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German Pages [373] Year 2014
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Jacqueline Karl Selbstbestimmung und Individualität bei Platon
ALBER THESEN
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Gegen Hegels philosophiegeschichtliche Auffassung, erst die Bedingungen christlicher Innerlichkeit hätten ein Selbstbewusstsein der Individualität ermöglicht, vertritt die Autorin die These, dass bereits in den Dialogen Platons Selbstbestimmung und Individualität Gegenstand der philosophischen Erörterung sind. Die Interpretationen von Alkibiades I, Apologie, Gorgias, Symposion und Politeia zeigen, dass wesentliche Bestimmungsaspekte beider Begriffe nachzuweisen sind. Zu diesen gehören das Selbst und seine funktionale Einheit im Handlungsvollzug sowie dessen individuelle Identität, das Primat eigener Einsicht und Selbstständigkeit als Ergebnis philosophischer Selbsterkenntnis, menschliches Handeln als selbstbestimmter Vollzug der eigenen Lebensweise und nicht zuletzt ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein eigenständiger Individualität, das von den praktischen Bedingungen des Handelns nicht gelöst werden kann. Allerdings bleibt die Autonomie in moderner Bedeutung außen vor, weil Selbstbestimmung bei Platon durch die unhintergehbare Intentionalität des Handelns auf das Gute eingeschränkt ist. Nach Ansicht der Autorin ist damit für ein angemessenes Verständnis menschlicher Praxis kein Nachteil verbunden, weil der platonische Begriff durch den Bezug auf das Gute auch die existenzielle Dimension des Individuums umfasst. Die abschließende Analyse der Politeia, in deren Zentrum der Begriff der Individualität steht, macht hinreichend deutlich, dass Platon nicht nur dem Philosophen als dem Gerechten, sondern auch den Ungerechten Individualität zuspricht.
Die Autorin: Jacqueline Karl, Jahrgang 1966, Studium der Philosophie und Musikwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2008 Promotion im Fach Philosophie, seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Akademienvorhaben »Kant’s gesammelte Schriften« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
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Selbstbestimmung und Individualität bei Platon Eine Interpretation zu frühen und mittleren Dialogen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Alber-Reihe Thesen Band 37
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48405-0
(Print)
ISBN 978-3-495-86004-5 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860045 © Ver
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7Hresen oªn moi ka½ ¥n t† mÐj†w ¡ Promhje±@ m”llon to‰ 3Epimhjffw@‡ † crðmeno@ ¥g ka½ promhjoÐmeno@ ¢pþr to‰ bfflou to‰ ¥mauto‰ pant@ p€nta ta‰ta pragmateÐomai, … Auch in jener Geschichte hat mir Prometheus besser gefallen als der Epimetheus, und eben weil ich es mit ihm halte und auf mein ganzes Leben im voraus Bedacht nehmen möchte, beschäftige ich mich mit diesen Dingen, … (Prt. 361d2–5)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 11 20
a. b. c. d.
1.
Hegels philosophiegeschichtliche These . . . . . . . . . . Antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung Historische Vorgeschichte der platonischen Selbstbestimmung und Individualität . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische und methodische Vorklärungen . . . . .
Anthropologische Voraussetzungen von Selbstbestimmung bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Der Mensch – ein Mängelwesen . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Mensch – ein Wesen in praktischen Selbstverhältnissen 1.3 Die Bedeutung des Umgangs mit anderen und anderem . .
2.
Das Selbst (t a't) und seine Identität . . . . . . . . .
2.1 Was ist das Selbst (t a't)? – Alkibiades I . . . . . . . . 2.2 Zum Problem der Identität im Symposion (207a5–208b7) .
29 52
63 63 71 78 87 88 104
Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Apologie: Leben als Selbsterforschung . . . . . . . . . 3.2 Selbsterkenntnis im Auge des anderen – das Spiegelgleichnis im Alkibiades I . . . . . . . . . . . .
121 123
. . . . . 4.1 Handeln als selbstbestimmter Vollzug (466b–468e) . . . .
165 168
3.
4.
Selbstbestimmung und Individualität im Gorgias
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Inhaltsverzeichnis
4.2 Wie soll ich leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Antwort des Kallikles – Leben für die Begierden 4.2.2 Sokratische Selbstbeherrschung als Lebensweise . . 4.2.3 Das Motiv der Übereinstimmung mit sich selbst . . 4.2.4 Selbstbestimmung und Individualität der Lebensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 194 201 208
Individualität und Selbstbestimmung in der Politeia . . . 5.1 Platons individualitätstheoretischer Ansatz in der Politeia 5.2 Die Individualität des Gerechten und der Ungerechten . 5.2.1 Die Gerechtigkeit der Einzelseele und ihre Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Einer sein – Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Der Charakterdiskurs im VIII. und IX. Buch – die Individualität der Ungerechten . . . . . . . . 5.2.4 Der Philosoph als Persönlichkeit . . . . . . . . . . 5.3 Die Wahl der Lebensweise – »Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.« (617e4 f.) . . . . . . . .
. . .
243 247 264
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264
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273
. .
288 310
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331
5.
225
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
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Vorwort
Noch immer gehört es zum Grundbestand aktueller philosophiehistorischer Auffassung, Platon (und der Antike) ein Problembewusstsein von Selbstbestimmung und Individualität abzusprechen. Liest man die Dialoge allerdings ohne Vorbehalt, lässt sich entgegen weitverbreiteter Vorurteile zeigen, dass Platon erstaunlich viel und sowohl historisch als auch systematisch Wichtiges zu diesem Thema zu sagen hat. Die vorliegende Arbeit, in der ich diesen Nachweis zu führen versuche, ist die redigierte und geringfügig gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2007/08 vom Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Volker Gerhardt, dem ich einen im Vergleich zur üblichen Lesart Platons anderen Zugang zu den platonischen Dialogen verdanke und der als Doktorvater die Entstehung der Arbeit – über einen längeren Zeitraum und teilweise unter nicht förderlichen Bedingungen – mit Rat, Geduld und Vertrauen begleitet hat. Ebenfalls herzlich möchte ich Christof Rapp danken. Als Zweitgutachter hat er durch seine kritischen Anmerkungen und Fragen meinen Blick und mein Problembewusstsein geschärft. Für kritische Korrektur und Lektüre, hilfreiche Hinweise und anderweitigen Beistand danke ich ebenso herzlich namentlich Bettina Fröhlich, Colin G. King, Reinhard Mehring, Barbara Schulz und Héctor Wittwer, und nicht zuletzt Frank Opitz, der nicht nur meine Freuden aus nächster Nähe mit mir geteilt hat. Mein herzlicher Dank gilt ebenso Lukas Trabert vom Karl Alber Verlag für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe »Thesen«. Berlin, am 2. Mai 2010
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Einleitung
a.
Hegels philosophiegeschichtliche These
»Man muß wissen, was man in den alten Philosophen oder in der Philosophie jeder anderen bestimmten Zeit zu suchen hat, oder wenigstens wissen, daß man in solcher Philosophie eine bestimmte Entwicklungsstufe des Denkens vor sich hat und in ihr nur diejenigen Formen und Bedürfnisse des Geistes zum Bewußtsein gebracht sind, welche innerhalb der Grenzen einer solchen Stufe liegen.« 1 Wer das missachtet, bemüht sich aus der Sicht Hegels vergeblich oder gelangt zu einer falschen Interpretation. Genau dieser Fall würde nun bei der Suche nach Selbstbestimmung und Individualität bei Platon eintreten, denn die querelle des anciens et des modernes um den Anspruch auf Subjektivität ist nach neuzeitlichem Selbstverständnis entschieden: Weil erst die Bedingungen christlicher Innerlichkeit ein Selbstbewusstsein der Individualität ermöglicht hätten, stehe die Antike jenseits der christlich inspirierten Moderne, allein diese sei durch das Prinzip der subjektiven Freiheit ausgezeichnet. Aber worauf gründet diese Behauptung, die sich auf Hegel als ihren prominentesten Vertreter berufen kann? Für Hegel ist die Philosophie als die Selbstentwicklung des Geistes identisch mit ihrer eigenen Geschichte. Deren Rekonstruktion als eines in sich einheitlichen und notwendigen Fortschritts des Geistes zu sich selbst liegen die Prämissen von Hegels eigener spekulativ-dialektischer Theorie zugrunde. Gemäß seinen Vorgaben teilt Hegel in der Einleitung seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie diese in zwei Epochen ein, und zwar in die antike bzw. griechisch-
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 18, 67 f. Vgl. zu diesem hermeneutischen Problem generell ebd., 58–69.
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Einleitung
römische und die christliche Philosophie, d. h. vor allem die Philosophie der Neuzeit. 2 Zu dieser Einteilung sieht sich Hegel aufgrund einer prinzipiellen Differenz berechtigt: 3 Die neuzeitliche Philosophie sei durch den Gegensatz des Verhältnisses von Subjekt und Objekt bzw. Denken und Sein und – in hegelscher Terminologie – die Forderung, diesen Gegensatz als Einheit zu denken, bestimmt. Erst im Selbstbewusstsein setze sich das Subjekt in einen Gegensatz zum Objekt, wodurch sowohl das Subjekt als Subjekt für sich selbst als auch das Objekt als Objekt für das Subjekt und zugleich das Subjekt als dasjenige, was sich auf das Objekt bezieht, überhaupt erst vorstellbar werden. Allein unter dieser Voraussetzung der im Selbstbewusstsein vorliegenden und zugleich erkannten Reflexionsstruktur könne das Subjekt erkenntnistheoretisch wie auch moralisch-praktisch als letzte Begründungsinstanz fungieren. Weil in der Philosophie von Descartes das Selbstbewusstsein nicht nur ausdrückliches Thema der Philosophie, sondern erstmalig das Gewissheit und Erkenntnis fundierende Prinzip der Philosophie selbst sei, sieht Hegel in Descartes den exemplarischen Beginn der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie: »Mit ihm [Descartes] treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt und daß das Selbstbewußtsein wesentliches Moment des Wahren ist. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ›Land‹ rufen; […]. In dieser neuen Periode ist das Prinzip das Denken, das von sich ausgehende Denken«. 4 Im Gegensatz dazu setze die antike Philosophie das Denken mit dem Sein gleich, weil in ihr das Subjekt sich noch in einer unmittelbaren, d. h. unreflektierten Weise auf das Objekt beziehe. Und das ist, nach hegelscher Auffassung, in einem prinzipiellen Sinn zu verstehen: Nicht, dass die antike Philosophie nicht nach dem Menschen und seinen Vermögen gefragt hätte, aber in diesem Fall begreife sie das Subjekt nicht als solches, d. h. nicht als Voraussetzung aller Objektivität, Diese Zweiteilung wird durch eine ebenso in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie zu findende Dreiteilung – in griechische, mittelalterliche und neuzeitliche Philosophie – nicht zurückgenommen, weil Hegel die Philosophie des Mittelalters nur als Zeit der Vorbereitung auf die Neuzeit deutet bzw. ihr wegen ihrer Unterordnung unter die Vorgaben der Theologie eine eigenständige Philosophie abspricht. 3 Vgl. dazu ebd., 123–132, bes. 129 f. 4 Ebd., WA 20, 120. 2
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Hegels philosophiegeschichtliche These
sondern – analog wie anderes Seiende – als ein Objekt. Philosophierend sei das antike Denken immer sofort bei dem, was ist – dem Ansichsein der Objekte, und verstehe sowohl Denken als auch Handeln von deren jeweiligen, ihnen vorausliegenden Gegenständen her. Deshalb kenne die antike Philosophie noch nicht das, was die neuzeitliche Philosophie charakterisiert: den Ausgangspunkt des Denkens im Denken selbst und dessen konstituierenden Bezug auf seine Objekte. Dieser fehlende, weil noch nicht begriffene Rückbezug auf sich selbst verhindere, dass Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, als dessen praktisches Pendant, als philosophische Probleme zu den Themen antiker Philosophie gehören konnten. Das moderne Prinzip der subjektiven Freiheit, welches angeblich die entscheidende Differenz zwischen Antike und Moderne ausmacht, kommt nach Hegel indes schon mit dem Christentum in die Welt: 5 Wenn auch nicht in der Klarheit des philosophischen Gedankens erkannt, sondern im Medium der religiösen Vorstellung gedacht, sei diese Religion Ausdruck einer gelungenen Versöhnung der Gegensätze, sodass Hegel im Christentum die Antizipation seiner eigenen Philosophie diagnostiziert. Erst angesichts des absolut und personal gedachten Gottes und der damit verbundenen Ohnmacht des Menschen gelange der Einzelne zu einem ausdrücklichen Selbstbewusstsein. Zugleich werde dieser Gegensatz zwischen dem Absoluten und dem endlichen Individuum durch die Menschwerdung Gottes und der Vergöttlichung des Menschen in der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur sowie absolutem und individuellem Geist versöhnt: Im Christentum wird »der Geist als daseiender, gegenwärtiger, unmittelbar in der Welt existierender Geist, […] der absolute Geist in unmittelbarer Gegenwart als Mensch« gewusst. 6 Weil aber der Einzelne die Versöhnung an sich selbst zu vollbringen habe, indem er sich als Mensch, d. h. als allgemeine Subjektivität, begreift, werde er zum Gegenstand der jedem Subjekt zukommenden göttlichen Gnade. Erst im Christentum, so Hegel, ist »wesentlich der individuelle persönliche Geist von unendlichem, absolutem Werte«. 7 Vgl. dazu ebd., WA 19, 493 ff. Vgl. auch ebd., WA 18, 68 f. und 127 f.; ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, WA 7, § 124, 233 und § 185, 342 f.; ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, WA 10, § 482, 301 f. 6 Ebd., 507. 7 Ebd., WA 18, 68. 5
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Einleitung
Hingegen war dem Griechen die »Selbständigkeit des Ich in sich«, das Bewusstsein, als Mensch frei zu sein, fremd, weil – und hier zeigt sich nach Hegel die Ursache der Grenze des griechischen Selbstverständnisses – der Begriff eines absoluten Gottes und die damit verbundene Göttlichkeit des einzelnen Individuums fehlten: »Die Griechen hatten menschlich gebildete Götter, hatten Anthropomorphismus; ihr Mangel ist, daß sie dies nicht genug waren. Die griechische Religion ist zuviel und zuwenig anthropomorphistisch: zuviel, indem unmittelbare Eigenschaften, Gestalten, Handlungen ins Göttliche aufgenommen sind; zuwenig, indem der Mensch nicht als Mensch göttlich ist, nur als jenseitige Gestaltung, nicht als Dieser und subjektiver Mensch.« 8 Es ist nicht zu übersehen, dass Hegel im Begriff des christlichen Gottes die entscheidende Bedingung für die Ausbildung der Subjektivität sieht und demnach das Selbstverständnis der Moderne – gerade in seiner Abgrenzung von der Antike – im Christentum, der »zweite[n] Weltschöpfung«, 9 seine Voraussetzungen hat. Das von Hegel ausgehende, mit einem christlichen Vorbehalt versehene philosophiegeschichtliche Urteil, der Antike ein Bewusstsein für Subjektivität abzusprechen, ist bis heute fast ausnahmslos in der Philosophiegeschichtsschreibung tradiert worden. So geht Eduard Zeller in seinem Hauptwerk Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, das über Jahrzehnte hinweg die Philosophiegeschichtsschreibung dominierte, vom hegelschen Ansatz einer inneren Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung aus: 10 Obgleich er sich von Hegels Parallelisierung von philosophischer Logik und historischer Abfolge distanziert, übernimmt er die vorgegebene Subjekt-Objekt-Relation als Deutungs- und Gliederungsschema der griechischen Philosophie. Im Unterschied zur neuzeitlichen Philosophie, die nach der Einheit des Gegensatzes zwischen Geist und Natur strebe, sei der Charakter der antiken Philosophie durch das unmittelbare, ungebrochene Ineinander von Geistigem und Natürlichem, das harmonische Verhältnis zwischen Subjektivem und Objektivem geEbd., WA 19, 508. Vgl. zu dieser Entsprechung von anthropomorphem Polytheismus griechischer Gottesvorstellung und menschlichem Selbstverständnis der Griechen auch ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, WA 17, 123 ff., 128 ff. und 141 ff. 9 Ebd., 510. 10 Vgl. dazu E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, Teil I/1 (1844), 2006, 176–196. Zu Zellers Interpretation vgl. H. J. Krämer, Die Bewährung der historischen Kritik, 1994, bes. 149. 8
