen, die aufgrund von Ursachen geschehen und Indeterminismus – sind eine Dreiergruppe, die schwer zu vereinen ist. Und da zumindest die ersten beiden Elemente vereint werden müssen, muss auch das dritte Element mit den beiden ersten vereint werden. Die ersten beiden Elemente müssen Strawson zufolge vereint werden, um freie Handlungsfähigkeit angemessen zu definieren. Es gibt keine Alternative dazu, Handlungen, die aus Ursachen geschehen, unter die Menge freier Handlungen zu zählen. Selbst wenn es wirkliche Handlungen geben sollte, die nicht aufgrund von Ursachen erfolgen, und selbst wenn nicht alle freien Handlungen solche Handlungen sind, die aufgrund von Ursachen erfolgen, müssen sich immer noch zumindest manche solcher Handlungen, die aus Ursachen geschehen, als freie Handlungen qualifizieren – und tatsächlich müssen dies die überwiegende Mehrheit solcher Handlungen. Denn andernfalls würde Strawson zufolge folgende absurde Konsequenz entstehen: Wir sind frei und moralisch verantwortlich, aber nicht als absichtlich und aus Gründen handelnde Handlungssubjekte. Strawson kann solche Vorstellungen nur mystischen Auffassungen zuordnen, die für die vorliegenden Belange jedoch unerheblich bleiben.109 Daher lautet die eigentliche Frage in Strawsons Sicht folgendermaßen: Wie kann die Annahme der Richtigkeit des Indeterminismus in Szene gesetzt werden in einer detaillierten, positiven libertarischen Darstellung der Wesensart der Hervorbringung von Handlungen, die zeigt, dass Handlungen frei sein können, weil sie indeterminiert sind? Um diese Frage von Seiten der Libertarier zu beantworten, können wir Strawson zufolge annehmen, dass Libertarier um der Ziele ihrer Argumentation willen eine Art metaphysische Blankovollmacht-Freiheit („metaphysical carte blanche-liberty“) annehmen müssen, welcher Art und Quantität derjenige Indeterminismus auch immer sein soll, von dem Libertarier glauben, dass er helfen kann.110 Bevor die libertarischen Versuche in den Blick genommen werden, soll knapp auf Strawsons Verständnis von Handlungen hingewiesen werden: 108  G. Strawson: Freedom and Belief, 28; deutsch: „Eine libertarische Theorie, die dem Indeterminismus keine Rolle in ihrer detaillierten Darlegung der Möglichkeit freier Handlung zuweist, ist kaum mehr als eine verdeckte kompatibilistische Theorie mit einer nutzlosen inkompatibilistischen Prämisse, die lose beigefügt wurde“. 109 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 28. 110  G. Strawson: Freedom and Belief, 28, Herv. i. O.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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„For as far as the question of freedom is concerned, the claim about action that matters is just that actions that have true explanations in terms of P-reasons [sc. psychological ­reasons] can be free actions, if any actions can; and this claim is not controversial at all.“111

Strawson erachtet eine ausführlich dargelegte Handlungstheorie für nicht notwendig hinsichtlich der Zwecke, die er bezüglich der Freiheitsproblematik verfolgt. Einzige Bedingung ist, dass solche Handlungen freie Handlungen sein können, die sich durch psychologische Gründe bzw. Ursachen, das heißt durch persönliche und charakterliche Merkmale,112 hinreichend erklären lassen können.113 Wie bereits dargestellt, besteht für seriöse Libertarier nach Strawsons Einschätzung die Aufgabe, ein indeterministisches Ereignis unter den einer freien Handlung vorausgehenden Vorgängen zu lokalisieren und dabei zu zeigen, wie die Anwesenheit dieses Ereignisses dazu beiträgt, dass die Handlung frei ist. Strawson konstruiert folgendes Beispiel: Gegeben sei eine bestimmte Handlung H, die vom Handlungssubjekt h ausgeführt wird. Vorausgesetzt wird, dass H vollständig erklärbar ist durch Bezugnahme auf einen Zusammenhang von persönlichen und charakterlichen Gründen bzw. Ursachen U, die sich aus Wünschen W und Überzeugungen Ü zusammensetzen – oder durch Bezugnahme auf Ereignisse, die sich in Form von Wünschen und Überzeugungen charakterisieren lassen. Des Weiteren gehört ein indeterministisches Ereignis X zu den der Handlung vorausgehenden Vorgängen. Wo, fragt Strawson hierzu, kann X nun seinen Platz einnehmen?114 Klar scheint Strawson nach Folgendes: 1) X kann auf keine Weise zwischen U und H eingreifen, da in diesem Fall die Erklärung von H durch Bezugnahme allein auf U schließlich nicht eine wirkliche, vollständige Erklärung von H darstellen würde. Die Erklärung in der Form „H geschah bzw. h führte H aus, weil h Ü annahm und sich W wünschte“ wäre nicht korrekt. Um sie richtigzustellen, müssten zumindest die Worte „und X trat auf“ ergänzt werden. In diesem Fall liegt entgegen der Annahme keine wirklich vollständige Erklärung von H vor. Weiterhin scheint nach Strawson auch Folgendes deutlich zu sein: 2) Man kann nicht annehmen, dass X zu den H vorausgehenden Vorgängen in solcher Weise gehört, dass X a) mit U parallel zu der Zeitspanne Z abläuft, zu 111 

G. Strawson: Freedom and Belief, 28. Strawson unter psychologischen Gründen („P-reasons“) im weiteren Sinn persönliche und charakterliche Merkmale versteht, zeigt sich in folgender Definition: „By ­‚reasons‘ I am going to mean actually existing internal psychological states of a certain sort, paradigmatically beliefs and desires“. (G. Strawson: Freedom and Belief, 24). 113 S. eine ausführliche Darstellung Strawsons über sein Handlungsverständnis: G. Strawson: Freedom and Belief, 29–35.­ 114 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 35. 112  Dass

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

welcher U seine H determinierende Rolle ausfüllt oder b) mit U unverbunden ist. Denn wenn X unverbunden mit U ist und dennoch einen determinierenden Effekt auf H ausübt, dann gilt erneut, dass die Erklärung von H in Form von U keine wirklich vollständige Erklärung von H durch persönliche und charakterliche Ursachen sein wird – entgegen der Annahme.115 Strawson folgert: 3) X kann nur vor Z auftreten. Doch wiederum gilt, dass X nicht unverbunden mit U sein darf aus den gerade angeführten Gründen. Strawson folgert weiterhin: 4) X muss in solcher Weise vor Z auftreten, dass U in seiner Beschaffenheit beeinflusst wird. Nur in diesem Fall kann eine Erklärung von H in Form von U eine korrekte, vollständige Erklärung durch persönliche und charakterliche Ursachen sein, während es gleichfalls zutrifft, dass X einen determinierenden Faktor von H darstellt. Wie das Auftreten von X in diesem Fall zur Freiheit von H beitragen kann, ist nach Strawson ohne Zweifel vollkommen rätselhaft. Das ist das Problem der Libertarier. Die vorliegende Pointe besteht darin, dass dies die einzige Möglichkeit für Libertarier darstellt, indeterministische Beiträge unter den einer Handlung vorausgehenden Vorgängen zu lokalisieren – zumindest in all jenen äußerst üblichen und aus diesem Grund zentralen, wichtigen Fällen, in denen Handlungen vollständig durch persönliche und charakterliche Ursachen erklärbar sind.116 Strawson hält dieses Argument für weiter präzisierbar, jedoch wurde seine Konzeption deutlich. Jede Darstellung einer freien Handlung, die von irgendeinem wirklichen Interesse ist, muss Strawson zufolge zeigen, dass Handlungssubjekte regelmäßig zu freien Handlungen fähig sind, besonders insofern sie nachdenkende, argumentierende, zielgerichtete Handlungssubjekte sind, und tatsächlich wenigstens teilweise weil sie nachdenkende, argumentierende, zielgerichtete Handlungssubjekte sind. Strawson betont, dass die Darstellung bzw. Erklärung der Freiheit einer Handlung direkt mit den persönlichen und charakterlichen Ursachen der Handlung in Verbindung stehen muss: „It must not only show that free action is compatible with the fact that actions are determined by P-reasons in such a way that citing the agent’s P-reasons is one correct way of explaining their occurrence. The fact that actions are determined by P-reasons in such a way that citing the agent’s P-reasons is one correct way of explaining their occurrence must also be part of its account of why actions are free.“117

115 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 35. G. Strawson: Freedom and Belief, 36. 117  G. Strawson: Freedom and Belief, 36. 116 Vgl.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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Schließlich kann von dem indeterministischen Beitrag, den Libertarier als für freie Handlungsfähigkeit notwendig erachten, unmöglich angenommen werden, dass er in irgendeiner Weise zu Freiheit beiträgt, weder durch ein störendes Eingreifen oder Unterbrechen der Determination der persönlichen und charakterlichen Gründe und Ursachen einer Handlung noch dadurch, dass er als determinierender, einen Beitrag zu den persönlichen und charakterlichen Gründen und Ursachen leistender Faktor verstanden wird, der sich aber in völliger Unabhängigkeit zu den persönlichen und charakterlichen Gründen und Ursachen des Handlungssubjekts befindet.118 Hat Strawson somit die Möglichkeiten eines gewinnbringenden indeterministischen Einflusses hinsichtlich einer Handlung und ihrer dargelegten vorhergehenden Vorgänge ausgeschlossen, schließt er auf folgende verbleibende Alternative: „So it can play a part only by playing a part in shaping or determining what the agent’s P-reasons are. Libertarianism cannot plausibly locate the indeterministic influence anywhere else.“119

Vielleicht stellt es eine weiterführende Möglichkeit dar, einen indeterministischen Beitrag im Zustandekommen der persönlichen und charakterlichen Gründe und Ursachen zu lokalisieren. Wie oben bereits deutlich wurde, setzen sich persönliche und charakterliche Ursachen für Strawson aus Überzeugungen und Wünschen zusammen. Strawson fragt, wie unter Zugrundelegung dieser Zusammensetzung der persönlichen und charakterlichen Ursachen der Indeterminismus das leisten kann, was von ihm erwartet wird.120 Zunächst wendet sich Strawson den Überzeugungen zu. Dass diese in der Regel in uns determiniert sind durch die Art und Weise, wie die Welt beschaffen ist, hält Strawson für leicht akzeptierbar und schwer zurückweisbar. Die Hauptaufgabe von Überzeugungen besteht Strawson zufolge darin, die Art und Weise, wie die Welt beschaffen ist, so gut wie möglich abzubilden. Mögen Überzeugungen auch auf andere Weise in uns bestimmt sein, durch wünschendes Denken beispielsweise, so sorgen wir uns im Ganzen doch einfach darum, dass unsere Überzeugungen zutreffende Überzeugungen sind. Man glaubt und hofft, dass das, wovon man überzeugt ist, bestimmt davon ist und als Ergebnis das widerspiegelt, was der Lage der Dinge entspricht.121 Strawson führt diesen Themenkomplex der Bestimmung bzw. Determinierung von Überzeugungen an dieser Stelle nicht weiter aus und verweist für weiter reichende Ausführungen auf David Wiggins.122 Was Strawson hinlänglich 118 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 36. G. Strawson: Freedom and Belief, 36, Herv. F. D. 120 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 36. 121 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 37. 122  D. Wiggins: „Freedom, Knowledge, Belief and Causality“, in: Knowledge and Neces119 

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

deutlich machen will, ist, dass wohl niemand ernsthaft behaupten möchte, dass die Freiheit einer Handlung auf ein Handlungssubjekt zurückzuführen ist, das entweder durch nichts bestimmt ist oder das selbstbestimmt ist hinsichtlich der Inhalte seiner Überzeugungen und insbesondere hinsichtlich derjenigen Inhalte seiner Überzeugungen, die den Teil der persönlichen und charakterlichen Gründe und Ursachen ausmachen, aus denen es handelt.123 Dass auch Wünsche in uns determiniert sind, hält Strawson ebenfalls für leicht akzeptierbar, zumindest in bestimmten Zusammenhängen der Debatte. Doch wenn, so Strawson weiter, Libertarier beabsichtigen, Indeterminismus mit freier Handlungsfähigkeit überhaupt in Verbindung zu bringen, dann scheint es so, als ob sie zeigen müssten, dass Indeterminismus irgendeine Rolle bei der Beantwortung der Frage zu spielen hat, warum das Handlungssubjekt diejenigen Wünsche besitzt, die es besitzt. Fragt man bezüglich der Überzeugungen nicht mehr als danach, ob sie in uns determiniert sind durch die Art und Weise, wie die Welt beschaffen ist, entsprechend eines zuverlässigen Prozesses, der dafür sorgt, dass sie als zutreffende Überzeugungen erscheinen, dann erscheint es deutlich vielversprechender für Libertarier, Indeterminismus innerhalb des Erwerbs oder Besitzes von Wünschen als innerhalb des Erwerbs oder Besitzes von Überzeugungen zu fordern. Zumindest auf den ersten Blick scheint der Bereich der Wünsche Strawson zufolge einen deutlich vielversprechenderen Bereich als der Bereich der Überzeugungen darzustellen, wenn nach einem Eintrittspunkt in den Prozess der Hervorbringung einer Handlung für ein Element gesucht wird, das aufgrund seiner Indeterminiertheit einen Beitrag dazu leisten kann, Freiheit in dem Prozess zu begründen.124 Daher will Strawson folglich prüfen, was einem Libertarier als Möglichkeit verbleibt: Eine überzeugende libertarische Theorie muss dafür plädieren, dass der Determinismus der Wünsche zurückgewiesen werden kann, oder zumindest der Determinismus eines Wunsches oder einiger Wünsche, die in die Determination des Auftretens einer bestimmten freien Handlung eingeschlossen sind.125 Strawson stellt fest, dass die Debatte nun bereits in hohem Maß künstlich wirkt. Denn es scheint offenkundig zu sein, dass das, was für Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn und folglich für Freiheit erforderlich ist, nicht Unbestimmtheit an sich, sondern Unbestimmtheit zugunsten von Selbstbestimmtheit darstellt:

sity, Royal Institute of Philosophy Lectures, Vol. 3, 1968–1969, o. Hg., Vorwort G. Vesey, London 1970, 132–154, zitiert bei Strawson: G. Strawson: Freedom and Belief, 37, Anm. 26. 123 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 37. 124 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 37 f. 125 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 38.

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„[W]hat is required for true responsibility, and hence for freedom, is not merely that the agent be undetermined in its nature in some respect, but that it be self-determined in some respect, and, therefore, undetermined by anything else in that respect.“126

Strawson betont so auch hier, dass libertarische Theorien nicht nur nachweisen müssen, dass wenigstens einige Wünsche in ihrem Auftreten oder Dasein in uns nicht determiniert sind durch irgendetwas außerhalb von uns, sondern ebenfalls, dass wir fähig sind, zu bestimmen, wie zumindest einige von ihnen beschaffen sind. Es gibt keinen Weg an der Notwendigkeit der Selbstbestimmung im eigentlichen Sinn bzw. radikaler Selbstbestimmung vorbei. Hinsichtlich der Wünsche scheint Strawson zufolge unverzichtbar, dass Handlungssubjekte diejenigen Wünsche, die sie haben, gewählt haben.127 Dies führt nach Strawson schließlich zu der wesentlichen Schwierigkeit des infiniten Regresses: Sich in irgendeiner Weise zu entscheiden, erfordert Gründe bzw. Ursachen dieser Entscheidung, vorausgehende Prinzipien, vorausgehende Vorlieben, entsprechend derer die Wahl ausfällt. Selbst wenn man anerkennen würde, dass es zufällig getroffene Entscheidungen gibt, die aus keinem Grund und keiner Ursache erfolgt sind, so bleiben diese Entscheidungen nutzlos. Selbst wenn man auf verständliche Art und Weise annehmen könnte, dass ein Handlungssubjekt eine vollkommen zufällige Auswahl an Wünschen getroffen hätte, die es haben möchte, und folglich eine Entscheidung getroffen hätte, die hinsichtlich aller richtiger psychologischer und physikalischer Theorien indeterminiert gewesen wäre, so würde die bloße Indeterminiertheit uneingeschränkt gar nichts zu einer eigenen freien Handlung beitragen, wodurch das Handlungssubjekt im eigentlichen Sinn verantwortlich für seine Wünsche, für gewisse Wünsche zumindest, und folglich für seine Handlungen sein könnte.128 Wenn ein Handlungssubjekt im eigentlichen Sinn verantwortlich für seine Handlungen ist, weil es sich für die Wünsche entschieden hat, die es zu der tatsächlich ausgeführten Handlung leiten, dann muss das Handlungssubjekt Strawson zufolge wiederum im eigentlichen Sinn für die Wahl der Wünsche verantwortlich sein. Und ein Handlungssubjekt kann nach Strawson nur dann für diese Wahl der Wünsche im eigentlichen Sinn verantwortlich sein, wenn es diese Wahl in vernünftiger, bewusster, zielgerichteter Art und Weise trifft. Dies jedoch ist nicht möglich, es sei denn, das Handlungssubjekt entscheidet sich 126 

G. Strawson: Freedom and Belief, 38, Herv. i. O. Vgl. ebenfalls: „What must also be true, it seems, is that we ourselves are able to govern how we become (in respect of desire) in such a way that we can correctly be said to be truly responsible for how we become (in respect of desire). Just to be as we are undeterminedly from the point of view of physics is obviously not enough; nor is it enough if some of our desires rate as completely undetermined on any true psychological theory about what determines our becoming the way we are – one, for example, that refers to heredity or environment“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 41). 127 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 41. 128 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 41.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

entsprechend von Wertsetzungen und Vorlieben, die es bereits besitzt hinsichtlich der Frage, welche Wünsche es haben will. Doch, fragt Strawson, was gilt dann hinsichtlich dieser Wertsetzungen und Vorlieben, dieser Prinzipien der Wahl, entsprechend derer das Handlungssubjekt entscheidet? Das Handlungssubjekt dürfte durch nichts determiniert sein in Bezug auf ihren Besitz. Dann jedoch würde es nicht selbstbestimmt entscheiden. Es muss deshalb gefordert werden, dass das Handlungssubjekt auch diese Prinzipien gewählt haben muss, um im eigentlichen Sinn für seine den Charakter ausbildende Wahl der Wünsche, welche diese Prinzipien bestimmen, verantwortlich zu sein. Nur dann kann das Handlungssubjekt letztlich auch im eigentlichen Sinn für seine Handlungen verantwortlich sein.129 Dies nun führt zu dem Regress, der nach Strawson in keiner Weise mit Hilfe des Indeterminismus sinnvoll zu beenden ist: „We cannot possibly choose our root principles of choice, our conative base-structure, in the required way. So, if we are truly self-determining as agents, this cannot be because we are truly or ultimately self-determining, self-instituting, self-made, with respect to our desires or values or general character. No amount of postulation of logically possible indeterminism can help with this difficulty, because what is required for its solution is that an infinite regress of choices of principles of choice have a beginning and an end, and that is impossible.“130

Strawson macht seine grundsätzliche Kritik am Libertarianismus auch unter Bezugnahme auf das libertarische Freiheitsmodell Robert Kanes deutlich. Kane nimmt an, dass radikale Selbstbestimmung eine notwendige Bedingung von Freiheit darstellt und dass diese Bedingung realisierbar und damit das Basisargument Strawsons widerlegbar ist. In den beiden Aufsätzen „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“ und „The Unhelpfulness of Indeterminism“ fokussiert Strawson die von Kane nicht gelöste Problematik, erklären zu müssen, auf welche nachvollziehbare Weise indeterministische Elemente innerhalb seiner Theorie einen positiven Beitrag zur Erklärung von Freiheit leisten. Strawson würdigt durchaus 129 

G. Strawson: Freedom and Belief, 41 f.­ G. Strawson: Freedom and Belief, 42. Muss Frankfurt zufolge gar nicht nach einem Anfangs- und Endpunkt des Wünscheregresses gesucht werden, da allein die Identifikation eines Handlungssubjekts mit seinem Wunsch im Sinn von „wholeheartedness“ den Regress beendet, argumentiert Strawson gegen die Angemessenheit des Frankfurtschen Verständnisses der Identifikation und fordert ein stärkeres Verständnis im Sinn radikaler Selbstbestimmung. Es reicht nach Strawson nicht aus, die eigene Beschaffenheit allein im Rahmen vorfindlicher Wünsche zu gestalten, für die man nicht letztgültig verantwortlich sein kann: „We can, of course, cultivate tastes, traits, and dispositions, and in that sense we can be said to change, and be responsible for, how we are. But this is not the sense that matters for true responsibility. If we undertake such self-change at all, we do so for reasons we already have […] and which we are not responsible for having. A man who sets out to change – reform – his own character, and is judged to have been successful in doing so, is no more truly responsible for how he is and what he subsequently does than anyone else“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 42, Anm. 33). 130 

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die Scharfsinnigkeit Kanes, der mitunter eines der elaboriertesten libertarischen Freiheitsmodelle in die Debatte einbringt.131 Strawson stellt Kanes Argumentation dar, nach der Handlungssubjekte in einer indeterminierten Welt Freiheit des Willens besitzen können. Nach Kane ist möglich, dass Handlungssubjekte letztgültige Verantwortung für ihre Handlungen tragen können – „[sc. they] have the power to make choices for which they have ultimate responsibility.“132 Sie verfügen über die Fähigkeit, Handlungen auszuführen, die allein unter Bezugnahme auf ihren Willen erklärbar sind – „have the power to make choices which can only and finally be explained in terms of their own wills (i.e. character, motives, and efforts of will).“133 Strawson führt aus, dass Kane diese Fähigkeit in den auftretenden Bemühungen bzw. Anstrengungen des Willens eines Handlungssubjekts begründet sieht, wobei diese Bemühungen des Willens zwei Merkmale tragen. Zum einen sind sie teilweise indeterministisch in ihrer Wesensart und folglich indeterministisch in ihrem Ergebnis. Zum anderen treten sie in solchen Fällen auf, in denen Handlungssubjekte sich bemühen, eine schwierige Entscheidung zu treffen zwischen zwei Möglichkeiten, die zu erwägen ihr jeweiliger Charakter sie veranlasst. Als paradigmatische Fälle erweisen sich dafür solche Entscheidungen, bei denen sich die Handlungssubjekte einem Konflikt von moralischer Pflicht und nicht-moralischem Begehren gegenüber sehen.134 Strawson erkennt in Kanes Verständnis von Verantwortlichkeit sein eigenes wieder: die Vorstellung eines an moralischer Verantwortung in günstiger Weise darstellbaren, aber nicht notwendig an moralische Belange gebundenen Verständnisses letztgültiger Verantwortlichkeit im Sinn absoluter Zurechenbarkeit.135 Diese Verantwortlichkeit hält Kane für möglich, wenn der Determinismus nicht zutrifft: 131  „[I]ngenious statement of the incompatibilist-libertarian case“ (G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 328). Vgl. zu dieser Einschätzung beispielsweise B. Guckes: Ist Freiheit eine Illusion?, 179: „Die meiner Einschätzung nach interessanteste und vielversprechendste libertinarische Theorie, die uns bisher vorgelegt worden ist, ist die Theorie Kanes“ (Guckes übersetzt „libertarian“ mit „libertinarisch“, nicht mit „libertarisch“, wie in der vorliegenden Untersuchung gebraucht). 132  R. Kane: „Two Kinds of Incompatibilism“, in: Philosophy and Phenomenological Research 50 (1989), 219–254, hier: 254. Alle diesbezüglichen in dieser Untersuchung auftretenden Zitate und Anmerkungen rekurrieren auf diese Ausgabe. Dieser Aufsatz Kanes findet sich ebenfalls in: T. O’Connor (Hg.): Agents, Causes, and Events. Essays on Indeterminism and Free Will, Oxford 1995, 115–150. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 328. 133  R. Kane: „Two Kinds of Incompatibilism“, 254. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 328. 134 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 328. 135 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329. Während Strawson in „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“ noch mit Blick auf „Two Kinds of Incompatibilism“ (1989) bemerkt, dass Kane sich wenig zu Verantwortlichkeit äußert, hat er in „The Unhelpfulness of Indeterminism“ mit Blick auf Kanes später erschie-

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

„[In cases of] moral, prudential and practical struggle we […] are truly ‚making ourselves‘ in such a way that we are ultimately responsible for the outcome […] [W]e can be ultimately responsible for our present motives and character by virtue of past choices which helped to form them and for which we were ultimately responsible.“136

In schwierigen Entscheidungen spielen Kane zufolge indeterministische Elemente eine hinsichtlich letztgültiger Verantwortlichkeit maßgebliche Rolle, wodurch das Selbst, die Beschaffenheit des Handlungssubjekts geprägt wird. Fortan kann ein Handlungssubjekt auch für spätere Motive und Charaktereigenschaften und daraus resultierende Entscheidungen und Handlungen letztgültige Verantwortung tragen. Kane beschreibt die Möglichkeit letztgültiger Verantwortlichkeit somit auf zweierlei Weise: Er ist zum einen der Auffassung, dass mit Hilfe indeterministischer Vorgänge Entscheidungen und Handlungen einem Handlungssubjekt letztgültig zurechenbar sein können und er vertritt zum anderen die Auffassung, dass ein Handlungssubjekt auch für Entscheidungen und Handlungen letztgültig verantwortlich sein kann, für die indeterministische Vorgänge keine Rolle spielen, die jedoch auf frühere, die Beschaffenheit des Handlungssubjekts prägende schwierige Entscheidungen und Handlungen, für die indeterministische Vorgänge eine Rolle gespielt haben, zurückzuführen sind.137 Daran wird auch deutlich, dass Kane nichts gegen die zweite These der in Abschnitt 3.1 dargelegten Versionen (1) und (3) bzw. gegen die dritte These der Version (2) des Basisarguments einzuwenden hat, die besagt, dass Verantwortlichkeit für eine Entscheidung oder Handlung Verantwortlichkeit für die Gründe dieser Entscheidung oder Handlung voraussetzt. Kane akzeptiert, dass man sich quasi selbst erschaffen muss, das heißt letztgültig für sich selbst verantwortlich zu sein hat, um für das verantwortlich zu sein, was daraus in Bezug auf Entscheidungen und Handlungen folgt.138 Strawson erkennt in Kanes Vorschlag jedoch nichts, was ihn von der bekannten Grundschwierigkeit befreien könnte. Kanes Auffassung zufolge hängt die letztgültige Verantwortlichkeit eines Handlungssubjekts für das Ergebnis einer Willensbemühung wesentlich von der teilweisen indeterministischen Beschaffenheit dieses Ergebnisses ab. Dies verhält sich so, weil allein ein indeterministisches Element den vorgeordneten Charakter und die vorgeordneten Motive nene Monographie The Significance of Free Will (1996) keinen Zweifel mehr daran, dass Kane seine Position teilt. Das gemeinsame Verständnis Strawsons und Kanes hinsichtlich „ultimate responsibility“ kann auch mit Blick auf Kanes noch später erschienenen Aufsatz „Some Neglected Pathways in the Free Will Labyrinth“ (2002) als unstrittig gelten. Ferner teilen dieses Verständnis auch M. Klein: Determinism, Blameworthiness, and Deprivation, Oxford 1990 sowie D. Pereboom: Living Without Free Will. Klein und Pereboom halten „ultimate responsibility“ Strawson entsprechend und im Gegensatz zu Kane für nicht begründbar. 136 Vgl. R. Kane: „Two Kinds of Incompatibilism“, 252. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329. 137 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329. 138 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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davor bewahrt, das Ergebnis der Willensbemühung vollständig zu erklären.139 Kane gibt jedoch keine Antwort auf Strawsons Frage, wie die Tatsache, dass eine Willensbemühung in der Weise indeterministisch ist, dass ihr Ergebnis indeterminiert ist, ein Handlungssubjekt letztgültig für dieses Ergebnis verantwortlich machen kann, oder dazu beitragen kann, ein Handlungssubjekt letztgültig für dieses Ergebnis verantwortlich zu machen. Strawson führt die bekannten Einwände gegen libertarische Theorien an, die auch Kanes Libertarianismus treffen: Wie kann Indeterminismus einen Beitrag zu (moralischer) Verantwortlichkeit im Sinn eigentlicher Zurechenbarkeit leisten? Gesteht man zu, dass das Zutreffen des Determinismus moralische Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn ausschließt, wie kann dann das Nicht-Zutreffen des Determinismus weiterhelfen? Wie kann das Auftreten von teilweise zufälligen oder indeterministischen Ereignissen in irgendeiner Art dazu beitragen, dass ein Handlungssubjekt im eigentlichen Sinn (moralisch) verantwortlich sein kann für seine Handlungen oder für seinen Charakter? Schließlich antwortet Strawson Kane in bekannter Weise: „In the end, whatever we do, we do it either as a result of random influences for which we are not responsible, or as a result of influences for which we are proximally responsible, but not ultimately responsible. The point seems obvious. Nothing can be ultimately causa sui in any respect at all. Even if God can be, we can’t be.“140

In „The Unhelpfulness of Indeterminism“ greift Strawson seine Kritik an Kane erneut auf, nun auch in Bezugnahme auf Kanes ausführlichere Darstellung seiner Position in The Significance of Free Will, einer Monographie, die ohne Zweifel eine beachtenswerte, umfassende Darstellung der Freiheitsproblematik enthält, was auch Strawson durchaus anerkennt: „I think that The Significance of Free Will is an admirable book, and I particularly admire the first six chapters. I disagree with Kane on hundreds of points of detail, but I agree on thousands. And yet the old objection to libertarianism seems as powerful as ever: Granted that determinism is incompatible with UR [sc. ultimate responsibility], how can indeterminacy help?“141

Kane beschreibt die Freiheit des Willens auch in The Significance of Free Will als Fähigkeit eines Handlungssubjekts, Schöpfer seiner eigenen Beschaffenheit zu sein – „the power of agents to be the ultimate creators (or originators) and sustainers of their own ends or purposes“142. Um für eine Handlung letztgül139 Vgl. R. Kane: „Two Kinds of Incompatibilism“, 236. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329. 140  G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329, Herv. i. O. 141  G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152, Herv. i. O. In den von Strawson hervorgehobenen sechs Kapiteln erörtert Kane die Freiheitsproblematik in sehr anschaulicher und übersichtlicher Weise. 142  R. Kane: The Significance of Free Will, 4. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

tig verantwortlich sein zu können, muss ein Handlungssubjekt letztgültig für seinen Charakter und seine Motive verantwortlich sein.143 Entsprechend führt Kane aus: „[U]ltimately responsible agents must not only be the sources of their actions, but also of their will to perform the actions.“144

Kane spricht von undeterminierten, selbstformenden Handlungen („undetermined self-forming actions, or SFAs“145) bzw. gleichbedeutend von selbstformenden Willensakten („self-forming willings […] or SFWs“146). Diese Selbstformungsprozesse, die Entscheidungen, Urteile, Ausbildung von Zielorientierung und Willensbemühungen beinhalten, spielen bei Kane die grundlegende Rolle, den Wünscheregress zu beenden147, eine Rolle, die Strawson zufolge auf irgendeine Weise ausgefüllt werden muss, wenn letztgültige Verantwortlichkeit erklärt werden soll. Kane nimmt dabei an, dass Selbstformungsprozesse objektive physikalische Indeterminiertheit im Gehirn beinhalten. Er schlägt vor, dass die in sich selbst deterministische Vorstellung von Chaos im technischen Sinn einen Mechanismus bereitstellen kann, um subatomare Indeterminiertheit in solcher Weise zu verstärken, dass Indeterminismus eine kreative Rolle innerhalb des Selbstformungsprozesses spielen kann.148 Kane stützt sich dabei folgendermaßen auf James Garson: „Chaotic systems are, by definition, perturbation amplifiers. They can override the general rule that quantum mechanical indeterminacies cancel out at the macro-level. Since chaotic events are exquisitely dependent on the very small, the doings of sub-atomic particles in a very small region of space-time may be reflected in massive differences in global system behavior. […] If we view the brain as a chaotic system that amplifies non-deter­ ministic sub-atomic events, then chaotic unpredictability is no longer a reflection of our inability to know what the system will do, but rather a physical consequence of real quantum level indeterminacies. In a chaotic brain, neural events could be fundamentally un­ determined, fixed only by probability distributions in the world of the very small.“149

143 Vgl. R. Kane: The Significance of Free Will, 35. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152. 144  R. Kane: The Significance of Free Will, 73, Herv. i. O. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152. 145  R. Kane: The Significance of Free Will, 74. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152. 146  R. Kane: The Significance of Free Will, 125. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152. 147 Vgl. R. Kane: The Significance of Free Will, 114. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152. 148 Vgl. R. Kane: The Significance of Free Will, 159: „indeterminism can […] play a ­creative role in self-formation“. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152. 149 J. Garson: „Chaos and Free Will“, in: Philosophical Psychology 8 (1995), 365–374,

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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Kane geht Strawson zufolge davon aus, dass mithilfe der Erklärungsmöglichkeiten der Chaostheorie plausibel gemacht werden kann, dass indeterministische Prozesse im subatomaren Bereich Auswirkungen auf die Makrowelt ausüben. Strawson beobachtet hier, wie schon mit Blick auf „Two Kinds of Indeterminism“, dass Kane sich auf das Phänomen der Willensanstrengung konzentriert, das er letztlich mit dem indeterministischen, chaotischen Prozess identifiziert – „the indeterministic chaotic process is […] the agent’s effort of will“150. Dabei stellt Kane sich vor, dass Anstrengungen, das Richtige oder Kluge zu tun, und Konflikte zwischen Pflicht und Begehren Chaos im Gehirn aufwühlen bzw. erregen151 und dieses Chaos als Störungsverstärker in solcher Weise wirkt, dass indeterminierte Ereignisse im Mikrobereich in das Neuralnetz als Ganzes (auf Makroebene) eingespeist werden.152 Bei Kane paart sich dieser Gedanke mit der in Strawsons Sicht an sich nicht unvernünftigen Vorstellung, dass es eine Art Selbst-Netzwerk („self-network“) im Gehirn geben muss, das Kane zufolge aufs engste in die indeterministischen, chaotischen Prozesse einbezogen ist.153 Strawson hält eine über diese Punkte hinausgehende Darstellung der Kaneschen libertarischen Freiheitstheorie für unnötig, hängt sein Grundzweifel an dieser Theorie doch letztlich nicht von Details ab. Diesen Grundzweifel hat Kane selbst durchaus zur Kenntnis genommen, was ein Zitat Strawsons aus „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“ in The Significance of Free Will deutlich werden lässt: „Indeterminism presents continuing problems about responsibility. As Galen Strawson has put it (Objection 14): ‚In Kane’s view, a person’s ‚ultimate responsibility‘ for the outcome of an effort of will depends essentially on the partly indeterministic nature of the […] process of the effort of will. But […] how can the fact that my effort of will is indeterministic help to make me truly responsible for it?“154

Strawson beklagt, dass Kane seinen Einwand hier zwar explizit erwähnt, ihn jedoch nicht erwidert. Stattdessen wendet sich Kane in The Significance of Free hier: 367 (Herv. i. O.). Vgl. R. Kane: The Significance of Free Will, 129. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 152 f. 150  R. Kane: The Significance of Free Will, 147, Herv. G. S. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 153. 151 Vgl. R. Kane: The Significance of Free Will, 130: „stir up chaos in the brain“. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 153. 152 Vgl. R. Kane: The Significance of Free Will, 151: „micro determinacies are […] fed upward to the neural net as a whole“. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 153. 153  R. Kane: The Significance of Free Will, 139 f. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 153. 154  R. Kane: The Significance of Free Will, 181, Zitat Strawsons aus „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 153.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Will einem anderen Einwand zu und kommt auf Strawsons Punkt nicht wieder zurück, was Strawson folgendermaßen beschreibt und Kane dabei schließlich zur Antwort auffordert: „[H]e [sc. Kane] continues with a similar – overlapping question […] he never really returns to ‚Objection 14‘ at all. That, at any rate, is how it seems to me. I challenge Kane to answer his own Objection 14 directly!“155

Der zurückliegende Unterabschnitt 3.3.2 konnte zeigen, dass Strawson den Einwand gegen das Basisargument, dass radikale Selbstbestimmung mit Hilfe des Indeterminismus möglich sein kann, mit einer a priori Argumentation erwidert. Es besteht nach Strawson keine Möglichkeit, indeterministische Elemente in ihrem freiheitsrelevanten Wert zu plausibilisieren. Die Annahme, dass Strawsons Basisargument zu irgendeinem Zeitpunkt von Libertariern in seiner Gültigkeit zurückgewiesen werden kann, scheint unbegründet.156 Damit bleibt das Basisargument in seiner Validität schließlich unbestritten. Der folgende Unterabschnitt 3.3.3. thematisiert schließlich wie der zurückliegende Unterabschnitt 3.3.1 einen Einwand gegen die Relevanz des Basisarguments für das Freiheitsverständnis.

3.3.3 Der Einwand des unabhängigen Selbst und seine Erwiderung Strawson beschreibt Vertreterinnen und Vertreter einer dritten Möglichkeit, gegen das Basisargument zu oponieren. Diese akzeptieren, dass ein Handlungssubjekt nicht letztgültig für seinen Charakter, seine Personalität bzw. seine motivationale Struktur verantwortlich sein kann.157 Dies wird von ihnen vorausgesetzt, mag der Determinismus zutreffen oder nicht. Sodann wenden sie sich direkt gegen jene These des Basisarguments158, die besagt, dass Verantwortlichkeit für Handlungen und Entscheidungen von Verantwortlichkeit für die Gründe dieser Handlungen und Entscheidungen abhängt. Sie berufen sich auf 155 

G. Strawson: „The Unhelpfulness of Indeterminism“, 153. weist eigens darauf hin, dass das Basisargument sich unabhängig von mit der Freiheitsproblematik oft in Verbindung gebrachten Themenbereichen, wie etwa der Determinismus-Problematik oder dem Leib-Seele-Problem bewährt. Es stellt zweifellos eine besondere Stärke seines Ansatzes dar, den Kern der Freiheitsproblematik deutlich herauszuarbeiten. „[T]he argument proceeds completely a priori. The issue of the truth or falsity of determinism is not even raised. Furthermore, no view about the nature or ‚substantial realization‘ of the mind is presupposed; the debate about the nature of mind that goes on between identity theorists, dualists, and so on is entirely irrelevant to the basic problem of free will“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 26, Anm. 9). 157 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329 f. Vgl. ähnliche Darstellungen in G. Strawson: Freedom and Belief, 44–46; G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 456–458. 158  Entspricht These 2 der in Abschnitt 3.1 dargestellten Versionen (1) und (3) sowie These 3 der Version (2). 156  Strawson

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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ein gewisses Bild des Selbst, um dafür zu argumentieren, dass ein Handlungssubjekt im eigentlichen Sinn frei und moralisch verantwortlich sein kann, trotz der Tatsache, dass es nicht für seinen Charakter, seine Personalität bzw. seine motivationale Struktur letztgültig verantwortlich sein kann.159 Diese Vorstellung erhält Unterstützung durch die Phänomenologie menschlicher Entscheidungs- bzw. Wahlvorgänge. Als menschliche Handlungssubjekte erfahren wir uns Strawson zufolge in unseren Entscheidungen durchaus in solcher Weise, dass das Bild des unabhängigen Selbst angemessen erscheint.160 Strawson hält dieses Bild jedoch für keinesfalls geeignet, um Handlungssubjekte als im eigentlichen Sinn und letztgültig für ihre Handlungen und Entscheidungen verantwortlich erscheinen zu lassen. Als Grundproblematik der Freiheitstheorien im Sinn eines unabhängigen Selbst erkennt Strawson, dass diese Theorien Entscheidungen und Handlungen nicht mit Bezugnahme auf Gründe eines Handlungssubjekts als zurechenbar begründen. Durch den Verweis auf ein radikal unabhängiges Selbst, dessen Gründe nicht heranzuziehen sind, kann Strawson zufolge eine Entscheidung oder Handlung nicht begründetermaßen auf ein Handlungssubjekt zurückgeführt werden. Daher wendet sich Strawson den als einzig aussichtsreichen – letztlich freilich ebenso unmöglichen – Theorien eines nur teilweise von Gründen unabhängigen Selbst zu.161 Strawson gibt die Grundthese dieser Theorie folgendermaßen wieder: Ein Handlungssubjekt ist frei und im eigentlichen Sinn (moralisch) verantwortlich, weil sein Selbst im wesentlichen Sinn unabhängig ist von seinem Charakter, seiner Persönlichkeit bzw. seiner motivationalen Struktur. Angenommen, ein Handlungssubjekt befindet sich in einer Situation, in der es eine schwierige Entscheidung zu treffen hat zwischen A, was bedeutet, seiner Pflicht nachzukommen, und B, was bedeutet, seinen nicht moralischen Begierden nachzukommen. Unter Voraussetzung seiner persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit reagiert das Handlungssubjekt auf eine bestimmte Weise. Seine Wünsche und 159  Als das wohl prominenteste Beispiel einer solchen Theorie gilt in der analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte Roderick Chisholms Theorie der Akteurskausalität. Vgl. R. Chisholm: „Human Freedom and the Self“ (1964), in: G. Watson (Hg.): Free Will, 2. Aufl., Oxford 2003, 26–37, in deutscher Übersetzung: R. Chisholm: „Die menschliche Freiheit und das Selbst“, in: U. Pothast (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a.M. 1978, 71–87. Galen Strawson hat mir gegenüber deutlich gemacht, dass sein Selbsteinwand mit Chisholms und anderen Theorien einer Akteurskausalität in Verbindung steht: „plainly connects with ‚AC‘ theories“ (Persönliche Mail vom 09.01.2012). Zur Debatte über Theorien der Akteurskausalität seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts bietet Randolph Clarke einen hilfreichen Überblick: R. Clarke: „Toward a Credible Agent-Causal Account of Free Will“, in: Noûs 27 (1993), 191–203. Vgl. auch den hilfreichen Sammelband: T. O’Connor (Hg.): Agents, Causes, and Events. 160 S. Abschnitt 3.4. 161 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 44 f.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Ansichten entwickeln sich, interagieren und bilden Gründe aus sowohl für A als auch für B. Seine persönliche und charakterliche Beschaffenheit, wie sie sich eben darstellt, lässt das Handlungssubjekt in Richtung A oder in Richtung B tendieren. Strawsons Darstellung zufolge stellt sich das Problem in gewohnter Form dar: Wie immer sich das Handlungssubjekt entscheidet, es wird sich so entscheiden, wie es sich entscheidet, aufgrund der Art seiner persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit, und da es weder letztgültig verantwortlich ist noch letztgültig verantwortlich sein kann für die Art seiner persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit, kann es nicht letztgültig dafür verantwortlich sein, wie es sich entscheidet.162 Nun soll das Selbst des Handlungssubjekts in die Konstruktion dieses Beispiels eingeführt werden. Dieses Selbst wird Strawsons Beschreibung nach in der Weise gedacht, dass es sich auf irgendeine Art in Unabhängigkeit von der persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit des Handlungssubjekts befindet. Das Selbst bedenkt die vorfindliche Form der persönlichen und der charakterlichen Beschaffenheit und entscheidet in deren Licht. Doch das Selbst besitzt eine Fähigkeit zu entscheiden, die sich als unabhängig erweist von der persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit, und zwar in solcher Weise, dass das Handlungssubjekt letztendlich als im eigentlichen Sinn und letztgültig (moralisch) verantwortlich gelten kann für seine Entscheidungen und Handlungen, selbst wenn es keine letztgültige Verantwortung für seine Beschaffenheit trägt. Die These des Basisarguments, dass Verantwortlichkeit für Entscheidungen und Handlungen Verantwortlichkeit für deren Gründe voraussetzt, kann aufgrund der Funktion des Selbst zurückgewiesen werden.163 So wäre nach Strawson denkbar, dass der tatsächliche Grund, warum ein Handlungssubjekt im eigentlichen, starken Sinn frei handeln kann aufgrund seiner Überzeugungen und Wünsche – trotz der Tatsache, dass es nicht selbstbestimmt ist hinsichtlich dieser Überzeugungen und Wünsche – darin besteht, dass diese nicht selbstbestimmten Überzeugungen und Wünsche seine Entscheidungen darüber, wie es handelt, wirklich beeinflussen, jedoch ohne dass dabei gilt, dass das Handlungssubjekt vollständig durch seine Überzeugungen und Wünsche determiniert ist. Damit ist die Idee eines unabhängigen Selbst dargestellt, das die persönlichen und charakterlichen Gründe des Handlungssubjekts einschließt. Die Freiheit eines Handlungssubjekts zu handeln liegt nun in der Tatsache begründet, dass es, obwohl es sich nicht hinsichtlich seiner persönlichen und charakterlichen Gründe letztgültig selbst bestimmen kann, zumindest eine gewisse, teilweise von den persönlichen und charakterlichen Gründen 162 Vgl.

G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 329 f. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 330. Strawson verweist zu dieser Position auch auf C. A. Campbell: „Has the Self ,Free Will‘?“, in: Ders.: On Selfhood and Godhood, London 1957, 158–179. 163 Vgl. G.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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unabhängige Fähigkeit besitzt, zu entscheiden, wie es handelt. Die notwendige Verbindung zwischen freier Handlung und Handlung aus Gründen kann so beibehalten werden, wird doch die Entscheidung des Handlungssubjekts in jedem bestimmten Fall einer Handlung von seinen persönlichen und charakterlichen Gründen beeinflusst, wenn auch nicht vollständig determiniert.164 Dabei ergibt sich Strawson zufolge aber folgende Frage: Worauf genau sollen sich die Entscheidungen des Handlungssubjekts hinsichtlich seiner Handlungen nun gründen, wenn nicht auf die persönlichen und charakterlichen Gründe bzw. Ursachen? Das Handlungs-Selbst wird präsentiert als gewissermaßen in losgelöster Urteilsfähigkeit thronend über den Wünschen und Überzeugungen, während diese sich entwickeln, untereinander verbinden und bereit werden, sich als Gründe für Handlungen zu präsentieren. Dann entscheidet sich das Handlungs-Selbst im Licht dieser präsentierten Gründe für eine Handlung. Und obwohl es nicht im eigentlichen Sinn selbstbestimmend hinsichtlich dieser Gründe für Handlungen sein kann, ist es dennoch im eigentlichen Sinn selbstbestimmend hinsichtlich der Handlungen, denn es ist hinsichtlich der Handlungen nicht vollständig determiniert durch diese letztgültig nicht selbstbestimmten Gründe für Handlungen, sondern entscheidet vielmehr nur in deren Licht.165 Die Problematik dieser Argumentation erscheint Strawson offensichtlich: Das Selbst kann keine sinnvolle Erklärung bieten, wie eine Handlung oder eine Entscheidung einem Handlungssubjekt zugerechnet werden kann. Eine sinnvolle Erklärung müsste sich auf die Grundlage der vorfindlichen Form der persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit des Handlungssubjekts beziehen. Wie immer sich das Selbst entscheidet, es entscheidet sich so, wie es sich entscheidet, aufgrund seiner persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit. Oder es entscheidet sich Strawsons Darstellung nach so, wie es sich entscheidet, möglicherweise auch teilweise oder vollständig aufgrund des Auftretens indeterministischer Faktoren im Entscheidungsprozess, für welche das Handlungssubjekt ohnehin nicht verantwortlich sein kann und von welchen auf keine plausible Weise angenommen werden kann, dass sie etwas zur Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn beitragen.166 Hier erkennt Strawson die Rückkehr dieses Gedankengangs zu seinem Ursprung:

164 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 45. Die Grundidee dieses Ansatzes hält Strawson auch Leibniz zuordenbar. Das Handlungssubjekt wird durch Gründe bzw. Ursachen nur in die eine oder andere Richtung angetrieben, aber nicht gezwungen. Vgl. G. W. Leibniz: Die Theodizee, Übersetzung von A. Buchenau, einführender Essay von M. Stockhammer, 2. Aufl., Hamburg 1968, 125 f. Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 45. 165 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 45. 166 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 330.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

„To be a source of true or ultimate responsibility, S [sc. the Self] must be responsible for being the way it is. But this is impossible, for the reasons given in the Basic Argument.“167

Diese Schwierigkeiten sind Strawson zufolge nicht neu. Wenn das Handlungssubjekt im eigentlichen Sinn selbstbestimmt sein soll hinsichtlich seiner Handlungen, kann dies nicht darauf beruhen, dass es weitere Wünsche oder Prinzipien bezüglich des Entscheidens besitzt, welche die Entscheidungen zu handeln maßgeblich bestimmen, die es im Licht seiner ersten Wünsche und Prinzipien bezüglich des Entscheidens trifft. Denn es könnte im eigentlichen Sinn auch nicht selbstbestimmend sein in Bezug auf diese weiteren Wünsche und Prinzipien hinsichtlich des Entscheidens – nicht mehr als in Bezug auf seine ersten Wünsche und Prinzipien hinsichtlich des Entscheidens. Wenn das Handlungs-Selbst jedoch nicht über weitere Wünsche und Prinzipien hinsichtlich des Entscheidens verfügt, dann wird der Anspruch, dass es eine besondere Fähigkeit des Entscheidens ausübt, unbrauchbar bezüglich des Versuchs, Freiheit zu begründen. Denn verfügt es nicht über solche Wünsche und Prinzipien hinsichtlich des Entscheidens, die maßgeblich bestimmen, welche Entscheidungen es trifft im Licht seiner Handlungsgründe, dann verhalten sich die Entscheidungen, die es trifft, zufällig gegenüber seinen Handlungsgründen. Die Entscheidungen werden dann durch ein solches Handlungs-Selbst getroffen, das in seiner Rolle als entscheidende Instanz nicht maßgeblich durch Handlungsgründe bestimmt wird, da es über keine Art von Prinzipien hinsichtlich des Entscheidens verfügt.168 „The agent-self with its putative, freedom-creating power of partially reason-independent decision becomes some entirely non-rational (reasons-independent) flip-flop of the soul.“169

Mit diesem Ergebnis eines Handlungs-Selbst in der Rolle eines zufällig agierenden „Kippschalters der Seele“ zerbricht diese elaborierte Theorie der Idee eines unabhängigen Selbst. Eine von persönlichen und charakterlichen Gründen und 167  G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 330. Strawson weiter: „[I]t cannot change the fact that human beings cannot be ultimately self-determining in such a way as to be ultimately morally responsible for how they are, and thus for how they decide and act. The story is crudely presented, but it should suffice to make clear that no move of this sort can solve the problem“ (G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 330). 168 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 45f. Gegen diese Kritik Strawsons an Theorien eines unabhängigen Selbst wendet sich Timothy O’Connor: „Why would it still be ‚rationally-speaking random,‘ as Strawson puts it […], if the agent makes the preferable choice?“ (T. O’Connor: „Agent Causation“, 275, Herv. i. O.). Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 1. Aufl., Oxford 1986, 53f. Es scheint jedoch, dass O’Connor nicht gegen Strawsons These zu argumentieren vermag, dass auf ein unabhängiges Handlungs-Selbst Handlungen und Entscheidungen nicht eindeutig zurückführbar sind bzw. die Handlungen und Entscheidungen nicht zurechenbar sein können. 169  G. Strawson: Freedom and Belief, 46, Herv. i. O.

3.3 Drei Einwände gegen das Basisargument und ihre Erwiderungen

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Ursachen unabhängige Fähigkeit zu entscheiden kann Strawsons Ausführungen zufolge Freiheit nicht begründen. Trotz des gescheiterten Versuchs einer sinnvollen Erklärung von Freiheit spiegelt die dem unabhängigen Selbst zugrunde liegende Vorstellung, mit einer von Gründen unabhängigen Fähigkeit zu entscheiden, Strawsons Ansicht zufolge etwas wider, was eine wichtige Rolle in der Phänomenologie der menschlichen Erfahrung über Freiheit spielt: die Erfahrung des radikal Anders-entscheiden-Könnens hinsichtlich einer Handlung („experience of the absolute ‚could-have-done-otherwiseness‘ of action“170). Diese Erfahrung des spontanen Anders-entscheiden-Könnens hält Strawson für die Ursache der allgemeinen Überzeugung, die menschliche Handlungssubjekte in der Regel teilen: dass sie letztgültig verantwortlich sind und über Freiheit verfügen, die mit dem Determinismus nicht vereinbar scheint.171 In diesem Kontext hält Strawson auch die gesamte Debatte um die Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“, die einen beachtlichen Forschungszweig der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte einnimmt172, für unverhältnismäßig: „A further consequence is that the rich tradition of discussion stemming from Frankfurt’s paper ‚Alternate possibilities and moral responsibility‘ […] is largely beside the point.“173

Diese Debatte führt Strawson zufolge am Kernproblem der Frage nach der Möglichkeit letztgültiger Verantwortlichkeit und radikaler Selbstbestimmung vorbei. Gegen die Relevanz des Basis-Arguments vermag schließlich keine kompatibilistische Deutung des „Anders-handeln-Könnens“ angemessen zu argumentieren.174 170 

G. Strawson: Freedom and Belief, 44. Vgl. ausführlich dazu Abschnitt 3.4. 172 S. o. Abschnitt 2.3. 173  G. Strawson: Freedom and Belief, 110, Anm. 4. 174  Barbara Guckes kommt hinsichtlich der Beurteilung der Debatte um die Bedingung des „Anders-handeln-Könnens“ zu einem vergleichbaren Urteil. Sie begründet ihr Urteil unter Bezugnahme auf das Black-Jones-Beispiel (s. Abschnitt 2.3) mit einer äußerst bedenkenswerten Beobachtung: „Unsere Freiheits- und Verantwortungszuschreibungen hängen tatsächlich nicht von der Erfüllung der Bedingung des ‚x hätte anders handeln können‘, sondern von etwas anderem ab. Daß das der Fall ist, erkennt man freilich schon daran, daß sich Inkompatibilisten auch unter der Annahme, daß Jones nicht anders handeln konnte, nicht von ihrem Urteil abbringen lassen, daß er frei und verantwortlich war, als er Smith getötet hat. Denn erstaunlicherweise haben Inkompatibilisten nie daran gezweifelt, daß Jones frei und verantwortlich ist, sondern höchstens daran, daß er nicht anders handeln kann. […] Meiner Einschätzung nach zeigt das, daß die so lebhafte und einen so großen Teil der Debatte einnehmende Diskussion darüber, ob Jones entgegen dem ersten Anschein doch anders hätte handeln können, müßig ist. Unser Urteil ändert sich offensichtlich nicht in Abhängigkeit von der Beantwortung dieser Frage“ (B. Guckes: „Frankfurts Herausforderung an den Inkompatibilisten“, in: Dies., M. Betzler (Hg.): Autonomes Handeln. Beiträge zur Philosophie von Harry G. Frankfurt, Berlin 2000, 39–57, hier: 51). Zu ähnlichen Urteilen gelangen auch 171 

112

3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Im zurückliegenden Unterabschnitt 3.3.3 wurde deutlich, dass eine Theorie des unabhängigen Selbst nicht in der Lage ist zu erklären, auf welche Weise eine Handlung oder Entscheidung einem Handlungssubjekt zurechenbar ist. Der Verweis auf ein unabhängiges Selbst gibt keine Antwort auf die Frage, warum das Handlungssubjekt als zurechenbar angesehen werden soll. Soll die Zurechenbarkeit erklärt werden, so ergibt sich der Gedankengang, der dem Basisargument zugrunde liegt: Handelt oder entscheidet ein Handlungssubjekt frei, muss es aus Gründen frei handeln oder entscheiden. Um aus Gründen frei zu handeln oder zu entscheiden, dürfen diese Gründe nicht determiniert sein. Es folgt, dass das Handlungssubjekt hinsichtlich dieser Gründe auch frei handeln oder entscheiden muss – das heißt es muss sich hinsichtlich dieser Gründe frei bestimmen, und wiederum hinsichtlich der Gründe dieser Gründe etc. Schließlich muss es sich, um einen infiniten Regress zu vermeiden, radikal selbst bestimmen können. Die Zurückweisung der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik gelingt Theorien des unabhängigen Selbst so wenig wie den in Abschnitt 3.3.1 erörterten kompatibilistischen Theorien im Sinn Frankfurts. Weitere, noch grundlegendere Gründe für die Annahme, dass diese Relevanz nicht zurückgewiesen werden kann, ergeben sich im nun folgenden, letzten Abschnitt dieses Kapitels.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit Das Basisargument hat sich im zurückliegenden Abschnitt 3.3 als in seiner Sache relevant (gegen Einwand 1 und 3) und gültig (gegen Einwand 2) erwiesen. Strawsons Argumentation gegen den ersten und dritten Einwand, die beide die Relevanz des Basisarguments bzw. der darin zurückgewiesenen radikalen Selbstbestimmung betreffen, erschien zum einen als Argumentation gegen kompatibilistische Freiheitstheorien im Sinn Frankfurts (in Abschnitt 3.3.1) und zum anderen als Argumentation gegen die Möglichkeit, Freiheit mit Hilfe des Postulats eines unabhängigen Selbst zu begründen (in Abschnitt 3.3.3). M. Klein: Determinism, Blameworthiness, and Deprivation, bes. 1–65, und R. Kane: The Significance of Free Will, 44–59. Unter Verweis auf Kane und auch auf Galen Strawson analysiert Helen Steward eine entsprechende Entwicklung in der aktuellen angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte: „[M]odern incompatibilists are often persuaded by Frankfurt-style examples that the capacity to do otherwise is not a necessary condition of moral responsibility, and have sought to rest their incompatibilism, therefore, on a different sort of footing, citing, for instance, the impossibility, under determinism, of an agent’s being truly the ultimate creator and sustainer of her own ends or purposes, or the existence of a capacity for self-determination“ (H. Steward: „The truth in compatibilism and the truth of libertarianism“, in: Philosophical Explorations 12 (2009), 167–179, hier: 175); vgl. entsprechend: H. Steward: A Metaphysics for Freedom, Oxford 2012, 3 f.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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Der vorliegende Abschnitt widmet sich nun Strawsons über 3.3.1 und 3.3.3 hinausgehender, vertiefter Argumentation für die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik. Strawson präsentiert eine die Freiheitsproblematik insgesamt deutende Untersuchung zur kognitiven Phänomenologie der Freiheit. Ergebnis seiner Analyse bildet die Vorstellung des bereits in 3.3.3 beschriebenen unabhängigen, freien Selbst, das in der Regel der Selbstwahrnehmung eines menschlichen Handlungssubjekts entspricht. Dieser üblichen Vorstellung eines unabhängigen, sich radikal frei entscheiden und handeln könnenden Selbst können Strawson zufolge sowohl inkompatibilistische als auch kompatibilistische Intuitionen zugrunde liegen.175 Verhält sich dies so, so kann die Freiheitsproblematik als nachvollziehbarer Intuitionenstreit zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus176 plausibel gemacht werden. Von diesem Standpunkt aus wird die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen und in deren Reflexion auch die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis in grundlegender Weise erkennbar. Der in 3.3.3 dargestellte Versuch, ein Freiheitskonzept des unabhängigen Selbst zu entwickeln, mag Strawson zufolge zwar als unrealistischer und offensichtlich hoffnungsloser Vorschlag zur Begründung von Freiheit erscheinen. Doch die Vorstellung eines unabhängigen Selbst stellt nach Strawsons Ansicht, obgleich in ungewöhnlicher und angreifbarer Ausdrucksweise, exakt jene Art von Vorstellung dar, die gewöhnliche Menschen wahrscheinlich ausdrücken, wenn sie herausgefordert sind, ihre Überzeugung zu verteidigen, dass sie im eigentlichen Sinn für ihrer Handlungen verantwortlich sind. Wie unplausibel oder unerheblich dieser Vorschlag manchen professionellen Philosophinnen und Philosophen auch erscheinen mag, so repräsentiert er Strawson zufolge doch den natürlichen Versuch, die grundlegende Sicht über Freiheit zu beweisen, nach welcher die Entscheidungen eines Handlungssubjekts im eigentlichen Sinn frei sein können, selbst wenn die Motive dieser Entscheidungen determiniert bzw. nicht selbstbestimmt sind. Der Vorschlag eines unabhängigen Selbst stellt nicht einfach ein Beispiel dessen dar, was Strawsons Vater Peter F. Strawson als panische Meta175  Strawson will die Ergebnisse der phänomenologischen Beschreibung von Freiheit dazu gebrauchen, auch für die Gründe des vorherrschenden Verständnisses von Freiheit zu argumentieren: „Note that the phenomenology of freedom is not restricted to description – to saying what our sense of freedom is like. It can also offer explanations – explanations of why we have the sort of sense of freedom we do have“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 92). 176  Für Strawson bedeutet dies: Kompatibilismus ist zu verstehen als Kompatibilismus im Sinn Frankfurts, d.h. im Sinn von freiwilligem Handeln und Entscheiden aus vorfindlichen Gründen ohne Berücksichtigung inkompatibilistischer Intuitionen. Als inkompatibilistische Freiheitsvorstellungen sind diejenigen Freiheitsvorstellungen zu verstehen, die inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigen, d.h. zum einen inkompatibilistische Freiheit und zum anderen auch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

physik („panicky metaphysics“177) des theoretischen philosophischen Liberta­ rianismus zurückgewiesen hat. Stattdessen spielt er Galen Strawson zufolge eine strukturierende Rolle hinsichtlich unserer Einstellung zur Vorstellung von Freiheit selbst in unklaren, schlecht ausgeformten Theorien. Bereits dies rechtfertigt es für Strawson, die Vorstellung eines unabhängigen Selbst bzw. die variantenreichen Vorschläge zu dieser Vorstellung näher zu betrachten.178 „They [sc. these suggestions] are important to anyone concerned with the cognitive phenomenology of freedom, and anyone seriously concerned with the philosophical problem of freedom must be concerned with the cognitive phenomenology of freedom.“179

Am Anfang von Strawsons Analyse der Freiheitsproblematik steht die These der Wirkmächtigkeit der allgemeinen Vorstellung menschlicher Handlungssubjekte, als radikal unabhängiges Selbst agieren zu können. Strawson hält es für wahrscheinlich, dass, wenn die Frage nach Verantwortung hinsichtlich der persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit gestellt wird – was im Normalfall Strawson zufolge selten geschieht – alle vermuteten Konsequenzen der Tatsache, dass man weder für seine persönliche und charakterliche Beschaffenheit verantwortlich ist noch dafür verantwortlich sein kann, sich deshalb einfach auflösen, weil das volle, selbstbewusste Bewusstsein des Handlungssubjekts über sich selbst und seine gegenwärtige Situation des Entscheidens ihm das Gefühl radikaler Freiheit vermittelt. Strawson erkennt eine offensichtliche Tatsache darin, dass die „selbst bewusste“ Anwesenheit eines Handlungssubjekts in der Entscheidungssituation in diesem Handlungssubjekt das Gefühl radikaler Zurechnungsfähigkeit hervorbringt. Man mag in einer Analyse durchaus erkennen, dass das Handlungssubjekt vollständig als die Person verfasst ist, die sie ist, und dass diese Verfasstheit sich auf Faktoren zurückführen lässt, für die das Handlungssubjekt weder letztgültig verantwortlich ist noch dieses sein kann und man mag dies zugeben – doch die Bedrohung, die von dieser Analyse angeblich für die Forderung ausgeht, dass das Handlungssubjekt für seine Entscheidungen und Handlungen verantwortlich ist, scheint vollkommen aufgelöst zu sein durch die einfache Tatsache, dass sich das Handlungssubjekt seiner Entscheidungssituation voll bewusst ist.180 Die Überzeugung, dass das selbstbewusste Wahrnehmen einer Entscheidungssituation eine ausreichende Grundlage für die Möglichkeit von starker,

177  P. F. Strawson: „Freedom and Resentment“ (1962), in: Ders.: Freedom and Resentment, London 1974, 1–25, hier: 25. Dieser Aufsatz findet sich auch in: G. Watson (Hg.): Free Will, 2. Aufl., Oxford 2003, 72–93, in deutscher Übersetzung: U. Pothast (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a.M. 1978, 201–233. Zitiert bei Galen Strawson: G. Strawson: Freedom and Belief, 47. 178 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 46 f. 179  G. Strawson: Freedom and Belief, 47. 180 Vgl. G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 455 f.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

115

inkompatibilistischen Intuitionen entsprechender Freiheit181 bieten kann, stuft Strawson als äußerst machtvoll ein. Sie geht tiefer als rationale Argumente und überlebt unberührt im alltäglichen Lebensvollzug, selbst nachdem die Gültigkeit des Basisarguments zugegeben wurde.182 Dieses Wissen um eine radikal freie Handlungsfähigkeit kann Strawson zufolge jedoch erschüttert werden, letztlich sogar in solch hohem Maß, dass ein Handlungssubjekt sich in der Gefahr sehen kann, sein Selbst zu verlieren. Dazu ist aber notwendig, dass ein Reflexionsprozess einsetzt. Die Gedankenspiele darüber, wie es um die Verantwortlichkeit bestellt ist, setzen dann ein, wenn sich gravierende Probleme aufgrund der evidenten Einsicht in die Erfordernis von Gründen für das Handlungssubjekt ergeben. Indem ein Handlungssubjekt dann die Konsequenzen dieser Einsicht in die Erfordernis von Gründen durchdenkt, scheint es so, als riskiere es, seine eigene Nicht-Existenz zu denken, seine Nicht-Existenz als persönliches Wesen.183 Das Risiko besteht Strawsons phänomenologischer Analyse zufolge nicht einfach darin, dass ein Prozess hartnäckiger Konzentration auf den Gedanken des Determinismus oder den Gedanken der unmöglichen Fähigkeit der radikalen Selbstbestimmung ein Handlungssubjekt zwingen könnte, nicht länger davon auszugehen, dass es eine gewisse Eigenschaft besitzt – die Eigenschaft der letztgültigen Verantwortlichkeit – die ihm viel bedeutet hat. Es ist vielmehr so, dass das Risiko darin besteht, dass nichts zurückbleibt, was als Identität des Handlungssubjekts überhaupt wieder erkennbar sein könnte – „nothing re­ cog­nizable as me, the ‚agent-self‘, but only a bare consciousness-function, or a zombie“184. Strawson schlägt vor, die Mächtigkeit dieser Andeutung mittels eines Gedankenexperiments zu veranschaulichen, da seine Ausführungen eher unklar und weit hergeholt wirken könnten. Strawson selbst hält sie jedoch keineswegs für unklar und weit hergeholt. Was er jedoch einräumt, ist, dass man sich offen, konzentriert und mit etwas Fantasie in dieses Experiment begeben muss.185

181  Diese Freiheit kann Strawsons Verständnis nach inkompatibilistische Freiheit sein, die tatsächlich Indeterminismus als notwendige Bedingung von Freiheit postuliert, aber auch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und in deren Reflexion Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung – die keinen Indeterminismus postulieren, jedoch inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden. 182 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 331. Die oben dargestellte Person, die sich entscheiden muss, ob sie ihre letzten fünf Euro für einen Kuchen ausgeben will oder für einen wohltätigen Zweck spendet, befindet sich in dieser von Strawson beschriebenen selbstbewussten Wahrnehmung ihrer Entscheidungssituation. S. o. Abschnitt 3.3.1. 183 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 82. 184  G. Strawson: Freedom and Belief, 83. 185 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 83.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Das Gedankenexperiment besteht einfach darin, die Überzeugung, dass deterministische Voraussetzungen gelten, auf den gegenwärtigen Lebensverlauf eines Handlungssubjekts strikt anzuwenden. Dies gelingt in geeigneter Weise, wenn in schneller Abfolge an jede kleinste Handlung oder Bewegung, die ausgeführt wird, oder wirklich an alles, was mit Bezug auf einen selbst geschieht, so gedacht wird, als unterläge dies alles deterministischen Voraussetzungen bzw. als sei dies alles nicht letztgültig durch einen selbst bestimmt. Kommt Strawsons Experiment zu seinem Ziel, so hat es den Effekt, jede Bedeutung des Vorhandenseins eines frei entscheidenden und handelnden Ichs in den Gedanken des Handlungssubjekts auszulöschen. Es scheint dann so, als gäbe es einfach keine Rolle für das Ich, die es spielen kann.186 Dies kann fremdartig, leicht deprimierend wirken oder zu einem merkwürdigen, schwebenden Gefühl gleichgültiger Fügung in die Vorführung des eigenen persönlichen und charakterlichen Wesens führen – nicht in ein Gefühl der Ohnmacht, aber in ein Gefühl des radikalen Nicht-Beteiligtseins. Letztlich kann die Existenz der eigenen Persönlichkeit, die Existenz des Handlungssubjekts überhaupt, in Frage gestellt werden: „[T]he feeling may be: I am not really a person; there isn’t really anyone there at all.“187 Strawsons Ansicht nach zeigt dieses Ergebnis, dass die Sicht eines Handlungssubjekts auf sich selbst von zutiefst inkompatibilistischen Intuitionen geprägt ist. Ein Handlungssubjekt glaubt natürlicherweise und unreflektiert von sich selbst, dass es hinsichtlich seiner Entscheidungen und Handlungen in einer besonderen – freilich unmöglichen – Beziehung steht mit einer letztgültige Verantwortlichkeit hervorbringenden Kraft. Es glaubt dies, weil es sich als planend und abwägend bezüglich seiner möglichen Handlungen versteht. Ein Handlungssubjekt, das seine Existenz in Frage gestellt sieht, hört jedoch nicht auf zu existieren:188

186  Ted Honderich erkennt in T. Honderich: A Theory of Determinism, Oxford 1988, ebenfalls eine Bedrohung der Freiheit durch Determinismus. Strawson stimmt dieser Position zu, doch kritisiert er, dass Honderich nicht ausdrücklich deutlich macht, dass Indeterminismus ebenso eine Bedrohung für Freiheit darstellt. Vgl. G. Strawson: „Consciousness, Free Will, and the Unimportance of Determinism“, 337 f. Honderich beschreibt vier Bereiche, in denen die Bedrohung sich seiner Ansicht nach zeigt: Im Bereich der Lebenshoffnungen (1), im Bereich unseres Anspruchs, etwas wissen zu können (2), im Bereich moralischer Verantwortung (3) sowie im Bereich des Verhältnisses zu anderen (4). Strawson stimmt hinsichtlich (3) und (4) zu, kann jedoch bezüglich (2) nicht nachvollziehen, wie Determinismus den Anspruch, etwas wissen zu können, bedrohen kann. Hinsichtlich (1) führt Strawson die Bedrohung von Lebenshoffnungen auf die generelle Bedrohung, keine radikal unabhängigen, zurechenbaren Handlungssubjekte zu sein, zurück. Vgl. G. Strawson: „Consciousness, Free Will, and the Unimportance of Determinism“, 342 f., 357. 187  G. Strawson: Freedom and Belief, 83. 188 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 83.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

117

„One disappears in the thought-experiment because it reveals that one is not possible, so [sc. ultimately responsible] conceived. At the same time, of course, one does not – cannot – disappear just like that.“189

Die Gedanken des Handlungssubjekts treten natürlicherweise und unvermeidlich mittels des Ichs auf und seine Vorstellung dieses Ichs bleibt die Vorstellung eines im eigentlichen Sinn verantwortlichen, selbstbestimmenden Wesens. Während das Handlungssubjekt momentanen Erfolg haben kann in seinem Versuch, die Konsequenzen des Determinismus voll zu erfassen, werden diese Konsequenzen daher auf längere Sicht gesehen immer an der unerweichlichen („rock-hard“190) Festlegung auf ein Selbstbild, das völlig mit ausgewachsenem, kontinuierlich angewandtem Glauben an deterministische Voraussetzungen unvereinbar ist, zerbrechen.191 Abgehärtete, konventionelle Kompatibilisten haben Strawson zufolge wahrscheinlich die größten Schwierigkeiten mit diesem Gedankenexperiment, denn für sie gilt am meisten, dass sie in der Gefahr stehen, ihre theoretischen Meinungen oder, wie sich Strawson vorstellen kann, auch Vorurteile, mit ihren wirklichen alltäglichen Haltungen sich selbst und ihren Handlungen gegenüber zu verwechseln – „in a way that makes it difficult to see the problem“192. Wenn es zur Wahrnehmung des Verschwindens des Selbst und gleichzeitig zum Wahrnehmen der Unmöglichkeit dieses Verschwindens kommt, mag man weiterhin den Gedanken haben – oder versuchen ihn zu haben und anzuwenden – dass alles, was mit einem selbst zusammenhängt, deterministischen Voraussetzungen unterliegt. Doch dieser Gedanke wird Strawson zufolge nicht mit voller Kraft durchschlagen. Und wenn dieser Gedanke der vollständigen Determinierung des Selbst mit weniger als der vollen Kraft durchschlägt, wird er wahrscheinlich nicht dazu führen, dass es so scheint, als existiere man (als persönliches Wesen) überhaupt nicht, sondern eher, dass es so scheint, dass, obwohl man auf irgendeine Weise existiert und obwohl man fortfährt, auf verschiedene Art zu handeln, man dennoch nicht sagen kann, dass man dies wirklich selbst vollbringt. Denn der Determinismus verschlingt („gobbles up“193) alles und lässt alles, was man tut, nicht als das erscheinen, was man selbst tut.194

189 

G. Strawson: Freedom and Belief, 83. G. Strawson: Freedom and Belief, 84. 191 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 83 f. 192  G. Strawson: Freedom and Belief, 84, Anm. 9. 193  G. Strawson: Freedom and Belief, 84. 194 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 84. Strawson erinnert im Rahmen dieser Ausführungen daran, dass dieses Experiment aufweisen will, wie sich die Dinge einem Handlungssubjekt darstellen, das das Problem der Willensfreiheit ernst nimmt und deshalb das Gedankenexperiment durchführt. Daher stellen die Ausführungen in diesem Sinn keine Zurückweisung des theoretischen Frankfurt entsprechenden Kompatibilismus im Sinn der Freiwilligkeit dar. Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 84. 190 

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Die bisherigen Überlegungen bündelt Strawson in dem Vorschlag, dass von zwei wesentlichen Polen ausgegangen werden kann, um welche die Gedanken eines Handlungssubjekts wahrscheinlich kreisen, wenn es den Gedanken seiner vollständigen Determiniertheit anzuwenden versucht. Am einen Pol hört das frei entscheidende und handelnde Wesen auf irgendeine Weise vollständig auf zu existieren. Am anderen Pol existiert das Wesen weiterhin, aber es kann sich selbst in keiner Weise mehr als frei entscheidend und handelnd erkennen. Die Gedanken des Handlungssubjekts oszillieren wahrscheinlich dann um diesen zweiten Pol, wenn der Effekt des Gedankenexperiments nicht mit voller Kraft durchschlägt und auf merkwürdig erscheinende Art die Vorstellung des Selbst verschwinden lässt. Strawson glaubt, dass man an diesem von ihm beschriebenen zweiten Pol dem begegnet, was Thomas Nagel anschaulich beschreibt als Erosion dessen, was wir tun, durch den Abzug dessen, was geschieht – „the […] erosion of what we do by the subtraction of what happens“195. Seriöse Freiheitstheoretikerinnen und Freiheitstheoretiker, die inkompatibilistischen Intuitionen Bedeutung einräumen und die vom Zutreffen des Determinismus ausgehen, oder Freiheitstheoretikerinnen und Freiheitstheoretiker, die von der Relevanz und Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung überzeugt sind, sollten Strawson zufolge das Gedankenexperiment erproben. Denn schließlich beinhaltet dieses Unternehmen für sie nichts anderes, als mit besonderer Konzentration bei der Position zu verweilen, die sie bereits einnehmen. Diejenigen, die lernen, die durch das Gedankenexperiment angeregte Geistesverfassung beizubehalten, werden nach Strawson auf dem besten Weg sein zu einer durch und durch authentisch gelebten Anschauung über deterministische Voraussetzungen oder über die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung.196 Sie werden sich die Frage nach der Existenz ihres Selbst im Sinn ihres persönlichen Wesens stellen.197 Doch Strawson erscheint es wichtig, zu verdeutlichen, was dies beinhaltet:

195  T. Nagel: „Moral Luck“ (1976), in: Ders.: Mortal Questions, Cambridge 1979, 24–38, hier: 37 f. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: Freedom and Belief, 84. Nagel bezieht sich auf B. Williams: „Moral Luck“ (1976), in: Ders.: Moral Luck, Cambridge 1981, 20–39. Vgl. zu Thomas Nagels mit Strawson vergleichbarer Einschätzung der Relevanz und Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung: T. Nagel: The View from Nowhere, Oxford 1986, bes. Kap. 7 „Freedom“, 110–137. Dieses Kapitel findet sich auch in G. Watson: Free Will, 2. Aufl., 229– 256, in deutscher Übersetzung: T. Nagel: Der Blick von nirgendwo, Frankfurt a.M. 1992, Kap. 7 „Freiheit“, 191–237. 196  An dieser Stelle wird – exemplarisch – deutlich, dass Strawson radikale Selbstbestimmung aufgrund der mit ihr zusammenhängenden inkompatibilistischen Intuitionen dem Inkompatibilismus zuordnet. Tatsächlich jedoch spielt Indeterminismus begrifflich für radikale Selbstbestimmung keine Rolle – daher muss Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung (wie auch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst) begrifflich eindeutig dem Kompatibilismus zugeordnet werden. S. u. Zwischenfazit Kap. 4. 197 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 85.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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„A person may theoretically fully accept that he, or she, is wholly a product of his or her heredity and environment – many of us do – and yet, in everyday life, have nothing like the kind of self-conception that is here required of the genuine incompatibilist determinist (non-self-determinationist).“198

Wer von der Relevanz und Unmöglichkeit inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigender Freiheit bzw. in deren Reflexion von Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung überzeugt ist, kann diese Überzeugung kaum als Selbstbild im praktischen Lebensvollzug anwenden. Denn diese Überzeugung scheint die Auflösung jeder erkennbaren menschlichen Vorstellung des Selbst zu erfordern. Strawson hält es für ausgeschlossen, eine solch radikal objektive Haltung sich selbst gegenüber einzunehmen.199 Strawson räumt hierzu ein, dass seine Ausführungen vielleicht zu unklar ausgedrückt sind. Doch er geht davon aus, dass die allgemeine Vorstellung dahinter der Mehrheit derjenigen, die sich auf die Problematik konzentriert einlassen bzw. das Gedankenexperiment für sich selbst durchführen, klar werden sollte. Jene, die das Experiment verachten oder behaupten, es funktioniere nicht, scheitern wohl dabei, seine Grundidee zu erfassen. Strawson glaubt für sich erkannt zu haben: „It does work; and this is a very important fact about us.“200 Infolge dieser Überlegungen scheint deutlich zu werden, dass die Frage, wie mit vernünftigen Gründen auf die Erkenntnis des Zutreffens des Determinismus reagiert werden sollte, gewissermaßen eine unrealistische Frage darstellt: „For it may be an unreal question for anyone who has become a genuine incompatibilist determinist (non-self-determinationist) in the present sense – anyone who has gone beyond merely theoretical acceptance of determinism (or non-self-determinability).“201

Dennoch sieht Strawson einen methodischen Sinn darin, die Frage nach den Reaktionsmöglichkeiten zu stellen. Wie auf die Erkenntnis des Determinismus hinsichtlich des Selbstverständnisses, ein freies Handlungssubjekt zu sein, reagiert werden kann, entfaltet Strawson anhand zweier Beispiele, wobei er festhält, dass natürlich viele andere Möglichkeiten denkbar wären. Die erste Reaktionsmöglichkeit zeigt sich folgendermaßen: Angenommen, ein Handlungssubjekt geht von der Unvereinbarkeit seiner Freiheit und dem Determinismus aus und ist soeben zur Erkenntnis gelangt, dass der Determinismus zutrifft. Nun versucht es mit aller Mühe, die wahre Perspektive hinsichtlich seiner Situation zu erlangen. Wie muss es über sich denken, wenn es sich zurücklehnt? Wenn es sich die Augen reibt? Wenn es nach einem Buch im Regal sucht? Wenn es diskutiert, ob es mehr Geld für die Hungerhilfe spenden

198 

G. Strawson: Freedom and Belief, 85 f., Herv. i. O. G. Strawson: Freedom and Belief, 86. 200  G. Strawson: Freedom and Belief, 86. 201  G. Strawson: Freedom and Belief, 86. 199 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

soll? Und wie soll es darüber denken, dass sein Denken wiederum determiniert ist etc.?202 Strawson entwirft das Beispiel so, dass das Handlungssubjekt nicht dem Fatalismus verfällt, das heißt den Fehler begeht, damit aufzuhören, sich zu bemühen, das zu bekommen, was es will, weil es davon ausgeht, dass bereits in solcher Weise feststeht, ob es das Gewollte bekommen wird oder nicht, dass sich die Bemühung in keiner Weise lohnt. Das Handlungssubjekt des Beispiels ist sich im Klaren darüber, dass sein eigenes Planen und Handeln reale und wirkungsvolle Beiträge des anhaltenden deterministischen kausalen Prozesses darstellen. Wenn es zielgerichtet etwas unternimmt, wovon es spürt, dass es beispielsweise tadelnswert sei, mag es nach der Ausführung dieser Unternehmung sich vielmehr selbst zusprechen: Es war determiniert, dass ich dies unternahm – und doch, wenn ich es nicht unternommen hätte, wäre auch determiniert gewesen, dass ich es nicht unternahm. Dies stellt Strawson zufolge einen gewöhnlichen philosophischen Gedanken dar. Was aber, so fragt er, bedeutet es, diesen Gedanken ernsthaft ins praktische Leben zu überführen, was bedeutet es, zu versuchen, jede Einzelheit des eigenen Lebens als festgelegt zu erfassen?203 Das Handlungssubjekt des ersten Beispiels wird glauben, dass es als im eigentlichen Sinn verantwortliches Handlungssubjekt, das über sich selbst unwillkürlich in seinem natürlichen, unveränderten Gedanken denkt – überhaupt nichts zu unternehmen fähig ist. Damit befindet es sich am zweiten der beiden von Strawson identifizierten wesentlichen Pole des ernsthaften, auf sich selbst angewandten Determinismus: Es fühlt, dass es existiert, dass es aber in keiner Weise handeln kann. So drückt das Handlungssubjekt dies zumindest aus. 204 Es fühlt, dass es für seine Beschaffenheit, seine Entscheidungen und Handlungen nicht im eigentlichen Sinn Verantwortung tragen kann. Infolge dessen mag es denken: Es besteht nicht die Möglichkeit, sich dafür zu entscheiden oder zu versuchen, sich dafür zu entscheiden, seine persönlichen reaktiven Haltungen 205 aufzugeben. Denn nur ein freies Handlungssubjekt, was es nun glaubt, nicht zu sein, kann wirklich einen Grund haben zu handeln, der wirklich sein eigener Grund ist. Es mag eine Folge praktischer Überlegungen in seinem Kopf auftreten, doch es spürt, dass dies nicht wirklich seine eigenen Überlegungen sind, da diese Folge einen determinierten Prozess darstellt (obwohl es natürlich dann spürt, dass es seine eigenen Überlegungen sind, sobald es seine Konzen-

202 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 86. G. Strawson: Freedom and Belief, 86. 204 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 86. 205  Vgl. P. F. Strawson: „Freedom and Resentment“. Dieser Aufsatz gewann maßgeblichen Einfluss auf die angelsächsische analytisch-philosophische Freiheitsdebatte. Peter F. Strawson argumentiert darin im Sinn eines kompatibilistischen Standpunkts für die Unaufgebbarkeit reaktiver Haltungen. 203 Vgl.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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tration auf die Auswirkung der Determiniertheit auf sich selbst unterbricht). 206 Das Handlungssubjekt in diesem Beispiel erkennt so zum einen, dass sein Selbst, wie es ihm als unabhängiges Selbst erscheint, nicht existieren kann, und zum anderen, dass es als solches Selbst dennoch zu existieren nicht aufhören kann. Strawson erkennt diese Situation auch als Situation, in der dem Handlungssubjekt ein kompatibilistisches Freiheitsverständnis im Sinn Frankfurts absurd erscheint. Solche Freiheit erscheint ihm nicht als das, was es hinsichtlich Freiheit als relevant erkannt hat, sondern als „die Freiheit eines Bratenwenders“207, als „ein elender Behelf“ und eine „Wortklauberei“208, jede Menge Kauderwelsch („so much gobbledegook“209) und nichts als die Freiheit eines sich selbst abdichtenden Tanks („self-sealing tank“210). Am Beispiel dieses Handlungssubjekts zeigt sich nach Strawson das seltsame Drama, die Inszenierung der tiefgreifenden Problematik der Willensfreiheit. Am Ende bringen allein die Erfordernisse des alltäglichen Lebens das Handlungssubjekt dazu, als radikal freies Handlungssubjekt entscheidend und handelnd fortzufahren. 211 Es scheint nach Strawson so, dass in diesem Beispiel die Annahme über das Zutreffen des Determinismus oder die Annahme über die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung auf unbehagliche Weise mit einer unveränderten Vorstellung des Selbst verbunden ist, und dass diese Verbindung eine völlige Lähmung („a total paralysis“212) alles zweckbestimmten Denkens, wie es für gewöhnlich gedacht und erfahren wird, hervorrufen kann. Die Situation so zu erfahren, würde nicht bedeuten, den fatalistischen Fehler zu begehen, sondern 206 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 87. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 113 (Originalausgabe: 174). Kant führt zur Erklärung seines Vergleichs mit einem Bratenwender weiter aus: „der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 113 (Originalausgabe: 174)). 208  I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 112 (Originalausgabe: 172). Vgl. zu diesem Verständnis von Freiheit weiterhin bei Kant: „Blendwerk“ (I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 110 (Originalausgabe: 168) und im Hinblick auf einen drohenden infiniten Regress: „[S]o würde die Freiheit nicht zu retten sein. Der Mensch wäre Marionette oder ein […] Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf zwar innerlich sind, die letzte und höchste aber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird“ (I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 117 (Originalausgabe: 181)). 209  G. E. M. Anscombe: „Causality and Determinination“, 146. 210  D. Davidson: „Freedom to act“, in: T. Honderich (Hg.): Essays on Freedom of Action, London 1973, 137–156, hier: 141. S. auch Abschnitt 3.3.1. Zitiert bei Strawson: G. Strawson: Freedom and Belief, 87. 211 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 88. 212  G. Strawson: Freedom and Belief, 88, Herv. i. O. 207 

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

würde bedeuten, den Konflikt zwischen dem Zutreffen des Determinismus und unserer gewöhnlichen Vorstellung von Freiheit auf besonders anschauliche Art zu erfahren. Dies gilt Strawsons Sicht zufolge natürlich insbesondere, wenn es sich um moralisch relevante Entscheidungen handelt. 213 Es existieren Strawson zufolge viele kompatibilistische Möglichkeiten, sich über Nachdenken und Handeln Gedanken zu machen und Theorien zu entwerfen. Doch daraus folgt für Strawson keineswegs, dass der dargestellte Zusammenhang nicht korrekt wäre als Theorie darüber, welche Folgen sich für einen gerade „flügge“ gewordenen, nachdenkenden, seine inkompatibilistischen Intuitionen anerkennenden Deterministen ergeben, wenn er das Zutreffen des Determinismus und die Unmöglichkeit seiner radikalen Selbstbestimmung mit sich selbst in Verbindung bringt. 214 Erfahrene, tief überzeugte philosophische Kompatibilisten haben Strawsons Einschätzung nach die größten Schwierigkeiten damit, dem dargestellten Zusammenhang zuzustimmen. Strawson schlägt ihnen vor, sich mit folgendem Beispiel einer Entscheidung auseinanderzusetzen: Wenn ein Handlungssubjekt zustimmt, sich 20 Jahre lang einer Folter zu unterwerfen – einer so unermesslich schrecklichen Folter, dass keinerlei Spielraum für moralische Selbstgefälligkeit bleibt – kann dieses Handlungssubjekt zehn andere Personen vor genau demselben Schicksal bewahren. Wie soll sich das Handlungssubjekt entscheiden? Dieses Beispiel erscheint von Strawson so konstruiert, dass daran der springende Punkt des von ihm als gewöhnlich erachteten Freiheitsverständnisses deutlich wird: Die Entscheidung hängt letztlich offenbar in radikaler, inkompatibilistisch zu deutender Weise vom Handlungssubjekt selbst ab. 215 Die zweite Reaktionsmöglichkeit, die Strawson als mögliche Reaktion eines inkompatibilistische Intuitionen anerkennenden Handlungssubjekts, das sich des Zutreffens des Determinismus und der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung bewusst wird, anspricht, geht nicht mit der für die erste Reaktionsmöglichkeit charakteristischen inneren Uneinigkeit einher. Das Handlungssubjekt der zweiten Reaktionsmöglichkeit hört schlicht damit auf, davon auszugehen, dass gezielte moralische reaktive Haltungen und Gebräuche des Lobens und Tadelns gerechtfertigt und angemessen sind. Und dass es diese Ansicht verliert, mag auch verursachen, dass es aufhört, sich zum Loben und Tadeln bewegen zu lassen. Im Allgemeinen mag die Ansicht, dass alles deterministischen Voraussetzungen unterliegt, bei einem sehr reflektierten Handlungssubjekt dazu führen, dass es verstärkt objektive Haltungen einnimmt und dabei versucht, sein eigenes aktives Agieren möglichst stark zu reduzieren. Und dies mag 213  In moralischen Kontexten wird Strawsons Vorstellung von letztgültiger Verantwortlichkeit in besonderer Weise nachvollziehbar. Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 88. S. ebenfalls o. Abschnitt 3.3.1. 214 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 88. 215 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 88 f.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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der Fall sein, obwohl es nicht das Gefühl hat, dass seine Lebensqualität infolgedessen leidet. Denn zugleich können die moralischen und nicht-moralischen reaktiven Haltungen dieses Handlungssubjekts recht unbeeinflusst bleiben von seiner neuen Annahme. Dies ist unter Voraussetzung seiner natürlichen starken Bindung an das Selbstverständnis eines radikal unabhängigen Selbst auch nicht verwunderlich. 216 Strawsons Ansicht zufolge stellt diese zweite Reaktionsmöglichkeit den gewöhnlichen Fall eines die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen anerkennenden Handlungssubjekts dar, das das Zutreffen deterministischer Voraussetzungen und die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung bewusst auf sich bezieht. Nicht die erste Reaktionsmöglichkeit, die durch dauerhafte innerliche Hin- und Hergerissenheit charakterisiert ist, gilt es als Normalfall anzunehmen, obwohl dies die konsequente, der Reflexion über die Situation verhaftet bleibende Reaktion darstellt. 217 Stellt die zweite Reaktionsmöglichkeit den Regelfall dar, so hängt damit natürlich zusammen, dass die Handlungssubjekte der zweiten Möglichkeit zutiefst inkonsistent sind bezüglich ihrer Vorstellung über Freiheit und Handlungsfähigkeit und ihrer Vorstellung des Selbst. Und dies erachtet Strawson grundsätzlich für nicht verwunderlich: „We are all effortlessly capable of the magnificent inconsistency of beliefs and attitudes that this appears to involve.“218

Diese von Strawson erkannte Inkonsistenz im eigenen Freiheitsverständnis vieler Handlungssubjekte drückt er an anderer Stelle folgendermaßen aus: „Our apparently unrenounceable commitment to this general conception [sc. of ourselves as free in the strong sense] coexists with our everyday employment of notions that can quickly furnish a clear proof that such freedom is not possible. It appears that we tolerate some very deep inconsistencies in this area, and that our general conception or experience of ourselves as free has many highly diverse and indeed incompatible aspects.“219

Wie diese Ausführungen deutlich werden lassen, zeigt sich die Vorstellung des Selbst und der Freiheit in ihrer Wesensart in vielerlei Hinsicht zutiefst von inkompatibilistischen Intuitionen geprägt. So ergibt sich, ausgehend von der kognitiven Phänomenologie des Selbst, eine vertiefte Argumentation gegen die Position, inkompatibilistische Intuitionen und in ihrer Reflexion radikale Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik als irrelevant zurückzuweisen. Indem Strawson nun die zuletzt ausgeführte, zweite Reaktionsweise eines die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen anerkennenden Handlungssubjekts, das sich deterministischer Voraussetzungen bewusst wird, weiterführt, argumen216 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 89. G. Strawson: Freedom and Belief, 89. 218  G. Strawson: Freedom and Belief, 89. 219  G. Strawson: Freedom and Belief, 26. 217 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

tiert er bemerkenswerterweise auch für die prinzipiell nachvollziehbare Plausibilität der gegenteiligen Position – der Position, dass inkompatibilistische Intuitionen und radikale Selbstbestimmung keine relevante Rolle für das Freiheitsverständnis spielen. Strawson erkennt, dass sich die Vorstellungen des Selbst und der Freiheit auf natürliche Weise in ihrer Wesensart in vielerlei Hinsicht zweifellos auch kompatibilistisch darstellen. Und diese Art von natürlichem Kompatibilismus („natural compatibilism“)220 stellt Strawson zufolge auch einen wichtigen Aspekt dessen dar, was unserer Bindung an die Ansicht, radikal frei zu sein, zugrunde liegt. 221 Eine Darstellung der wesentlichen Momente des natürlichen Kompatibilismus finden sich laut Strawson zunächst bei David Hume222 und auch andere Kompatibilisten nach ihm haben viele weitere Momente aufgezeigt, unter ihnen beispielsweise Daniel Dennett223. Die Grundidee des natürlichen Kompatibilismus formuliert Strawson folgendermaßen: Was viele Aspekte unserer allgemeinen Vorstellung von uns selbst als freie Handlungssubjekte betrifft, sind wir nicht geneigt zu glauben, dass sie durch das Zutreffen des Determinismus oder durch die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung in irgendeiner Weise in Frage gestellt wären. 224 Als ein erster Punkt zeigt sich nach Strawson, dass viele Menschen auf natürliche Weise vorphilosophisch dazu geneigt sind, Ausführungen darüber zu akzeptieren, dass ihre Beschaffenheit so, wie sie sich darstellt, schlicht jede Form von Selbstbestimmung im eigentlichen Sinn ausschließt. Darüber hinaus können viele leicht dazu gebracht werden, einzusehen, dass Selbstbestimmung im eigentlichen, radikalen Sinn nicht wirklich möglich ist. Dies zu behaupten, scheint in Widerspruch zu dem zu stehen, was Strawson zuvor hinsichtlich der natürlichen Ansicht über das Selbst ausgeführt hat. Strawson erkennt diesen Widerspruch jedoch in unserer Sicht über uns selbst, nicht in der Ausführung, die er über die Sicht über uns selbst gegeben hat. Eine Inkonsistenz in der Sicht über Freiheit, wie sie der dargestellten Inkonsistenz der zweiten Reaktionsmöglichkeit entspricht, sieht Strawson als Ursache dafür, dass kompatibilistische Konzepte oft als hinreichende Freiheitskonzepte erachtet werden:225 „Many people accept that they are, ultimately, entirely determined in all aspects of their character by their heredity and environment. But it follows from this that, whether the heredity-and-environment process that has shaped them is deterministic or not, they cannot themselves be truly or ultimately self-determining in any way. And yet they do not 220 

G. Strawson: Freedom and Belief, 90, Herv. i. O. G. Strawson: Freedom and Belief, 90. 222 Vgl. D. Hume: An Enquiry concerning Human Understanding. 223  Vgl. D. Dennett: Elbow Room, in deutscher Übersetzung: D. Dennett: Ellenbogenfreiheit. Die wünschenswerten Formen von freiem Willen, 2. Aufl., Weinheim 1994. 224 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 91. 225 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 91. 221 Vgl.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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feel that their freedom is put in question by this – even though they naturally conceive of themselves as free in the ordinary, strong, true-responsibility-involving sense. To this extent they are natural compatibilists. This is a very common position.“226

Strawson spricht den möglichen Einwand an, dass natürliche Kompatibilisten wohl nicht besonders viel über ihre Situation nachgedacht haben. Das mag einerseits wahr sein. Doch es gibt andererseits Strawson zufolge eine große Zahl äußerst reflektierter und intelligenter Menschen, die natürliche Kompatibilisten in exakt dieser Weise sind. Dabei zeigen nach Strawson eben jene, die als Philosophinnen und Philosophen immer wieder eine kompatibilistische Strategie vertreten, jene, die betonen, dass unsere gewöhnliche, starke Vorstellung von Freiheit unmöglich zu verteidigen ist, unverkennbar im Alltagsvollzug ihres Lebens auf, dass sie genau diese Position einer starken Vorstellung von Freiheit besitzen.227 Hinzu kommt, so Strawson, dass wir als menschliche Handlungssubjekte nicht dazu tendieren, anzunehmen, dass wir uns zum einen hinsichtlich unserer Überzeugungen bzw. hinsichtlich des Inhalts unserer Überzeugungen radikal selbstbestimmen können, da wir, wie oben gezeigt wurde228, schlicht wünschen, dass unsere Überzeugungen in zuverlässiger Weise determiniert sind. Wir tendieren auch nicht dazu, anzunehmen, dass wir uns zum anderen hinsichtlich unserer Wünsche bzw. generell hinsichtlich all der Dinge, die keine Überzeugungen sind und die unsere Handlungen motivieren, radikal selbstbestimmen können. Wie Strawson wiederholt deutlich macht, besitzen Handlungssubjekte durchaus die Möglichkeit, ihre Ansichten und Charakterzüge zu entwickeln, doch sie nehmen dabei hinreichend wahr, dass dies aufgrund der Motivation durch bestimmte Wünsche und Einstellungen, die bereits vorliegen, geschieht oder auch aufgrund bestimmter bereits vorliegender Überzeugungen darüber, was richtig und falsch ist. 229 Einen wesentlichen Grund dafür, warum radikale Selbstbestimmung allgemein leicht als unmöglich angesehen und ebenfalls als unnötige Forderung an das Freiheitsverständnis aufgefasst wird, erkennt Strawson auch in der unzureichend reflektierten Auffassung über das gewöhnliche Freiheitsverständnis. Nach diesem Freiheitsverständnis, das sich dem Ergebnis seiner kognitiven phänomenologischen Untersuchung nach im Bild eines unabhängigen Selbst zeigt, geht ein Handlungssubjekt davon aus, hinsichtlich seiner Entscheidungen und Handlungen stets radikal anders entscheiden zu können: „It is true that one reason why we feel that this impossibility poses no threat to freedom is that we naturally credit ourselves with an incompatibilistically conceived power of free 226 

G. Strawson: Freedom and Belief, 91. G. Strawson: Freedom and Belief, 91. 228 S. o. Abschnitt 3.3.2. 229 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 91. 227 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

decision that we see as rendering us somehow independent of our ultimately non-self-determined beliefs, desires, and so on.“230

In Hinsicht auf einen Wunsch, eine Vorliebe oder eine Einstellung, die menschliche Handlungssubjekte zu einem gewissen Zeitpunkt verspüren, gehen sie in der Regel nicht im Mindesten davon aus, ihre Urheber zu sein. Die unreflektierte Einstellung gegenüber einem Wunsch ist nach Strawson die, dass dieser Wunsch einfach da ist. Man entscheidet sich nicht für seine Wünsche und man kann sich auch gar nicht für sie entscheiden. Und man braucht sich auch nicht für sie zu entscheiden, damit man frei sein kann, wenn man durch sie bewegt wird oder damit sie die eigenen Wünsche sind. Die Wünsche werden allgemein als vorhanden wahrgenommen. Sie gehören zur Persönlichkeit des Handlungssubjekts – und seine persönliche Beschaffenheit ist so gegeben, wie sie eben gegeben ist: „[I]t remains true that many desires are in an important sense apprehended by us as just being there; as being in a sense external to the mental self that confronts them. And it remains true that their just-thereness is not seen as posing any sort of threat to freedom.“231

Es erscheint Strawson zufolge nun verständlich, warum viele Menschen einer Philosophin oder einem Philosophen sorglos begegnen, der ihnen ihre Unfreiheit dadurch begründen will, dass er ihnen die Determiniertheit ihrer Wünsche aufzeigt, die nicht in einem Prozess radikaler Selbstbestimmung entstanden sein können. Die Menschen haben Strawson zufolge überhaupt noch nie daran gedacht, dass ihre Wünsche Ergebnis ihrer radikalen Selbstbestimmung sein müssten, um ihre eigenen Wünsche zu sein oder um dafür qualifiziert zu sein, sie in ihren Entscheidungen und Handlungen so zu bewegen, dass sie frei entscheiden und handeln können. 232 Sie geben sich daher auch mit kompatibilistischen Erklärungen ihrer Verantwortlichkeit, die radikale Selbstbestimmung für nicht relevant halten, leicht zufrieden: „[W]e also naturally accept that explanations in terms of ultimately non-self-determined beliefs and desires can be full explanations of our actions, without our freedom being threatened; and it is this that makes it reasonable to see the present point about beliefs and desires as illustrating part of our natural compatibilism.“233

Dass es berechtigte Gründe gibt, von einem natürlichen Kompatibilismus auszugehen, hält Strawson für unbenommen. Eine Selbstbestimmung als Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit, die sich an vorfindlichen Wünschen und Überzeugungen orientiert, ist unbestreitbar. Grundlegend deutet Strawson den Kompatibilismus wie folgt: 230 

G. Strawson: Freedom and Belief, 92, Herv. i. O. G. Strawson: Freedom and Belief, 93. 232 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 93. 233  G. Strawson: Freedom and Belief, 92, Herv. i. O. 231 

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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„Behind the whole compatibilist enterprise lies the valid and important insight that, from one centrally important point of view, freedom is nothing more than a matter of being able to do what one wants or chooses or decides or thinks right or best to do, given one’s character, desires, values, beliefs (moral or otherwise), circumstances, and so on. Generally speaking, we have this freedom. Determinism does not affect it at all, and it has nothing whatever to do with any supposed sort of ultimate self-determination, or any particular power to determine what one’s character, desires, and so on will be. It is true that the fact that we generally have this freedom provides no support for the idea that we are or can be ‚truly‘ self-determining in the way that still appears to be necessary for true responsibility. But we can indeed be self-determining in the compatibilist sense of being able by our own action, and in the light of our necessarily non-self-determined characters and desires, to determine to a very considerable extent what happens to us.“234

Kompatibilisten, die diese Art von Selbstbestimmung im Sinn von Freiwilligkeit betonen – zu ihnen gehört zweifellos Harry Frankfurt235 – sind Strawson zufolge in der Lage, eine wirkmächtige Frage zu stellen: Was sonst könnte man möglicherweise annehmen oder in reflektierter Weise fordern, was Freiheit anderes sein könnte oder sein sollte als diese Art von Selbstbestimmung? Indem diese Frage, wie auch im vorangegangenen Kapitel bei Frankfurt deutlich wurde236, als rhetorische Frage formuliert wird, kann der Kompatibilismus mit einer immunisierend wirkenden Strategie überzeugend wirken. Der bekannte inkompatibilistische Einwand bleibt nichtsdestotrotz davon unberührt. Strawson zufolge leistet kompatibilistische Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit nichts, was begründen könnte, warum Handlungssubjekte für ihre Handlungen, insbesondere in moralischer Hinsicht, letztgültig verantwortlich sind. Freiheit im Sinn einer kompatibilistischen Selbstbestimmung wie jene Frankfurts liefert Strawson nach ferner auch keinen Grund, davon auszugehen, dass Handlungssubjekte in der Weise frei und letztgültig verantwortlich sein können, dass reaktive Haltungen gegenüber anderen Handlungssubjekten vollständig angemessen erscheinen können. 237 Nichts scheint es zu geben, was radikale Selbstbestimmung ermöglichen könnte – „[b]ut this still seems to be what we want“238. Der zentrale Kern der Bindung eines Handlungssubjekts an die Vorstellung menschlicher Freiheit liegt Strawsons Urteil nach in der Einstellung und Erfahrung des Handlungssubjekts sich selbst gegenüber:

234 

G. Strawson: Freedom and Belief, 94, Herv. i. O. Strawson erkennt in Frankfurts Auffassung eine anschauliche Dramatisierung gewisser einzelner Aspekte der kognitiven Phänomenologie der Freiheit, die sich letztlich als ungeeignet erweist, Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn zu begründen: „From the present perspective his [sc. Frankfurt’s] theory is most usefully seen as a vivid dramatization of certain aspects of the ‚cognitive phenomenology‘ of freedom, for it is inadequate as an account of true responsibility“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 47, Anm. 45). 236 S. o. Abschnitt 2.2 und 2.3. 237 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 94. 238  G. Strawson: Freedom and Belief, 94. 235 

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

„The notion is integral to one’s deepest sense of oneself as a self-determining planner and performer of action, someone who can create things, make a sacrifice, do a misdeed.“239

Menschliche Handlungssubjekte verbringen ihre Zeit mit einer mehr oder weniger kontinuierlichen und so gut wie vollkommen erfolgreichen, selbst die Richtung bestimmenden, zielorientierten Aktivität und sie sind sich darüber bewusst. Die Mehrheit der Handlungen sind Routine oder trivial und werden mehr oder weniger überlegt ausgeführt. Doch dies verringert Strawson zufolge keineswegs die Wichtigkeit der Erfahrung ihrer Ausführung als Quelle der gewöhnlich vorhandenen Vorstellung, zu Selbstbestimmung fähig zu sein. 240 Selbst wenn Handlungssubjekte ihre Ziele nicht immer erreichen, wenn sie handeln, so führen sie doch beinahe immer eine Bewegung von der Art aus, die sie auszuführen anstreben, und in diesem entscheidenden Sinn, entscheidend für die Vorstellung von selbstbestimmter Selbstkontrolle, sind sie so gut wie immer erfolgreich in ihren Handlungen. Strawson erkennt darin den Grund für die Vorstellung von Handlungsfreiheit, die Vorstellung vollständiger Selbstkontrolle bzw. die Vorstellung von damit verbundener Verantwortlichkeit. Dieser Vorstellungszusammenhang ist kompatibilistisch beschreibbar und stellt vom kompatibilistischen Standpunkt aus keine Besonderheit dar. Er bleibt von Argumenten gegen letztgültige Verantwortlichkeit, die auf der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung basieren, unberührt. Doch Strawson erkennt genau in dieser Vorstellung von kompatibilistischer Freiheit die Grundlage dafür, auch zur Bedingung letztgültiger Verantwortlichkeit bzw. radikaler Selbstbestimmung zu gelangen. 241 „[I]t is precisely this compatibilistically speaking unexceptionable sense of freedom and efficacy that is one of the fundamental bases of the growth in us of the compatibilistically speaking impermissible sense of true responsibility.“242

Hier erweist sich die Stärke der Argumentation Strawsons: Sie liegt schließlich darin, dass Strawson sein Verständnis von natürlichem Kompatibilismus auf dieselbe Grundlage zurückführt wie sein Verständnis der von ihm nun als natürlichen Inkompatibilismus bezeichneten Haltung, die, wie vielfach bereits deutlich geworden ist, die Grundlage seiner Argumentation für die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis darstellt. Denn so gelingt Strawson eine grundsätzliche Deutung der Freiheitsproblematik. Er beschreibt als typische Komplikation der Phänomenologie der Freiheit den Sachverhalt, dass das unabhängige Selbst sowohl mit kompatibilistischen als auch mit inkompatibilistischen Intuitionen im Zusammenhang stehen kann. Der Verweis auf das übliche Selbstbewusstsein menschlicher Handlungssubjekte im 239 

G. Strawson: Freedom and Belief, 95. G. Strawson: Freedom and Belief, 95, Anm. 24. 241 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 95. 242  G. Strawson: Freedom and Belief, 95, Herv. i. O. 240 Vgl.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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Sinn eines unabhängig agierenden Selbst kann Strawson zufolge beide Grundrichtungen der analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte plausibel erscheinen lassen. 243 Strawson beschreibt die Beobachtung eines zweijährigen Kindes, das seine Glieder vollständig kontrolliert und mit ihnen unternimmt, was es will.244 In diesem Maß ist dieses Kind vollständig, entsprechend des kompatibilistischen Verständnisses, frei zu handeln. Strawson erkennt nun eine der wichtigsten Tatsachen über die Entstehung und Macht des gewöhnlichen, starken Verständnisses von Freiheit darin, in Hinsicht auf dieses Kind wahrzunehmen, dass in exakt der unablässigen Erfahrung der Selbstkontrolle die tiefste Grundlage für die natürliche inkompatibilistische Vorstellung von letztgültige Verantwortlichkeit einschließender Selbstbestimmung besteht – „to realize that it is precisely such unremitting experience of self-control that is the deepest foundation of our naturally incompatibilistic sense of true-responsibility-entailing self-determination“245.

Einen der Gründe, warum wir als Handlungssubjekte von der kompatibilistisch gesehen „erlaubten“ zur „unerlaubten“ Vorstellung über Freiheit vordringen, findet Strawson bei Spinoza, der darauf hingewiesen hat, dass sich Handlungssubjekte der Ursachen ihrer Wünsche nicht bewusst sind. Folglich machen Handlungssubjekte in der Regel überhaupt keine Erfahrung hinsichtlich der Determiniertheit ihres Charakters, ihrer Wünsche oder ihrer Einstellungen: „We don’t think back behind ourselves as we now find ourselves“246. Strawson räumt ein, dass es dennoch vorkommen mag, dass man hinter sich selbst zurück denkt. Dann jedoch, wenn ein bestimmter Wunsch in seiner Aufdringlichkeit, seiner Fremdheit erfahren wird, indem er sich von außerhalb des Selbst, wie es beschaffen ist, zeigt, führt dies als Kontrastierung wahrscheinlich nur dazu, das allgemeine Verständnis über die Nicht-Determiniertheit der eigenen Wünsche und Einstellungen zu verstärken. Denn wird ein Wunsch als aufdringlich und ungewollt erfahren, dann muss bereits ein weiterer Wunsch oder eine weitere Einstellung vorausgesetzt werden, in dessen bzw. deren Licht der erste Wunsch als aufdringlich und ungewollt erscheint. Und der zweite Wunsch oder die zweite Einstellung wird dann vermutlich nicht als Zumutung oder als fremd erfahren, sondern als Wunsch, mit dem sich das Handlungssubjekt identifiziert und den es als Teil von sich selbst versteht, das heißt, den es duldet. 247 243 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 93. G. Strawson: Freedom and Belief, 95 f. Dieses Beispiel findet sich ebenfalls in: G. Strawson: „The Bounds of Freedom“, 455, Anm. 32. 245  G. Strawson: Freedom and Belief, 95, Herv. i. O. 246  G. Strawson: Freedom and Belief, 96. 247 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 96. 244 Vgl.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

An dieser Stelle läuft laut Strawson der natürliche inkompatibilistische Gedanke der natürlichen kompatibilistischen Akzeptanz des schlichten Daseins der Wünsche zuwider. Denn obwohl es unwahrscheinlich erscheint, eine ausdrückliche Vorstellung darüber zu besitzen, dass man in irgendeiner Weise aktiv selbstbestimmend hinsichtlich des eigenen Charakters sein kann, scheint nichtsdestotrotz eine implizite Vorstellung darüber zu existieren, dass man sich im Allgemeinen in Kontrolle darüber befindet, wie man beschaffen ist, und dass man hinsichtlich dieser Beschaffenheit ansprechbar ist. Dies gilt nach Strawson vielleicht sogar hinsichtlich derjenigen Aspekte des eigenen Charakters, die man ausdrücklich nicht mag. 248 Strawson will diese Beobachtung anhand des Verständnisses von Sünde belegen. Menschen, die sich selbst als Sünderin bzw. als Sünder sehen, erleben ihr Schuldgefühl oft nicht allein aufgrund der Tatsache, dass sie sich gegenüber den schlechten Aspekten ihres Charakters geschlagen gegeben haben, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie diese schlechten Aspekte des Charakters überhaupt besitzen. 249 Für die Einstellungen bzw. Charakteraspekte, mit denen man sich identifiziert, scheint Strawsons Ansicht zufolge zu gelten, dass eine Art „gespensterhafter“ Konditionalsatz die eigene Einstellung zu diesen Eigenschaften begleitet: Wenn, was unmöglich ist, ich dazu fähig wäre oder dazu fähig gewesen wäre, meinen Charakter zu wählen, wären genau dies die Eigenschaften, die ich wählen würde oder gewählt hätte. Dies trägt nach Strawson erheblich dazu bei, von der kompatibilistischen Sicht auf Freiheit zu der aus kompatibilistischer Perspektive unerlaubten, inkompatibilistischen Sicht fortzuschreiten. 250 Indem Strawson dies behauptet, will er nicht abstreiten, dass Menschen gelegentlich – oder auch chronisch – von ihrem Selbst abgestoßen sein können. Hier existieren viele Komplikationen, derer sich Strawson bewusst ist. Er erwähnt in diesem Zusammenhang Harry Frankfurts Arbeiten, die sich teilweise mit genau diesen Komplikationen auseinandersetzen.251 Einen noch wichtigeren Grund für das Vordringen vom „erlaubten“ zum „unerlaubten“ Freiheitsverständnis erkennt Strawson schließlich in der Wesensart der Erfahrung des Entscheidens:

248 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 96. G. Strawson: Freedom and Belief, 96, Anm. 25. 250 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 96. 251  G. Strawson: Freedom and Belief, 96, Anm. 27. Konkret erwähnt Strawson in Freedom and Belief die ersten fünf Aufsätze aus: H. Frankfurt: The Importance of what we care about, darunter insbesondere: „Freedom of the will and the concept of a person“ und „Three Concepts of Free Action“. Zu denken wäre freilich auch an H. Frankfurt: „The Faintest Passion“ aus Frankfurts zweitem Sammelband Necessity, Volition, and Love. 249 Vgl.

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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„It is simply that we are, in the most ordinary situations of choice, unable not to think that we will be truly or absolutely responsible for our choice, whatever we choose.“252

Strawson beschreibt den natürlichen Gedanken hinsichtlich des Entscheidens, der das Fortschreiten von einem kompatibilistisch gedeuteten zu einem inkompatibilistisch gedeuteten Freiheitsverständnis auf Grundlage der Vorstellung eines unabhängigen Selbst begründet, auf folgende Weise: Selbst wenn der Charakter des Handlungssubjekts als etwas erscheint, das tatsächlich als etwas Gegebenes – das Ergebnis der Vererbung und der Umwelteinflüsse oder Ähnliches – angesehen werden muss, weiß sich das Handlungssubjekt dennoch unter Voraussetzung der aktuellen Gegebenheit seiner Beschaffenheit dazu fähig, komplett frei und letztgültig verantwortlich zu entscheiden und folglich zu handeln. 253 „Certainly we do not ordinarily suppose that we have gone through some sort of active process of self-determination at some particular past time. Nevertheless it seems accurate to say that we do unreflectively experience ourselves rather as we would experience ourselves if we did believe that we had engaged in some such activity of self-determination.“254

Strawson räumt erneut viele Schwierigkeiten ein, die mit seiner Ansicht verbunden sind, ohne diese explizit auszuführen. Was ihm entscheidend erscheint, sind folgende drei Aspekte, die Gründe dafür darstellen, eine Entwicklung von der Vorstellung vollständiger Selbst-Kontrolle, die aus kompatibilistischer Sicht tadellos erscheint, hin zu der Vorstellung letztgültiger Verantwortlichkeit und radikaler Selbstbestimmung zu nehmen: 1) Menschliche Handlungssubjekte neigen dazu, zu glauben, dass sie einen Willen 255 im Sinn einer Fähigkeit zu entscheiden besitzen, der getrennt ist von allen bestimmten Motiven. 2) In allen gewöhnlichen Entscheidungssituationen gehen menschliche Handlungssubjekte davon aus, dass sie absolut frei sind zu entscheiden, was auch immer sonst der Fall sein mag (selbst wenn der Determinismus zutrifft). Dies 252  G. Strawson: Freedom and Belief, 97. Vgl. zur Unausweichlichkeit von Entscheidungen und Freiheit als „experiential fact“ auch G. Strawson: Freedom and Belief, 60. Vgl. ebenfalls G. Strawson: „Free Agents“, 367; G. Strawson: Art. „Free Will“, in: The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, 289. 253 Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 97. Strawson verweist hier erneut auf sein Beispiel der Entscheidung zwischen einem Kuchen und einer Spende. S. Abschnitt 3.3.1. 254  G. Strawson: Freedom and Belief, 97, Herv. i. O. 255  Strawson bemerkt an anderer Stelle: „To phrase things in terms of the will is to give a quasi-impersonal account of [the] fundamental feature of our experience of agency. In a way this is unnatural, and it may be better to say that the central phenomenological fact is rather that one is a law to oneself in being oneself a thing that is somehow over and above all one’s particular motives. After all, the will does not feature as a separate mental thing in one’s experience, separate from oneself. The basic belief is simply that I am, as a choosing and acting being, somehow autonomous whatever my given desires and motives in any particular case“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 58, Anm. 19, Herv. i. O.).

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

liegt allein an der Tatsache, dass menschliche Handlungssubjekte ihre Entscheidungssituation wahrnehmen. 3) In unklarer und ungeprüfter Weise neigen menschliche Handlungssubjekte dazu, sich selbst in gewisser Weise für ihre Beschaffenheit verantwortlich oder ansprechbar zu erachten. 256 Alle genannten drei Aspekte, die die Bedeutung letztgültiger Verantwortlichkeit unterstreichen, betreffen direkt die Selbsterfahrung eines Handlungssubjekts bzw. die Erfahrung seiner Handlungsfähigkeit als unabhängiges Selbst. 257 Sie lassen sich besonders, aber nicht ausschließlich angesichts besonders schwierig erscheinender Entscheidungssituationen nachvollziehen: „[T]hat may be produced by facing a dramatic conflict of duty and desire, or an important, life-determining choice between two very different morally neutral options which are in one’s opinion equally attractive all things considered – between which there is ‚nothing to choose‘.“258

Dass sowohl inkompatibilistische als auch kompatibilistische Intuitionen natürliche Phänomene darstellen, lässt zum einen vermuten, dass sich Diskussionen um die Freiheitsproblematik auch weiterhin ergeben werden 259 und zeigt zum anderen, dass die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen – und als Ergebnis der Reflexion über inkompatibilistische Intuitionen auch radikale Selbstbestimmung – wohl grundsätzlich nicht zurückgewiesen werden kann.260 256 Vgl.

G. Strawson: Freedom and Belief, 97. Strawson sieht eine Anzahl weiterer, vertrauter Aspekte, die menschliche Handlungssubjekte davon zurückhalten, sich selbst und die Welt unter deterministischen Voraussetzungen stehend zu erfahren, sodass ihre Vorstellung von Freiheit untergraben werden könnte – etwa die prinzipielle Unvorhersagbarkeit menschlicher Handlungen und Entscheidungen. Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 97, Anm. 28. 258  G. Strawson: Freedom and Belief, 99, Herv. F. D. Die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen lässt sich nach Strawson jedoch nicht grundsätzlich an der phänomenologischen Betrachtung schwieriger Entscheidungen beobachten, sondern lediglich an solchen schwierigen Entscheidungen, die für das Handlungssubjekt besondere Bedeutung haben und in denen keine Lösung der Schwierigkeit zu erwarten ist. Vgl. G. Strawson: Freedom and Belief, 99. 259  Mit Blick auf die Freiheitstheoriegeschichte bemerkt Strawson: „[C]ompatibilism and libertarianism cannot give us what we think or find we want – two millennia of debate give considerable support to the view that they cannot“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 62). 260  Dass die Begründung der Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen bei Strawson auf dem Hintergrund einer plausiblen Deutung der Freiheitsthematik erscheint, wird in Andreas Kleins Darstellung über Strawsons Freiheitstheorie nicht ersichtlich. Klein notiert, dass Strawson Kontrolle und Können „von vornherein inkompatibilistisch versteht“ bzw. dass Strawson hinsichtlich seiner Forderung nach causa sui zur Begründung von Verantwortlichkeit „keinen guten Grund beisteuern“ kann, sondern dass er „sich hier einfach traditionellen Argumenten“ anschließt (A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 312 f.). Entsprechend findet sich bei Klein auch keine Bezugnahme auf das sechste Kapitel von Freedom and Belief, das dem hier vorliegenden Abschnitt 3.4 wesentlich zugrunde liegt. 257 

3.4 Das unabhängige Selbst als Mittelpunkt der Phänomenologie der Freiheit

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Im Hinblick auf den aus gutem Grund anzunehmenden Fortbestand der Freiheitsdebatte zitiert Strawson André Gide, der La Bruyère wiedergibt: „Everything has been said before […] but since nobody listens we have to keep going back and beginning all over again“261. Strawson betont die im Basisargument ersichtliche Relevanz radikaler Selbstbestimmung, deren Anerkennung die Freiheitsdebatte seiner Ansicht nach in sinnvoller Art voran bringen ­w ürde. 262 Strawson weiß jedoch, dass der Anerkennung der Relevanz des Basisarguments stets der natürliche Kompatibilismus sowie Freiheitstheorien im Sinn eines unabhängigen Selbst gegenüberstehen, die beide in der Perspektive der kognitiven Phänomenologie der Freiheit auf starken Intuitionen gründen. Der Intuitionenkonflikt, der zu einer Wende oder zu einem Schwanken der Auffassungen führt, übernimmt nach Strawson die Funktion eines Perpetuum mobile. Diesem Perpetuum mobile verdankt sich Strawson zufolge der Fortbestand der Freiheitsdebatte: „It promises to provide a source of energy that will keep the free will debate going for as long as human beings can think.“263

Die Freiheitsdebatte selbst in ihrer Kontinuität stellt so letztlich den stärksten Grund dar für die Anerkennung der Relevanz inkompatibilistischer Intuitio261  Strawson führt dieses Zitat aus in: G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate ­Moral Responsibility“, 331, legt seine Quelle jedoch nicht offen. 262 Vgl. G. Strawson: „The Impossibility of Ultimate Moral Responsibility“, 331. Vgl. hierzu folgende beiden zentralen Aussagen: „It is certainly true that the claim that such self-determination is vital for freedom can look very odd. But it is also an extremely natural claim. It is at least as natural as it is odd“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 46); „[T]rue self-determination is both necessary for freedom and logically impossible“ (G. Strawson: Freedom and Belief, 48). 263  G. Strawson: Freedom and Belief, 40, Anm. 30, vgl. G. Strawson: Art. „Free Will“, in: The Shorter Routledge Encyclopedia of Philosophy, 294: „The debate continues; some have thought that philosophy ought to move on. There is little reason to expect that it will do so, as each new generation arises bearing philosophers gripped by the conviction that they can have ultimate responsibility“. Bezweifelt werden darf damit wohl auch, wenn Hirnforscherinnen und Hirnforscher eine grundlegende Veränderung im menschlichen Selbstverständnis infolge der Verbreitung ihrer Erkenntnisse über die Unmöglichkeit einer Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst erwarten. Entsprechend der Veränderungen durch die Kopernikanische Wende und die Darwinsche Evolutionstheorie erwägt etwa Wolf Singer, ob auch hinsichtlich der Selbstsicht der Menschen als unabhängig freie Handlungssubjekte „sich schließlich die naturwissenschaftlichen Beschreibungen gegen Überzeugungen durchsetzen, die auf unmittelbarer Wirklichkeitserfahrung beruhen“ und ob „wir uns schließlich an die neuen Sichtweisen gewöhnen“ (W. Singer: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2002, 76). Mit Strawson wäre demgegenüber zu urteilen, dass Menschen sich wohl nie ihres ureigensten Selbstverständnisses entwöhnen können. Vgl. weiterführend etwa auch E. Gräb-Schmidt: „Die Aufgabe der Verantwortung als Erfahrung der Freiheit. Ethische Überlegungen anlässlich des Illusionsverdachtes der Freiheit seitens der Hirnforschung“, in: T. Fuchs, G. Schwarzkopf (Hg.): Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?, 275–294.

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3. Galen Strawson und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

nen und – einen Reflexionsschritt weiter – der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik. Als bündiges Fazit dieses Kapitels lässt sich festhalten, dass Strawson für die Relevanz radikaler Selbstbestimmung hinsichtlich des Freiheitsverständnisses argumentiert und sich zugleich für die Anerkennung der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung stark macht. Dabei werden von ihm libertarische Strategien, Strategien im Sinn eines unabhängigen Selbst sowie kompatibilistische Strategien als Lösungen verworfen. Tatsächlich gilt es, Strawson hinsichtlich seiner Kritik der libertarischen Versuche, Freiheit zu begründen und der Versuche, Freiheit mit Hilfe eines unabhängigen Selbst zu erklären, eindeutig zuzustimmen. Hingegen gilt seine Kritik an kompatibilistischen Freiheitstheorien wohl nur dann, wenn der Kompatibilismus, wie Strawson dies grundsätzlich tut, mit einem kompatibilistischen Verständnis in der Art Frankfurts, das heißt in der Art, Freiheit als Freiwilligkeit zu deuten, gleichgesetzt wird. Am Ende dieser Untersuchung in Kapitel 7 wird schließlich ein Kompatibilismus beschrieben, der von Frankfurts Verständnis abweicht. Dabei wird, wie sich bereits annehmen lässt, die Frage nach einem solchen möglichen Kompatibilismus im Raum stehen, der inkompatibilistische Intuitionen zu berücksichtigen vermag.

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4. Zwischenfazit Es soll nun zusammenfassend Frankfurts und Strawsons Haltung zur Rolle radikaler Selbstbestimmung für die Freiheitsthematik betrachtet werden, das heißt zum einen die Stellungnahme zur Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung und zum anderen die Stellungnahme zur Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung. Schließlich gilt es hier auch zu fragen, welcher Position hinsichtlich der Möglichkeit und Wirklichkeit bzw. hinsichtlich der Relevanz radikaler Selbstbestimmung der Vorzug zu geben ist. In Kapitel 2 wurde deutlich, dass Frankfurt im Kontext seiner Überlegungen zu Identifikation von Handlungssubjekt und Willen sowohl hinsichtlich der Regressproblematik (Abschnitt 2.2) als auch hinsichtlich der Verantwortungsfrage (Abschnitt 2.3) jede Art inkompatibilistischer Freiheitstheorie und auch eine Theorie, die radikale Selbstbestimmung als notwendig anerkennt, als unmöglich zurückweist. In Kapitel 3 wurde deutlich, dass Strawson mit Hilfe des Basisarguments (Abschnitt 3.1) und im Kontext der Erklärung seiner Bedeutung (Abschnitt 3.2) sowie im Kontext der Erwiderung des Einwands, dass mit Hilfe des Indeterminismus radikale Selbstbestimmung möglich ist (Abschnitt 3.3.2), ebenfalls gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung argumentiert. So zeigt sich, dass sowohl Strawson als auch Frankfurt die Möglichkeit von Freiheitstheorien im Sinn radikaler Selbstbestimmung grundsätzlich zurückweisen. Zeigt sich bezüglich der Frage nach der Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung somit Einigkeit zwischen Frankfurt und Strawson, so stellt sich ihre Haltung hinsichtlich der Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik grundlegend unterschiedlich dar. Frankfurt argumentiert im Kontext der Darstellung seiner Freiheitstheorie des hierarchischen Wünschens (Abschnitt 2.1) sowie im Kontext der Frage nach Identifikation von Handlungssubjekt und Willen, sowohl hinsichtlich des Regressproblems (Abschnitt 2.2) als auch hinsichtlich der Verantwortungsfrage (Abschnitt 2.3), eindeutig gegen die Relevanz dieser Bedingung für die Freiheitsproblematik. Strawson dagegen setzt mit seinem Basisargument die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis voraus (Abschnitt 3.1) und begründet diese zunächst in der Erklärung der Bedeutung des Arguments (Abschnitt 3.2), sodann durch die Zurückweisung des kompatibilistischen Ein-

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4. Zwischenfazit

wands (Abschnitt 3.3.1) sowie in der Zurückweisung einer Freiheitstheorie im Sinn eines unabhängigen Selbst (Abschnitt 3.3.3). Schließlich finden sich diese Argumentationslinien in der phänomenologischen Analyse der Freiheitsproblematik grundlegend verankert und inhaltlich vertieft (Abschnitt 3.4). Hinsichtlich der Frage, ob radikale Selbstbestimmung möglich ist, scheint kein ernst zu nehmender Grund erkennbar, Frankfurt und Strawson zu widersprechen. Tatsächlich erscheint Frankfurts und insbesondere Strawsons ausführlich gestaltete Argumentation gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung überzeugend. Es konnte nicht deutlich werden, wie radikale Selbstbestimmung bei den eine inkompatibilistische Freiheitstheorie verfolgenden Vertreterinnen und Vertretern der Freiheitsdebatte durch indeterministische Elemente möglich sein könnte bzw. wie mit Hilfe des Indeterminismus oder in überhaupt irgendeiner angemessenen Weise der infinite Wünscheregress beendet werden sollte. Hinsichtlich der Frage, ob radikale Selbstbestimmung für die Freiheitsproblematik Relevanz besitzt, scheint prima facie eine Pattsituation zwischen Frankfurt und Strawson vorzuliegen. Beide Autoren rekurrieren auf nachvollziehbare Intuitionen über Verantwortlichkeit, Frankfurt im Wesentlichen auf „wholeheartedness“, Strawson auf „true self-determination“ bzw. „ultimate responsibility“, und begründen ausgehend von diesen Intuitionen unterschiedliche Positionen hinsichtlich der Frage, welches Freiheitsverständnis das allgemein übliche Verständnis darstellt. Es scheint vorstellbar, dass dieser Streit mit stets neuen, plausiblen Beispielen zum einen für die Frankfurt entsprechende kompatibilistische und zum anderen für die inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigende Position noch lange fortzusetzen wäre.1 Strawson gelingt es jedoch schließlich, die Pattsituation zu beenden und das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Dies wird maßgeblich durch seinen Vorschlag möglich, die Freiheitsproblematik insgesamt, ausgehend von der Intuition des sich radikal frei erfahrenden Selbst, aufzuschlüsseln und in ihrer Struktur zu entfalten. Frankfurts Haltung könnte auch an die Seite der Position von Moritz Schlick gestellt werden, der die Freiheitsproblematik als „Scheinproblem“ bezeichnet, das sich auf bestimmte „Verwechslungen“ und „Missverständnisse“ zurückfüh1 

Als entsprechender Intuitionenstreit deutet Richard Double die Debatte zwischen Galen Strawson und seinen kompatibilistischen Gegnerinnen und Gegnern: „Once again, the free will problem shows itself a standoff of intuitions about moral responsibility. Subjectivists explain this crucial disagreement between Strawson and the compatibilists in terms of the subjective nature of ,moral responsibility.‘ Both sides give a subjective term their idiosyncratic presuppositions and, thus, neither is right or wrong. So, subjectivism both makes its own objection to Strawson’s argument and explains the impasse between Strawson and his compatibilist critics“ (R. Double: „Metaethics, Metaphilosophy, and Free Will Subjectivism“, in: R. Kane (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will, Oxford 2002, 506–528, hier: 518).

4. Zwischenfazit

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ren lässt, welchen durch eine „bloße Analyse der Begriffe“2 beizukommen ist. Mit dieser klassischen kompatibilistischen Position muss dann wohl auch die Konsequenz gezogen werden, die Schlick zu Recht gezogen hat: Dem Fortbestand der Freiheitsdebatte bzw. der hartnäckigen Unverständigkeit der Diskussionsteilnehmerinnen und Diskussionsteilnehmer muss mit großer Verwunderung begegnet werden. Schlick hält es für einen „der größten Skandale der Philosophie, daß immer noch soviel Papier und Druckerschwärze an diese Sache verschwendet werden“3, wurde ihm zufolge doch in der Vergangenheit (beispielsweise bei Hume) schon alles Notwendige zur Lösung der Freiheitsproblematik gesagt. Diese Verwunderung4 muss mit Schlick jedoch nicht notwendig geteilt werden. Die Anerkennung der Analyse der Freiheitsproblematik, wie Strawson sie entfaltet, kann Schlicks Problematik auf überzeugende Weise klären: Die komplexen Kontroversen um die Freiheitsproblematik, die als Teil der scheinbar nicht substantiell voranschreitenden Freiheitstheoriegeschichte in immer neuen Auflagen beachtliche Mengen an Papier und Druckerschwärze verbrauchen, scheinen genug Anlass für die Annahme zu geben, dass inkompatibilistische Intuitionen nicht grundsätzlich zurückgewiesen werden können bzw. dass menschliche Handlungssubjekte sich naturgemäß im Sinn eines unabhängigen Selbst verstehen. Reflektiert eine Freiheitstheoretikerin oder ein Freiheitstheoretiker inkompatibilistische Intuitionen gründlich, kann er schließlich auch zur Anerkennung der notwendigen Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit gelangen. Ein Freiheit allein im Sinn von Freiwilligkeit deutendes Freiheitsverständnis bzw. ein Kompatibilismus, der freies Handeln und Entscheiden als freies Handeln und Entscheiden aus vorfindlichen Gründen versteht, vermag den fortwährenden Bestand der Freiheitsdebatte nicht zu erklären. Stattdessen wäre tatsächlich ein Ende der Freiheitsdebatte zu erwarten, wäre sie durch eine kompatibilistisch begründende Analyse im Sinn Frankfurts grundsätzlich lösbar. Es erscheint daher nicht plausibel anzunehmen, dass sich die Freiheitsproblematik hinreichend innerhalb eines solchen kompatibilistischen Rahmenver2 

M. Schlick: Fragen der Ethik, 105; 107. M. Schlick: Fragen der Ethik, 105. Vgl. eine ähnliche Position beispielsweise bei D. Davidson: „Freedom to Act“, in: T. Honderich (Hg.): Essays on Freedom of Action, London 1973, 137–156, in deutscher Übersetzung: D. Davidson: „Handlungsfreiheit“ (1973), in: Ders.: Handlung und Ereignis, übersetzt von J. Schulte, Frankfurt a.M. 1985, 99–124. 4  Frankfurt thematisiert diese Konsequenz – soweit ich sehe – nicht, obgleich sein kompatibilistisches Freiheitsverständnis ebenfalls dem Einwand ausgesetzt werden kann, den Fortbestand der Freiheitsdebatte nicht erklären zu können. In „The Faintest Passion“ anerkennt Frankfurt scheinbar, dass ein inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigendes Freiheitsverständnis als natürliches Freiheitsverständnis zu verstehen ist. Einfluss auf seine theoretische Bearbeitung der Freiheitsproblematik gewinnt diese Erkenntnis jedoch nicht, was letztlich unverständlich erscheinen muss. Vgl. H. Frankfurt: „The Faintest Passion“, 101: „[W]hat is the freedom of the will? A natural and useful way of understanding it is that he has whatever will he wants“. 3 

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4. Zwischenfazit

ständnisses darstellen lässt. Strawson bietet mit seinem Modell, das die Relevanz der inkompatibilistischen Intuitionen in der Spitze seiner Argumentation sogar durch die Plausibilisierung der möglichen Ablehnung dieser Intuitionen begründet5, ein Erklärungsmuster für das Wesen und den Fortbestand der Freiheitsdebatte. Mit diesem Vorschlag gelingt es Strawson so schließlich auch, die beiden klassischen Lager der analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte, den Kompatibilismus und den Inkompatibilismus, in einer Gesamtsicht der Freiheitsdebatte zu deuten und in ein Verhältnis zu setzen, das beiden Richtungen in ihrer jeweiligen intuitiven Plausibilität ein relatives Recht zubilligt. Von gleicher Bedeutung erscheint dieses jeweilige relative Recht jedoch natürlich nicht, da die inkompatibilistischen Intuitionen eines unabhängigen Selbst den Ausgangspunkt der Gesamtsicht darstellen. Erst so wird das Potential zur Deutung der Struktur der Freiheitsproblematik eröffnet. Im Rahmen kompatibilistischer Freiheitsmodelle im Sinn Frankfurts zeigt sich dieses Potential hingegen nicht und so kann hier stattdessen nur Verwunderung und Erstaunen angesichts der Unverständigkeit der Diskussionsteilnehmerinnen und Diskussionsteilnehmer bzw. angesichts der weiterhin andauernden Freiheitsdebatte zurückbleiben. Radikale Selbstbestimmung besitzt somit für das Freiheitsverständnis tatsächlich Relevanz, stellt sie doch den sinnvollen Reflex auf das natürliche Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst dar, das sich entsprechend unabstreitbarer inkompatibilistischer Intuitionen ergibt. Allerdings erweist sich radikale Selbstbestimmung insofern als unmöglich, als sie mit einem infiniten Regress einhergeht. Auf dem Hintergrund dieses Zwischenfazits, nach dem radikale Selbstbestimmung als unmöglich, aber relevant zu verstehen ist, folgt die Rekonstruktion des Freiheitsverständnisses bei Martin Luther. Dabei werden die Darstellungen des folgenden Kapitels das Ergebnis des Zwischenfazits schließlich bestätigen und darüber hinaus in seiner Plausibilität auch bestärken. Einige Bemerkungen zur im Folgenden gebrauchten Terminologie sollen der Rekonstruktion von Luthers Freiheitsverständnis vorausgehen. Diese Bemerkungen betreffen insbesondere das Vorgehen bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, ob Luther radikaler Selbstbestimmung Relevanz für das Freiheitsverständnis zumisst. Wie bereits an einigen Stellen deutlich wurde, sind dem Schema Kompatibilismus/Inkompatibilismus, so wie es in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte zumindest teilweise etabliert ist und wie es besonders in Strawsons Darstellung deutlich wurde, einige Unschärfen zu eigen. Auf diese gilt es hier zusammenfassend hinzuweisen: So wird Kompatibilismus zum einen oft mit dem schlichten Verständnis des Handelns bzw. Entschei5 S. o.

Abschnitt 3.4.

4. Zwischenfazit

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dens aus vorfindlichen Gründen identifiziert bzw. ein Kompatibilismus, der inkompatibilistischen Intuitionen gerecht zu werden vermag, nicht erwogen. Zum anderen werden Freiheitsvorstellungen im Sinn radikaler Selbstbestimmung und im Sinn eines unabhängigen Selbst oft als inkompatibilistische Freiheitstheorien bezeichnet, wobei diese Freiheitsvorstellungen sich wohl kompatibilistisch bzw. ohne das Postulat indeterministischer Ereignisse entfalten lassen. Allerdings – und darin gründen sich die Unschärfen – stehen die Freiheitsvorstellungen im Sinn eines unabhängigen Selbst und in deren Reflexion im Sinn radikaler Selbstbestimmung im Kontext von Intuitionen über radikale Spontaneität, die intuitiv mit dem Determinismus unvereinbar scheinen und daher sinnvollerweise als inkompatibilistische Intuitionen bezeichnet werden. Es ist auch unstrittig, dass bei prominenten Vertretern solche Theorien auf inkompatibilistische Theorien hinauslaufen. So etwa Robert Kanes Theorie radikaler Selbstbestimmung, wenn er quantenmechanischen Indeterminismus als Kernelement seines Konzeptes postuliert und so wohl auch bei Roderick Chisholm, dessen Akteurskausalität, wohl widerwillig, sich als inkompatibilistisch erweist (s.o. Abschnitte 3.3.2 und 3.3.3). Daher bezeichnen Strawson und andere Vertreterinnen und Vertreter der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte diese zwar eigentlich kompatibilistischen Theorien aufgrund der ihnen oft zu eigenen inkompatibilistischen Theorieelemente und der ihnen zweifellos eigenen inkompatibilistischen Intuitionen unscharf als „inkompatibilistische Theorien“. Von der Frage nach der Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen ausgehend erscheint es freilich naheliegend, Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung nicht den kompatibilistischen Freiheitstheorien zuzuordnen, obgleich dies begrifflich zweifellos naheliegend ist, da sie an sich keinen Indeterminismus postulieren. Entsprechend wird Frankfurts Kompatibilismus, der inkompatibilistischen Intuitionen keine Relevanz zumisst, im Folgenden nicht als Kompatibilismus, sondern als schlicht verstandener bzw. schlichter Kompatibilismus bezeichnet. Freiheitsvorstellungen im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung sind präzise formuliert hingegen nicht als inkompatibilistische Theorien, sondern als kompatibilistische Freiheitstheorien, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden, zu bezeichnen. Unter dem bei Strawson unscharf verstandenen „Kompatibilismus“ gilt es schlichten Kompatibilismus im oben beschriebenen Sinn zu verstehen. Was sich unter dem bei Strawson unscharf verstandenen „Inkompatibilismus“ verstehen lässt, muss folgendermaßen differenziert werden: Zum einen kann darunter tatsächlicher Inkompatibilismus verstanden werden, d.h. eine Freiheitstheorie, die Indeterminismus als notwendige Bedingung von Freiheit annimmt. Dabei wird dieser tatsächliche Inkompatibilismus auch inkompatibilistischen Intuitionen gerecht. Zum anderen können darunter auch nicht schlicht verstandene kompatibilistische Freiheitstheorien verstanden werden, die aber inkompatibilisti-

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4. Zwischenfazit

schen Intuitionen gerecht werden. Diese nicht schlicht verstandenen kompatibilistischen Theorien sind wie genannt etwa die Freiheitsvorstellung im Sinn eines unabhängigen Selbst und in deren Reflexion die Freiheitsvorstellung im Sinn radikaler Selbstbestimmung. Diese beiden Vorstellungen sind, wie Strawson deutlich machen konnte, an sich nicht konsistent zu begründen bzw. sie sind unmöglich – die Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst aufgrund der mit ihr nicht möglichen Erklärung von Handlungen und Entscheidungen aus Gründen eines Handlungssubjekts, die Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung aufgrund des infiniten Regresses. Zudem scheinen diese beiden Freiheitsvorstellungen – aufgrund ihrer intuitiven Zugehörigkeit zum Inkompatibilismus – auch mit dem Determinismus unvereinbar, während sie begrifflich mit dem Determinismus prinzipiell vereinbar sind. Strawsons Analyse der Freiheitsproblematik zufolge erscheint es sinnvoll, unter Heranziehung der Alternativen des schlichten Kompatibilismus und des gewissermaßen unscharfen Inkompatibilismus nach Luthers Verständnis der Relevanz radikaler Selbstbestimmung zu fragen. Der schlicht verstandene Kompatibilismus bestreitet die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis, während der unscharf verstandene Inkompatibilismus wie auch der tatsächliche Inkompatibilismus diese Relevanz – in Reflexion über die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen – anerkennt. Entsprechend soll nach Luthers Freiheitsverständnis im Kontext der Freiheitsvorstellungen Frankfurts und Strawsons gefragt werden: Vertritt Luther einen schlichten Kompatibilismus im Sinn Frankfurts? – Dann rechnet er radikaler Selbstbestimmung wohl keine Relevanz zu. Anerkennt Luther die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen im Sinn Strawsons? – Dann könnte bzw. müsste er radikaler Selbstbestimmung in Reflexion über diese inkompatibilistischen Intuitionen wohl durchaus Relevanz beimessen.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung Hinsichtlich des Freiheitsverständnisses bei Martin Luther1 erscheint es sinnvoll, zwei Perspektiven zu unterscheiden. Zum einen kann unter besonderer Berücksichtigung seiner Schrift De libertate christiana (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520) zu Recht das qualitative Verständnis von Freiheit darin gesehen werden, dass Luther den Menschen als frei bezeichnet, sofern er in seiner Beschaffenheit von Gottes Willen bestimmt ist. Zum anderen thematisiert Luther die Frage hinsichtlich der strukturellen Problematik des Freiheitsverständnisses, das heißt hinsichtlich der Frage, wie sich Freiheit und deterministische Voraussetzungen in Form von göttlicher Allwirksamkeit zueinander verhalten. 2 Diese zweite Perspektive ist diejenige, die auch von Frankfurt und Strawson bezüglich der Freiheitsproblematik eingenommen wird. In dieser Perspektive wird die Frage behandelt, wie Freiheit in ihrer formellen Gestalt angemessen zu verstehen ist. Blickt man auf Luthers Schriften, in denen er sich zu dieser strukturellen Freiheitsproblematik äußert, bietet sich an, die bereits für Frankfurts und Strawsons Beiträge gewählte Fragestellung, welche Rolle radikale Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis spielt, auch als Leitfaden der Darstellung der lutherischen Schriften zu wählen.3 Die Quellen zeigen, dass Luther sich durchaus intensiv der strukturellen Problematik des Freiheitsverständnisses zuwendet. So befasst er sich mit diesem Themenkomplex von den frühen Disputationen an bis zu den Schriften aus später Zeit wie etwa der Großen Genesisvorlesung. Zeigt sich Luthers Freiheitsverständnis in seiner frühesten Zeit, wie sich anhand der Randbemerkungen zu den Sentenzen des Petrus Lombardus erkennen lässt, zwar noch der scho1 S. als übersichtlichen Einstieg zur neueren Lutherforschung V. Leppin: „Von der Renaissance zur neuen Nüchternheit?“ Lutherforschung im 20. Jahrhundert, in: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 75 (2004), 69–80; V. Leppin: „III. Lutherforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts“, in: A. Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, 19–34. 2  Diese Differenzierung beschreibt entsprechend Wilfried Joest, wenn er einen „formalen Sinn“ und einen „qualifizierten Sinn“ von Freiheit bei Luther unterscheidet. Vgl. W. Joest: „Die Freiheit in Luthers Verständnis des Menschen“, in: Kerygma und Dogma 29 (1983), 127–138, hier: 132. 3  Zur grundsätzlichen Vorgehensweise anhand der Leitfragen nach Relevanz und Möglichkeit bzw. Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung s. Kap. 1.