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prägt. Selbst in der nacharistotelischen Philosophie, in welcher sich Anfänge der Subjektivität zu entwickeln begännen, sei diese Philosophie nicht fähig, den Gegensatz zwischen Geist und Natur wirklich zu vollenden und ihn angemessen zu vermitteln, weil sich die ursprüngliche Voraussetzung des griechischen Denkens – sein Objektivismus – immer wieder geltend mache. Mit Wilhelm Dilthey gelangt diese Auffassung auch in den philosophischen Lehrbestand: 11 Obwohl durch Sokrates erstmalig die Selbstbesinnung in der Philosophie auftrete, indem er auf den letzten Erkenntnisgrund einer jeden Behauptung zurückging und diesen im sittlichen Bewusstsein fand, vermochte auch Sokrates nicht die Grenze des griechischen Geistes zu überschreiten. Die Begrenzung besteht für Dilthey im objektiven Standpunkt griechischen Denkens, sich auf ein vom Subjekt unabhängiges, dem Erkennen vorausgesetztes Sein zu beziehen: »Auch der Selbstbesinnung des Sokrates geht nicht auf, daß die Außenwelt Phänomen des Selbstbewußtseins, daß uns aber in diesem selber ein Sein, eine Wirklichkeit gegeben sei, deren Erkenntnis uns allererst eine unanfechtbare Realität aufdeckt.« 12 Die Wende zum Subjekt gelingt nach Dilthey erst in der Innerlichkeit des Christentums, in dessen Geistesverfassung er sowohl die Anforderung als auch die Möglichkeit einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden erkenntnistheoretischen Grundlegung sieht. Dieser neue Standpunkt des Selbstbewusstseins findet für Dilthey seinen ersten exemplarischen Ausdruck bei Augustinus: Der Kirchenvater habe in der Selbstbesinnung die unmittelbare Selbstgewissheit der inneren Erfahrung des Subjekts aufgedeckt und diese keinem Zweifel unterworfene Realität zum Ausgangspunkt seiner begrifflich-theoretischen Anstrengungen gemacht. Pointiert formuliert findet sich die hegelsche Auffassung, erneut unter christlichem Vorbehalt stehend, bei Gerhard Krüger, der mit ausdrücklichem Bezug auf Hegel »im Christentum den Grund der Wendung zum Selbstbewußtsein« sieht und nach dessen Auffassung eine »vollständige Geschichte des philosophischen Selbstbewußtseins […]
Vgl. dazu W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1922, 177–179; zur neuen Geisteshaltung des Christentums, insbesondere bei Augustinus vgl. ebd., 250– 267. 12 Ebd., 178 f. 11
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Einleitung
mit Augustin beginnen« müsste, 13 denn die Griechen waren »Weltbetrachter, nicht Selbstbetrachter«. 14 Selbst Martin Heidegger lässt sich in die Nachfolge Hegels stellen, wenngleich sein Subjektivitätsvorbehalt gegenüber der Antike ganz anderer Provenienz ist: 15 Hegel hatte sein System des spekulativen Idealismus als Vollendung der Philosophie verstanden und von dieser Vollendung her die griechische Philosophie als deren Beginn begriffen. Weil Hegel infolgedessen »das Wesen der Geschichte aus dem Wesen des Seins im Sinne der absoluten Subjektivität« 16 fasst – d. h. Sein als Anwesenheit und Wahrheit als Richtigkeit und Gewissheit –, vermag er aus der Sicht Heideggers auch das Sein im griechischen Sinne nicht aus dem Bezug zum Subjekt zu entlassen: Selbst das unbestimmte Unmittelbare bzw. das abstrakte Allgemeine des griechischen Denkens sei für Hegel das vom bestimmenden und begreifenden Subjekt Gesetzte, auch wenn sich das antike Subjekt noch nicht als solches begriffen habe. Dass Hegels Philosophie nach dieser Auslegung in die Geschichte der europäischen Metaphysik als einer den wahren Sinn von Sein verG. Krüger, Die Herkunft des philosophischen Selbstbewußtseins, 1933, 230. Sein christlicher Vorbehalt richtet sich gleichzeitig – am Beispiel Descartes’ – gegen die Vereinseitigungen und Folgen der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, welcher er die ursprüngliche Fassung des Selbstbewusstseins in der Tradition theologischen Denkens augustinischer Herkunft affirmativ gegenüberstellt. Vgl. auch ders., Grundfragen der Philosophie, 1958, 110–128. 14 G. Krüger, Grundfragen der Philosophie, 1958, 73. Vgl. dazu das Kapitel: Das Schicksal der Wahrheitsfrage. a) in der Antike, ebd., 73–110. Die Aufzählung ließe sich beliebig erweitern: Heinz Heimsoeth kontrastiert die metaphysische Überordnung des Allgemeinen über dem Individuellen im antiken Weltbild, besonders in Form des absoluten Seinsvorranges des Allgemeinen im platonisch-aristotelischen Universalismus, scharf mit der durch das Christentum erfolgten Umkehrung der Bedeutung und Blickrichtung: Das Allgemeine werde jetzt vom Individuellen aus gedacht, dessen Einzigartigkeit sogar noch zusätzlich betont (Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik, 1922, daraus: V. Das Individuum, 236 ff.). Julius Stenzel spricht von einer charakteristischen »Abdämpfung des individuellen Selbstbewußtseins, indem der Einzelne nicht auf sich zu – reflektierend – sondern von sich weg ins Gegenständliche hinein seinen Blick richtet«, die als Folge einer »kosmischen Auffassung vom Menschen« der griechischen Metaphysik sogar in der ausdrücklich auf das Sein des Menschen gerichteten Fragestellung des Sokrates beibehalten sei (Metaphysik des Altertums (1934), 1971, 30; zu Sokrates vgl. ebd., 90 f. und 96–98). Vorurteile sind oftmals zeitresistent, noch Ende der 80er-Jahre sieht Hans Robert Jauss den Anfang des Individuums in der Heraufkunft des Christentums und bei Augustin (Vom plurale tantum der Charaktere, 1988, 242 ff.). 15 Vgl. dazu M. Heidegger, Hegel und die Griechen, 1960. 16 Ebd., 54. 13
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Hegels philosophiegeschichtliche These
stellenden Geschichte der »Seinsvergessenheit« gehört, ist die eine Seite. Die andere, dass Heidegger für die Wiedergewinnung des ursprünglichen Sinnes von Sein als eines dynamischen Geschehens und von Wahrheit als Unverborgenheit ein Selbstverständnis des Menschen jenseits von Subjektivität reklamiert und aufgrund dessen jede Suche nach Subjektivität unter sein Verdikt der Seinsvergessenheit fällt. 17 Nun speziell zu Platon: Ihn trifft zusätzlich das bekannte hegelsche Diktum, er habe in der Politeia nur »die Natur der griechischen Sittlichkeit« aufgefasst, hingegen das »Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen« nicht nur nicht beachtet, sondern absichtlich verletzt, indem er »ihm seinen nur substantiellen Staat entgegenstellte und dasselbe bis in seine Anfänge hinein […] ganz ausschloß«. 18 Aus der Sicht Hegels konnte für Platon das neue Prinzip nur ein Prinzip des Verderbens und Untergangs sein, da es dem griechischen Geist der unbefangenen Sittlichkeit widersprach. Dieses Platon-Bild Hegels steht allerdings in einem auffälligen Gegensatz zu seiner Sokrates-Darstellung:19 Hegel hatte in aller Aus»Aber die 3Alffijeia, die Entbergung, spielt […] im Ganzen der griechischen Sprache, die anders spricht, sobald wir bei ihrer Auslegung die römischen und mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorstellungsweisen aus dem Spiel lassen und in der griechischen Welt weder nach Persönlichkeiten, noch nach dem Geist, noch nach dem Subjekt, noch nach dem Bewußtsein suchen.« (Ebd.) 18 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, WA 7, Vorrede, 24 und § 185, 342. Vgl. auch ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 19, 113 f. und 123–129. Die Berufung auf Hegels Diktum gegen Platon findet sich immer wieder im Kontext politischer Philosophie, so z. B. bei Karl R. Popper (wenn auch kritisch gegen Hegel gewendet), der Platon als »Urvater« des modernen Totalitarismus namhaft machte (Die offene Gesellschaft, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, 1980, 392 f., Anm. 43 mit Bezug auf den § 185 der Grundlinien der Philosophie des Rechts). In der Tradition Hegels steht auch die Kritik von Dolf Sternberger an der Einheitskonzeption des platonischen Staates, welcher er die Vielheit als das fundamentale Konstituens der Polis des Aristoteles entgegenhält, wenngleich mit einer im Vergleich zu Hegel völlig anderen Pointe: Indem Sternberger Einheit und Vielheit als kategorialen Gegensatz auffasst, und zwar als fundamentalen Unterschied in der Wesensbestimmung des Staates, und diesen Kategorien zwei, Antike und Moderne übergreifende Traditionslinien zuzuordnen vermag, wird bei ihm aus der zunächst naheliegenden »querelle politique des anciens et des modernes« innerhalb der politischen Philosophie die »querelle des Platoniens et des Aristotelistes« (Politie und Leviathan, 1990, bes. Kapitel: Der Staat – Vielheit oder Einheit?, 289 ff.; ebenso ders., Drei Wurzeln der Politik, 1978, 105 ff. und 392 f.). 19 Vgl. dazu G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 18, 441 ff. und 467 ff. 17
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Einleitung
drücklichkeit Sokrates »das Prinzip der subjektiven Freiheit, daß man das Bewußtsein in sich selbst führt«, zugesprochen und ihn zudem als »Hauptwendepunkt des Geistes in sich selbst« begriffen! 20 Sollte der bedeutendste Schüler wirklich das, was seinen Lehrer charakterisierte, bewusst negiert haben, nach Hegel sogar mit Notwendigkeit, weil die Entwicklungsstufe des Geistes nichts anderes zuließ? Die merkwürdige Trennung zwischen Sokrates und Platon beruht auf einer nahezu ausschließlich an Xenophon 21 und Aristoteles orientierten Sokrates-Interpretation. Hegel versteht Sokrates hauptsächlich als ethischen Begriffsphilosophen, der auf der Ebene des reinen Verstandesdenkens bisher geltende Normen destruierte. Selbst aber blieb Sokrates – und das kennzeichne den Mangel seines Prinzips – bei der Unbestimmtheit der sittlichen Allgemeinbegriffe stehen, insofern er »das Gute an sich« nicht zu konkretisieren vermochte. Weil er sich nicht als derjenige wisse, der mit Bewusstheit in sich selbst entscheide, berufe er sich für Entscheidungen in konkreten Situationen auf sein daimnion: in der eigenwilligen Umdeutung Hegels ein psycho-pathologisches Phänomen, ein in das subjektive Bewusstsein verlegtes eigenes, vordem für die Griechen äußeres Orakel. Zwar liege die Entscheidungsmacht der Sache nach in der Zuständigkeit des Individuums, erschiene aber bei Sokrates selbst – ebenso mangelhaft wie sein Wissen des Allgemeinen – als sein »Dämon« und könne als die Eigenheit dieses Individuums keinen Anspruch auf allgemeine Wahrheit erheben. 22 Ebd., 468 und 441. Hegel spricht auch von der »weltgeschichtlichen Konversion«, welche das mit Sokrates erstmalig auftretende Prinzip der Subjektivität verursacht habe (ebd., 495). 21 Xenophon habe Sokrates »viel genauer und getreuer geschildert als Platon«, und zwar, man beachte, insbesondere »in Ansehung des Inhalts seines Wissens und des Grades, wie sein Denken gebildet war« (ebd., 477 und 520). Zu Aristoteles als Quelle für die Sokrates-Interpretation vgl. Anm. 23 unten. 22 »Der Dämon des Sokrates ist die ganz notwendige andere Seite zu seiner Allgemeinheit; wie ihm diese zum Bewußtsein kam, so auch die andere Seite, die Einzelheit des Geistes. […] Welcher Mangel in dieser Seite, werden wir sogleich bestimmen: nämlich der Mangel des Allgemeinen ist ersetzt selbst mangelhaft, auf eine einzelne Weise […]. Es erscheint darum als eine Eigenheit, welche nur einem Einzelnen zukam; dadurch erhält er den Schein der Einbildung, erscheint ihm nicht, wie er in Wahrheit.« (Ebd., 491) Dahinter steht auch ein prinzipieller Vorbehalt gegenüber der Moralität, der sich aus Hegels eigenem ethischen Ansatz ergibt: Moralität an sich ist ein einseitiger und insofern unberechtigter Standpunkt, solange sie nicht in einem übergreifenden Zusammenhang mit der objektiven Sittlichkeit des Volkes steht. Zu Hegels Sokrates-Auffassung vgl. E. Spranger, Hegel über Sokrates, 1938; E. Sandvoss, Hegels Antisokratismus, 20
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Hegels philosophiegeschichtliche These
Abgesehen davon, dass Hegel die Bedeutung von Sokrates als »Hauptwendepunkt des Geistes in sich selbst« wieder relativiert, ist mit Blick auf das Verhältnis zu Platon entscheidend, dass er Sokrates einen theoretischen Wissensbegriff unterstellt und die dem sokratischen Philosophieren wesentlich existenziell-praktische Dimension des Begriffs von Denken und Wissen verkennt. In dieser Hinsicht macht sich dieses auch stark durch Aristoteles 23 geprägte Sokrates-Bild in Bezug auf Platon bemerkbar: So kann ebenfalls sein Schüler Platon in der hegelschen Deutung nicht als praktischer Philosoph verstanden werden, sondern das von Sokrates übernommene Erbe besteht nach Hegel ausschließlich in der Übernahme und Erweiterung des »sokratischen Standpunkts zur Wissenschaftlichkeit«, 24 d. h. in der Ausbildung der Philosophie zur Wissenschaft. Das Ausblenden der praktischen Dimension platonischer Philosophie steht ebenso im Zusammenhang mit Hegels eigenen Intentionen, die Philosophiegeschichte als Vorgriff auf seine eigene absolute Metaphysik spekulativ zu deuten. Indem Hegel die Spätdialoge Platons 25 und die platonische Dialektik in den Mittelpunkt seiner Auslegung stellt und diese als Vorwegnahme seiner eigenen spekulativen Dialektik versteht, folgt er der neuplatonischen Platon-Interpretation und trägt nicht unwesentlich zur absolut-idealistischen Dogmatisierung Platons bei. 26 Das die Individualität ausschließende Platon-Verständnis besteht letztlich – nicht nur bei Hegel – aus einem Bündel von Vor-
1966. Zur Interpretation des daimnion des Sokrates vgl. H. Gundert, Platon und das Daimonion des Sokrates, 1977 und Anm. 119 im Kapitel 4.2.3 unten. 23 Bereits Aristoteles hatte als den wesentlichen Beitrag des Sokrates zur Philosophie den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen sowie das allgemeine Definieren und darin den Anfang der Wissenschaft gesehen (Metaph. XIII 1078b27–30, vgl. auch I 987b2–4). Ebenso hatte er bei seiner Kritik an Sokrates einen theoretischen Wissensbegriff vorausgesetzt, insofern dieser Tugend als Wissen (¥pistffimh) verstanden und sie dadurch mit zu definierenden Begriffen (lgoi) gleichgesetzt habe (EN I 1144b17–21 und 28–30). Hegel verweist zweimal innerhalb seiner Sokrates-Darstellung auf diese AristotelesStellen (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 18, 457 und 475). 24 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, WA 19, 11. 25 In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie machen die Dialoge Politeia, Timaios und Parmenides »zusammen den ganzen Körper der Platonischen Philosophie aus« (ebd., 61). 26 Zu Hegels Platon-Deutung, wenngleich aus einer affirmativen Sicht, vgl. J. Halfwassen, Idee, Dialektik und Transzendenz, 1997. A
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behalten – philosophiegeschichtlicher, christlicher und neuplatonischer Provenienz. Gegen Hegels philosophiegeschichtliche Auffassung argumentiere ich in der vorliegenden Arbeit dafür, dass in den Dialogen Platons das Problem von Selbstbestimmung und Individualität als philosophisches Problem präsent und Gegenstand der philosophischen Erörterung ist. Hatte Hegel zum einen die Philosophie als »die Eule der Minerva«, die »erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginnt, 27 und zum anderen seine Metaphysik der absoluten Subjektivität als Vollendung der Philosophie verstanden, so lässt sich in einem zweifachen Sinn von Hegel als dem Epimetheus der Geschichte der Philosophie sprechen. Hingegen haben wir Platon als prometheischen Denker zu begreifen – als philosophischen Gründer der Thematik.