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lastischen Tradition verbunden,4 so lässt sich seit 1516 eine Position erkennen, welche die Wirklichkeit einer Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung bestreitet. Bereits in Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia disputata (Disputationsfrage über die Kräfte und den Willen des Menschen ohne Gnade, 1516) und in der Disputatio contra scholasticam theologiam (Disputation gegen die scholastische Theologie, 1517) finden sich – wohlgemerkt nicht im Sinn einer kohärenten Stellungnahme zur Frage nach dem Freiheitsverständnis – einige Grundelemente der Freiheitsvorstellung, die Luther in der Disputatio Heidelbergae habita (Heidelberger Disputation, 1518) und in der Assertio omnium articulorom Martini Lutheri (Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, 1520) in einer zusammenhängenden Darstellung entfaltet. Schließlich bietet vor allem Luthers Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam von 1525 De servo arbitrio (Vom unfreien Willen) die umfassendste Quelle zur Beschreibung seines Verständnisses der strukturellen Freiheitsproblematik. Daneben bieten u.a. auch die Psalmenvorlesung (1513–1515) und die Römerbriefvorlesung (1515–1516) sowie aus späterer Zeit die Disputatio D. Martini Lutheri de homine (Disputation D. Martin Luthers über den Menschen, 1536) und die bereits erwähnte Große Genesisvorlesung (1535–1545) Aspekte, die sich dieser Fragestellung zuordnen lassen, wenn auch in weniger breit angelegten und die Fragestellung nicht immer explizit behandelnden Ausführungen. Es liegt nahe, neben der zweifellos zentralen Quelle De servo arbitrio (Dsa), die den Schwerpunkt der folgenden Darstellung bilden wird, auch der Heidelberger Disputation und der Assertio eine gesonderte Betrachtung zukommen zu lassen, liegen dort doch ebenfalls zusammenhängende Darlegungen vor, die sich hinsichtlich der Fragestellung nach der Rolle der Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit bei Luther als ergiebig erweisen. Dagegen werden die weniger ausführlichen und mehr impliziten Charakter tragenden Auskünfte zur Thematik in den übrigen genannten Schriften nicht eigens dargestellt, sondern – insofern es gegeben erscheint – im Kontext der Gesamtdarstellung berücksichtigt. Diese Entscheidung bezüglich der Quellenauswahl erfolgt zum einen in der Absicht, eine der Fragestellung nach der Rolle radikaler Selbstbestimmung angemessene Darstellung Luthers zu ermöglichen und zum anderen dem Anliegen nachkommend, die Komplexität des Themas nicht noch zu verdichten. Die Darstellung erfolgt für alle drei Abschnitte – bezüglich Heidelberger Disputation, Assertio und Dsa – wie schon angedeutet grundsätzlich gemäß der Fragestellung, welche Rolle Luther radikaler Selbstbestimmung innerhalb der 4  Vgl. zu Luthers Zeit des Theologiestudiums etwa V. Leppin: Martin Luther. Gestalten des Mittelalters und der Renaissance, Darmstadt 2006, 52–56. Leppin konstatiert eine deutliche „Ferne zu anderen späteren Einsichten, wenn man die Rechtfertigungslehre und die mit ihr verbundene Anthropologie ansieht“ (V. Leppin: Martin Luther, 56).

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Freiheitsproblematik zuschreibt, das heißt, ob er radikale Selbstbestimmung für möglich oder wirklich hält bzw. ob und inwiefern sie für sein Freiheitsverständnis Relevanz besitzt. Als Ergebnis lässt sich vorwegnehmen, dass sich Luthers Verständnis mit Blick auf die Frage nach der Möglichkeit bzw. Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung sowohl Frankfurts als auch Strawsons gemeinsamer Position der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung zuordnen lässt. Grundsätzlich erweist sich Luthers Verständnis von arbitrium zweigeteilt: Einerseits kann Luther darunter Freiheit im Sinn des schlicht verstandenen Kompatibilismus verstehen, andererseits im Sinn einer Freiheitsvorstellung, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird. Die erste Freiheitsvorstellung erachtet Luther für möglich, die zweite für unmöglich. Damit ergibt sich, dass Luther wohl sämtliche inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werdenden Freiheitsvorstellungen für unmöglich hält – inkompatibilistische Freiheit zweifellos aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem in Gottes Allwirksamkeit begründeten Determinismus – kompatibilistische, jedoch inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werdende Freiheitsvorstellungen im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit, fehlenden Konsistenz bzw. auch aufgrund des infiniten Regresses. Er erachtet diese beiden Theorien jedoch ebenfalls aus dem Grund für unmöglich, da sie seiner Wahrnehmung nach mit dem Determinismus genauso unvereinbar sind wie tatsächliche inkompatibilistische Freiheitstheorien. Dies erscheint unter Maßgabe der Deutung der Freiheitsproblematik durch Strawson nicht verwunderlich, ergibt sich doch eine intuitive Plausibilität einerseits für schlicht-kompatibilistische Intuitionen und andererseits für inkompatibilistische Intuitionen. Diese letzteren inkompatibilistischen Intuitionen hängen sowohl mit inkompatibilistischen Freiheitsvorstellungen als eben auch mit kompatibilistischen Freiheitsvorstellungen, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden, wie Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung, zusammen. So erscheint einsichtig, warum Luther Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung nicht allein aufgrund der ihr eigenen Problematik, sondern auch aufgrund ihrer scheinbaren Unvereinbarkeit mit dem von Luther in Gottes Allwirksamkeit begründeten Determinismus als unmöglich erachtet. Im Kontext von Luthers Verständnis von arbitrium als inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigende Freiheit zeigen die Ausführungen Luthers insbesondere, dass er arbitrium zum einen als radikale Selbstbestimmung und zum anderen als Freiheitsvorstellung im Sinn eines unabhängigen Selbst deutet. Dabei scheint es, dass Luther sich über deren Zusammenhang, wie Strawson ihn beschreibt, im Klaren ist: Die Freiheitsvorstellung im Sinn radikaler Selbstbestimmung ergibt sich aus der Reflexion über die natürliche Freiheitsvorstellung im Sinn eines unabhängigen Selbst.

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Mit Blick auf die Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis könnte sich idealerweise zeigen, dass Luther entweder eine Position analog zu jener die Relevanz bestreitenden Position Frankfurts vertritt, oder eine Position analog zu jener die Relevanz anerkennenden Position Strawsons. Tatsächlich zeigt sich jedoch, dass Luthers Sicht der Relevanz radikaler Selbstbestimmung sich sowohl teilweise der Position Frankfurts als auch teilweise der Position Strawsons zuordnen lässt. Die Zuordnung zur Position Frankfurts erweist sich zum Ersten besonders darin, dass Luther die menschliche Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung nachhaltig im Sinn der Argumentation für ein natürliches Verständnis des schlicht verstandenen Kompatibilismus bestreitet. Das heißt, die Art und Weise, in der Luther gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung argumentiert, erweckt den Eindruck, dass Luther radikaler Selbstbestimmung keine freiheitstheoretische Relevanz zumisst. Luthers Argumentation gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung scheint zu implizieren, dass Luther ein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis im Sinn Frankfurts als das natürliche und angemessene Freiheitsverständnis versteht. Zum Zweiten erweist sich eine Zuordnung Luthers zu Frankfurt darin, dass Luther Zurechenbarkeit analog zu Frankfurt mit der Vorstellung von wholeheartedness begründet zu verstehen scheint und letztlich auch entsprechende schlicht-kompatibilistische Begründungsstrukturen für Verantwortlichkeit darlegt. Radikale Selbstbestimmung scheint in diesem Kontext für Luther keine notwendige Bedingung von Zurechenbarkeit darzustellen. Diese These, für die vieles im Verlauf der Darstellung spricht, wird jedoch von einer Reihe abweichender Befunde infrage gestellt. Diese abweichenden Befunde deuten auf die gegenteilige These hin, dass Luther der Position Galen Strawsons nahe steht, das heißt, dass Luther die Relevanz des Freiheitsverständnisses im Sinn eines unabhängigen Selbst und in dessen weiterer Reflexion auch die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis anerkennt. Im Verlauf der Darstellung ergibt sich die Argumentationsgrundlage für die Zuordnung von Luthers Auffassung von Freiheit zu Strawsons Freiheitsverständnis ebenfalls anhand zweier Bereiche: Zum Ersten beschreibt Luther an verschiedenen Stellen, dass im allgemeinen menschlichen Verständnis von einer Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst ausgegangen wird. Dies lässt zwar noch Spielraum zur Deutung, warum sich dies so verhält und spricht noch nicht unmittelbar dafür, dass Luther wie Strawson darin einen Hinweis auf die Relevanz dieses Freiheitsverständnisses sieht. Tatsächlich aber zeigt sich ebenso, dass Luther nicht nur eine Verbreitung dieses Freiheitsverständnisses anerkennt, sondern dieses Freiheitsverständnis auch als das eigentliche Freiheitsverständnis erkennt. So wird deutlich, dass Luther Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und in deren Reflexion Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung durchaus Relevanz für das Freiheitsverständnis zumisst.

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Zum Zweiten gesteht Luther in Dsa unzweideutig, dass ihm nicht einsichtig wird, warum Gott Menschen verdammen kann, obgleich sie unzurechnungsfähig sind. Mit der Anerkennung dieser Klage über Gott gibt Luther zu erkennen, dass er Zurechenbarkeit an ein Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. an radikale Selbstbestimmung knüpft. Denn würde Luther konsequent einer schlicht-kompatibilistischen Deutung von Freiheit anhängen, würde sich eine Infragestellung der Zurechenbarkeit angesichts der Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung für Luther schlicht nicht ergeben. So zeigt sich auch hier Luthers Auffassung von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und radikaler Selbstbestimmung als relevant entsprechend der Position Strawsons. Das schlicht-kompatibilistisch orientierte Verständnis von Freiheit und Zurechenbarkeit, das Luther im Sinn Frankfurts in Dsa darstellt, lässt sich daher nicht im Sinn seines Gesamtverständnisses deuten. Denn diesem Verständnis steht spannungsreich Luthers Anerkennung der Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen und der Notwendigkeit der Bedingung radikaler Selbstbestimmung für Freiheit im Sinn Strawsons gegenüber. Der wesentliche Gedankengang der folgenden Abschnitte sei wie zu Beginn der Kapitel über Frankfurt und Strawson kurz vorweggenommen: In der Heidelberger Disputation, in Abschnitt 5.1 dargestellt, zeigt sich die für Luthers Freiheitsverständnis grundlegende Unterscheidung zwischen einer unmöglichen Freiheit in Bezug auf die persönliche Beschaffenheit und einer möglichen Freiheit in Bezug auf die innerhalb dieser persönlichen Beschaffenheit begründeten Handlungen und Entscheidungen. Luthers Argumentation gegen die Möglichkeit der Freiheit hinsichtlich der persönlichen Beschaffenheit erweist sich dabei als Argumentation gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung. Bezüglich Luthers Haltung zur Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zeigt sich in der Heidelberger Disputation, dass Luther Verantwortlichkeit trotz der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung ausdrücklich für gegeben erachtet und somit radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz zuzumessen scheint. Ein diesem eindeutig scheinenden Ergebnis widersprechendes Bild zeigt sich in der Assertio, dargestellt in Abschnitt 5.2. Auch hier argumentiert Luther zwar unmissverständlich gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung, doch hinsichtlich der Frage nach Luthers Sicht zur Relevanz radikaler Selbstbestimmung ergibt sich nun ein uneinheitlicher Befund. Zum einen wird deutlich, dass Luther gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung im Sinn des natürlichen schlicht verstandenen Kompatibilismus argumentiert und er radikaler Selbstbestimmung entsprechend keine Relevanz zuzuerkennen scheint. Zum anderen zeigt sich, dass Luther schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit analog zu Frankfurts Verständnis jedoch nicht als Freiheit im eigentlichen Sinn

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bezeichnet, sondern Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst als das allgemein verbreitete und eigentliche Freiheitsverständnis auffasst – und daher radikaler Selbstbestimmung offenbar entsprechend Relevanz zuerkennt. In Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam argumentiert Luther in Dsa ausführlich und umfassend gegen die menschliche Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung, wie in Abschnitt 5.3.1.1 dargestellt. Dabei lässt Luther ebenfalls deutlich werden, dargestellt in Abschnitt 5.3.1.2, dass er radikale Selbstbestimmung als Gottesprädikat auffasst. Die Darstellung in Bezug auf Luthers Auffassung der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung in Abschnitt 5.3.1.1 kann an einige bereits in den Abschnitten 5.1 und 5.2 aufgegriffene Argumentationslinien Luthers anknüpfen, bringt jedoch auch gänzlich neue und umfassender ausgearbeitete Gedankengänge Luthers zum Vorschein. In Bezug auf die Frage nach Luthers Sicht der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zeigt sich weiterhin ein uneinheitliches Bild. So spricht Luthers Auffassung über das allgemein verbreitete und eigentliche Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst für die These, dass Luther radikaler Selbstbestimmung durchaus Relevanz für das Freiheitsverständnis zuerkennt. Demgegenüber lässt sich Luthers Darstellung der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung in 5.3.1.1 in klarer Weise im Sinn einer Argumentation für ein sich natürlich ergebendes Verständnis des schlicht verstandenen Kompatibilismus lesen – so dass radikale Selbstbestimmung für Luther von hier ausgehend als irrelevant angenommen werden muss. In Abschnitt 5.3.2 zeigt sich zum einen Luthers Argumentation für die Möglichkeit der Freiheit in niederen Dingen und im Sinn der Freiwilligkeit (5.3.2.1) und zum anderen das Verständnis Luthers von inhaltlich qualifizierter Freiheit – das heißt von Freiheit, die sich unter Gottes Machteinfluss und Unfreiheit, die sich entsprechend unter Satans Machteinfluss ergibt (5.3.2.2). Dabei erweist sich Luthers Argumentation im ersten Unterabschnitt als Argumentation im Sinn des natürlichen schlicht verstandenen Kompatibilismus, was auf Luthers Sicht der Irrelevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis schließen lässt. Diese Sicht bestätigt sich auch im zweiten Unterabschnitt, wenn Luther das als üblich verbreitete Freiheitsverständnis im Sinn radikaler Selbstbestimmung auf die von Satan regierten Menschen einschränkt. Schließlich ergibt sich jedoch wiederum das Bild der uneinheitlichen Haltung Luthers hinsichtlich der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis in Abschnitt 5.3.3, der Luthers Begründungsstrukturen von Verantwortlichkeit thematisiert. So zeigt sich zum einen, dargestellt in Abschnitt 5.3.3.1, dass Luther Zurechenbarkeit durch Freiwilligkeit und durch notwendige Zugehörigkeit einer Handlung zu dem die Handlung ausführenden Handlungssubjekt im Sinn von wholeheartedness in schlicht-kompatibilistischem Ansatz begründet. Zum anderen zeigt sich jedoch auch, dargestellt in Abschnitt 5.3.3.2, dass Luther die mögliche Klage über Gott, welcher Menschen ohne freies Wil-

5.1 Luthers Freiheitsverständnis in der Heidelberger Disputation (1518)

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lensvermögen, das heißt ohne die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung, für ihr Tun zur Rechenschaft zieht, in ihrer Sinnhaftigkeit anerkennt. Darin wird implizit deutlich, dass Luther Zurechenbarkeit an radikale Selbstbestimmung geknüpft versteht. So ergibt sich von hier, das heißt von Abschnitt 5.3.3.2 ausgehend, die plausible These, dass Luther um die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis weiß, während sich vom vorausgegangenen Abschnitt 5.3.3.1 die plausible These nahe legt, dass Luther die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zurückweist.

5.1 Luthers Freiheitsverständnis in der Heidelberger Disputation (1518) Die Thesen 13 bis 17 der Heidelberger Disputation5 bieten die früheste Quelle, in der sich Luther in breiteren Ausführungen zusammenhängend zur Freiheitsproblematik äußert.6 Die insgesamt 40 Thesen, die Luther anlässlich einer Disputation vor dem Orden der Augustiner-Eremiten verfasste, werden von Erklärungen begleitet und finden sich zusätzlich teilweise leicht verändert als Aufzählung. Im Blick auf die Thesenformulierungen 13 bis 17 fallen dabei in der Variante der bloßen Aufzählung lediglich geringfügige Wortumstellungen auf, die ohne inhaltliche Bedeutung bleiben.7 Das freie Willensvermögen („liberum arbitrium“8) nach dem Sündenfall bezeichnet Luther in der viel beachteten und zitierten These 13 als eine „Sache allein dem Namen nach“ („res est de solo titulo“9); in seiner Ausübung „sündigt 5 S. einführend:

K.-H. zur Mühlen: „Die Heidelberger Disputation Martin Luthers vom 26. April 1518. Programm und Wirkung“, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 1386–1986. Festschrift in sechs Bänden, hg. v. W. Doerr, Bd. 1 Mittelalter und frühe Neuzeit 1386–1803, Heidelberg 1985, 188–212; H. Scheible: „Die Universität Heidelberg und Luthers Disputation“, in: Ders.: Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, hg. v. G. May und R. Decot, Mainz 1996, 371–391. 6  M. Luther: D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe (WA)), hg. von R. Hermann, G. Ebeling u.a., Weimar 1883–2009, WA 1, 354, 5–16; 359, 32– 361, 30. 7  So treten etwa in These 14 die Worte „semper activa“ vertauscht auf und in These 16 existieren die Varianten „est in se“ und „in se est“. Vgl. WA 1, 354, 8 und 360, 7 bzw. WA 1, 354, 11 f. und 360, 25 f. 8  Ich folge der Übersetzung „Willensvermögen“ für den Terminus „arbitrium“, die Wilfried Härle in seiner für die lateinisch-deutsche Studienausgabe angefertigten Übersetzung wählt. (M. Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1 (LDStA 1), Der Mensch vor Gott, u. Mitarb. v. M. Beyer, hg. u. eingeleitet v. W. Härle, Leipzig 2006). Diese Edition stellt ein geschätztes Hilfsmittel für die Bearbeitung dieses Kapitels dar. Die Übersetzungen des lateinischen Luthertexts stammen grundsätzlich, sofern nicht anders gekennzeichnet, von mir selbst. 9  WA 1, 359, 33.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

es sterblich“10. In der Erklärung zu dieser These beschreibt Luther unter Heranziehung von Schrift- und Väterzitaten das Willensvermögen als fähig und allein fähig zum Schlechten – in der Betonung jedoch, dass das Willensvermögen „nicht nichts“11 sei. Es existiert folglich und besitzt sogar theoretisch eine Anlage zum Tun des Guten, wie Luther es in These 14 beschreibt, doch in seinem tatsächlichen weltlichen Vollzug erfolgen seine Handlungen und Entscheidungen immerzu im Modus der Sünde.12 Diese beiden Thesen lassen bereits erkennen, was sich für Luthers Verständnis von arbitrium13 grundsätzlich erweist. Eine gewisse Form von Freiheit existiert in Luthers Sicht – die Freiheit, Schlechtes zu tun, wird nicht bestritten und von Luther ausdrücklich als Freiheit anerkannt. Als angelegte Fähigkeit ergibt sich nach Luther sogar die Freiheit, Gutes zu tun, doch vorfindlich handeln Menschen nie gut, sondern stets schlecht. Die Freiheit, die Luther demgegenüber bestreitet, zeigt sich als Freiheit von der Art, sich zu entscheiden, nicht Schlechtes, sondern Gutes zu tun. Damit scheint Luther diejenige Art von Freiheit zu leugnen, die sich auf die Grundrichtung des Willensvermögens bezieht, während er Freiheit innerhalb einer vorgegebenen Grundrichtung anerkennt. Der Mensch verfügt nicht über die Freiheit, die grundsätzlich sündige Grundrichtung seines Entscheidens und Handelns zu verändern, während er durchaus frei innerhalb der sündigen Grundrichtung zu agieren vermag. Wäre die Grundrichtung gut bestimmt, wäre gar Freiheit innerhalb der guten Grundrichtung denkbar, was Luthers Anerkennung der angelegten Möglichkeit dieser Freiheit offenbar deutlich werden lässt. Diese Vorstellung Luthers kann auch in der Weise mit der Vorstellung der analytischen Philosophie interpretiert werden, dass schlicht-kompatibilistische Freiheit – im Sinn von Freiheit innerhalb einer gegebenen, nicht verfügbaren Grundrichtung oder Beschaffenheit eines Handlungssubjekts – von Luther anerkannt wird, während eine eigenmächtige Bestimmung dieser Grundrichtung, das heißt radikale Selbstbestimmung, dem Menschen entzogen ist. Im Horizont dieser Interpretation können die teilweise zusammenhanglos wirkenden oder gar sich widersprechenden Aussagen Luthers über die 10 

„peccat mortaliter“ (WA 1, 359, 34). „non quod sit nihil“ (WA 1, 359, 35 f.). These 13 im gesamten Wortlaut: „Liberum arbitrium post peccatum res est de solo titulo, et dum facit quod in se est, peccat mortaliter“ – „Nach dem Sündenfall ist das freie Willensvermögen eine Sache allein dem Namen nach, und während es ausführt, was in ihm ist, sündigt es tödlich“ (WA 1, 359, 33 f.). 12  These 14: „Liberum arbitrium post peccatum potest in bonum potentia subiectiva, in malum vero semper activa“ – „Nach dem Sündenfall vermag das freie Willensvermögen zum Guten etwas seiner angelegten Fähigkeit nach, zum Schlechten jedoch immer seiner tatsächlichen Fähigkeit nach“ (WA 1, 360, 6 f.). 13  Erst mit der Heidelberger Disputation verhandelt Luther diesen Sachverhalt in der Terminologie des „arbitrium“. In Quaestio de viribus und der Disputatio contra scholasticam ist von „appetitus“ und „voluntas“ die Rede. Vgl. WA 1, 147, 38; 148, 2; 224, 15; 224, 17.23. 11 

5.1 Luthers Freiheitsverständnis in der Heidelberger Disputation (1518)

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strukturelle Gestalt von Freiheit in einem kohärenten Zusammenhang verständlich gemacht werden.14 Ob radikale Selbstbestimmung bzw. Freiheit in Bezug auf die Grundrichtung des Willensvermögens grundsätzlich nicht möglich oder nur im faktischen Sinn nicht vorhanden ist, geht aus Luthers Beschreibungen in den Thesen 13 und 14 noch nicht eindeutig hervor – in These 15 jedoch wird das Verständnis der prinzipiellen Unmöglichkeit deutlich. Luther stellt hier fest, dass der Mensch auch vor dem Sündenfall nicht über die Fähigkeit zu radikaler Selbstbestimmung verfügte – diese Unfreiheit somit nicht erst als Folge des Sündenfalls zu interpretieren ist.15 Darin deutet sich die an verschiedenen Stellen belegbare Beobachtung an, dass Luther radikale Selbstbestimmung, zwar unter anderem, aber eben nicht zuletzt, aufgrund ihrer von ihm angenommenen logischen Selbstwidersprüchlichkeit zurückweist.16 Die These 15 gibt in ihrer Erklärung sodann einen ersten Aufschluss bezüglich der Frage nach der Relevanz, die Luther der radikalen Selbstbestimmung hinsichtlich des Freiheitsverständnisses beimisst. Luther referiert Petrus Lombardus, der dem Menschen vor dem Sündenfall ein freies Willensvermögen in dem Sinn zugesprochen hatte, dass der Mensch auch die Grundrichtung seines Wollens bestimmen konnte: „Wäre dem nicht so“, so Petrus Lombardus seinerseits unter Berufung auf Augustinus, „schiene es, als sei er nicht durch seine Schuld gefallen“17. Diese Haltung weist Luther – auch unter Hinweis auf seine eigene, abweichende Lesart Augustins – zurück, ohne allerdings zu der von Petrus Lombardus thematisierten Folgeproblematik der nicht erklärbaren Zurechenbarkeit Stellung zu beziehen.18 Bedeutet dies, dass Luther Zurechenbarkeit anders als der Lombarde nicht an radikale Selbstbestimmung oder an ein Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst knüpft? Davon kann an 14  Diese das Freiheitsverständnis Luthers erhellende Einsicht in die von Luther getroffene Unterscheidung zwischen einer (unmöglichen) Freiheit in Bezug auf die Grundrichtung des Wollens und einer Freiheit innerhalb der Grundrichtung lässt sich in weiten Teilen der Sekundärliteratur leider nicht nachweisen. Zuletzt haben z.B. Friedrich Hermanni, Rochus Leonhardt und Andreas Klein sie thematisiert, wobei etwa auch schon Carl Stange 1903 diese Unterscheidung in ihrem Wert für die Interpretation von Luthers Freiheitsverständnis aufgegriffen hat. Vgl. F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“; R. Leonhardt: „Servum arbitrium und libertas christiana“; A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 375–491; C. Stange: „Die reformatorische Lehre von der Freiheit des Handelns“ (1903), in: Ders.: Studien zur Theologie Luthers, Bd. 1, Gütersloh 1928, 20–33. Vgl. ausführlicher in Abschnitt 5.3.2.1. 15  These 15: „Nec in statu innocentiae potuit stare activa, sed subiectiva potentia, nedum in bonum proficere“ – „Auch im Stand der Unschuld konnte er nicht bleiben seiner tatsächlichen Fähigkeit nach, sondern [nur] seiner angelegten Fähigkeit nach, erst recht konnte er nicht zum Guten vorwärts kommen“ (WA 1, 360, 14 f.). 16 S. zu Luthers Auffassung von Sündenfall und Freiheit auch unter Abschnitt 5.3.1.1. 17  „[A]lioqui non sua culpa videretur cecidisse“ (WA 1, 360, 19), vgl. P. Lombardus: Libri IV Sententiarum. Studio et cura PP. Collegii S. Bonaventurae. In Lucem Editi, secunda editio, Ad Claras Aquas prope Florentiam 1916, Bd. 1, Liber 2, Dist. 24, Cap. 1 (419–421). 18  Vgl. WA 1, 360, 16–22.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

dieser Stelle ausgegangen werden. Es ist denkbar, dass Luther die Problematik, die Petrus Lombardus vor Augen steht, deshalb nicht aufgreift, weil er einem schlicht-kompatibilistischen Verständnis von Zurechenbarkeit anhängt. So ergibt sich hier die Deutung, dass Luther stillschweigend, aber selbstverständlich davon ausgeht, dass Zurechenbarkeit nicht an Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst oder im Sinn radikaler Selbstbestimmung, sondern wohl an ein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis – an Freiheit innerhalb einer vorgegebenen Grundrichtung – gebunden ist. In These 16 findet sich zunächst die Vertiefung eines Gedankens aus den Thesen 13 und 14: Wer als schlecht Beschaffene bzw. Beschaffener entscheidet und handelt, bringt allein Schlechtes hervor. So fügt der sündig beschaffene Mensch, „indem er tut, was in ihm ist“ („faciendo quod in se est“), „Sünde zur Sünde hinzu“ („peccatum addit peccato“19). Luther spricht so von einer Vertiefung der Sünde, die auch in der Begrifflichkeit der Regressproblematik beschrieben werden kann. Im Bereich einer bestimmten Beschaffenheit gibt es keinen Weg zu einer anderen Beschaffenheit, sondern das Bemühen führt im Bereich der vorhandenen Beschaffenheit notwendig nur zu einer regresshaften Vertiefung und Bestätigung eben dieser bereits vorhandenen Beschaffenheit. Damit scheint Luther die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung auch im Zusammenhang der Problematik des infiniten Regresses bewusst zu sein. In der Erklärung zu dieser These thematisiert Luther nun schließlich selbst jenen Einwand bezüglich der Frage nach Zurechenbarkeit, den er als Einwand des Petrus Lombardus zuvor zitierte: Stellt resignierende Tatenlosigkeit die angemessene Reaktion auf die Erkenntnis dar, dass jedes Entscheiden und Handeln sich notwendig als sündiges Entscheiden und Handeln ergibt, da angesichts der menschlichen Bestimmtheit zur sündigen Beschaffenheit anscheinend gar keine Freiheit existiert?20 Luther verneint diesen Selbsteinwand klar und deutet die Erkenntnis der Unfreiheit hinsichtlich der Grundrichtung des Wollens als Weg zur Demut und als Voraussetzung der wirksamen Gnade: „Nein, wenn du dies gehört hast, knie nieder und bete um Gnade, setze deine Hoffnung auf Christus, in dem unser Heil ist, unser Leben und unsere Auferstehung. […] Denn durch das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde, durch die Erkenntnis der Sünde aber die Demut, durch die Demut wird die Gnade erlangt.“21 19  WA 1, 360, 25 f. These 16 im gesamten Wortlaut: „Homo putans, se ad gratiam velle pervenire faciendo quod in se est, peccatum addit peccato, ut duplo reus fiat“ – „Der Mensch, der glaubt, er wolle zur Gnade gelangen, indem er unternimmt, was in ihm ist, fügt Sünde zur Sünde hinzu, sodass er zweifach schuldig wird“ (WA 1, 360, 25 f.). 20  „Quid igitur faciemus? Vacabimus ocio, quia nihil nisi peccatum facimus?“ (WA 1, 360, 34 f.). 21  „Non, Sed his auditis procide et ora gratiam spemque tuam in Christum transfer, in quo est salus, vita et resurrectio nostra. […] Per Legem enim cognitio peccati, per cognitionem autem peccati humilitas, per humilitatem gratia acquiritur“ (WA 1, 360, 35–37; 361, 2 f.). Vgl. Röm 3,20.

5.1 Luthers Freiheitsverständnis in der Heidelberger Disputation (1518)

151

Luther hält ein Handlungssubjekt, das Freiheit nur innerhalb einer vorgegebenen Grundrichtung seines Wollens besitzt, durchaus für zurechenbar, wie sich aus dieser Stelle implizit ergibt. Die Handlungsaufforderungen lassen auf vorausgesetzte Zurechenbarkeit schließen. Wie selbstverständlich scheint Luther hier davon auszugehen, dass die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung der Zurechenbarkeit keinen Abbruch tut. Damit liegt es nahe, Luther an der Seite Frankfurts stehen zu sehen – freilich ohne dass bisher von Luther eine positive Begründung von schlicht-kompatibilistisch verstandener Verantwortlichkeit aufgezeigt worden wäre. Vorstellbar wäre aber, dass Luther bewusst ist, dass inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigende Freiheit gerade nicht Zurechenbarkeit gewährleisten kann. So etwa im Fall inkompatibilistischer Freiheit, nach der freie Entscheidungen und Handlungen letztlich mit zufälligen Entscheidungen und Handlungen zu verwechseln sind – und so auch im Fall von Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung und im Sinn eines unabhängigen Selbst, denn hier bleibt die Zurechenbarkeit letztlich aufgrund der Unmöglichkeit, diese Freiheitstheorien konsitent zu begründen, unerklärlich. Demgegenüber würde etwa schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit Zurechenbarkeit ermöglichen, können hier doch Entscheidungen und Handlungen durch Gründe als zurechenbar beschrieben werden. These 17 führt Luthers Zurückweisung der Bestreitung von Zurechenbarkeit unmittelbar fort: Die Leugnung des Willensvermögens hinsichtlich seiner Grundrichtung bedeutet nicht, „einen Grund zum Verzweifeln zu geben, sondern das Streben danach anzuregen, sich zu demütigen und die Gnade Christi zu suchen“22. Luther sieht die Ansprechbarkeit von Handlungssubjekten hier keineswegs gestört oder gar hinfällig, sondern folgert aus der Erkenntnis der Unfreiheit des Willensvermögens, die der Erkenntnis der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung entspricht, eine Motivation, nach der Gnade zu suchen. Für Luther entscheidend erscheint das Verlangen nach Gnade, wenn die Sünde erkannt wurde. Damit zeigt sich auch hier, dass ihm Zurechenbarkeit ohne die Möglichkeit und die Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung einsichtig erscheinen muss. Aus dem Grund verzweifeln und damit die eigene Zurechenbarkeit leugnen, dass man immer nur Schlechtes tun kann, können Luther zufolge nur „törichte“23 Menschen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: In den Thesen 13 bis 17 der Heidelberger Disputation erscheint Luthers Freiheitsverständnis prima facie schlicht-kompatibilistisch im Sinn Harry Frankfurts. Luther leugnet Freiheit nicht grundsätzlich, doch Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung – als Fähigkeit, die 22  „Nec sic dicere est desperandi causam dare, sed humiliandi, et querendae gratiae Christi studium excitare.“ (WA 1, 361, 7 f.). Vgl. hierzu auch T. Dietz: Der Begriff der Furcht bei Luther, Tübingen 2009, 324 f. (8.4.2 Sündenerkenntnis und die Dynamik der Verzweiflung). 23  „[S]tulti“ (WA 1, 361, 20).

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

eigene sündige Beschaffenheit zu überwinden – existiert Luther zufolge nicht bzw. kann nicht existieren. Diese Freiheit erweist sich auch hinsichtlich der Begründung von Verantwortlichkeit in Luthers Sicht als nicht notwendig, setzt Luther Verantwortlichkeit doch wie selbstverständlich gegeben voraus, was sein Verständnis einer schlicht-kompatibilistischen Begründung von Verantwortlichkeit wahrscheinlich erscheinen lässt. Plausibel wirkt diese These auch aus dem Grund, dass Luther von notwendigem Ansporn spricht. Damit die von Luther formulierten Handlungsaufforderungen im Kontext seiner These über die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung sinnvoll erscheinen, muss davon ausgegangen werden, dass Zurechenbarkeit von Luther in schlicht-kompatibilistischer Begründung vorausgesetzt verstanden wird. Freilich steht die Begründung dieses schlicht-kompatibilistischen Verständnisses von Verantwortlichkeit bei Luther hier aus. Begründen könnte er eine so verstandene Verantwortlichkeit beispielsweise analog zu Harry Frankfurt unter Hinweis auf eine schlicht-kompatibilistisch beschreibbare Identifikation des Handlungssubjekts mit seiner Handlung, etwa im Sinn von wholeheartedness. 24

5.2 Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (1520) Am 29. November 1520 reagierte Luther auf die im Juni desselben Jahres vorausgegangene Bannandrohungsbulle durch Papst Leo X. 25 mit einer Wahrheitsbekräftigung – Assertio (WA 7, 94–151).26 Als eine Wiederholung und Verstärkung seiner bisherigen Standpunkte verfasste Luther damit eine Art Kommentar zu den in der Bulle aufgelisteten 41 Irrlehren, die ihm und seinen Anhängern angelastet wurden. In entsprechend 41 Artikeln griff Luther den Wortlaut der Bulle auf und widerrief die Thesen in seiner Kommentierung nur scheinbar bzw. formal, um sie tatsächlich in noch unmissverständlicherer Weise zu bekräftigen. Zwei Schwerpunkte bilden dabei Artikel 2, in dem Luther sein Verständnis der auch die Taufe überdauernden Sündhaftigkeit des Menschen ausführt, und Artikel 36, eine mit der 13. These der Heidelberger Disputation überschriebene Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Willensvermögen.

24 

Vgl. Luthers Ansätze zu einer schlicht-kompatibilistischen Begründung von Zurechenbarkeit in Dsa, s. u. Abschnitt 5.3.3.1. 25 Vgl. H. Denzinger, P. Hünermann (Hg.): Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum – Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 40. Aufl., Freiburg 2005, 1451–1492, vgl. zur Verwerfung der 13. These der Heidelberger Disputation besonders die 36. Proposition, 1486. 26  Vgl. zu Luthers Sicht der Notwendigkeit der Wahrheitsbekräftigung, die er in der Auseinandersetzung mit Erasmus umschreibt: G. Bader: Assertio. Drei fortlaufende Lektüren zu Skepsis, Narrheit und Sünde bei Erasmus und Luther, Tübingen 1985.

5.2 Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (1520)

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Bevor Luther sich in Artikel 36 mit der Bekräftigung der 13. These der Heidelberger Disputation befasst, thematisiert er bereits in den Artikeln 31, 32 und 35 ausführlich die Unmöglichkeit der grundverändernden Beeinflussung der Beschaffenheit eines Handlungssubjekts, das heißt die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung. Der 31. Artikel der Assertio etwa ist überschrieben mit „In jedem guten Werk sündigt der Gerechte“27. Luther gibt damit zu verstehen, dass Menschen keine guten Werke auszuführen in der Lage sind, bringen sie als schlecht Beschaffene doch nur entsprechend schlechte Werke hervor und ist es ihnen nicht möglich, ihre Beschaffenheit grundsätzlich aus eigener Kraft zu verändern. Diese Unmöglichkeit, die eigene Beschaffenheit aus eigener Kraft grundsätzlich zu verändern, beschreibt Luther folgendermaßen: „da Christus sagt und die Natur zeigt, dass die Frucht so beschaffen ist wie der Baum, der Fehler des Baumes gewiss in der Frucht gespürt wird. Denn nicht gute Werke machen gerecht (wie wir oft gesagt haben), sondern der Gerechte vollbringt gute Werke. Aber er vollbringt notwendigerweise so beschaffene, wie er selbst beschaffen ist – der Unvollkommene unvollkommene, der Gerechte gerechte, der Schlechte schlechte.“28

Das von Luther hier in Anlehnung an Mt 7,17 f. gebrauchte Bild von den Früchten, die unverkennbar auf jenen Baum, von dem sie stammen, zurückgehen und die grundsätzlich nicht von einem anderen Baum stammen können, ist nicht allein aus dem 31. Artikel der Assertio bekannt. Luther gebraucht dieses Bild auch zuvor in der Frage über die Kräfte und in der Disputation gegen die scholastische Theologie. Zugeordnet auf die Gnade, der das Bild des guten Baumes entspricht, findet sich in der ersten These der Frage über die Kräfte29 folgende Ausführung: „Denn der Mensch, abgeschnitten von der Gnade, ist ein schlechter Baum, der keine guten Früchte hervorbringen kann“30. Und entsprechend im zweiten Zusatz zu dieser These heißt es in Anlehnung an Joh 3,6: „Was aus dem Fleisch geboren wird, ist Fleisch […] was aus dem Geist geboren ist, ist Geist“31. Des Weiteren in Anlehnung an Augustinus: Es „werden auch die Werke, die gut zu sein scheinen“ ohne Glauben „zu Sünden gewendet werden“32. Schließlich drückt sich Luther in der vierten These der Disputation gegen die scholastische Theologie wiederum im Bild des Baumes aus: „Also ist es die Wahrheit, dass ein 27 

„In omni opere bono iustus peccat“ (WA 7, 136, 21). „[C]um Christus dicat et natura monstret, talem esse fructum, qualis est arbor, vitium arboris certe in fructu sentitur. Non enim bona opera faciunt iustum (ut saepe diximus), sed iustus facit bona opera: at talia faciat, necesse est, qualis est ipse, imperfectus imperfecta, iustus iusta, malus mala“ (WA 7, 137, 20–24). 29  Diese Thesenreihe von 1516 wurde nicht von Luther persönlich verfasst, jedoch inhaltlich in seinem Sinn und von ihm intendiert anlässlich eines Promotionsverfahrens. 30  „Nam homo gratia seclusa arbor est mala, nullos bonos fructus producere potens“ (WA 1, 145, 24 f.). Vgl. auch WA 1, 148, 16–18. 31  „Quod ex carne nascitur, caro est […] quod natum est ex spiritu, spiritus est“ (WA 1, 146, 17–20). 32  „[E]tiam quae videntur bona opera in peccata vertentur“ (WA 1, 146, 24 f.). 28 

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Mensch, ist er ein schlechter Baum geworden, nichts wollen und tun kann als Schlechtes“33. Die schlechte Beschaffenheit des Menschen ist dafür verantwortlich, dass der Mensch hinsichtlich der Vorbereitung zur Gnade nichts leisten kann – so deutet Luther erneut seine 13. These der Heidelberger Disputation im 36. Artikel der Assertio.34 Ein Handlungssubjekt vermag Luther zufolge nur solcherlei Handlungen auszuführen, die sich entsprechend seiner vorgegebenen Beschaffenheit ergeben können. Nachdem in der Darstellung über die Heidelberger Dispuation der Eindruck entstanden ist, dass Luther radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz zumisst, findet sich hier nun ein erster Hinweis auf die gegenteilige Annahme. Gleich zu Anfang der Kommentierung dieses 36. Artikels lässt sich ein wesentlicher Hinweis auf Luthers Sicht einer gegebenen Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis wahrnehmen. Denn Luther erkennt derjenigen Freiheit, die sich innerhalb der vorgegebenen Beschaffenheit ergibt, in diesem Kontext nicht die Bezeichnung Freiheit zu. Luther zitiert Augustinus in De spiritu et littera: „Das freie Willensvermögen ohne die Gnade taugt zu nichts außer zum Sündigen“35. In Bezug auf dieses Augustin-Zitat stellt Luther die rhetorische Frage: „Ich frage, welcher Art diese Freiheit ist, die nicht außer zu einer Richtung fähig ist, und zwar zur schlechten? Ist das frei sein, nichts zu können, als zu sündigen?“36 Möchte man Luther als schlichten Kompatibilisten im Sinn Harry Frankfurts verstehen, so bleibt man an dieser Stelle unbefriedigt, würde Frankfurt doch wohl gerade jene Freiheit, die sich innerhalb der vorgegebenen Beschaffenheit ergibt, als die eigentliche Freiheit bezeichnen und sie keineswegs durch eine rhetorische Frage in ihrem Freiheitswert infrage stellen. Diese rhetorische Frage wäre eher Vertreterinnen und Vertretern der Freiheitstheorien im Sinn Strawsons zuzuweisen, die die eigentliche Freiheit als Freiheit eines unabhängigen Selbst auffassen und in Reflexion über dieses Freiheitsverständnis womöglich auch radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung für Freiheit anerkennen. Ein Strawson zuordenbarer Vertreter 33  „Veritas itaque est quod homo arbor mala factus non potest nisi malum velle et facere“ (WA 1, 224, 13 f.). Dass dieses Bild für Luther von zentraler Bedeutung ist, zeigt sich schließlich auch in seiner Aufnahme in Dsa. Vgl. WA 18, 775, 5–18. Bezüglich der Artikel 32 und 35 lassen u.a. folgende Stellen, die besagen, dass auch gut erscheinende Werke des Menschen aufgrund seiner schlechten Beschaffenheit stets schlechte Werke sind, einen Rückschluss auf Luthers Ansicht über die Unmöglichkeit einer grundlegenden Veränderung der eigenen Beschaffenheit zu: WA 7, 138, 29f; 138, 37–139, 1; 141, 36–142, 3; 142, 14–19. 34  Vgl. WA 7, 142, 25 f.; 142, 33 f.; 143, 1–4 u.ö. 35  WA 7, 142, 28. Vgl. Augustinus: Geist und Buchstabe – De spiritu et littera liber unus, übertragen von A. Forster OSB, in: C. J. Perl (Hg.): Aurelius Augustinus’ Werke in deutscher Sprache, Paderborn 1968, 10 f. (Kap. 3,5). 36  „Rogo, quae est ista libertas, quae non nisi in alteram partem potest eamque peiorem? Est hoc esse liberum, non posse nisi peccare?“ (WA 7, 142, 29 f.).

5.2 Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (1520)

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bzw. eine Strawson zuordenbare Vertreterin einer Freiheitstheorie könnte hier mit Luther fragen, welchen Wert eine schlicht-kompatibilistisch verstandene, das heißt eine innerhalb einer (als schlecht) vorgegebenen Beschaffenheit bestehende Freiheit haben soll. Entsprechend zeigt sich in Luthers rhetorischer Frage hier seine Anerkennung der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis impliziert. Den aus der Heidelberger Disputation bekannten Gedanken, dass schlechte Beschaffenheit sich in ihrer Anwendung vertieft und damit klar die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung aufzeigt, wiederholt Luther entsprechend im 36. Artikel der Assertio. Er beschreibt hier zwei Werke des freien Willensvermögens: „freilich sündigen und in den Sünden beharren und wachsen“37. So bleiben Entscheidungen und Handlungen, die auf die schlechte Beschaffenheit des Menschen zurückgehen, immer gleich, der Mensch kommt nicht heraus aus dem infiniten Regress des schlechten Tuns. Entscheidungen und Handlungen führen nie dazu, die schlechte Beschaffenheit so zu verändern, dass man Gutes tun könnte, sondern der schlecht beschaffene Mensch vertieft sich durch sein Bemühen, Gutes zu tun, allein immer weiter in seiner schlechten Beschaffenheit und seinem aus dieser folgendem schlechten Entscheiden und Handeln. Die hier von Luther vertretene Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung gilt hinsichtlich beider Möglichkeiten einer Änderung der Beschaffenheit. Weder kann der – vorfindlich – schlechte Mensch gut werden, noch könnte – so Luther hier ausdrücklich – ein guter Mensch es erreichen, eine schlechte Beschaffenheit zu besitzen. Wie kann das Willensvermögen sich, so fragt Luther, zum Guten hinwenden, „wenn es auch nicht die Fähigkeit besitzt, seine Wege schlecht zu machen?“38 Maßgeblich orientiert sich Luthers Argumentation an Schriftzitaten, in denen er seine Thesen begründet sieht. Doch betont Luther auch, dass seine Sicht der Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung jedem vernünftig denkenden Menschen einsichtig werden müsste: „Und wenn die Schrift dies nicht lehrte, würden wir diese Wahrheit doch mehr als genug aus der ganzen Geschichte lernen und ein jeder aus seinem eigenen Leben. Denn wen gibt es, der alles, was er wollte, auch vollbracht hat? Gewiss, wer hat, was er zu tun gedachte, nicht öfter sofort für einen anderen Gedanken entfernt, wobei er nicht wusste, auf welche Weise er dies entfernt hat? Wer wagt zu leugnen, dass er auch bei schlechten Werken öfter gezwungen etwas anderes tat, als er zu tun gedachte?“39 37 

„[S]cilicet peccare et perseverare augescereque in peccatis“ (WA 7, 143, 10 f.). „[C]um nec in potestate sit suas vias malas facere?“ (WA 7, 144, 33 f.). 39  „Atque si scriptura non doceret haec, abunde ex omnibus historiis hanc veritatem disceremus, et unusquisque ex vita sua propria. Quis enim est, qui omnia quae voluit effecit? immo [sic!] quis id, quod cogitavit facere, non saepius alia statim cogitatione mutavit, nesciens quomodo mutarit? Quis audet negare, se etiam in malis operibus saepius coactum aliud facere quam cogitavit?“ (WA 7, 145, 15–20). 38 

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Luther verweist auf Erfahrungen von Willensschwäche oder inneren Zwängen, die, so seine These, vernünftig denkenden Menschen ohne Bezug auf die Heilige Schrift einsichtig machen können, dass das, was man will, nicht in der eigenen Hand liegt, sondern einem Handlungssubjekt als gegebene Wünsche erscheinen. Zu diesen Wünschen kann sich ein Handlungssubjekt nicht grundsätzlich verhalten, das heißt es kann diese Wünsche nicht radikal bestimmen. So erweist sich hier zum einen Luthers Sicht der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung in deutlicher Weise. Zum anderen kann hier jedoch auch der Hinweis darauf erkannt werden, dass Luther radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz beimisst, nachdem zuvor im Kontext der Frage nach dem üblichen und eigentlichen Freiheitsverständnis der Anschein erweckt wurde, dass er radikaler Selbstbestimmung Relevanz zuschreibt. Denn Luther argumentiert hier im Sinn eines natürlichen schlichten Kompatibilismus: Es kann unter Heranziehung von Luthers Argumenten nur natürlich und plausibel erscheinen, Freiheit ohne Anspruch auf inkompatibilistische Intuitionen zu begreifen.40 Weist Luther die Möglichkeit und Plausibilität einer Freiheitsvorstellung im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung in überlegen wirkender Perspektive zurück, so kann die Annahme nahe liegen, dass Luther schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit als plausibel und dem natürlichen Verständnis entsprechend – und damit schließlich wohl auch hinreichend zur Begründung von Verantwortlichkeit ansieht.41 Diesen letzten Aspekt betreffend, das heißt zur Frage nach den Bedingungen von Verantwortlichkeit bzw. zur Frage, unter Voraussetzung welchen Freiheitsverständnisses er Zurechenbarkeit begründet sieht, äußert sich Luther im 36. Artikel der Assertio allerdings nicht. Ausgehend von dieser Fragestellung ergeben sich in der Assertio daher keine Rückschlüsse auf Luthers Bewertung der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis. Anstelle der Bearbeitung der Verantwortungsproblematik konzentriert Luther seine Argumentation wesentlich auf die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung und verschärft in ironischer Zurücknahme seiner Position ausdrücklich seine in der Bannandrohungsbulle verurteilte These aus der Heidelberger Disputation: „Daher muss auch dieser Artikel notwendigerweise widerrufen werden. Denn ich habe schlecht gesagt, dass das freie Willensvermögen vor der Gnade eine Sache allein dem Namen nach sei; stattdessen hätte ich einfach sagen müssen: ‚Das freie Willensvermögen ist 40  Vgl. auch Luthers weitere auf Erfahrung basierenden Argumente für seine These: WA 7, 145, 28–33; 147, 14–19. Im ersten Abschnitt appelliert Luther an die Einsicht, dass Menschen sich selbst das Leben nicht geben können, und schließt auf den Willen, den sich ein Mensch ebenfalls nicht geben kann. Im zweiten Abschnitt beschreibt Luther, dass die Kräfte des Fleisches willentlicher Anstrengung entgegenstehen können. 41  Vgl. zum Verständnis des natürlichen schlicht verstandenen Kompatibilismus Galen Strawsons Darstellung, s. o. Abschnitt 3.4.

5.2 Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (1520)

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eine Erdichtung unter den Dingen oder eine Bezeichnung ohne Sache.‘ Denn niemand hat es in seiner Hand, sich etwas Schlechtes oder Gutes auszudenken, sondern alles […] ereignet sich mit absoluter Notwendigkeit.“42

Hier ergibt sich unzweideutig, dass Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst oder im Sinn radikaler Selbstbestimmung nach Luther keineswegs durch bestimmte Umstände bedingt, sondern als prinzipiell unmöglich verstanden werden muss. Luthers These „alles ereignet sich mit absoluter Notwendigkeit“ kann wohl als These eines theologisch verstandenen Determinismus interpretiert werden, nach dem sich, Luther zufolge, nichts abseits von Gottes Allwirksamkeit in der Welt vollzieht.43 Dass dieser These über die Determiniertheit allen Geschehens und damit einhergehend auch der These über die Unmöglichkeit von inkompatibilistischer Freiheit und auch von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung, das heißt von Freiheitsvorstellungen, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden44, enorme Bedeutung zuzumessen ist, betont Luther ausdrücklich. Nicht die Streitpunkte über das Papsttum, die Konzilien, Ablässe etc. schmerzen Luther am meisten, sondern die fehlende Einsicht in die Unmöglichkeit des freien Willensvermögens, derjenige Artikel, „der der beste von allen und die Summe unserer Angelegenheiten ist“45. Auch aus diesem Grund sträubt sich Luther gegen Lösungen, die eine Teil­ freiheit postulieren. Wer die von Gott dem Menschen geschenkte Gnade mit Hilfe einer auch nur teilweise wirksamen Freiheit im Sinn inkompatibilistischer Freiheit durch den Menschen vorbereitet sehen möchte, verliert nach Luther die Gnade insgesamt. Hat Pelagius die Gnade ganz geleugnet und so erkannt, dass es keine Teillösungen in der Freiheitsproblematik geben kann, so kritisiert Luther jene, die nun eine solche Teilfreiheit zur Vorbereitung der Gnade be42 

„Unde et hunc articulum necesse est revocare. Male enim dixi, quod liberum arbitrium ante gratiam sit res de solo titulo, sed simpliciter debui dicere, ‚liberum arbitrium est figmentum in rebus seu titulus sine re‘. Quia nulli est in manu sua, quippiam cogitare mali aut boni, sed omnia […] de necessitate absoluta eveniunt.“ (WA 7, 146, 3–8). 43  Zu der kontrovers diskutierten These, ob Luther einen Determinismus vertritt, s. u. Abschnitt 5.3.2.1. Luther hat seine Aussage über die in Gottes Allwirksamkeit begründete Notwendigkeit in Dsa mehrfach ausgeführt, sodass in jenem Kontext die Thematik breiter aufzugreifen ist. 44  Ausgehend von Strawsons Analyse der Freiheitsproblematik und dem vorliegenden Textbefund erscheint einsichtig, dass Luther inkompatibilistische Freiheit und kompatibilistische Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, gleichermaßen für mit dem Determinismus unvereinbar erachtet. Diese drei Freiheitsvorstellungen werden allesamt inkompatibilistischen Intuitionen gerecht und scheinen daher mit dem Determinismus unvereinbar – obwohl sich dies begrifflich allein für die Freiheitsvorstellung im Sinn inkompatibilistischer Freiheit ergibt, nicht jedoch für die Freiheitsvorstellungen im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung. 45  „[H]oc articulo, qui omnium optimus et rerum nostrarum summa est“ (WA 7, 148, 16). Vgl. entsprechend das Ende von Dsa: WA 18, 786, 26–32; s. auch unten Abschnitt 5.3.1.1.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

haupten. „Ich sage, weniger gottlos erscheint mir, die Gnade ganz und gar zu leugnen als sie durch unser Bestreben und Mühen vorbereitet sein zu lassen und sie gleichsam in unsere Hand zu legen.“46 Dieser Argumentationszusammenhang ist entscheidend für das Verständnis der Debatte zwischen Erasmus von Rotterdam und Luther. So wird im nachfolgenden Abschnitt die von Erasmus angestrebte Reduzierung des freien Willensvermögens auf ein Minimum von Luther scharf zurückgewiesen.47 Finden sich in der Assertio, wie erwähnt, zwar keine Hinweise zur Relevanz radikaler Selbstbestimmung im Anschluss an Luthers Haltung zur Möglichkeit von Zurechenbarkeit, so lassen sich dennoch, wie bereits deutlich wurde, einige Hinweise im Anschluss an eine Deutung seiner Argumentation im Sinn eines natürlichen schlichten Kompatibilismus finden: Luther scheint im Sinn Harry Frankfurts die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zurückzuweisen. Demgegenüber zeigt sich jedoch Folgendes: Neben der oben bereits angeführten Beobachtung, dass Luther davon absieht, Freiheit innerhalb einer vorgegebenen Beschaffenheit als Freiheit zu bezeichnen, macht Luther in der Assertio deutlich, dass Freiheit in allgemein üblicher Auffassung seiner Wahrnehmung nach im Sinn eines unabhängigen Selbst verstanden wird. Der Mensch täuscht sich nach Luther in seiner Freiheit aufgrund der Unbeständigkeit und Kontingenz, welche die menschliche Erfahrung prägen. So sieht Luther durchaus, dass es nahe liegt anzunehmen, dass ein freies Willensvermögen besteht, denn die Dinge erscheinen in unserer nach unten gerichteten Perspektive „willkürlich und zufällig“48, während im Blick nach oben alles notwendig erscheinen muss. Im zeitlichen Kontext erscheint Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigende Freiheit plausibel, doch bei Gott gibt es nach Luther in Anlehnung an den Jakobusbrief 49 „keine Verdunkelung des Wechsels noch eine Veränderung; hier aber wandelt sich und wechselt alles. Und wir Törichten beurteilen die göttlichen Dinge nach den zeitlichen Dingen“50. Luther erkennt, dass Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst in der Welterfahrung menschlicher Handlungssubjekte begründet liegt. Damit gibt Luther entsprechend seine Einsicht zu erkennen, dass das natürliche Freiheitsverständnis ein starkes, inkompatibilistischen Intuitionen folgendes Verständnis ist, das Freiheit nicht hinreichend im Sinn von schlicht-kom46  „Minus, inquam, videtur impium gratiam in totum negare quam eam nostro studio et opere parari ac velut in manu nostra reponere.“ (WA 7, 148, 10 f.). 47 S. u. insbesondere Abschnitt 5.3.1.1. 48  „[A]rbitrariae et fortuitae“ (WA 7, 146, 30). 49  Vgl. Jak 1,17. 50  „[N]on est transmutatio nec vicissitudinis obumbratio, Hic [Sic!] vero omnia mutantur et variantur. Et nos stulti divina aestimamus secundum haec temporalia“ (WA 7, 146, 34–36).

5.2 Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (1520)

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patibilistisch gedeuteter Freiwilligkeit beschreibt. Die Wirkung des Irrtums, über Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und in dessen Reflexion über Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung zu verfügen, bezeichnet er als „wohlgestaltet“ und sie gefällt „der Natur und dem freien Willensvermögen […], sodass es schwierig ist, sie zu widerlegen, vor allem bei rohen und groben Geistern“51. Hier zeigt sich deutlich, dass Luther es nicht für verwunderlich erachtet, dass so viele Menschen glauben, in dieser starken Weise frei zu sein. Es bedarf nach Luther erst der Reflexion, um zu erkennen, dass es diese Freiheit nicht gibt bzw. nicht geben kann.52 Damit ergibt sich die Frage, welche Konsequenz Luther aus der – mit Strawson inhaltlich geteilten – Einsicht zieht, dass im allgemeinen Verständnis Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst erscheint. Es liegt nahe, dass Luther damit gerade nicht Harry Frankfurts schlicht-kompatibilistischem Freiheitsverständnis zuzuordnen ist, würde diese Zuordnung doch voraussetzen, dass Luther ein seiner eigenen Einsicht nach phänomenologisch unangemessenes Freiheitsverständnis vertritt. Als Zusammenfassung lässt sich festhalten: In der Assertio verfolgt Luther eine breit angelegte Argumentation gegen die Möglichkeit und Wirklichkeit der radikalen Selbstbestimmung. Die Frage danach, welche Bedingungen für Verantwortlichkeit bzw. Zurechenbarkeit erforderlich sind, thematisiert er dabei jedoch nicht. Wurde in der Heidelberger Disputation Zurechenbarkeit von Luther ausdrücklich beschrieben und ihre Wirklichkeit behauptet53, wenn auch nicht begründet, so findet sie sich hier erst gar nicht explizit thematisiert. Daher sind aufgrund des Verständnisses von Verantwortlichkeit in der Assertio keine Schlüsse darüber zu ziehen, ob Luther radikale Selbstbestimmung für Freiheit als relevant erachtet oder nicht. Es könnte jedoch, ausgehend von Luthers Argumentation gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung, in der Deutung des natürlichen schlichten Kompatibilismus angenommen werden, dass Luther als schlichter Kompatibilist im Sinn Frankfurts zu verstehen ist, der auch schlicht-kompatibilistisch begründete Zurechenbarkeit voraussetzt. Allerdings zeigt sich in der Assertio doch eine gewisse von Luther erkannte Relevanz der Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und radikaler Selbstbestimmung darin, dass Luther die Freiheit innerhalb einer gegebenen Grundrichtung des Wollens nicht als Freiheit bezeichnet und das Vorhandensein des 51  „[H]aec operatio erroris […] speciosa et placens naturae liberoque arbitrio, ut difficile sit eam confutare, praesertim apud rudes et crassos animos“ (WA 7, 148, 12 f.). 52  Vgl. hierzu auch Strawsons Gedankenexperiment in Abschnitt 3.4, nach dem die Erkenntnis über deterministische Voraussetzungen ein Handlungssubjekt in seinem Selbstverständnis erschüttern kann. 53  Besonders in der Erklärung zu These 16 sowie in These 17 und These 18; s. Abschnitt 5.1.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

freien Willensvermögens als übliches Freiheitsverständnis wahrnimmt. Diese freimütige Anerkennung des Umstands, dass im allgemeinen Verständnis Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst verstanden wird, zeigt Luthers Anerkennung inkompatibilistischer Intuitionen und stellt somit die Phänomenangemessenheit einer schlicht-kompatibilistischen Freiheitstheorie analog zu jener Frankfurts, die Luther vertreten könnte, grundlegend infrage. Hieraus folgt, dass ausgehend von diesem Befund Luther wiederum nicht als schlichter Kompatibilist im Sinn Frankfurts eingeordnet werden kann, obwohl er – an anderer Stelle – im Sinn eines natürlichen schlichten Kompatibilismus gegen die Möglichkeit von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung argumentiert. Um Luther inhaltlich der Position Frankfurts eindeutig zuzuordnen, wäre etwa notwendig, dass Luther die Freiheit innerhalb einer nicht veränderbaren Beschaffenheit wirklich als Freiheit bezeichnet, dass er das von ihm als üblich anerkannte Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst in der Rätselhaftigkeit seiner Verbreitung reflektierend thematisiert und insbesondere, dass er eine Begründung von Zurechenbarkeit unter schlicht-kompatibilistischen Voraussetzungen anbietet. Da dies nicht der Fall ist, kann Luther eben auch der inkompatibilistische Intuitionen anerkennenden und geradezu der impossibilistischen Position Strawsons zugeordnet werden: Die Art von Freiheit, die Luther als relevant erachtet – eben inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigende Freiheit und in deren Reflexion Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung – hält er zugleich für unmöglich. Freilich, diese impossibilistische Deutung Luthers scheint zu Luthers Argumentation im Sinn eines natürlichen schlichten Kompatibilismus in klarem Widerspruch zu stehen.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525) Für die Untersuchung von Luthers Verständnis der Rolle radikaler Selbstbestimmung für Freiheit stellt die 1525 veröffentlichte, als Antwort an Erasmus von Rotterdam konzipierte Schrift mit dem Titel De servo arbitrio die umfangreichste und inhaltlich komplexeste Quelle dar. Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536), im Grundsatz Sympathisant der Wittenberger Reformation54, hatte in seiner Schrift De libero arbitrio. Diatribe sive collatio (1524) (Dla) scharfe Kritik geübt an Luthers in der 36. These der Assertio entfalteten Zurückweisung des freien Willensvermögens. In Dla stellt Erasmus fest, dass er 54  Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther W. Ribhegge: Erasmus von Rotterdam, Darmstadt 2010, 103–137; zu Erasmus als Einführung: R. B. Hein: „Gewissen“ bei Adrian von Utrecht (Hadrian VI.), Erasmus von Rotterdam und Thomas More. Ein Beitrag zur systematischen Analyse des Gewissensbegriffs in der katholischen nordeuropäischen Renaissance, Münster 1999, 262–304.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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weder Luthers soteriologisch begründetes Eintreten für die Relevanz der Freiheitsthematik, noch Luthers Sicht, dass die Unfreiheit des Willensvermögens sich in der Heiligen Schrift als eindeutiger Sachverhalt darstellt, teilt. Es erscheint Erasmus gefährlich, die Thematik der Freiheit öffentlich aufzugreifen, wird so doch nur das Volk verwirrt und moralischen Diskussionen Vorschub geleistet, die nicht wünschenswert sein können.55 Die Bedeutsamkeit der Freiheitsthematik dagegen, die Luther darin erkennt, dass mit ihr die christliche Kernbotschaft des Gnadenhandelns Gottes am Menschen betroffen ist, wird Erasmus von seiner eigenen religiösen Intuition aus nicht einsichtig. Mit Blick auf die Frage nach der Wirklichkeit des freien Willensvermögens in der Heiligen Schrift kommt Erasmus zum Ergebnis eines uneinheitlichen Befundes. Von dieser unklaren Haltung der Bibel ausgehend will er zu einem „maßvolle[n] Urteil“56 gelangen, einen Mittelweg zwischen Freiheit und Unfreiheit des Willensvermögens beschreiten. Dies entspricht dem von ihm gewählten Titel seiner Schrift ‚collatio‘, mit dem deutlich wird, dass er sich eine „Sammlung“ der Haltungen zur Frage nach dem Willensvermögen zum Ziel setzt und nicht einen systematischen Lösungsversuch der kontroversen Thematik. Erasmus gibt eine Definition seines Begriffs vom Willensvermögen, die auf das Verständnis eines unabhängigen Selbst schließen lässt, das sich indifferent frei zu entscheiden vermag. So versteht er „den freien Willen als eine Kraft des menschlichen Wollens […], durch die sich der Mensch dem zuwenden, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abkehren könnte“57.