b.
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Mit der These, auch innerhalb der antiken Philosophie, speziell in der Philosophie Platons, lasse sich von Selbstbestimmung sprechen, stellt sich zugleich die Frage, inwiefern antike und moderne Ethik im Allgemeinen und antikes und modernes Verständnis von Selbstbestimmung im Besonderen miteinander übereinstimmen oder nicht. Gehört das antike Verständnis nur zur Vorgeschichte des modernen Begriffs, sodass sich die Fortschrittsthese zumindest in einer moderateren Form weiterhin vertreten lässt? Oder beginnt mit der Antike bereits die Geschichte dieses Themas, vielleicht mit einer gegenüber der Moderne eigenständigen Ausformulierung? Gegenwärtige Positionierungen zu diesem Problem fallen sehr unterschiedlich aus. Sie reichen von einer Gegenüberstellung von antiker und moderner Ethik, verbunden mit der Intention, bestimmte Einseitigkeiten moderner Theoriebildung im Rückgriff auf antike Fragestellungen zu korrigieren, bis zu einer Antike und Moderne übergreifenden Kontinuitätsbehauptung. Letztgenannte schließt die Differenzen nicht aus, lässt sie aber gegenüber einer Betonung der Kontinuität in den Hintergrund treten: Die Kontinuität bestehe im Anspruch auf individuelle Selbstständigkeit einschließlich einer Radikalisierung dieses G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, WA 7, Vorrede, 28.
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Anspruchs unter modernen Bedingungen, und die Radikalisierung fände ihren Ausdruck in der von Kant benutzten Formel des Menschen als Zweck an sich selbst. 28 Zwar wird auch in der vorliegenden Arbeit von der Kontinuitätsannahme ausgegangen. Es ist allerdings zu fragen, ob sich das Verhältnis zwischen antikem und modernem Verständnis mit den Begriffen der Kontinuität und Radikalisierung angemessen erfassen lässt. Vorausgesetzt, dass jede historische Weiterführung einer Fragestellung als eine Metamorphose der ihr vorausliegenden Antwort begriffen werden kann, bleibt zunächst offen, ob die Differenz zwischen beiden Begriffsbestimmungen mit dem Gedanken der Radikalisierung adäquat angegeben ist. Es ist ebenso vorstellbar, dass einige Aspekte des ursprünglichen Begriffs nur noch sekundär von Bedeutung oder überhaupt nicht mehr in die neue Begriffsbestimmung eingegangen sind. In diesem Fall liegen eher zwei gegenläufige Bewegungen vor – Radikalisierung und Verlust. Dann besteht die Möglichkeit, dass die antike Philosophie, speziell die platonische, auf das Problem der Selbstbestimmung und Individualität auch eine andere Antwort gibt. Deren mögliche Aktualität würde von vornherein ausgeblendet, wenn sie als vormodern bezeichnet und ihr durch diese Bewertung eine nur philosophiehistorische Bedeutung zugestanden wird. 29 Der Unterschied zwischen antikem und modernem Verständnis wird angesichts des Begriffsgebrauchs bei Kant, welcher Selbstbestimmung als Begriff überhaupt erst in den philosophischen Kontext einführte, 30 offensichtlich: Abgesehen davon, dass Kant den Begriff nicht Vgl. dazu von V. Gerhardt: Moderne Zeiten, 1992, bes. 602 ff.; Selbstbestimmung, 1999, 107 ff. 29 Zum Vergleich von antiker und moderner Ethik bezüglich ihrer Konvergenz und Divergenz und insbesondere hinsichtlich einer möglichen Aktualisierung der antiken Ethik für die gegenwärtige Problemlage gibt es seit Längerem eine weitläufige, vielschichtige und kaum noch zu überblickende Diskussion: z. B. O. Gigon, Der Begriff der Freiheit in der Antike, 1973, bes. 51–56; H. J. Krämer, Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs, 1977, bes. 267–270; ders., Antike und moderne Ethik?, 1983; B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000. Zur Renaissance, welche die antike Frage nach dem guten Leben seit einigen Jahren in der aktuellen Theoriediskussion erfährt, vgl. die angegebene Literatur in den Anm. 43 bis 47 unten. Für das Problem des Selbstbewusstseins bei Platon liegen bereits vergleichende Studien vor. Vgl. dazu die Angaben in Anm. 69 im Kapitel 3.2 unten. 30 »Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in ver28
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definiert, sondern nahezu beiläufig verwendet, könnte eine genaue Interpretation der Selbstbestimmungsformel des Willens zeigen, dass Selbstbestimmung nur partiell der Autonomie bzw. Selbstgesetzgebung entspricht und als der umfassendere Begriff auch den Bereich der von Kant sogenannten Heteronomie umfasst. Selbstbestimmung beschreibt zunächst nur die aller Moralität vorausliegende Handlung als solche und bezeichnet erst in einer ausdrücklich moralischen Perspektive die Selbstgesetzgebung des Willens. 31 Allerdings trifft Kant selbst diese Unterscheidung nicht, und eine moralneutrale Handlungstheorie ist in seinen Schriften nicht ausdrücklich ausgearbeitet, wenngleich vorausgesetzt, wie neuere Interpretationen zeigen konnten. 32 Nimmt man Kant in seinem tatsächlichen Vorhaben beim Wort, ein apriorisches Prinzip von Moralität zu begründen, das die strikte Allgemeingültigkeit und Unbedingtheit von moralischen Geboten verbürgt, dann ist sein Begriffsgebrauch insofern für die moderne Ethik paradigmatisch geworden, als dass Selbstbestimmung mit Autonomie, und das heißt: mit moralischer Autonomie, gleichzusetzen ist. Selbstbestimmung wird als das Vermögen des Willens bzw. der praktischen Vernunft gedacht, sich selbst durch sich selbst zu bestimmen. Der Wille gibt sich selbst in der Regelung seiner Maximen als letzten Bestimmungsgrund ein allgemeines Gesetz – den kategorischen Imperativ oder das Sittengesetz. Voraussetzung dafür ist die Freiheit des Willens von allen empirischen Bestimmungsgründen, wie Neigungen und Benünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun ist das, was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftige Wesen gleich gelten.« (I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 427) Zur Begriffsgeschichte vgl. V. Gerhardt, Artikel Selbstbestimmung, 1995. 31 Vgl. neben der Selbstbestimmungsformel des Willens auch Kants Ausführung zu den »Principien der Sittlichkeit aus Heteronomie« und die »Rathschläge der Klugheit«, die als hypothetische Imperative das Erreichen der eigenen Glückseligkeit befördern sollen. (Ebd., 441 ff. und 416–419) 32 Gerold Prauss zeigt, indem er den Begriff der Autonomie anders als Kant nicht auf Moralität eingrenzt, dass der Bereich der Heteronomie und insbesondere das Streben nach Glückseligkeit als ein Handeln aus Neigung nicht als ein Fall von ausschließlicher Fremdbestimmung, sondern als Selbstbestimmung zu solcher Fremdbestimmung bzw. als Autonomie zur Heteronomie verständlich gemacht werden kann (Kant über Freiheit als Autonomie, 1983, 52 ff. und 101 ff.). Auch Beatrix Himmelmann gelangt in ihrer Kant-Interpretation zu dem Ergebnis, dass Kant neben der moralischen Autonomie im strengen Sinn eine moralneutrale Autonomie oder Selbstbestimmung des Willens angenommen hat (Kants Begriff des Glücks, 2003, 51 ff.).
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dürfnissen, subjektiven Absichten oder dem eigenen Glück. Gefordert ist also ein allgemeiner Standpunkt, der von einer nicht vergleichbaren Individualität gerade absieht, damit der kategorische Imperativ für alle vernünftigen Wesen gleich, d. h. ohne jede Einschränkung, Gültigkeit beanspruchen kann. Und nur dieser Bereich der intersubjektiven Normen, des richtigen bzw. gerechten Handelns kann Gegenstand der Moralphilosophie sein, weil nur auf die diesem Bereich korrespondierende moralische Frage sich nach Kant in der Philosophie streng begründbare und allgemeinverbindliche, d. h. universalisierbare Antworten finden lassen. Die andere praktische Frage, die sich auch und gerade mit dem Problem der Selbstbestimmung stellt, und zwar die ethische Frage im weiten Sinn als die Frage nach dem guten Leben bzw. dem wahren Glück des Individuums, schließen nach einem weitverbreiteten Verständnis Kant und die von seiner Konzeption ausgehende moderne Theoriebildung wegen begründungstheoretischer Schwierigkeiten aus der Moralphilosophie aus: 33 Zwar zählt Kant das menschliche Streben nach Glückseligkeit zu den Grundgegebenheiten menschlichen Daseins, hält es aber zugleich nicht für möglich, einen bestimmten, konsistenten Begriff von Glückseligkeit zu bilden, weil nach seinem Verständnis Glück prinzipiell auf Erfahrung bezogen ist, zugleich aber nach maximaler Erfüllung strebt und mit dem Gefühl der Lust bzw. des Wohlbefindens verbunden ist. 34 Nach diesem Begriff von Glück, der nicht ohne Weiteres selbstverständlich ist, 35 kann aus seiner Sicht das Prinzip der Glückseligkeit nicht einmal mehr eine sichere Orientierung im Handeln ermöglichen, geschweige denn als Prinzip von Moralität angenommen werden: Auf die Frage nach dem guten Leben können keine allgemeingültigen praktischen Prinzipien, höchstens ungewisse Ratschläge der Klugheit angegeben werden, weil die Antwort Vgl. dazu E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 1984, 45 ff.; U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 13; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 12 f. Dass diese Lesart von Kant auf einem Vorurteil beruht, hat Beatrix Himmelmann eindrucksvoll belegen können (Kants Begriff des Glücks, 2003). 34 Vgl. dazu I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 418. Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft, AA III, B 834: »Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive dem Grade und auch protensive der Dauer nach).« 35 Zum neuzeitlichen subjektiven Glücksbegriff als »Gefühl« und dessen Kritik vgl. M. Hossenfelder, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, 1992. 33
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aufgrund der jeweils subjektiven Bedürfnisse und Empfindungen individuell verschieden ausfallen muss. 36 Ebenso weist Kant die objektive Beantwortung zurück, welche ein inhaltliches Kriterium für die Beschaffenheit des Menschen angibt, weil der »ontologische Begriff der Vollkommenheit« leer und unbestimmt sei und zudem zirkulär, indem in ihm das bereits vorausgesetzt wird, worauf der Begriff erst eine Antwort sein soll. 37 Trotzdem ist das nicht Kants letztes Wort zur Glückseligkeit: Wenn uns auch in dieser Welt die Übereinstimmung unseres moralischen Verhaltens mit unserem je individuellen Glück notwendig versagt bleiben muss, so bleibt uns als der letzte Bezugspunkt das Ideal des höchsten Gutes: die Einheit von Moralität als der Bedingung für Glückswürdigkeit und der dieser Moralität angemessenen Glückseligkeit – und mit diesem Postulat zumindest die Hoffnung auf deren »jenseitige« Einheit. 38 Entgegen dieser Trennung von gutem Leben und Moralität dachte die antike Ethik diesseitiger, denn die umfassendere Frage nach dem guten Leben, die Frage nach der Glückseligkeit, der e'daimonffla, steht im Mittelpunkt der griechischen Ethik, allerdings ohne die moralische Problematik, worauf sich die moderne Ethik in der Nachfolge Kants hauptsächlich bezieht, auszuschließen, im Gegenteil: Die primäre Frage der antiken Ethik nach dem, was man wahrhaftig will, umschließt sekundär die Frage nach dem, was man in Bezug auf die anderen tun soll, und zwar derart, dass moralisches Handeln aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse verstanden wurde, sodass individuelles Glück, t ⁄gajn, und moralisches Gutsein, t kaln ka½ t dfflkaion, miteinander übereinstimmen. Dieser Auffassung ging historisch die sophistische Aufklärung voraus, welche die traditionelle Moral als Konvention demaskiert und damit die Selbstverständlichkeit von moralischem Verhalten infrage gestellt hatte. Moral wurde infolgedessen begründungsbedürftig. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Moral und Glück, sahen die Sophisten im jeweiligen Interesse des Handelnden, d. h. seinem individuellen Wohlergehen, das Begründungskriterium schlechthin. Sie verbanden damit die Behauptung, dass moraZu Kants Ablehnung der subjektiven Möglichkeit einer Antwort auf die Frage nach der Glückseligkeit vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 442 f.; auch Kritik der praktischen Vernunft, AA V, § 3, 22 ff. 37 Vgl. dazu ebd., AA IV, 443. 38 Vgl. zum Verhältnis von Moral und Glück bei Kant knapp und pointiert M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 1995, 20 ff. 36
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lisches Handeln immer auf Kosten des eigenen Glücks geht, denn »die Gerechtigkeit und das Gerechte [sind] eigentlich ein fremdes Gut«, so lautet die von Thrasymachos vertretene These im Buch I der Politeia. 39 Aus diesem Grund sei dem eigenen Glück der Vorzug vor der moralischen Rücksicht gegenüber anderen zu geben. Die antike Ethik folgte den Sophisten in ihrem kritisch-rationalen Anspruch, moralisches Handeln neu zu begründen und sich dabei am Interesse des Handelnden zu orientieren. Sie behauptet aber gegen die These der Sophisten, dass gerade derjenige, welcher moralisch handelt, nicht gegen, sondern seinem wohlverstandenen Eigeninteresse entsprechend handelt und sein eigenes Glück nicht verfehlt, sondern gerade erreicht. Bei Platon steht die Frage, wie man leben soll, nicht nur im Mittelpunkt seiner im engeren Sinn praktischen Philosophie, sondern die Frage nach dem Guten ist die Frage sokratisch-platonischer Philosophie schlechthin: Philosophieren heißt, nach dem Guten zu suchen, und das in einem prinzipiellen Sinn, denn alle anderen Fragen müssen, wenn sie philosophisch sinnvoll sein sollen, auf diese Frage bezogen bleiben. 40 Dadurch hat Philosophie nicht ein theoretisches Wissen von den letzten Dingen oder ersten Prinzipien zum Gegenstand, sie ist also nicht – wie nach einem heute verbreiteten Verständnis – bloße Theoriebildung, sondern Philosophie wird zur Selbsterkenntnis, ohne die Erkenntnis der Welt auszuschließen. Nach diesem Verständnis des platonischen Begriffs von Philosophie als praktischer Selbsterkenntnis vertrete ich die weitere These, dass Platon Selbstbestimmung vom Individuum ausgehend gedacht hat. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die existenzielle Dimension des Problems als auch Bedingungen und Grenzen von Selbstbestimmung zu thematisieren. 41 Die angedeuteten Differenzen zwischen antiken und modernen Ethikkonzepten und insbesondere zwischen Platon und Kant sind der 39 mþn dikaiosÐnh ka½ t dfflkaion ⁄lltrion ⁄gajn t† nti (343c2 f.). Vgl. auch 367c3 f. und bereits 338c2 f. 40 Zu diesem Zusammenhang zwischen der Frage nach dem guten Leben und Philosophie bei Sokrates und Platon vgl. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 15 ff.; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 11 f. und 31 ff.; H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000. 41 In der mir bekannten Forschungsliteratur ist bislang noch nicht nach Selbstbestimmung in der Philosophie Platons gefragt worden, eine Ausnahme bilden die Publikationen zu diesem Thema von Volker Gerhardt (vgl. die in der Bibliographie aufgeführten Titel des Autors).