Dabei spricht Erasmus dem Menschen diese Fähigkeit keineswegs uneingeschränkt zu, sondern er sieht sich selbst in der Tradition von Augustin und Thomas von Aquin58, wenn er hinsichtlich dieser Kraft „das meiste auf die Gnade zurück[führen]“ möchte, hingegen „auf den freien Willen beinahe nichts, ohne 55 

Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio diatribe sive collatio (1524), in: Ausgewählte Schriften in acht Bänden. Lateinisch und Deutsch, hg. v. W. Welzig, Bd. 4, Darmstadt 1969, 1–195, hier: 18–21. Die deutsche Übersetzung entspricht in den Zitaten dieser Ausgabe, sofern nicht die eigene Übersetzung vermerkt ist. 56  Erasmus: De libero arbitrio, 157. 57  Erasmus: De libero arbitrio, 37. – „Porro liberum arbitrium hoc loco sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere.“ (Erasmus: De libero arbitrio, 36). 58  Vgl. zur – inhaltlich wohl hinterfragbaren – Berufung auf Augustin und Thomas von Aquin: Erasmus von Rotterdam: Hyperaspistes diatribe adversus servum arbitrium Martini Lutheri (1526–1527), in: Ausgewählte Schriften in acht Bänden, Bd. 4, 197–675, hier: 619; 643. Mit dieser zweiteiligen Schrift hat Erasmus wiederum auf Luthers Dsa enttäuscht geantwortet, ohne dabei inhaltlich neue Akzente im Vergleich zu Dla zu setzen. Luther hat auf Hyperaspistes nicht mehr inhaltlich reagiert, sondern in Verunglimpfung des Titels, der wohl als „stark schildbewehrt“ abgeleitet von lat. aspistes „schildbewehrt“ wiederzugeben ist, Erasmus als „Superviper“ beschimpft, abgeleitet von lat. aspis „Natter, Viper“. Vgl. WA Br 4, 263, 3–5. Vgl. G. Wenz: „Göttliches Gnadentum und menschliche Willensfreiheit. Erasmus und Luther im Disput“, in: Evangelische Aspekte 15 (2005), 52–55, hier: 53.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

ihn [aber] völlig zu beseitigen“59. Der Anteil des freien Willensvermögens soll so klein wie möglich und der Anteil der Gnade so groß wie möglich ausfallen. Die Freiheit soll nur eine „Winzigkeit“ bzw. ein „Minimum“60 betragen. Damit billigt Erasmus „die Meinung jener, die dem freien Willen einiges zuschreiben, aber der Gnade das meiste“61. Aufschlussreich bezüglich der Rolle von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und radikaler Selbstbestimmung erweisen sich die Motive, die Erasmus zur Zurückweisung von Luthers Position in der Assertio verleiten. So hält er etwa am Ende von De libero arbitrio resümierend fest: „Warum, wird man sagen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen zu Recht angerechnet wird, die sich freiwillig der Gnade Gottes versagt haben, damit der Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Gott abgewendet werde, damit von uns die Verzweiflung ferngehalten werde, und die Sorglosigkeit abgewendet werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden. Aus diesen Gründen wird von fast allen der freie Wille behauptet, der aber ohne die fortwährende Gnade Gottes unwirksam ist, damit wir uns nichts anmaßen.“62

Hier wird Erasmus’ Ringen um das Willensvermögen anschaulich: Einerseits knüpft er Zurechenbarkeit an eine inkompatibilistisch verstandene oder zumindest inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigende Willensfreiheit und sieht diese – zumindest in einem geringen Maß – daher als unbedingt relevant und notwendig an, andererseits jedoch erkennt er, dass aufgrund der Anerkennung dieser Freiheit das göttliche Gnadenhandeln relativiert zu sein scheint. Sein Ziel besteht nun darin, die beiden sich als unvereinbar erweisenden Thesen dennoch zu vereinbaren, indem er trotz des Zugeständnisses einer geringfügigen menschlichen Willensfreiheit Gottes Gnade als ständig wirksam beschreibt. Luther bestreitet entschieden, dass eine solche Vereinbarung möglich ist. In De servo arbitrio antwortet er programmatisch auf Erasmus’ Erwägungen, mitunter harsch ironisch und polemisch, und bringt dabei sein Verständnis der Unmöglichkeit des menschlichen freien Willensvermögens sowie der Wirklichkeit des göttlichen freien Willensvermögens (5.3.1), sein Verständnis einer durch Gott ermöglichten schlicht-kompatibilistischen Freiheit (5.3.2) sowie seine Haltung zur Frage, wie sich Zurechenbarkeit begründen lässt (5.3.3), zur Sprache. 59 

Erasmus: De libero arbitrio, 57. „[P]erpusillum“ (Erasmus: De libero arbitrio, 170; 172), „minimum“ (Erasmus: De libero arbitrio, 136; 176). 61  Erasmus: De libero arbitrio, 189. – „Mihi placet illorum sententia, qui nonnihil tri­ buunt libero arbitrio, sed gratiae plurimum“ (Erasmus: De libero arbitrio, 188). 62 Vgl. Erasmus: De libero arbitrio, 191 (eigene Übersetzung). – „Cur, inquies, datur aliquid libero arbitrio? Ut sit, quod merito imputetur impiis, qui gratiae dei volentes defuerint, ut excludatur a deo crudelitatis et iniustitiae calumnia, ut excludatur a nobis desperatio, ut excludatur securitas, ut exstimulemur ad conandum. Ob has causas ab omnibus fere statuitur liberum arbitrium, sed inefficax absque perpetua dei gratia, ne quid arrogemus nobis“ (Erasmus: De libero arbitrio, 190). 60 

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Gerade der letztgenannte Punkt bezüglich Luthers Verständnis’ von Zurechenbarkeit stellt eine Kernfrage der Interpretation von Dsa dar. Die Debatte um diese Schrift, die Luther später neben den beiden Katechismen als allein erhaltenswert gewürdigt hat63, erweist ihre Wirkmächtigkeit zweifelsohne in der vielfach thematisierten Frage, ob an Luthers Lehre vom unfreien Willen angesichts der gefolgerten Unmöglichkeit von Verantwortlichkeit festgehalten werden kann. Dabei ist zu beobachten, dass nur wenige protestantische Theologinnen und Theologen Luthers These der Unfreiheit des Willensvermögens gefolgt sind. Bereits der späte Melanchthon rückte in seinen Loci communes von der eindeutigen Position Luthers ab und damit näher zu Erasmus hin64 und entsprechend wurden auch nach ihm an Luthers Eindeutigkeit erinnernde Stimmen theologiegeschichtlich eher selten und zurückhaltend wahrgenommen.65 Zeitweise wurde Luthers Lehre scharf zurückgewiesen und Dsa in seinem theologischen Wert grundlegend infrage gestellt – als eines der prominentesten Beispiele hierfür gilt sicher das zu pauschal ausfallende Urteil Albrecht Ritschls, der Dsa als „unglückliches Machwerk“66 zurückwies. Anfang des 20. Jahrhunderts suchten Hans Joachim Iwand, der in Luthers Lehre vom unfreien Willen „das notwendige Korrelat der Rechtfertigungslehre“67 erkannte sowie sein Schüler Klaus Schwarzwäller, der sie als Erkennungsmerkmal des Protestantismus deutete68, einen Weg zurück zur unkompromittierten Lehre Luthers. In jüngster 63 

Vgl. Luthers Brief an Wolfgang Capito vom 9. Juli 1537 (WA Br 8, 99, 5–8). Melanchthon in der ersten Auflage der Loci communes zwar noch Luthers Bestreitung des freien Willensvermögens, so nimmt er diese Bestreitung in den folgenden Auflagen zurück. Vgl. P. Melanchthon: Loci praecipui theologici (1559), in: R. Stupperich (Hg.): Melanchthons Werke in Auswahl, Bd. II/1, bearb. v. H. Engelland, fortgef. v. R. Stupperich, 2. Aufl., Gütersloh 1978, 263–280. 65  Vgl. konzentriert bei C. Danz: „Martin Luther: De servo arbitrio“, in: Ders. (Hg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 2009, 218–224, hier: 223. 66  A. Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, 4. Aufl., Bonn 1910, 221. Ritschl stellt weiterhin in diesem Kontext die als kontrovers geltende Behauptung auf, dass Luther die in Dsa auftretenden „befremdlichen Elemente […] selbst niemals wiederholt“ habe (221). 67  H. J. Iwand: „Die grundlegende Bedeutung der Lehre vom unfreien Willen für den Glauben. Eine Einführung in Luthers Schrift vom unfreien Willen“ (1930), in: Ders.: Um den rechten Glauben, München 1959, 13–30, hier: 22. 68  Vgl. K. Schwarzwäller: Sibboleth. Die Interpretation von Luthers Schrift De servo arbitrio seit Theodosius Harnack. Ein systematisch-kritischer Überblick, München 1969. Schwarzwäller weist mit dem Titel dieser Rezeptionsgeschichte auf das alttestamentliche Buch der Richter hin. Im Kontext der Landnahme wird dort die Aussprache des Wortes ‚sibboleth‘ zum Erkennungsmerkmal (Ri 12,5 f.). Die Ephraimiter können daran erkannt werden, dass sie dieses Wort mit ‚s‘ statt mit ‚sch‘ aussprechen. Schwarzwäller beschreibt, dass die Zurückweisung der Unfreiheit des Willensvermögens im Protestantismus analog als Sprachfehler und als Identitätsverlust zu deuten sei. Vergleichbar deutlich erkennt Gerhard Ebeling Gottlosigkeit, wenn dem Menschen ein freier Wille zugesprochen wird, vgl. G. Ebeling: Art. Luther II. Theologie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 3, Bd. 4, Tübingen 1960, 495–520, hier: 516. 64  Folgt

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Zeit hat auf entsprechende Weise Friedrich Hermanni darauf hingewiesen, dass für Luther die Zurückweisung der Lehre vom unfreien Willensvermögen nichts Geringeres bedeutet habe, „als die Rechtfertigungslehre und damit die protestantische Identität zu untergraben“69. Wahrscheinlich ließe sich ein großer Teil der Rezeptionsgeschichte von Dsa als Geschichte über Missverständnisse hinsichtlich des Freiheitsverständnisses Luthers rekonstruieren, wobei viele solcher Missverständnisse Luthers teils unsystematischer, begrifflich mehrdeutiger und assoziativ aufgebauter Darlegungsform geschuldet sind.70 Abseits mancher begrifflich-systematischer und struktureller Verworrenheit, die sich zum Teil entflechten lässt, zeigt sich aber vor allem der von Erasmus und von weiten Teilen des Rezipientenkreises wahrgenommene Verlust der Zurechenbarkeit als Hauptproblem der These über die Unfreiheit des Willensvermögens. Diese für die protestantische Tradition bedeutsame These scheint stets die Hypothek ihrer Folgen zu tragen: Die Unerklärbarkeit der Zurechnungsfähigkeit des Menschen sowie die Unerklärbarkeit der Gerechtigkeit Gottes, der sein göttliches Urteil über Menschen ohne die notwendige Voraussetzung ihrer Zurechenbarkeit spricht. Der Abschnitt über Luthers Verständnis von Zurechenbarkeit (5.3.3) wird dieses Kapitel abschließend in das Zentrum dieser Debatte führen. Der Beitrag zur Diskussion besteht dabei darin, Luthers Verständnis von Zurechenbarkeit in seiner inneren Spannung differenziert herauszuarbeiten, indem einerseits deutlich wird, dass Luther Zurechenbarkeit schlicht-kompatibilistisch begründet und andererseits ersichtlich wird, dass Luther radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung von Zurechenbarkeit auffasst. Damit müssen Versuche, das Problem der Unzurechnungsfähigkeit als Folge der These von der Unfreiheit des Willensvermögens mit Hilfe einer schlicht-kompatibilistischen Begründung von Zurechenbarkeit im Sinn Frankfurts zu lösen, gerade für die von Luther vertretenen Kriterien von Zurechenbarkeit letztlich als unzureichend gelten. 69  F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 166. Otto Hermann Pesch nennt Hermanni neben Iwand und Ebeling (O. H. Pesch: Art. Willensfreiheit III. Dogmen- und theologiegeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie 36, Berlin 2004, 76–97, hier: 93). 70  Vgl. Heiko Obermans Diktum, Dsa sei „miserabel komponiert“, obgleich Oberman Luthers Schrift als inhaltlich „rücksichtslos direkt und klar“ bezeichnet. H. Oberman: Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, 226.   Zur weiteren rezeptionsgeschichtlichen Aufarbeitung von Dsa s. neben K. Schwarzwäller: Sibboleth etwa auch mit Blick auf die Lutherische Orthodoxie: T. Mahlmann: „Die Interpretation von Luthers De servo arbitrio bei orthodoxen lutherischen Theologen, vor allem Sebastian Schmidt (1616–1696)“, in: N. Slenczka, W. Sparn (Hg.): Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers, FS für Jörg Baur zum 75. Geburtstag, Tübingen 2005, 72–136, und mit Blick auf das 20. Jahrhundert W. Behnk: Contra liberum arbitrium pro gratia Dei. Willenslehre und Christuszeugnis bei Luther und ihre Interpretation durch die neuere Lutherforschung. Eine systematisch-theologiegeschichtliche Untersuchung, Frankfurt a.M., Bern 1982, bes. 19–141.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Schließlich wird die ungelöste Frage, ob zugleich an Luthers Lehre von der Unfreiheit des Willensvermögens und an der Möglichkeit von Zurechenbarkeit festgehalten werden kann, im letzten Kapitel (7) dieser Untersuchung wieder aufgenommen.

5.3.1 Die menschliche Unmöglichkeit und die göttliche Wirklichkeit der radikalen Selbstbestimmung In Anknüpfung an die in der Heidelberger Disputation und in der Assertio dargelegte Position vertieft Luther seine Haltung in Dsa weiter. So zeigt sich zum einen, dass Luther das freie Willensvermögen im Sinn einer Freiheit, für welche radikale Selbstbestimmung eine notwendige Bedingung darstellt, für nicht wirklich und nicht möglich erachtet. Zum anderen lässt sich kein eindeutiges Ergebnis bezüglich der Frage nach der Relevanz, die Luther diesem Freiheitsverständnis beimisst, feststellen. Die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung gilt nach Luther jedenfalls unbestreitbar für den Menschen. Hinsichtlich der Freiheit, die Gott besitzt, stellt sich Luthers These gegenteilig dar: Gott verfügt durchaus über eine Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung. Die beiden folgenden Unterabschnitte thematisieren die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung beim Menschen (Abschnitt 5.3.1.1) sowie die Möglichkeit und Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung bei Gott (Abschnitt 5.3.1.2).

5.3.1.1 Die Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung beim Menschen Die Lektüre von Dsa erweckt den vorherrschenden Eindruck, dass Luther vehement und mitunter harsch polemisch den von Erasmus unternommenen Versuch zurückweist, menschliche inkompatibilistische Freiheit bzw. menschliche Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst oder im Sinn radikaler Selbstbestimmung und deterministisch verstandenes göttliches Gnadenhandeln zu vereinbaren. Diese Zurückweisung basiert auf Luthers Argumentation gegen die Möglichkeit und die Wirklichkeit menschlicher Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird.71 In diesem Abschnitt werden die Grundlinien dieser Argumentation Luthers in Dsa entfaltet. Dabei zeigt sich einerseits, dass 71  Zwar lassen sich begrifflich, wie bereits zuvor ausgeführt wurde, allein inkompatibilistische Freiheit und deterministisch verstandenes Handeln Gottes als unvereinbar verstehen, doch wird in Dsa erkennbar, dass Luther auch die kompatibilistischen Freiheitsvorstellungen im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung als mit der göttlichen Allwirksamkeit unvereinbar versteht. Dies erscheint nicht verwunderlich – wecken diese kompatibilistisch deutbaren Vorstellungen doch inkompatibilistische Intuitionen, sodass sie mit dem Determinismus nicht vereinbar zu sein scheinen.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Luther Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung und im Sinn eines unabhängigen Selbst zum einen aus sich von diesen Theorien selbst her ergebenden Gründen (z.B. aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit oder aus Erfahrungsgründen) und zum anderen aufgrund ihrer vermeintlichen Unvereinbarkeit mit dem Determinismus als unmöglich ansieht. Im Zusammenhang der Feststellung, dass dem Menschen das Heil von Gott allein durch Gnade ohne ein Zutun des Menschen gewährt wird, zeigt sich, dass und inwiefern Luther in Dsa die Frage der strukturellen Freiheitsproblematik erörtert: „Wenn dies erwiesen ist, dass unser Heil außerhalb unserer Kräfte und Absichten vom Werk Gottes allein abhängt, […] folgt daraus nicht deutlich, dass, solange Gott mit seinem Werk nicht in uns ist, alles schlecht ist, was wir tun, und dass wir notwendigerweise tun, was nichts zum Heil vermag? Denn wenn nicht wir, sondern allein Gott das Heil in uns wirkt, wirken wir vor seinem Werk nichts zum Heilmachen, ob wir wollen oder nicht.“72

Luther argumentiert wie in der Heidelberger Disputation und in der Assertio auch in Dsa gegen die Wirklichkeit und die Möglichkeit einer Freiheit, die sich auf die persönliche Beschaffenheit eines Handlungssubjekts, das heißt auf die Grundlage konkreter einzelner Entscheidungen und Handlungen eines Handlungssubjekts, bezieht. Anders ausgedrückt: Luther argumentiert gegen die Wirklichkeit und Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung. Ein schlecht beschaffenes Handlungssubjekt vermag keine guten Entscheidungen und Handlungen hervorzubringen, ebenso wenig wie ein gut beschaffenes Handlungssubjekt schlechte Entscheidungen und Handlungen hervorzubringen vermag. Diese bereits in der Assertio ausgedrückte beidseitige Unmöglichkeit führt Luther nun im Hinblick auf einen in der Gnade Gottes stehenden Menschen weiter aus: „Nicht einmal durch die Pforten der Unterwelt wird er besiegt oder gezwungen, sondern er fährt fort, Gutes zu wollen, zu begehren und zu lieben, wie er zuvor Schlechtes wollte, 72  „Ubi id probatum fuerit, extra vires et consilia nostra in solius opere Dei pendere salutem nostram, […] nonne clare sequitur, dum Deus opere suo in nobis non adest, omnia esse mala quae facimus, et nos necessario operari quae nihil ad salutem valent? Si enim non nos, sed solus Deus operatur salutem in nobis, nihil ante opus eius operamur salutare, velimus, nolimus.“ (WA 18, 634, 16–21). Vgl. zu der These der Unmöglichkeit, in Hinsicht auf die eigene Beschaffenheit bzw. Natur frei zu sein, neben den in 5.1 und 5.2 aufgeführten Belegen aus der Heidelberger Disputation und Assertio auch folgende Stelle aus der Römerbriefvorlesung (1515/1516): „Wo bleibt nun der freie Wille? Wo bleiben sie, die sich zu der Behauptung versteigen, wir könnten es unserer Natur entlocken, Gott über alle Dinge zu lieben?“ (WA 56, 355, 3 f.; zu Römer 8,3, Übersetzung nach: M. Luther: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 1 (LD 1), hg. v. K. Aland, Stuttgart 1969, 192 (Herv. F.D.)). Vgl. zu Luthers Freiheitsaussagen in der Römerbriefvorlesung grundsätzlich T. Jacobi: „Christen heißen Freie“. Luthers Freiheitsaussagen in den Jahren 1515–1519, Tübingen 1997, 10–100.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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begehrte und liebte. […] so dass es hier nicht irgendeine Freiheit oder ein freies Willensvermögen gibt, sich anderswohin zu wenden oder etwas anderes zu wollen, solange der Geist und die Gnade Gottes im Menschen bleibt.“73

Die Handlungen und Entscheidungen menschlicher Handlungssubjekte entsprechen nach Luther in stets eindeutiger Form der Art ihrer Beschaffenheit.74 Dabei existieren Menschen notwendig im Modus entweder guter oder schlechter Beschaffenheit und verfügen nicht über die Fähigkeit, sich in ihrer Beschaffenheit radikal frei zu verändern. Mit dieser Position sieht sich Luther auf dem sicheren Boden der Heiligen Schrift. Anders als Erasmus, der einen disparaten Schriftbefund zu dieser Frage feststellt, leugnet Luther mit Blick auf den Gesamtbefund jede Disparität und Dunkelheit der Bibel hinsichtlich der Frage nach dem freien Willensvermögen: „Deshalb, wenn wir mit der Schrift als Richter diesen Fall behandeln, werde ich in jeder Art siegen, so dass nicht ein Jota oder eine Kleinigkeit übrig bleibt, die nicht den Lehrsatz vom freien Willensvermögen verdammen würde.“75

Luther trägt seine Position sowohl mit Schriftargumenten als auch mit logischen, die Freiheitsproblematik analytisch behandelnden sowie auf Erfahrung rekurrierenden Argumenten vor. Diese Argumentationsstrukturen laufen oft ineinander, wie folgendes Beispiel zeigt: Gegenüber einem von Erasmus geschätzten Argument, dass die Heilige Schrift doch nicht über eine solche Bandbreite von Imperativen verfügen könnte, würde sie nicht ein freies Willensvermögen voraussetzen76, wirft Luther Erasmus einen Fehlschluss vor. Vom Sollen 73  „ne portis quidem inferi vinci aut cogi, sed pergit volendo et lubendo et amando bonum, sicut antea voluit et lubuit et amavit malum. […] ut nec hic sit ulla libertas vel liberum arbitrium, alio sese vertendi, aut aliud volendi, donec durat spiritus et gratia Dei in homine.“ (WA 18, 635, 1–7). Vgl. auch: „Bevor der Mensch erneuert wird zu einer neuen Kreatur der Herrschaft des Geistes, unternimmt er nichts, versucht er nichts, wodurch er sich zu dieser Erneuerung und zu dieser Herrschaft vorbereitet. Hierauf, wenn er neu erschaffen ist, unternimmt er nichts, versucht er nichts, wodurch er unter dieser Herrschaft bliebe. Sondern beides wirkt allein der Geist in uns, der uns ohne uns neu erschafft und als neu Erschaffene bewahrt.“ – „Homo antequam renovetur in novam creaturam regni spiritus, nihil facit, nihil conatur, quo paretur ad eam renovationem et regnum; Deinde recreatus, nihil facit, nihil conatur, quo perseveret in eo regno, Sed utrunque facit solus spiritus in nobis, nos sine nobis recreans et conservans recreatos“ (WA 18, 754, 8–12). 74  Vgl. hierzu etwa: WA 18, 772, 6–10; 774, 33–36; u.ö. 75  „Ideo si scriptura iudice caussam agimus, omnibus modis vicero, ut ne iota unum aut apex sit reliquus, qui non damnet dogma liberi arbitrii.“ (WA 18, 782, 25–27). Dabei sieht Luther durchaus, dass sich im biblischen Befund nicht alles ohne Weiteres als Beleg für die Unfreiheit des Willensvermögens heranziehen lässt. So bekennt er, „dass viele Stellen in der Schrift dunkel und unverständlich sind, nicht aufgrund der Größe der Dinge, sondern aufgrund der Unkenntnis der Worte und der Grammatik, die aber in nichts das Verständnis aller Dinge in der Schrift verhindern“ – „Hoc sane fateor, esse multa loca in scripturis obscura et abstrusa, non ob maiestatem rerum, sed ob ignorantiam vocabulorum et grammaticae, sed quae nihil impediant scientiam omnium rerum in scripturis“ (WA 18, 606, 22–24). 76  „Danach gibt die ‚Diatribe‘ [dies] als Grund an, dass notwendigerweise so viele Er-

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

kann nach Luther nicht eindeutig aufs Können geschlossen werden – besonders, so Luther, wenn doch nach Paulus der Mensch am Sollen seine grundsätzliche Überforderung zu erkennen hat und damit auf die Gnade vorbereitet wird (vgl. Röm 3,20): „Hier wird jene Frage der Diatribe gelöst, die so oft im ganzen Büchlein wiederholt wurde: Wenn wir nichts können, was erreichen dann so viele Gesetze, Vorschriften, Drohungen, Versprechungen? Hier antwortet Paulus: Durch das Gesetz kommt es zur Erkenntnis der Sünde. Ganz anders antwortet er auf diese Frage, als ein Mensch oder das freie Willensvermögen denken. (Er sagt) das freie Willensvermögen wird nicht durch das Gesetz bewiesen.“77

Gegen Erasmus’ auf die große Zahl biblischer Imperative rekurrierende These argumentiert Luther hier ebenfalls mit biblischem Hintergrund, indem er Paulus’ Sicht des Gesetzes heranzieht. Dabei zeigt sich aber auch Luthers analytisches Vorgehen, wenn er nämlich, ausgehend von der von Paulus gewonnenen Erkenntnis, dass es letztlich keinen Grund dafür gibt, von der Forderung eines Imperativs notwendig auf die Fähigkeit, dem Imperativ zu folgen, zu schließen, Erasmus’ These als logischen Fehlschluss entlarvt. Im Kontext dieses Beispiels lässt sich auch ein erster Hinweis zur Frage, welche Relevanz Luther radikaler Selbstbestimmung zuweist, finden. Denn wollte man Luther als schlichten Kompatibilisten im Sinn Frankfurts verstehen, müsste es ihm wohl noch leichter fallen, Erasmus zu widersprechen, als allein in defensiver Strategie auf einen logischen Fehlschluss zu verweisen. Luther könnte offensiv die Position vertreten, dass Zurechenbarkeit grundsätzlich nicht an ein Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst zu knüpfen ist, sondern gerade im Kontext eines Verständnisses von Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit ohne Anspruch auf inkompatibilistische Intuitionen zu begründen ist. Tatsächlich finden sich an anderer Stelle in Dsa Ansätze zur Begründung eines solchen schlicht-kompatibilistischen Verständnisses von Verantwortlichkeit bei Luther.78 Doch gerade diese Stelle, in der Luther das Potential dieser munterungen in den Schriften ihren Sinn verlieren, gleichfalls so viele Versprechungen, Drohungen, Forderungen, Vorwürfe, Bitten, Segnungen und Verfluchungen, so viele Mengen an Vorschriften, wenn es nicht jeder in der Hand hätte, zu beachten, was vorgeschrieben ist“ – „Post haec caussatur Diatribe, frigere necessario tot hortamenta in scripturis, Item tot pollicitationes, minas, expostulationes, exprobrationes, obtestationes, benedictiones et maledictiones, tot examina praeceptorum, si non sit in manu cuiquam servare quod praeceptum est“ (WA 18, 686, 14–17), vgl. auch WA 18, 690, 31–691, 5. S. zu Erasmus’ Argumentation: Erasmus: De libero arbitrio, 66. 77  „[H]ic solvitur illa quaestio Diatribes, toties toto libello repetita: Si nihil possumus, quid faciunt tot leges, tot praecepta, tot minae, tot promissiones? Respondet hic Paulus: per legem cognitio peccati. Longe aliter respondet ad eam questionem, quam homo aut liberum arbitrium cogitat. Non (ait) probatur liberum arbitrium per legem“ (WA 18, 766, 19–24). Vgl. mit Bezug auf Sir 15,16 WA 18, 675, 40–676, 3; mit Bezug auf Gen 4,7 WA 18, 676, 15–18; mit Bezug auf Ex 20,3.13 f. WA 18, 676, 38–677, 1; vgl. Luther resümierend: WA 18, 679, 38–680, 3. 78 S. u. Abschnitt 5.3.3.1.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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schlicht-kompatibilistischen Argumentation nicht vollständig ausschöpft, lässt eher den Schluss plausibel erscheinen, dass er Erasmus letztlich Recht darin gibt, dass Zurechenbarkeit an ein Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. im Sinn radikaler Selbstbestimmung geknüpft ist. In diesem Sinn ist Luther hier der Position Strawsons zuzuordnen. In welcher Weise sich Luthers Auslegung der Schrift in Dsa darstellt, lässt sich im Rahmen des vorliegenden Zusammenhangs nicht grundsätzlich beschreiben.79 Besonders aufschlussreich für die vorgegebene Perspektive dieser Untersuchung erweisen sich die logischen und analytisch verfahrenden sowie an Erfahrung orientierten Argumentationsformen, die Luther teils im Zusammenhang mit Schriftbelegen, die er meist entsprechend der Darstellung dieser Stellen in Erasmus’ Dla aufgreift, teils unabhängig von der Schrift in Dsa verfolgt. Für die unbestreitbare Einsicht, nicht zu radikaler Selbstbestimmung fähig zu sein, argumentiert Luther mit Bezug auf menschliche Freiheits- bzw. Unfreiheitserfahrungen analog zu schlichten Kompatibilisten, die für das natürliche Verständnis der schlicht-kompatibilistisch verstandenen Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit argumentieren. Dichter wie Vergil, die die Unausweichlichkeit des Schicksals darstellten, gehören nach Luther zu jenen weisen Männern, die ein Gespür dafür hatten, „was die Sache selbst mit der Erfahrung beweist: Dass keinem Menschen seine Pläne je geglückt sind, sondern allen die Sache anders ausgegangen ist, als sie dachten“80. So weist nach Luther die für alle erkennbare Bedingtheit des eigenen Wollens grundsätzlich darauf hin, dass sich die eigene Beschaffenheit nicht in der eigenen Hand eines Handlungssubjekts befindet. Zur selben Einsicht gelangen kann man nach Luther jedoch auch mit Blick auf den Widerwillen: „Befrage die Erfahrung, wie wenig zu überzeugen die sind, die erfüllt an irgendeiner Sache hängen“81. Nur unter Gewalteinwirkung oder wenn ein noch größeres Interesse an einer anderen Sache besteht, ändert sich das Wollen dieser einer Sache leidenschaftlich Anhängenden, niemals jedoch frei79  Vgl. zu Luthers Darstellung der inneren und äußeren Klarheit der Schrift WA 18, 606, 1–609, 14. Vgl. ebenfalls WA 18, 653, 13–35; WA 18, 655, 11–656, 11. Luthers starke Gewichtung der Schriftaussagen zeigt sich etwa auch an seinen Begriffen „copias“ („Kampftruppen“) und „duces“ („Feldherren“), die er für die paulinischen und johanneischen Texte bzw. für Paulus und Johannes selbst im Streit um die Willensfreiheit verwendet. Vgl. WA 18, 756, 25; 757, 9. S. etwa auch B. Rothen: Die Klarheit der Schrift. Teil 1: Martin Luther. Die wie­der­ entdeckten Grundlagen, Göttingen 1990; F. Beisser: Claritas scripturae bei Martin Luther, Göttingen 1966; zum Schriftverständnis des Erasmus: P. Walter: Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam, Mainz 1991; P. Walter: „Erasmus von Rotterdam und der mehrfache Schriftsinn“, in: Von der Suche nach Gott, FS Helmut Riedlinger, hg. v. M. Schmidt u. F. D. Reboiras, Stuttgart – Bad Cannstatt 1988, 447–462. 80  „[I]d quod res ipsa cum experientia probat, nulli hominum unquam sua consilia processisse, sed omnibus alio quam cogitarunt rem cecidisse“ (WA 18, 618, 8 f.). 81  „Interroga experientiam, quam sint impersuasibiles, qui affecti aliqua re haerent“ (WA 18, 634, 33 f.).

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

willig.82 Es scheint, so Luther, eine zutreffende Beobachtung darzustellen, dass Handlungssubjekte nicht beliebig ihren Willen bestimmen können, sondern Situationen den Willen bestimmen und Handlungssubjekte sich diesem bestimmten Willen zu fügen haben. Das lässt Luther zufolge vermuten, dass man nicht in der Lage ist, sich radikal selbst zu bestimmen. Luthers Ausführungen, die für seine Theologie von zentraler Bedeutung sind, rufen im Kontext dieser Untersuchung auch Harry Frankfurts Beschreibung des caring in Erinnerung.83 Frankfurt weist mit seinem Konzept des caring darauf hin, dass Handlungssubjekte affektbedingt bzw. orientiert an dem, woran ihnen – letztlich unhintergehbar – gelegen ist, entscheiden und handeln.84 Die Einsicht in die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung findet sich nach Luther nicht allein unter Weisen, sondern ebenso im gewöhnlichen Volk und selbst unter Gottlosen. Diese fühlen, „dass durch unsere Notwendigkeit der göttliche Wille erfüllt wird, und ihnen ausdrücklich sicher keinerlei Freiheit oder ein freies Willensvermögen überlassen bleibt, sondern alles allein am Willen Gottes hängt“85.

Schließlich sieht Luther auch einen starken empirischen Hinweis gegen das freie Willensvermögen darin, dass Handlungssubjekte eine Begrenzung ihrer Willensstärke erfahren. Mit Blick auf die Glaubenserfahrung kann dies bedeuten, dass ungewiss ist, ob das eigene Willensvermögen zum vermeintlich Guten ausreicht, um dem Willen Gottes zu entsprechen: „Und dies beweist auch die Erfahrung: Befrage mir alle, die sich im Allgemeinen um das freie Willensvermögen bemühen, ob man einen zeigen kann, der ernsthaft und von Herzen über eine seiner Bemühungen und einen seiner Versuche sagen kann: Ich weiß, dass dies Gott gefällt – besiegt will ich dir die Siegespalme zuerkennen. Ich weiß aber, dass keiner gefunden werden wird.“86

Die hier beschriebene mangelnde Gewissheit, ob das eigene Wollen dem Willen Gottes entspricht, stellt Luther auch in autobiographischer Hinsicht für sich persönlich dar. Über zehn Jahre lang, so beschreibt er, war er wie Erasmus davon überzeugt, Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radika82 

Vgl. WA 18, 634, 34–36. Abschnitte 2.2 und 2.3. 84 Vgl. auch die 28. These der Heidelberger Disputation zur Affektbedingtheit der menschlichen Liebe: „Die Liebe des Menschen kommt zustande aus dem für sie Liebenswerten“ – „Amor hominis fit a suo diligibili“ (WA 1, 354, 35 f.; 365, 2 f.). 85  „[Q]uod nostra necessitate voluntatem divinam impleri sentirent, ac definitum certo sentirent sibi nihil libertatis aut liberi arbitrii relictum, sed omnia in solius Dei voluntate pendere.“ (WA 18, 717, 32–35). 86  „Et hoc probat etiam experientia; interroga mihi omnes in universum liberi arbitrii Conatores, si unum poteris ostendere, qui serio et ex animo de ullo suo studio et conatu queat dicere: Hoc scio placere Deo; victus volo palmam concaedere [sic!]. Sed scio, quod nullus reperietur“ (WA 18, 769, 12–16). 83 S. o.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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ler Selbstbestimmung zu besitzen, doch hat sein Zweifel, den Willen Gottes in richtiger Weise zu erfüllen, ihn schließlich zur Einsicht geführt, seinen eigenen Willen nicht radikal bestimmen zu können.87 All diese Erfahrungen, die gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung sprechen und die sich im Sinn eines natürlichen schlichten Kompatibilismus lesen lassen, können, wie Luther zeigt, in vernünftiger Argumentation verständlich gemacht werden. Eine bedeutende sachlogische Erkenntnis stellt dabei die bereits in der Heidelberger Disputation und der Assertio beschriebene Analogie zur Vorstellung eines infiniten Regresses dar. Luther unterstreicht die grundlegende Getrenntheit verschiedener Zustände der Beschaffenheit dadurch, dass er es nicht dabei belässt, die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung zu beschreiben und durch allgemein nachvollziehbare menschliche Erfahrungen zu begründen, sondern dass er auch die regresshafte Vertiefung einer gegebenen, vorliegenden Beschaffenheit beschreibt. So wird der Wille in seiner bestehenden Richtung „noch stärker zum Wollen gereizt, wenn ihm Widerstand geleistet wird“88. Schlecht beschaffene Handlungssubjekte „wenden sich um vieles mehr ab und werden noch schlechter, wenn ihrem Abwenden Widerstand geleistet oder Abbruch getan wird“89. Die schlechte Beschaffenheit erweist sich für ein schlecht beschaffenes Handlungssubjekt nicht nur als unveränderlich ebenso wie die aus schlechter Beschaffenheit folgenden Entscheidungen und Handlungen sich nicht nur immerfort als schlecht erweisen, sondern diese Entscheidungen und Handlungen vertiefen sich noch in ihrer schlechten Beschaffenheit. Dies belegen eindrücklich auch folgende beiden Zitate: „Das freie Willensvermögen vermag nichts außer Schlechtes […] und dies ist sicher offensichtlich, weil ein schlechter Wille nur Schlechtes wollen kann und wenn ihm entgegen­ gesetztes Gutes angeboten wird, nur schlechter werden kann“ 90; „Was also bleibt übrig, als dass das freie Willensvermögen, indem es das Beste ist, das Schlechteste ist, und je mehr es sich bemüht, umso schlechter wird und sich verhält?“91

87  „Und ich rufe Gott zum Zeugen über meine Seele an, ich wäre dabei geblieben und wäre bis heute noch so beeindruckt, wenn nicht das Gewissen mich gequält hätte und das Offensichtliche der Dinge mich nicht zum Entgegengesetzten gezwungen hätte“ – „Et testor Deum in animam meam, perseverassem, adhuc hodie sic moverer, nisi urgente conscientia, et evidentia rerum me in diversum cogeret“ (WA 18, 641, 7–9). 88  „[S]ed potius irritetur magis ad volendum, dum ei resistitur“ (WA 18, 634, 31 f.). 89  „[T]um multo magis avertuntur et peiores fiunt, dum ipsorum aversioni resistitur aut detrahitur“ (WA 18, 710, 24 f.). 90  „[L]iberum arbitrium nihil nisi malum posse […] certus videlicet, quod voluntas mala non nisi malum velle possit, et oblato bono sibi contrario, non nisi peior fieri possit“ (WA 18, 712, 16–19). 91  „Quod igitur reliquum est, quam liberum arbitrium, dum optimum est, pessimum esse, et quo magis conatur, hoc peius fieri et habere?“ (WA 18, 760, 14–16), Übersetzung hier nach Athina Lexutt, LDStA 1, 587. Vgl. ebenfalls WA 18, 751, 6 f.; 775, 33–35.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Die Bemühungen eines schlecht beschaffenen Handlungssubjekts, etwas Gutes zu bewerkstelligen, erweisen sich so als Glieder eines infiniten Regresses zum Schlechten, dem Luthers Einsicht zufolge nicht zu entkommen ist. So stellt sich für Luther die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung auch im Zusammenhang der von ihm erkannten Regressproblematik dar. Eine weitere Argumentationslinie zeigt sich darin, dass Luther auf die allgemein einsehbare Unerreichbarkeit eines Bewusstseins hinweist, das grundlegend von dem mit der vorgegebenen Beschaffenheit eindeutig verbundenen Bewusstsein verschieden ist. So fragt er: „Was kann stärker gegen das freie Willensvermögen gesagt werden, als dass es selbst so sehr nichts ist, dass es nicht nur das Gute nicht will, sondern auch nicht einmal weiß, wie viel Schlechtes es tut und was das Gute ist?“92

Der schlecht beschaffene Mensch kann nach Luther aus sich selbst heraus nicht wissen, dass sein Entscheiden und Handeln schlecht beschaffen ist. Ein Handlungssubjekt kann prinzipiell nicht in die Position gelangen, über seine Beschaffenheit objektiv zu urteilen, steht es doch unterhalb der Ebene, die ihm dies ermöglichen könnte. In seiner Innenperspektive weiß ein Handlungssubjekt beispielsweise nicht, was vor Gott gerecht ist. Unter Berufung auf Paulus stellt Luther fest: „Unwissende der Gerechtigkeit des Heils aber sind gewiss unter dem Zorn und unter der Verdammnis und sie können sich daher wegen der Unwissenheit nicht hinauswinden oder versuchen, sich hinauszuwinden. Denn was willst du versuchen, wenn du nicht weißt, was, wie, wohin oder wie weit du es versuchen sollst?“93

Die Vernunft, eindeutig bestimmt in ihrer Beschaffenheit, kann dem Willen nichts vorschreiben, abgesehen von den „Finsternissen ihrer Verblendung und Unwissenheit“94. Luther deutet schließlich das Gesetz in paulinischer Perspektive als Mittel, diese Verblendung und Unwissenheit aufzudecken. Das Willensvermögen erweist sich „so sehr blind, dass es nicht einmal die Sünde kennt, sondern des Gesetzes als Lehrer bedarf“95. Auch in Bezug auf das Kommen Christi erweist sich das Willensvermögen als blind. So konnten Heiden, so Luther, vor ihrer Bekehrung Christus nicht kennen, konnten an Christus nicht einmal den92  „Quod potest robustius contra liberum arbitrium dici, quam ipsum adeo esse nihil, ut non modo non velit bonum, sed nec sciat quidem, quantum faciat mali et quid sit bonum?“ (WA 18, 697, 9–12). Auch in der 30. These der Disputatio de homine weist Luther den Gedanken zurück, dass der Mensch dazu in der Lage sei, zwischen Gut und Böse zu entscheiden: „quod hominis sit eligere bonum et malum, seu vitam et mortem etc.“ (WA 39/1, 176, 29 f.). 93  „Ignorantes autem iustitiam salutis, certe sub ira et damnatione sunt nec inde sese propter ignorantiam evolvere possunt aut conari, ut evolvantur. Quid enim coneris, si nescieris, quid, qua, quo aut quatenus conandum sit?“ (WA 18, 758, 33–36). 94  „[C]aecitatis et ignorantiae suae tenebras“ (WA 18, 762, 13). 95  „[A]deo caecum sit, ut ne norit quidem peccatum, sed lege doctrice opus illi sit“ (WA 18, 766, 9 f.), vgl. WA 18, 767, 16 f.

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ken, und schon gar nicht nach ihm fragen bzw. sich mit Hilfe des freien Willensvermögens auf ihn vorbereiten.96 Weisen bereits diese Argumentationslinien deutlich in die Richtung einer Argumentation im Sinn des natürlichen schlichten Kompatibilismus, so gilt dies noch offenkundiger für Bemerkungen, in denen Luther gar die menschliche Denkmöglichkeit des freien Willensvermögens zurückweist. Es erscheint Luther mit Blick auf Erasmus’ Dla nicht ausreichend, die freie Kraft des Willensvermögens zu behaupten, sondern diese müsste in ihrer Konzeption von Erasmus konsistent dargestellt werden.97 Die Argumentation Luthers zeigt, dass er diese konsistente Darstellung für menschlich unmöglich erachtet und er sich auf diese Weise auch erklärt, warum Erasmus sie in Dla nicht bietet. Das Lehrstück über das freie Willensvermögen ist nach Luther „nichts als leerer Schall und dröhnende Silben“98. Erasmus wie auch andere Gelehrte vermögen so „weder eine Gestalt noch eine Bezeichnung aufzeigen“99 von dem, was unter der Kraft des freien Willensvermögens zu verstehen wäre. Nach Luther beschreibt Erasmus das Lehrstück vom menschlichen freien Willensvermögen somit aus dem Grund nicht näher, weil dieses Lehrstück überhaupt nicht konsistent und begrifflich klar beschrieben werden kann. Luther kritisiert an Erasmus’ Definition des Willensvermögens, dass im Dunkeln bleibe, wie das Hervorbringen des Willens geschehen könne. Das Wollen bzw. Nichtwollen selbst (im Sinn des schlichten Kompatibilismus) hingegen erscheint ihm als eine unstrittige Tatsache.100 Gegenüber Befürwortern des freien Willensvermögens sieht sich Luther in vorteilhafter Position: „Wir wagen es und rühmen uns dessen, dass wir es nicht nötig haben zuzugeben, was nichts ist und von dem auch nicht gewiss gezeigt werden kann, was es ist. Und dass ihr alle von unglaublicher Hoffnung oder sogar Tollheit seid, die ihr von uns gerade dies fordert  96 

Vgl. WA 18, 775, 20–23. Vgl. ebenfalls WA 18, 782, 15–19. WA 18, 644, 20–645, 2. Luther fordert, dass das „Kind beim Namen genannt werden muss“, dass „diese Kraft [sc. des freien Willensvermögens] zu definieren sei“ – „no­ minandus est infans […] definiendum, quae sit illa vis“ (WA 18, 645, 2 f.).  98  „[E]sse nihil nisi inanem vocem et strepitum syllabarum“ (WA 18, 647, 25 f.).  99  „[N]eque speciem nec nomen possunt ostendere“ (WA 18, 648, 1 f.). 100  „Was nun eben diese Kraft ist, die sich zuwendet und abwendet, das sehe ich nicht; ich sehe nichts außer das Wollen und Nichtwollen selbst, das Wählen, das Geringschätzen, das Schätzen, das Widerlegen, nämlich die Ausführung des Willens selbst. Wir wollen uns [im Sinn des Erasmus] vorstellen, jene Kraft sei gewissermaßen ein Mittelding zwischen dem Willen selbst und seiner Ausführung, sodass der Willen durch sie selbst die Ausführung des Wollens und des Nichtwollens hervorbringt und durch sie selbst die Ausführung des Wollens und des Nichtwollens hervorgebracht wird“ – „Iam quid sit eandem vim sese applicare et avertere, non video, nisi ipsum velle et nolle, eligere, contemnere, probare, refutare, ipsam scilicet actionem voluntatis, ut fingamus, Vim illam esse medium quiddam inter voluntatem ipsam et actionem suam, ut qua voluntas ipsa actionem volendi et nolendi elicit, et qua ipsa actio volendi et nolendi elicitur“ (WA 18, 663, 2–7). Zu der in Luthers Sicht möglichen Freiheit im Sinn der Freiwilligkeit s. u. Abschnitt 5.3.2.  97  Vgl.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

zuzugeben ohne Grund, außer dass ihr viele, Große, Alte seid, die ihr euch daran erfreut, etwas zu behaupten, wovon ihr selbst gesteht, dass es nichts sei.“101

Luthers Argumentation gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung kann hier über weite Strecken im Sinn des natürlichen schlichten Kompatibilismus gedeutet werden. An dieser Stelle erreicht diese Argumentation schließlich die besondere Überzeugungskraft, die auch Strawsons Deutung des natürlichen schlichten Kompatibilismus entspricht: Durch die Aufdeckung der begrifflichen Widersprüchlichkeit kann jedes begründete Recht, an Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, festzuhalten, grundlegend infrage gestellt werden. Demgegenüber erscheint der schlichte Kompatibilismus als analytisch nachvollziehbares und insofern natürliches Freiheitsverständnis, gegen das nichts mehr eingewandt werden zu können scheint.102 Luther mag von hier ausgehend mit Blick auf seine Argumentationsstrategie als schlichter Kompatibilist – Frankfurt entsprechend – interpretierbar sein, der radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz hinsichtlich des Freiheitsverständnisses zuerkennt. In Dsa gibt Luther jedoch wie bereits in der Assertio auch zu erkennen, dass er nicht davon überzeugt ist, dass ein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis das verbreitete und übliche Freiheitsverständnis darstellt. Vielmehr wird nach Luther allgemein von einem Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst, d.h. von einem Freiheitsverständnis, das inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigt, und in Reflexion dieses Verständnisses auch von Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung ausgegangen. Dies belegen deutlich folgende beiden Zitate: „Das Volk meint, mit diesem [sc. mit dem Ausdruck „freies Willensvermögen“] werde die Kraft bezeichnet (wie es sowohl die Kraft als auch die Natur des Wortes bedingen), die sich frei nach beiden Seiten wenden kann, und die Kraft, die niemandem erliegt oder unterworfen ist“103; „Der Ausdruck ‚freies Willensvermögen‘ bezeichnet nach dem Urteil aller, die ihn hören, vor allem das, was es kann und gegenüber Gott ausrichtet, nach Belieben, ohne Bedingung, durch keinen Befehl behindert. Du würdest nämlich auch nicht einen Sklaven frei nennen, der unter dem Befehl eines Herrn handelt. Um wie viel weniger bezeichnen wir einen Menschen oder einen Engel in rechter Weise als frei, die gänzlich unter dem Befehl 101 

„[A]udemus et gloriamur, id quod nihil est, nec quid sit, monstrari certo potest, oportere nos non admittere, Atque vos omnes esse incredibili praesumptione vel insania, qui a nobis id ipsum exigatis admitti, nulla causa, nisi quia vos multos, magnos, antiquos, id quod nihil esse ipsi fatemini, asserere delectat“ (WA 18, 648, 22–26). Luther kann das freie Willensvermögen entsprechend auch als leeren Namen beschreiben: „esse liberum arbitrium inane nomen“ (WA 18, 670, 25 f.). 102 S. o. Abschnitt 3.4. 103  „[P]opulus putat eam vim significari (sicut et vis et natura vocabuli exigit), quae libere possit in utrunque se vertere, neque ea vis ulli caedat vel subiecta sit“ (WA 18, 637, 8–10).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Gottes (von Sünde und Tod ganz zu schweigen) [ihr Leben] so verbringen, dass sie zu keinem Moment aus ihren Kräften bestehen können.“104

In diesen Zitaten zeigt sich, dass Luther Erasmus’ Definition des Willens, der sich unabhängig nach beiden Seiten wenden kann, als allgemein verbreitetes Freiheitsverständnis anerkennt. Luther sieht in diesem Freiheitsverständnis, das inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, zwar eine elende Täuschung105, dennoch aber stellt sich unter der Annahme, Luther sei als schlichter Kompatibilist im Sinn Frankfurts zu verstehen, die Frage, wie Luther seinen schlichten Kompatibilismus mit der Erkenntnis, dass allgemein Freiheit inkompatibilistisch oder im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. in Reflexion dieses Verständnisses auch im Sinn radikaler Selbstbestimmung verstanden wird, in Verbindung bringt. Es fällt schwer, davon auszugehen, dass eine solche schlicht-kompatibilistische Freiheitstheorie überzeugend vertreten werden kann, wenn mit ihr das Eingeständnis eines phänomenologisch unangemessenen Befunds einhergeht. Daher ist von diesen Stellen ausgehend anzunehmen, dass Luther Freiheit im Sinn des unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung durchaus Relevanz zubilligt und entsprechend eine impossibilistische Position, die sich der Position Strawsons zuordnen ließe, vertritt. Grundlegend für Luthers theoretische Überlegungen erweist sich seine Vorstellung von Gottes alle Wirklichkeit bestimmender Allwirksamkeit. Mit dem Wirken Gottes bleibt kein Raum für Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst, sondern alles menschliche Entscheiden und Handeln unterliegt einer göttlichen Notwendigkeit – necessitas.106 Selbst „wenn es die Schrift nicht ­gäbe“107, so Luthers These, ist angesichts der Einsicht in die Allmacht Gottes die Unfreiheit des Willensvermögens nicht zu leugnen. So definiert Luther: „Aber Allmacht Gottes nenne ich nicht jene Macht, durch welche er vieles nicht tut, was er vermag, sondern jene wirksame Macht, durch die er mächtig alles in allem tut, so wie die Schrift ihn als allmächtig bezeichnet.“108 104  „Quod liberi arbitrii vox omnium aurium iudicio proprie id dicitur, quod potest et facit erga Deum quaecunque libuerit, nulla lege, nullo imperio cohibitum. Neque enim servum dixeris liberum, qui sub imperio domini agit, quanto minus hominem vel angelum recte liberum dicimus, qui sub imperio plenissimo Dei (ut peccatum et mortem taceam) sic degunt, ut ne momento consistere suis viribus possint“ (WA 18, 662, 7–12). 105  Vgl. WA 18, 637, 5. 106  „Was auch immer sich von uns aus ereignet, ereignet sich nicht aus freiem Willensvermögen, sondern aus reiner Notwendigkeit“ – „quicquid fit a nobis, non arbitrio libero, sed mera necessitate fieri“ (WA 18, 634, 14 f.) Vgl. entsprechend WA 18, 617, 19; 636, 23 f.; 670, 26; 725, 2. 107  „[S]i nulla esset scriptura“ (WA 18, 719, 22). 108  „Omnipotentiam vero Dei voco non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omnia facit in omnibus, quo modo scriptura vocat eum omnipotentem“ (WA 18, 718, 28–31). Vgl. ebenfalls WA 18, 732, 26 sowie auch in Luthers Auslegung des Magnificat von 1521, WA 7, 574, 8–13.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Gottes Allmacht zeigt sich dabei nicht allein in seiner Allwirksamkeit, sondern entsprechend auch in seinem unveränderlichen Vorherwissen: „Und auch dies ist für einen Christen besonders notwendig und heilsam zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alle Dinge mit unveränderlichem, ewi­ gem und unfehlbarem Willen sowohl vorhersieht als auch beschließt und ausführt. Durch diesen Blitzschlag wird das freie Willesvermögen völlig niedergestreckt und zerrieben.“109

Gottes Wirken in seinem Ratschluss lässt keine Möglichkeit für ein menschliches freies Willensvermögen.110 Wäre Gott nicht allmächtig im Sinn von allwirksam und unveränderlich vorherwissend, wäre er nach Luther als lächerlicher Gott („deus ridiculus“ 111) zu bezeichnen. Der „Wille Gottes ist nämlich wirksam, der nicht behindert werden kann, weil er Gottes natürliche Macht selbst ist“112. Luther sieht die Notwendigkeit, die in Gottes Allwirksamkeit begründet ist, im Widerspruch zu Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird. – Begrifflich steht, wie oben bereits ausgeführt, zwar allein inkompatibilistische Freiheit, die Indeterminismus als notwendige Bedingung von Freiheit postuliert, im Widerspruch zu göttlich begründeter Notwendigkeit, doch Luther fasst ebenso die inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigenden kompatibilistischen Freiheitsvorstellungen im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung als mit Notwendigkeit unvereinbar auf. Da Strawson zufolge Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung intuitiv dem Inkompatibilismus zu109  „Est itaque et hoc imprimis necessarium et salutare Christiano, nosse, quod Deus nihil praescit contingenter, sed quod omnia incommutabili et aeterna infallibilique voluntate et praevidet et proponit et facit. Hoc fulmine sternitur et conteritur penitus liberum arbitrium“ (WA 18, 615, 12–15). Vgl. ebenso WA 18, 619, 1–6; 716, 5–9. 110  Vgl. hierzu auch: „Aber wenn das Vorherwissen und die Allmacht zugestanden werden, folgt natürlich mit unverbrüchlicher Konsequenz, dass wir nicht durch uns selbst gemacht sind und auch nicht leben noch irgendetwas unternehmen, sondern durch seine Allmacht. Da er aber vorherwusste, dass wir so Beschaffene sein werden, und als so Beschaffene uns jetzt macht, bewegt und führt, was, so frage ich, kann erdacht werden, das in uns frei sein würde, auf diese oder jene Weise anders zu geschehen, als er es vorherwusste oder jetzt wirkt? Daher kämpfen das Vorherwissen und die Allmacht Gottes mit unserem freien Willensvermögen diametral entgegengesetzt“ – „Concessa autem praescientia et omnipotentia sequitur naturaliter irrefragibili consequentia, Nos [sic!] per nos ipsos non esse factos nec vivere nec agere quicquam sed per illius omnipotentiam. Cum autem tales nos ille ante praescierit futuros talesque nunc faciat, moveat et gubernet, quid potest fingi quaeso, quod in nobis liberum sit, aliter et aliter fieri, quam ille praescierit aut nunc agat? Pugnat itaque ex diametro praescientia et omnipotentia Dei cum nostro libero arbitrio“ (WA 18, 718, 20–26). Vgl. entsprechend WA 18, 786, 3–7. Hier spricht Luther das freie Willensvermögen mit Blick auf das unfehlbare Vorherwissen Gottes schließlich auch Engeln und jeder denkbaren Kreatur ab. 111  WA 18, 719, 24 f. Die Lächerlichkeit eines Gottes, der schläft, sieht Luther auch bei Homer beschrieben, wenn dieser fragt, ob Gott vielleicht zum Gastmahl nach Äthiopien aufgebrochen sei. Vgl. WA 18, 706, 20 f. 112  „Voluntas enim Dei efficax est, quae impediri non potest, cum sit naturalis ipsa potentia Dei“ (WA 18, 615, 33 f.).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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zuordnen ist bzw. natürlicherweise dem Inkompatibilismus zugeordnet wird, erscheint diese Position nicht überraschend. Luther zufolge besteht angesichts der göttlichen Notwendigkeit kein Raum für menschliche Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung. Eine Kontroverse im Kontext von Luthers Verständnis von Notwendigkeit ergibt sich in der Frage, ob Luther den Menschen in Dsa auch vor dem Sündenfall – prälapsarisch – ohne freies Willensvermögen versteht. Luthers Ausführungen scheinen teilweise dahingehend interpretiert werden zu können, dass er in Dsa das freie Willensvermögen als Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. im Sinn radikaler Selbstbestimmung durchaus als erst im Sündenfall verloren gegangen erkennt. So begründet er das nicht vorhandene freie Willensvermögen auch mit dem Hinweis auf den Sündenfall.113 Gleichzeitig jedoch ist klar, dass Luthers universales Verständnis von Notwendigkeit diesem Verständnis entgegenstehen muss. Dass Luther sein Verständnis von Unfreiheit in grundsätzlicher Perspektive und daher auch ausdrücklich nicht durch den Sündenfall bedingt versteht, wurde schließlich nicht zuletzt bereits in Luthers Verschärfung seiner 13. These der Heidelberger Disputation in der Assertio deutlich, wenn Luther die Einschränkung seiner These in Hinsicht auf den postlapsarischen Zustand zurücknimmt und die Möglichkeit des freien Willensvermögen grundsätzlich bestreitet.114 In Dsa findet sich bei Luther entsprechend, dass gleich welcher Mensch – auch der erste Mensch – sich in seinem Wollen nicht radikal selbst zu bestimmen fähig ist. Zwar stand der Mensch nach Luther im Urstand unter dem Einfluss der Gnade Gottes, doch muss Luther dabei wohl in der Weise angemessen verstanden werden, dass der erste Mensch diesen Einfluss nicht durch die Kraft seines freien Willensvermögens, sondern durch Gottes Willen, der ihm die Gnade entzog, verlor: „Also ist an diesem Menschen [sc. Adam] als einem schrecklichen Beispiel für unseren zu zerreibenden Hochmut gezeigt worden, wozu unser eigenes freies Willensvermögen in 113  Vgl. etwa WA 18, 712, 29–33; 772, 36–38; 773, 17 f.; und in Luthers Römerbriefvorlesung WA 56, 355, 11–13. In diesem Sinn nimmt wohl Walter Dietz an, dass Luther vor dem Sündenfall von einer Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung für den Menschen ausgeht, wenn er notiert: „Luthers Grundthese ist also, daß der Sündenfall (Gen 3) nicht bloß als moralischer Lapsus mit freiheitshinderlichem Nebeneffekt, sondern als radikaler Freiheitsverlust begriffen werden muß, der eine unbefangene Selbstkonstitution fortan unmöglich macht.“ (W. Dietz: „ ,Servum arbitrium‘. Zur Konzeption der Willensunfreiheit bei Luther, Schopenhauer und Kierkegaard“, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 42 (2000), 181–194, hier: 187, Herv. i. O.). 114 S. o. Abschnitt 5.2. Vergleiche auch den eindeutigen Wortlaut der 15. These der Heidelberger Disputation, von dem ausgehend eine Verschärfung der These, dass der Mensch auch prälapsarisch nicht über Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung verfügt hat, erst gar nicht notwendig erscheint: „Nec in statu innocentiae potuit stare activa, sed subiectiva potentia, nedum in bonum proficere“ – „Auch im Stand der Unschuld konnte er nicht bleiben seiner tatsächlichen Fähigkeit nach, sondern [nur] seiner angelegten Fähigkeit nach, erst recht konnte er nicht zum Guten vorwärts kommen“ (WA 1, 360, 14 f.; 354, 9 f.).

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

der Lage ist, wenn es sich selbst überlassen und nicht durch den beständigen Geist Gottes mehr und mehr geführt und gesteigert wird.“115

Luthers Argumentation erweist sich dann insofern als schlüssig, als er dem Menschen durchaus eine andere, gute Beschaffenheit prälapsarisch zuspricht, den Verlust derselben im Sündenfall jedoch nicht auf eine radikal selbstbestimmte menschliche Tat zurückführt. Damit zeigt sich, dass Luther auch in Dsa im Zusammenhang des Sündenfalls an der grundsätzlichen Unmöglichkeit von Freiheit in Bezug auf die eigene Beschaffenheit eines Handlungssubjekts festhält.116 Wilfried Joest hat diese Kontroverse wohl angemessen beurteilt, wenn er ­notiert: „Hätte Adam im Urstand aus einem eigenen Vermögen, in der Freiheit eigener Willensentscheidung dem Willen Gottes entsprechen, seinen Glauben, seine Liebe, seine guten Werke also selbst ‚können‘ sollen – ein Vermögen, das durch den Sündenfall verloren ging? Eine so spekulative Frage stellt Luther nicht; er treibt seine Theologie auf dem Boden der faktischen Situation – der des Menschen als Sünder. Es gibt aber m.E. dennoch Indizien dafür, daß sein am Evangelium der sich schenkenden Gottesgerechtigkeit orientiertes Verständnis des Menschen nicht nur in dem soeben angesprochenen Sinn faktisch, sondern grundsätzlich gemeint ist. Der Mensch als Mensch ist dazu geschaffen, ganz ‚aus Gnade‘, d.h. ganz aus und in der tragenden Macht der Gottesgerechtigkeit zu leben. Wenn man schon nach der Urstandsgerechtigkeit zurückfragen will – Luther hätte wohl gesagt: Wäre Adam in ihr geblieben, so hätte er nichts anderes gewollt als ganz in dieser Macht zu leben. Und Sünde ist in seinem Verständnis nicht erst dies, daß der Mensch versagt in dem, was er aus eigenem Vermögen hätte ‚können‘ sollen, sondern tiefer gesehen dies, daß er überhaupt dahin aufbricht, vor Gott das Recht-werden seines Lebens selbst ‚können‘ zu wollen.“117 115 

„Ostensum est ergo in isto homine, terribili exemplo pro nostra superbia conterenda, quid possit liberum arbitrium nostrum sibi relictum ac non continuo magis ac magis actum et auctum spiritu Dei“ (WA 18, 675, 31–34). 116  Dieses grundsätzliche Verständnis der menschlichen Unmöglichkeit der Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung zeigt sich bei Luther in Dsa etwa auch ummissverständlich darin, dass er nur Gott das freie Willensvermögen zuspricht. S. u. Abschnitt 5.3.1.2. 117 W. Joest: „Die Freiheit in Luthers Verständnis des Menschen“, 134, Herv. i. O. Zu bemerken ist, dass Joest (W. Joest: Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967) ebenso wie Ritschl, Holl oder Ebeling in ihrem Verständnis der Anthropologie Luthers durch die finnische Lutherforschung ernstzunehmend hinterfragt wurden. Gegen die relationale Ontologie zur Beschreibung des Verhältnisses Christus – Mensch der deutschen Lutherforscher, die zu Recht Luthers Verständnis von einem substanzontologischen Verständnis abzugrenzen suchen, haben neben anderen Tuomo Mannermaa und Simo Peura ein real-ontisches Verhältnis beschrieben. Damit soll die Vereinigung des glaubenden Menschen mit Christus weniger auf die Wirkungen und mehr auf das reale Sein dieser Vereinigung abzielen, denn nur so werde die Theosis/Vergöttlichung des Menschen möglich. Vgl. T. Mannermaa: Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, Hannover 1989, bes. 12–21; 48–55; S. Peura: Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519, Mainz 1994. Vgl. auch R. Saarinen: Gottes Wirken auf uns. Die transzendentale Deutung des Gegenwart-Christi-Motivs in

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Auch wenn Luthers Urstandslehre nicht insgesamt in den Blick genommen werden kann, zeigt sich zumindest auf Grundlage der hier angeführten Textbelege, dass Luther Argumentationsstrukturen verfolgt, die es einsichtig erscheinen lassen, dass er die Unfreiheit des Willensvermögens unabhängig vom Sündenfall auffasst.118 Luthers Argumentation gegen die Wirklichkeit und Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung richtet sich, wie bereits zu Beginn dieses Abschnitts deutlich wurde, in besonderer Weise gegen Erasmus’ Versuch, einen Mittelweg zwischen inkompatibilistischer Freiheit oder Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen entspricht, und göttlicher Gnade zu beschreiten. Vom Gedanken der als Allwirksamkeit verstandenen Allmacht Gottes ausgehend sieht Luther keinen Raum für eine neutrale Mitte zwischen Gottes Wirken und menschlichem Entscheiden und Handeln. Dies zeigt sich über weite Passagen von Dsa in Luthers Kritik an der prinzipiell nicht begründbaren neutralen Mitte sowie an Erasmus’ damit zusammenhängender Selbstwidersprüchlichkeit in Dla. Luther wirft Erasmus vor, sich in dieser Debatte scheu zwischen Skylla und Charybdis bewegen zu wollen.119 Weder die vollständig aus sich selbst heraus wirksame Freiheit will Erasmus behaupten noch die Gnade Gottes in ihrer Wirkung eingeschränkt sehen.120 Die Herausforderung glaubt Erasmus annehder Lutherforschung, Helsinki 1988, bes. 179–182 (Zusammenfassung). Sibylle Rolf, die eine sehr übersichtliche Darstellung zu diesem Diskurs bietet, würdigt die Ergebnisse der finnischen Lutherforschung hinsichtlich der Einheit des Menschen mit Christus, kritisiert jedoch den Termininus „real-ontisch“ und stellt infrage, dass in diesem Kontext ein bedeutender Unterschied zwischen einem real-ontischen und einem relational-ontologischen Verhältnis existiert. Vgl. S. Rolf: Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums, Leipzig 2008, 224 f., vgl. insgesamt 214–225. 118  Zu diesem Ergebnis gelangen auch Friedrich Hermanni: „Der menschliche Wille hat die Fähigkeit, die Grundrichtung seines Strebens aus eigener Kraft zu verändern, nicht etwa verloren, er hat sie nach Luther vielmehr nie besessen.“ (F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 170) und Hans Joachim Iwand: „Die Unfreiheit des Willens ist der Index seiner Geschöpflichkeit – nicht etwa Ausdruck seiner Schwachheit oder gar Unterdrücktheit.“ (H. J. Iwand: „Theologische Einführung“, in: H. H. Borcherdt, G. Merz (Hg.): Martin Luther: Daß der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam (= Martin Luther, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe Bd. 1, 3. Aufl.), München 1975, 253–264, hier: 260). Vgl. auch A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 454, und die grundlegend hinsichtlich des anthropologischen Charakters der Unfreiheit des Willensvermögens konzipierte Untersuchung von Melanie Beiner: M. Beiner: Intentionalität und Geschöpflichkeit. Die Bedeutung von Martin Luthers Schrift ‚Vom unfreien Willen‘ für die theologische Anthropologie, Marburg 2000. 119  Vgl. WA 18, 601, 34; 611, 22 f.; 613, 10 f. 120  Die Aufgabe der Darstellung eines präzise analysierten Zusammenhangs von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit bearbeitet Erasmus zum Unverständnis Luthers nicht. Vgl. im Hinblick auf WA 18, 611 Gunther Wenz’ Darstellung der Sicht Luthers: „So erkläre er [sc. Erasmus] einerseits wiederholt, der menschliche Wille wirke etwas in den Dingen, welche die ewige Seligkeit betreffen; andererseits äußere er ebenso die Ansicht, ohne die gött-

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

men zu können, indem er die menschliche Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst auf ein Minimum beschränkt sehen möchte. So erkennt Erasmus zwar an, dass es keine menschliche Freiheit ohne das Wirken der Gnade geben kann, hält aber ein geringfügiges menschliches Willensvermögen damit durchaus für vereinbar. Dieses Vorgehen stellt für Luther jedoch keineswegs einen Lösungsweg dar: „Wir nehmen jenen Mittelweg nicht hin und nehmen ihn nicht an, den sie [sc. die Diatribe] uns, wie ich glaube in guter Gesinnung anrät, nämlich, dass wir dem freien Willensvermögen ein klein wenig einräumen sollen […]. Durch diesen Mittelweg ist für die Angelegenheit nämlich nichts gewonnen, auch nicht irgendein Fortschritt.“121

Luther weist darauf hin, dass, egal wie klein diese Form menschlicher inkompatibilistischer oder inkompatibilistischen Intuitionen entsprechender Freiheit veranschlagt wäre, sie dennoch nicht mit der allein wirksamen Gnade Gottes vereinbar sein könnte. Zwischen göttlicher Gnade und menschlichem von dieser Gnade ganz und gar bestimmtem Entscheiden und Handeln ist kein Drittes möglich. Luther sucht „das Herz der Dinge und das Haupt der Sache […] und entweder wird hier das freie Willensvermögen ausgelöscht oder es wird im Ganzen den Triumph feiern“122. Er entlarvt, dass das geringfügig beschriebene freie Willensvermögen des Erasmus sich in seiner Wirkung – für Erasmus ungewollt – ebenso mächtig erweisen muss wie das vollständige freie Willensvermögen.123 So verstanden wäre das freie Willensvermögen ohne die Gnade letztlich nicht nur zu Geringem, sondern zu allem fähig. Die Diatribe beweist, „wenn sie überhaupt etwas beweist, dass das freie Willensvermögen alle Dinge vermag, wovon sie sich das Gegenteil zu beweisen vorgenommen hat“124. So wirft Luther Erasmus in Dsa immer wieder vor: „Du vergisst nämlich ständig in der Erörterung, dass du gesagt hast, das freie Willensvermögen vermöge nichts ohne die Gnade“125. Luther weist damit auf eine grundlegende Inkonsistenz bei Erasmus hin, der in Dla Luthers These von der Notwendigkeit liche Barmherzigkeit vermöge des Menschen Wille nichts. Den unaufhebbaren Widerspruch beider Thesen versuche Erasmus dadurch zu vernebeln, daß er die konsequente Reflexion auf deren Zusammenhang zu unterbinden sucht, um die Menschen darin unwissend zu lassen, was die göttliche Barmherzigkeit und was unser Wille vermöge“ (G. Wenz: „Luthers Streit mit Erasmus als Anfrage an protestantische Identität“, in: F. W. Graf, K. Tanner (Hg.): Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992, 135–160, hier: 141). 121  „Nec patimur neque recipimus mediocritatem illam, quam nobis consulit bono, ut credo, animo, scilicet ut libero arbitrio perpusillum concedamus […] Nam ista mediocritate nihil est caussae consultum neque quicquam profectum“ (WA 18, 755, 27–30). 122  „Rerum cardo et caussae caput hic petitur. Et hic vel liberum arbitrium extinguitur, vel in totum triumphabit“ (WA 18, 721, 25 f.). 123  Vgl. WA 18, 696, 2 f.; 696, 15–17. 124  „[S]iquid probat, omnia posse liberum arbitrium, cuius contrarium suscepit probandum“ (WA 18, 733, 1 f.), vgl. ebenfalls WA 18, 697, 35 f. 125  „Perpetuo enim tractatu oblitus, quod dixisti, liberum arbitrium nihil posse sine ­gratia“ (WA 18, 678, 24 f.).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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der Gnade Gottes für die menschliche Freiheit zwar explizit teilt, aber diese These durch die Behauptung einer geringfügigen inkompatibilistischen Freiheit bzw. einer inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigenden Freiheit Luthers Einsicht zufolge wiederum infrage stellt. Mit Blick auf die explizit geteilte These dieser Notwendigkeit in Dla schreibt Luther: „Oben hast du behauptet, dass das freie Willensvermögen nichts Gutes wollen könne. Wenn es aber keine guten Dinge wollen kann, weiß ich nicht, auf welche Weise dies mit sich den gewissen Samen der Anständigkeit duldet. So werde ich anhaltend gezwungen, dich an den Stand der begonnenen Angelegenheit zu erinnern, von dem du in anhaltender Vergesslichkeit abrückst und irgendetwas anderes behandelst, als du beabsichtigt ­hattest.“126

Als inhaltliches Grundproblem der Diatribe erweist sich nach Luther, dass das von Erasmus geforderte Mittlere, so gering es auch sei, als neutrale Kraft nicht erklärt werden kann: „Du, du erdenkst dir, dass der menschliche Wille eine Sache ist, die in die freie Mitte gesetzt und sich selbst überlassen ist. Ohne Schwierigkeiten erdenkst du dir zugleich, es gebe ein Bestreben des Willens nach beiden Seiten, weil du dir erdenkst, dass Gott wie auch der Teufel weit weg sind, als ob sie allein Zuschauer jenes veränderlichen und freien Willens wären.“127

Luther weist den von Erasmus postulierten Willen im Sinn inkompatibilistisch verstandener bzw. inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werdender Freiheit zurück. Gott und der Satan erweisen sich seines Erachtens nämlich nicht als Zuschauer des sich selbst radikal unabhängig entscheidenden Menschen, sondern sie bestimmen vielmehr diesen Willen entweder in guter oder in schlechter Beschaffenheit vollständig, sodass ein Mensch gar nicht anders kann, als sich seiner vorgegebenen Beschaffenheit gemäß zu verhalten.128 Ein radikal freies, sich unabhängig entscheiden könnendes Selbst stellt, wie zuvor schon deutlich wurde, für Luther eine Illusion bzw. Träumerei dar: „Aber hier träumt die Diatribe sehr: Zwischen den beiden, Gutes wollen Können und Gutes wollen nicht Können, sei ein Mittleres gegeben: ein absolutes Wollen, das weder zum Guten noch zum Bösen in Verbindung steht.“129 126  „[S]upra asserueris, nihil boni velle posse liberum arbitrium. Non posse autem quicqam boni velle, nescio, quomodo secum patiatur semina quaedam honesti. Sic ego perpetuo cogor te admonere status caussae susceptae, a quo tu perpetua oblivione discedis et aliud agis quam institueras“ (WA 18, 745, 16–19). Vgl. ebenfalls: WA 18, 678, 35–38; 686, 17–26; 687, 4–11; 691, 8–11. 127  „Tu qui fingis voluntatem humanam esse rem in medio libero positam ac sibi relictam, facile simul fingis, esse conatum voluntatis in utram partem, quia tam Deum, quam diabolum fingis longe abesse, veluti solum spectatores mutabilis illius et liberae voluntatis“ (WA 18, 750, 5–9). So gibt es nach Luther kein unbestimmtes „mittleres Reich zwischen dem Reich Gottes und dem Reich Satans“ – „medium regnum inter regnum Dei et regnum Satanae“ (WA 18, 743, 34). 128 S. auch unten entsprechend Abschnitt 5.3.2.2. 129  „Sed hoc forte somniat Diatribe inter haec duo, posse velle bonum, non posse velle

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Luther weist Erasmus damit auf die Unerklärlichkeit einer Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst hin. Analog zu Strawsons Argumentation, wie sie in Abschnitt 3.3.3 dargelegt wurde, fragt Luther: „Woher wird jenes Mittlere und Neutrale verursacht, nämlich jene Kraft des freien Willensvermögens“130, die unbestimmt, weder in guter noch in schlechter Beschaffenheit bestimmt sein soll? Dieses neutrale Mittlere lässt sich nach Luther nur behaupten, nicht begründen131, und existiert seiner Ansicht nach schließlich überhaupt nicht.132 Im Horizont dieser Argumentation Luthers wird auch verständlich, dass Luther der von Erasmus geteilten scholastischen Argumentationsstrategie der Unterscheidung einer Notwendigkeit der Folge („necessitas consequentiae“) und einer Notwendigkeit des Folgenden („necessitas consequentis“) keine relevante Bedeutung zumisst. Nach dieser Unterscheidung, die etwa bei Gabriel Biel getroffen wird133, soll Freiheit zwar nicht mit der Notwendigkeit der Folge, wohl aber mit der Notwendigkeit des Folgenden vereinbar sein. Die Unterscheidung basiert auf der These, dass alles zwar mit der Notwendigkeit der Folge, nicht aber mit der Notwendigkeit des Folgenden geschieht. Luther gibt diese Strategie folgendermaßen wieder und bringt dabei auch seine Sicht ihrer Erfolglosigkeit zum Ausdruck: „Notwendigkeit der Folge nennen sie, wie ich es grob sage: Wenn Gott etwas will, ist es notwendig, dass dies geschieht. Aber es ist nicht notwendig, dass dies, was geschieht, exis­tiert. Denn allein Gott existiert mit Notwendigkeit, alle anderen Dinge können auch nicht existieren, wenn Gott will. So sagen sie, dass die Tat Gottes notwendig sei, wenn er sie will, aber das Geschehen selbst sei nicht notwendig. Aber was bewirken sie mit diesen Wortspielen?“134

bonum, dari medium quod sit, absolutum Velle, nec boni nec mali habito respectu“ (WA 18, 669, 20–22). 130  „[U]nde habetur medium illud et neutrum, nempe vis illa liberi arbitrii“ (WA 18, 779, 15 f.). 131  In Bezug auf das Postulat der Seele als unabhängiges Mittleres bei Origenes äußert sich Luther wie folgt: „Aber die Seele soll jener Mittlere [sc. Geist] sein, zu beiden Seiten, sowohl des Fleisches als auch des Geistes, veränderlich. Dies sind aber seine Hirngespinste, er sagt diese vielen Dinge nur, aber beweist sie nicht.“ – „Anima vero medius ille, in utram partem vel carnis vel spiritus vertibilis. Sed sua sunt haec somnia, dicit tantum ea, sed non probat“ (WA 18, 774, 41 f.). 132  Vgl. WA 18, 765, 23 f.; 772, 19 f. 133 Vgl. G. Biel: Collectorium circa quattuor libros Sententiarum, hg. v. W. Werbeck und U. Hofmann, Bd. 1, Prologus et Liber Primus, Tübingen 1973, 728 f. (Distinctio 41, Quaestio Unica, Articulus 1). 134  „Necessitatem consequentiae vocant, ut crasse dicam, Si Deus aliquid vult, necesse est ut ipsum fiat, sed non est necesse, ut id sit, quod fit. Solus Deus enim necessario est, omnia alia possunt non esse, si Deus velit. Ita actionem Dei necessariam dicunt, si volet, sed factum ipsum non esse necessarium. Quid autem istis ludibriis verborum efficiunt?“ (WA 18, 617, 2–7).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Luther zufolge führt die Unterscheidung nicht zum gewünschten Ergebnis, da die Notwendigkeit der Folge inkompatibilistisch verstandene bzw. inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werdende Freiheit ausschließt: „Denn wenn du eine Notwendigkeit der Folge einräumst, ist das freie Willensvermögen besiegt und hingestreckt, und es hilft ihm weder irgendeine Notwendigkeit noch irgend­ eine Kontingenz des Folgenden.“135

So erweist sich die Notwendigkeit des Folgenden in diesem Zusammenhang als „reines Gespenst“136, eine Erfindung, die nichts zustande bringt.137 Die von Luther sogenannten Sophisten, die ihr anhängen, machen sich mit ihrer Argumentation zum Gespött, sie vergeuden Zeit und verlieren den eigentlichen Fall, sogar absichtlich, aus den Augen.138 Dass Luther, wie im Zusammenhang dieser Darstellungen deutlich wird, in seiner Zurückweisung der Möglichkeit eines „liberum arbitrium“ sowohl die Unmöglichkeit einer Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst als auch die Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung vor Augen hat, legt die Vermutung nahe, dass Luther beide Verständnisse in einem natürlichen, ihm selbstverständlich erscheinenden Zusammenhang wahrnimmt. So scheint ein „absolutum velle“, „merum velle“ bzw. „purum velle“139 in Luthers Sicht, falls dieses unabhängige Wollen begründbar wäre, eine denkbare, wenn nicht gar die einzig denkbare Möglichkeit darzustellen, radikale Selbstbestimmung zu verwirklichen, das heißt den infiniten Regress unendlich vieler aufeinander bezogener Wünsche in angemessener Weise zu beenden.140 135  „Si enim necessitatem consequentiae concesseris, victum ac prostratum est liberum arbitrium, nec quicquam iuvat vel necessitas vel contingentia consequentis“ (WA 18, 722, 4–6). 136  „[M]erum phantasma“ (WA 18, 722, 16). 137  Vgl. WA 18, 722, 28 f.: „nihil efficiat illud commentum de necessitate consequentis“. 138  Vgl. WA 18, 616, 13–617, 2; 715, 7–9. Vgl. zu Luthers Zurückweisung der These einer Notwendigkeit des Folgenden auch WA 18, 719, 12–17 und ebenso in der Disputation gegen die scholastische Theologie: „Ebenfalls nichts wird gewonnen durch jene Aussage: Die Prädestination ist notwendig auf Grund der Notwendigkeit der Folge, aber nicht auf Grund der Notwendigkeit des Folgenden“ – „Nihil quoque efficitur per illud dictum: praedestinatio est necessaria necessitate consequentiae, Sed non consequentis“ (WA 1, 225, 33f.). 139  WA 18, 669, 21.25; 670, 2. 140  Vgl. in Hinsicht auf Luthers Verständnis von „absolutum velle“ (WA 18, 669, 21.25; 670, 2) Gunther Wenz’ Beschreibung von Luthers Freiheitsverständnis: „Man kann daher die Freiheit des liberum arbitrium eine Indifferenzfreiheit nennen, welche unmittelbar durch sich selbst bestimmt, mithin die Freiheit puren Willens ist, welche ursprünglich nichts will als sich selbst und als Vermögen spontanen Beginnens von keinem anderen herzukommen, sondern rein mit sich selbst anzufangen beansprucht“ (G. Wenz: „Luthers Streit mit Erasmus als Anfrage an protestantische Identität“, 139). – Ob Luther wirklich der These zugestimmt hätte, dass durch Indeterminismus Freiheit begründet werden kann, lässt sich wohl nicht eindeutig klären. Aufgrund der inkompatibilistischen Intuitionen, die Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung zu eigen sind, erachtet Luther diese beiden Freiheitsvorstellungen jedoch intuitiv mit dem Determinismus als nicht vereinbar.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Luthers Gedanke, Freiheit in Bezug auf die Beschaffenheit der eigenen Person, das heißt im Sinn radikaler Selbstbestimmung durch ein radikal unabhängiges Selbst bedingt zu sehen, stellt, wie durch die Darstellung der Sicht Strawsons in Abschnitt 3.4 deutlich wurde, keine überraschende Sichtweise dar. Denn Strawson beschreibt auf überzeugende Weise das natürliche Freiheitsverständnis im Sinn des unabhängigen Selbst. Soll diese Intuition des unabhängigen Selbst erklärbar werden, scheint in Reflexion über sie die Vorstellung von Freiheit als radikaler Selbstbestimmung in den Blick zu gelangen. Denn, so Strawson, die Begründung der Zurechenbarkeit von freien Handlungen und Entscheidungen folgt aus der Begründung der Zurechenbarkeit der Gründe dieser Handlungen und Entscheidungen bzw. der Zurechenbarkeit der personalen Beschaffenheit des Handlungssubjekts, aus der diese Handlungen und Entscheidungen resultieren. Eben dieser Zusammenhang scheint implizit auch bei Luther erkennbar, wenn er die Unmöglichkeit, nicht zu sündigen, auf die Unmöglichkeit, die eigene sündige Beschaffenheit zu überwinden, zurückführt. Radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung von Freiheit wird nunmehr erkennbar.141 Mit der Konzeption radikaler Selbstbestimmung tritt jedoch das Problem des infiniten Regresses auf. Um diesen zu beenden, kann es nahe liegen, wiederum die Vorstellung eines unabhängigen Selbst zu bemühen. Dieser bei Luther zutage tretende Zusammenhang von Freiheit im Sinn des unabhängigen Selbst und Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung scheint auch Eberhard Schockenhoff in seiner Theologie der Freiheit vor Augen zu stehen, wenn er die Regressproblematik mit der Idee eines unabhängigen Selbst verknüpft: „Der Anfang der Willensbewegung muss der Ursachenforschung notwendig entgleiten, da diese sich im Unendlichen zu verlieren droht. Die Gefahr eines infiniten Regresses lässt sich nur dadurch abwenden, dass der Wille als unhintergehbares, eigenursprüngliches Entscheidungsvermögen des Menschen gedacht wird.“142

Schockenhoffs Monographie erweist sich als aufschlussreich hinsichtlich der Problemanalyse der Freiheitsthematik. Zu Recht erkennt Schockenhoff, dass sich die Behandlung der Freiheitsproblematik nicht schlicht-kompatibilistisch erschöpfen kann.143 Mehr als problematisch stellt sich sodann jedoch seine Berufung auf indeterministische Prozesse im Bereich der Quantenmechanik dar, um Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung zu begründen.144 Letztlich ungeklärt bleibt – und muss wohl schließ141  S. auch Strawsons Basisargument in Abschnitt 3.1 und dessen Bedeutung innerhalb der Freiheitsproblematik in Abschnitt 3.2. 142  E. Schockenhoff: Theologie der Freiheit, Freiburg im Breisgau 2007, 36. 143  „Ohne die Annahme des freien Willens und seiner selbstursächlichen Letztverantwortung könnte sich der Mensch überhaupt nicht als Subjekt betrachten.“ (E. Schockenhoff: Theologie der Freiheit, 34 f.). 144  Unter Hinweis auf J. E. Searle versucht Schockenhoff m.E. erfolglos, dem Vorwurf

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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lich bleiben – welche Vorteile sich Schockenhoff freiheitstheoretisch durch den Hinweis erhofft, dass ein ontologischer Determinismus sich als unwahrscheinlich erweist.145 Die Frage, die Strawson an Kane stellt, wie indeterministische Ereignisse einen freiheitsbegründenden Beitrag zu leisten imstande sind, gilt es hier auch an Schockenhoff zu richten.146 Schließlich zeigt sich Luthers Argumentation gegen die Wirklichkeit und Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung beim Menschen in Luthers zentralem Anliegen der recht verstandenen Vorstellung von Rechtfertigung.147 Gegenüber Erasmus’ zurückhaltendem und in skeptischer Tradition verstandenem Vorgehen148 sucht Luther nach klaren Antworten im Sinn der Wahrheitsbekräftigung („assertio“).149 Die Frage nach der freien Willenskraft stellt für Luther nichts weniger als das „Herz der Dinge“ und den „Hauptpunkt“150 des christlichen der Zufälligkeit von Handlungen, die auf Quantenebene indeterministisch bedingt sind, zu entgehen: „Weil freie Entscheidungen, wie alle subjektiven Bewusstseinsphänomene und die gesamte Wirklichkeit des Mentalen ihre ontologische Eigenständigkeit gegenüber den neuronalen Vorgängen auf der untersten Ebene der Quantenprozesse bewahren, obwohl sie durch diese überhaupt erst ermöglicht werden, beruht das Zufalls-Argument auf einem Fehlschluss, der die Zufallseigenschaften der Teile eines Systems (auf seiner unteren Ebene) auf das Gesamtsystem (auf der oberen Ebene personaler Steuerung) überträgt.“ (E. Schockenhoff: Theologie der Freiheit, 79). 145  „Nachdem sich die Quantenmechanik als Grundlagentheorie für den mikrophysikalischen Bereich weithin durchgesetzt hat, muss die bis dahin allgemein geteilte Ansicht, wir lebten in einer kausal determinierten Welt, als eher unwahrscheinlich gelten.“ (E. Schocken­ hoff: Theologie der Freiheit, 83). 146  Diese Frage wäre etwa auch an Steffan Ritzenhoff zu richten, vgl. S. Ritzenhoff: Die Freiheit des Willens. Argumente wider die Einspruchsmöglichkeit des Determinismus, München 2000. 147  Vgl. weiterführend etwa D. Korsch: „Glaube und Rechtfertigung“, in: A. Beutel (Hg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, 372–381; B. Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 274– 283; M. Brecht: „Der rechtfertigende Glaube an das Evangelium von Jesus Christus als Mitte von Luthers Theologie“, in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 1: Reformation, Stuttgart 1995, 13–47. 148  Vgl. Erasmus zu Beginn von Dla: „Daher habe ich so wenig Freude an festen Behauptungen, daß ich leicht geneigt bin, mich auf die Seite der Skeptiker zu schlagen, wo immer es durch die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche erlaubt ist, denen ich meine Überzeugung überall gerne unterwerfe, ob ich nun verstehe, was sie vorschreibt, oder ob ich es nicht verstehe“ – „Et adeo non delector assertionibus, ut facile in Scepticorum sententiam pedibus discessurus sim, ubicumque per divinarum scripturarum inviolabilem auctoritatem et ecclesiae decreta liceat, quibus meum sensum ubique libens submitto, sive assequor, quod praescribit, sive non assequor“ (Erasmus: De libero arbitrio, 6 f.). 149  „Nichts ist bei Christen bekannter und gebräuchlicher als die Wahrheitsbezeugung“ – „Nihil apud Christianos notius et coelebratius, quam assertio.“ (WA 18, 603, 28); „Ferne von uns Christen seien Skeptiker und Akademiker“ – „Absint a nobis Christianis Sceptici et Academici“ (WA 18, 603, 22); „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker“ – „Spiritus sanctus non est Scepticus“ (WA 18, 605, 32). 150  „[C]ardinem rerum“, „iugulum“ (WA 18, 786, 30). Vgl. zu Luthers Sicht der enormen Bedeutung dieses Themas auch WA 18, 609, 15 f.; 610, 17–19; 614, 4–7; 614, 16–18.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Glaubens dar, das „Hauptstück der evangelischen Lehre“151. Als grundlegende Motivation für seine ausführliche und vielseitig entfaltete Argumentation gegen die Wirklichkeit und Möglichkeit dieses freien Willensvermögens gibt Luther sein Bewusstsein der soteriologischen Relevanz dieser Frage deutlich zu erkennen. Die Thematik bezieht sich nach Luther auf Christus, in dem Gott für den Menschen Heil schafft, ohne dass dieser sich mit Hilfe seines freien Willensvermögens darauf vorbereiten oder seine Einwilligung dazu geben könnte.152 Entscheidend erweist sich für Luther dabei die Verknüpfung des Unvermögens des menschlichen Willens mit der Gewissheit des Heils. Kann der Mensch in keiner Weise mit einem unabhängigen Vermögen etwas zu seinem Heil beitragen, sich darauf vorbereiten oder es auch nur annehmen153, so kann er es schließlich auch nicht gefährden. So wenig das Heil vom eigenen Beitrag des Menschen abhängt, so wenig besteht Gefahr für den Menschen, das Heil selbstverschuldet verlieren zu können und umso mehr kann sich ein Christ nach Luther auch seines Heils erfreuen und gewiss sein. Entsprechend weist Luther Erasmus in Anspielung auf Hebr 9,14 und 1Petr 1,18 f. auf die Gefahren des Wortes liberum arbitrium hin: „Es ist äußerst unrecht, sogar bei weitem unglücklich, dass durch das Gespenst eines einzigen Wörtchens allein, das auch noch ungewiss ist, unsere Gewissen, die Christus durch sein Blut losgekauft hat, gequält werden.“154

Gottes in Christi Werk ansichtige Gnade erwiese sich nach Luther als umsonst, wäre der Mensch in irgendeiner von Gott unabhängigen Weise daran beteiligt. 151 

„[D]octrinae Evangelicae caput“ (WA 18, 649, 28). „Was ist noch Christus, was das Werk durch den Geist notwendig? […] Wie töricht ist Christus, der sogar Blut vergossen und jenen nicht notwendigen Geist für uns erworben hat, um zu bewirken, dass wir die Vorschriften ohne Schwierigkeiten einhalten. Dabei sind wir ja schon von Natur aus so beschaffen!“ – „Quid iam Christo? Quid spiritu opus? […] Quam stultus Christus, qui etiam fuso sanguine spiritum illum non necessarium nobis emit, ut faciles efficeremur in servandis praeceptis, quales iam ex natura sumus“ (WA 18, 686, 37–687, 4); „Sie sollen wissen, dass sie Verleugner Christi sind, solange sie das freie Willensvermögen schützen“ – „ut sciant, sese abnegatores Christi, dum asserunt liberum arbitrium“ (WA 18, 777, 33 f.); vgl. ebenfalls WA 18, 604, 11–13; 744, 6–11; 778, 14–16, 786, 18–20. 153  Luther will deutlich machen, „dass die Gnade so sehr umsonst kommt, sodass weder ein Gedanke an sie und schon gar kein Bemühen oder Eifer vorausgeht“ – „gratiam venire adeo gratis, ut nec cogitatio de ea, nedum conatus aut studium praecedat“ (WA 18, 775, 23 f.). 154  „Iniquissimum est, imo longe miserrimum, solo phantasmate voculae unius eiusdemque incertae nostras conscientias vexari, quas Christus sanguine suo redemit“ (WA 18, 647, 29–31). Vgl. auch: „Denn was gibt es Elenderes als Ungewissheit?“ – „Quid enim incertitudine miserius?“ (WA 18, 604, 33); „Aber wir, denen es um eine ernste Angelegenheit geht und die wir zur Festigung der Gewissen nach der sichersten Wahrheit verlangen, müssen bei weitem anders verfahren“ – „Nobis autem, quibus res agitur seria et qui certissimam veritatem pro stabiliendis conscientiis quaerimus, longe aliter agendum est“ (WA 18, 702, 5–7). So kann Luther die Unfreiheit des Willensvermögens auch als „einzigen und größten Trost der Christen“ – „Christianorum […] heac una et summa consolatio“ bezeichnen (WA 18, 619, 19). 152 

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Wo bliebe angesichts des freien Willensvermögens Raum für die Gnade, fragt Luther155, und notiert unter Berufung auf Paulus: „Denn darauf legt sich Paulus ganz fest, dass er allen Menschen die Gnade notwendig macht. Wenn sie aber aus sich selbst irgendetwas beginnen könnten, würde nicht die Gnade am Werk sein.“156

Hinsichtlich der Ziele der vorliegenden Untersuchung lässt sich der hier zu Ende kommende Abschnitt folgendermaßen zusammenfassen: Luther argumentiert in Dsa eindeutig und unter Heranziehung einer Vielzahl von Perspektiven gegen die Wirklichkeit und auch gegen die prinzipielle Möglichkeit der radikalen Selbstbestimmung. Dabei ist zum einen erkennbar, dass Luther radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz hinsichtlich des Freiheitsverständnisses zuweist. Dies wird anhand von Luthers Argumentationsstrategie im Sinn eines natürlichen schlichten Kompatibilismus einsichtig. Es ist sodann jedoch ebenfalls erkennbar, dass Luther radikaler Selbstbestimmung sehr wohl Relevanz zubilligt. Dies wird, abgesehen von der Beobachtung, dass Luther sich eine naheliegende Chance zur Entfaltung einer schlicht-kompatibilistischen Begründung von Verantwortlichkeit entgehen lässt, im Wesentlichen einsichtig infolge der Beobachtung, dass Luther offen anerkennt, dass Freiheit üblicherweise im Sinn eines unabhängigen Selbst verstanden wird.

5.3.1.2 Die Wirklichkeit der radikalen Selbstbestimmung bei Gott Zeigte sich im vorausgegangenen Abschnitt 5.3.1.1 Luthers prinzipielle Argumentation gegen die Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung und, in Luthers Sicht damit verbunden, ebenso gegen die Möglichkeit von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst, so macht der vorliegende Abschnitt deutlich, dass Luther doch eine Ausnahme von dieser als prinzipiell unmöglich dargestellten Freiheit anerkennt: Die Freiheit, die Gott zu eigen ist. In Dsa entfaltet Luther dieses Verständnis der Freiheit Gottes nicht ausführlich, jedoch in einigen Zusammenhängen, die es hier zu skizzieren gilt. Folgendes Zitat, das eine Anspielung auf Psalm 135,6 enthält, bringt Luthers Verständnis von göttlicher Freiheit im Verhältnis dazu, was über menschliche Freiheit gesagt werden kann, klar zum Ausdruck: „Nun folgt, dass das freie Willensvermögen gänzlich eine göttliche Bezeichnung ist und niemandem zukommen kann als allein der göttlichen Majestät. Denn diese kann und tut (wie der Psalm singt): alles, was sie will im Himmel und auf Erden. Wenn dies den Menschen zuerkannt wird, geschieht das nicht mit mehr Recht, als wenn ihnen ebenso die

155 

Vgl. WA 18, 733, 7. „Quia in hoc totus incumbit Paulus, ut gratiam necessariam faciat cunctis hominibus. Si autem per sese aliquid possent incipere, gratia non foret opus“ (WA 18, 762, 28–30). Vgl. auch WA 18, 775, 41–776, 3. 156 

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Göttlichkeit selbst zuerkannt werden würde, was das größtmögliche Sakrileg darstellen würde.“157

Gott verfügt über eben jene Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung, über die der Mensch nicht verfügt. Die so verstandene Freiheit stellt ein göttliches Attribut dar, das dem Menschen zuzuerkennen gotteslästerlich erscheint. Dass Luther Gott jene Freiheit zuerkennt, über die der Mensch nicht verfügt, begegnet in Dsa nicht unabhängig in einer eigenen Darstellung der göttlichen Freiheit, sondern stets im Kontext seiner Argumentation gegen die Wirklichkeit und Möglichkeit eines menschlichen freien Willensvermögens. So verweist Luther auf das freie Willensvermögen Gottes, indem er das menschliche unfreie Willensvermögen als dessen Gegenteil darstellt. Der Mensch könnte, wie Luther ausführt, etwa nur dann über ein freies Willensvermögen verfügen, „wenn Gott ihm das seine überlassen würde“158. Im Verlauf der Argumentation Luthers gegen das menschliche freie Willensvermögen bezieht er sich an verschiedenen Stellen auf seine These vom göttlichen freien Willensvermögen zurück.159 Zeigte sich in dem auf Psalm 135 anspielenden Zitat bereits Luthers inhaltliche Vorstellung der Freiheit Gottes als beliebiges Tun und Wollen, das sich nach allen Seiten zu wenden vermag, das heißt als eine Art Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst, so weisen weitere Textstellen in eine entsprechende Richtung. „Wo bleibt die Macht des Töpfers“, so fragt Luther entsprechend, „zu tun, was er will, wenn er Verdiensten und Gesetzen unterworfen ist und nicht geduldet wird, dass er tut, was er will, sondern von ihm gefordert wird, zu tun, was er soll?“160 In diesem Kontext beschreibt Luther die Freiheit Gottes darin, unabhängig vom Ansehen und Werk eines Menschen über dessen Heil zu entscheiden. Dabei anerkennt Luther durchaus, dass diese Art des freien Handelns Gottes ungerecht und willkürlich erscheinen mag. Jedoch kann Gott die Freiheit, zu tun, was immer er will, nach Luther nicht abgesprochen werden. Vielmehr werden so die unerklärlich scheinenden Seiten Gottes gerade unter Be157  „Sequitur nunc, liberum arbitrium esse plane divinum nomen, nec ulli posse competere quam soli divinae maiestati, Ea enim potest et facit (sicut Psal. canit) Omnia quae vult in coelo et in terra. Quod si hominibus tribuitur, nihilo rectius tribuitur, quam si divinitas quoque ipsa eis tribueretur, quo sacrilegio nullum esse maius possit“ (WA 18, 636, 27–32). 158  „[S]i Deus illi suum concaederet“ (WA 18, 637, 33). 159  „Denn wir haben oben dargelegt, dass das freie Willensvermögen niemandem zukommt als allein Gott“ – „Nam superius ostendimus, liberum arbitrium nemini nisi soli Deo convenire“ (WA 18, 662, 5); „Denn wir haben oben gesagt, das freie Willensvermögen sei eine göttliche Bezeichnung und benenne eine göttliche Kraft“ – „Diximus enim superius, liberum arbitrium esse divinum nomen ac divinam virtutem significare“ (WA 18, 664, 15 f.). Vgl. auch WA 18, 734, 22–24. 160  „[U]bi manet potestas figuli faciendi quod vult, si meritis et legibus subiectus non ­sinitur facere quod vult, sed exigitur facere quod debet“ (WA 18, 730, 10 f.).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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rücksichtigung dieser Art von Freiheit, über die Gott in Luthers Sicht selbstverständlich verfügt, nachvollziehbar. Gott „wirkt Leben, Tod und alles in allem. Auch hat er sich dann in seinem Wort nicht definiert, sondern sich frei bewahrt über allen Dingen“161. Neben Luthers Charakterisierung der Freiheit Gottes als Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst zeigt sich in Dsa ebenso, dass Luther die Freiheit Gottes im Sinn radikaler Selbstbestimmung auffasst. Folgendes Zitat belegt zunächst erneut Luthers Vorstellung von Gottes absoluter, durch keinerlei Hindernisse zu beschränkende Freiheit. Zugleich beschreibt Luther nun jedoch, dass sich so auch kein weiterer Wille hinter dem Willen Gottes vorstellen lässt: „Er ist Gott, dessen Wille keine Ursache und keinen Grund besitzt, die ihm als Richtschnur und Maß vorgeschrieben werden könnten. Denn ihm ist nichts gleich oder überlegen, vielmehr ist er selbst die Richtschnur aller Dinge. Wenn es nämlich für ihn irgendeine Richtschnur oder ein Maß oder eine Ursache oder einen Grund geben würde, so könnte es nicht mehr der Wille Gottes sein. Denn nicht deshalb, weil er so wollen muss oder musste, ist das recht, was er will, sondern im Gegenteil, weil er selbst so will, muss recht sein, was geschieht. Dem Willen der Kreatur wird Ursache und Grund vorgeschrieben, aber nicht dem Willen des Schöpfers, es sei denn, du würdest ihm einen anderen Schöpfer voranstellen.“162

So wird an dieser Stelle das bereits im vorausgegangenen Abschnitt beschriebene Verständnis Luthers bezüglich des Zusammenhangs von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung erkennbar. Luthers Freiheitsverständnis lässt sich in der Weise charakterisieren, dass Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst gewissermaßen als Möglichkeit zur Beendigung des infiniten Regresses dienen kann, der von Luther als Problem der Unmöglichkeit, die persönliche Beschaffenheit grundlegend frei zu wählen, das heißt als das Problem radikaler Selbstbestimmung, wahrgenommen wird. Freilich besteht diese Möglichkeit nach Luther keineswegs tatsächlich, doch wäre Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst möglich, wäre damit auch die Problematik der radikalen Selbstbestimmung gelöst. Zudem kann wohl davon ausgegangen werden, dass entsprechend zu Strawsons Darstellung über den Zusammenhang von natürlichem Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst und radikaler Selbstbestimmung163 Luther die Vorstellung

161 

„[O]peratur vitam, mortem et omnia in omnibus. Neque enim tum verbo suo definivit sese, sed liberum sese reservavit super omnia.“ (WA 18, 685, 22–24). 162  „Deus est, cuius voluntatis nulla est caussa nec ratio, quae illi ceu regula et mensura praescribatur, cum nihil sit illi aequale aut superius, sed ipsa est regula omnium. Si enim esset illi aliqua regula vel mensura aut caussa aut ratio, iam nec Dei voluntas esse posset. Non enim quia sic debet vel debuit velle, ideo rectum est, quod vult. Sed contra: Quia ipse sic vult, ideo debet rectum esse, quod fit. Creaturae voluntati caussa et ratio praescribitur sed non Creatoris voluntati, nisi alium illi praefeceris creatorem.“ (WA 18, 712, 32–38). 163 S. o. Abschnitte 3.3.3 und 3.4.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

von radikaler Selbstbestimmung als notwendige Folge einer Reflexion über das natürliche Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst erkennt. Diesen beiden Thesen entsprechend beschreibt Luther die Freiheit Gottes schließlich als Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung. Gottes Wille, absolut spontan und eigenmächtig wirkend, ist nicht durch den Willen eines weiteren Schöpfers bzw. eines weiteren Gottes bestimmt, da Gott vermag, selbst Grund seines eigenen Willens zu sein. Da Gott zu Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung fähig ist, lässt er sich nach Luther als causa sui verstehen und verfügt damit über die denkbar stärkste Freiheit. Entsprechend hält Luther fest: „So scheint der Wille Gottes, da er ja die Erstursache aller Dinge ist, die geschehen, unserem Willen Notwendigkeit aufzuerlegen“164. In Gottes Willen begründet sich alles, was existiert und damit auch der menschliche Wille. Dieser ist, wie sich im vorangegangenen Abschnitt gezeigt hat, gerade in Gegenüberstellung zum Willen Gottes insofern unveränderlich bestimmt, als der Mensch in Luthers Sicht nicht über die Freiheit verfügt, seine Beschaffenheit, durch die sämtliche Handlungen und Entscheidungen eindeutig bedingt sind, frei zu bestimmen oder beliebig zu verändern.165 Als Fazit des Gesamtabschnitts 5.3.1 lässt sich notieren, dass Luther in Dsa auf der Grundlage unterschiedlicher Argumentationslinien eine Position bezieht, die Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung und im Sinn eines unabhängigen Selbst für den Menschen als prinzipiell unmöglich zurückweist. Von diesem Prinzip ausgenommen erscheint jedoch Luthers Verständnis der Freiheit Gottes, die sich gerade als Freiheit in diesem Verständnis darstellt. Zu der Frage, wie die Freiheit, über die Gott verfügt, erklärt werden kann, äußert sich Luther nicht, mag diese Frage aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung auch naheliegend und dringend erscheinen. Luther begnügt sich mit der Behauptung, dass Gott über Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung und im Sinn eines unabhängigen Selbst verfügt. Im Kontext der bisherigen Darstellungen über die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung für den Menschen wurde hinsichtlich der Frage nach der Relevanz, die Luther radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zuweist, zweierlei deutlich. Einerseits können Teile von Luthers Darlegungen einer Argumentationsstrategie im Sinn des natürlichen schlichten Kompatibilismus zugeordnet werden, sodass davon ausgehend die These naheliegt, dass Luther radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz hinsichtlich des Freiheitsverständnisses zuerkennt. Andererseits können Teile von Luthers Darlegungen 164  „Ita Dei voluntas, quoniam est caussa principalis omnium, quae fiunt, videtur necessitatem nostrae voluntati inducere“ (WA 18, 716, 22 f.). 165 S. o. Abschnitt 5.3.1.1.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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aber auch einer Argumentationsstrategie im Sinn einer impossibilistischen Position zugeordnet werden, sodass davon ausgehend die These naheliegt, dass Luther radikaler Selbstbestimmung durchaus Relevanz hinsichtlich des Freiheitsverständnisses zuerkennt. Dieser uneinheitliche Befund zur Frage nach Luthers Einschätzung der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis ergab sich bereits im Abschnitt zur Assertio (5.2) und wird sich erneut im übernächsten Abschnitt 5.3.3 zu Luthers Beschreibung über Verantwortlichkeit bzw. Zurechenbarkeit in Dsa ergeben. Zunächst gilt es jedoch, in Abschnitt 5.3.2 Luthers Verständnis der Wirklichkeit menschlicher schlicht-kompatibilistischer Freiheit darzustellen. Hierbei tritt verstärkt Luthers Argumentation gegen die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis hervor.

5.3.2 Schlicht-kompatibilistische Freiheit Luther leugnet menschliche Freiheit nicht grundsätzlich, sondern lässt in Dsa erkennen, dass er Freiheit in einem gewissen Verständnis durchaus als möglich und wirklich versteht. Nachdem der vorausgehende Abschnitt 5.3.1 sich der Frage nach Luthers Verständnis der Unfreiheit des Willensvermögens zugewandt hat, wird im vorliegenden Abschnitt nun die Frage nach Luthers Verständnis der von ihm erkannten menschlichen Freiheit zu untersuchen sein. Dabei wird zunächst grundlegend die Struktur bzw. formelle Gestalt dieser sich als schlicht-kompatibilistisch im Sinn Frankfurts erweisenden Freiheit in den Blick genommen (5.3.2.1), bevor Luthers Explikation der inhaltlichen Bestimmung dieser Freiheit als Freiheit eines schlecht beschaffenen, vom Satan bestimmten Handlungssubjekts und eines gut beschaffenen, vom Geist Gottes bestimmten Handlungssubjekts zu untersuchen ist (5.3.2.2).

5.3.2.1 Allgemeine Struktur: Die Freiheit in niederen Dingen und die Freiwilligkeit des Wollens Als eine maßgebliche Grundschwierigkeit im Kontext der Freiheitsthematik macht Luther die Problematik um die Begrifflichkeit von Freiheit aus. So widmet er sich an einigen Stellen in Dsa der Frage, wie Freiheit verstanden wird bzw. wie Freiheit recht zu verstehen ist. Wurde in Abschnitt 5.3.1.1 bereits deutlich, dass Luther Freiheit im allgemeinen Verständnis als Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst auffasst und dieses, an sich durchaus kompatibilistische Verständnis, das inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, dabei als unmöglich zurückweist, so lassen andere, im jetzigen Kontext herangezogene Stellen deutlich werden, dass Luther ein von dieser Vorstellung unterschiedenes menschliches Vermögen als möglich anerkennt, das er ebenso als Freiheit bezeichnet.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Über den Begriff Freiheit bzw. liberum arbitrium notiert Luther etwa: „Wenn wir dieses Wort nicht gänzlich aufgeben wollen, was am sichersten und frömmsten wäre, sollten wir es doch gewissenhaft insofern zu verwenden lehren, dass dem Menschen freies Willensvermögen nicht in Hinsicht auf eine ihm gegenüber oben befindliche, sondern allein in Hinsicht auf eine ihm gegenüber unten befindliche Angelegenheit überlassen ist, das heißt, dass er wisse, dass er in Hinsicht auf seine Fähigkeiten und auf seine Besitztümer ein Recht habe, zu gebrauchen, zu machen, zu unterlassen nach seinem freien Willensvermögen, mag auch dies selbst gelenkt werden allein durch das freie Willensvermögen Gottes, wohin auch immer es ihm gefällt.“166

Luther unterscheidet Freiheit hier in zwei unterschiedlichen Ebenen. Wenn es auch in Hinsicht auf oben liegende Dinge keine Freiheit gibt, so doch gegenüber den unten liegenden Dingen. Einerseits leugnet Luther, wie in 5.3.1.1 deutlich wurde, eine unabhängige Freiheit des Menschen, das heißt eine Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst, die für Luther die Freiheit des Willensvermögens darstellt und zugleich Freiheit in Bezug auf die persönliche Beschaffenheit bzw. Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung. Andererseits bezeichnet Luther das, was dem Menschen gegenüber den „unter ihm liegenden Dingen“ – „rebus […] inferioribus“167 möglich ist, durchaus als Freiheit, „hier regiert er und ist Herr, wie er in der Hand seines Plans gelassen ist“168. Luther beschreibt, dass ihm bewusst ist, „dass der Mensch als Herr über die ihm gegenüber unten liegenden Angelegenheiten bestellt ist, in welchen er ein Recht und freies Willensvermögen besitzt, sodass jene gehorchen und machen, was er selbst will und beabsichtigt“169. Dabei wird jedoch zugleich deutlich, dass die Freiheit im Blick auf die untergeordneten Dinge einer grundsätzlichen Lenkung Gottes unterworfen bleibt. Es gilt: „Nicht dass Gott ihn so verlassen würde, dass er nicht in allen Dingen mit ihm zusammenwirken würde“170. Luther konstatiert deutlich, dass Gott die so verstandenen freien Handlungen und Entscheidungen grundsätzlich notwendig bestimmt. Ein weiteres Zitat, das einen Beitrag zu Luthers Erörterung der Begrifflichkeit um die Freiheitsthematik enthält, kann noch eindeutigeren Aufschluss über Luthers Verständnis der Freiheit in niederen Dingen geben. Das Zitat ent-

166  „Quod si omnino vocem eam omittere nolumus, quod esset tutissimum et religiosissimum, bona fide tamen eatenus uti doceamus, ut homini arbitrium liberum non respectu superioris, sed tantum inferioris se rei concedatur, hoc est, ut sciat sese in suis facultatibus et possessionibus habere ius utendi, faciendi, omittendi pro libero arbitrio, licet et idipsum regatur solius Dei libero arbitrio, quocunque illi placuerit“ (WA 18, 638, 4–9). 167  WA 18, 672, 10. 168  „Hic regnat et est dominus, ut in manu consilii sui relictus“ (WA 18, 672, 10 f.). 169  „[Q]uod homo dominus est inferioribus se constitutus, in quae habet ius et liberum arbitrium, ut illa obediant et faciant, quae ipse vult et cogitat“ (WA 18, 781, 8–10). 170  „Non quod Deus illum sic deserat, ut non in omnibus cooperetur“ (WA 18, 672, 11).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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springt dem Kontext der Frage, auf welche Weise der Mensch die Gebote Gottes zu befolgen in der Lage sei: „Wenn du willst, wenn du wolltest – das heißt, wenn du so beschaffen bei Gott bist, dass er dich dieses Willens für würdig befindet, die Gebote zu halten, wirst du gerettet werden. Hierdurch wird möglich, beides zu verstehen, freilich sowohl, dass wir nichts können, als auch, dass, wenn wir etwas unternehmen, Gott in uns wirkt. So würde ich jenen sagen, die sich nicht damit zufrieden geben wollen, dass mit jenen Worten allein der Aufweis unserer Unfähigkeit ausgesagt werden soll, sondern die dafür kämpfen, auch irgendeine Kraft und Macht, die Dinge, die geboten sind, zu tun, gutzuheißen. So wäre zugleich wahr, dass wir nichts von den Dingen können, die geboten sind, und zugleich wir alle Dinge können, indem wir jenes unseren Kräften, dieses der Gnade Gottes zurechnen.“171

Wie in diesem Zitat deutlich wird, kann Luther das Erfüllen der Gebote einerseits als unmöglich und andererseits zugleich als möglich beschreiben. Unmöglich erscheint dies, wenn radikale Selbstbestimmung eine notwendige Bedingung der Freiheit, die Gebote zu erfüllen, darstellen soll, möglich erscheint dies hingegen, wenn Freiheit damit vereinbar verstanden wird, dass Gottes eindeutiges Bestimmen der Beschaffenheit eines Handlungssubjekts das Erfüllen der Gebote notwendig bedingt. Diese Beschreibungen zugrundegelegt scheint die These greifbar, dass Luther hier eine Art schlicht-kompatibilistischer Freiheit beschreibt. Wurde im vorausgegangen Abschnitt 5.3.1 deutlich, dass Luther die Unmöglichkeit des freien Willensvermögens auch als Unmöglichkeit, die eigene Beschaffenheit grundlegend zu bestimmen, versteht, so liegt nun nahe, anzunehmen, dass Luther die hier von ihm beschriebene Freiheit als Freiheit innerhalb der vorgegebenen Grundrichtung des Wollens auffasst, das heißt als Freiheit innerhalb der durch die Beschaffenheit eindeutig gegebenen Ursachen und Gründe seiner Entscheidungen und Handlungen. So kann Luther den Begriff Freiheit in zweierlei Weise gebrauchen: zum einen in Hinsicht auf die grundsätzliche Beschaffenheit eines Handlungssubjekts und zum anderen in Hinsicht auf die Entscheidungen und Handlungen, die entsprechend der Beschaffenheit des Handlungssubjekts eindeutig bestimmt sind. Über die erste Art der Freiheit verfügt der Mensch nicht, über die zweite Art hingegen sehr wohl. Luthers Verständnis dieser schlicht-kompatibilistischen Freiheit zeigt sich nicht ursprünglich in Dsa. Vielmehr beschreibt Luther dieses in Abgrenzung vom unfreien Willensvermögen, das heißt in Abgrenzung von der Unmöglich171  „Si vis, Si volueris, hoc est, si talis apud Deum fueris, ut voluntate hac te dignetur servandi praecepta, servaberis. Quo tropo intelligi datur utrunque, scilicet et nos nihil posse et, siquid facimus, Deum in nobis operari. Sic illis dicerem, qui non contenti vellent esse, quod illis verbis solum impotentia nostra ostendi dicitur, sed etiam vim aliquam et potentiam faciendi ea, quae praecipiuntur, probari contenderent. Ita simul verum fieret, ut nihil possemus eorum quae praecipiuntur et simul omnia possemus, illud nostris viribus, hoc gratiae Dei tribuendo“ (WA 18, 691, 31–39).

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

keit nicht schlicht verstandener kompatibilistischer Freiheit, der Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung, bereits in der Römerbrief-Vorlesung: „Zwar ist er [sc. der Mensch] frei im natürlichen Sinne, jedoch nur in Bezug auf das, was in seiner Macht und tiefer steht als er, nicht aber in Bezug auf das, was über ihm steht. Denn er ist ein Gefangener der Sünden und ist somit zur Entscheidung für das Gute in Gottes Sinne nicht fähig.“172

Wird Luthers Verständnis von Freiheit in niederen Dingen als schlicht-kompatibilistische Freiheit gedeutet, so scheint auch eine Erklärung dafür möglich, dass Luther im Kontext der Leugnung des freien Willensvermögens an verschiedenen Stellen betont, dass das freie Willensvermögen des schlecht beschaffenen Menschen dennoch nicht nichts sei. Luther weiß, „dass der gottlose Wille irgendetwas ist und nicht einfach nichts […] Wir wissen, dass das freie Willensvermögen der Natur nach etwas macht, wie etwa verzehren, trinken, zeugen, regieren“173. Auch in der Disputation gegen die scholastische Theologie hat Luther dieses Vermögen des schlecht beschaffenen Menschen in den Thesen 14 und 15 beschrieben: „14. Es ist nicht verwunderlich, dass er [sc. der irrende Mensch] sich an der irrigen Anweisung [der Vernunft] ausrichten kann, aber nicht an der richtigen.

172  WA 56, 385, 19–22. Zu Röm 8, 28, Übersetzung nach LD 1, 209. Vgl. auch Luthers Darstellung der Freiheit in niederen Dingen in der Großen Genesisvorlesung (1535–1545) zu Gen 2,7: „Wir haben ja zwar etlichermaßen einen freien Willen, aber in den Dingen allein, die unter uns sind. Denn wir sind aus Gottes Gebot zu Herren gesetzt über die Fische im Meer, die Vögel unter dem Himmel, und über die Thiere, so auf Erden sind. […] In den Dingen aber, so Gott angehen und über uns sind, hat der Mensch keinen freien Willen, sondern ist gewißlich wie ein Thon in der Hand des Töpfers, in welchem allein gewirket wird, er selbst aber wirket nichts“ – „Habemus quidem liberum quodam modo arbitrium in iis, quae infra nos sunt. Sumus enim constituti mandato divino domini piscium maris, volatilium coeli et bestiarum agri. […] Sed in iis, quae ad Deum attinet, et sunt supra nos, homo nullum habet liberum arbitrium, Sed vere est sicut lutum in manu figuli, positus in mera potentia passiva, et non activa“ (WA 42, 64, 28–34, Übersetzung in: M. Luther: Dr. Martin Luthers Sämtliche Schriften, hg. v. J. G. Walch, Bd. 1, Auslegung des ersten Buches Mose, 1. Teil, Nachdruck der 2., überarb. Aufl. v. 1880–1910, Groß Oesingen 1986, 103); vgl. ebenfalls die Anerkennung einer entsprechenden menschlichen Freiheit in CA 18: „De libero arbitrio docent, quod humana voluntas habeat aliquam libertatem ad efficiendam civilem iustitiam et deligendas res rationi subiectas“ – „Vom freien Willen wird also gelehrt, daß der Mensch etlichermaß ein freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter den Dingen, so die Vernunft begreift“ (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK), hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 12. Aufl., Göttingen 1998, 73, 2–5). 173  „[Q]uod voluntas impia sit aliquid et non merum nihil […] Scimus liberum arbitrium natura aliquid facere, ut comedere, bibere, gignere, regere“ (WA 18, 751, 39–752, 8). Vgl. auch WA 18, 709, 15–18.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

195

15. Ja, es ist sogar eigentümlich für ihn, dass er sich nur nach der irrigen [Anweisung der Vernunft] ausrichtet und nicht nach der richtigen.“174

In diesem Kontext scheint Luther das freie Willensvermögen des schlecht beschaffenen Handlungssubjekts deshalb in gewisser Weise als gegeben zu bezeichnen, weil er es als schlicht-kompatibilistische Freiheit begreift. Was es erschwert, Luthers Verständnis in dieser Weise zu deuten, ist zweifellos Luthers uneinheitlicher Gebrauch des Begriffs „freies Willensvermögen“ („liberum arbitrium“). Doch eine erhellende Erkenntnis kann dann gewonnen werden, wenn der Gebrauch dieses Begriffs bei Luther sowohl im Kontext der Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung als auch im Kontext der menschlich möglichen, schlicht-kompatibilistisch verstandenen Freiheit anerkannt wird. Nicht immer gibt Luther seine Vorstellung von schlicht-kompatibilistischer Freiheit unmissverständlich zu erkennen. So können Stellen, in denen Luther vom Zusammenwirken Gottes mit den Menschen spricht, nicht immer eindeutig mit seinem Verständnis schlicht-kompatibilistischer Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit in Verbindung gebracht werden. Doch fällt gerade vom Verständnis der schlicht-kompatibilistischen Freiheit Luthers ausgehend ein erhellendes Licht auf viele dieser Stellen, sodass sich zeigt, dass ein Zusammenwirken in diesem Sinn nicht die Eigenständigkeit menschlichen Handelns und Entscheidens notwendig aufhebt. Gott wirkt nach Luther in den Christen, „die er dazu erneuert hat und erhält, dass er in uns wirkte und wir mit ihm zusammenwirkten. So predigt er durch uns, erbarmt sich der Armen, tröstet die Geschlagenen“175. Im Horizont des schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnisses kann Gottes Wirken durch die Menschen, die von Gottes Geist erfasst sind, einerseits uneingeschränkt und mit eindeutiger Notwendigkeit beschrieben werden, und andererseits bleibt das menschliche Handeln und Entscheiden freiwillig und in diesem Sinn uneingeschränkt. Luthers Freiheitsverständnis erscheint somit, dieser Deutung zufolge, keineswegs als widersprüchlich. Die Rede von Unfreiheit und zugleich von Freiheit des Menschen erweist sich als vereinbar, wenn deutlich gemacht wird, dass Luther die Unfreiheit in Hinsicht auf Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung versteht, Freiheit hingegen als eine schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit. Diese Differenz der Ebenen erweist sich als ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der Freiheitsvorstellung Luthers. 174  „14. Nec est mirum, quod potest se conformare dictamini erroneo et non recto. 15. Immo hoc ei proprium est, ut tantummodo erroneo sese conformet et non recto“ (WA 1, 224, 30–33, Übersetzung nach Wilfried Härle, LDStA 1, 21). 175  „[U]t quos in hoc ipsum recreavit et conservat, ut operaretur in nobis et nos ei cooperaremur. Sic per nos praedicat, miseretur pauperibus, consolatur afflictos“ (WA 18, 754, 14–16). Vgl. auch WA 18, 753, 33–35.

196

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

In der Sekundärliteratur scheint der Zusammenhang der Rede von Freiheit und Unfreiheit bei Luther häufig missverstanden und Luther folglich oft selbstwidersprüchlich wahrgenommen zu werden.176 Dabei hat etwa Anfang des 20. Jahrhunderts Carl Stange erkannt, welcher Erkenntnisgewinn in der Wahrnehmung der unterschiedlichen Ebenen für das Freiheitsverständnis Luthers liegt. Stange formuliert die von ihm als entscheidend erkannte Frage folgendermaßen: „Wie ist es möglich, die Unfreiheit des Willens zu behaupten und daneben dann doch von einer Freiheit des Handelns zu reden? Wie verträgt sich diese Freiheit des Handelns mit der Unfreiheit des Willens? Worin hat die Freiheit des Handelns ihren Grund, wenn doch der Wille unfrei ist?“177

Als Antwort auf diese selbst formulierte Frage macht Stange deutlich: „Der Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit entspricht in der Tat dem Unterschied, welcher zwischen der äußeren Handlung und der Gesinnung besteht: die Richtung seines Willens kann der Mensch sich nicht selbst geben und deshalb ist er, soweit die Gesinnung in Frage kommt, gebunden und unfrei; aber ob nun diese Gesinnung sich in einzelne Handlungen umsetzt und wie das geschieht, das ist eine andere Frage und in dieser Beziehung kann allerdings von Freiheit die Rede sein.“178

Friedrich Hermanni, der auf Stanges Einsicht würdigend hinweist179, drückt die Unterscheidung der beiden Freiheitsebenen bei Luther folgendermaßen aus: „Nach Luther ist der Mensch insofern frei, als er bezogen auf einzelne Gegenstände und Tätigkeiten Alternativen erwägen und zwischen ihnen entscheiden kann, während er in Bezug auf seine Gesinnung keine Wahl hat. Gleichwohl gibt es für jede Entscheidung, die ein Mensch trifft, einen zureichenden Grund, nämlich seinen Charakter und seine jeweiligen Motive, die ihrerseits im Willen Gottes gründen.“180

Damit weist Hermanni auch auf die entscheidende Pointe hin, dass Luthers Verständnis der menschlichen schlicht-kompatibilistischen Freiheit nicht nur mit der Notwendigkeit der göttlichen Allwirksamkeit vereinbar, sondern geradezu durch sie bedingt zu verstehen ist.181 176 

Vgl. F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 175, Anm. 40. Stange: „Die reformatorische Lehre von der Freiheit des Handelns“, 21 f. 178 C. Stange: „Die reformatorische Lehre von der Freiheit des Handelns“, 30, Herv. i. O. 179 F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 175, Anm. 40. 180 F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 180 f. 181  Dies entspricht der oben dargestellten Bemerkung Luthers, dass auch in Bezug auf die Freiheit in niederen Dingen alles gelenkt wird „allein durch das freie Willensvermögen Gottes, wohin auch immer es ihm gefällt“ (WA 18, 638, 8 f.), vgl. auch WA 18, 672, 11. Dass sich hier eine entscheidende Einsicht verbirgt, die vor dem Missverständnis bewahrt, Luthers Verständnis von Freiheit in niederen Dingen als solch ein Verständnis aufzufassen, nach dem Freiheit und Determinismus als unvereinbar erscheinen, beschreibt etwa auch Gerhard Ebeling, vgl. G. Ebeling: Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 251. 177 C.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

197

Entsprechend deutet etwa auch Ulrich Körtner Luthers Freiheitsverständnis und drückt dies in der Terminologie der analytischen Philosophie aus: „Luther stellt die paradoxe Behauptung auf, daß es eine menschliche Freiheit gibt, die mit der Unfreiheit des Willens vereinbar ist. Das kann man als Position eines theologischen Kompatibilismus bezeichnen. […] Was […] die Willensfreiheit betrifft, muß man Luther zu den Inkompatibilisten rechnen, welche Determinismus und Willensfreiheit für unvereinbar halten.“182

Hinsichtlich der Frage, welche Relevanz Luther radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zuerkennt, kann vom Kontext der Argumentation Luthers für schlicht-kompatibilistische Freiheit ausgehend angenommen werden, dass Luther radikaler Selbstbestimmung wohl keine Relevanz zubilligt. Denn im Kontext des vorliegenden Abschnitts zeigt sich, dass Luther die menschliche Freiheit gerade als eine inkompatibilistische Intuitionen irrelevant betrachtende Freiheit beschreibt und diesem Vermögen eben auch die Begrifflichkeit Freiheit ausdrücklich zuweist. Somit ist hier davon auszugehen, dass Luther wohl analog zum Verständnis Frankfurts Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit und als Freiheit im Sinn der Abwesenheit von äußerer und innerer Fremdbestimmung deutet. Dieser Deutung weist er Relevanz für das Freiheitsverständnis zu, ohne dass darüber hinaus radikaler Selbstbestimmung eine sinnvolle Bedeutung zukommen könnte. Dass Luther Frankfurt hier nahe steht, zeigt sich entsprechend deutlich etwa darin, dass Luther die von ihm schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit als jene Freiheit beschreibt, die den Menschen vom Tier unterscheiden kann.183 So scheint Luther der Einsicht Frankfurts, dass ein freiwilliges Wählen und Entscheiden innerhalb einer gegebenen persönlichen Beschaffenheit die einzig mögliche, sinnvoll beschreibbare und in Hinsicht auf die Fragestellungen der Freiheitsproblematik angemessene Position darstellt, hier zu folgen. Die Bedingung radikaler Selbstbestimmung gilt es in dieser Perspektive als irrelevant für das Freiheitsverständnis zurückzuweisen und eben dieser von Harry Frankfurt eingenommenen Perspektive gilt es Luthers Position hier zuzuordnen. Luthers Verständnis von schlicht-kompatibilistischer Freiheit scheint auch einen Zugang zu eröffnen zu der in der Forschungsliteratur kontrovers diskutierten Frage, ob Luther einen Determinismus vertritt. Anhand von Luthers Beschreibung der Verstocktheit des Pharaos und anhand seiner Beschreibung des notwendigen Judas-Verrats soll an diesen Fragenkomplex hier herangeführt werden.

182  U. H. J. Körtner: „Lasset uns Menschen machen“. Christliche Anthropologie im biotechnologischen Zeitalter, München 2005, 102. Vgl. A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 383 f. 183  Vgl. WA 18, 636, 16–22; 780, 5–7.

198

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

In dem vielfach zitierten Beispiel Luthers über den ägyptischen Pharao, der das Volk Israel trotz zahlreicher erfahrener Plagen zurückhält und nicht aus der Sklaverei entlässt184, zeigt sich Luthers Verständnis von Notwendigkeit insofern, als Gottes eindeutiges Vorherwissen eine Entscheidung des Pharao im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. im Sinn radikaler Selbstbestimmung – die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird und daher mit dem Determinismus unvereinbar scheint – prinzipiell ausschließt, die Entscheidung als freie Entscheidung jedoch nicht korrumpiert. Dabei lenkt Gott den Willen des Pharao auf der Ebene seiner Beschaffenheit, sodass die Entscheidung des Pharao nicht mehr als frei im Sinn der Freiheit eines unabhängigen Selbst oder im Sinn radikaler Selbstbestimmung verstanden werden kann: „Wenn es hier irgendeine Veränderlichkeit oder ein freies Willensvermögen im Pharao gab, die sich hätte hinsichtlich beider Richtungen zuwenden können, hätte Gott nicht so sicher seine Verstockung voraussagen können […] Denn wenn Gott von der Ausübung seiner Allmacht am Pharao abgelassen hätte […] und wenn ausgedacht werden würde, dass allein der Wille des Pharao mit seiner Kraft tätig war, dann wäre etwa Raum für eine Erörterung gewesen, nach welcher der beiden Richtungen er sich hätte neigen ­können.“185

Gott bewirkt im Pharao sowohl das Wollen an sich als auch den Inhalt des Wollens, sodass der Pharao nicht radikal selbstbestimmt seine Entscheidung vermeiden kann, das Volk Israel zurückzuhalten.186 Der Pharao erscheint bei Luther hier im Kontext der Beschreibung der göttlichen Notwendigkeit jedoch explizit im Besitz eines Willens, das heißt seines eigenen Willens, der im Rahmen der von Gott notwendig bestimmten Beschaffenheit frei agiert, wenn die Entscheidung, das Volk zurückzuhalten, von ihm getroffen wird. Eben dieses als schlicht-kompatibilistisch zu deutende Freiheitsverständnis Luthers angesichts der Notwendigkeit durch die göttliche Allwirksamkeit zeigt sich noch eindeutiger mit folgender Beschreibung der Situation des Judas bei dessen Verrat Jesu: „Wenn Gott vorherwusste, dass Judas der Verräter sein würde, dann wurde Judas un­ weigerlich der Verräter und es war nicht in der Hand des Judas oder irgendeines Geschöpfs, anders zu handeln oder den Willen zu verändern, mag er dies auch willentlich und nicht gezwungen getan haben – aber jenes Wollen war das Werk Gottes, welches

184 S. Ex

7 ff. „Si hic ulla erat vertibilitas aut libertas arbitrii in Pharaone, quae in utrunque po­ tuisset, non potuisset Deus tam certo praedicere eius indurationem […] Si enim Deus omisisset actionem omnipotentiae suae in Pharaone […] et sola voluntas Pharaonis sua vi egisse fingeretur, tum disputandi locus forte fuisset, utro sese inclinare potuisset“ (WA 18, 714, 16–31). 186  So wird der „Antrieb zu wollen im Pharao durch die Allmacht Gottes im Inneren bewahrt“ – „impetu volendi in Pharaone per omnipotentiam Dei intus servato“ (WA 18, 714, 25 f.). 185 

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

199

er [Gott] entsprechend seiner Allmacht antrieb, wie er auch alle anderen Dinge an­ treibt.“187

Hier wird unzweideutig erkennbar, dass Luther Judas auch und gerade angesichts der göttlichen Notwendigkeit eine gewisse Art von Freiheit zuerkennt – nämlich eine schlicht-kompatibilistisch verstandene. Luther erkennt so die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit – einer Notwendigkeit, die wohl im Sinn eines gewissermaßen schwachen Determinismus interpretiert werden kann. Luthers Determinismusverständnis scheint der Definition Strawsons nahe zu kommen, dessen Deutung von Determinismus sich darin erweist, dass alles, was existiert, hinreichende Ursachen besitzt.188 Keineswegs steht diesem Determinismusverständnis eine schlicht-kompatibilistische Freiheitskonzeption entgegen. In diesem Sinn spricht auch Friedrich Hermanni von einem „theologischen Determinismus“, der bei Luther in Dsa erkennbar ist.189 Für Hermanni ist dieser in der Allwirksamkeit Gottes begründete Determinismus entsprechend des Satzes vom zureichenden Grund zu verstehen: „Für alles, was geschieht, gibt es einen Grund, warum es überhaupt geschieht und warum es so und nicht anders geschieht. In diesem Sinne aber vertritt Luther zweifellos einen Determinismus, und zwar einen theologischen. Denn für ihn ist der Wille Gottes der zu­ reichende Grund für alle Ereignisse, auch für die freien Entscheidungen des Menschen.“190

Dieser Sichtweise Hermannis schließt sich auch Rochus Leonhardt an, wenn er in Dsa zu Recht wahrnimmt, dass sich für Luther das Wirken Gottes zum Heil als ein Sonderfall zum allgemeinen Fall der Allwirksamkeit Gottes verhält: „[G]egen das vielfach verbreitete Bemühen, den Eindruck eines ontologischen oder theologischen Determinismus zu zerstreuen, macht Luther selbst eindeutig klar, dass die von ihm gegen Erasmus eingeschärfte Alleinkompetenz Gottes beim Gnadenhandeln lediglich ein Sonderfall seiner universalen Alleinkompetenz ist.“191

Wilfried Härles These, man würde „Luthers Auffassung offensichtlich nicht gerecht […], wenn man ihm einen ontologischen oder theologischen Determinismus unterstellt“192, weist Leonhardt damit zutreffend zurück.193 187  „Si praescivit Deus, Iudam fore proditorem, necessario Iudas fiebat proditor nec erat in manu Iudae aut ullius creaturae, aliter facere aut voluntatem mutare, licet id fecerit volendo non coactus, sed velle illud erat opus Dei, quod omnipotentia sua movebat sicut et omnia alia“ (WA 18, 715, 18–716, 1). 188  Mit Ausnahme des Urknalls. S. o. Abschnitt 3.2. 189 F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 176. 190 F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 176. 191 R. Leonhardt: „Servum arbitrium und libertas christiana“, 149. 192 W. Härle: „Der (un-)freie Wille aus reformatorischer und neurobiologischer Sicht“, in: Ders.: Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, 253–303, hier: 273. 193 R. Leonhardt: „Servum arbitrium und libertas christiana“, 149, Anm. 15.

200

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Härles These, wie auch etwa Wilfried Joests vergleichbare Sicht194, scheint Luther eine solche Form des Determinismus abzusprechen, unter dessen Voraussetzung keinerlei Freiheit mehr denkbar bleibt. Da Luther in der Tat in Dsa für den Menschen eine Form von Freiheit anerkennt – nämlich eine schlicht-kompatibilistische Freiheit – erscheint es plausibel, Luther tatsächlich ein solch starkes Determinismusverständnis abzusprechen, das mit überhaupt keiner Form von Freiheit, auch nicht mit schlicht-kompatibilistisch verstandener Freiheit kompatibel ist. Jedoch scheinen Hermanni und Leonhardt in ihrer Interpretation den eigentlich entscheidenden Punkt hinsichtlich des Determinismusverständnisses bei Luther zu treffen.195 Luther vertritt einen schwachen Determinismus, der ihm, als einem ontologischen oder theologischen Determinismus im Sinn des Satzes vom zureichenden Grund, nicht abzusprechen ist. Hingegen einen Fatalismus, wie Galen Strawson diesen definiert, vertritt Luther in der Tat nicht: Luther vertritt nicht die These, dass unser Handeln und Entscheiden überhaupt keinen Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen kann – verfügt der Mensch im Hinblick auf seine Freiheit, ungeachtet der Allwirksamkeit Gottes, der er unterliegt, nach Luther doch über eine „dispositive Qualität oder eine passive Eignung“196.

194  „Luther hat also keinen generellen Determinismus vertreten. Er hat, wie besonders die Disputatio de homine zeigt, die Möglichkeiten vernünftiger Einsicht und Entscheidung in diesem Bereich dessen, was ‚infra nos‘ ist, auch keineswegs als etwas Belangloses betrachtet, sondern sehr hoch bewertet.“ (W. Joest: „Die Freiheit in Luthers Verständnis des Menschen“, 131) Unter vergleichbaren Voraussetzungen weisen auch Christian Danz und Ernstpeter Maurer einen Determinismus bei Luther zurück: „Luthers Schrift De servo arbitrio ist also keine Theorie eines theologischen Determinismus, sondern der Versuch einer theologischen Aufklärung der inneren Struktur der Selbstbestimmung. Freiheit und Notwendigkeit sind in der menschlichen Selbstbestimmung verbunden.“ (C. Danz: „Der ‚umgekehrte Gott‘. Zur Rezeption Luthers in Schellings Freiheitsschrift“, in: Ders., R. Marszalek (Hg.): Grund und das Absolute. Studien zur philosophischen Theologie im Deutschen Idealismus, Wien, Berlin 2007, 145–161, hier: 153); „Die zugespitzte These lautet bei Luther: Es gibt keinen freien Willen, vielmehr geschieht alles aus reiner Notwendigkeit (mera necessitate: WA 18,630.634). Damit meint Luther keinen Determinismus. Denn die Notwendigkeit des Willens ist nicht mit mechanischen Einwirkungen zu verwechseln. Hier greift die Unterscheidung zwischen necessitas immutabilitatis (Notwendigkeit aus dem Unvermögen, sich zu ändern) und necessitas coactionis. [sic!] (Notwendigkeit durch Zwang)“ (E. Maurer: „Der Streit um den freien Willen“, in: Glaube und Lernen 21 (2006), 124–135, hier: 126). 195  Im Hinblick auf Luthers gnadentheologisches Anliegen spricht Ulrich Körtner in entsprechendem Verständnis von einem soteriologischen Determinismus bei Luther: „Luthers theologischer Determinismus läßt sich als soteriologischer Determinismus bezeichnen. Dieser Determinismus bestreitet zwar die Willensfreiheit, nicht aber die Freiheit überhaupt“ (U. H. J. Körtner: „Lasset uns Menschen machen“, 102). 196  „[D]ispositivam qualitatem et passivam aptitudinem“ (WA 18, 636, 19 f., Übersetzung nach A. Lexutt, LDStA 1, 293); s. o. zu Strawsons Verständnis von Determinismus und Fatalismus Abschnitt 3.4.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

201

Als Schlüssel zum Verständnis Luthers erweist sich für diese Debatte eben Luthers nunmehr deutlich hervorgetretene Unterscheidung von Freiheit, welche die Beschaffenheit des Handlungssubjekts betrifft – die nach Luther nicht existiert – und Freiheit, die Entscheidungen und Handlungen innerhalb der gegebenen Beschaffenheit betrifft – die nach Luther durchaus existieren kann. Denn im Horizont des von Luther vertretenen schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnisses wird erkennbar, wie Luther Gottes Allwirksamkeit zwar deterministisch, aber dennoch als mit der Freiheit innerhalb der vorgegebenen menschlichen Beschaffenheit vereinbar versteht. Ein bedeutsamer, grundlegender Hinweis auf Luthers schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis in Dsa ergibt sich auch in Luthers Argumentation, Freiheit ausdrücklich im Sinn von Freiwilligkeit aufzufassen. Auf diesen Hinweis gilt es entsprechend den Blick zu richten. Bereits in Luthers Frage über die Kräfte findet sich die Beschreibung der Freiwilligkeit hinsichtlich seiner Beschreibung derjenigen Freiheit, über die der Mensch verfügt: „Der Wille des Menschen ohne Gnade ist nicht frei, sondern er dient, wenn auch nicht unwillig“197. Hierin deutet sich Luthers Freiheitsverständnis insgesamt bereits grundsätzlich an: In Hinsicht auf die Beschaffenheit, die von Gottes Gnade abhängt, existiert keine Freiheit, wohl aber in Hinsicht auf den Bereich, der dieser Beschaffenheit untergeordnet ist, und hier zeichnet sich die Freiheit im Sinn der Abwesenheit äußerer und innerer Fremdbestimmung des Willens, das heißt im Sinn der Freiwilligkeit aus. Luther entfaltet diesen Gedanken insbesondere mit Hilfe der Unterscheidung von necessitas immutabilitatis (Notwendigkeit der Unveränderlichkeit) und necessitas coactionis (Notwendigkeit des Zwangs). Nicht jede Form von Notwendigkeit schließt Freiheit in Luthers Sicht aus, sondern allein diejenige Notwendigkeit, die als Zwang auf das Handlungssubjekt einwirkt. Erasmus hingegen scheint diese Differenzierung nicht zu kennen, für ihn erscheint jede Form von Notwendigkeit, die als Determinismus im Sinn der Notwendigkeit der Folge zu verstehen ist, mit Freiheit grundsätzlich unvereinbar. Luther macht sein Verständnis hingegen wie folgt deutlich: „Als ob wir von einem Zwang reden würden und nicht vielmehr von der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit. Diese wird angegeben entsprechend der Neigung Gottes, […] sie ist jenes höchst wirkungsvolle Geschäftigsein Gottes, dem man nicht ausweichen und das man nicht verändern kann, sondern durch welches man unausweichlich ein so be­ schaffenes Wollen hat, wie Gott es jenem gegeben hat und wie er es ergreift durch seinen Antrieb.“198

197 

38 f.).