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Hintergrund, vor dem diese Arbeit steht und vor dem sich der platonische Ansatz konturiert. 42 Das bedeutet allerdings nicht, auch nicht nach meinem Verständnis, dass die antike Ethik nur philosophiehistorisch von Belang wäre. Das Gegenteil ist der Fall: In den letzten zwei Jahrzehnten ist nicht nur ein verstärktes Interesse an einer Aktualisierung der Fragestellung nach dem guten Leben in der moralphilosophischen Diskussion zu beobachten, sondern es lässt sich vielmehr von einer Wiederkehr der Ethik des guten Lebens, einer regelrechten Renaissance dieses Themas sprechen – und zwar im Rückgriff auf die antike Ethik, wobei diese selbst erneuert oder als Korrektiv für Defizite der modernen Ethik benutzt wird. Denn insbesondere gegen den Formalismus der Ethik Kants und seiner Nachfolger wird der Ausschluss der ethischen Frage: »Wie soll ich leben?«, kritisiert und deren Wiederaufnahme und theoretische Ausarbeitung innerhalb der praktischen Philosophie in einer sich inzwischen differenzierenden Diskussion thematisiert: als Argumentation für einen objektiven Begriff des wahren Glücks bzw. für objektive Bestimmungen des guten Lebens, 43 als Rückkehr zur antiken Identität von Glück und Moral 44 oder als Verteidigung der in der Lebensführung auszuhaltenden und zu vermittelnden Spannung und Differenz zwischen individuellem Glücksstreben und moralischer Rücksichtnahme auf andere, 45 ebenso als »Ethik der Lebenskunst« 46 bis hin zu einer – über den engeren Horizont der MoralGegen die oft vertretene Dichotomisierung von antiker Strebens- und neuzeitlicher Sollensethik hatte ich bereits die von Volker Gerhardt vertretene Kontinuitätsthese erwähnt, gegen eine vereinfachende Gegenüberstellung von Platon und Kant sprechen exemplarisch die differenzierten Ausführungen von Dieter Henrich (Der Begriff der sittlichen Einsicht, 1960) und Hermann Weidemann (Kants Kritik am Eudämonismus, 2001). 43 Vgl. dazu E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 1984. Tugendhat hält die Wiederaufnahme der Frage nach dem wahren Glück unter der Bedingung, nicht hinter die inzwischen erreichten Begründungsansprüche zurückzufallen, für geboten und plädiert, indem er Kants Kritik am Vollkommenheitsbegriff methodisch ernst nimmt, für einen formalen, inhaltlich nicht fixierten Begriff von psychischer Gesundheit als objektives Kriterium für das eigene, wohlverstandene Glück. Vgl. ebenso M. Hossenfelder, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, 1992, 24 ff.; A. Hügli, Mutmassungen über den Ort des Glücks, 1997, bes. 54 ff. 44 Vgl. dazu A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, 1997; C. Taylor, Quellen des Selbst, 1999; R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, 1989. 45 Vgl. dazu B. Williams, Ethik und die Grenzen der Philosophie, 1999; M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 1995. 46 Vgl. dazu M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 2000; ders., Die Sorge um sich, 2000; 42
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philosophie hinausgehenden – philosophiehistorischen und systematischen Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen der individuellen Frage nach dem guten Leben und der Philosophie wie auch ihrem Gegenstand und ihrer Methode. 47 Auch wenn die vorliegende Arbeit sich nicht direkt an der aktuellen Debatte über das Verhältnis von antiker und moderner Ethik beteiligt, kann sie als ein indirekter Beitrag gelesen werden, z. B. als Auseinandersetzung mit der von Jürgen Habermas getroffenen Unterscheidung zwischen Ethik – als der Frage nach dem guten Leben – und Moral – als der einzig universalisierbaren Lehre von der Gerechtigkeit: 48 Nach diesem Verständnis stehen ethische Fragen aufgrund ihres Selbstbezuges in einem Zusammenhang mit der Identität und dem Selbstverständnis des jeweiligen Individuums. Deshalb liege deren Beantwortung in der alleinigen Zuständigkeit des Einzelnen. Hingegen ermögliche nur die Einnahme des universalen moralischen Standpunktes, auf die Frage nach dem, was alle wollen können, eine für alle verbindliche und gültige, d. h. gerechte Antwort zu finden. Hatte die klassische Ethik seit Aristoteles, und im Neoaristotelismus bis heute, versucht, die Frage nach dem guten Leben zu beantworten, so besteht nach der »genealogischen Betrachtung der Moral« von Habermas die Aufgabe der Moralphilosophie unter nachmetaphysischen Bedingungen der Moderne – und zwar seit Kant, in dessen Nachfolge Habermas seine eigene Diskursethik als intersubjektivistisch umgedeutete Moraltheorie kantischer Prägung stellt – in der Konzentration auf Begründungsfragen: in der Rechtfertigung des moralischen Gesichtspunktes und in der Normenbegründung in moralisch-praktischen Diskursen. Was wird in dieser Bestimmung der Moraltheorie von Habermas konsequent ausgeschlossen? Es ist der Einzelne als der Ausgangspunkt der moralischen Frage: »Was soll ich tun?«, sein Selbstverständnis und sowie die kleineren, in der Bibliographie angeführten Schriften und Interviews aus seiner letzten Arbeitsphase. Zur Neubegründung der Ethik Foucaults im Anschluss an die antike Ethik vgl. M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, 1995, 35 ff.; W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, 2000. 47 Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999; H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000. 48 Vgl. dazu von J. Habermas: Lawrence Kohlberg, 1991; Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch, 1991; Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, 176 ff.; Eine genealogische Betrachtung, 1999, bes. 38 ff. Inzwischen auch L. Wingert, Gemeinsinn und Moral, 1993, 13 f., 27 ff. und 48 ff. A
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sein Selbstbegriff als ein handelndes Wesen. Damit reduziert Habermas Moral auf einen ausschließlich theoretischen Begründungsdiskurs, auf ein »epistemisches Sprachspiel«, 49 in welchem die Zustimmung der Beteiligten nur durch epistemische Gründe, durch den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« gewonnen wird. Als derart gefasste theoretische Einsichten muss ihnen eine Motivation zu entsprechenden Handlungen fehlen. Von daher erklärt sich dann auch Habermas’ kategorische Ausgrenzung des Motivationsproblems aus der Zuständigkeit der Philosophie und dessen Verweisung in den ethischen Bereich von Identitäts- und Sozialisationsprozessen sowie in die Zuständigkeit der Betroffenen. 50 In diesen ethisch-existenziellen Diskursen der Selbstverständigung nimmt Habermas allerdings das, wovon er in der Moraltheorie so rigoros absieht, zur Kenntnis: ein bestimmtes vorgängiges Selbstverständnis des Einzelnen, damit es zu einer bewussten Entscheidung kommt, zu einer Einsicht, die zugleich eine Umorientierung des Lebens motiviert: »Andererseits ist meine Identität gegenüber dem reflexiven Druck eines veränderten Selbstverständnisses nur dann nachgiebig, ja wehrlos, wenn diese denselben Maßstäben der Authentizität gehorcht wie der ethisch-existentielle Diskurs selber. Ein solcher Diskurs setzt auf seiten des Adressaten bereits das Streben nach einem authentischen Leben voraus […]. Insofern bleibt der ethischexistentielle Diskurs auf das vorgängige Telos einer bewußten Lebensführung angewiesen.« 51 Meiner Ansicht nach kann eine Moralphilosophie zur Bestimmung moralischen Handelns weder den Begriff eines praktischen WisJ. Habermas, Eine genealogische Betrachtung, 1999, 63. Habermas gesteht zwar zu, dass »der Umstand, daß sich Gerechtigkeitsethiken gegenüber Motivationsfragen taub stellen müssen«, ein Problem bilde und dass unabhängig vom Problem der Willensschwäche »die Bereitschaft, eine Sache unter dem moralischen Gesichtspunkt zu betrachten, sowohl davon abhängig [ist], daß man die Dimension des Moralischen überhaupt wahrnimmt, wie auch davon, daß man diese ernst nimmt«. Aber den Philosophen als solchen bleibe »nur der Rückzug auf die reflexive Ebene einer Analyse des Verfahrens, womit ethische Fragen überhaupt zu beantworten sind. […] Die Moraltheorie taugt also zur Klärung des moralischen Gesichtspunktes und zur Begründung seiner Universalität; sie trägt aber nichts bei zur Beantwortung der Frage: ›Warum überhaupt moralisch sein?‹, ob diese nun in einem trivialen, in einem existentiellen oder im pädagogischen Sinne verstanden wird.« (Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, 184 f.) Vgl. auch ders., Lawrence Kohlberg, 1991, 94. 51 J. Habermas, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch, 1991, 112. 49 50
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sens noch eine vorgängige Disposition sowie das Selbstverständnis des Einzelnen außer Acht lassen. Platon ist dafür ein lehrreiches Beispiel, weil er ausgehend vom Guten – entgegen Habermas, der den Vorrang des Gerechten vor dem Guten mit Vehemenz verteidigt – weniger die Gerechtigkeit thematisiert, sondern vielmehr denjenigen im Blick hat, der Gerechtigkeit realisieren soll: den Gerechten, dessen Disposition und sein Selbstverständnis. Denn gegen Habermas lässt sich mit Platon argumentieren, dass das jeweilige Argument nicht von demjenigen, der es vertritt, zu trennen ist, oder anders gesagt: Nur derjenige, der in sich Gerechtigkeit realisiert hat, der Gerechte, wird auch dem anderen gerecht begegnen können. Der Grund dafür ist, dass nicht wie bei Habermas die wechselseitige Relation von Selbst- und Weltverhältnis durch die dichotome Unterscheidung von Ethik und Moral unterlaufen wird, sondern dass nach Platon, wie im folgenden Text nachgewiesen wird, jede Art des Weltverhältnisses, d. h. in Bezug auf moralisches Handeln: des Verhältnisses zum anderen, unumgänglich vom Selbstverhältnis des einzelnen Menschen geprägt ist. In dieser Arbeit unternehme ich also den Versuch, nicht nur Platon besser zu verstehen, sondern auch – uns selbst. 52
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Am Ende des Kapitels a. der Einleitung hatte ich Platon – im Gegensatz zu Hegel – als den prometheischen Denker von Selbstbestimmung in der Geschichte der Philosophie bezeichnet, der im Anschluss an Sokrates als der philosophische Gründer dieser Thematik zu begreifen ist. Lässt sich aus dieser Behauptung schließen, das Problem sei den Griechen vor Platon noch nicht gegenwärtig gewesen? Nicht ohne Weiteres, denn selbst unabhängig von der griechischen Kulturentwicklung könnte man einwenden, dass bereits mit der menschlichen Existenz sowohl Selbstbestimmung als auch Individualität als Sachverhalte gegeVgl. G. Böhme, Platons theoretische Philosophie, 2000, 4: »Deshalb halte ich es auch für gänzlich verfehlt, Platon verstehen zu wollen, indem man ihn mit modernen Mitteln, etwa der Prädikatenlogik oder Methoden der Sprachanalyse, rekonstruiert, denn der eigentliche Gewinn, den man aus einem Studium der Platonischen Philosophie ziehen kann, liegt gerade in umgekehrter Richtung, nämlich darin, daß wir von Platon her uns selbst besser verstehen lernen.«
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ben sind. Denn Menschen handeln bewusst, sie setzen sich aufgrund getroffener Entscheidungen Handlungsziele, an denen sie sich in ihrem Handeln orientieren und worauf sie sich selbst verstehen. Im bewussten Handeln bilden sie ein Selbstverhältnis aus, wodurch sie sich von anderen unterscheiden. Von diesem »natürlichen« und alltäglichen Sachverhalt, von welchem Philosophie gleichwohl auszugehen hat, ist das philosophische Denken über Selbstbestimmung und Individualität allerdings zu unterscheiden.53 Nur in dieser letzten Bedeutung spreche ich bei Platon vom Beginn der Geschichte von Selbstbestimmung und Individualität, und zwar, um es noch einmal zu betonen: in der Philosophie. Das bedeutet nicht, es habe keine »Vordenker« gegeben. Das Gegenteil ist der Fall: Platons philosophiegeschichtliche »Gründung« kann auf einer die Thematik selbst gut vorbereitenden langen Vorgeschichte in der griechischen Kulturentwicklung aufbauen. Gerade weil dieses Problem im allgemeinen Bewusstsein der Griechen bereits über einen langen Zeitraum hinweg präsent gewesen ist und – als klärungsbedürftig empfunden – thematisiert wurde, kann Platon nicht nur daran anschließen, sondern vermag er der philosophische Gründer zu sein. So hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts der Althistoriker Eduard Meyer in seinem gleichnamigen fünfbändigen Werk die Geschichte des Altertums als Prozess fortschreitender Individualisierung mit Sokrates als Höhepunkt dargestellt: »In ihm [Sokrates] erreicht der Individualismus der neuen Zeit den Gipfel […]. Sokrates hat die Summe der ganzen bisherigen Entwicklung ihres Denkens [der griechischen Nation] gezogen und das Ergebnis so hingestellt, daß es der Menschheit nicht wieder verlorengehen konnte.« 54 Henning Ottmann hat in seiner auf vier Bände angelegten Geschichte des politischen Denkens die griechische Kultur der aristokratischen Gesellschaft von ihrem Beginn an als eine Kultur des Wettstreits, des ⁄gðn, charakterisiert. Es sei eine Kultur, welche »das Bewußtsein von Leistung und Exzellenz ebenso hervorgetrieben [hat] wie die BilZu dieser Unterscheidung zwischen natürlicher Bewusstheit und philosophischem Selbstbewusstsein vgl. K. Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken, 1962, 6. In etwas abgewandelter Form wieder in: ders., Subjektivität und Selbstbewußtsein, 1997, 16–18. 54 E. Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. IV/2, 1956, 168 und 175. 53