„Voluntas hominis sine gratia non est libera, sed servit, licet non invita“ (WA 1, 147,

198  „Quasi nos de coactione loquamur, ac non potius de necessitate immutabilitatis. Ea significatur per inclinationem Dei […] actuosissima illa operatio Dei, quam vitare et mutare

202

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Luther erkennt ein Wollen, das Gott gegeben hat, und das dennoch nicht fremdbestimmt erscheint. Dieses Wollen entspricht einem freiwilligen Wollen, das ein Handlungssubjekt auf der Grundlage seiner persönlichen Beschaffenheit ausbilden kann – natürlich ohne diese Beschaffenheit grundlegend frei bestimmen zu können: „Jetzt aber, da er getrieben und ergriffen wird zu wollen, geschieht seinem Willen zwar keine Gewalt, weil er nicht nicht wollend gezwungen wird, sondern durch das naturgemäße Wirken Gottes wird er ergriffen, in natürlicher Weise so zu wollen, wie er beschaffen ist.“199

Luther beschreibt diesen Gedanken anschaulich am Beispiel eines nicht von Gottes Geist bestimmten, schlecht beschaffenen Handlungssubjekts. Im Kontrast dazu nennt Luther die Fremdbestimmung, die einen strafwürdigen Verbrecher trifft: „Wenn der Mensch den Geist Gottes entbehrt, handelt er sicherlich nicht unter Gewalt wie ein Ergriffener, am Hals gewürgt, Schlechtes tut, obwohl er es nicht will, wie ein Dieb oder Räuber nicht wollend zur Bestrafung geführt wird, sondern er handelt aus eigenem Antrieb und nach freiem Willen.“200

Die Notwendigkeit des Zwangs entspricht in Luthers Sicht hier einer äußerlichen Fremdbestimmung, die zweifellos freiheitsunterminierend wirkt. Die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit hingegen ist Luther zufolge überhaupt nicht als Fremdbestimmung zu beschreiben, handelt und entscheidet ein Handlungssubjekt nach ihr doch freiwillig in Bezug auf die dem Handlungssubjekt bewussten Erwägungen und Gründe seiner Entscheidung. 201 Luther kann seine Argumentation in der Weise zuspitzen, dass er Freiwilligkeit schließlich als Definitionsmerkmal des Willens ausmacht. Was wir tun, non possit, sed qua tale velle habet necessario, quale illi Deus dedit et quale rapit suo motu“ (WA 18, 747, 22–27). 199  „Nunc vero, cum agatur et rapiatur volendo, non fit quidem voluntati eius vis, quia non cogitur nolens, Sed naturali operatione Dei rapitur ad volendum naturaliter, qualis qualis est“ (WA 18, 714, 31–33). 200  „[H]omo cum vacat spiritu Dei, non quidem violentia, velut raptus obtorto collo, nolens facit malum, quemadmodum fur aut latro nolens ad poenam ducitur, sed sponte et libenti voluntate facit“ (WA 18, 634, 23–25). 201  Vgl. hierzu auch: „Ich beschwöre dich [sc. Erasmus], diskutieren wir jetzt über Zwang und Gewalt? Haben wir nicht in so vielen Büchlein bezeugt, dass wir über die Notwendigkeit der Unveränderlichkeit reden? […] Oder wenn die Dinge, die ich sage, noch nicht begriffen sind, [dann] wollen wir die eine Notwendigkeit darstellen, die gewaltsam zu Werke geht, und die andere Notwendigkeit, die unfehlbar zur rechten Zeit wirkt. Über die Letztere sprechen wir, das möge begreifen, wer uns hört, nicht über die Erstere“ – „Obsecro, an disputamus nunc de coactione et vi? Nonne de necessitate immutabilitatis nos loqui tot libellis testati sumus? […] Aut si nondum intelliguntur quae dico, aliam necessitatem violentam ad opus, aliam necessitatem infallibilem ad tempus referamus; de posteriore nos loqui intelligat, qui nos audit, non de priore“ (WA 18, 720, 31–721, 1). Vgl. entsprechend WA 18, 722, 4–9.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

203

„dies tun wir wollend und gern, entsprechend der Natur des Willens, was gezwungen wäre, wäre kein Wille. Denn Zwang ist eher Nichtwille (sozusagen)“202. Damit zeigt sich weiterhin eine deutlich schlicht-kompatibilistisch geprägte Argumentationslinie Luthers, die keine Relevanz radikaler Selbstbestimmung erkennen lässt. Wird Freiheit im Sinn der Abwesenheit von äußerer und innerer Fremdbestimmung unter deterministischen Voraussetzungen und der Begriff Wille („voluntas“) im Sinn dieser Freiheit verstanden, wird nicht mehr ersichtlich, was darüber hinaus notwendig wäre, um die strukturelle Freiheitsthematik angemessen zu erörtern. Luther erweist sich hier wiederum als Vertreter einer Position des natürlichen schlichten Kompatibilismus. Legt der Begriff Wille natürlicherweise nahe, im Sinn von Freiwilligkeit verstanden werden zu müssen, scheint die Motivation für die Suche nach einer Freiheit, die dem hohen Anspruch eines unabhängigen Selbst oder radikaler Selbstbestimmung genügen würde, unbegründet. Diese hier bei Luther deutbare schlicht-kompatibilistische Strategie, Freiheit im Sinn des natürlichen Verständnisses der Freiwilligkeit des Willens zu begründen, scheint analog auch Notger Slenczka zu gebrauchen, wenn er pointiert festhält: „Genaugenommen ist nämlich die Frage, ob der Wille frei ist, eine sinnlose Frage – jedenfalls dann, wenn man sich unter dem Willen ein Strebe- oder Entscheidungsvermögen vorstellt, das entweder von einem anderen in eine bestimmte Richtung genötigt wird, oder aber sich selbst zur Bestimmung überlassen ist. Ein Wille kann gar nicht unfrei sein.“203

Dass Slenczka Freiheit schlicht-kompatibilistisch versteht und radikale Selbstbestimmung nicht als notwendige Bedingung von Freiheit betrachtet, wird deutlich, wenn er sein Konzept mit der Position Michael Pauens, der sich zu einem Freiheitsverständnis bekennt, das schlicht-kompatibilistischer Freiheit entspricht, als „faktisch […] verwandt“ versteht und sich auch auf den Harry Frankfurt in den Grundsätzen folgenden Kompatibilisten Peter Bieri bezieht. 204

202  „[I]dque facimus volentes et lubentes, pro natura voluntatis, quae cogeretur, voluntas non esset. Nam coactio potius est (ut sic dicam) Noluntas“ (WA 18, 635, 12–14). 203 N. Slenczka: „Von der Freiheit des unfreien Willens. Bemerkungen aus theologischer Perspektive“, in: C. Spieß (Hg.): Freiheit-Natur-Religion. Studien zur Sozialethik, Paderborn 2010, 51–84, hier: 74. Vgl. in einem früheren Beitrag: „Es gehört zum Wesen des Wollens, daß es frei ist – andernfalls wird es zum Müssen.“ (N. Slenczka: „ ,Virtutibus nemo male utitur‘ (Augustin). Die aristotelische Tradition der Tugendethik und die protestantische Ethik. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis der Unfreiheit des Willens“, in: Deuser, H., Korsch, D. (Hg.): Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004, 170–192, hier: 178). 204 N. Slenczka: „Von der Freiheit des unfreien Willens“, 67, Anm. 40. Slenczka bezieht sich auf M. Pauen/G. Roth: Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2008 und P. Bieri: Das Handwerk der Freiheit.

204

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Ulrich Körtner hat in diesem Kontext eine Konsequenz aus Slenczkas Konzeption als freiheitstheoretisch unangemessen zurückgewiesen. 205 Diese Konsequenz, die Slenczka zu Recht entsprechend seinem schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnis zieht, betrifft die Problematik der verdeckten Fremdbestimmung, die sich in der vorliegenden Untersuchung bereits anhand von Frankfurts Freiheitstheorie gezeigt hat.206 Für Slenczka gilt: „In dem Moment, in dem die Fremdbestimmung“ – sei es durch Zwang, Erziehung oder durch göttliche Gnade – „den erstrebten Erfolg hat (daß ich einen Zweck mir setze und ihn will), ist der erreichte Zustand nicht mehr fremdbestimmt, sondern ein Willensvollzug“207. Slenczka identifiziert Freiheit in der Weise konsequent mit Freiwilligkeit, dass er ein unter Gehirnwäsche stehendes Handlungssubjekt in derselben Weise als frei betrachtet wie ein unter der Gnade Gottes stehendes Handlungssubjekt. Slenczka bringt dies, unter Bezug auf vorausgehende Darstellungen über Gabriel Biel, folgendermaßen zum Ausdruck: „Wohl ist es vorstellbar, daß das Wollen verändert wird, bestimmt wird – hier bei Biel durch die Gnade Gottes, bei Orwell durch Gehirnwäsche, bei Aristoteles durch Erziehung, bei Luther durch den Heiligen Geist. Aber sobald dieses Wollen verändert ist, ist es als Wollen auf nichts anderes rückführbar als auf sich selbst – oder es handelt sich eben nicht um ein Wollen, sondern um ein Sollen oder Müssen.“208

Hier setzt Körtners Kritik an, der einen strukturellen Unterschied zwischen einer schlicht-kompatibilistischen Freiheit infolge des Bestimmtseins durch Gott und einer schlicht-kompatibilistischen Freiheit infolge des Bestimmtseins durch Gehirnwäsche einfordert: „Besteht zwischen dem Wirken des Heiligen Geistes bzw. der Gnade Gottes, Erziehung und Gehirnwäsche lediglich ein inhaltlicher, aber kein struktureller Unterschied? Dann steht der christliche Glaube wie alle Religion unter dem berechtigten Verdacht, eine Form der Gehirnwäsche oder im Sinne Freuds eine kollektive Zwangsneurose zu sein.“209

Körtner gilt es bezüglich dieser Kritik ausdrücklich zuzustimmen. Entsprechend der oben in Abschnitt 2.3 vorgebrachten Kritik an Harry Frankfurts konsequenter Haltung, schlicht-kompatibilistisch verstandene freie Entscheidungen und Handlungen unter Gehirnwäscheeinfluss in gleicher Weise frei zu beschreiben wie schlicht-kompatibilistisch verstandene freie Entscheidungen und Handlungen, die nicht unter Gehirnwäscheeinfluss erfolgen, gilt es auch hier die kontraintuitive Wirkung dieser Position zu benennen. Ein sich frei er205 Vgl.

U. H. J. Körtner: „Lasset uns Menschen machen“, 88–94. Abschnitt 2.3. 207 N. Slenczka: „ ,Virtutibus nemo male utitur‘ “, 187. 208 N. Slenczka: „ ,Virtutibus nemo male utitur‘ “, 189. Vgl. entsprechend N. Slenczka: „Von der Freiheit des unfreien Willens“, 74 f. 209  U. H. J. Körtner: „Lasset uns Menschen machen“, 92. 206 S. o.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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fahrendes Handlungssubjekt kann kaum in gleicher Weise als frei bezeichnet werden, wenn seine persönliche Beschaffenheit entweder ein Resultat von Erziehung oder der Gnade Gottes, oder wenn seine persönliche Beschaffenheit ein Resultat eines manipulativen Vorgehens darstellt. Im letzten Fall würde sich das Handlungssubjekt, sofern ihm die Ursache seiner Beschaffenheit bewusst werden würde, keineswegs als frei empfinden, im ersten und zweiten Fall hingegen erscheint seine Freiheitsempfindung durchaus vorstellbar. Mag diese Sicht zutreffen und die Kritik an Frankfurt und Slenczka hier zweifellos ihre Berechtigung besitzen, so erweist es sich jedoch zudem als angemessen, den Freiheitscharakter im ersten und zweiten Fall genau zu überprüfen. Denn steht es wirklich selbstverständlich außer Frage, dass die Konstituierung der persönlichen Beschaffenheit durch das Wirken des Heiligen Geistes oder durch Erziehung in keiner Weise einen freiheitsunterminierenden oder freiheitseinschränkenden Charakter besitzen kann? Dass dies keineswegs der Fall ist, können folgende zwei Beispiele deutlich machen: Inwiefern könnte etwa eine psychologisch instabile Person, die maßgeblich für die Erziehung eines Kindes verantwortlich ist, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit dieses Kindes so beeinflussen, dass es unangemessen wäre, es infolge der Erziehung als frei handelnd und entscheidend zu bezeichnen? Es liegt nahe, hier einen fließenden Übergang von einer manipulativen zu einer die Autonomie des Kindes achtenden Erziehung anzunehmen, wobei sich der Freiheitscharakter der schlicht-kompatibilistischen Freiheit des Kindes entsprechend der Art der Erziehung verhalten würde. Auch im Hinblick auf den Willen Gottes bzw. das Wirken des Heiligen Geistes als Ursache für die Konstituierung der Beschaffenheit eines Handlungssubjekts erweist es sich als uneindeutig, ob das Handlungssubjekt zweifelsfrei als frei beurteilt werden kann. Dass Gott in seinem Wirken gegenüber dem Menschen durchaus als freiheitsunterminierend wahrgenommen werden kann, beschreibt sehr anschaulich etwa Jean-Paul Sartre in seiner Kindheitsautobiographie Die Wörter: „Ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, es gebe ihn. Ich hatte mit Streichhölzern gespielt und einen kleinen Teppich versengt; ich war im Begriff, meine Untat zu vertuschen, als plötzlich Gott mich sah. Ich fühlte seinen Blick im Inneren meines Kopfes und auf meinen Händen; ich drehte mich im Badezimmer bald hierhin bald dorthin, grauenhaft sichtbar, eine lebendige Zielscheibe. Mich rettete meine Wut: Ich wurde furchtbar böse wegen dieser dreisten Taktlosigkeit, ich fluchte, ich gebrauchte alle Flüche meines Großvaters. Gott sah mich seitdem nie wieder an.“210 210  J.-P. Sartre: Die Wörter, in: Gesammelte Werke, hg. v. T. König, Autobiographische Schriften, Briefe, Tagebücher, Bd. 1, dt. v. H. Mayer, Reinbek bei Hamburg 1988, 78 f. Für Sartre gilt auch im Umkehrschluss, dass Gott seine Allmacht verliert, wenn der Mensch sich seiner existenziell grundlegenden Freiheit bewusst wird. So beklagt sich etwa Jupiter im Drama Die Fliegen: „Wenn erst einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist,

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Wird Gott nicht als gnädiger, den Menschen in seiner Persönlichkeit achtender und fördernder Gott verstanden, sondern möglicherweise als Demiurg im gnostischen Verständnis oder als die Geschöpfe kontrollierender, ungerecht strafender und tyrannisierender Gott, erscheint der Wert einer Freiheit, die sich im Kontext der durch diesen Gott grundlegend bestimmten Beschaffenheit der Geschöpfe ergibt, keineswegs unumstritten. Diese Beispiele machen deutlich, dass schlicht-kompatibilistischen Freiheitstheorien in Abhängigkeit ihres vorausgesetzten Verständnisses von Notwendigkeit unterschiedliche Beurteilungen ihres Freiheitswerts zu eigen sind. Körtners Hinweis auf die Differenz zwischen einer schlicht-kompatibilistischen Freiheitstheorie, die Notwendigkeit in Form von Gehirnwäsche beinhaltet und einer schlicht-kompatibilistischen Freiheitstheorie, die Notwendigkeit in Form des Wirkens des Heiligen Geistes bzw. des Willens Gottes oder in Form von Erziehung enthält, veranschaulicht diesen Zusammenhang ebenso wie die genannten Beispiele, welche die Notwendigkeiten des Willens Gottes und der Erziehung in ihrer Vereinbarkeit mit Freiheit weiter differenzieren. Zweifellos gilt zunächst festzuhalten, dass ein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis gerade darin seine Pointe besitzt, dass solch schlicht verstandene kompatibilistische Freiheit als wirkliche Freiheit, als Freiheit im Sinn von Autonomie zu verstehen ist. Eben diese Pointe erweist sich in Luthers Unterscheidung zweier Ebenen: Freiheit in Bezug auf die Beschaffenheit eines Handlungssubjekts und Freiheit in Bezug auf Entscheidungen und Handlungen, die sich innerhalb des vorausgesetzten Bereichs der Beschaffenheit ergeben. Insofern ist in diesem Zusammenhang Andreas Klein Recht zu geben, der Melanie Beiner gegenüber kritisiert, sie habe dieses Potential schlicht-kompatibilistischer Freiheitsargumentation bei Luther unzureichend dargestellt. 211 Beiner operiert mit dem Begriff „Heteronomie“ im Hinblick auf Luthers Verständnis von Freiheit und trägt damit wohl der Erkenntnis Rechnung, dass Luther betont, dass alles, was geschieht, auch die Freiheit in niederen Dingen, Gottes Allwirken und Notwendigkeit untersteht. 212 Damit einhergehend, so Kleins Kritik, unterschlägt Beiner die Aktivität des Menschen.213 Sie knüpfe das Ververmögen die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen“ (J.-P. Sartre: Die Fliegen. Drama in drei Akten, in: Gesammelte Werke, hg. v. T. König, Theaterstücke, Bd. 1, Neuübersetzung v. T. König, Reinbek bei Hamburg 1991, 95–206, hier: 163). 211  Vgl. A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 404. Klein kritisiert in entsprechender Weise auch Hans Vorster hinsichtlich des nicht erkannten Autonomie-Aspekts von Luthers kompatibilistischem Freiheitsverständnis, vgl. A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 404, Anm. 193, mit Bezug auf H. Vorster: Das Freiheitsverständnis bei Thomas von Aquin und Martin Luther, Göttingen 1965, 385–387. 212  Vgl. M. Beiner: Intentionalität und Geschöpflichkeit, 91 f., zitiert bei Andreas Klein: A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 429 f.; 435. 213 Vgl. M. Beiner in zustimmender Darstellung H. J. Iwands: „Der Machtcharakter von Offenbarung verbürgt die rein passive Haltung des Menschen, verbürgt damit also, daß der

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ständnis einer autonomen Freiheit an die Vorstellung libertarischer Freiheit und würdige den Wert eines schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnisses dabei nicht, was Klein als Folge von Beiners Versäumnis, sich mit der philosophischen Freiheitsdebatte auseinanderzusetzen, ausmacht. 214 Im Grundsatz ist Klein in seiner Kritik zuzustimmen, besteht doch der wesentliche Wert schlicht-kompatibilistischer Freiheit – den auch Luther erkannt hat – eben darin, unter Verweis auf die Möglichkeit freiwilligen Entscheidens und Handelns unter vorgegebenen Alternativen Freiheit im Sinn von Autonomie zu begründen. Dennoch nimmt Klein in der philosophischen Freiheitsdebatte selbst unzureichend wahr, dass der Freiheitscharakter einer schlicht-kompatibilistischen Freiheitstheorie unterschiedlich qualifiziert sein kann. Karin Scheiber hat in ihrer Rezension zu Kleins Monographie eben diesen Kritikpunkt deutlich gemacht. Dazu greift Scheiber folgende Aussage Kleins am Ende seiner Untersuchung auf: „Soviel läßt sich aber jedenfalls abschließend festhalten: Wenn es bereits zutreffend ist, daß auch unter der Perspektive der Möglichkeit der Wahrheit des Determinismus von Freiheit und Verantwortlichkeit sinnvollerweise gesprochen werden kann, dann kann dies auch unter der Voraussetzung der Allwirksamkeit Gottes nicht überzeugend bestritten werden.“215

Klein überträgt hier den philosophischen Determinismus direkt auf seinen theologischen und ersetzt die philosophisch unbestimmte Notwendigkeit durch die Notwendigkeit infolge der Allwirksamkeit Gottes. Nach Scheiber aber „lässt sich aus dem philosophischen Kompatibilismus nicht nahtlos ein theologischer Kompatibilismus herleiten. Denn für den philosophischen Kompatibilismus ist die Unterscheidung zwischen personal und apersonal hervorgerufenen Notwendigkeiten zentral. Nur im ersten Fall kann von Zwang die Rede sein, und nur er gefährdet die Willensfreiheit. Damit ist das Problem göttlicher Determination aber gerade nicht vom Tisch, sondern es bedarf die traditionelle Figur der Personalität Gottes sorgsamer Erwägung.“216

Diese Erwägung bleibt Klein schuldig, ebenso wie die hierfür notwendige vorausgehende Problemanalyse. Glaube nicht durch einen produktiven – sei es reflexiven oder pragmatischen – Akt zustande kommt und gewährleistet so die Objektivität christlicher Wahrheit“ (M. Beiner: Intentionalität und Geschöpflichkeit, 271, Herv. i. O.), zitiert bei Andreas Klein: A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 421. 214  Vgl. A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 429–435. Das Versäumnis der Beschäftigung mit der philosophischen Debatte „führt in der Folge dazu, daß eine kompatibilistische Willensfreiheit erst gar nicht in den Blick gelangt.“ (A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 430). 215 A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 499. Zitiert bei Karin Scheiber: K. Scheiber: „Klein, Andreas: Willensfreiheit auf dem Prüfstand. Ein anthropologischer Grundbegriff in Philosophie, Neurobiologie und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2009“, in: Theologische Literaturzeitung 135 (2010), 1152–1154, hier: 1153. 216 K. Scheiber: „Klein, Andreas: Willensfreiheit auf dem Prüfstand“, 1153.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Im Kontext der hier vorliegenden Untersuchung selbst kann es genügen, auf diese Problematik hinzuweisen, ohne die Frage, in welcher Weise die Person Gottes zu verstehen ist, damit ein auf diese Person Gottes zurückreichender Determinismus nicht freiheitsunterminierend erscheint, weiter zu verfolgen. Freilich wäre daran zu denken, dass Gott nicht in manipulierender Weise die Beschaffenheit des Menschen konstituieren darf. Luther versteht Gottes Wirken hinsichtlich seiner persönlichen Beschaffenheit – ganz im Gegensatz zu Sartre – jedenfalls nicht als Bedrohung seiner Freiheit, sondern geradezu als Ermöglichung einer qualifiziert verstandenen, eigentlichen, schöpfungsgemäßen Freiheit, wie im folgenden Abschnitt 5.3.2.2 deutlich wird. Abschließend kann hier der Hinweis gegeben werden, dass im Hintergrund der skizzierten Debatte um den Wert schlicht-kompatibilistischer Freiheit, der entsprechend verschieden verstandener Notwendigkeiten unterschiedlich erscheint, auch die grundsätzliche Unzulänglichkeit schlicht-kompatibilistischer Freiheitstheorien zu beachten ist. Wird davon ausgegangen – wie Strawson dies tut –, dass Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst als natürliches Freiheitsverständnis zu verstehen ist und entsprechend Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung – bzw. inkompatibilistische Intuitionen – Relevanz besitzen, wird einsichtig, dass möglicherweise jede Form von Notwendigkeit als Einschränkung von Freiheit empfunden wird. Im vorliegenden Unterabschnitt 5.3.2.1 wurde deutlich, wie Luther in Dsa von der Wirklichkeit und Plausibilität schlicht-kompatibilistischer Freiheit spricht, wie er diese Freiheit formell versteht und wie er sie begründet. Ausgehend von diesen Darstellungen wurde deutlich, dass Luther radikaler Selbstbestimmung und auch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst keine Relevanz zubilligt. Daran anschließend konnte der Blick in die Sekundärliteratur zeigen, dass schlicht verstandene kompatibilistische Freiheitstheorien entsprechend der inhaltlichen Bestimmung ihrer vorausgesetzten Notwendigkeit unterschiedliche Beurteilungen ihres Freiheitswerts beinhalten. Der folgende Unterabschnitt 5.3.2.2 widmet sich Luthers Verständnis von qualifizierter Freiheit und lässt erneut eine Argumentationslinie erkennen, die gegen die Annahme von Luthers Sicht der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis spricht.

5.3.2.2 Inhaltlich qualifizierte Freiheit: Unfreiheit als Bestimmtsein von Satan und Freiheit als Bestimmtsein von Gott Luthers Verständnis von Freiheit zeigt sich in Dsa auch im Sinn eines qualifizierten Freiheitsverständnisses, das sich vom Fragenkomplex zur Struktur der Freiheit abhebt. Wie bereits zuvor deutlich wurde, erkennt Luther den Menschen in seiner vorfindlichen, weltlichen Situation im Zustand erlösungsbedürf-

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tiger bzw. sündiger Beschaffenheit, die zu verändern er durch den Gebrauch seiner eigenen Kräfte nicht vermag. In diesem Zustand schlechter Beschaffenheit beschreibt Luther den Menschen in einem qualifizierten Sinn von Freiheit als unfrei. Dem gegenüber bezeichnet Luther den Menschen, der infolge des Gnadenhandelns Gottes in seiner Beschaffenheit verändert zu einem Zustand guter Beschaffenheit gelangt ist, entsprechend in qualifiziertem Sinn von Freiheit als frei. Im vorliegenden Abschnitt wird zunächst Luthers Sicht des unfreien, schlecht beschaffenen Menschen dargestellt. Diese zeigt sich als die Situation des Menschen, der von Satan regiert wird bzw. der nicht unter der Wirkung des Geistes Gottes steht und sich selbst überlassen bleibt. Darauf folgend wird in Dsa zwar nicht ausführlich, aber dennoch klar Freiheit beschrieben, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Gott die Beschaffenheit des freien Handlungssubjekts bestimmt. Wilfried Joest hat Luthers Zugang zum Freiheitsverständnis in aufschlussreicher Weise beschrieben, indem er zwischen einer formellen und einer inhaltlichen Hinsicht unterscheidet. Er beschreibt Luthers Sicht der Freiheit in struktureller Hinsicht, die sich im vorliegenden Kontext dieser Untersuchung als Fragestellung nach Luthers Verständnis der Unmöglichkeit des liberum arbitrium bzw. der radikalen Selbstbestimmung darstellt. Joest zufolge hat die „Freiheit in diesem Sinn“, die er als „formalen Sinn der Wahlfreiheit“ auffasst, „ihren Platz auch in Luthers Anthropologie“, mag dies auch „ein begrenzter Platz“ sein; dagegen „als den Angelpunkt dessen, was in Luthers Sicht den Menschen zum Menschen macht, wird man sie nicht bezeichnen können“217. Diesem Verständnis gegenüber führt Joest weiter aus: „Freiheit, libertas kann aber noch in einem andern Sinn verstanden werden als dem formalen des liberum arbitrium; in einem inhaltlich qualifizierten Sinn. In solchem Sinn wird dieses Wort für Luther nun in der Tat zu einem Grund- und Schlüsselwort seines Verständnisses menschlicher Existenz.“218

Diese von Joest beschriebene Freiheit in inhaltlich qualifiziertem Sinn stellt sich bei Luther einerseits als Unfreiheit im Sinn des Bestimmtseins der Beschaffenheit durch Satan und andererseits als Freiheit im Sinn des Bestimmtseins der Beschaffenheit durch Gott dar. Denn der Mensch erweist sich als „ein Gefangener, ein Unterlegener und ein Diener entweder des Willens Gottes oder des Willens Satans“219. Eindrücklich beschreibt Luther die beiden möglichen Weisen der persönlichen Beschaffenheit des Menschen mit dem häufig zitierten Bild des Reittiers: 217 W.

Joest: „Die Freiheit in Luthers Verständnis des Menschen“, 132. Joest: „Die Freiheit in Luthers Verständnis des Menschen“, 132. 219  „[C]aptivus, subiectus et servus est vel voluntatis Dei vel voluntatis Satanae“ (WA 18, 638, 11). 218 W.

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„So ist der menschliche Wille in der Mitte positioniert wie ein Lasttier; wenn Gott sich auf ihm niederlässt, will und geht es, wohin Gott will […] Wenn Satan sich auf ihm niederlässt, will und geht es, wohin Satan will; und es hängt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn aber zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, es festzuhalten und in Besitz zu behalten.“220

Entsprechend kann der freie Mensch, der von Gott bestimmt wird, nur Gutes entscheiden und wollen, während der unfreie Mensch, der von Satan bestimmt wird, nur Schlechtes zu entscheiden und zu wollen in der Lage ist: „Wenn Gott in uns ist, ist Satan nicht da, und nichts als Gutes zu wollen ist da; wenn Gott nicht da ist, ist Satan da, und nichts als Schlechtes zu wollen ist in uns.“221

Luther erkennt, dass sich das Wollen des Menschen in der Hand Satans oder in der Hand Gottes befindet. Satan oder Gott, aber keinesfalls der Mensch selbst, bestimmen die Art und Weise des Wollens eines Handlungssubjekts, das heißt die Grundrichtung seines Wollens bzw. seine persönliche oder charakterliche Beschaffenheit, durch welche sich die Gründe und Ursachen seines Wollens erklären lassen. Das von Luther gebrauchte Bild des Reittiers zur Beschreibung der notwendigen Bestimmtheit des Wollens durch Satan oder Gott wäre dabei missverstanden, wenn angenommen werden sollte, dass Luther von einer existierenden neutralen Mitte ausgeht. Das Reittier kann nicht etwa als der Esel Buridans angenommen werden, der unentschieden darauf wartet, ob ihm einer der ihm vorgelegten identischen Heuhaufen nicht attraktiver im Vergleich zum anderen erscheint. 222 Wie sich bereits oben in Abschnitt 5.3.1.1 deutlich ergab, stellt sich diese Mitte bei Luther als stets notwendig besetzt dar, entweder durch den Satan oder durch Gott, aber niemals unbestimmt, als frei zu besetzende. 223 220 

„Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum, si insederit Deus, vult et vadit, quo vult Deus […] Si insederit Satan, vult et vadit, quo vult Satan, nec est in eius arbitrio ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum“ (WA 18, 635, 17–22). 221  „Quia si Deus in nobis est, Satan abest, et non nisi velle bonum adest. Si Deus abest, Satan adest, nec nisi velle malum in nobis est“ (WA 18, 670, 6–8). Eine dritte Instanz gibt es hierbei nach Luther nicht: „Wer nicht Christus zugehörig ist, wem anders als Satan ist der zugehörig? Also steht fest, diejenigen, die den Geist entbehren, sind im Fleisch und unter dem Satan“ – „qui Christi non est, cuius alius quam Satanae est? Stat igitur, qui spiritu carent, hos in carne et sub Satana esse“ (WA 18, 774, 28–30). 222  Dieses Johannes Buridan zugeschriebene Gleichnis eines Esels, der unentschieden zwischen zwei identischen Heuhaufen, die kein Kriterium für eine Entscheidung bieten, den Hungertod erleidet, scheint sich nicht in den Schriften Buridans nachweisen zu lassen. Vgl. jedoch etwa Aristoteles: Über das Himmelsgebäude II, 13, in: Aristoteles’ Werke, Griechisch und Deutsch mit sacherklärenden Anmerkungen, hg. v. C. Prantl, Bd. 2, unveränderte Nachdruckausgabe, Leipzig 1935, 154–173. 223  Hierauf weist auch Hans-Martin Barth hin, vgl. H.-M. Barth: „Freiheit, die ich meine? Luthers Verständnis der Dialektik von Freiheit und Gebundenheit“, in: Una Sancta 62 (2007), 103–115, hier: 109 f. Vgl. zur Reittier-Metaphorik in Dsa grundlegend: W. Behnk: Contra liberum arbitrium pro gratia Dei, 337–345.

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In seiner vorfindlichen, weltlichen Beschaffenheit sieht Luther den Menschen als unfrei an, sind seine Beschaffenheit und die ihr folgenden Entscheidungen und Handlungen doch von Satan bestimmt bzw. steht diese Beschaffenheit unter dem unausweichlichen Einfluss des Reiches Satans: „Das freie Willensvermögen an sich ist in allen Menschen die Herrschaft Satans“224. Herrscht Satan, so „ist der menschliche Wille nicht mehr frei und nicht selbständig, sondern als ein Diener der Sünde und des Satans kann er nichts wollen, außer das, was dieser sein Herrscher will. Jedoch nichts Gutes lässt jener ihn wollen“225. Die Herrschaft Satans lässt den Menschen so grundlegend unfrei erscheinen. Erkennbar wird diese Unfreiheit nach Luther im Horizont des Befreiungsgeschehens durch Christus. Luther zufolge würde Christus bzw. das Christusgeschehen als Gnadenhandeln Gottes am Menschen eine Lüge darstellen, sollte die Herrschaft Satans in den Menschen nicht wirklich sein. 226 Entsprechend der oben deutlich gewordenen Argumentation gegen die Möglichkeit des freien Willensvermögens kann das von Satan bestimmte, unfreie Willensvermögen, das immerzu nur Schlechtes hervorzubringen vermag227, sich aus sich heraus nicht in den inhaltlichen Zustand der Freiheit bewegen. Gerade weil Satan über die Beschaffenheit des Menschen herrscht, schlägt dieser die befreiende Gnade und den Geist Gottes aus. 228 So bleibt der Mensch „unter der Herrschaft des ­Satans gezwungen zu dienen“229. Wenn Satan die Beschaffenheit des Menschen bestimmt, so beschreibt Luther diesen Zustand zugleich als ein Sich-selbst-Überlassensein des Menschen. Er ist 224  „[L]iberum arbitrium per sese in omnibus hominibus est regnum Satanae“ (WA 18, 707, 10 f.). 225  „[V]oluntas humana iam non libera nec sui iuris, sed serva peccati et Satanae non potest velle nisi quod princeps ille suus voluerit. Nihil vero boni ille sinet eam velle“ (WA 18, 750, 34–36). 226  Vgl. WA 18, 750, 12. 227  Vgl. entsprechend das bereits in Abschnitt 5.2 aufgegriffene Bild Luthers von den Früchten der Bäume in Anlehnung an Mt 7: „Sünder jedoch sind schlechte Bäume und sie können nichts, außer sündigen und schlechte Früchte hervorbringen. Deswegen ist das freie Willensvermögen nichts außer ein Diener der Sünde, des Todes und des Satans, indem es nichts unternimmt und nichts machen oder versuchen kann außer Schlechtes“ – „Peccatores vero arbores malae sunt nec possunt quippiam nisi peccare et fructus malos ferre. Quare liberum arbitrium nihil est nisi servum peccati, mortis et Satanae, nihil faciens neque potens facere aut conari nisi malum“ (WA 18, 775, 15–18). 228  Nach Luther ist die Kraft des freien Willensvermögens „keine andere, als dass es [sc. das Willensvermögen], weil Satan es regiert, auch die Gnade und den Geist, der das Gesetz erfüllt, zurückweist“ – „vis nulla est alia, quam ut regnante super ipsum Satana, etiam gratiam et spiritum, qui legem impleat, respuat“ (WA 18, 698, 12 f.). 229  „[I]n regno Satanae cogimur servire“ (WA 18, 782, 40). Im Blick auf die Situation ­Kains stellt Luther fest: „Kain wird also gesagt, dass er die Sünde beherrschen und ihr Verlangen unter sich halten soll; allerdings hat er dies weder getan noch gekonnt, da er bereits unter die fremde Herrschaft Satans gepresst war“ – „Cain igitur dicitur, ut debeat peccato dominari et eius appetitum sub se tenere, verum hoc neque fecit neque potuit, ut iam alieno imperio Satanae pressus“ (WA 18, 676, 16–18, Herv. F.D.).

212

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

„sich selbst überlassen ohne Gottes Geist“230. Zugleich jedoch mit dem sündigen Menschen beschreibt Luther auch den Satan als sich selbst überlassen bzw. auf das Eigene begrenzt: „Der Gottlose gleichwie auch sein Herrscher Satan ist […] völlig auf sich und das ihm Eignende verkehrt“231. Bestimmt zwar Satan den Menschen in seiner sündigen Beschaffenheit, so zeigt sich dabei unmissverständlich, dass Luther den Satan in Abhängigkeit Gottes versteht232, sodass Satan und der sündige Mensch auch vergleichbar beschrieben werden können: „Satan und der Mensch, abgefallen und verlassen von Gott, können nicht mehr das Gute wollen, das heißt, die Dinge, die Gott gefallen oder was Gott will, sondern sie sind fortwährend ihren Sehnsüchten zugewandt, sodass sie nur danach verlangen können, was ihnen zugehörig ist.“233

Dass Gott auch den durch den Satan bestimmten Menschen in letzter Instanz selbst regiert, bringt Luther in Dsa auch explizit zum Ausdruck: „Wir sagen nämlich, dass der Mensch außerhalb der Gnade Gottes ebenso unter der allgemeinen Allmacht Gottes bleibt, der alles macht, bewegt und ergreift in notwendigem und unfehlbarem Lauf“234. Im Kontext dieser Darstellung der qualitativen Unfreiheit des schlecht beschaffenen Menschen gerät die Frage nach der Relevanz, die Luther radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zuerkennt, von Neuem in den Blick. Denn Luther beschreibt den durch Satan unfrei gehaltenen Menschen auch als einen Menschen, der in seinem Freiheitsbewusstsein einer Täuschung unterliegt: „Aber die Schrift stellt einen so beschaffenen Menschen vor, der nicht nur gebunden, elend, gefangen, krank, tot ist, sondern der, durch das Wirken seines Herrschers Satan, jenes Leiden der Blindheit all seinem Leiden hinzufügt, dass er glaubt, dass er frei, glücklich, erlöst, mächtig, gesund, lebendig sei.“235

230  231 

11 f.).

„[S]ibi relicti sine spiritu Dei“ (WA 18, 735, 22). Vgl. auch WA 18, 675, 33; 689, 33. „Impius […] sicut et princeps suus Satan totus est versus ad se et ad sua“ (WA 18, 710,

232  So auch Eberhard Jüngel in Bezug auf Luthers Reittier-Metaphorik: „[S]elbst der Teufel, der den Menschen reitet, wird von Gott geritten“ (E. Jüngel: „Die Offenbarung der Verborgenheit Gottes. Ein Beitrag zum evangelischen Verständnis der Verborgenheit des göttlichen Wirkens“ (1984), in: Ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, 2. Aufl., Tübingen 2003, 163–182, hier: 174). 233  „Iam Satan et homo lapsi et deserti a Deo non possunt velle bonum, hoc est ea quae Deo placent aut quae Deus vult. Sed sunt in sua desideria conversi perpetuo, ut non possint non quaerere quae sua sunt“ (WA 18, 709, 12–15). Vgl. auch WA 18, 711, 7–10. 234  „Dicimus enim, hominem extra gratiam Dei manere nihilominus sub generali omnipotentia Dei facientis, moventis, rapientis omnia necessario et infallibili cursu“ (WA 18, 752, 12–14). Vgl. hierzu auch Luthers Beschreibung des Wirkens Gottes im Pharao, WA 18, 711, 20–38; vgl. auch WA 18, 747, 18–20. 235  „Scriptura vero talem proponit hominem, qui non modo sit ligatus, miser, captus, aeger, mortuus, Sed qui addit, operante Satana principe suo, hanc miseriam caecitatis miseriis

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Eine Wirkung der Unfreiheit des Menschen, dessen Beschaffenheit von Satan bestimmt wird, besteht nach Luther darin, sich selbst frei im Sinn des freien Willensvermögens, das heißt im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung zu verstehen. Die Blindheit gegenüber der Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung stellt Luther als ein Merkmal der inhaltlich qualifizierten Unfreiheit dar, wenn Satan den Menschen in seiner Beschaffenheit bestimmt. Was die Schrift klar bekennt, nämlich dass kein freies Willensvermögen existiert, erkennt der Mensch Luther zufolge in seiner schlechten Beschaffenheit nicht. „Was ist dies anderes“, fragt Luther, „als dass das freie Willensvermögen oder das menschliche Herz so von der Macht des Satans unterdrückt wird, dass es […] aus sich weder das sehen noch das hören kann, was in seine Augen und in seine Ohren offenkundig hineindringt?“236 Es erscheint Luther nicht verwunderlich, „dass so viele Jahrhunderte lang an Begabung herausragende Männer blind sind“237, die das freie Willensvermögen behaupten. „Aber es ist nicht erstaunlich, wenn gänzlich alle blind sind. Was nämlich ist das ganze menschliche Geschlecht außerhalb des Geistes, wenn nicht die Herrschaft des Teufels, ein ungeordnetes Durcheinander von Finsternis?“238

Da Luther hier die Bereiche um die qualitativ-inhaltliche Fragestellung zur Freiheitsthematik und um die strukturelle Freiheitsproblematik in einer bestimmten Verbindung stehen sieht, legt sich ein darin implizierter Rückschluss auf Luthers Verständnis der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis nahe. Hatte Luther das eigentliche und übliche Freiheitsverständnis zuvor als Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst beschrieben und anerkannt (vgl. Abschnitte 5.2; 5.3.1.1), so schränkt Luther seine Sicht auf dieses eigentliche und übliche Freiheitsverständnis hier ein: Nur der sündige Mensch geht davon aus, über ein freies Willensvermögen bzw. über Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, zu verfügen. So kann hier implizit wahrgenommen werden, dass Luther keineswegs von einer Relevanz radikaler Selbstbestimmung ausgeht. Vielmehr verfügt Luther hier über eine theologische Erklärungsfigur, die ihm die offene Frage, warum so suis, ut se liberum, beatum, solutum, potentem, sanum, vivum, esse credat“ (WA 18, 679, 23–26, Herv. F. D.). 236  In Bezug auf Jes 6,10 und Mt 13,14: „Quid hoc est aliud, quam liberum arbitrium seu cor humanum sic esse Satanae potentia oppressum […] per sese nec ea videre possit nec audire, quae in ipsos oculos et in aures manifeste impingunt“ (WA 18, 658, 23–26), vgl. insgesamt WA 18, 658, 17–27. 237  „[Q]uod tot saeculis viri excellentes ingenio caecutiunt“ (WA 18, 659, 3 f.). 238  „Non mirum vero, si plane omnes caecutiant. Quid enim est universum genus humanum, extra spiritum nisi regnum Diaboli […] confusum cahos tenebrarum?“ (WA 18, 659, 5–7). Vgl. auch WA 18, 659, 21–25. Blindheit in Bezug auf die eigene Situation drückt sich ebenso in Luthers viel beachteter Formel der Verkrümmung in sich selbst – „est in seipsam incurva“ – als Beschreibung der Situation der Sünderin bzw. des Sünders aus. Vgl. entsprechend in der Römerbriefvorlesung: WA 56, 304, 25–29, hier: 25 f.

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viele Menschen denn die von ihm als relevant erkannte schlicht-kompatibilistische Freiheit missverstehen, beantwortet. Wenn Gott seinen Geist entzieht bzw. wenn Satan den Menschen reitet, so glaubt der Mensch über göttliche Freiheit zu verfügen. Luther scheint hier erneut an der Seite Frankfurts zu stehen – in gewissem Unterschied zu Frankfurt, da eine Wahrnehmung der Verbreitung eines Freiheitsverständnisses im Sinn eines unabhängigen Selbst von ihm zwar anerkannt wird, dies aber für ihn theologisch schlüssig zu deuten ist und daher keine offenen, unangenehmen Fragen zurückbleiben. Der in Luthers Sicht unfreie Mensch bleibt nicht unveränderlich unfrei, sondern er kann Luther zufolge dann befreit werden, wenn Gottes Gnadenhandeln befreiend an ihm wirksam wird. So bleibt der schlecht beschaffene, durch Satan bestimmte Mensch nach Luther nur so lange unfrei, „bis er vom Geist Gottes berichtigt wird“239. Diese Zurechtbringung versetzt den Menschen vom Reich Satans in das Reich Christi, jedoch nicht durch seine eigene Kraft, „sondern durch die Gnade Gottes, durch die wir befreit werden vom gegenwärtigen, nichts taugenden Zeitalter und erlöst von der Macht der Finsternis“240. Auch im Kontext dieser Darstellung über die Befreiung des Willensvermögens lässt Luther keinen Zweifel daran, dass Gott über das Wirken Satans verfügt. Satan stellt Luther zufolge dem Menschen nach und er kann den Menschen in seiner Gefangenschaft halten, „es sei denn, dass er durch die göttliche Tüchtigkeit des Geistes verstoßen werde“241. Das freie Willensvermögen als gefangenes Zugtier kann nach Luther unmöglich befreit werden, „es sei denn, dass zuvor durch den Finger Gottes der Teufel vertrieben werde“242. Handelt Gott am Menschen befreiend, so führt dies dazu, so die entscheidende Einsicht Luthers, dass der Mensch inhaltlich qualifiziert als frei, strukturell bzw. formell jedoch weiterhin als unfrei zu bezeichnen ist. Vom schlecht beschaffenen, von Satan bestimmten Menschen ausgehend formuliert Luther:

239  „[D]onec spiritu Dei corrigatur“ (WA 18, 710, 8). Vgl. ebenfalls: „nisi virtute divina eripiamur“ – „wenn wir nicht durch göttliche Tüchtigkeit befreit werden würden“ (WA 18, 782, 40–783, 1); „nisi Deus succurreret mox et promissionis verbo revocaret et erigeret“ – „wenn nicht Gott es bald auf sich nehmen würde und ihn [sc. den schlecht beschaffenen Menschen] mit dem Wort der Verheißung zurückrufen und aufrichten würde“ (WA 18, 684, 18 f.). Vgl. zum Sündenverständnis bei Luther: O. Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, 3. erneut durchges. Aufl., Tübingen 2007, 160–176 (Kapitel VIII – Sünde und unfreier Wille). Vgl. weiterhin zum Sündenverständnis: C. Schwöbel: „Sünde – Selbstwiderspruch im Widerspruch gegen Gott. Annäherungen an das Verständnis eines christlichen Zentralbegriffs“, in: Ders.: Gott im Gespräch. Studien zur theologischen Gegenwartsdeutung, Tübingen 2011, 291–320, zur augustinisch-reformatorischen Tradition 310–314. 240  „[S]ed gratia Dei, qua liberamur a praesenti soeculu [sic!] nequam et eripimur a potestate tenebrarum“ (WA 18, 782, 37 f.). 241  „[N]isi divina spiritus virtute pulsus“ (WA 18, 786, 9 f.). 242  „[N]isi prius digito Dei eiiciatur diabolus“ (WA 18, 750, 14 f.).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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„Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und diesen [sc. Satan] besiegt und uns als seine Beute ergreift, sind wir abermals Dienende und Gefangene durch seinen Geist (was dennoch eine königliche Freiheit ist), so dass wir willig wollen und tun, was er selbst will.“243

In diesem Zitat bringt Luther zum Ausdruck, dass er den Menschen in struktureller Hinsicht als unfrei versteht, unabhängig davon, ob der Mensch durch Satan oder durch Gott bestimmt wird. In Bezug auf seine Beschaffenheit kann der Mensch Luther zufolge nicht frei sein. Jedoch spricht Luther dann in einem inhaltlich qualifizierten Sinn dennoch von der Freiheit des Menschen, wenn Gott derjenige ist, der den Willen des Menschen bestimmt. Dieser Art von Freiheit gibt Luther eine Ehrenbezeichnung, wenn er sie „königliche Freiheit“ nennt. Es kann als nahe liegend angenommen werden, dass Luther unter der hier als königlich bezeichneten Freiheit auch diejenige Freiheit versteht, die er an anderer Stelle in der gleichnamigen Schrift als Freiheit eines Christenmenschen (De libertate christiana) bezeichnet. 244 Wilfried Joest, der wie oben bereits deutlich wurde, diese inhaltlich qualifizierte Freiheit bei Luther als „Grundund Schlüsselwort seines Verständnisses menschlicher Existenz“245 ausmacht, drückt diesen Zusammenhang m.E. zutreffend wie folgt aus: „Luther hat diese Befreiung ausdrücklich als Machtwechsel, Herrschaftswechsel verstanden – einen Menschen, der in dem Sinn frei wäre, daß er an keine Macht gebunden sein Leben aus sich selbst leben und ins Rechte bringen würde, kennt er nicht. Im Glauben kommen wir aus der Macht, die uns dem Verderben zutreibt, in die Macht Jesu Christi, die die Macht zu unserm Leben ist. Aber gerade so in die ‚Freiheit eines Christenmenschen‘, die qualifizierte Freiheit der Übereinstimmung unseres Lebens mit seiner Bestimmung durch den Gott, der es uns gegeben hat.“246

Die königliche Freiheit in Dsa beschreibt Luther auch als Übereinstimmen des menschlichen Willens mit dem, was Gott will, wobei er das menschliche Wollen entsprechend des im vorausgegangenen Abschnitt 5.3.2.1 entfalteten schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnisses ausdrückt: „Wenn Gott in uns wirkt, will und handelt der Wille, verändert und einnehmend eingehaucht durch den Geist Gottes, abermals aus reinem Belieben, aus Neigung und aus seinem eigenen Antrieb, nicht gezwungen“247. Das Bestimmtsein durch Gottes 243  „Si autem fortior superveniat et illo victo nos rapiat in spolium suum, rursus per spiritum eius servi et captivi sumus (quae tamen regia libertas est), ut velimus et faciamus lubentes quae ipse velit“ (WA 18, 635, 14–17). 244  WA 7, 49, 5–73, 15. 245 W. Joest: „Die Freiheit in Luthers Verständnis des Menschen“, 132. 246 W. Joest: „Die Freiheit in Luthers Verständnis des Menschen“, 134. Vgl. ähnlich Oswald Bayer, der beschreibt, dass es „keine Kränkung, sondern die herrlichste Befreiung“ darstellt, „nicht selbst Herr im eigenen Hause zu sein und, wenn auch manchmal unter Tränen und in der Klage, warten zu können, bis ich mich so erkenne, wie ich – von Gott – jetzt schon erkannt bin“, in: O. Bayer: „Freiheit? Das Bild des Menschen bei Luther und Melanchthon“, in: Lutherische Monatshefte 36 (1997), 16–19, hier: 19. 247  „[S]i Deus in nobis operatur, mutata et blande assibilata per spiritum Dei voluntas

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Willen erweist sich für Luther gerade in seiner strukturellen Unfreiheit als inhaltlich qualifizierte Freiheit. In Luthers Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen 248 scheint sich eben derselbe Gedanke tragend zu erweisen, was sich etwa in folgender Beschreibung des Christenmenschen zeigt: „Wir ziehen also folgenden Schluss: Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten, oder er ist kein Christenmensch; in Christus aber lebt er durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben wird er über sich hinaus nach oben zu Gott gezogen, umgekehrt fällt er durch die Liebe unter sich herab auf den Nächsten, doch bleibt er stets in Gott und seiner Liebe.“249

Im Gesamtabschnitt 5.3.2 wurde erkennbar, in welcher Hinsicht Luther menschliche Freiheit für gegeben erachtet und in welchem Verhältnis sich diese Freiheit zu seiner These vom unfreien Willensvermögen darstellt. In ihrer allgemeinen Struktur erweist sich diese Freiheit als schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit insofern, als Luther sie in ihrer Vereinbarkeit mit der durch die göttliche Allwirksamkeit bedingten Notwendigkeit versteht und ihr maßgebliches Kennzeichen in der Freiwilligkeit ausmacht. In inhaltlicher Bestimmung erweist sich diese Freiheit gekennzeichnet durch das Wirken des Satans oder das Wirken Gottes, die über den Menschen bzw. seine Beschaffenheit bestimmen. Grundsätzlich erweist sich jedoch auch das Wirken Satans dem Wirken Gottes unterworfen, sodass Gott als der letztlich allein Wirksame erscheint, wenn er durch sein Gnadenhandeln den vom Satan bestimmten,

iterum mera lubentia et pronitate ac sponte sua vult et facit, non coacte“ (WA 18, 634, 37–39). Vgl. die letzten beiden Thesen der Disputation gegen die scholastische Theologie: „Wir sollen unser ganzes Wollen dem göttlichen Willen angleichen […] Wir sollen nicht bloß wollen, was er [sc. Gott] will, dass wir wollen, sondern geradezu alles, was auch immer er will, sollen wir wollen“ – „Tenemur velle nostrum omnio conformare divinae voluntati […] Non tantum quod vult nos velle, Sed prorsus quodcumque deus vult velle debemus“ (WA 1, 228, 30–34). 248  Vgl. zu dieser für das inhaltlich qualifizierte Freiheitsverständnis bei Luther maßgeblichen Schrift etwa die Beiträge von Dietrich Korsch und Joachim Ringleben sowie in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht von Arnulf von Scheliha: D. Korsch: „Freiheit als Summe. Über die Gestalt christlichen Lebens nach Martin Luther“, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 40 (1998), 139–156; J. Ringleben: „Freiheit im Widerspruch. Systematische Überlegungen zu Luthers Traktat ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘“, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 40 (1998), 157–170; A. von Scheliha: „Zu Schicksal und Bedeutung der Christlichen Freiheit in der modernen Welt“, in: Kerygma und Dogma 48 (2002), 118–132. Zweifellos aufschlussreich erscheint auch E. Jüngel: Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, 3., durchges. Aufl., Gütersloh 1991. 249  „Concludimus itaque, Christianum hominem non vivere in seipso, sed in Christo et proximo suo, aut Christianum non esse, in Christo per fidem, in proximo per charitatem: per fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo et charitate eius“ (WA 7, 69, 12–16, deutsche Übersetzung nach F. Rädle, in: M. Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 2 (LDStA 2), Christusglaube und Rechtfertigung, hg. u. eingeleitet v. J. Schilling, Leipzig 2006, 175).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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schlecht beschaffenen Menschen in die Bestimmtheit seines Geistes führt und den Menschen so in seiner Beschaffenheit zum Guten verändert. Im Verlauf der Darstellung konnten auch Hinweise zu Luthers Haltung gegenüber der Frage, ob radikale Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis Relevanz besitzt, gewonnen werden. So wurde im Kontext der Darstellung zur allgemeinen Struktur der schlicht-kompatibilistischen Freiheit Luthers deutlich, dass Luther radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz zubilligt, da er gerade die schlicht-kompatibilistische Freiheit als maßgebliche Freiheit des Menschen beschreibt. Dies bestätigte sich auch im Kontext der Darstellung zur inhaltlichen Qualifikation dieser Freiheit. Luther beschreibt zwar die Sichtweise einer Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung, ordnet sie aber allein dem nicht von Gott, sondern von Satan regierten Menschen zu und scheint damit nicht von der Seite Frankfurts zu weichen. Dass Luther unter dem Willensvermögen einerseits die in diesem Abschnitt 5.3.2 entfaltete schlicht-kompatibilistische Freiheit und andererseits die im vorausgegangenen Abschnitt 5.3.1 dargelegte Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung versteht, erscheint unter Heranziehung von Strawsons Deutung der Freiheitsproblematik 250 plausibel. Denn hier stehen sich die beiden Arten von sehr wirkmächtigen Intuitionen über Freiheit gegenüber: Zum einen schlicht-kompatibilistische Intuitionen und zum anderen inkompatibilistische Intuitionen. Luther scheint die Plausibilität schlicht-kompatibilistischer Freiheit, die zweifellos möglich ist, wie sich hier gezeigt hat, klar vor Augen zu stehen. Radikale Selbstbestimmung hingegen ordnet Luther intuitiv dem Inkompatibilismus zu – und hält sie daher nicht allein aufgrund der Problematik des infiniten Regresses, sondern auch aus dem Grund für unmöglich, weil sie ihm mit dem Determinismus unvereinbar scheint – tatsächlich jedoch wäre radikale Selbstbestimmung begrifflich mit dem Determinismus vereinbar – ihre Unmöglichkeit ergibt sich begrifflich allein aufgrund des infiniten Regresses. Im folgenden, dieses Kapitel über Luther abschließenden Abschnitt 5.3.3 wird die Frage danach, ob Luther radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis Relevanz zuerkennt, in noch pointierterer Form im Mittelpunkt stehen. Nach einem uneinheitlichen Befund in Abschnitt 5.3.1.1 und zuvor schon in Abschnitt 5.2 zur Assertio hat der nun zurückliegende Abschnitt 5.3.2 wieder wie der Abschnitt 5.1 zur Heidelberger Disputation eine scheinbar eindeutige Interpretation zugunsten der Zuordnung Luthers zu Frankfurt ergeben. Es gilt nun zu fragen, ob Luther Verantwortlichkeit im Sinn von Zurechenbarkeit schlicht-kompatibilistisch hinreichend begründet wahrnimmt oder ob er an Zurechenbarkeit darüber hinausgehend die notwendige Bedingung radikaler Selbstbestimmung stellt. Im Kontext dieser Darstellungen ergibt sich zur

250 S. o.

Abschnitt 3.4.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Frage nach Luthers Sicht der Relevanz von radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis erneut ein uneinheitlicher Befund.

5.3.3 Begründungsstrukturen von Verantwortlichkeit Ob Luther radikaler Selbstbestimmung Relevanz für das Freiheitsverständnis zubilligt, wurde bislang vorrangig im Bereich der Argumentation im Sinn des natürlichen schlicht verstandenen Kompatibilismus und im Kontext der Frage, welches Freiheitsverständnis das allgemeingültige Freiheitsverständnis darstellt, thematisiert. Während die Argumentationsstrategie im Sinn des natürlichen schlichten Kompatibilismus dafür sprach, dass Luther radikaler Selbstbestimmung keine Relevanz hinsichtlich des Freiheitsverständnisses zuerkennt, konnte ausgehend von Luthers Verständnis des allgemeingültigen Freiheitsverständnisses darauf geschlossen werden, dass er radikaler Selbstbestimmung durchaus Relevanz für das Freiheitsverständnis zuerkennt. Die Frage nach Luthers Verständnis von Zurechenbarkeit besitzt nun schließlich ein maßgebliches Gewicht bezüglich der Frage, ob Luther radikaler Selbstbestimmung Relevanz hinsichtlich des Freiheitsverständnisses zubilligt. Dieser thematische Kontext steht im Mittelpunkt der folgenden Darstellung. Bei der Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis stehen sich zwei mögliche Sichtweisen über Zurechenbarkeit gegenüber: Nach der einen Sichtweise lässt sich Verantwortlichkeit im Sinn von Zurechenbarkeit im Kontext eines schlicht verstandenen kompatibilistischen Freiheitsverständnisses, analog zu jenem Harry Frankfurts, angemessen und hinreichend beschreiben. Stehen keine äußeren und inneren Einschränkungen einer Entscheidung bzw. Handlung entgegen, bzw. identifiziert sich ein Handlungssubjekt mit einer Entscheidung bzw. Handlung im Sinn von wholeheartedness, so kann ihm diese Entscheidung bzw. Handlung zugerechnet werden. Nach der anderen Sichtweise wird über diese Identifikation des Handlungssubjekts mit seiner Entscheidung bzw. Handlung hinaus gefordert, dass das Handlungssubjekt die Gründe bzw. Ursachen seiner Entscheidung bzw. Handlung radikal selbst zu bestimmen in der Lage sein muss. Diese Sichtweise entspricht jener Galen Strawsons, der radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung von Zurechenbarkeit beschreibt. Im Folgenden zeigt sich, dass Martin Luther in Dsa zum einen eine Position analog zu jener Harry Frankfurts vertritt (5.3.3.1), zum anderen jedoch auch eine Position analog zu jener Galen Strawsons bezieht (5.3.3.2). Dieser uneindeutige Befund spricht letztlich dafür, dass Luther im Gesamturteil nicht als schlichter Kompatibilist im Sinn Frankfurts angesehen werden kann, sondern dass er seiner eigenen schlicht-kompatibilistischen Argumentation widersprüchlich eine inkompatibilistischen Intuitionen Relevanz zumessende Argumentation im Sinn Strawsons entgegensetzt.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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5.3.3.1 Verantwortlichkeit durch schlicht-kompatibilistische Freiheit Ein wesentlicher Aspekt der Argumentation von Erasmus in Dla bildet die These, dass bei einer Leugnung des freien Willensvermögens keine Zurechenbarkeit gewährleistet ist.251 Luther entgeht dieser Vorwurf natürlich nicht, sondern er thematisiert ihn in Dsa ausdrücklich. Folgende Fragen, die Erasmus angesichts eines nicht vorhandenen Willensvermögens umtreiben 252, gibt er wieder: „Welcher Schlechte wird sein Leben bessern? Wer wird glauben, dass er von Gott geliebt ist? Wer wird gegen sein Fleisch kämpfen?“253 Die erste und letzte Frage betreffen die unmögliche Zurechenbarkeit des Menschen, die zweite Frage thematisiert die in Zweifel gezogene Gerechtigkeit Gottes. Denn als theologisches Folgeproblem der nicht gewährleisteten Zurechenbarkeit des Menschen ergibt sich die Frage, wie Gott dann als liebender und gerechter Gott angesehen werden kann, wenn er einen Teil der unzurechenbaren Menschen nicht zum Heil gelangen lässt, sondern in scheinbar willkürlicher Weise beschuldigt und in die Verdammnis führt. Luther erwidert diese Einwände von Erasmus unter Anwendung einer schlicht-kompatibilistisch erscheinenden Argumentationsweise. So macht er deutlich, dass menschliche Handlungen und Entscheidungen sich von Gottes Bestimmen ihrer Gründe und Ursachen abhängig erweisen. Hinsichtlich der ersten beiden Fragen führt Luther dies wie folgt aus: „Wer, sagst du, wird sich bemühen, sein Leben zu bessern? Ich antworte: Kein Mensch, und auch nicht einer wird es können […] Aber gebessert werden die Auserwählten und Frommen durch den Heiligen Geist […] Wer wird glauben, fragst du, dass er von Gott geliebt wird? Ich antworte: Kein Mensch wird es glauben und keiner wird es können, aber die Auserwählten werden es glauben; alle anderen werden nicht glaubend vergehen, die sich Entrüstenden und Gott Lästernden, so wie du es hier machst.“254

Befähigt Gott nicht zum Tun des Guten, ist es dem Menschen nicht möglich, Gutes zu tun. Befähigt Gott nicht zum Glauben an Gottes Liebe, ist dieser Glaube dem Menschen unmöglich. Luther weist Erasmus’ Anfragen hier in der Weise zurück, dass er auf Gottes notwendige Befähigung des Menschen zum Handeln und Entscheiden hinweist. Er scheint hier somit auf sein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis zurückzugreifen, indem er die Bestimmtheit der Beschaffenheit des Menschen durch Gott als Voraussetzung freier Entscheidun251 

Vgl. einschlägig etwa Erasmus: De libero arbitrio, 190 f., vgl. ebenfalls 164–167. Erasmus: De libero arbitrio, 18 f. 253  „Quis malus corriget vitam suam? Quis credet se amari a Deo? Quis pugnabit cum carne sua?“ (WA 18, 630, 26 f.). 254  „Quis, inquis, studebit corrigere vitam suam? Respondeo: nullus hominum neque etiam ullus poterit […] Corrigentur autem electi et pii per spiritum sanctum […] Quis credet (inquis) a Deo se amari? Respondeo: Nullus hominum credet neque poterit, electi vero credent, caeteri non credentes peribunt, indignantes et blasphemantes, sicut tu hic facis“ (WA 18, 632, 3–10). 252 Vgl.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

gen und Handlungen beschreibt. Stellt diese Feststellung die Antwort Luthers auf Erasmus’ Frage nach der verlorenen Zurechenbarkeit dar, so ist anzunehmen, dass Luther sein theologisches schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis auch als hinreichendes Konzept zur Begründung von Zurechenbarkeit auffasst. Ein in seiner Beschaffenheit durch Gott bestimmtes Handlungssubjekt kann in seinem freien Handeln und Entscheiden innerhalb des Bereichs dieser Beschaffenheit zurechenbar handeln und entscheiden. In welcher Weise eine Erklärung von Zurechenbarkeit in schlicht-kompatibilistischer Hinsicht möglich ist, gibt Luther an dieser Stelle zwar nicht zu erkennen, es liegt jedoch nahe anzunehmen, dass Luther seine Argumentation über Freiheit als Freiwilligkeit hier als Begründung dafür versteht, dass Zurechenbarkeit gerade unter deterministischen Voraussetzungen gewährleistet werden kann. Wenn Freiheit in Luthers Argumentation – wie im vorausgegangenen Abschnitt 5.3.2.1 deutlich wurde – im Sinn von Freiwilligkeit richtig verstanden wird, das heißt als ein weder äußerlich noch innerlich fremdbestimmtes Entscheiden und Handeln, so liegt es nahe, dieses Freiheitsverständnis auch hinreichend zur Begründung von Zurechenbarkeit aufzufassen, ohne inkompatibilistischen Intuitionen hierbei Relevanz zuzuerkennen. An anderer Stelle greift Luther Erasmus’ Argumentation gegen die Möglichkeit von Zurechenbarkeit unter Annahme des unfreien Willensvermögens im Kontext eines Jesus-Wortes aus dem Lukasevangelium auf. Am Kreuz spricht Jesus mit Blick auf seine Henker: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“255. Würden die Henker Jesu nicht über freie Willenskraft im Sinn eines unabhängigen Selbst verfügen, so interpretiert Erasmus dieses Wort, würden sie über eine Entschuldigung verfügen, die die Vergebung unnötig erscheinen ließe. 256 Luther interpretiert das Bibelwort dagegen eng an seinen Wortlaut anlehnend, indem er schlussfolgert, dass die Henker deshalb nicht im Sinn eines unabhängigen Selbst frei wollen können, was sie tun, weil sie, so Jesus in seiner Vergebungsbitte, gar nicht wissen, was sie tun. 257 Nach Luther ergibt sich hier kein Anlass, Erasmus’ Forderung der Notwendigkeit inkompatibilistischer Freiheit oder zumindest von inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigender Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst oder im Sinn radikaler Selbstbestimmung zuzustimmen. Entsprechend muss auch hier davon ausgegangen werden, dass Luther sich Verantwortlichkeit unter deterministischen Voraussetzungen im Kontext seiner schlicht-kompatibilistischen Argumentation erklären kann. Luther bestreitet an dieser Stelle nachdrücklich eine freie 255 

Lk 23,34. Erasmus: De libero arbitrio, 78 f. 257  „Nun, wenn Christus offenbar sagt, dass sie nicht wüssten, was sie tun, bezeugt er dann nicht zugleich, dass sie Gutes nicht wollen können? Denn in welcher Weise willst du, was du nicht weißt?“ – „Iam cum Christus palam dicat eos nescire quid faciant, an non simul testatur, eos non posse velle bonum? Quomodo enim velis quod ignoras?“ (WA 18, 697, 7–9). 256 Vgl.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Entscheidung im Sinn eines unabhängigen Selbst, ohne Erasmus darin zuzustimmen, dass damit die Zurechenbarkeit verloren sei – schließlich anerkennt Luther nicht, dass die Vergebungsbitte Jesu nicht sinnvoll wäre. Nahe liegt daher anzunehmen, dass Luther Zurechenbarkeit schlicht-kompatibilistisch begründet versteht – gut möglich im Rahmen seiner Argumentation über Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit – und damit eine Möglichkeit gegeben sieht, sinnvollerweise für die Vergebung der Henker zu beten. Dieser Eindruck, dass Luther Zurechenbarkeit schlicht-kompatibilistisch zu erklären vermag und radikale Selbstbestimmung folglich in seiner Sicht des Freiheitsverständnisses keine relevante Rolle einnimmt, erhärtet sich unter Heranziehung weiterer Passagen aus Dsa. Grundsätzlich stellt Luther fest, dass eine Entscheidung oder Handlung, die einem Handlungssubjekt zugerechnet werden kann, dem Handlungssubjekt in gewisser Weise zu eigen sein muss. So betont Luther im Blick auf die Frage, wie die Adam nachgeborenen Menschen Verantwortung für die Sünde Adams übernehmen können, dass sich das sündige Tun jedem einzelnen Menschen zugehörig erweisen muss, soll es ihm zugerechnet werden können: „Aber wir würden nicht sündigen oder verdammt werden durch jenes eine Vergehen Adams, wenn es nicht unser Vergehen wäre. Denn wer würde für ein fremdes Vergehen verdammt werden, zumal vor Gott?“258 Worin zeichnet sich nun jedoch die Zugehörigkeit einer Entscheidung bzw. Handlung zu einem Handlungssubjekt aus? Dadurch, dass das Handlungssubjekt sich in schlicht-kompatibilistischem Verständnis eine Entscheidung oder Handlung zu eigen macht oder dadurch, dass das Handlungssubjekt sich eine Entscheidung oder Handlung im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung aneignet? Es lässt sich zeigen, dass Luther für das erstgenannte Verständnis argumentiert. Für Luther scheint Zurechenbarkeit in einer Art Identifikation mit der Entscheidung bzw. Handlung in schlicht-kompatibilistischem Verständnis begründet zu sein, und nicht durch eine ultimative Hervorbringung derselben im Sinn der Freiheit eines unabhängigen Selbst oder im Sinn radikaler Selbstbestimmung. So appelliert Luther wie folgt an Erasmus’ Einsicht, dass Menschen Sachverhalte als ihnen zugehörig bezeichnen, ohne letztgültig für diese verantwortlich zu sein: „Ich beschwöre dich, ob nicht ganz richtig ‚unser‘ genannt wird, was wir zwar nicht gemacht, was wir jedoch von anderen empfangen haben? Warum folglich sollten die Werke nicht unsere genannt werden, die Gott uns gab durch den Geist?“259

258  „Nec nos peccaremus aut damnaremur delicto illo unico Adae, nisi nostrum delictum esset. Quis enim alieno delicto damnaretur, praesertim coram Deo?“ (WA 18, 773, 12–14). 259  „Obsecro te, an non nostra dicuntur quam rectissime, quae non fecimus quidem nos, recepimus vero ab aliis? Cur igitur opera non dicerentur nostra, quae donavit nobis Deus per spiritum?“ (WA 18, 696, 22–25).

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Nicht das eigene Tun im Sinn einer unabhängigen Freiheit, sondern das schlicht-kompatibilistische freie Tun in Abhängigkeit vom Geist Gottes bringt jene Werke hervor, die unsere eigenen Werke genannt werden können. Luther führt seine Argumentation entsprechend fort, indem er gegenüber Erasmus aufzeigt, dass Menschen viele Sachverhalte als ihnen zugehörig betrachten bzw. sich mit diesen Sachverhalten als Teil ihrer selbst identifizieren, ohne diese in ihrem Entstehen verantworten zu können: „Wenn wir diese Dinge machen, die unsere genannt werden, haben wir folglich die Augen uns selbst gemacht, die Hände uns selbst gemacht und die Füße uns selbst gemacht? – Außer dass Augen, Hände und Füße nicht unsere genannt werden.“260

Entsprechend sieht Luther, dass die eigene persönliche Beschaffenheit eines Menschen diesem zugehörig erscheinen kann bzw. ein Mensch sich mit seiner Beschaffenheit und den aus dieser resultierenden Entscheidungen und Handlungen in für Zurechenbarkeit hinreichender Hinsicht identifizieren kann, ohne diese Beschaffenheit und die resultierenden Entscheidungen und Handlungen in einem letzten Sinn zu verantworten. Mit unterschiedlichen Metaphern bringt Luther seine Überzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch nicht deshalb von seiner Verantwortung entbunden werden kann, weil Gott ihn in seinem Handeln und Entscheiden insofern lenkt, als er über seine Beschaffenheit bestimmt. In Bezug auf die in schlechter Weise beschaffenen Menschen stellt Luther fest: Gott hört nicht damit auf, „die durch die Sünde, nachdem der Geist entzogen wurde, beschädigte Natur zu formen und zu vermehren, gleichwie ein Handwerker aus einem morschen Holz Statuen macht. Wie beschaffen die Natur ist, so beschaffen werden auch die Menschen, wenn Gott sie schafft und formt aus einer so beschaffenen Natur.“261

Gott wirkt im Menschen, indem er dessen Beschaffenheit bestimmt, ihn in seinem Denken und Wollen so beeinflusst, wie er es will, doch übernimmt Gott dadurch nach Luther nicht die Verantwortung für das, was der Mensch folglich, von Gottes Bestimmen seiner Beschaffenheit abhängig, aber dennoch schlicht-kompatibilistisch frei tut und entscheidet. Folgender anschaulicher Vergleich Luthers eines Handlungssubjekts mit einem Pferd lässt diesen Zusammenhang deutlich werden: „Gleichsam wie wenn ein Reiter ein Pferd mit nur drei oder zwei Füßen reitet, reitet er es sicherlich in der Art, wie das Pferd beschaffen ist, das heißt, das Pferd schreitet schlecht einher. Aber was soll der Reiter machen? Er reitet ein so beschaffenes Pferd gleichwie er 260  „[S]i facimus ea, quae nostra dicuntur, ergo oculos nobis ipsi fecimus, manus nobis ipsi fecimus et pedes nobis ipsi fecimus, nisi nostri non dicuntur oculi, manus, pedes“ (WA 18, 696, 26–28). 261  „[N]aturam peccato, subtracto spiritu, vitiatam non cessat formare et multiplicare, tanquam si faber ex ligno corrupto statuas faciat. Ita qualis est natura, tales fiunt homines, Deo creante et formante illos ex natura tali“ (WA 18, 708, 31–34).

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gesunde Pferde reitet, jenes schlecht, diese gut, anders kann er nicht, es sei denn, das Pferd würde gesund werden. Hier siehst du, dass, wenn Gott in den Schlechten und durch die Schlechten wirkt, zwar schlechte Dinge geschehen, Gott aber dennoch nicht schlecht handeln kann, mag er auch schlechte Dinge durch Schlechte tun, denn selbst ist er gut und kann nicht schlecht handeln.“262

Das Schlechte, das der Mensch wirkt, kann nicht Gottes Verantwortung zugeschrieben werden, obgleich Gott den Menschen antreibt. Sondern vielmehr ist dem Menschen selbst, dem seine Schlechtigkeit zu eigen ist, das Schlechte anzulasten. Ist der Mensch schlecht beschaffen, so trägt er selbst Verantwortung für seine schlechten Entscheidungen und Handlungen, unabhängig von der Frage, wer diese Beschaffenheit verantwortet: „Der Fehler also liegt in den Werkzeugen, die Gott nicht untätig sein lässt, so dass unter dem Antrieb Gottes schlechte Dinge geschehen. Dies ist nicht anders, als wenn ein Handwerker mit einem gezackten und gezähnten Beil schlecht schneidet.“263

Gott wirkt in den Menschen, wenn sie in schlechter Weise entscheiden und handeln, aber das Entscheiden und Handeln bleibt dennoch dasjenige der Menschen und folglich ihnen zurechenbar, sodass ihnen und nicht Gott der Fehler ihres Tuns anzulasten ist. Ausdrücklich weist Luther die Möglichkeit, menschliche Verantwortlichkeit auf Gott abzuwälzen, zurück: „Dass Gott durch uns schlechte Dinge wirkt, geschieht nicht durch Gottes Schuld, sondern durch unsere Unvollkommenheit, denn wir sind von Natur aus schlecht, Gott ist aber gut. Er ergreift uns durch sein Handeln entsprechend der Natur seiner Allmacht und er kann es nicht anders machen, als dass er – selbst gut – mit einem schlechten Werkzeug etwas Schlechtes vollbringt.“264

Die Metaphern des invaliden Pferdes, des gezackten Beils oder des schlechten Werkzeugs, die hier deutlich Luthers Verständnis der menschlichen Verantwortung unter schlicht-kompatibilistischen Voraussetzungen beschreiben, können für sich allein betrachtet missverständlich wirken, was in der Forschungsliteratur an verschiedenen Stellen beschrieben wird. Denn es mangelt diesen Bildern an der Beschreibung der von Luther vertretenen Aktivität und Eigenständigkeit der menschlichen Handlungssubjekte, die sich gerade für ein schlicht-kompa262  „[T]anquam si eques agat equum tripedem vel bipedem, agit quidem taliter, qualis equus est, hoc est equus male incedit. Sed quid faciat eques? equum talem simul agit cum equis sanis, illo male, istis bene, aliter non potest, nisi equus sanetur. Hic vides Deum, cum in malis et per malos operatur, mala quidem fieri, Deum tamen non posse male facere, licet mala per malos faciat, quia ipse bonus male facere non potest“ (WA 18, 709, 24–30). 263  „Vitium ergo est in instrumentis, quae ociosa Deus esse non sinit, quod mala fiunt, movente ipso Deo. Non aliter quam si faber securi serrata et dentata male secaret“ (WA 18, 709, 31–33). 264  „[P]er nos Deum operari mala, non culpa Dei, sed vitio nostro, qui cum simus natura mali, Deus vero bonus, nos actione sua pro natura omnipotentiae suae rapiens, aliter facere non possit, quam quod ipse bonus malo instrumento malum faciat“ (WA 18, 711, 2–6).

224

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

tibilistisches Freiheitsverständnis charakteristisch zeigen. So bemerkt hierzu Andreas Klein in Aufnahme eines Zitats von Wolfgang Behnk zutreffend: „Der Geschehnischarakter echter Begegnung und darum auch die Geschichtlichkeit dieses Verhältnisses [sc. des Verhältnisses von Gott und Mensch] werden durch die Behauptung, der Mensch sei gegenüber Gott in der Position eines Werkzeugs, gerade undeutlich. Ja, es wäre sogar noch weiter zu fragen, ob damit der Mensch überhaupt noch als Subjekt in Erscheinung tritt, oder nicht vielmehr als ‚Objekt über ihn verfügender metaphysischer Gewalten‘.“265

Es steht außer Frage, dass Luther den Menschen als frei handelnd und entscheidend in schlicht-kompatibilistischem Verständnis beschreibt, wie im vorausgegangenen Abschnitt 5.3.2 dargestellt wurde. Menschliche Handlungssubjekte sind nach Luther gerade nicht als „Blöcke und Steine“266 misszuverstehen, denen keine eigene Aktivität zukommt, gleichwohl sich alles Geschehen notwendig unter der deterministischen Voraussetzung durch die Allwirksamkeit Gottes befindet. 267 Daher ergibt sich auch angesichts der Beobachtung, dass die Metaphern die Eigenständigkeit des menschlichen Handelns und Entscheidens nicht angemessen zum Ausdruck bringen, keine Fehlinterpretation darin, Luthers Beschreibung der Verantwortlichkeit des Menschen hier in schlicht-kompatibilistischem Verständnis zu deuten. Luther hält den Menschen für sein Entscheiden und Tun zurechenbar, gerade weil sein Entscheiden und Tun als ihm in schlicht-kompatibilistischem Verständnis zugehörig zu verstehen ist – gewissermaßen analog zu Harry Frankfurts Verständnis einer Identifikation von Handlungssubjekt und Entscheidung bzw. Handlung. Für Luther erscheint eine zurechenbare Entscheidung bzw. Handlung nicht nur vereinbar mit dem Determinismus, sondern Luther gibt darüber hinaus zu erkennen, dass er diesen Determinismus der Allwirksamkeit Gottes als notwendig existierend versteht 268 und dass er diesen Determinismus schließlich sogar als notwendige Voraussetzung zurechenbarer Entscheidungen bzw. Handlungen begreift. 269 Dies zeigt sich umso plausibler, wenn Luthers im vorausgegangenen Abschnitt 5.3.2.1 entfaltete Unterscheidung von necessitas immutabilitatis (Notwendigkeit der Unveränderlichkeit) und necessitas coactionis (Notwendigkeit des Zwangs) herangezogen wird. Mit dieser Unterscheidung argumentiert Luther für die Plausibilität seines schlicht-kompatibilistischen 265 

A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 390, Herv. i. O.; Zitat aus W. Behnk: Contra liberum arbitrium pro gratia Dei, 338. 266  „[T]runci et lapides“ (WA 18, 754, 37). 267  Vgl. entsprechend auch A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 390. 268  Hierauf macht auch Rochus Leonhardt aufmerksam: Luther erweist sich „offensichtlich als ein Kompatibilist – aber als ein solcher, der die Wahrheit des Determinismus nicht dahingestellt sein lässt, sondern ausdrücklich behauptet.“ (R. Leonhardt: „Servum arbitrium und libertas christiana“, 155). 269  Vgl. den Beginn des vorliegenden Abschnitts 5.3.3.1 zu WA 18, 632, 3–10.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

225

Verständnisses von Freiheit. So ergibt sich für Luther Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit, das heißt unter Ausschluss von äußerer und innerer Fremdbestimmung auch bzw. gerade unter Voraussetzung der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit. Zwang steht Freiwilligkeit entgegen und so wird durch die Notwendigkeit des Zwangs im Gegensatz zur Notwendigkeit der Unveränderlichkeit Freiheit in Luthers Sicht tatsächlich unterminiert. Unter Zwang realisierte Entscheidungen und Handlungen erweisen sich als nicht zurechnungsfähig, wohl aber notwendig unveränderlich realisierte Entscheidungen und Handlungen, können sich diese doch als mit Freiwilligkeit vereinbar erweisen. Dass sich diese Unterscheidung der Notwendigkeiten bei Luther sehr anschlussfähig im Kontext einer Begründungsstrategie für Verantwortlichkeit darstellt, wurde in der Forschungsliteratur verschiedentlich wahrgenommen. Wilfried Härle etwa drückt Luthers Verständnis von möglicher Verantwortung des Menschen folgendermaßen aus: „Hätte jemand anders wollen können, als er gewollt hat? Wenn damit gemeint ist, dass jemand in der Lage gewesen wäre oder hätte sein müssen, sein eigenes Wollen zu verändern, dann ist dies aus Sicht der reformatorischen Theologie zwar zu verneinen, schließt aber deswegen die Verantwortlichkeit des so Handelnden keineswegs aus. Dass dies so ist, hat Luther gezeigt, indem er die Notwendigkeit des Handelns von einer erzwungenen Handlung klar unterscheidet und als notwendige Handlung gleichwohl für schuldhaft bzw. im Verantwortungsbereich des Handlungssubjekts liegend kennzeichnet.“270

Ein entsprechendes Verständnis Luthers teilt auch Hans-Martin Barth: „Das Problem, dass der Mensch damit [sc. durch den Determinismus] seiner Verantwortung enthoben wäre, löst er [sc. Luther] durch seine Unterscheidung zwischen Zwang und Neigung: Der Mensch ist nicht (nur) gezwungen zu sündigen, sondern er tut es sozusagen mit Lust und Liebe.“271

Ebenso wurde bereits in früheren Analysen, wie etwa jener von Paul Althaus in seiner Theologie Luthers, diese Begründungsstruktur Luthers für Verantwortlichkeit im Sinn der Freiwilligkeit bzw. für die Irrelevanz inkompatibilistischer Intuitionen wahrgenommen: „Der Mensch steht unter der unentrinnbaren Notwendigkeit, mit allem, was er ist und tut, zu sündigen. Aber das hebt die Verantwortlichkeit und die Schuld nicht auf. Der Mensch wird nicht wider seinen innersten Willen gezwungen zu sündigen, sondern erlebt die Unentrinnbarkeit an seinem Willen. Er ist notwendig Sünder, aber er ist es mit Willen.“272 270 W.

Härle: „Der (un-)freie Wille“, 299, Herv. i. O. Barth: „Freiheit, die ich meine?“, 113. Vgl. Oswald Bayers Hinweis auf Luthers Verständnis von Verantwortlichkeit hinsichtlich der Freiheit in niederen Dingen: „Der Mensch hat die Freiheit, sein Leben zu ordnen, und ist deshalb verantwortlich für die Art und Weise, in der er es tut.“ (O. Bayer: „Freiheit?“, 18). Vgl. auch Andreas Kleins Zustimmung zu der von Luther kompatibilistisch begründeten Zurechenbarkeit: A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 461. 272 P. Althaus: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, 140 f., Herv. i. O. Vgl. 271 H.-M.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Nachdem sich die Argumentation für Luthers schlicht-kompatibilistische Begründung von Zurechenbarkeit sowohl in Luthers Schrift als auch in der Forschungsliteratur überzeugend darstellt, gilt es nun jedoch einen bedeutenden Einwand aufzunehmen. Dieser Einwand kann im Zusammenhang mit Luthers Darstellung der unverständlichen Seiten Gottes formuliert werden. Denn Luther anerkennt an verschiedenen Stellen in Dsa einen Grund zur Klage, dass Gott unverständlich handelt und dass gar seine Gerechtigkeit infrage gestellt werden kann. 273 Wie folgt lässt sich der Einwand formulieren: Stellt der von Luther anerkannte Grund dieser Klage nicht das Unverständnis darüber dar, dass Gott Menschen zur Verdammnis bestimmt, ohne dass ihnen Verantwortung zugesprochen werden kann? Diesen berechtigten Einwand gilt es differenziert zu betrachten. Im vorliegenden Unterabschnitt 5.3.3.1 wird gezeigt werden, wie ausgehend von Luthers Argumentation in Dsa dieser Einwand klar zurückgewiesen werden kann. Im folgenden Unterabschnitt 5.3.3.2 wird dann jedoch deutlich werden, dass Luther an anderer Stelle in Dsa sich in der Weise äußert, dass dieser Einwand tatsächlich gilt und nicht erwidert werden kann. Wenn Luther in Dsa einen Grund zur Klage anerkennt, dass Gott Menschen zur Verdammnis bestimmt und er Gott für dieses Handeln entsprechend auch Verantwortung zuspricht, muss dies per se nicht im Widerspruch zu der These stehen, dass Luther Zurechenbarkeit analog zu Harry Frankfurt schlicht-kompatibilistisch begründet. Denn Luther könnte durchaus beklagen, dass Gott den Menschen so bestimmt, dass dieser in seinem freien Entscheiden die Gnade Gottes ausschlägt, ohne dass dadurch der Mensch seine Zurechnungsfähigkeit einbüßt. Dies wäre der Fall, wenn Luther nur dies beklagen würde, dass Gott den Menschen in schlechter Beschaffenheit bestimmt, und nicht auch dies, dass Gott den Menschen ungerechterweise verdammt. Tatsächlich scheint der Grund zur Klage für Luther an einigen Stellen in Dsa im Zusammenhang mit Gottes Wirken der schlechten Beschaffenheit des Menschen zu liegen, wie etwa folgendes Zitat belegt: „Warum verändert er nicht zugleich die schlechten Willen, die er bewegt? Dies betrifft die Geheimnisse der Majestät, wo seine Urteile unfassbar sind. Und wir sollten nicht danach fragen, sondern diese Geheimnisse anbeten.“274

entsprechend Hans Vorster: „Der unveränderliche Gang des Willens in schlechter Zielsetzung folgt also nicht einer Spur, die Gott gezogen hätte. Seine Holzwege hat sich der Mensch selber gebahnt. Und Gott nimmt diese Bahn ernst. Er verstattet sie dem Menschen zunächst, aber er behaftet ihn dann auch bei seiner Bahn.“ (H. Vorster: Das Freiheitsverständnis bei Thomas von Aquin und Martin Luther, 362). 273  Vgl. zahlreiche einschlägige Belege im Verlauf der folgenden Darstellung und auch im nachfolgenden Abschnitt 5.3.3.2. 274  „[C]ur non simul mutat voluntates malas, quas movet? Hoc pertinet ad secreta ­maiestatis, ubi incomprehensibilia sunt iudicia eius. Nec nostrum hoc est quaerere, sed adorare mysteria haec“ (WA 18, 712, 24–26).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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Luther beklagt hier nicht, dass der Mensch ungerechterweise verdammt wird, sondern die Geheimnisse Gottes beziehen sich an dieser Stelle auf die Frage, warum Gott den Menschen so beschaffen hat, dass dieser sich von Gott abwendet. Entsprechend fährt Luther mit Blick auf den ersten Menschen fort: „Dasselbe wird jenen gesagt werden, die fragen, warum er zugelassen hat, dass Adam fiel, und warum er uns alle als mit eben derselben Sünde unvollkommen schuf“275. Gott trägt für sein Entscheiden und Handeln am Menschen Verantwortung und daher erscheint es angemessen, die Frage zu stellen, warum Gott den Menschen verdammt. Jedoch kann Gott nicht unmittelbar oder stellvertretend für den Menschen dafür zur Verantwortung gezogen werden, dass der Mensch sich gegen Gott entscheidet. Denn der Mensch entscheidet sich nach Luther vollkommen freiwillig, in Abwesenheit von äußerer und innerer Fremdbestimmung, wenn er sich gegen Gott entscheidet. Entsprechend anerkennt Luther in Dsa im Kontext einer Ezechielauslegung276 die Klage über die Bestimmung des Willens durch Gott, wenn er Gottes Ratschluss als Geheimnis der göttlichen Majestät deutet: „Warum die einen vom Gesetz getroffen werden, die anderen aber nicht getroffen werden, sodass jene die dargebotene Gnade annehmen und diese sie verachten, das ist eine andere Frage und sie wird von Ezechiel an dieser Stelle nicht untersucht – er redet von der ge­ predigten und dargebotenen Barmherzigkeit Gottes, nicht von jenem geheimen und zu fürchtenden Willen Gottes, der nach seinem Ratschluss anordnet, welche und wie be­ schaffene er will, die für die gepredigte und dargebotene Barmherzigkeit empfänglich und ihrer teilhaftig sind. Diesem Willen soll nicht nachgeforscht werden, sondern es gilt, ihn mit Ehrfurcht anzubeten als ein bei Weitem ehrwürdigstes Geheimnis der göttlichen Majestät, das allein ihm vorbehalten und uns verboten ist.“277

Trägt Gott auch Verantwortung dafür, dass er Menschen in solcher Weise in ihrer Beschaffenheit bestimmt, dass sie sich gegen die ihnen angebotene Gnade entscheiden, so trägt er doch nicht die direkte Verantwortung für die Entscheidung dieser Menschen. Gott und der Mensch sind in diesem Fall verantwortlich, der Mensch unmittelbar, Gott mittelbar. 278 Wenn Luther Zurechenbarkeit 275  „Idem dicetur illis, qui quaerunt: Cur permisit Adam ruere, et cur nos omnes eodem peccato infectos condit“ (WA 18, 712, 29 f.). 276  Vgl. Ez 18, 32: „Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben“. 277  „Cur alii lege tanguntur, alii non tanguntur, ut illi suscipiant et hi contemnant gratiam oblatam, alia quaestio est, nec hoc loco tractatur ab Ezechiele, qui de praedicata et oblata misericordia Dei loquitur, non de occulta illa et metuenda voluntate Dei ordinantis suo consilio, quos et quales praedicatae et oblatae misericordiae capaces et participes esse velit. Quae voluntas non requirenda, sed cum reverentia adoranda est, ut secretum longe reverendissimum maiestatis divinae soli sibi reservatum ac nobis prohibitum“ (WA 18, 684, 32–39). Zum Hintergrund des „verborgenen Ratschlusses Gottes“ vgl. V. Leppin: „Deus absconditus und Deus revelatus. Transformationen mittelalterlicher Theologie in der Gotteslehre von ‚De servo arbitrio‘“, in: Berliner Theologische Zeitschrift 22 (2005), 55–69. 278  Vgl. zu Gottes Verantwortung entsprechend Eberhard Schockenhoff: „Durch die Zu-

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

schlicht-kompatibilistisch begründet deutet, kann er sich durchaus über Gottes mittelbare Verantwortung beklagen. Gott trägt nämlich die Verantwortung für die Bestimmung der Gründe und Ursachen des menschlichen Handelns, wobei allerdings der Mensch sich hierdurch von seiner eigenen Verantwortung nicht zu entlasten vermag. In diesem Sinn versteht auch Harry Frankfurt den Zusammenhang zwischen Verantwortung eines Handlungssubjekts, das sich innerhalb vorgegebener Gründe und Ursachen reflektierend entscheidet, und Verantwortung eines Handlungssubjekts, das dieses erstgenannte Handlungssubjekt in seinen Gründen und Ursachen bestimmt: Beide tragen dann Verantwortung für ihr Tun, wenn sie sich im Sinn von wholeheartedness mit ihren Entscheidungen identifizieren. Entsprechend lässt sich in Frankfurts Verständnis nicht nur ein Handlungssubjekt A, das sich mit seinen Handlungen und Entscheidungen im Sinn der wholeheartedness identifizieren kann, als zurechenbar verstehen, sondern auch ein Handlungssubjekt B, das über die Gründe und Ursachen von Handlungssubjekt A bestimmt, sofern sich Handlungssubjekt B mit eigenen Gründen und Ursachen der Bestimmung der Gründe und Ursachen von Handlungssubjekt A identifiziert. 279 Es zeigt sich als entscheidende Frage daher nicht, ob Luther dem Menschen oder Gott Zurechenbarkeit zuschreibt – in dem Sinn, dass Luther Verantwortung dann wohl schlicht-kompatibilistisch verstehen würde, wenn er dem Menschen Verantwortung zusprechen und Gottes Verantwortung für den Menschen leugnen würde, und in dem Sinn, dass Luther Verantwortung wohl dann an radikale Selbstbestimmung geknüpft sehen würde, wenn er die Verantwortung des Menschen leugnen und die Verantwortung für den Menschen allein Gott zuschreiben würde. Vielmehr lautet die entscheidende Frage, ob Luther dem Menschen und Gott oder Gott allein Zurechenbarkeit zuschreibt. Denn Gott ist auch im Zusammenhang eines schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnisses nicht von Zurechenbarkeit, von seiner Verantwortung für die Beschaffenheit der Menschen zu entbinden. Anders formuliert lauten die entscheidenden Fragen: Ist Luther der Meinung, dass der Mensch – neben Gott – ebenfalls Verantwortung für seine Entscheidungen und Handlungen trägt? – Oder trägt der Mensch keine Verantwortung, weil Gott allein sie für ihn trägt? Im ersten Fall, der in diesem Unterabschnitt belegt wurde, argumentiert Luther im Sinn Frankfurts gegen die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis. Im zweiten Fall würde Luther im Sinn Strawsons hingegen für die rückweisung der Schuld an die Werkzeuge wird die bedrängende Frage nach der Verantwortung Gottes für das Böse freilich nicht gelöst, sondern nur verschoben. Denn auch die Werkzeuge, also die bösen Menschen und ihr von Gott gebundener Wille wirken mit Notwendigkeit unablässig das Böse, da die bewegende Kraft des göttlichen Willens ihnen nicht erlaubt, untätig zu sein.“ (E. Schockenhoff: Theologie der Freiheit, 254). 279 S. o. Abschnitt 2.3.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

229

Relevanz derselben argumentieren. Und tatsächlich lässt sich ausgehend von Dsa auch dieser Fall als Position Luthers belegen, wie im folgenden Unterabschnitt erkennbar sein wird. Im hier abgeschlossenen Unterabschnitt 5.3.3.1 wurde Luthers Argumentation gegen die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis in Dsa deutlich, indem Luthers schlicht-kompatibilistische Begründung von Zurechenbarkeit dargelegt wurde. Dem entgegenstehend zeigt sich im folgenden Unterabschnitt 5.3.3.2 Luthers Argumentation für die Relevanz radikaler Selbstbestimmung in Dsa. So wird nun dargelegt, dass und inwiefern Luther sein Verständnis bzw. seine Begründung von Zurechenbarkeit unter Verweis auf Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung klar zu erkennen gibt.

5.3.3.2 Verantwortlichkeit durch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung Das im vorangegangenen Unterabschnitt 5.3.3.1 entfaltete Verständnis Luthers, Zurechenbarkeit schlicht-kompatibilistisch zu begründen, weist große Plausibilität auf. Dabei sind Widersprüche bislang – unter Absehung des bereits erwiderten Einwands, dass Gott bei Luther wohl aufgrund der nicht vorhandenen menschlichen Zurechenbarkeit angeklagt wird – nicht in Erscheinung getreten. Ein Blick in die Forschungsliteratur über Dsa zeigt jedoch, dass die Plausibilität der schlicht-kompatibilistischen Argumentation, die zum Beispiel Härle, Barth oder Althaus anerkennen 280, keineswegs unbestritten bleibt. Harry J. McSorley und Otto Hermann Pesch etwa stellen die Angemessenheit, den Begriff Verantwortlichkeit schlicht-kompatibilistisch zu deuten, grundsätzlich in Frage. McSorley notiert in seiner Untersuchung über Dsa pointiert: „Wenn man einfach behauptet, der Mensch sei verantwortlich für seine Sünde, weil er seine Sünde will, und trotzdem leugnet, daß dies ein freies Wollen der Sünde sei, und daß der Mensch die Sünde hätte vermeiden können, so bedeutet das, den Begriff ‚Verantwortung‘ neu zu definieren.“281

Ein vergleichbares Urteil formuliert Otto Hermann Pesch in folgender Weise: „Wenn Gott also ständig allein auf den Menschen einwirkt, dann muß eine ständige Sünde der sozusagen unvermittelte – unvermittelt durch irgendeine Selbstbewegung des Menschen – Endpunkt der ständig schaffenden Bewegung Gottes sein. Die Verantwortlichkeit des Menschen kann dann nur noch gegründet werden auf das Nicht-Gezwungensein, auf 280 S. o.

Abschnitt 5.3.3.1. J. McSorley: Luthers Lehre vom unfreien Willen. Nach seiner Hauptschrift De Servo Arbitrio im Lichte der biblischen und kirchlichen Tradition, München 1967, 315 f. 281  H.

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

die Spontaneität der Willentlichkeit, aber nicht mehr in seinem Sich-selbst-entschiedenHaben. Es fragt sich, ob das eine mehr als nur verbale Aufrechterhaltung der Verantwortlichkeit des Menschen ist.“282

Wolfgang Pannenberg stellt aus demselben Grund Luthers Lehre vom unfreien Willensvermögen schließlich auf den Prüfstand. So bekennt er, „gewichtige theologische Gründe“ dafür zu besitzen, an der Konzeption des liberum arbitrium, verstanden als Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst, festzuhalten. 283 Hierbei beschreibt er die beiden entscheidenden Gründe als „Interesse an der Wahrung der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun“ und damit eng zusammenhängend als die „Frage nach dem Ursprung des Bösen in Gottes guter Schöpfung“284. Pannenberg konstatiert, dass sich vor diesen beiden Problemen „jede theologische Ablehnung des liberum arbitrium […] zu rechtfertigen“ habe. 285 Eine hinreichende Begründung von Verantwortlichkeit in schlicht-kompatibilistischem Ansatz scheint Pannenberg damit offenkundig nicht zu akzeptieren. Auch Friedrich Hermanni urteilt, dass Luther nicht in der Lage sei, „die Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Menschen und an der Güte und Gerechtigkeit Gottes auszuräumen, die sich aus seiner Lehre von der menschlichen Unfreiheit und der göttlichen Vorherbestimmung zu ergeben scheinen“286. Aus diesem Grund, so Hermanni, sei auch der Großteil der protestantischen Theologie der mit dem späten Melanchthon aufgekommenen Zurückweisung der Lehre vom unfreien Willensvermögen gefolgt. 287 McSorley, Pesch, Pannenberg, Hermanni u.a. überzeugt eine schlicht-kompatibilistische Begründung von Zurechenbarkeit in der Ausformung durch Martin Luther nicht. Sie gehen davon aus, dass Zurechenbarkeit durch ein stärkeres Modell von Freiheit begründet werden muss. Mit dieser Haltung stehen sie jedoch nicht eindeutig gegen Luther – denn Luther argumentiert in Dsa selbst nicht eindeutig für ein schlicht-kompatibilistisch begründetes Verständnis von Zurechenbarkeit. In einigen Kontexten 282  O. H. Pesch: „Freiheitsbegriff und Freiheitslehre bei Thomas von Aquin und Luther“, in: Catholica 17 (1963), 197–244, hier: 228. 283 W. Pannenberg: „Christlicher Glaube und menschliche Freiheit“, in: Kerygma und Dogma 4 (1958), 251–280, hier: 272. 284 W. Pannenberg: „Christlicher Glaube und menschliche Freiheit“, 272. 285 W. Pannenberg: „Christlicher Glaube und menschliche Freiheit“, 272. 286 F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 182. Entsprechend scheinen auch etwa Gunther Wenz und Johannes Schwanke keine Möglichkeit einer hinreichenden Begründung von Zurechenbarkeit angesichts der Unfreiheit des Willensvermögens zu erkennen. Vgl. G. Wenz: „Das in sich Verkehrte. Luthers Sündenlehre in der Tradition augustinischer Hamartiologie“, in: J. Doré (Hg.): Le Péché, sous la direction de Joseph Doré, Bruxelles 2001, 265–309, hier: 284; J. Schwanke: „Freier oder unfreier Wille? Die Kontroverse zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam“, in: W. Zager (Hg.): Martin Luther und die Freiheit, Darmstadt 2010, 41–58, hier: 57. 287  Vgl. F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 165 f.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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knüpft er sein Verständnis von Zurechenbarkeit auch an die notwendige Bedingung radikaler Selbstbestimmung bzw. an Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst. Freilich stehen diese Stellen in Spannung zu den von ihm entfalteten schlicht-kompatibilistischen Argumentationslinien. Ein entscheidender Hinweis dazu ergibt sich darin, dass Luthers Klage gegenüber Gott sich doch nicht ausschließlich auf dessen Verantwortlichkeit hinsichtlich der Beschaffenheit des Menschen beschränkt, die auch Raum lässt für die Verantwortlichkeit des Menschen (für Entscheidungen und Handlungen, die Menschen im Rahmen ihrer Beschaffenheit freiwillig ausführen). Tatsächlich betrifft Luthers Klage auch Gottes Verantwortung hinsichtlich jeder Entscheidung und Handlung des Menschen selbst, sodass der Mensch selbst in Luthers Sicht infolge der Unmöglichkeit seiner radikalen Selbstbestimmung keinerlei Verantwortung mehr zu tragen scheint. Somit zeigt sich der noch im vorausgegangenen Unterabschnitt 5.3.3.1 erwiderte Einwand schließlich doch als gültig und schwerlich widerlegbar. Klagt Luther Gott deshalb an, weil der Mensch als Unzurechnungsfähiger zur Verdammnis bestimmt wird, so lässt sich die These von Luthers schlicht-kompatibilistisch begründetem Verständnis von Zurechenbarkeit nicht mehr aufrechterhalten. Denn in dieser Klage zeigt sich, dass Luther den Menschen angesichts der Unmöglichkeit seiner radikalen Selbstbestimmung für nicht zurechnungsfähig hält. Damit wird schließlich implizit deutlich, dass Luther Zurechenbarkeit durchaus an Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung geknüpft versteht und radikaler Selbstbestimmung entsprechend Relevanz für das Freiheitsverständnis zuerkennt. Ein erstes Indiz für Luthers Klage gegen Gott, der unzurechnungsfähige Menschen verdammt, ergibt sich aus folgendem Zitat. Darin rechtfertigt Luther Gott gegenüber der Anklage, dass er sich den Menschen gegenüber scheinbar unrecht verhält: „Jedoch der Grund seines göttlichen Willens darf nicht erforscht werden, sondern er muss einfach angebetet und Gott die Ehre gegeben werden; denn weil er allein gerecht und weise ist, verhält er sich niemandem gegenüber ungerecht und er kann nichts einfältig oder leichtfertig unternehmen, mag es uns auch bei Weitem unrecht erscheinen.“288

Würde Luther annehmen, dass dem Menschen Zurechenbarkeit zu eigen ist bzw. dass menschliche Zurechenbarkeit auch oder gerade unter deterministischen Voraussetzungen unabhängig vom Anspruch inkompatibilistischer Intuitionen zu begründen ist, könnte hier nicht erklärt werden, warum Luther annimmt, Gott müsste gegen den Vorwurf, sich gegenüber Menschen unrecht zu verhalten, verteidigt werden. Luther verteidigt Gott an dieser Stelle nicht für 288  „[V]oluntatis vero divinae rationem quaerendam non esse, sed simpliciter adorandam, data gloria Deo, quod cum sit iustus et sapiens solus nulli faciat iniuriam, nec stulto aut temere quippiam agere possit, licet nobis longe secus appareat“ (WA 18, 632, 23–26).

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

seine Rolle bei der Bestimmung der schlechten Beschaffenheit des Menschen, für die Gott unbestritten Verantwortung trägt, sondern hier zeigt sich implizit Luthers Auffassung, dass der Mensch angesichts seines unfreien Willensvermögens keine Verantwortung zu tragen in der Lage ist und Gott aus diesem Grund in seinem Urteilen über den Menschen ungerecht erscheint. Ein entsprechender Hinweis darauf, dass Luther Gott eben aufgrund dessen Verurteilung des nicht zurechnungsfähigen Menschen als anklagbar versteht, ergibt sich im Kontext einer Passage, in der Luther sich auf Paulus im Römerbrief sowie auf den Propheten Jesaja beruft. Luther gibt Paulus in Röm 9,19–21 wieder: „Was folglich beschuldigt uns Gott? Wer wird seinem Willen widerstehen? O Mensch, wer bist du, der du gegen Gott kämpfst? Hat nicht etwa der Töpfer die Macht? usw.“289 Weiterhin zitiert Luther aus Jes 58,2: „Sie forschen nämlich nach mir von Tag zu Tag und wollen meine Wege wissen, wie ein Volk, das Gerechtigkeit getan hat; sie ersuchen mich um Urteile der Gerechtigkeit und wollen sich Gott nähern“290. Hier thematisiert Luther die Frage nach Gottes Gerechtigkeit in Bezug auf den Vorwurf, dass Menschen ungerechterweise, weil als Unzurechnungsfähige, von Gott verurteilt werden. Als mögliche Antwort würde die Zurückweisung dieses Vorwurfs unter Hinweis auf die schlicht-kompatibilistisch zu begründende Zurechenbarkeit nahe liegen. Luther könnte mit Hilfe der von ihm selbst formulierten Argumente über die natürliche Zugehörigkeit einer Entscheidung bzw. Handlung zu ihrem Handlungssubjekt oder über das Wesen der Freiheit im Sinn von Freiwilligkeit dem Vorwurf inhaltlich überzeugend entgegentreten. Doch Luther vergibt hier gewissermaßen das Potential seiner Argumentationsmöglichkeit und weist die Vorwürfe lediglich unter Verweis auf Gottes unantastbare Autorität zurück: „Ich glaube, durch diese Worte ist genug gezeigt, dass es den Menschen nicht erlaubt ist, den Willen der Majestät zu erforschen […] Wer damit weiter macht, den Grund jenes Willens zu erforschen, und unserer Ermahnung nicht weicht, den lassen wir gehen und nach der Sitte der Giganten gegen Gott kämpfen.“291

Die offene Frage, warum Luther an dieser Stelle nicht auf seine schlicht-kompatibilistische Begründung von Verantwortlichkeit verweist, kann die Annahme nahe legen, dass Luther Zurechenbarkeit doch nicht ausreichend schlicht-kom289  „Quid igitur quaeritur Deus? Quis voluntati eius resistet? O homo, tu quis es, qui contendas cum Deo? An non habet potestam figulus? et reliqua“ (WA 18, 690, 15–17). 290  „Me etenim de die in diem quaerunt et vias meas scire volunt, quasi gens quae iustitiam fecerit. Rogant me iudicia iustitiae et appropinquare Deo volunt“ (WA 18, 690, 17–19). 291  „Puto istis verbis satis monstrari, non licere hominibus scrutari voluntatem maiestatis […] Quod siquis pergat scrutari rationem voluntatis illius nec nostrae monitioni caedit, hunc sinimus ire, et gygantum more cum Deo pugnare“ (WA 18, 690, 19–26). An späterer Stelle zitiert Luther die paulinischen Fragen aus Röm 9,19 erneut und weist Fragen nach Gottes Gerechtigkeit, die sich angesichts der Unzurechenbarkeit des Menschen ergeben, wiederum unter Hinweis auf die Autorität Gottes zurück. Vgl. WA 18, 729, 11–18.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

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patibilistisch begründet sieht, sondern radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung für Freiheit in einem Zurechenbarkeit gewährleistenden Sinn annimmt. Dann ist deutlich, dass Luther Gott deshalb für anklagbar hält, weil er Menschen, die nicht über Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. im Sinn radikaler Selbstbestimmung verfügen, verurteilt, ohne dass er ihnen ihr Entscheiden und Handeln zuzurechnen vermag. Dass sich Luthers Verständnis des Klagens über die Geheimnisse Gottes tatsächlich nicht allein auf sein Bestimmen bzw. Unverändert-Lassen der schlechten Beschaffenheit von Menschen bezieht, sondern Luther zugleich die Ungerechtigkeit Gottes darin erkennt, dass er unzurechnungsfähige Menschen verurteilt, zeigt sich unzweideutig in folgender Bemerkung: „Weshalb allerdings jene Majestät diesen Schaden unseres Willens nicht beseitigt oder in allen verändert – da dies nicht in der Macht des Menschen steht – oder warum er ihm jenen zurechnet, obwohl der Mensch sich ihm nicht entziehen kann, danach zu forschen, ist nicht erlaubt.“292

Dass Gott den Schaden des Willens nicht beseitigt bzw. verändert, bezieht sich auf die ungeklärte Frage Luthers, warum Gott die schlechte Beschaffenheit von Menschen nicht zum Guten verändert. Luther stellt in diesem Kontext jedoch auch eine zweite ungeklärte Frage, mit der er deutlich zu erkennen gibt, dass er Zurechenbarkeit nicht schlicht-kompatibilistisch, sondern durch das von ihm als unmöglich beschriebene Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung begründet erkennt: Warum rechnet Gott dem Menschen seine Schaden tragende Beschaffenheit an, obwohl er sie nicht vermeiden oder ändern kann? – Diese Frage könnte nicht von Harry Frankfurt stammen, denn durchaus ließe sich in schlicht-kompatibilistischer Sicht begründen, warum man innerhalb der eigenen, aus sich selbst heraus unveränderbaren Beschaffenheit verantwortlich sein kann. Doch Luther wendet diese Begründung, die er andernorts in Dsa entfaltet, hier nicht an und gibt dadurch zu erkennen, dass er radikaler Selbstbestimmung zweifellos Relevanz für das Freiheitsverständnis zumisst. Pointiert formuliert: Radikale Selbstbestimmung erscheint bei Luther als notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit. Nicht Harry Frankfurt und seinem schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnis ist Luther hier zuzuordnen, sondern wohl eher Galen Strawsons Impossibilismus. Diejenige Freiheit, die die Qualität besitzt, Zurechenbarkeit zu gewährleisten, und die somit als maßgebliche Freiheit in einer Freiheitstheorie anzunehmen ist, ist Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung und damit zugleich eine Freiheitsvorstellung, die von Luther als unmöglich zurückgewiesen wird. In diesem Sinn erscheint Luther an dieser Stelle wie Strawson als Im292  „Verum quare maiestas illa vitium hoc voluntatis nostrae non tollit aut mutat in omnibus, cum non sit in potestate hominis, aut cur illud et imputet, cum non possit homo eo carere, quaerere non licet“ (WA 18, 686, 8–11).

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

possibilist hinsichtlich des Freiheitsverständnisses, mag sich diese These auch nicht grundsätzlich als zutreffend erweisen. Denn Luther unterscheidet sich schließlich von Strawson in der Weise, dass er dennoch von der Möglichkeit einer angemessenen Begründung von Verantwortlichkeit ausgeht. Dies zeigt sich im weiteren Verlauf der Darstellung, wenn deutlich werden wird, dass Luther eine eschatologische Hoffnung auf die Einsicht in diese Begründung setzt. Zu der zuletzt zitierten Stelle293 bemerkt auch Andreas Klein zu Recht, dass Luther hinter seiner eigenen, von ihm an anderer Stelle formulierten Möglichkeit, Zurechenbarkeit schlicht-kompatibilistisch zu begründen, zurückbleibt. Bezüglich der zweiten offenen Frage, warum Gott Menschen ihre schlechte Beschaffenheit zurechnet, obwohl sie sich dieser Beschaffenheit nicht zu entziehen in der Lage sind, bemerkt Klein: „Diese Antwort wird den Kritiker […] wahrscheinlich wenig zufrieden stellen. Ist das wirklich das letzte Wort, das hierüber theologisch zu sagen ist? Soviel wird man jedoch zunächst sagen können, daß Luther an der zitierten Stelle doch noch stärker argumentieren könnte, da er ja selbst darauf insistiert, daß der Mensch für seine Schuld sehr wohl verantwortlich gehalten werden kann, auch wenn eine ganz spezifische Form von Alterität nicht einzuräumen ist.“294

Klein nimmt zu Recht wahr, dass Luther die Frage, warum Gott dem Menschen seine Beschaffenheit zurechnet, im Grunde gar nicht zu stellen nötig hätte. Doch dass Luther dennoch diese Frage hier und an einigen anderen Stellen in Dsa stellt, nimmt Klein in keiner Weise zum Anlass, sein eigenes, schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis im Sinn „bestimmter Selbstbestimmung“295 der Frage nach der Angemessenheit im Hinblick auf die Freiheitsproblematik auszusetzen. Inhaltlich unbestritten weist Klein in seiner ausführlichen Darstellung unentwegt auf die Unmöglichkeit einer Freiheitsvorstellung im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung hin. Doch letztlich erweist sich sein Konzept als ein solcher Kompatibilismus, der – auch Strawsons Urteil nach – zu Recht als dem Phänomen der Freiheit unangemessen zurückzuweisen ist. Dass die Relevanz radikaler Selbstbestimmung bzw. die Vorstellung eines unabhängigen Selbst für das Freiheitsverständnis nicht grundsätzlich abzustreiten ist, drängt sich gerade auch in der Betrachtung des 293 

WA 18, 686, 8–11. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 478. 295 Vgl.: „Diejenige Freiheit, die sowohl anthropologisch als auch theologisch von Interesse ist, wäre […] in einer kompatibilistischen Freiheit zu suchen und als bestimmte Selbstbestimmung durchzubuchstabieren“ (A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 392); „Eine kompatibilistische Freiheitsvariante, die als bestimmte Selbstbestimmung zu entfalten ist, läßt genau den nötigen Raum für diese Perspektive von Verantwortlichkeit, wobei gleichzeitig gesagt werden kann, daß nicht Gott das Böse hervorbringt oder er dafür verantwortlich ist“ (A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 461). Bezüglich der Begründung von Verantwortlichkeit versteht sich Klein explizit an der Seite Harry Frankfurts. Vgl. A. Klein: Willensfreiheit auf dem Prüfstand, 400 f. 294 A.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

235

Freiheitsverständnisses Luthers auf, der Zurechenbarkeit wie im vorliegenden Unterabschnitt deutlich wird, eben nicht ausschließlich schlicht-kompatibilistisch begründet. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Kleins Darstellung des Freiheitsverständnisses Luthers von der hier vorliegenden Darstellung, da Klein Luthers Verständnis von Zurechenbarkeit, die durch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung begründet ist, keine wesentliche Beachtung schenkt. Die Notwendigkeit dieser Beachtung ergibt sich umso mehr, je deutlicher sich zeigt, dass Luther Zurechenbarkeit an Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und an radikale Selbstbestimmung geknüpft versteht. So zeigt sich in einem weiteren Kontext erneut, dass Luther eine Problematik hinsichtlich der Begründung von Zurechenbarkeit erkennt und Zurechenbarkeit nicht schlicht-kompatibilistisch begründet, sondern als unerforschliches Geheimnis Gottes, wonach es nicht zu fragen gilt, abweist: „In welcher Weise lädt Gott zur Buße ein, der der Begründer der Unbußfertigkeit ist? In welcher Weise ist Verdammung gerecht, wo der Richter zur Übeltat zwingt? Ich antworte: Über dererlei Fragen soll die Diatribe verhandeln. Was geht uns das an?“296

Tatsächlich beschreibt Luther jene von ihm an anderer Stelle schlicht-kompatibilistisch gedeutete Freiheit hier keineswegs als Freiheit, sondern gar als Zwang. Indem Gott die Beschaffenheit des schlecht Beschaffenen notwendig bzw. eindeutig bestimmt, zwingt er ihn Luther zufolge zum bösen Handeln und Entscheiden. Der schlicht-kompatibilistische Gedanke, dass ein Handlungssubjekt unter Voraussetzung einer durch es selbst unveränderbaren Beschaffenheit durchaus frei im Sinn der Freiwilligkeit entscheiden und handeln kann bzw. die von Luther selbst getroffene Unterscheidung zwischen necessitas immutabilitatis und necessitas coactionis findet an dieser Stelle von Luther keine Beachtung, sondern erscheint geradezu konterkariert. Luther gesteht frei heraus, dass er über keine Erklärung von Zurechenbarkeit verfügt. Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung erscheint ihm prinzipiell unrealisierbar. Da er Zurechenbarkeit jedoch zugleich an dieses Verständnis von Freiheit gebunden sieht, erscheint es ihm unmöglich, Zurechenbarkeit in angemessener Weise zu begründen: „Denn es bleibt absurd (nach dem Urteil der Vernunft), dass jener gerechte und gute Gott Unmögliches vom freien Willensvermögen verlangt und, obwohl das freie Willensvermögen Gutes nicht wollen kann und notwendigerweise der Sünde dient, ihm dies dennoch zurechnet.“297

296  „Quomodo Deus invitat ad poenitentiam, qui author est impoenitentiae? Quomodo iusta est damnatio, ubi iudex cogit ad maleficium? Respondeo, De istis quaestionibus viderit Diatribe. Quid ad nos?“ (WA 18, 698, 28–31), vgl. weiterhin: WA 18, 698, 32–38. 297  „Absurdum enim manet (ratione iudice), ut Deus ille iustus et bonus exigat a libero

236

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Luthers Ablehnung einer Begründung von Verantwortlichkeit in Absehung von inkompatibilistischen Intuitionen zeigt sich auch deutlich im Kontext seiner Argumentation gegen die Wirklichkeit und Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung. Die Darstellung über Luthers Argumentationslinien für die Unfreiheit des Willensvermögens beim Menschen in Abschnitt 5.3.1.1 ließ einen Kontext der Argumentation Luthers bislang unberücksichtigt, der nun im hier vorliegenden Zusammenhang der Frage nach Luthers Verständnis von Zurechenbarkeit dargestellt werden soll. Indem Luther sich auf die Unmöglichkeit von Zurechenbarkeit bei Aufrechterhaltung der These vom unfreien Willensvermögen beruft, gibt er sein Verständnis, dass Zurechenbarkeit durch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. radikaler Selbstbestimmung gewährleistet wird, implizit zu erkennen. In dem oben bereits zitierten Kontext der Auseinandersetzung Luthers mit Röm 9,19–21 wirft Luther Erasmus vor, nicht wahrzunehmen, dass Paulus sich explizit an unzurechenbare Menschen wendet, die über Gottes ungerechtes Urteil über sie klagen. Als Gefäße des Töpfers Gott scheinen sie ihr Urteil unverdientermaßen zu empfangen. Ohne die Annahme nicht vorhandener Zurechenbarkeit, so Luther, wäre unverständlich, dass Paulus sich überhaupt zur Wehr setzt und die Lehre vom unfreien Willensvermögen verteidigt. So notiert Luther über Paulus: „Vergeblich nämlich würde er die Murrenden gegen den Töpfer Gott einbringen, wenn die Schuld offenkundig bei den Gefäßen und nicht beim Töpfer liegen würde. Denn wer würde murren, wenn er hören würde, dass diejenigen verdammt werden, die der Verdammung würdig sind?“298

Luther zielt so darauf, Erasmus davon zu überzeugen, dass Paulus eindeutig Position gegen das freie Willensvermögen bezieht, indem er darauf hinweist, dass bei Paulus und seinen Gegnern die Unmöglichkeit der Zurechenbarkeit angesichts des unfreien Willensvermögens angenommen wird. So führt Luther weiter aus: „Aber wenn Gott so wirkt, dass er Werke ansieht, warum murren und protestieren jene? Warum sagen sie: Was verlangt er? Wer wird seinem Willen widerstehen? Wozu gebietet Paulus jenen Einhalt? Wer nämlich wundert sich, um nicht zu sagen, wer entrüstet sich und protestiert, wenn jemand, der es verdient, verdammt wird?“299 arbitrio impossibilia, Et cum liberum arbitrium non possit velle bonum necessarioque serviat peccato, tamen imputet ei“ (WA 18, 707, 32–35). 298  „[F]rustra enim induceret murmurantes adversus figulum Deum, si culpa vasis et non figuli esse videretur. Quis enim murmuret, si audiat damnari dignum damnatione?“ (WA 18, 729, 3–6). 299  „Verum si sic operatur Deus, ut merita spectet, Cur illi murmurant et expostulant? Cur dicunt: quid queritur? quis voluntati eius resistet? Quid opus Paulo compescere illos? Quis enim miratur, non dicam, indignatur aut expostulat, siquis meritus damnetur?“(WA 18, 730, 6–9).

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

237

Hier nutzt Luther das Potential, durch Hinweis auf die bei Paulus und seinen Gegnern anerkannte unmögliche Erklärbarkeit von Zurechenbarkeit – als Folge der Unfreiheit des Willensvermögens – eben für diese Unfreiheit des Willensvermögens zu argumentieren. Denn „die Berücksichtigung von Werken“, so Luther, „streitet gegen die Macht und die Freiheit zu tun, was man will“300 – an diese Einsicht, die Erasmus ohnehin zu eigen ist, appelliert Luther hier gegenüber Erasmus. Beruft sich Luther auf die unerklärliche Zurechenbarkeit, so wird deutlich, dass sie auch in seinem eigenen Verständnis als Folge der Unfreiheit des Willensvermögens zu begreifen ist und er sich somit in seiner Haltung nicht der Position Harry Frankfurts zuordnen lässt, sondern radikaler Selbstbestimmung Relevanz hinsichtlich ihrer Rolle zur Begründung von Zurechenbarkeit und damit für das Freiheitsverständnis zuerkennt. Weiter wirft Luther Erasmus vor, einerseits Gottes Gnadenhandeln am Menschen ohne Rücksicht auf Verdienste zwar gern zu akzeptieren, Gottes Verdammen des Menschen ohne Rücksicht auf Verdienste hingegen als skandalös abzulehnen. Hierin erkennt Luther eine grobe Inkonsistenz in Erasmus’ Haltung: „Also du siehst, dass die Diatribe mit den Ihrigen diesen Fall nicht nach der Angemessenheit bewertet, sondern nach dem Affekt, ob es ihr günstig ist. Wenn sie nämlich auf die Angemessenheit blicken würde, würde sie ebenso bei Gott protestieren, wenn er Unwürdige krönt, und ebenso, wenn er die, die es nicht verdient haben, verdammt […] Wenn Gott dir gefällt, wenn er Unwürdige krönt, darf er dir auch nicht missfallen, wenn er die, die es nicht verdient haben, verdammt. Ist er dort gerecht, warum wird er hier nicht gerecht sein? Dort teilt er Gnade und Barmherzigkeit an Unwürdige aus, hier teilt er Zorn und Härte an die aus, die es nicht verdient haben – auf beiden Seiten ist er übermäßig und ungerecht bei den Menschen.“301

Auch hier erweist sich Luthers Argumentation gegen die Wirklichkeit und Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung als Hinweis auf Luthers Verständnis von Zurechenbarkeit. Im Kontext seiner Argumentation ergibt sich als Implikat, dass seine These von der Unfreiheit des Willensvermögens die Unerklärbarkeit der Zurechenbarkeit zur Folge hat. Damit zeigt sich, dass Luther wohl davon ausgeht, dass radikale Selbstbestimmung bzw. Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst eine notwendige Bedingung von Verantwortlichkeit darstellt, die aber im Kontext einer schlicht-kompatibilistischen Begründung von Verantwortlichkeit gerade nicht erfüllt werden kann. 300  „Pugnat enim respectus meritorum cum potestate ac libertate faciendi quod vult“ (WA 18, 730, 12 f.). 301  „Vides ergo Diatriben cum suis in hac causa non iudicare secundum aequitatem, sed secundum affectum comodi sui. Si enim aequitatem spectaret, aeque expostularet cum Deo, dum indignos coronat, atque expostulat cum eo, dum immeritos damnat […] si placet tibi Deus indignos coronans, non debet etiam displicere immeritos damnans. Si illic iustus est, cur non hic iustus erit? Illic gratiam et misericordiam spargit in indignos, Hic iram et severitatem spargit in immeritos, utrobique nimius et iniquus apud homines“ (WA 18, 730, 28–731, 8).

238

5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

Damit liegt auch die Annahme nahe, dass Luther Verantwortlichkeit als letztgültige Verantwortlichkeit im Sinn Galen Strawsons auffasst. In Aufnahme von Strawsons Bild der „heaven and hell responsibility“ kann dies als wahrscheinlich gelten, bewegt sich Luther doch exakt im Kontext der von Strawson beschriebenen großen Bedeutsamkeit der Frage nach ewigem Heil und ewiger Verdammnis. In diesem anschaulichen Kontext, so Strawson, kann dieses Verständnis von Verantwortlichkeit, das radikale Selbstbestimmung als notwendige Bedingung enthält, plausibel als übliches Verständnis von Verantwortlichkeit deutlich gemacht werden.302 Luther scheint hier analog zu Strawson die Position zu vertreten, dass radikaler Selbstbestimmung aus dem Grund Relevanz für das Freiheitsverständnis zukommt, weil mit ihr eben letztgültige Verantwortung gewährleistet werden kann. Schließlich gilt es, Luthers Verständnis von Verantwortlichkeit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung im Kontext der Darstellung seiner eschatologischen Hoffnung aufzugreifen. Die Frage, wie Gott gerecht erscheinen kann, sowohl angesichts der Tatsache, dass er „Unwürdige krönt“ als auch der Tatsache, dass er „die, die es nicht verdienen, verdammt“303, kann Luther zufolge erst dann beantwortet werden, wenn „wir dahin gelangt sind, wo nicht mehr geglaubt, sondern mit enthülltem Anblick gesehen werden wird“ bzw. wenn „der Menschensohn offenbart sein wird“304. Auch in diesem Kontext erweist sich, dass Luther Zurechenbarkeit letztlich durch radikale Selbstbestimmung begründet versteht und ihr entsprechend Relevanz zubilligt. In den letzten Abschnitten von Dsa kommt Luther auf diese eschatologische Hoffnung abschließend zu sprechen und entfaltet sie ausführlich in seiner DreiLichter-Lehre. Einleitend zu seiner Darlegung fasst er die Problematik wie folgt zusammen: „Wenn aber dies einen bewegt, dass es schwierig ist, die Sanftmut und Gerechtigkeit Gottes zu schützen, der doch die, die es nicht verdient haben, verdammt, das heißt, Gottlose von der Art, die, in Gottlosigkeit geboren, sich in keiner Weise helfen können, dass sie nicht gottlos sind, gottlos bleiben und verdammt werden sowie durch die Notwendigkeit der Natur zu sündigen und zugrunde zu gehen gezwungen werden.“305

Hier nimmt Luther seine bereits oben erwähnte Rede über das Gezwungensein auf, um die Unmöglichkeit der Veränderung der eigenen Beschaffenheit zu be302 S. o.

Abschnitt 3.3.1. „[I]ndignos coronet“; „immeritos damnet“ (WA 18, 731, 10; 731, 12). 304  „[C]um illuc venerimus, ubi iam non credetur, sed revelata facie videbitur“; „revelabitur filius hominis“ (WA 18, 731, 10 f.; 731, 13). 305  „Si autem id movet, quod difficile sit clementiam et aequitatem Dei tueri, ut qui damnet immeritos, hoc est impios eiusmodi, qui in impietate nati non possunt ulla ratione sibi consulere, quin impii sint, maneant et damnentur coganturque necessitate naturae peccare et perire“ (WA 18, 784, 1–4). 303 

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

239

schreiben. In Bezug auf seine Ohnmacht, die eigene schlechte Beschaffenheit zu verändern, kann sich der Mensch fremdbestimmt, gar gezwungen vorkommen. Damit verbunden erfährt er sich nach Luther unzurechnungsfähig in Bezug auf seine Beschaffenheit und in Bezug auf seine aus dieser Beschaffenheit resultierenden Entscheidungen und Handlungen. In welcher begründeten Form Gott den Menschen, die sich so als unzurechnungsfähig erweisen, ihr Verhalten zuzurechnen vermag, sieht Luther der Weisheit Gottes anheimgestellt, der sich letztlich nach Luther auch da gerecht erweist, wo er Menschen ungerecht erscheint.306 Luther hält an der Möglichkeit von Verantwortlichkeit somit – anders als Strawson – fest und wirbt für Vertrauen in Gottes Möglichkeit der Begründung von Verantwortlichkeit, die sich eschatologisch für alle erweisen wird: „Offenbar räumen wir Gott in allen anderen Dingen göttliche Majestät ein, allein bei seinem Gericht sind wir bereit, sie zu verneinen und wir können unterdessen nicht glauben, dass er gerecht ist, obwohl er uns verheißen hat, dass er es sein werde, dass wir alle, sobald er seine Herrlichkeit offenbart hat, dann sehen und greifen, dass er gerecht gewesen ist und es auch jetzt ist.“307

Luthers weitere Darlegung mündet in die Formulierung einer These über drei Lichter, durch deren Vergleich es Luther zufolge nahe liegend erscheinen kann, erst eschatologisch eine plausible Erklärung für Zurechenbarkeit und damit verbunden für das Gerechtsein Gottes zu erhalten.308 Der Mensch im Zustand seiner schlechten Beschaffenheit steht unter dem Licht der Natur (lumen naturae) und findet darin keine Antwort auf die Frage, warum gottesfürchtige Menschen so oft Schlechtes erfahren, während gottlosen Menschen in ihrem Leben hingegen Gutes widerfährt. Wie Hiob steht der Mensch mit dieser Frage über den leidenden Gerechten so lange vor der scheinbaren Ungerechtigkeit Gottes, bis er durch das Licht der Gnade (lumen gratiae) Erleuchtung erfährt. Denn nun wird durch die Erkenntnis des Evangeliums, so Luther, verständlich, dass Gott sich dadurch gerecht erweist, dass er den Glaubenden mit ewigem Heil belohnt, während der Gottlose hingegen verdammt wird. So kann der Glaubende im Licht der Gnade gewiss sein, dass es „ein Leben nach diesem Leben“ gibt, „in welchem all das, was hier nicht bestraft und belohnt wird, dort bestraft und belohnt werden wird“309. Ungelöst bleibt jedoch auch unter dem Licht der Gnade weiterhin die Frage, mit welcher Begründung Gott die Gottlosen unter Voraus306 

Vgl. WA 18, 784, 6–13. „Scilicet in omnibus aliis Deo concedimus maiestatem divinam, in solo iudicio negare parati sumus nec tantisper possumus credere, eum esse iustum, cum nobis promiserit, fore, ubi gloriam suam revelarit, ut omnes tum videamus et palpemus, eum fuisse et esse iustum“ (WA 18, 784, 30–34). 308  Vgl. WA 18, 784, 35–785, 38. 309  „Esse vitam post hanc vitam, in qua, quicquid hic non est punitum et remuneratum, illic punietur et remunerabitur“ (WA 18, 785, 17 f.). 307 

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5. Martin Luther und die Problematik der radikalen Selbstbestimmung

setzung ihres unfreien Willensvermögens verdammt und so zugrunde gehen lässt. In dieser Hinsicht scheint Gott sowohl unter dem Licht der Natur als auch unter dem Licht der Gnade ungerecht. Im Licht der Herrlichkeit (lumen gloriae) wird sich jedoch schließlich erweisen, dass Gott den Gottlosen letztlich gerechterweise verdammt, genauso wie sich bereits im Licht der Gnade erwiesen hat, dass Gott letztlich gerecht handelt, auch wenn Gottlose ein gelingendes und erfülltes, Glaubende hingegen ein leiderprobtes Leben führen. Luther bringt diesen Gedanken einer Strukturanalogie zwischen den verschiedenen Lichtersphären wie folgt zugespitzt zum Ausdruck: „Im Licht der Gnade ist unauflöslich, auf welche Weise Gott den verdammt, der durch seine eigenen Kräfte nichts anderes machen kann als zu sündigen und schuldig zu sein. So sagen hier das Licht der Natur wie das Licht der Gnade immerzu, die Schuld trage nicht der elende Mensch, sondern der ungerechte Gott, und sie können nämlich nicht anders über Gott urteilen, der den gottlosen Menschen umsonst ohne Werke krönt und einen anderen nicht krönt, sondern verdammt, der etwa weniger oder zumindest nicht mehr gottlos ist. Dagegen sagt das Licht der Herrlichkeit immerzu etwas anderes und es wird zeigen, dass Gott, dessen Gericht doch von einer unbegreiflichen Gerechtigkeit war, alsdann von einer vollkommen gerechten und augenscheinlichen Gerechtigkeit ist.“310

Mit diesem Bild der drei Lichter erweist sich schließlich in eindeutiger Weise, dass Luther Verantwortlichkeit an die Möglichkeit und Wirklichkeit des freien Willensvermögens und damit an radikale Selbstbestimmung geknüpft versteht. Dieses an radikale Selbstbestimmung gebundene Verständnis von Zurechenbarkeit und die daraus folgende theologische Problematik der Gerechtigkeit Gottes erweisen sich schließlich als Grund dieses reflektierten Lehrstücks. Ob Luther damit der Theodizeeproblematik entgegenzutreten vermag oder ob und inwieweit er dies beabsichtigt, kann hier dahingestellt sein.311 Ebenso kann dahingestellt sein, ob es jemals, auch eschatologisch, angemessen erscheinen kann, wenn Gott, wie Luther annimmt, Menschen, zurechenbar oder nicht, in Ewigkeit verdammt. Luthers Verständnis der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis findet sich hier jedenfalls unmissverständlich ausgedrückt. Radikale Selbstbestimmung erweist sich als eine notwendige Bedingung für Verantwortlichkeit und somit für jenes Freiheitsverständnis, das als maßgebliches zu verstehen ist, da es Zurechenbarkeit zu gewährleisten vermag. 310  „In lumine gratiae est insolubile, quomodo Deus damnet eum, qui non potest ullis suis viribus aliud facere quam peccare et reus esse. Hic tam lumen naturae quam lumen gratiae dictant, culpam esse non miseri hominis sed iniqui Dei, nec enim aliud iudicare possunt de Deo, qui hominem impium gratis sine meritis coronat et alium non coronat sed damnat forte minus vel saltem non magis impium. At lumen gloriae aliud dictat, et Deum, cuius modo est iudicium incomprehensibilis iustitiae, tunc ostendet esse iustissimae et manifestissimae iustitiae“ (WA 18, 785, 29–37). 311  Vgl. grundsätzlich zur weiteren Auseinandersetzung mit der Drei-Lichter-Lehre: T. Reinhuber: Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio, Berlin, New York 2000, 186–200.

5.3 Luthers Freiheitsverständnis in De servo arbitrio (1525)

241

Mit Blick auf den hier abgeschlossenen Gesamtabschnitt 5.3.3 lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Luther in Dsa einerseits Verantwortlichkeit im Kontext eines schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnisses begründet (5.3.3.1), andererseits Verantwortlichkeit jedoch auch im Kontext eines Freiheitsverständnisses im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung begründet weiß (5.3.3.2). So finden sich hier Argumentationslinien Luthers sowohl gegen als auch für die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis. Letztlich kann mit diesem uneinheitlichen Befund, der sich entsprechend schon zuvor ergab, Luthers Position weder Harry Frankfurt noch Galen Strawson eindeutig zugeordnet werden. Die Frage, wie Luthers Verständnis nun im Kontext der zuvor erarbeiteten Positionen Frankfurts und Strawsons angemessen gedeutet und gar plausibel nachvollziehbar gemacht werden kann, wird im folgenden Kapitel, dem Fazit dieser Untersuchung, zu klären sein.

242

243

6. Fazit Es gilt hier, die Ergebnisse der Darstellung über Luthers Freiheitsverständnis zusammenfassend in ihrem Verhältnis zu den Ergebnissen der Darstellungen über das Freiheitsverständnis bei Harry G. Frankfurt und Galen Strawson zu betrachten. Dies geschieht gemäß den diese Studie leitenden Fragestellungen zum einen in Hinsicht auf die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung und zum anderen in Hinsicht auf die Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis. Schließlich gilt es auch, die These des Zwischenfazits über die Rolle radikaler Selbstbestimmung als unmöglich, aber relevant, von Neuem im Kontext des Freiheitsverständnisses Luthers aufzugreifen. Im Zwischenfazit (Kap. 4) konnte bereits deutlich gemacht werden, dass sowohl Frankfurt als auch Strawson übereinstimmend Möglichkeit und Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung aus prinzipiellen Gründen ausschließen. Die Darstellung über das Freiheitsverständnis Luthers ergab, dass auch Luther diesbezüglich als Vertreter dieser Position zu verstehen ist, wenn er auch in Bezug auf das Verständnis göttlicher Freiheit zu einem anderen Ergebnis gelangt. Gott verfügt nach Luther über Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und über Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung (Abschnitt 5.3.1.2). Doch erklärbar erweist sich diese Freiheit – sowie offenbar jede Form von Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird – für Luther jedoch nicht. In den Abschnitten 5.1 zur Heidelberger Disputation, in 5.2 zur Assertio und schließlich in 5.3.1.1 in Hinsicht auf Dsa zeigte sich Luthers vielseitig angelegte Argumentation zunächst gegen die Wirklichkeit und ebenso gegen die grundsätzliche Möglichkeit sowohl von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst als auch von Freiheit, die radikale Selbstbestimmung zur notwendigen Bedingung hat. So erweist sich als zutreffend, Luthers Freiheitsverständnis, im Hinblick auf die Möglichkeit und die Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung, Frankfurts und Strawsons gemeinsamer Haltung eindeutig zuzuordnen. Die Antwort auf die Frage, welche Position Luthers Haltung im Horizont der Freiheitsvorstellungen Frankfurts und Strawsons hinsichtlich der Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis einnimmt, erscheint hingegen uneindeutig und bedarf einer differenzierten Beschreibung. Denn Luthers Position hinsichtlich dieser Frage lässt sich weder Frankfurts noch Strawsons Position eindeutig zuordnen. Vielmehr muss als Fazit festgehal-

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6. Fazit

ten werden, dass sich unterschiedliche, systematisch unvereinbare Argumentationsstrategien bei Luther finden, die ihn inhaltlich zum einen Teil nahe an Frankfurts schlicht-kompatibilistische Freiheitstheorie, zum anderen Teil nahe an Strawsons Impossibilismus heranführen. Luther weist die Relevanz radikaler Selbstbestimmung für Freiheit zurück, indem er eine Argumentationslinie für das natürliche Verständnis schlicht-kompatibilistischer Freiheit verfolgt. Dies zeigt sich in der Darstellung zu Luthers Freiheitsverständnis in der Assertio (Abschnitt 5.2) sowie hinsichtlich Dsa im Rahmen der Darstellung über die Unmöglichkeit der radikalen Selbstbestimmung beim Menschen (Abschnitt 5.3.1.1) sowie in der Darstellung über Luthers Verständnis der Struktur und der inhaltlichen Bestimmtheit des schlicht verstandenen Kompatibilismus (Abschnitt 5.3.2). Schließlich entwirft Luther sogar Ansätze zu einem Konzept schlicht-kompatibilistischer Deutung von Zurechenbarkeit (Abschnitt 5.3.3.1). Unter Heranziehung allein dieser Befunde ließe sich Luther analog zur Position Frankfurts deuten. Jedoch zeigen abweichende Befunde, dass Luther nicht eindeutig in dieser Weise verstanden werden kann und er radikaler Selbstbestimmung durchaus Relevanz zuzumessen scheint. So unterscheidet sich Luthers Freiheitsverständnis von demjenigen Frankfurts zum Ersten dadurch, dass er schlicht-kompatibilistische Freiheit nicht konsequent als die eigentliche Freiheit bezeichnet und er ferner freimütig anerkennt, dass in seiner Perspektive gerade nicht schlicht-kompatibilistische Freiheit, sondern Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst das eigentliche und übliche Freiheitsverständnis darstellt. Dies wird hinsichtlich der Argumentation für die Unmöglichkeit radikaler Selbstbestimmung beim Menschen zum einen in Abschnitt 5.2 zur Assertio und zum anderen in Abschnitt 5.3.1.1 zu Dsa deutlich. Luthers Freiheitsverständnis unterscheidet sich zum Zweiten von demjenigen Frankfurts, insofern Luther Zurechenbarkeit an Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung gebunden auffasst. Dies wird unmissverständlich daran erkennbar, dass Luther gegenüber Erasmus die Ungerechtigkeit Gottes aus dem Grund eingesteht, dass Gott den sündigen Menschen verdammt, obgleich er nicht als zurechnungsfähig betrachtet werden kann (Abschnitt 5.3.3.2 zu Luthers in Dsa entfaltetem Verständnis der Begründung von Verantwortlichkeit durch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung). Luthers Freiheitsverständnis zeigt sich damit im Kontext der Darstellung über das Freiheitsverständnis bei Frankfurt und bei Strawson inhaltlich spannungsreich. Dass Luther eine schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit analog zu Frankfurt in weiten Teilen seiner Äußerungen als ein angemessenes Freiheitsverständnis auffasst, scheint einerseits eine angemessene Deutung darzustellen. Doch bleibt eine wesentliche Differenz zwischen Luther und Frankfurt darin bestehen, dass Luther Zurechenbarkeit offensichtlich nicht hin-

6. Fazit

245

reichend schlicht-kompatibilistisch begründet erkennt und überhaupt inkompatibilistischen Intuitionen für das Freiheitsverständnis Bedeutung zuerkennt. Entsprechend scheint es ebenfalls eine angemessene Deutung darzustellen, Luther folge den von Strawson beschriebenen inkompatibilistischen Intuitionen und knüpfe analog zu Strawson Verantwortlichkeit an die notwendige Bedingung radikaler Selbstbestimmung. Doch bleibt auch hier eine wesentliche Differenz zwischen Luther und Strawson schließlich darin bestehen, dass Luther an der Möglichkeit von Verantwortlichkeit dennoch festhält. Zwar steht Luther, wie er bekennt, keine seinen inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werdende Begründung von Zurechenbarkeit zur Verfügung, doch lässt sich Luther dennoch nicht als Impossibilist analog zu Strawson verstehen. Denn er hält letztlich fest an der Möglichkeit und Wirklichkeit von Verantwortlichkeit, auch wenn jenes diese Verantwortlichkeit begründende theoretische Freiheitskonzept ihm in Gottes Ratschluss verborgen erscheint. Luther zufolge wird sich dieser jetzt verborgene Ratschluss Gottes für die Menschen im lumen gloriae schließlich zugänglich erweisen. Zu fragen bleibt, wie sich dieses Freiheitsverständnis Luthers, das sich als spannungsreich zwischen den Theorien Frankfurts und Strawsons darstellt, in den Kontext der im Zwischenfazit formulierten These zur Rolle radikaler Selbstbestimmung einordnen lässt. Im Zwischenfazit konnte festgehalten werden, dass sich die Kontroverse zwischen den Grundrichtungen in der angelsächsischen analytisch-philosophischen Freiheitsdebatte als Intuitionenstreit zwischen schlicht-kompatibilistischen und inkompatibilistischen Intuitionen zugunsten keiner der beiden Alternativen eindeutig entscheiden lässt. Einzig die Beobachtung, dass eine konsequente Vertreterin oder ein konsequenter Vertreter einer schlicht-kompatibilistischen Freiheitstheorie im Sinn Frankfurts – wie etwa Moritz Schlick – sich naturgemäß erheblich darüber zu wundern hat, dass diese schlicht-kompatibilistische, analytisch durchaus kohärente Lösung der Freiheitsproblematik nicht das Ende der Diskussion um Freiheit herbeiführt, kann einen entscheidenden Hinweis darauf geben, dass ein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis im Sinn Frankfurts als für die Freiheitsproblematik ungenügend beschrieben werden muss. Es bedarf eines stärkeren Freiheitsverständnisses im Sinn eines unabhängigen Selbst bzw. in Reflexion über dessen Implikationen letztlich radikaler Selbstbestimmung, um Zurechenbarkeit angemessen begründen und das Selbstverständnis menschlicher Handlungssubjekte angemessen beschreiben zu können. Radikale Selbstbestimmung ist als unmöglich, aber in Hinsicht auf das menschliche Selbstverständnis und besonders in Hinsicht auf ihre Rolle zur Begründung von Zurechenbarkeit als relevant für das Freiheitsverständnis zu erachten. Diese These scheint sich nun im Zusammenhang mit Luthers Freiheitsverständnis zu bestätigen. Denn tatsäch-

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6. Fazit

lich kann gerade Luthers spannungsreiches bzw. uneinheitliches Freiheitsverständnis unter Heranziehung dieser These nachvollziehbar erscheinen. Es wurde in den zurückliegenden Darstellungen über Strawsons Sicht der Freiheitsproblematik (Abschnitt 3.4) deutlich, dass ein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis darin durchaus seine Stärke besitzt, intuitiv plausiblen schlicht-kompatibilistischen Intuitionen zu entsprechen. Zugleich wurde jedoch auch deutlich, dass dieses schlicht-kompatibilistische Freiheitsverständnis darin seine elementare Schwäche besitzt, inkompatibilistischen Intuitionen in Bezug auf das Selbstverständnis von Handlungssubjekten und besonders in Bezug auf das Verständnis von Zurechenbarkeit nicht gerecht werden zu können. Gleichzeitig wurde sowohl in den Darstellungen über Frankfurt als auch über Strawson deutlich, dass Freiheitskonzepte, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden wollen, vor grundlegenden Problemen stehen. Sofern Indeterminismus zur Gewährleistung einer den inkompatibilistischen Intui­ tionen gerecht werdenden Freiheitskonzeption herangezogen wird, scheinen freie Handlungen bzw. Entscheidungen dieser Freiheitskonzeption mit rein zufälligen Handlungen bzw. Entscheidungen verwechselbar. Sofern Indeterminismus in diesen Freiheitskonzepten vermieden wird, scheinen sie als nicht schlicht verstandene kompatibilistische Freiheitstheorien, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden, ebenfalls zu scheitern. So etwa im Fall der Freiheitsvorstellung im Sinn eines unabhängigen Selbst, da diese Freiheitsvorstellung, die Handlungen bzw. Entscheidungen nicht auf Gründe eines Handlungssubjekts zurückführt, nicht zu erklären vermag, wie eine Handlung bzw. Entscheidung auf das unabhängig agierende Handlungssubjekt zurückzuführen ist. Und so schließlich auch im Fall der Freiheitsvorstellung im Sinn radikaler Selbstbestimmung, da diese Freiheitsvorstellung in einen infiniten Regress erklärender Gründe und Ursachen von Handlungen bzw. Entscheidungen führt. Luthers Freiheitsverständnis lässt sich nun im Kontext dieser Überlegungen als durchaus nachvollziehbares Freiheitsverständnis deuten. Angenommen, Luther weiß um die Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen, während er zugleich weder inkompatibilistische Freiheit noch inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigende nicht schlicht-kompatibilistisch verstandene Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung für möglich erachtet – das heißt, angenommen, Luther kennt keine Möglichkeit einer Freiheitstheorie, welche die von ihm als relevant erkannten inkompatibilistischen Intuitionen berücksichtigt –, dann wird verständlich, warum Luther für die ihm ebenfalls durchaus plausibel erscheinende Freiheitstheorie des schlicht verstandenen Kompatibilismus argumentiert. Denn Luther erkennt auch die von Strawson beschriebenen wirkmächtigen schlicht-kompatibilistischen Intuitionen, nach denen die Relevanz radikaler Selbstbestimmung zurückzuweisen ist. Schließlich führt Luther aber sein ihm unleugbar erscheinendes Wissen um die Relevanz der inkompatibilistischen Intuitionen letztlich dazu, wiederum

6. Fazit

247

ein entscheidendes Defizit des Freiheitsverständnisses im Sinn des schlicht verstandenen Kompatibilismus einzugestehen und die Relevanz radikaler Selbstbestimmung, die sich für ihn in Reflexion über das übliche Freiheitsverständnis im Sinn eines unabhängigen Selbst ergibt, deutlich hervortreten zu lassen. Im Hintergrund von Luthers uneinheitlicher Position zur Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis zeigt sich sowohl die mächtige intuitive Plausibilität des schlicht verstandenen Kompatibilismus als auch die unbestreitbare Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen. Im Horizont dieser These über Luthers Freiheitsvorstellung erscheint Luthers uneinheitliche Position zur Frage nach der Relevanz radikaler Selbstbestimmung schließlich plausibel. In dieser Position spiegeln sich die elementaren, auch die Freiheits­theo­ rie­ge­schichte prägenden Grundschwierigkeiten der Freiheitsproblematik, die sich infolge der wirkmächtigen Plausibilität schlicht-kompatibilistischer Freiheitsvorstellungen auf der einen Seite und der wirkmächtigen Plausibilität von inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigenden Freiheitsvorstellungen auf der anderen Seite ergeben – wobei sich beide Plausibilitäten, Strawsons Analyse der Freiheitsproblematik zufolge, ausgehend von dem natürlichen Selbstverständnis eines Handlungssubjekts als unabhängiges Selbst nachvollziehen lassen.1 Luthers uneinheitliche Sicht zur Relevanz radikaler Selbstbestimmung stellt somit unter Berücksichtigung von Strawsons Deutung der Freiheitsproblematik schließlich ein deutliches Indiz für die These des Zwischenfazits dar, dass radikale Selbstbestimmung zwar als unmöglich, dennoch aber als relevant für das Freiheitsverständnis zu verstehen ist. Luther erwartet ein noch in Gottes Ratschluss verborgenes Freiheitsverständnis, das in der Lage ist, einerseits den inkompatibilistischen Intuitionen gerecht zu werden und das andererseits nicht in der Gefahr steht, an den bekannten Schwierigkeiten zu scheitern: Das heißt etwa im Fall inkompatibilistischer Freiheitstheorien daran zu scheitern, freie Handlungen bzw. Entscheidungen mit zufälligen zu verwechseln. Oder im Fall von Freiheitstheorien im Sinn eines unabhängigen Selbst daran zu scheitern, freie Handlungen bzw. Entscheidungen nicht als selbstbestimmte in Rückführung auf Gründe eines Handlungssubjekts beschreiben zu können. Oder schließlich im Fall von Freiheitstheorien im Sinn radikaler Selbstbestimmung daran zu scheitern, einen infiniten Regress von Gründen nicht beenden zu können. Dem eschatologischen Vorbehalt und Luthers Hoffnung auf das lumen gloriae gilt die Aufmerksamkeit im letzten, nun folgenden Kapitel. Im Zentrum steht dabei die Idee eines Kompatibilismus, der die Schwäche des schlicht verstandenen Kompatibilismus überwindet und der sich dabei nicht als unmöglich erweist wie die Freiheitsvorstellung im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung.