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dung von Selbstbewußtsein und Individualität« 55 und deren kompetitive Werte im späteren historischen Verlauf nicht durch die kooperativen Werte der Gleichheit und Gemeinsamkeit der griechischen Demokratie abgelöst wurden, sondern mit diesen eine fruchtbare Synthese eingingen. 56 Zu den wesentlichen Voraussetzungen der durch die Griechen begründeten Politik, und zwar in einem anspruchsvollen Sinn, zählt Ottmann deren Entdeckung der Freiheit der Wahl und der Entscheidung, der Verantwortlichkeit des Einzelnen und seiner Handlungskompetenz – beginnend mit den Heroen der homerischen Epen, über den Politiker Solon, den Historiker Thukydides, den griechischen Tragödien bis hin zu Sokrates und Platon, dessen politisches Denken einen »welthistorischen Wendepunkt zur Subjektivität« markiere. 57 Diese dem platonischen Philosophieren vorausgehende Geschichte von Selbstbestimmung und Individualität soll im Folgenden von ihren Anfängen an skizziert werden. Im Gang durch die wichtigsten historischen Etappen griechischen Denkens von Individualität wird sich zeigen, dass Individualität zu den wesentlichen Eigentümlichkeiten bzw. Bestandteilen der gesamten griechischen Kultur gehörte und Platon an eine lange kontinuierliche Entwicklung sowohl im literarisch-philosophischen als auch politisch-sozialen Bereich anschließen konnte. Über den Beginn der Geschichte von Individualität wird seit Langem und bis heute kontrovers diskutiert. Die wohl einflussreichste These hat Bruno Snell vertreten: 58 Ausgehend von der entwicklungsgeschichtlichen Position, welche der Geschichtsphilosophie Schellings und Hegels verpflichtet ist, 59 dass sich im Verlauf einer schrittweisen »Entdeckung des Geistes« erst allmählich Vorstellungen von Selbstbewusstsein, Entscheidungsfreiheit, Handlungskompetenz und Individualität herausgebildet haben, behauptet Snell, die homerische AuffasH. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, VI. Vgl. auch ebd., 21 f. 56 Vgl. zur Synthese von kompetitiven und kooperativen Werten ebd., VI, 15 f. und Bd. I/2, 2001, 1. 57 Vgl. dazu ebd., VI und 12 ff., zit. ebd., Bd. I/2, 2001, 2. 58 Vgl. dazu B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 1993, bes. Kapitel I, auch II und VI sowie das Nachwort 1974; bereits in seiner Habilitationsschrift Aischylos und das Handeln im Drama (Leipzig 1928). 59 Snell beruft sich selbst auf Hegel: ebd., 283, bes. 290 sowie in Anm. 54 auf 298. Vgl. dazu A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, 53–59. 55
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sung von Mensch und Welt liegt noch jenseits dieser »Entdeckung des Selbstbewusstseins«. Weder verfüge Homer über eindeutige abstrakte Begriffe für Körper und Seele, noch sei ihm die Auffassung der menschlichen Person als einer geistig-psychischen Einheit bekannt gewesen. Deshalb konnte der homerische Mensch auch kein Bewusstsein von freier Entscheidung und selbstverantwortlichem Handeln haben. Erst in der griechischen Tragödie habe sich der Mensch als Urheber seiner eigenen Entscheidungen begriffen und sich nicht mehr von einem Äußeren – durch göttliches Wirken – bestimmt gefühlt. Diese These fand von Anbeginn neben breiter Zustimmung ebenso heftigen Widerspruch.60 Zahlreiche Beispiele aus der aktuellen Fachdiskussion, auf deren Ergebnisse im Folgenden nur knapp verwiesen werden kann, belegen mit guten Gründen, dass Snell mit seinen Thesen das Verständnis des Menschen bei Homer unzulänglich beschreibt: Zuvörderst sind gegen die Annahme, Homer sei der Anfang unseres Denkens, die Ergebnisse der neueren Forschung geltend zu machen. Diese haben hinlänglich gezeigt, dass die homerische Welt nicht den Ursprung, sondern bereits das Ergebnis einer jahrhundertlangen Entwicklung darstellt. Die homerische Gesellschaft muss »in eine lange Tradition hochentwickelter Staaten mit komplexen politischen und ökonomischen Strukturen, mit ausgebildeten Institutionen im Bereich des Rechts, der Religionen usw.« eingeordnet werden; und Homer als Dichter steht »am Ende einer langen Dichtungstradition, mit deren Inhalten und Techniken er auf reflektierte Weise souverän umgeht und diese so zu ihrer höchsten Vollendung und Vollkommenheit führt«. 61 Die entwicklungsgeschichtliche Position in der Nachfolge von Snell vertreten in einer exemplarischen Auswahl: Ch. Voigt, Überlegung und Entscheidung, 1972, bes. 102–107; H. Fränkel, Dichtung und Philosophie, 1969; E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, 1991; A. W. H. Adkins, Merit and Responsibility, 1960. Für die Gegenposition stehen, begrenzt auf die aktuelle Diskussion: A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990; ders., Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000; B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000; B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000; H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001. Eine detaillierte Darstellung der Forschungsgeschichte ist zu finden bei A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, Teil A, Kapitel 1 und 4, 12–20 und 36–52. 61 A. Schmitt, Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 26. Vgl. dort auch die in den Anm. 6–10 angegebene Forschungsliteratur. Vgl. auch B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 184 (mit Verweis auf W. Burkert, Towards Plato and Paul, 1998, 60): »Das entscheidende Stück der Entstehungsgeschichte der europäischen Vorstellung von Individualität liegt also (wie die Entwicklung der Formelsprache) in den Jahrhunderten vor 60
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Gegen die Behauptung Snells, Homer habe sowohl den Körper als auch die Seele nicht als Einheit, sondern als Ansammlung von Teilen aufgefasst, weil ihm die Begriffe für Körper und Seele fehlten, hat Bernard Williams eingewandt, dass der fehlende Begriff nicht berechtigt, auf die fehlende Vorstellung von der Sache zu schließen, denn in der Darstellung der Figuren Homers werden die Ganzheit der lebendigen Person und im Gebrauch von Begriffen, die einzelne psychische Funktionen bezeichnen, die Einheit der Person selbst vorausgesetzt. 62 Arbogast Schmitt konnte durch eine differenzierte Interpretation der homerischen Psychologie plausibel machen, dass die Aktivität des no@, des vernünftigen Vermögens, in einem freien, die gesamte Bedeutung einer Sache erfassenden Denken besteht und dieses aktive Prinzip die funktionelle Einheit der verschiedenen Seelenkräfte hervorbringt: ein einheitliches Zusammenwirken von no@ sowie Fühlen und Wollen, die der Erkenntnis des no@ entsprechen. 63 Und am Beispiel einer bekannten Szene aus dem 20. Buch der Odyssee zeigte Bernd Seidensticker, dass trotz wechselnden Vokabulars zur Bezeichnung unterschiedlicher Aktivitätszentren nicht von einer »seelisch-geistigen Fragmentierung des Ich« auszugehen ist. 64 Vielmehr biete die Szene »ein geschlossenes und überzeugendes Bild eines inneren Konflikts«, in dessen Selbstanrede »das einheitsstiftende Selbst« vorausgesetzt und auch sprachlich – a't@ (er selbst) – realisiert sei: »Er selbst [a't@] aber, wälzte sich bald auf die eine und dann auf die andere Seite.« (Od. XX, 24) Außerdem ist Snell vorzuwerfen, dass er einen bestimmten Entscheidungsbegriff für die Homer-Interpretation methodisch unzulässig benutzt. Snell hatte zwar nicht bestritten, dass die Heroen Homers mit Bewusstheit sich entscheiden und handeln, allerdings dass Spontaneität und Selbstständigkeit menschlichen Handelns bereits aus einer Reflexion auf das Selbstbewusstsein, das diese Fähigkeiten erst ermöglicht, begründet wird. 65 Wie Arbogast Schmitt nachgewiesen hat, versteht Snell – im Anschluss an das neuzeitlich-nachcartesianische und nicht nach Homer. Walter Burkert hat jüngst in einem parallelen Kontext daran erinnert, daß es immerhin 2.000 Jahre dokumentierter Literatur- und Geistesgeschichte vor Homer gibt.« 62 Vgl. dazu B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000, 26–30. 63 Vgl. dazu A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, 174–228, bes. 211 ff. 64 Vgl. hier und im Folgenden: B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 178. 65 Vgl. dazu B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, 1993, 10. A
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Einleitung
Konzept des Selbstbewusstseins des Geistes – unter Entscheidung eine autonome, völlig aus sich selbst gegründete Selbstständigkeit und verwendet diesen Begriff als Maßstab für die Beurteilung dessen, was überhaupt als Entscheidung zu gelten hat, und zwar in einem alternativ ausschließenden Sinn: 66 Als freie Entscheidung gelten allein nur diejenigen Fälle, welche den Kriterien des neuzeitlichen Entscheidungsbegriffes entsprechen; alle anderen Formen von Selbstständigkeit in diesem nicht absoluten Sinn werden grundsätzlich als fremdbestimmt und passiv von außen gesteuert verstanden – wie im Fall Homers. Dieses methodische Vorgehen schließt von vornherein die Möglichkeit aus – und ist insofern unzulässig –, dass freies Entscheiden und Handeln auch anders verstanden werden können und gleichwohl in diesen Begriffen zu beschreiben sind: 67 Ausgehend von einem anderen methodisch-begrifflichen Verständnis interpretiert Schmitt die homerische Darstellung ein und derselben Handlung in ihrer doppelten – göttlichen oder anderweitig äußeren und menschlichen – Ursächlichkeit und die Entsprechung zwischen göttlicher Beeinflussung und charakterlicher Disposition als Ausdruck einer konsequenten Differenzierung der Bereiche von Fremdbestimmtheit und Selbstbestimmung. 68 Der homerische Mensch sei in seinem Verhalten nicht der Fremdbestimmung vonseiten der Götter unterworfen, sondern die Götter sind Einfluss nehmende Kräfte bei der Entscheidungsfindung, die dem Menschen gerade nicht abgenommen werde, weil er diese Aufgabe selbst zu leisten und zu verantworten habe. 69 Homer hatte nach Schmitt also nicht nur eine Vorstellung von dem, was es heißt, sich zu entscheiden, sondern auch das Zur methodisch-kritischen Auseinandersetzung mit Snells Entscheidungsbegriff vgl. A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, 12–71. 67 Damit ist ein prinzipielles methodisches Problem angesprochen: die Klärung und Verwendung der eigenen Begrifflichkeit bei der Interpretation antiker Texte. Vgl. dazu die näheren Ausführungen im folgenden Kapitel d. der Einleitung. 68 Vgl. dazu ebd., 72–110 und 174–228. 69 Neben Schmitt vgl. auch B. Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000, 33– 46; B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 180–183; H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, Kapitel 1.2.2: Die Heroen, ihr Selbstbewußtsein und ihre Entscheidungsfähigkeit, 22 f., ebenso 13 und 182. Auch von Cornelia J. de Vogel wird dem homerischen Menschen die »faculty of self-determination« zugesprochen und damit das Personsein: »Person is man as a rational being and moral subject, free and self-determining in his actions, responsible for his deeds.« (The Concept of Personality, 1963, 26 und 23) 66
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Wissen von dem seelischen Vermögen, dem no@, das aufgrund seiner Aktivität einen Bereich freien Entscheidens und Handelns erkennt, begründet und es dem Menschen ermöglicht, allein aus sich selbst aktiv zu sein – im Bereich dessen, was dem Menschen in seiner eigenen Verfügung steht. Auch die Vorstellung, ja, mehr noch: das Interesse an und ein Wissen um Individualität sind bei Homer vorhanden. Das betrifft zunächst die künstlerische Darstellung der Helden selbst. Bernd Seidensticker zufolge charakterisiert Homer sie als unverwechselbare Persönlichkeiten mit eigenem Profil, das sich bis in den jeweiligen Sprachstil ausprägt. 70 Aber nicht nur der Blick von außen, ebenso das eigene Selbstverständnis artikuliere ein Identitäts- und Individualitätsbewusstsein: Die Ich-Erzählung des Odysseus über die zehn Jahre seiner Irrfahrten lässt, so Seidensticker, deutlich werden, wie er zu dem geworden ist, der er ist, eigentlich gewinnt Odysseus erst durch diese Ich-Erzählung »seine volle, sich ihrer selbst bewußte und sich mit sich selbst identifizierende Individualität« zurück, die ihren prägnanten und bewussten Ausdruck findet: »Ich bin Odysseus« (Od. IX, 19). 71 Gleichzeitig gilt Homers eigentliche Darstellungsintention nach Arbogast Schmitt gerade nicht der Schilderung einer fraglosen Übereinstimmung von individuellen und gemeinschaftlichen Interessen, sondern dem Gegenteil: dem Verhalten seiner Protagonisten, die von diesen gemeinschaftlichen Normen abweichen, weil sie sich an ihrer subjektiven Befindlichkeit orientieren und wegen dieser situativen Verengung der Perspektive ihren nur vermeintlichen Vorteilen folgen. 72 Das Verfolgen eines nur scheinbar individuellen Interesses sei für Homer allerdings Ausdruck einer Fremdbestimmtheit, einer Fremdbestimmtheit durch Handlungskomponenten, die nicht in der Macht des Handelnden liegen. Im Unterschied dazu versteht Homer, Vgl. dazu B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 168–172. Vgl. auch C. J. de Vogel, The Concept of Personality, 1963, 26 f. 71 Ebd., 171. 72 Vgl. dazu von A. Schmitt: Individualität als Faktum menschlicher Existenz, 2002, 113–119; Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 28–35. Vgl. ebenso C. J. de Vogel, The Concept of Personality, 1963, 27: »This was clearly recognized by Prof. T. B. L. Webster, Greek Art and Literature, 700–530 B.C., London 1959, pp. 24–45. ›In the Iliad and Odyssey the great heroes stand out as individual figures, and Homer was particularly interested in them when they took difficult decisions or exhibited characteristics which were not contained in the traditional picture of the fighting man.‹« 70
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so Schmitt weiter, unter Individualität das, was den Handlungen im eigentlichen Sinn ihre individuelle Prägung gibt, eben genau das, was wirklich in der Verfügung des Einzelnen steht und seinen Grund in einem selbstständigen Prinzip hat, aufgrund dessen der Einzelne seinen wahren Vorteil erkennen und erstreben kann. Und das sei eine subjektive Leistung, Individualität nach Homer eine »sittliche Aufgabe«. Ein Grund für dieses Individualitätsverständnis liegt in einer bisher noch nicht genannten Besonderheit griechischer Kultur – ihrer Agonalität. Bereits Jacob Burckhardt hat in seiner Griechischen Kulturgeschichte ausdrücklich das agonale Wesen der Griechen hervorgehoben. Schon bei Homer sei das allgemeine Motto für das ganze spätere Griechentum gegeben: »Immer der erste zu sein und vorzustreben den andern.« 73 Im Anschluss an diese Interpretation von Burckhardt und auch von Nietzsche hat Henning Ottmann, wie schon erwähnt, bereits die frühe aristokratische Kultur als eine Kultur des ⁄gðn charakterisiert. Dabei war dieses Streben nach Bestheit keineswegs, wie gemeinhin angenommen wird, auf den militärischen Bereich beschränkt. »Wohlberedt in Worten zu sein und rüstig in Taten«, 74 so lautete der an den Helden gerichtete Anspruch, der neben der kriegerischen Tüchtigkeit gleichfalls die Fähigkeit umfasste, der Rede und Diplomatie mächtig zu sein. 75 Ebenso durchdrang die Agonalität nahezu alle Bereiche der aristokratischen Gesellschaft. 76 Natürlich sind Reichtum, militärischer Erfolg und Herkunft für die eigene Wertschätzung und insbesondere für die Anerkennung durch andere maßgeblich gewesen – der gesellschaftliche Rang war an den aristokratischen Stand gebunden –, aber innerhalb der Aristokratie mussten der J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 4, 1957, 31; gleichfalls ebd., Bd. 2, 1956, 330 f. Vgl. auch ebd., Bd. 1, 1956, 292–295 u. ö. – a§þn ⁄risteÐein ka½ ¢pefflrocon ˛mmenai ˝llwn (Il. VI, 208; XI, 784). In der Übersetzung von Hans Rupé (Homer, Ilias, 2001) kommen das Bewusstsein des eigenen Könnens und das Streben nach Bestleistung noch deutlicher zum Ausdruck: »Immer der erste zu sein und ausgezeichnet vor andern« (VI, 208), bzw.: »Immer der erste zu sein und sich auszuzeichnen vor allen« (XI, 784). Wenn nicht anders angegeben, wird im Folgenden diese Übersetzung von Rupé benutzt. 74 mÐjwn te «ht»r’ ˛menai prhkt»r€ te ˛rgwn (Il. IX, 443). 75 So heißt es auch zwei Verszeilen vorher: »Auch in des Rates Verhandlung, darin sich Männer hervortun« (o'd’ ⁄gorffwn, ´na t’ ˝ndre@ ⁄riprepffe@ telffjousi, IX, 441). 76 So betont auch Elke Stein-Hölkeskamp die große Bedeutung der kompetitiven Werte für den aristokratischen Lebensstil, z. B. in der Ausrichtung von Gastmählern, in Wettkämpfen, im Austausch von Geschenken (Adelskultur und Polisgesellschaft, 1989, 52). 73
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jeweilige Rang und das damit verbundene Ansehen durch tatsächlich erbrachte individuelle Leistung erreicht und – weil durch die Konkurrenz der anderen stets gefährdet – immer wieder durch Leistung faktisch nachgewiesen werden. 77 Auch wenn die Helden sich in ihrem Handeln am Maßstab von Ehre und Ruhm bei der Mit- und Nachwelt orientierten, ihre eigene Einschätzung von der tatsächlichen Anerkennung und Ehrerweisung durch die anderen abhängig war und sie somit dem aristokratischen Kodex entsprachen: 78 Der die gesamte Kultur durchdringende ⁄gðn, das Streben des Einzelnen, von allen der Beste zu sein und sich selbst vor allen anderen zur Geltung zu bringen, hat Selbstbewusstsein und Individualität, Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit und gesellschaftliche Anerkennung dieser Individualität bewirkt. 79 Für das fünfte Jahrhundert v. Chr. konstatiert Jacob Burckhardt eine Verbreitung und Vertiefung der Agonalität und des Strebens nach Individualität: »Die Macht der Persönlichkeit zeigt sich also jetzt in den großen Beispielen nicht mehr agonal, d. h. im Siege über einen oder einige Ähnliche, sondern absolut, und was Plutarch von Themistokles sagt, daß er auf jedem Gebiete von andern unterschieden (—dio@) sein
Vgl. dazu H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, 22. Vgl. auch die Ausführungen von Elke Stein-Hölkeskamp zur königlichen Machtstellung, die – weil nicht institutionalisiert, sondern durch die persönlichen Qualitäten des Inhabers begründet – immer wieder durch die individuelle Überlegenheit auszuweisen war (Adelskultur und Polisgesellschaft, 1989, 42). 78 Aufgrund dessen wurde die homerische Adelskultur mehrfach als eine »Shame-Cultur« bezeichnet, so z. B. von Eric Robertson Dodds (Die Griechen und das Irrationale, 1991, explizit 15 f.). Wie allerdings die Analyse des Begriffes der Scham von Bernard Williams zeigt, ist das ethische Verständnis der Scham bei Homer und den Griechen insgesamt wesentlich komplexer als die oben unterstellte simple Anpassung an die öffentliche Meinung und enthält sogar Aspekte, die wir heute mit dem Begriff der Schuld bezeichnen, sodass auch der strikte Gegensatz zwischen »Shame-Cultur« und »GuiltCultur« nicht aufrechtzuerhalten ist (Scham, Schuld und Notwendigkeit, 2000, Kapitel 4). 79 »Der Agon individualisiert. Er treibt Leistung und Selbstbewußtsein des einzelnen hervor.« (H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, 25) Vgl. ebenso ebd., VI, 15 f. und 21–23. Auch hier zeigt sich die Unhaltbarkeit der These von Snell: Die selbstbewusste Bewertung der eigenen Fähigkeiten bliebe unverständlich, wenn die Heroen keine Entscheidungsfreiheit und Handlungskompetenz hätten, wie Ottmann zu Recht bemerkt: »Das Bewußtsein des eigenen Könnens, das die Helden des Homer auszeichnet, kann man nicht würdigen, wenn man die Menschen des Homer für Marionetten der Götter hält.« (Ebd., 22) 77
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wollte, gilt mehr oder weniger von allen damaligen großen Männern.« 80 Der Befund mag zunächst überraschen: Widerspricht die Einschätzung von Burckhardt nicht der Tatsache, dass sich in diesem Jahrhundert die griechische Demokratie mit der Entmachtung des Areopags, des Adelsrates in Athen, 462/61 v. Chr. endgültig institutionalisiert und etabliert hatte? Beruht doch die Herrschaft des Demos auf den gegensätzlichen Werten der Gleichheit der Bürger und der Gemeinsamkeit der in der Politik verhandelten Interessen! Die Antworten, die in der aktuellen Forschung gegeben werden, fallen unterschiedlich aus: Für Kurt Raaflaub hat der Individualismus des griechischen Adels als Opponent zum politischen Denken dessen Herausbildung und Entwicklung zwar nicht behindert, aber allein aus dem Gegensatz heraus ermöglicht: Die »unmittelbare Ursache, die die frühesten Manifestationen politischen Denkens provozierte und auf lange Zeit hinaus einer der stärksten Antriebe solchen Denkens blieb«, ist »die Unzufriedenheit mit der Eigensucht und dem Versagen der adligen Führungsschicht, die Diskrepanz zwischen den Interessen der Gemeinde und denen der mächtigen einzelnen […]. Es ist deshalb die in der Soziogenese der Dark Ages angelegte langwierige Auseinandersetzung zwischen den kollektiven Ansprüchen der Gemeinde und denen eines individualistischen Adels, der wir nicht nur die Entwicklung der Polis in ihrer klassischen Form und die Herausbildung eines autonomen politischen Bereiches innerhalb der Polis, sondern, in direkter Interdependenz mit diesem, auch die Anfänge des politischen Denkens zuzuschreiben haben.« 81 Andere Althistoriker, allen voran Christian Meier, aber ebenso Peter Spahn, vertreten eine andere Position: Die Individualität des Adels habe die Demokratie nicht nur in einer gewissen Hinsicht ermöglicht, sondern sie sei – neben vielfältigen historisch-kulturellen Umständen, den politischen Reformen von Solon (um 594 v. Chr.) und Kleisthenes (um 508/07 v. Chr.) sowie anderen politischen und militärischen Entwicklungen – für das Entstehen des politischen Denkens und der griechischen Demokratie in einem positiven Sinn konstitutiv gewesen. 82 J. Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, Bd. 4, 1957, 204 f. – »Da er immer und überall originell sein wollte« (7Idio@ dff ti@ ¥n p”si boulmeno@ e nai, Them. 18, 8). 81 K. Raaflaub, Die Anfänge des politischen Denkens, 1989, 32. 82 Vgl. zu den Besonderheiten, Entstehungsbedingungen und historisch-kulturellen Voraussetzungen der griechischen Demokratie die Publikationen von Christian Meier zu diesem Thema, bes. Die Entstehung des Politischen, 1983. 80
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Zu den wesentlichen Bedingungen des zur Demokratie führenden Prozesses zählt Meier, dass die griechische Kultur im Unterschied zu den anderen Hochkulturen nicht von einer politischen Zentralgewalt, sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstanden ist. 83 Der Schwäche der politischen Zentralgewalt korrespondierten die Macht der partikularen Kräfte der Aristokratie und – damit in einem Zusammenhang stehend – ihre Schwäche zu politischer Bindungsfähigkeit, ein generell wenig ausgeprägtes Bindungswesen ebenso wie die Eigenständigkeit der einzelnen Poleis. Meier führt diese Besonderheiten auf die Individualität des Adels und dessen Streben nach Autarkie und Eigenständigkeit zurück: »Bei den Griechen jedoch blieb es dabei, daß sie in keiner Weise ›mediatisiert‹ wurden zu Teilen eines Ganzen, das sie nicht selbst relativ konkret, unmittelbar und in überschaubarem Kreis ausgemacht hätten. […] Sie wollten offenbar frei und ungebunden sein […], und ohne jede Abhängigkeit von höheren Instanzen, sei dies nun ein Monarch, dem sie sich hätten unterwerfen müssen, oder die disziplinierende, beschneidende Kraft einer herrschenden Oligarchie römischen Typus, der sie sich unter Verzicht auf viele Freiheiten, in starker Ausrichtung auf die politischen und militärischen Pflichten des Standes hätten einfügen müssen. Und dieses Streben nach weitgehender Autarkie hatte letzten Endes Erfolg.« 84 Auch Peter Spahn kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass der auffällige Individualismus der Griechen, zunächst der Aristokraten, später der weiterer Bevölkerungsschichten, die Politisierung gerade nicht behindert, sondern ermöglicht und befördert hat, weil politisches Bewusstsein und dessen Herausbildung in mehrfacher Hinsicht die Individualität und Eigenständigkeit des Einzelnen voraussetzt. 85 Politische Verantwortlichkeit könne nicht von einem Kollektiv, sondern nur vom Bewusstsein individuellen Betroffenseins ausgehen. 86 Vgl. dazu ebd., 57 ff. u. ö. Ch. Meier, Die Entstehung einer autonomen Intelligenz, 1987, 99 f. Vgl. auch ders., Entstehung und Besonderheit, 1995, 260 f.; ders., Politik und Anmut, 1985, 31 f. und 53 ff. 85 Vgl. dazu P. Spahn, Individualisierung und politisches Bewußtsein, 1993, 362 und 360. 86 Denn das Gemeinsame muss, um wirksam zu sein, den Einzelnen berühren. So bereits Aristoteles, Pol. II 1261b33–35: »denn wenn die größte Zahl von Menschen etwas gemeinsam besitzt, dann erfährt dies die geringste Pflege und Sorgfalt. Man kümmert sich ja am ehesten um persönliches Eigentum, um das der Allgemeinheit dagegen weniger oder nur in dem Maße, wie es jeden persönlich angeht«. 83 84
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Individualität als die Bedingung für Politik betont gleichfalls Henning Ottmann: Wahlfreiheit und Entscheidung, Handeln-Können und Verantwortlichkeit des Einzelnen seien die Voraussetzungen für Politik, und zwar für eine Politik, die auf Miteinander-Reden und MiteinanderHandeln, auf Freiheit und Gleichheit beruhe. 87 Politik in diesem anspruchsvollen Sinn sei nicht möglich, solange Menschen nicht verantwortlich wären und Politik sich in Befehl, bloßem Gehorsam oder Gewalt ausdrücke. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht sogar entscheidender war, dass die Werte des aristokratischen Ethos – insbesondere das Streben nach Autarkie und die Agonalität – in der sich etablierenden Demokratie nicht durch eine bürgerliche Alternative verdrängt, sondern integriert wurden: »Die Entwicklung der griechischen Kultur war eine von den ›competitive values‹ der aristokratischen Epoche zu den ›cooperative values‹ der Polis (Adkins). Aber es ist das Geheimnis dieser Kultur, daß sie die agonalen Werte nicht einfach durch die kooperativen abgelöst hat. Stattdessen ist es der griechischen Kultur gelungen, die Gegensätze auszuhalten. Sie verband den Willen zur Exzellenz mit dem zur Kooperation, den Willen zur Leistung mit dem Respekt vor der Gleichheit, die Bildung selbstbewußter Persönlichkeiten mit der Hochschätzung des gemeinsamen Lebens in der Stadt.« 88 Wieso blieben die aristokratischen Werte in Kraft? 89 Die Geschichte der Entwicklung der attischen Demokratie ist auch eine Geschichte der politischen Entmachtung des Adels, und es wäre vielmehr davon auszugehen, dass sich die Bürger, die neuen politischen Akteure, im Bewusstsein ihrer neuen politischen Position auch hinsichtlich der kulturellen Wertorientierungen dezidiert von den Aristokraten unterscheiden wollten. Wie bereits gesagt, ist das Gegenteil der Fall gewesen. Bis zum Beginn der attischen Demokratie waren die Normen in allen Bereichen der Polis-Öffentlichkeit derart von den Adligen geprägt, dass ausschließlich ihre Ideale in der Öffentlichkeit bestimmend und maßgebend waren – und auch blieben, weil die Bürger den Vgl. dazu H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/1, 2001, VI und bes. Kapitel I.5: Voraussetzungen für die Entdeckung der Politik, 12–18. 88 Ebd., 16. Vgl. auch ebd., 94 und 104 f. 89 Christian Meier hat in mehreren Publikationen versucht, diese Frage hinlänglich zu beantworten: Bürger-Identität und Demokratie, 1988; Politik und Anmut, 1985; Entstehung und Besonderheit, 1995. Im Folgenden stütze ich meine kurze Darstellung auf Meiers Ausführungen. 87
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bisherigen politischen Adelspraktiken zwar ein eigenes politisches Ethos entgegensetzen konnten, aber keine umfassend andere Ethik oder gar eine eigene Kultur. Hinzu kommt, und das ist wesentlich, dass sich jetzt für die Bürger ein Raum eröffnete, der bis dahin dem Adel vorbehalten war: die Polis als der Bereich der Öffentlichkeit und Gleichheit, in dem sich die Bürger als Bürger, und das heißt: politisch, betätigen konnten. Mit den Worten Hannah Arendts gesagt, traten die Bürger »aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs«, an den »Ort des heftigsten und unerbittlichsten Wettstreits, in dem ein jeder sich dauernd vor allen anderen auszeichnen mußte, durch Hervorragendes in Tat, Wort und Leistung zu beweisen hatte, daß er als ein ›Bester‹ lebte (a§þn ⁄risteÐein)«. 90 Darüber hinaus ergab sich wegen der Hochschätzung der Betätigung in der Öffentlichkeit für sie auch die Möglichkeit, eine respektierte Position zu gewinnen, Rang und öffentliche Geltung zu erlangen, was ihnen außerhalb des Bereichs der Polis aufgrund bestehender Ungleichheiten verwehrt blieb. Dass diese Interpretation auch dem Selbstverständnis der Zeitgenossen entsprach, belegen die Quellen hinreichend: Thukydides lässt in seiner Schrift Der Peloponnesische Krieg Perikles in seiner Rede auf die gefallenen Athener zusammenfassend sagen, Athen sei im Ganzen die hohe Schule Griechenlands, »für sich aber, so will mir scheinen, bietet sich bei uns jedermann zugleich für die meisten Dinge und mit Anmutigkeiten höchst gewandt als eigenständige (autarke) Persönlichkeit dar«. 91 Perikles’ Charakterisierung der Athener bestätigt, dass die Etablierung der attischen Demokratie gleichsam zu einer DemokratiH. Arendt, Vita activa, 2001, 47 f. und 53. Vgl. auch: Die Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen, ebd., 213 ff. 91 kaj’ kaston doke…n ˝n moi tn a'tn ˝ndra par’ mn ¥p½ ple…st’ n e—dh ka½ metÞ carffltwn m€list’ n e'trapfflw@ t sma atarke@ parffcesjai (II, 41, 1 f.; Übersetzung nach Ch. Meier, Politik und Anmut, 1985, 17). Vgl. auch die Interpretation dieser Stelle der Perikles-Rede von Meier in dieser Publikation. Ähnlich bereits bei Herodot in seinen Historien (V, 78): »Die Athener waren stark geworden. Das bürgerliche Recht des freien Wortes für alle ist eben in jeder Hinsicht, wie es sich zeigt, etwas Wertvolles. Denn als die Athener von Tyrannen beherrscht wurden, waren sie keinem einzigen ihrer Nachbarn im Kriege überlegen; jetzt aber, wo sie frei von Tyrannen waren, standen sie weitaus an der Spitze. Daraus ersieht man, daß sie als Untertanen, wo sie sich für ihren Gebieter mühten, sich absichtlich feige und träge zeigten, während jetzt nach der Befreiung ein jeder eifrig für sich selbst schaffte (dþ a't@ kasto@ wut† proejumffeto katerg€zesjai).« Vgl. auch die Interpretation dieser Stelle bei Herodot von P. Spahn, Individualisierung und politisches Bewußtsein, 1993. 90