1 S. o.

Abschnitt 3.4.

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7. Ausblick: Was ist im lumen gloriae zu erwarten? In diesem letzten Kapitel steht der Fragenkomplex im Zentrum, von welcher Art ein angemessenes Freiheitsverständnis beschaffen sein muss bzw. welches Freiheitsverständnis sich eschatologisch als richtig herausstellen könnte. Zunächst wird die im Zwischenfazit und im Fazit deutlich gewordene Grundproblematik aufgegriffen: Freiheit im Sinn Frankfurts, das heißt schlicht verstandener Kompatibilismus, scheint einer angemessenen Auffassung von Zurechenbarkeit und einer angemessen Beschreibung des Selbstverständnisses menschlicher Handlungssubjekte letztlich nicht zu genügen. Über die Erörterung der denkbaren Möglichkeiten, wie das eigentliche, eschatologisch zu erwartende Freiheitsverständnis beschaffen sein könnte, gelangt der Gedankengang zur These einer Freiheitstheorie, nach der radikale Selbstbestimmung als relevant und möglich aufgefasst werden kann. Dieses Freiheitsverständnis zeigt einerseits bereits unter endlichen Bedingungen sein Potential darin, Zurechenbarkeit angemessen zu begründen. Andererseits jedoch erweist sich seine intuitive Plausibilität wohl erst in eschatologischer Perspektive, scheint seine Begründung von Zurechenbarkeit unter endlichen Bedingungen doch letztlich dem Einwand der Anstößigkeit ausgesetzt werden zu können. Luthers Freiheitsverständnis verfolgt in seiner wesentlichen Intention die Zurückweisung der Möglichkeit von Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung sowie Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst. Zum einen erscheinen Luther diese Freiheitsvorstellungen an sich nicht konsistent begründbar und damit unmöglich, zum anderen erachtet er sie auch mit dem sich in Gottes Allwirksamkeit begründeten und das Heilsgeschehen sola gratia wahrenden Determinismus als unvereinbar. Tatsächlich stehen die Vorstellungen über Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung, wie dargestellt wurde, an sich nicht im Widerspruch zum Determinismus, sondern sie müssen als kompatibilistische Freiheitsvorstellungen, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden, verstanden werden. Dass Luther diese beiden Freiheitskonzepte jedoch nicht nur aufgrund ihrer sich originell ergebenden Unmöglichkeit, sondern auch aufgrund des von ihm wahrgenommenen Widerspruchs zum De-

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terminismus ablehnt, erscheint, wie deutlich wurde, unter Bezugnahme auf Strawsons Deutung der Freiheitsproblematik schließlich nicht verwunderlich. Denn intuitiv plausibel stellen sich diese beiden sich entgegenstehenden Freiheitsvorstellungen dar: Freiheit im Sinn des schlichten Kompatibilismus und Freiheit, die inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigt – dazu gehört neben tatsächlicher inkompatibilistischer Freiheit auch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst, das heißt die natürliche Selbstwahrnehmung menschlicher Handlungssubjekte, und Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung, die sich in Reflexion über Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst ergibt. Dass sich bei Luther eben diese beiden sich gegenüber stehenden Vorstellungen zeigen, kann, wie im Fazit ersichtlich wurde, als deutliches Indiz für das Zutreffen von Strawsons Deutung der Freiheitsproblematik gelten. Intuitiv werden die beiden an sich kompatibilistischen Freiheitsvorstellungen im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung, die inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigen, als inkompatibilistische Theorien verstanden.1 Für Luther stellt sich die Sachlage wie folgt dar: Würde Freiheit existieren, die in Widerspruch zu dem in Gottes Allwirksamkeit begründeten theologischen Determinismus steht, würde der Mensch nicht mehr sola gratia gerecht gesprochen werden. So hält Luther an seiner Ablehnung von inkompatibilistischer Freiheit und auch von jeder inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werdenden Freiheit auch um den von ihm anerkannten hohen Preis der Unerklärbarkeit von Zurechenbarkeit und der ihr folgenden Infragestellung der Gerechtigkeit Gottes fest. Luther glaubt nicht, sich diesen Preis unter Heranziehung eines schlicht-kompatibilistischen Freiheitsverständnisses, entsprechend jenem Harry Frankfurts, ersparen zu können und in dieser Haltung gilt es Luther zu folgen, werden doch so bei ihm in angemessener Weise unabweisbare inkompatibilistische Intuitionen ernst genommen und die vermeintlich einfache schlicht-kompatibilistische Lösung vermieden. Für Luther bleiben die Folgeprobleme seiner These über die Unmöglichkeit von Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung bestehen: zum einen die unerklärliche menschliche Zurechenbarkeit und zum anderen die in Frage gestellte Gerechtigkeit Gottes, der unzurechenbare Menschen verdammt. Diese Folgeprobleme erscheinen Luther zwar unter irdischen Bedingungen, jedoch nicht prinzipiell unlösbar. Luther setzt seine Hoffnung auf das lumen gloriae, in dem sich zeigen soll, wie diese Probleme gelöst werden können. 2 1  Sieht Luther auch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung fälschlicherweise im Widerspruch zum Determinismus, so würde sich dennoch freilich keine Lösung ergeben, wenn Luther ihre Vereinbarkeit mit dem Determinismus anerkennen würde. Denn diese durchaus kompatibilistischen Lösungen, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden, bleiben wie gezeigt dennoch unmöglich – anders als der zweifelsfrei mögliche schlichte Kompatibilismus. 2  Vgl. WA 18, 784, 35–785, 38.

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Wie zu Beginn der Darstellungen über Dsa gezeigt wurde3, haben zahlreiche protestantische Theologinnen und Theologen die Folgeprobleme der These vom unfreien Willen für so gewichtig und inakzeptabel gehalten und zugleich sich nicht damit zufrieden gegeben, eine Lösung erst im lumen gloriae zu erwarten, dass sie schließlich von Luthers eindeutiger Zurückweisung eines freien Willensvermögens abwichen. Damit gaben sie jedoch jene Grundeinsicht des Protestantismus, dass Gott den Menschen ganz ohne sein Zutun zum Heil führt, preis. Nach wie vor stellt sich diese Schwierigkeit ungelöst dar und es scheint keine angemessene Möglichkeit vorstellbar, an der das sola gratia wahrenden These von der Unfreiheit des Willensvermögens festzuhalten, ohne die Folgeprobleme der menschlichen Unzurechnungsfähigkeit und der göttlichen Ungerechtigkeit in Kauf nehmen zu müssen. Es besteht theologisch wie philosophisch nach wie vor die Schwierigkeit, Zurechenbarkeit und ein Freiheitskonzept, das sich dem Anspruch, inkompatibilistische Intuitionen ernst zu nehmen, verpflichtet weiß, zu vereinbaren. So ergibt sich zum einen das philosophische Problem, ein inkompatibilistischen Intuitionen entsprechendes Freiheitsverständnis konsistent zu begründen, das auch dem angemessenen Verständnis von Zurechenbarkeit entspricht. Zum anderen ergibt sich insbesondere für protestantische Theologinnen und Theologen das zusätzliche theologische Problem, die Zuschreibung der menschlichen Fähigkeit zur Selbstrechtfertigung zu vermeiden und so am Rechtfertigungsgeschehen als Geschehen sola gratia festzuhalten, wenn – um der Erklärung der Zurechenbarkeit willen – eine konsistente Begründung eines den inkompatibilistischen Intuitionen entsprechenden Freiheitsverständnisses angenommen wird.4 Luthers Verweis auf das lumen gloriae hinsichtlich einer befriedigenden Lösung dieser Problematik scheint letztlich unverzichtbar. Doch lässt sich vielleicht ein erster, freilich irdischer Zwischenschritt auf dem Weg in Richtung Eschaton gehen. Dieser Schritt vermag womöglich einen Beitrag dazu leisten, die Hoffnung auf das lumen gloriae in gewisser Weise zu bestärken, indem, gänzliche Ratlosigkeit überwindend, eine Idee des eigentlichen, eschatologisch erwartbaren Freiheitsverständnisses skizziert und damit verbunden Zurechenbarkeit in angemessener Weise bereits unter irdischen Bedingungen begründet werden kann. Unter Heranziehung der Leitfragen dieser Untersuchung nach Möglichkeit (bzw. Wirklichkeit) und nach Relevanz radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis ergeben sich theoretisch vier Möglichkeiten, wie die Rolle radikaler Selbstbestimmung für das Freiheitsverständnis im lumen gloriae be3 S. o.

Abschnitt 5.3. Diese Begründung erachtet Luther freilich – analog zu Strawson und zu Frankfurt – für unmöglich. 4 

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stimmt sein kann. Radikale Selbstbestimmung kann als unmöglich und irrelevant, als unmöglich und relevant, als möglich und relevant sowie als möglich und irrelevant beschrieben werden. Die letzte der vier Optionen, möglich und irrelevant, erscheint wenig sinnvoll und ist daher als Erwartungshorizont für das lumen gloriae sogleich auszuschließen. Die beiden zuerst genannten Optionen geben die Positionen Frankfurts und Strawsons wieder – Frankfurt erachtet radikale Selbstbestimmung für unmöglich und irrelevant, Strawson für unmöglich und relevant. Strawsons Position erscheint eschatologisch unbefriedigend, würde sich doch so im lumen gloriae zeigen, dass tatsächlich keine angemessene Begründung von Zurechenbarkeit möglich ist, auf die Luther seine theologisch fundierte Hoffnung setzt. Frankfurts Position bildet hingegen eine erste ernst zu nehmende Position eines Verständnisses, das sich tatsächlich als eschatologisch angemessenes Freiheitsverständnis erweisen könnte. Auf diese Weise würde sich zeigen, dass das menschliche Selbstverständnis in der Weise irregeleitet war, dass es sich im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn letztgültiger Verantwortlichkeit, die radikale Selbstbestimmung als Begründung voraussetzt, vollkommen missverstand. Die im Zwischenfazit (Kap. 4) und Fazit (Kap. 6) beschriebenen inkompatibilistischen Intuitionen, deren Bedeutung sich angesichts der hartnäckig andauernden Freiheitsdebatte nicht zurückweisen lässt, würden sich so vollständig als Problematik der sündigen Existenz des Menschen erweisen und eschatologisch entsprechend auflösen. Diese Position mag auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, löst sie doch die Freiheitsproblematik anscheinend mit einem Mal grundsätzlich und besticht sie in ihrer Eindeutigkeit. Die Attraktivität dieser Lösung erscheint nicht verwunderlich, da sie die Vorteile des natürlichen schlicht verstandenen Kompatibilismus genauso genießt, wie die klassische schlicht-kompatibilistische Lösung im Kontext der Frage nach dem angemessenen irdischen Freiheitsverständnis. Das heißt diese Position gewinnt ihre große Plausibilität besonders dadurch, dass sie eine in sich kohärente und schlüssige Theorie darstellt und zugleich auf die Unerklärlichkeit bzw. Problematik inkompatibilistischer Freiheit und auch Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und im Sinn radikaler Selbstbestimmung, das heißt kompatibilistischer Freiheit, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, verweisen kann. Zugleich könnte auch theologisch argumentiert werden, dass das Streben nach einer inkompatibilistische Intuitionen berücksichtigenden Freiheit schließlich als der Sündhaftigkeit geschuldetes Streben nach der Freiheit, die allein Gott gebührt, grundsätzlich zurückzuweisen ist. Wurde in dieser Arbeit – wie im Zwischenfazit, Fazit und zu Beginn dieses Kapitels deutlich wurde – Position zugunsten der Relevanz inkompatibilistischer Intuitionen und radikaler Selbstbestimmung für das irdische Freiheitsverständnis bezogen, so wäre nun der Punkt erreicht, diese zwar für das irdische Freiheitsverständnis anerkannte Relevanz

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hinsichtlich des eschatologisch zu erwartenden Freiheitsverständnisses zu verabschieden. Tatsächlich erweist sich diese Haltung jedoch weniger nahe liegend als die Hoffnung darauf, auch im Hinblick auf das lumen gloriae ein Freiheitskonzept zu erwarten, das den inkompatibilistischen Intuitionen nach wie vor Relevanz beimisst. Denn die Annahme, dass sich ein schlicht-kompatibilistisches Freiheitsverständnis – analog zu Frankfurts Verständnis – als das eschatologisch zutreffende erweisen wird, stellt sich angesichts der erkannten Zusammenhänge über Freiheit als nicht mehr als eine rätselhafte Vorstellung dar. Unter irdischen Bedingungen erscheint Zurechenbarkeit letztlich an das Selbstverständnis des Menschen als unabhängiges Selbst geknüpft. Dieses Verständnis zeigt sich auch in grundsätzlichem Zusammenhang mit unserem Personen-Verständnis, unserer Reaktivität und unserem Bewusstsein, als Individuen zu existieren. All diese Aspekte des menschlichen Selbstverständnisses scheinen an eben die inkompatibilistischen Intuitionen geknüpft, wie Strawson in seiner phänomenologischen Analyse der Freiheit – dargestellt in Abschnitt 3.4 – plausibel darlegt. Daher bleibt eine Vorstellung menschlicher Freiheit, die auf diese fundamentalen Einsichten verzichten möchte, eine leere und ungreifbare Vorstellung. Natürlich spricht in dem Sinn nichts dagegen, die schlicht-kompatibilistische Vorstellung eschatologisch zu erwarten, wie grundsätzlich alles eschatologisch zu erwarten sein könnte. Was hier jedoch zu erwarten wäre, lässt sich angesichts der irdisch elementaren Bedeutung inkompatibilistischer Intuitionen nicht bestimmen. – Wird hingegen ein eschatologisches Freiheitskonzept erwartet, das die inkompatibilistischen Intuitionen als relevant anerkennt, so kann letztlich erkennbar werden, wie Menschen im Verständnis ihrer Personalität, ihrer Reaktivität und ihrer Individualität eschatologisch denkbar sind. Somit verbleibt als letzte Option wohl allein die dritte Variante: radikale Selbstbestimmung muss eschatologisch als möglich und relevant erachtet werden. Ergibt sich darin nun die Lösung der Freiheitsproblematik? Dies ist keineswegs der Fall. Denn auch dieses Modell sieht sich mit enormen, womöglich noch bedeutsameren Schwierigkeiten konfrontiert, die es hier zu erörtern gilt. Zum einen erwies sich radikale Selbstbestimmung bei Luther als Gottesprädikat, das dem Menschen verständlicherweise auch eschatologisch grundsätzlich nicht zukommen kann. So gilt es, die blasphemische Konsequenz entschieden zu vermeiden, den Menschen im lumen gloriae zu einem Gott zu machen, um seine Zurechenbarkeit zu begründen. Zum anderen scheint mit der Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung die Zurechenbarkeit des Menschen nicht allein zur gerecht erfolgenden Verdammung der Sünderin bzw. des Sünders gewonnen zu werden, sondern auch zur gerecht erfolgenden und damit nicht unverdienten Rechtfertigung der Sünderin bzw. des Sünders.5 Zeigte sich das protestantische 5 

Vgl. bei Luther etwa WA 18, 730, 28–34.

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Anliegen im Aufweis der Unfreiheit des Willensvermögens doch gerade darin, das Rechtfertigungsgeschehen sola gratia zu wahren, so schiene eine begründbare, gerechte Verdammung der Sünderin bzw. des Sünders das unverdiente, quasi erwünschtermaßen ungerechte Rechtfertigungsgeschehen zu verunmöglichen. Damit wäre unter Annahme der Möglichkeit und Wirklichkeit radikaler Selbstbestimmung der Mensch zum einen zu einem Gott erhoben und zum anderen nicht sola gratia gerechtfertigt. Diesen Einwänden gilt es zunächst unmissverständlich zuzustimmen. Scheint damit als das zu erwartende Freiheitsverständnis doch wieder jenes Frankfurts nahe zu liegen, das letztlich ungeachtet seiner Gestaltlosigkeit relativ gesehen bei Weitem akzeptabler erscheint? Dies mag zwar eine verständliche Schlussfolgerung darstellen, nach wie vor jedoch keine befriedigende. Die weitere Suche kann schließlich nur dahin führen, ein durchaus kompatibilistisches Freiheitsverständnis zu erwarten, das jedoch, anders als Frankfurts Modell, Zurechenbarkeit in dem hohen Anspruch inkompatibilistischer Intuitionen, in Strawsons Begrifflichkeit im Anspruch letztgültiger Verantwortlichkeit, zu begründen vermag. Ein solches Freiheitskonzept gilt es wohl angemessenerweise für den Menschen im lumen gloriae zu erwarten. Doch existieren auch gute Gründe für die Denkbarkeit eines solchen Konzepts? Schließlich zeigte sich bislang, dass Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und als Ergebnis ihrer Reflexion Freiheit im Sinn radikaler Selbstbestimmung, die solch kompatibilistische Freiheitsvorstellungen, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werden, darstellen, nicht konsistent begründet werden können. Folgende Überlegungen verstehen sich als Vorschlag, an die Denkbarkeit und Plausibilität einer anderen kompatibilistischen Freiheitstheorie, die inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, heranzuführen. Die beiden oben als gewichtige Einwände beschriebenen Folgen der menschlichen Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung lassen sich möglicherweise vermeiden, wenn menschliche radikale Selbstbestimmung in einer Art verstanden werden kann, die nicht mit jener göttlichen Weise identisch bzw. zu verwechseln ist. So scheint denkbar, dass der Mensch in einer Weise zu radikaler Selbstbestimmung fähig sein kann, die es ermöglicht, dem Selbstverständnis des Menschen als unabhängiges Selbst gerecht zu werden und Zurechenbarkeit angemessen zu begründen, ohne dass der Mensch zu einem Gott werden muss und ohne die Rechtfertigung sola gratia wiederum korrumpieren zu müssen. Das Freiheitskonzept, das Zurechenbarkeit im Sinn radikaler Selbstbestimmung zu begründen vermag, kann tatsächlich nicht durch die Fähigkeit, im ontologischen Verständnis causa sui zu sein, begründet werden, wäre ansonsten die menschliche Freiheit doch tatsächlich gleich der Freiheit Gottes und der Mensch wäre schließlich wirklich zu seiner eigenen Erlösung fähig. Die Varianten Frankfurts und Strawsons zur Begründung von Zurechenbarkeit lassen sich bekanntermaßen wie folgt darstellen: In Frankfurts Verständnis

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identifiziert sich ein Handlungssubjekt mit seiner Entscheidung bzw. mit seiner Handlung im Sinn der Freiwilligkeit bzw. der wholeheartedness und erweist sich durch diese Form von Identifikation als zurechenbar in Hinsicht auf die Entscheidung bzw. Handlung. In Strawsons Verständnis identifiziert sich ein Handlungssubjekt mit seiner Entscheidung bzw. mit seiner Handlung im Sinn radikaler Selbstbestimmung und erweist sich durch diese Form von Identifikation als entsprechend zurechenbar. Zeigt sich Frankfurts Modell als zu schwach und Strawsons Modell als menschlich unmöglich und durch die genannten Einwände zudem als theologisch unhaltbar, so erscheint eine, gewissermaßen zwischen diesen beiden Modellen liegende Lösung erstrebenswert. Ein Ansatz zu einer solchen Lösung könnte sich vielleicht folgendermaßen skizzieren lassen: Die Identifikation eines Handlungssubjekts mit seiner Entscheidung bzw. Handlung begründet nicht aufgrund ontologischer, göttlicher radikaler Selbstbestimmung Zurechenbarkeit im Sinn der inkompatibilistischen Intuitionen, sondern aufgrund einer Art unausweichlicher, menschlicher radikaler Selbstbestimmung. In welcher Weise sich dieses Verständnis von radikaler Selbstbestimmung im Sinn des ontologischen, göttlichen Verständnisses unterscheidet und wie es dennoch zur Begründung von Zurechenbarkeit, die dem Anspruch inkompatibilistischer Intuitionen genügt, beiträgt, lässt sich in gewisser Weise anhand einiger Ausführungen bei Jean-Paul Sartre beschreiben. Sartres Freiheitsverständnis kann möglicherweise als Theorie eben dieser unausweichlichen, menschlichen radikalen Selbstbestimmung gedeutet werden. Zumindest zeigen sich in Sartres Freiheitstheorie einige Aspekte, die erkennen lassen, dass Sartre wohl ebenfalls ein Freiheitsverständnis anstrebt, das radikale Selbstbestimmung in gewisser Weise als relevant und möglich bzw. wirklich erachtet. Sartre definiert in Das Sein und das Nichts im Abschnitt „Freiheit und Verantwortlichkeit“ das Wort Verantwortlichkeit als „Bewußtsein (davon), der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstands zu sein“6. ­Sartre scheint damit die von Strawson beschriebene Unausweichlichkeit, sich als unabhängiges Selbst zu verstehen, vor Augen zu haben.7 Doch Sartre erkennt hierin auch einen Grund dafür, Verantwortlichkeit als unausweichlich zu verstehen. Nach Sartre muss jedes Ereignis, das einem Handlungssubjekt begegnet, im Modus seiner Freiheit beschrieben werden.8 Nicht ein einziges Ereignis begeg6 

J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), hg. v. T. König, dt. v. H. Schöneberg und T. König, 13. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2007, 950. 7 S. o. Abschnitt 3.4. 8  Sartre identifiziert die Existenz des Menschen schließlich mit Freiheit: „Was wir Freiheit nennen, ist also unmöglich vom Sein der ‚menschlichen-Realität‘ zu unterscheiden. Der Mensch ist keineswegs zunächst, um dann frei zu sein, sondern es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem ‚Frei-sein‘“ (J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 84, Herv. i. O.).

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net dem Menschen unabhängig von seiner Freiheit, durch die er sich alle ihm begegnenden Ereignisse unvermeidbar aneignet.9 Mit der für den Menschen unvermeidbaren Freiheit erweist sich eine entsprechende, unvermeidbare Zurechenbarkeit notwendig verbunden. So bleibt es einem Handlungssubjekt nach Sartre grundsätzlich unmöglich, sich „dieser Verantwortung entziehen zu können, und sei es für einen Augenblick, denn selbst für mein Verlangen, die Verantwortlichkeiten zu fliehen, bin ich verantwortlich; mich in der Welt passiv machen, mich weigern, auf die Dinge und auf die anderen einzuwirken heißt immer noch mich wählen“10.

Zurechenbar erscheint der Mensch in Sartres Verständnis nicht allein dann, wenn er sich im Bereich seiner vorfindlichen Wünsche mit einem derselben identifiziert – etwa im Sinn von Frankfurts wholeheartedness – sondern der Mensch kreiert im Modus seiner unvermeidlichen, spontanen Freiheit all das, was ihm begegnet und verleiht ihm insofern Bedeutung, als er sich somit auch alles zu eigen macht. In diesem Sinn ließe sich Sartres Verständnis von Freiheit wohl auch als unausweichliche, menschliche radikale Selbstbestimmung deuten. Jeder Moment menschlichen Bewusstseins erweist sich als ständige Wahl, als ununterbrochen freies Entscheiden und Handeln, das durch keinerlei Fremdbestimmung unterbunden werden kann, eignet sich der Mensch nach Sartre seine Wahrnehmung einer Fremdbestimmung doch je wiederum im Modus seiner notwendig vorausgesetzten Freiheit an.11 Zwar ist der Mensch nicht Grund seiner selbst im ontologischen Sinn, was Sartre explizit festhält12, aber dennoch erfährt sich das menschliche Handlungssubjekt in jedem Augenblick seiner bewussten Existenz als frei im Sinn eines unabhängigen Selbst und vermag diese Freiheit und die mit ihr notwendig verbundene Zurechenbarkeit prinzipiell nicht abzustreiten. Das menschliche Handlungssubjekt stößt nach Sartre immerzu auf seine eigenen Entwürfe, sodass menschliche Existenz lediglich darin besteht, „daß ich dazu verurteilt bin, vollständig für mich selbst verantwortlich zu sein“13.

 9 Vgl. entsprechend die hervorragende Rekonstruktion des Freiheitsverständnisses S­ artres bei Ulrich Pothast: U. Pothast: Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. Zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und Recht, Frankfurt a.M. 1980, 87–105. 10  J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 954. 11  Vgl. z.B. Sartres Beispiel über das Vorhaben, mit dem Fahrrad auf schnellstem Weg die Nachbarstadt zu erreichen. Eine Reifenpanne scheint dabei nur vermeintlich eine unvermeidbare Widrigkeit darzustellen, erkennt ein Handlungssubjekt diese Widrigkeit nach Sartre doch stets vor dem Hintergrund eines von ihm in Freiheit gewählten Grundentwurfs, der sich weder notwendig ergibt noch sich notwendig verändert. Vgl. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 870 ff. 12 Vgl. J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 953, vgl. ebenfalls 175. 13  J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 955.

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Eine unentrinnbare Verantwortlichkeit begründet auch Friedrich Hermanni, dessen Theorie sich als funktionales Äquivalent zu einer Freiheitstheorie im Sinn unausweichlicher, menschlicher radikaler Selbstbestimmung verstehen ließe – freilich ohne dass Hermanni selbst von unausweichlicher, radikaler Selbstbestimmung spricht oder eine entsprechende Vorstellung postuliert. Hermanni beschreibt eine Theorie der subjektiven sowie der objektiven Unhintergehbarkeit des Selbst in seinen Beiträgen „Luther oder Erasmus? Der Streit um die Freiheit des menschlichen Willens“ sowie in „Gott, Freiheit und Determinismus“14. Dabei sieht Hermanni, etwa analog zu Strawson, keine Möglichkeit, den Menschen infolge ontologischer, göttlicher radikaler Selbstbestimmung als zurechenbares Handlungssubjekt zu verstehen. Dennoch setzt sich Hermanni ausdrücklich zum Ziel, Zurechenbarkeit in einem den inkompatibilistischen Intuitionen gerecht werdenden Verständnis als unbestreitbar darzustellen. Als entsprechendes kompatibilistisches Freiheitskonzept, das inkompatibilistische Intuitionen wahrt, deutet Hermanni seine eigene Freiheitstheorie: „Als Antwort werde ich einen Kompatibilismus vorschlagen, der die Einsichten des Inkompatibilismus bewahrt, ohne die Freiheit allerdings mit dem Zufall zu verwechseln und die Grenzen zwischen menschlicher und göttlicher Freiheit zu verwischen.“15

Wie folgt gibt Hermanni den Grundgedanken seiner These der subjektiven Unhintergehbarkeit des Selbst wieder: „Um für seine Handlungen verantwortlich zu sein, muss der Mensch keineswegs sein handlungsbestimmendes Wesen wählen oder ändern können. Das zeigt sich, wenn man die subjektive Unhintergehbarkeit des eigenen Selbst bedenkt. Ich kann den Kernbestand meines eigenen Selbst, der in den mir zurechenbaren Handlungen zum Ausdruck kommt, nicht als etwas von mir Unterscheidbares betrachten, das auch ganz anders sein könnte und auf das ich gleichsam schicksalhaft festgelegt wäre. Denn diese Betrachtung geht von der widersprüchlichen Fiktion aus, ich könnte ein ganz anderer sein und doch im Kern ich selbst bleiben.“16

Ein Handlungssubjekt, das seine Zurechenbarkeit bestreiten möchte, übersieht Hermanni zufolge sein eigenes Selbst, das schließlich die grundlegende Voraussetzung jeder Möglichkeit, die eigene Zurechenbarkeit zu bestreiten, darstellt. So erweist sich ein Handlungssubjekt als unfähig, den Kernbestand seiner persönlichen und charakterlichen Beschaffenheit, in welchem seine Handlungen und Entscheidungen gründen, als etwas Fremdbestimmtes zu betrachten:

14  F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“; F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“ bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“. 15  F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 16 bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, 92. 16  F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 185, Herv. i. O.

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„Auch wenn der Kernbestand meines Selbst durch vorausliegende genetische und soziale Faktoren determiniert ist, kann ich mich darüber nicht sinnvollerweise als über etwas Fremdes, Aufgezwungenes beschweren. Denn es gibt eben nichts, dem dieser Charakter aufgezwungen sein könnte.“17

Einen möglichen Einwand gegen seine Theorie erkennt Hermanni darin, dass Verantwortlichkeit hier nur in subjektiver, jedoch nicht in objektiver Weise begründet ist. So entwickelt Hermanni seine Überlegungen zur subjektiven Unhintergehbarkeit des Selbst weiter und begründet unter Inanspruchnahme einiger metaphysischer Voraussetzungen auch die These der objektiven Unhintergehbarkeit des Selbst. In der Einleitung zu seinem Buch „Metaphysik. Versuche über letzte Fragen“ formuliert Hermanni die Grundidee der objektiven Unhintergehbarkeit des Selbst wie folgt: Das Selbst könnte „auch in objektiver Hinsicht unhintergehbar sein, weil es womöglich nicht durch die Vergangenheit der Welt determiniert ist, sondern diese Vergangenheit seinerseits determiniert. Das wäre dann der Fall, wenn Gott im Entwurf der möglichen Welt, zu der wir gehören, die früheren Weltzustände an die späteren und speziell an den Charakter der Personen angepasst hätte, die in den späteren eingeschlossen sind.“18

Hermannis Argumentation baut auf folgender Unterscheidung auf: Determinismusverhältnisse sind symmetrische Ableitungsverhältnisse auf epistemischer Ebene. Hier kann sich etwa die Aussage „Weltzustand (1) ergibt in Verbindung mit den Naturgesetzen Weltzustand (2)“ zugleich als zutreffend ergeben wie die Aussage „Weltzustand (2) ergibt in Verbindung mit den Naturgesetzen Weltzustand (1)“. Auf ontologischer Ebene hingegen können diese beiden Aussagen nicht zugleich zutreffen. Hier ergibt die erste Aussage eine kausale Deutung des Determinismus, während die zweite Aussage eine teleologische Deutung des Determinismus ergibt, die Hermanni zufolge ungewohnt sein mag, dennoch aber zumindest in gleicher Weise plausibel zu gelten hat wie die kausale Deutung.19 Denkbar erscheint Hermanni zufolge nun, dass Gott im Entwurf der möglichen Welt, zu der menschliche Handlungssubjekte gehören, den früheren Zustand an den späteren und insbesondere an den Charakter der Handlungssub17  F. Hermanni: „Luther oder Erasmus?“, 185 f., vgl. auch: F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 34 bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, 114. 18  F. Hermanni: „Einleitung“, in: Ders.: Metaphysik, 6. 19 Vgl. F. Hermanni: „Einleitung“, 6. Hermanni verweist hinsichtlich seiner Determinismusdeutung auf seinen Beitrag zum teleologischen Argument. Vgl. F. Hermanni: „Das teleologische Argument“, in: Ders.: Metaphysik, 67–90. Ferner verweist Hermanni auch auf T. Buchheim: Unser Verlangen nach Freiheit. Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft, Hamburg 2006, 75 f., und auf A. F. Koch: Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, Paderborn 2006, 155, vgl. F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 35, Anm. 53, bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, in: Ders.: Metaphysik, 114, Anm. 53.

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jekte angepasst hat, die zum späteren Weltzustand gehören. 20 Folglich würde gelten: „Der Determinationszusammenhang zwischen beiden hätte dann, wie der christliche Schöpfungsglaube annimmt, eine teleologische Ausrichtung. In diesem Fall aber wären wir berechtigt, uns als verantwortliche Akteure zu verstehen, obgleich sich im Prinzip zeigen ließe, dass wir unter der Voraussetzung des früheren Weltzustandes und der Naturgesetze genau die Personen mit den Charakteren werden mussten, die wir geworden sind. Denn in der möglichen Welt, die Gott verwirklicht hat, wären wir es immer schon gewesen, und zwar in einer nun auch objektiv unhintergehbaren Weise.“21

Ein Handlungssubjekt erscheint so nicht, wie für gewöhnlich gesehen, bestimmt durch die Weltumstände, dessen Teil es ist, sondern die Weltumstände ergeben sich vollständig durch das Handlungssubjekt bestimmt. Damit erscheint es Hermanni möglich, libertarischen Freiheitstheorien, die menschlichen Handlungssubjekten ein „Vermögen absoluter Spontaneität“ zuschreiben, „eine gewisse Berechtigung zuzuschreiben“ 22, freilich ohne in die Nähe derjenigen Vorstellungen zu gelangen, die mit Hilfe des Indeterminismus Freiheit zu begründen versuchen. Auch in Absehung dieser schlüssigen, dabei metaphysisch voraussetzungsreichen Argumentation lässt sich bereits Hermannis Begründung der subjektiven Unhintergehbarkeit des Selbst als Eintreten für die Berechtigung inkompatibilistischer Intuitionen deuten. Denn die These des subjektiv unhintergehbaren Selbst kann das Subjekt in seiner Abstreitung seiner Zurechenbarkeit auf eben nichts anderes als auf sein spontanes Entscheiden und Handeln zurückführen. Grundsätzlich ließe sich wohl im Anschluss an Sartre – und wohl auch an Hermannis Theorie der subjektiven und objektiven Unhintergehbarkeit des Selbst – beschreiben, dass ein Handlungssubjekt sich stets frei im Sinn radikaler Selbstbestimmung in seinem Handeln und Entscheiden verwirklicht, jedoch nicht in ontologischem, göttlichem Sinn, aber dennoch in unausweichlicher, menschlicher Weise. Von eben dieser unausweichlichen, menschlichen radikalen Selbstbestimmung würde der Mensch bereits Gebrauch machen, wenn er glaubt, seine Zurechenbarkeit berechtigterweise abstreiten zu können. Jeder Versuch eines Handlungssubjekts, seine Zurechenbarkeit abzustreiten, müsste daher misslingen und das Handlungssubjekt lediglich auf seine unausweichliche, menschliche Zurechenbarkeit zurückführen, die sich mit seiner unaus-

20  Vgl. F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 35 bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, 114 f. 21  F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 34 f. bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, 115. 22 F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 35 bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, 115.

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weichlichen, spontanen und somit den inkompatibilistischen Intuitionen entsprechenden Freiheit ergibt. Auf diese Weise scheint auch für protestantische Theologinnen und Theologen ein Weg beschreitbar, an der Unmöglichkeit des freien Willensvermögens und damit am Rechtfertigungsverständnis sola gratia festzuhalten, ohne dadurch an der Zurechenbarkeit des Menschen bzw. der Gerechtigkeit Gottes, der Menschen verantwortlich macht, zweifeln zu müssen. Das Heil für den Menschen ergibt sich im Kontext des Freiheitsverständnisses im Sinn der unausweichlichen, menschlichen radikalen Selbstbestimmung vollständig bzw. sola gratia als Werk Gottes, verfügt der Mensch doch keineswegs über die Fähigkeit, seine sündige Beschaffenheit aus eigener Kraft zu überwinden. Der Mensch avanciert im Kontext dieser Vorstellung nicht zu einem göttlichen Wesen, indem er nun über die ontologische, göttliche Fähigkeit der radikalen Selbstbestimmung verfügen würde. Dennoch erscheint der Mensch begründetermaßen zurechenbar in einem die inkompatibilistischen Intuitionen berücksichtigenden Sinn. Diese Begründung der Zurechenbarkeit im Sinn letztgültiger Verantwortlichkeit bzw. im Sinn radikaler Selbstbestimmung kann die Rechtfertigung sola gratia schließlich deshalb nicht infrage stellen, weil die Rechtfertigung in der allein in Gott gewirkten Grundänderung der menschlichen Beschaffenheit liegt und nicht von der Frage abhängt, ob sich der Mensch überhaupt oder prinzipiell als zurechenbar erweist. Die Aussage „Der Mensch empfängt das Heil unverdient“ behält dabei ihre Berechtigung – allerdings nicht in dem Sinn, dass der Mensch sich ohnehin nicht als zurechenbar erweist, sondern in dem Sinn, dass ihm unverdient im Sinn von ohne für das Heil relevante Verdienste das Heil zuteil wird. Denn keine dem Menschen durchaus zurechenbare Entscheidung oder Handlung könnte einem solchen Verdienst entsprechen, das dazu helfen oder dem entsprechen könnte, die eigene sündige Beschaffenheit zu überwinden. Im Rahmen einer Freiheitstheorie im Sinn unausweichlicher, menschlicher radikaler Selbstbestimmung erscheint der Mensch für seine Beschaffenheit und seine daraus folgenden Handlungen bzw. Entscheidungen zwar durchaus zurechenbar, ohne diese Beschaffenheit jedoch in ontologischem, göttlichem Sinn hervorgebracht zu haben. Ontologisch verstandene radikale Selbstbestimmung und Zurechenbarkeit werden somit entkoppelt, ohne die Bedeutung inkompatibilistischer Intuitionen zu negieren. So scheint sich nun in folgender Weise beschreiben zu lassen, was in eschatologischer Perspektive als angemessenes Verständnis von Freiheit des Menschen zu erwarten ist: Ein Freiheitsverständnis, das der Relevanz radikaler Selbstbestimmung gerecht wird, indem es durch eine andere Art der Möglichkeit radikaler Selbstbestimmung als die ontologische bzw. göttliche gekennzeichnet ist – eben durch die Art, radikale Selbstbestimmung als den grundlegenden Mo-

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dus menschlichen Entscheidens und Handelns zu verstehen und dadurch unvermeidliche, dem Anspruch radikaler Selbstbestimmung entsprechende Zurechenbarkeit zu begründen. Dieses Verständnis stellt ein kompatibilistisches Freiheitsverständnis dar, das inkompatibilistischen Intuitionen gerecht wird, und das – anders als Freiheit im Sinn eines unabhängigen Selbst und anders als Freiheit im Sinn ontologisch verstandener radikaler Selbstbestimmung – konsistent begründet werden kann. Dass dieses Freiheitsverständnis letztlich noch eschatologisch verborgen bleibt und Luther in seiner These über die Notwendigkeit der Hoffnung auf das lumen gloriae Recht zu geben ist, zeigt sich nun darin, dass die hier entfaltete Deutung von Freiheit als unausweichliche, menschliche radikale Selbstbestimmung wohl kaum eine nachhaltige Auswirkung auf die Freiheitsdebatte ausüben wird. Diese angemessene Bescheidenheit ergibt sich aus der Erwartung, dass die hier dargestellte Begründung der Zurechenbarkeit in vielen Fällen als anstößig zurückgewiesen werden wird. Denn Verantwortlichkeit, die nicht mit ontologischer, göttlicher radikaler Selbstbestimmung begründet wird, wird unter irdischen Bedingungen gewiss weiterhin vielfach als ungerecht empfunden werden. Bemerkenswerterweise spricht Sartre in seiner Darstellung negativ konnotiert von einer Verurteilung zur Verantwortung23 und scheint sich damit der zu erwartenden Widerstände gegen seine Begründung von Verantwortlichkeit bewusst zu sein. Und auch ein Handlungssubjekt, das sich mit Hermannis Begründung seiner Verantwortung konfrontiert erfährt, akzeptiert vielleicht nur die theoretische Position der Unhintergehbarkeit seines Selbst. Denn es bleibt auch hier die Anstößigkeit dieser Position bestehen, wenn ein Handlungssubjekt mit seiner unausweichlichen Zurechenbarkeit infolge seiner subjektiven und auch objektiven Unhintergehbarkeit konfrontiert wird. Auf dem Hintergrund der Strawsonschen Beschreibung der Phänomenologie der Freiheit24 erscheint einsichtig, dass irdische menschliche Handlungssubjekte sich als Subjekte mit unabhängigem Selbst erfahren, die ihre Zurechenbarkeit mit der (zumindest impliziten) Annahme ontologischer, göttlicher radikaler Selbstbestimmung verbunden verstehen. Diese Verknüpfung von Zurechenbarkeit mit ontologischer, göttlicher radikaler Selbstbestimmung mag zu Recht als Merkmal der sündigen Existenz des Menschen gedeutet werden. Im Horizont des zu erwartenden Freiheitsverständnisses im Sinn unausweichlicher, menschlicher radikaler Selbstbestimmung wird daher wohl bis zum Eintritt in den Zustand des lumen gloriae anstößig bleiben, dass ein Handlungssubjekt sich seiner Verantwortung nicht zu entziehen vermag. Eschatologisch erweisen müsste sich entsprechend, dass die Begründung von Zurechenbarkeit durch das Freiheitsverständnis im Sinn unausweichlicher, mensch23 Vgl.

24 S. o.

J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 955. Abschnitt 3.4.

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7. Ausblick: Was ist im lumen gloriae zu erwarten?

licher radikaler Selbstbestimmung als unanstößig und mit dem menschlichen Selbst-Verständnis in natürlicher Weise vereinbar zu verstehen ist. Mit Blick auf diese Überlegungen bleibt schließlich festzuhalten, dass hier nicht mehr und nicht weniger als der Versuch unternommen wurde, auf Grundlage der vorliegenden Gesamtuntersuchung zu erwägen, in welcher Art sich eine Lösung der Freiheitsproblematik offenbaren könnte. Die hier vorgeschlagene Freiheitstheorie im Sinn unausweichlicher, menschlicher radikaler Selbstbestimmung versteht sich keineswegs als Tabubruch mit Blick auf die Geheimnisse Gottes, die nach Luther nicht erforscht werden dürfen. 25 Vielmehr bestärken diese Überlegungen Luthers Hoffnung auf die eschatologische Klärung der verbleibenden Probleme hinsichtlich des Freiheitsverständnisses. Denn es scheint gewissermaßen als Implikat des zu erwartenden, dann intuitiv plausiblen Freiheitsverständnisses bereits unter endlichen Bedingungen Zurechenbarkeit angemessen begründbar – mag sich die begründete Zurechenbarkeit unter endlichen Bedingungen eben nur unter dem Vorbehalt ihrer intuitiven Anstößigkeit erweisen. Diese Anstößigkeit offenbart jene letzte, irdisch wohl unlösbare Problematik, die sich als Geheimnis Gottes erweist, dass Menschen glauben, zuerst zu Göttern werden zu müssen, um Verantwortung tragen zu können. 26 – Es bleibt, die noch ausstehende intuitive Plausibilität der Zurechenbarkeit, entsprechend des Anspruchs der inkompatibilistischen Intuitionen, im Rahmen der sich auch im lumen gloriae kompatibilistisch erweisenden menschlichen Freiheit zu erwarten.

25 

Vgl. etwa WA 18, 684, 37–40. Friedrich Hermanni schließt seinen Aufsatz „Gott, Freiheit und Determinismus“ mit einer von ihm schon zu Beginn seines Aufsatzes eingeführten Anspielung auf John Miltons Paradise Lost: „Und Miltons Engel? Wenn sie glauben, es sei notwendig, ein Gott zu sein, um schuldig zu werden, sind sie in der Tat ‚in wand’ring mazes lost‘.“ (J. Milton: Paradise Lost, hg. v. G. Teskey, New York, London 2005, 42 (Buch II, Zeile 561), zitiert bei: F. Hermanni: „Gott, Freiheit und Determinismus“, 35 bzw. F. Hermanni: „Das Wesen der menschlichen Freiheit“, 115). Zumindest Menschen – vielleicht auch Miltons Engel – scheinen tatsächlich bis zum Eintritt ins lumen gloriae „in wand’ring mazes lost“. 26 

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Literaturverzeichnis In den Anmerkungen wird jedes Werk bei seinem erstmaligen Auftreten mit den vollständigen Angaben zitiert. Mehrfach verwendete Werke erscheinen ab ihrem zweiten Auftreten mit Kurztiteln, die dem Anfang des Werks entsprechen und über das Literaturverzeichnis leicht zugeordnet werden können. Ausnahmen stellen die Weimarer Ausgabe der Schriften Luthers (= WA) bzw. der Briefwechsel Luthers (= WA Br) sowie die Lateinisch-Deutsche Studienausgabe zu Luthers Werken (= LDStA) dar. Althaus, Paul: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962. Anscombe, Gertrude E. M.: „Causality and Determination“ (1971), in: Dies.: Metaphysics and the Philosophy of Mind, Minneapolis 1981, 133–147. Aristoteles: Über das Himmelsgebäude, in: Aristoteles’ Werke, Griechisch und Deutsch mit sacherklärenden Anmerkungen, hg. v. C. Prantl, Bd. 2, unveränderte Nachdruckausgabe, Leipzig 1935. Augustinus: Bekenntnisse, Lateinisch und Deutsch, eingeleitet, übersetzt und erläutert von J. Bernhart, mit einem Vorwort von E. L. Grasmück, Frankfurt a.M. 1987. Augustinus: Geist und Buchstabe – De spiritu et littera liber unus, übertragen von A. Forster OSB, in: C. J. Perl (Hg.): Aurelius Augustinus’ Werke in deutscher Sprache, Paderborn 1968. Austin, John L.: „Ifs and Cans“, in: B. Berofsky (Hg.): Free Will and Determinism, New York 1966, 295–321. Ayer, Alfred J.: One Concept of a Person, New York 1963. Ayers, Michael R.: The Refutation of Determinism. Essay in Philosophical Logic, London 1968. Bader, Günter: Assertio. Drei fortlaufende Lektüren zu Skepsis, Narrheit und Sünde bei Erasmus und Luther, Tübingen 1985. Barth, Hans-Martin: „Freiheit, die ich meine? Luthers Verständnis der Dialektik von Freiheit und Gebundenheit“, in: Una Sancta 62 (2007), 103–115. Baumann, Peter: Die Autonomie der Person, Paderborn 2000. Bayer, Oswald: „Freiheit? Das Bild des Menschen bei Luther und Melanchthon“, in: Lutherische Monatshefte 36 (1997), 16–19. Bayer, Oswald: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, 3. erneut durchges. Aufl., Tübingen 2007. Behnk, Wolfgang: Contra liberum arbitrium pro gratia Dei. Willenslehre und Christuszeugnis bei Luther und ihre Interpretation durch die neuere Lutherforschung. Eine systematisch-theologiegeschichtliche Untersuchung, Frankfurt a.M., Bern 1982.

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Personenregister Aland, K. 166 Althaus, P. 225, 229 Anscombe, G. E. M. 46, 85, 121 Aquin T. von 161, 206, 226, 230 Aristoteles 59, 90, 204, 210 Augustinus 36, 149, 153–154 Austin, J. L. 46 Ayer, A. J. 12 Ayers, M. R. 46 Bader, G. 152 Barth, H.-M. 210, 225, 229 Baumann, P. 19 Baur, J. 164 Bayer, O. 214–215, 225 Behnk, W. 164, 210, 224 Beiner, M. 179, 206–207 Beisser, F. 169 Bernhart, J. 36 Berofsky, B. 46, 85 Betzler, M. 9, 15, 23, 37, 53, 111 Beutel, A. 141, 185 Beyer, M. 5, 147 Biel, G. 182, 204 Bieri, P. 4, 203 Borcherdt, H. H. 179 Braun, W. 38 Brecht, M. 185 Buchenau, A. 109 Buchheim, T. 258 Campbell, C. A. 108 Chisholm, R. 44, 107, 139 Clarke, R. 107 Colli, G. 72 Cop, M. 23 Craig E. 66 Danz, C. 163, 200

Davidson, D. 121, 137 Decot, R. 147 Dennett, D. 51, 124 Denzinger, H. 152 Deuser, H. 203 Dietz, T. 151 Dietz, W. 177 Doerr, W. 147 Doré, J. 230 Double, R. 51, 62, 136 Dworkin, G. 20 Ebeling, G. 147, 163–164, 178, 196 Engelland, H. 163 Erasmus von Rotterdam 3, 142, 146, 149, 152, 158, 160–165, 167–170, 173, 175, 179–183, 185–186, 196, 199, 201–202, 219–222, 230, 236–237, 244, 257–258 Fischer, J. M. 73, 79, 83, 85 Forster, A. 154 Frankfurt, H. G. 1, 4–59, 61–64, 72, 78, 80, 82, 85, 88, 91, 100, 111–113, 117, 121, 127, 130, 134–141, 143–145, 151–152, 154, 158–160, 164, 168, 170, 174–175, 191, 197, 203–205, 214, 217–218, 224, 226, 228, 233–234, 237, 241, 243–246, 249–256 Fuchs, T. 4, 133 Garson, J. 104 Gräb-Schmidt, E. 133 Graf, F. W. 180 Grasmück, E. L. 36 Guckes, B. 4, 9, 15, 19, 23, 37, 52–53, 62, 101, 111 Härle, W. 147, 195, 199–200, 225, 229 Hein, R. B. 160

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Personenregister

Henley, W. E. 2 Hermann, R. 147 Hermanni, F. 3, 5, 54, 149, 164, 179, 196, 199–200, 230, 257–259, 262 Herrmann, M. 52–53 Hobart, R. E. 85 Hobbes, T. 84–85, 91 Hofmann, U. 182 Honderich T. 90, 116, 121, 137 Hume, D. 61, 76, 84–85, 91, 124, 137 Hünermann, P. 152 Inwagen, P. van 45 Iwand, H. J. 163–164, 179, 206 Jacobi, T. 166 Joest, W. 141, 178, 200, 209, 215 Jüngel, E. 212, 216 Kane R. 4, 51, 64, 66, 79, 90, 100–106, 112, 136, 139, 185 Kant, I. 6, 32, 77, 85, 90, 121 Kenny, A. 23–24 Kierkegaard, S. 177 Klein, A. 5, 132, 149, 179, 197, 206–207, 224–225, 234–235 Klein, M. 90, 102, 112 Koch, A. F. 258 König, T. 205–206, 255 Korsch, D. 185, 203, 216 Körtner, U. H. J. 197, 200, 204, 206 Koslowski, P. 3 Kulenkampff, J. 76 Lehrer, K. 44 Leibniz, G. W. 109 Leonhardt, R. 5, 149, 199–200, 224 Leppin, V. 141–142, 227 Liedke, U. 5 Lindsay, A. D. 85 Locke, D. 54–55 Locke, J. 61, 84–85, 91 Lohse, B. 185 Lombardus, P. 141, 149–150 Luther, M. 1, 3–8, 50–52, 138, 140–253, 257–258, 261–262 Mahlmann, T. 164

Mannermaa, T. 178 Marszalek, R. 200 Maurer, E. 200 May, G. 147 Mayer, H. 205 McKay, D. M. 87 McSorley, H. J. 229–230 Meggle, G. 44 Melanchthon, P. 147, 163, 215, 230 Melville, H. 3 Merz, G. 179 Mill, J. S. 14–15 Milton, J. 262 Montinari, M. 72 Moore, G. E. 46 More, T. 160 Mummendey, R. 3 Nagel, T. 118 Neely, W. 20 Nidditch, P. H. 76, 85 Nietzsche, F. 72 Nutt, D. 2 O’Connor, T. 79, 101, 107, 110 Oberman, H. 164 Pannenberg, W. 230 Pauen, M. 4, 203 Pereboom, D. 62, 90, 102 Perl, C. J. 154 Pesch, O. H. 164, 229–230 Petzoldt, M. 5 Peura, S. 178 Pothast, U. 46, 107, 114, 256 Prantl, C. 210 Quante, M. 36 Reboiras, F. D. 169 Reinhuber, T. 240 Ribhegge, W. 160 Richter, R. 76 Riedlinger, H. 169 Ringleben, J. 216 Ritschl, A. 163, 178 Ritzenhoff, S. 185 Robson, J. M. 15

Personenregister

Rolf, S. 179 Roth, G. 203 Rothen, B. 169 Saarinen, R. 178 Sartre, J.-P. 90, 205–206, 208, 255–256, 259, 261 Scheiber, K. 207 Scheible, H. 147 Scheliha, A. von 216 Schilling, J. 216 Schlick, M. 85, 136–137, 245 Schmidt, M. 169 Schmidt, S. 164 Schockenhoff, E. 184–185, 227–228 Scholz, F. 12 Schöneberg, H. 255 Schopenhauer, A. 177 Schulte, J. 137 Schwanke, J. 230 Schwarzkopf, G. 4, 133 Schwarzwäller, K. 163–164 Schwöbel, C. 3–4, 214 Selby-Bigge, L. A. 76 Shakespeare, W. 38 Singer, W. 133 Slenczka, N. 164, 203–205 Smilansky, S. 62, 90 Sohst, W. 66 Sparn, W. 164 Spiess, C. 203 Stange, C. 149, 196

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Steward, H. 112 Stockhammer, M. 109 Stoecker, R. 15 Strawson, G. 1–2, 4–8, 44–45, 51, 59, 61–141, 143–145, 154–157, 159–160, 169, 174–176, 182, 184–185, 189, 199–200, 208, 217–218, 228, 233–234, 238–239, 241, 243–247, 250–255, 257, 261 Strawson, P. F. 12, 113–114, 120 Stupperich, R. 163 Tanner, K. 180 Teskey, G. 262 Vesey, G. 98 Vorländer, K. 85 Vorster, H. 206, 226 Walch, J. G. 194 Walter, P. 169, 177 Watson G. 4, 20, 28–29, 37, 66, 79, 85, 107, 114, 118 Welzig, W. 161 Wenz, G. 161, 179–180, 183, 230 Werbeck, W. 182 Wiggins, D. 97 Williams, B. 118 Winkler, W. 3 Zager, W. 230 Zur Mühlen, K.-H. 147

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Sachregister Akteurskausalität 107, 139 Allmacht Gottes 33, 175–176, 179, 198–199, 205, 212, 223 Allwirksamkeit Gottes 141, 143, 157, 165, 175–176, 179, 196, 198–201, 207, 216, 224, 249–250 analytisch-philosophische Freiheits­ debatte s. Freiheit Anders-handeln-Können 45–47, 50, 53, 111 Antrieb 49, 198–199, 201–202, 215, 223 Aseität 72 Autonomie 19, 27, 37, 49–50, 52–53, 205–207 Basisargument (G. Strawson) 62–64, 66–83, 87, 91–92, 100, 102, 106, 108, 112, 115, 133, 135, 184 Beschaffenheit (persönliche und charakterliche) 1, 6, 38, 59, 64, 69–71, 79–84, 87, 89–92, 96, 100, 102–103, 107–109, 114, 120, 124, 126, 129–132, 141, 145, 148, 150, 152–155, 158, 160, 166–167, 169, 171–172, 176, 178, 181–182, 184, 186, 189–195, 197–198, 201–202, 205–206, 208–217, 219–220, 222–223, 226–228, 231–235, 238–239, 257, 260 causa sui (s.a. radikale Selbstbestimmung) 1, 20, 67, 72, 78, 103, 132, 190, 254 Chaostheorie 104–105 Determiniertheit 3, 118, 121, 126, 129, 157 Determinismus 9, 45, 61–63, 65–67, 78, 80, 87–88, 92–93, 98, 101, 103, 106, 111, 115–122, 124, 131, 139–140, 143, 157, 165–166, 183, 185, 196–201, 207–208, 217, 224–225, 249–250, 257–258 Drei-Lichter-Lehre 238, 240

– lumen gloriae 240, 245, 247, 249–254, 261–262 Entität 24, 81 entschiedener Wille s. Wille Erbsünde 36, 177–179 Evolutionstheorie 133 Frankfurt-style examples 10, 46–48, 112 Freiheit (s.a. Unfreiheit) – analytisch-philosophische Freiheits­ debatte 4–6, 9, 11, 19, 44–45, 51, 107, 111–112, 120, 129, 138–139, 245 – Freiheit in niederen Dingen 146, 192, 194, 196, 206, 225 – göttliche Freiheit 187–191, 214 – Handlungsfreiheit 17–18, 59, 75, 128 – Illusion der Freiheit 3–4, 53, 62, 101, 133, 181 – Impossibilismus, impossibilistisch 62, 160, 175, 191, 233, 244 – Inkompatibilismus (s.a. inkompati­ bilistische Intuitionen) 5, 62, 92, 113, 118, 128, 138–140, 176–177, 217, 257 – Kompatibilismus (s.a. schlicht-kompatibilistisch; kompatibilistische Intuitionen) 5, 61–63, 80, 85, 113, 117–118, 124, 126–128, 133–134, 137–139, 143–146, 156, 158–160, 171, 173–175, 187, 190, 197, 203, 207, 218, 234, 244, 246–250, 252, 257 – Libertarianismus, libertarische Freiheitstheorie 61, 64, 80–81, 91–94, 98–101, 103, 105, 134, 207, 259 – spontane Freiheit 76, 111, 121, 139, 183, 190, 230, 256, 259–260 – Willensfreiheit (s.a. liberum arbitrium) 9, 17–19, 38, 44–45, 47, 59, 61, 73, 76, 117, 121, 162, 169, 197, 200, 207

278

Sachregister

Freiwilligkeit, freiwillig 27, 63, 84, 88, 91, 113, 117, 126–127, 134, 137, 146, 159, 162, 168–169, 173, 195, 197, 201–204, 207, 216, 220–221, 225, 227, 231–232, 235, 255 Fremdbestimmung – äußere 197, 201–203, 225, 227, 256 – innere 197, 201, 203, 225, 227, 256 – verdeckte 54–55, 57, 204, 256 Gehirnwäsche 52–54, 204, 206 Geist 28, 36, 40, 61, 153, 167, 182, 211 Geist Gottes, Heiliger Geist 167, 178, 185–186, 191, 195, 202, 204–206, 209–217, 219, 221–222 Gewissheit 2, 170, 186 Glaube, glauben (an Gott) 40, 85–87, 117, 153, 170, 178, 186, 204, 207, 215–216, 219, 239–240, 259 Gnade 150–151, 153–154, 156–158, 161–162, 165–168, 177–181, 186–187, 193, 199–201, 204–205, 209, 211–212, 214, 216, 226–227, 237, 239–240 göttliche Freiheit s. Freiheit Handlungsfreiheit s. Freiheit Handlungstheorie 15, 44, 95 Heil 150, 161, 166, 172, 186, 188–189, 219, 238–239, 249, 251, 260 Hierarchiemodell, hierarchisch 10, 12–13, 15–20, 22, 26–28, 32, 39, 42–44, 47, 50, 59, 62, 88, 135 Identifikation von Handlungssubjekt und Willen 10–11, 16–21, 26, 28, 30, 32, 37, 40, 42–44, 47, 50–53, 55–59, 72, 80, 88–89, 100, 135, 152, 218, 221, 224, 255 Identität 16, 43, 61, 115, 163–164 Illusion der Freiheit s. Freiheit Impossibilismus, impossibilistisch s. Freiheit Indeterminiertheit 98–99, 104 Indeterminismus 61, 64, 80, 94, 97–98, 100, 103–104, 106, 115–116, 118, 135–136, 139, 176, 183, 246, 259 infiniter Regress s. Regressproblematik Inkompatibilismus s. Freiheit

inkompatibilistische Intuitionen s. Intuition innere Zufriedenheit s. Zufriedenheit Intuition 9, 11, 45–47, 52–53, 59, 62, 113, 133, 136, 161, 184, 217, 245 – inkompatibilistische Intuitionen 62–65, 69, 73–74, 76, 80–81, 85, 91, 113, 115–116, 118–119, 122–124, 128, 132, 134, 136–140, 143, 145, 151, 156–158, 160, 162, 165, 168, 174–176, 179–181, 183, 191, 197–198, 208, 213, 217–218, 220, 225, 231, 236, 243, 245–247, 249–255, 257, 259–262 – kompatibilistische Intuitionen 62, 65, 69, 81, 113, 123, 132, 143, 217, 245–246 kognitiv 40, 81, 87, 113, 123, 125, 127, 133 Kompatibilismus s. Freiheit kompatibilistische Intuitionen s. Intuition Konsequenzargument 45 Leib-Seele-Problem 106 letztgültige Verantwortlichkeit s. Verantwortlichkeit Libertarianismus, libertarische Freiheitstheorie s. Freiheit liberum arbitrium (s.a. Freiheit; Willensvermögen) 147–148, 157, 161–162, 167–168, 171–172, 174, 176, 178, 180–181, 183, 186, 188, 192, 194–195, 209–211, 213, 224, 230, 236 lumen gloriae s. Drei-Lichter-Lehre Manipulation, manipulieren, manipulativ 11, 46, 52–54, 57, 205, 208 Metaphysik, metaphysisch 72–73, 83, 90, 94, 114, 224, 258–259 Moral, moralisch 46–48, 63, 66–67, 70, 73–74, 76–77, 79, 83, 85–92, 94, 101, 103, 107–108, 116, 122–123, 127, 161, 177 moral responsibility s. Verantwortlichkeit Motiv 12, 14, 26, 31, 49, 102, 104, 113, 131, 196 Naturgesetz 46, 258–259

Sachregister

Personalität 106–107, 207, 253 Phänomenologie, phänomenologisch 56, 64, 81, 107, 111, 113, 115, 123, 125, 127–128, 132–133, 136, 159, 175, 253, 261 Philosophie des Geistes 40, 61 Prädestination 183 Quantenmechanik, quantenmechanisch 139, 184–185 radikale Selbstbestimmung s. Selbstbestimmung Rechtfertigung, Rechtfertigungslehre 86, 142, 163–164, 185, 251, 253–254, 260 Regressproblematik 10–11, 19, 21, 23, 32, 36, 39, 43, 135, 150, 172, 184 – infiniter Regress 20–21, 37, 41, 64, 72, 99–100, 112, 121, 136, 138, 140, 143, 150, 155, 171–172, 183–184, 189, 217, 246–247 Reittier (bei Luther) 209–210, 212 Satz vom zureichenden Grund 196, 199–200 schlicht-kompatibilistisch 143–146, 148, 150–152, 155–156, 159–160, 162, 164, 168–169, 174–175, 184, 187, 191, 193–201, 203–208, 214–224, 226, 228–235, 237, 241, 244–247, 250, 252–253 Seele 2, 106, 110, 171, 182, 205 Selbst – unabhängiges Selbst 64–65, 69, 81, 107–108, 110–116, 118, 121, 123, 125, 127, 131–134, 136–140, 142–146, 149–151, 154, 156–162, 165–166, 168–170, 174–177, 180, 182–184, 187–192, 194–195, 198, 203, 208, 213–214, 220–221, 229–231, 233–238, 241, 243–250, 252–256, 261 Selbstbestimmung – radikale Selbstbestimmung (s.a. causa sui) 1–4, 6–7, 10–11, 20, 23, 32, 36–37, 43, 56–57, 59, 63–64, 66, 68, 73, 80–81, 85, 89, 91, 100, 106, 118, 123–127, 132, 135–136, 138, 141, 143–149, 154, 159, 164–165, 183–184, 193, 203, 217–218,

279

221, 228, 233, 235, 237–238, 240, 243, 245, 247, 249, 252–256, 260–261 Selbstbewusstsein 25, 82, 128 spontane Freiheit s. Freiheit Sündenfall 147–149, 177–179 Theodizee 240 Triebhafte/r, triebhaft 15–18, 29–30, 47 Überdetermination 47–48, 50 unabhängiges Selbst s. Selbst Unbestimmtheit 37, 98 unentschiedener Wille s. Wille Unfreiheit (s.a. Freiheit) 3, 18, 126, 146, 149–151, 161, 163–165, 167, 169, 175, 177, 179, 186, 191, 195–197, 203, 208–209, 211–213, 216, 230, 236–237, 251, 254 Unzurechnungsfähigkeit 164, 251 Verantwortlichkeit (s.a. Zurechenbarkeit) 8, 11, 44–45, 47–48, 50, 52–53, 55–59, 62–64, 66, 68, 70, 72–74, 76–87, 89–91, 98, 101–103, 106, 108–109, 115, 126–128, 132, 136, 144–146, 151–152, 156, 159, 163, 168, 187, 191, 207, 217–218, 220, 223–225, 229–232, 234, 236–241, 244–245, 255–258, 261 – letztgültige Verantwortlichkeit 66, 68, 73–74, 77, 80–81, 83–84, 86–87, 90, 102, 104, 116, 128–129, 238 – moral responsibility 47, 56, 77, 85, 112, 136 Verdienst 74, 76, 86, 188, 237, 260 Volition 14–19, 22, 26–28, 34–35, 37, 54, 56 vorphilosophisch 65, 124 wholeheartedness, wholehearted 10–11, 22–23, 27, 32, 35–37, 39–40, 43, 47–48, 50, 52, 56–59, 72, 80, 100, 136, 144, 146, 152, 218, 228, 255–256 Wille 6, 10–19, 26–27, 29, 32–39, 43, 47–48, 52, 57–58, 72, 101, 103, 131, 135, 141–142, 161–163, 166, 170–173, 175–181, 183–186, 189–190, 193–194, 196–206, 209–211, 214–216, 225–228, 231–233, 236, 251

280

Sachregister

– entschiedener Wille 22–23, 29–30, 38 – unentschiedener Wille 10, 210 Willensfreiheit s. Freiheit Willensschwäche 28, 156 Willensstärke 27, 52, 170 Willensvermögen 147–149, 151–152, 154–165, 167–168, 170–183, 186–188, 191–196, 198, 210–211, 213–214, 216–217, 219–220, 230, 232, 235–237, 240, 251, 254, 260 Willkür, willkürlich 10–11, 15, 21–22, 29–32, 42, 158, 188, 219

Zerrissenheit 36 Zufall, zufällig 18, 34, 40, 42, 64, 72, 78, 92, 99, 103, 110, 151, 158, 176, 185, 246–247, 257 Zufriedenheit – innere Zufriedenheit 10, 36, 39–43 Zurechenbarkeit (s.a. Verantwortlichkeit) 11, 44–45, 47, 50–55, 57–59, 63–64, 66, 74, 79, 86–87, 101–103, 107, 110, 112, 116, 144–147, 149–152, 156, 158–160, 162–165, 168–169, 184, 191, 217–240, 244–246, 249–257, 259–262 Zwang 48–51, 53, 156, 200–204, 207, 224–225, 235