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sierung der Individualität führte! Denn Perikles grenzt seine Beschreibung nicht auf einen Teil der Bürger ein, sondern bezieht seine Aussage, sich als eine eigenständige Persönlichkeit darzustellen, ausdrücklich auf jedermann, und das heißt auf alle Bürger, wenn auch nicht auf alle Einwohner der Polis. Und diese Aussage ist wörtlich zu nehmen, weil jeder Bürger – mag es auch im Einzelnen gewiss Unterschiede in der Teilhabe an der Politik gegeben haben – sich politisch betätigte: mit einem Engagement in einem für uns heute höchst erstaunlichen Ausmaß 92 und »in bürgerlicher Gegenwärtigkeit« 93 einer direkten Demokratie. Darin macht sich nichts anderes geltend als das bereits beim Adel ausgeprägte, dann von den anderen Schichten übernommene Streben nach Autarkie und Eigenständigkeit: selbst für alles aufzukommen und – bezogen auf den politischen Bereich – die öffentlichen Angelegenheiten selbst mitzubestimmen und nicht nach dem Willen anderer leben zu wollen. 94 Das Perikles-Zitat ist gleichfalls ein prägnanter Ausdruck für das damalige Verständnis von Individualität: selbstständig zu sein und diese Selbstständigkeit in einer vielfältigste Anforderungen umfassenden Weise zur Geltung zu bringen. Dieses Streben der Griechen, »primär sie selbst und nur sie selbst und darin umfassend zu sein«, 95 entspricht einem von zwei theoretisch zu unterscheidenden Bedeutungsschwerpunkten des Individualitätsbegriffes: Individualität als Autarkie und Autonomie. Dagegen war der zweite Aspekt von Individualität in der Bedeutung von Besonderheit und Einzigartigkeit des einzelnen MenChristian Meier führt diese politische Identität oder Bürger-Identität, die aus intellektuellen Faktoren, wie Einsicht und Verantwortungsgefühl, allein nicht erklärt werden könne, auch auf potentielle Antriebe bzw. »anthropologische Dispositionen« zurück: auf das Bedürfnis nach einem angemessenen Status, das Streben nach Ehre, den Wunsch, sich auszuzeichnen, um – wie bisher nur die Aristokraten – seinen eigenen Wert zu beweisen, was jetzt innerhalb der Demokratie im Bereich des Politischen, und nur dort, nach Maßgabe der nach wie vor gültigen Ideale der Adligen möglich wurde. »Der Gleichheitstrieb war das anthropologische Unterfutter des Bürger-Engagements.« (Bürger-Identität und Demokratie, 1988, 73) Vgl. dazu insgesamt das Kapitel: Anthropologische Dispositionen der Griechen zum politischen Engagement breiter Schichten, ebd., 67 ff. Für diese Möglichkeit nahm man offensichtlich bereitwillig die Belastungen der politischen Tätigkeiten auf sich. Vgl. auch H. Arendt, Vita activa, 2001, 53. 93 Ch. Meier, Entstehung und Besonderheit, 1995, 281. 94 Vgl. dazu Ch. Meier, Bürger-Identität und Demokratie, 1988, 74 und 83. 95 Ch. Meier, Politik und Anmut, 1985, 98. Zur Interpretation von Autarkie als »vielfältigsten Anforderungen gegenüber gewachsen zu sein« vgl. ebd., 70 ff. und 87 ff. 92
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schen aus der Sicht der Althistoriker in der Antike weniger stark ausgeprägt. 96 Weil das Streben nach Eigenständigkeit und Vollkommenheit einem für alle gleichermaßen verbindlichen Ideal galt und nicht besonderen Fähigkeiten auf einem speziellen Gebiet oder der Ausbildung eines höchst individuellen Charakters, kam es im Gegenteil »zur Wertschätzung von Gleichartigkeit und sogar einer gewissen Konformität«. 97 Die griechische Kulturentwicklung bis ins fünfte Jahrhundert, bislang unter dem Gesichtspunkt der Demokratisierung der Individualität skizziert, führte andererseits dazu, dass bisherige Selbstverständlichkeiten politischer, religiöser und ethischer Art ihren Gültigkeits- und Akzeptanzanspruch verloren, ohne dass aufgrund der Radikalität des Bruchs mit der eigenen Herkunft neue Orientierungen in der Kürze der Zeit gefunden werden konnten. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten im fünften Jahrhundert v. Chr. hatte sich Athen von einer unbedeutenden Polis zur führenden Großmacht im ägäischen Raum entwickelt, betriebt eine riskante Außenpolitik, etablierte erstmalig in der Weltgeschichte eine – zumal direkte – Demokratie, es gab weitere rasante Veränderungen innerhalb der Wirtschaft und des geistigen und kulturellen Lebens, Athen wurde zum Mittelpunkt für Handwerker, Händler und Intellektuelle aus aller Welt. Dadurch entstanden ungeahnte Handlungsmöglichkeiten, aber mit den neuen Möglichkeiten ergaben sich gleichfalls völlig neue unerwartete Probleme, auf die man nicht vorbereitet war, für deren Lösung es keine selbstverständlichen Kriterien und Methoden gab, denn: »Die Griechen hatten keine Griechen vor sich.« 98 Für die Bewältigung dieser so umfassend neuen Situation gab es nur die Möglichkeit, die Probleme rational zu durchdringen und sich gemeinsam darüber zu verständigen. Die Griechen entwickelten dabei eine aufgeklärte, methodisch neue Weise zu denken – mit praktischem Erfolg. Dieser methodische, die Schwierigkeiten meisternde Sachverstand brachte nach Christian Meier ein außerordentliches »Könnens-Bewußtseins« hervor, die Überzeugung, dass Probleme sachverständig bewältigt werden können und zugleich zu entscheidenVgl. dazu P. Spahn, Individualisierung und politisches Bewußtsein, 1993, 345. Ebd., 346. Ähnlich auch Ch. Meier, Politik und Anmut, 1985, 106: Die Identifikation mit der Bürger-Identität führte eher zu »gleich- und ähnlich gerichtetem Denken«, das innerhalb der Bürgerschaft erst durch Antigone und Sokrates durchbrochen wurde. 98 Ch. Meier, Die Entstehung des Politischen, 1983, 51. 96 97
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den Verbesserungen in den Bedingungen menschlichen Lebens und Handelns führen. 99 Allerdings handelte es sich im Wesentlichen um eine Zunahme nur technischen Könnens, ganz im griechischen Sinn von tffcnh, 100 nicht um die Bewältigung von Problemen ethischer und existenzieller Art. Und diese waren infolge des in weiten Teilen radikalen Wandels fast unvermeidlich, weil durch die neue Praxis des Handelns bisher gültige religiöse, moralische und politisch-rechtliche Orientierungen auf eine nicht bekannte Weise infrage gestellt wurden, wenn nicht sogar außer Kraft gesetzt. Diese Situation der Orientierungslosigkeit – für die Polis als Ganzes, aber insbesondere für den Einzelnen –, die Spannung zwischen einer nicht mehr fraglos akzeptierten Herkunft und einer noch nicht durch weitere Sinnzusammenhänge legitimierten Gegenwart thematisiert die griechische Tragödie. Die griechische Tragödie gehört mit Sicherheit zur Vorgeschichte platonischer Selbstbestimmung und Individualität, aus der anderen zeitlichen Perspektive ist Platon im historischen Prozess der Vertiefung des Bewusstseins menschlicher Freiheit der »Nachfolger der Tragiker«. 101 Im Unterschied zu den homerischen Helden sieht sich der tragische Held mit einem Normenkonflikt konfrontiert, auf den konventionelle Maßstäbe keine zureichenden Antworten mehr geben, und daraus resultiert eine Ausweglosigkeit, die er nur mit einer – jenseits tradierter Regeln – selbst zu treffenden Entscheidung überwinden kann. Für dieses vertiefte Verständnis von Wahl, Entscheidung und freiwillig selbstverantwortlichem Handeln sei an die Frage des Orest, die er kurz vor seiner Entscheidung für den Muttermord stellt, in den Choephoren des Aischylos erinnert: »Pylades, was soll ich tun?« (Pul€dh, tffl dr€sw; Ch. 899), oder an Antigones Entscheidung in der gleichnamigen Tragödie des Sophokles für den eigenen Tod, die der Chor als autonom bezeichnet: »du lebst nach eignem Gesetz, drum allein zum Lande der Toten gehst du«. 102
Zum »Könnens-Bewußtsein« vgl. Kapitel: Ein antikes Äquivalent des Fortschrittsgedankens: Das »Könnens-Bewußtsein« des 5. Jahrhunderts v. Chr., ebd., 435–499. 100 Vgl. zum Begriff tffcnh die Erläuterungen im Kapitel 4.1 mit der Anm. 24 unten. 101 Vgl. dazu H. Kuhn, Die wahre Tragödie, 1969. 102 ⁄ll’ a'tnomo@ zsa mnh d¼ jnatn 3Adan katabffis–h (Ant. 821 f.). – Der Begriff »autonom, Autonomie« (a'tnomo@, a'tonomffla), ansonsten als politische Kategorie zur Kennzeichnung der Unabhängigkeit einer Stadt gebraucht, wird hier erstmalig in ethischer Bedeutung auf eine einzelne Person angewandt (R. Pohlmann, Arti99
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Die griechische Tragödie wurde im jetzigen Zusammenhang nur der Vollständigkeit halber erwähnt, 103 weil die drei ausgewählten Etappen der Vorgeschichte von Selbstbestimmung und Individualität – die Epen Homers, die athenische Demokratie und die nun im Folgenden zu behandelnden Sophisten – für deren Veranschaulichung hinreichend sein sollten. Die politischen und kulturellen Umwälzungen, die in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts, dem sogenannten »perikleischen Zeitalter«, insgesamt von politischer Stabilität und praktischen Erfolgen begleitet waren, führten in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer Verschärfung der Krisenerscheinungen. Als Ursachen gelten der Peloponnesische Krieg seit 431, der nach einigen Jahrzehnten Kriegsführung mit einer Niederlage Athens endete, zugleich Erfahrungen der Relativität im politischen Bereich, z. B. der mehrfache Wechsel der Herrschaftsformen in Athen, und insbesondere auf kulturellem und ethischem Gebiet: Bedingt durch die kulturelle Offenheit Athens und den damit einhergehenden Kontakten zu anderen Kulturen hatte man bereits seit längerer Zeit die erschütternde Erfahrung gemacht, dass anderen Ortes nach teilweise völlig anderen Geboten gelebt wurde. Jetzt setzte sich in zunehmenden Maße die Einsicht durch, dass Gesetze, Sitten und Lebensformen das Werk des Menschen sind, demnach Konventionen und somit auch veränderbar. Der Verlust der fraglos akzeptierten und orientierenden – um mit Hegel zu sprechen – unbefangenen Sittlichkeit und die wegen fehlender Orientierung verbundene Verunsicherung wurden nun in einer ganz anderen Dimension bewusst und erfahren, erkannt und thematisiert und führten letztlich zu einer Auflösung der gemeinsamen Sitten und Verbindlichkeiten. Diese Radikalität der Umwälzungen wird nicht nur an dem vielfach geäußerten Vorwurf an die athenische Demokratie deutlich, jeden nach seinem ei-
kel Autonomie, 1971, 701). Vgl. auch den Eintrag unter der zweiten Bedeutung von a'tnomo@ in: H. G. Liddell, A Greek-English Lexicon, 1996, 281. 103 Nur soviel sei an dieser Stelle gesagt: In der Forschung herrscht keineswegs Einigkeit darüber, ob die Akteure der griechischen Tragödie als subjektiv selbstständig entscheidende und handelnde Personen dargestellt werden oder nicht. Vgl. dazu die Diskussion der verschiedenen Positionen bei Arbogast Schmitt sowie seinen eigenen Vorschlag in: Wesenszüge der griechischen Tragödie, 1997. Vgl. auch die Interpretation der griechischen Tragödie als »politischer Kunst« von Ch. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 1988. A
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genen Belieben leben zu lassen, 104 sondern reichte bis in den ethischen Sprachgebrauch: »Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt als aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern als aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit als Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit als alles lähmende Trägheit«, so lautete bereits bei Thukydides das Ergebnis seiner Analyse der Situation. 105 Der nicht mehr einheitliche Gebrauch der ethischen Sprache ist ein deutliches Anzeichen für die bestehenden Meinungsverschiedenheiten grundsätzlicher Art, und zwar darüber, wie man leben soll. Diese Veränderungen wurden von den Sophisten, neben den Rhetoren die Vertreter der griechischen Aufklärung, diagnostiziert und thematisiert. Das auf die Praxis bezogene, durch theoretisch-philosophische Reflexion begleitete Wirken der Sophisten ist eine Reaktion auf diesen Wandel und die damit einhergehende Verunsicherung und zugleich der Versuch, neue und der Situation adäquate Orientierungen zu geben. 106 Die Sophistik ist ein vielschichtiges Phänomen, über das in
104 Vgl. z. B. Platon, R. 557b8–10: In einer Demokratie könne »jeder sich seine Lebensweise für sich« einrichten, »welche eben jedem gefällt« (§dfflan kasto@ n kataskeu¼n to‰ a¢to‰ bfflou kataskeu€zoito ¥n a't–», `ti@ kaston ⁄rffskoi). Ebenso Aristoteles, Pol. V 1310a30–34: »Denn Recht besteht nach dieser Auffassung in Gleichheit, Gleichheit bedeute aber, daß die Beschlüsse der Menge die oberste Autorität bilden; und Freiheit und Gleichheit sei, daß jeder tut, was er will. Daher lebt in solchen Demokratien jeder, wie es ihm gefällt, und für das, worauf er Lust hat, wie Euripides sagt.« Vgl. auch Isokrates, Areopagiticus, 20 und 37. 105 ka½ t¼n e§wju…an ⁄xfflwsin tn ¤nom€twn ¥@ tÞ ˛rga ⁄ntffillaxan t–» dikaiðsei. tlma mþn gÞr ⁄lgisto@ ⁄ndreffla yilfftairo@ ¥nomfflsjh, mffllhsi@ dþ promhj¼@ deilffla e'prepffi@, t dþ syron to‰ ⁄n€ndrou prschma, ka½ t pr@ ¿pan xunetn ¥p½ p”n ⁄rgn (III, 82, 4). Zum Zusammenhang von Krise, sprachlichem Wandel und ethischem Dissens als Ausgangspunkt platonischer Philosophie vgl. P. Stemmer, Platons Dialektik, 1992, bes. Kapitel 1, 4–30. 106 Eric Robertson Dodds betont gegen die übliche Gleichsetzung von Sophistik mit dem Beginn griechischer Aufklärung zu Recht: »Die Aufklärung ist natürlich viel älter, sie hat ihre Wurzeln im Ionien des sechsten Jahrhunderts; sie wirkt sich aus bei Hekataios, Xenophanes und Heraklit und wird in einer späteren Generation von spekulativen Naturforschern wie Anaxagoras und Demokrit weiterentwickelt.« (Die Griechen und das Irrationale, 1991, 93) Allerdings habe die Sophisten bestimmte Fragen erstmalig explizit gestellt, und ihre Aufklärung ist radikaler, umfassender und insgesamt wirkungsvoller gewesen. Zu den historischen Voraussetzungen sozialer und politischer Art für das Auftreten der Sophisten vgl. J. Martin, Zur Entstehung der Sophistik, 1976; G. B. Kerferd, The sophistic movement, 1981, 15–23.
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der weiteren Untersuchung noch mehrfach zu reden sein wird, weil Platon seine philosophische Position in Auseinandersetzung mit den Sophisten und deren Auffassungen entwickelt. Deshalb beschränke ich mich jetzt auf eine knappe Charakterisierung allgemeinerer Art und auf den uns interessierenden Aspekt der Individualität. Zur Vorgeschichte gehören die Sophisten eigentlich nur in thematischer Hinsicht, denn als Zeitgenossen bilden sie den aktuellen Diskussionshintergrund sokratisch-platonischen Philosophierens. Diese Intellektuellen des fünften Jahrhunderts, wie man die Sophisten am ehesten bezeichnen könnte, reisten zwischen den Poleis umher, hielten Vorträge und erteilten gegen Bezahlung Unterricht. Als professionelle Lehrer traten sie mit dem Anspruch auf, über ein praktisches Wissen zu verfügen, das nicht auf ein spezielles Gebiet begrenzt war, sondern sich auf die Praxis insgesamt bezog, und vertraten die Vorstellung eines mitteilbaren, lehrbaren und rational nachvollziehbaren Wissens, was dem tffcnh-Verständnis bzw. dem nach Christian Meier sogenannten »Könnens-Bewußtsein« ihrer Zeit entsprach. Damit kamen die Sophisten dem wachsenden Bedürfnis nach neuer Orientierung und Bildung entgegen. 107 Dieses starke Interesse an Bildung lässt sich zurückführen auf die neuen Anforderungen, die an den einzelnen Bürger als politisches Subjekt in der direkten Demokratie gestellt wurden. Die aktive Teilnahme an den politischen Entscheidungsprozessen und eigener politischer Erfolg erforderten neben Sachwissen ebenso rhetorisches Können, um durch die Rede – als das Medium von Politik schlechthin – die anderen überzeugen und auch die je eigenen Interessen durchsetzen zu können. Die Aufklärung der Sophisten betraf die tradierten Vorstellungen des Mythos, der Religion und der Sittlichkeit, bisherige metaphysische Sinnbezüge wurden der Kritik unterworfen und prinzipiell abgelehnt. Charakteristisch für sophistisches Denken ist, dass es grundsätzlich auf Praxis bezogen war, denn selbst theoretische Probleme der Sprachphilosophie oder der Erkenntnistheorie unterstanden letztlich praxisorientierten Erkenntnisinteressen. Außerdem umfasste es den gesamten Bereich menschlichen Handelns und Lebens, sodass Thomas Buchheim in diesem Zusammenhang von der »Universalität sophistischer Zu-
107 So begreift Werner Jaeger die Sophisten insgesamt als ein »bildungsgeschichtliches Phänomen« (Paideia, Bd. 1, 1934, 364–418).
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ständigkeit« sprechen kann. 108 Trotz unterschiedlicher, teilweise sich sogar widersprechender Positionen lassen sich gemeinsame Aspekte nennen, 109 z. B. die von den Sophisten vertretene Auffassung der Rhetorik: 110 Reden lässt sich nicht nur über alles, sondern alles Wichtige im Leben werde durch das Reden bestimmt. Diese angenommene Macht der Rede zeigt sich in den mit bestimmten erkenntnistheoretischen Annahmen verbundenen Lehren von Protagoras, dass es über jeden Gegenstand zwei entgegengesetzte Meinungen gibt, die gleichwertig behauptet und durch Reden plausibel gemacht werden können, und dass es darauf ankomme, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen. 111 Wer die Redekunst beherrscht, wird im ⁄gðn der Redenden die anderen überzeugen, seine Interessen und Absichten durchsetzen und politischen Einfluss gewinnen. Ein weiteres Kennzeichen besteht in der Abwendung von naturphilosophischer Spekulation und in der von den Sophisten eingeleiteten anthropologischen Wende. 112 Paradigmatisch dafür ist der ebenfalls von Protagoras überlieferte Homo-mensura-Satz, der zu Beginn seiner Schrift Über die Wahrheit stand: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind.« 113 Abgesehen davon, dass die Interpretation dieses Satzes nach wie vor strittig ist, 114 herrscht in der Forschung inzwischen weitgehend 108 Vgl. dazu Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde, 1986, Kapitel III.4: Sophistische Techne: universale Könnerschaft, 108–123. 109 Vgl. die Übersicht bei W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 44–46. 110 Heinrich Gomperz interpretiert das rhetorische Interesse der Sophistik als das dominierende und gemeinsame Charakteristikum der Sophisten: »Und gerade in dieser bewußten Proklamierung eines formalen Bildungsideals, in diesem Bekenntnis zu einer rhetorischen Kultur erblicke ich jenes Moment, das neben der äußerlichen Gemeinschaft der Berufsübung und im Zusammenhange mit ihr die Sophisten zu einer Einheit zusammenschloß.« (Sophistik und Rhetorik, 1912, 41) Diese Interpretation blieb nicht ohne Widerspruch. Vgl. dazu die Angaben bei C. J. Classen, Sophistik, 1976, 10, Anm. 38. 111 »Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen (Meinungen).« (dÐo lgou@ e nai per½ pant@ pr€gmato@ ⁄ntikeimffnou@ ⁄llffiloi@. DK 80 B 6a) »Es gilt die schwächere Meinung zur stärkeren zu machen.« (… tn `ttw … lgon krefflttw poie…n. B 6b) 112 Werner Jaeger sieht darin »den ersten Humanismus, den die Geschichte kennt« (Paideia, Bd. 1, 1934, 383). 113 p€ntwn crhm€twn mfftron ¥st½n ˝njrwpo@, tn mþn ntwn £@ ˛stin, tn dþ o'k ntwn £@ o'k ˛stin. (DK 80 B 1) 114 Zu den verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten vgl. A. Graeser, Die Philosophie der Antike 2, 1993, 21–26.
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Einigkeit darüber, dass mit dem Wort »Mensch« nicht das Gattungswesen gemeint ist, sondern »der einzelne Mensch«, 115 sodass dieser Satz nicht nur Ausdruck eines wahrheits- und erkenntniskritischen Relativismus ist, sondern – in Orientierung am Paradigma des Wahrnehmungsurteils – das Individuum als Urteilsinstanz schlechthin begreift. Am deutlichsten zeigt sich in der sophistischen Kritik der tradierten Sittlichkeit, dass der Einzelne und seine Individualität immer mehr im Zentrum des Interesses stehen. Die bislang »von Natur aus« (yÐsei) geltenden rechtlichen und moralischen Normen durchschauten die Sophisten als menschliche Vereinbarungen oder Setzungen (jffsei@) und erklärten diese zum bloß Gemachten (nm†w). Ausgehend von dem Gegensatz zwischen nmo@ und yÐsi@, 116 Gesetz und Natur, galt den Sophisten nunmehr die Natur als einzig wahre Norm – mit höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen: So behauptete Antiphon die Gleichheit der Menschen von Natur aus, welche durch gesetzlich vorgeschriebene Hierarchien, z. B. freie Bürger und Sklaven, entstellt werde. Oder man kritisierte, wie Kallikles im platonischen Dialog Gorgias, die konventionellen Normen als ungerechtfertigte Einschränkung und Unterdrückung individueller Bedürfnisse und Interessen und bezog sich auf die von Natur aus gegebenen und kultivierten Unterschiede zwischen den Menschen. Aus diesen leitete man in einem zweiten Schritt das Naturrecht des Stärkeren ab, das darin bestehe, seine Interessen gegen die Schwächeren durchzusetzen. Bei aller Fragwürdigkeit wird hier eine Individualethik entwickelt, die von der Individualität des Einzelnen ausgeht und entschieden die griechische Agonalität in das Gesamtkonzept aufnimmt. Oder man empfahl wie Thrasymachos in der Politeia, allerdings ohne Rückgriff auf die Antithese, das Ungerechte als das dem eigenen Glück Zuträgliche, weil gerechtes Handeln zu eigenem Nachteil und nur zum Vorteil der anderen führe. Gemeinsam ist allen unterschiedlichen Positionen, dass durch die Einsicht in die Konventionalität der Sitten nicht nur die tradierte MoVgl. dazu W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 30. Die Antithese von nmo@ und yÐsi@ hat eine lange Vorgeschichte im frühgriechischen Denken, in Ethnographie, Geschichtsschreibung und Medizin, und die Sophisten gebrauchten diesen Gegensatz keineswegs nur innerhalb des ethisch-politischen Bereiches, sondern ebenso auf den Gebieten der Kulturentstehungslehren, der Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie. Vgl. dazu die ausführliche Studie von F. Heinimann, Nomos und Physis, 1987. 115 116
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ral ihre Legitimität verlor, sondern Moral überhaupt begründungsbedürftig wurde. Zugleich wurde der Begründungsanspruch durch die sophistische Unterscheidung zwischen eigenem Wohl und Moralität verschärft. Mit dieser Unterscheidung war wiederum die Frage nach den Gründen und Motiven gerechten Handelns verbunden, wobei die sophistische Vorstellung von autonomer Praxis das jeweilige Eigeninteresse des Handelnden als Kriterium geltend machte. 117 Angesichts dieser langen, bis in Platons Gegenwart hineinreichenden Vorgeschichte von Individualität und der Tatsache, dass Platon seine Philosophie nicht nur vor dem zeitgenössischen Hintergrund sophistischer Diskussionen, sondern auch in direkter Auseinandersetzung mit ihren Positionen entwickelt hat, liegt die Frage nahe, ob sich überhaupt noch von Platon als dem prometheischen Denker in Belangen von Individualität und Selbstbestimmung sprechen lässt. Für Platon selbst gibt es einen so engen Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Guten und der Philosophie, dass nach seinem Verständnis die Philosophie im eigentlichen Sinn erst mit der von Sokrates gestellten Frage nach dem guten Leben beginnt. Die Neuartigkeit der sokratischen Forderung nach Selbstbesinnung wird von Platon in zwei Dialogen in deutlicher Abgrenzung von der Naturspekulation der Vorsokratiker hervorgehoben, und zwar im Phaidros, wo der Selbsterkenntnis der Vorrang vor naturphilosophischen Fragestellungen zugesprochen wird (229e f., vgl. auch Ap. 19b ff.), und in Sokrates’ Schilderung seiner eigenen philosophischen Entwicklung im Phaidon (96a ff.). Dieser philosophiehistorischen Einordnung von Sokrates folgte auch Cicero in seiner oft zitierten Aussage: »Sokrates aber rief als erster die Philosophie vom Himmel herab, machte sie in den Städten heimisch und führte sie sogar in die Häuser ein und zwang sie, über das Leben, die Sitten und die guten und schlechten Dinge Untersuchungen anzustellen.« 118 Von verschiedenen Autoren wird betont, dass nicht Sokrates die Naturphilosophie abgelöst, die anthropologische Wende vollzogen 117 Vgl. zur Neubestimmung der Ethik durch die Sophisten z. B. P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 503 f.; ders., Platons Dialektik, 1992, § 2: Krise und Typen ethischen Dissenses, 12 ff.; U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 21 f. 118 »Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere.« (Tusc. V, 4, 10)
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und die Frage nach dem guten Leben in die Philosophie eingeführt habe, sondern bereits die Sophisten. 119 Allerdings haben die Sophisten die Frage nach dem guten Leben eher marginal thematisiert und nicht in einem alles andere umfassenden Sinn wie Platon. Denn nach platonischem Verständnis ist die Frage nach dem Guten die Frage der Philosophie schlechthin, und zu dieser ist jene erst durch Sokrates geworden. Diese Frage steht, so Ursula Wolf, »als solche und ohne jede Verdeckung im Zentrum« seines Philosophierens, »nicht nur als Frage des Teilgebietes der Ethik, sondern in dem prägnanten Sinn, daß der letzte Gegenstand der Philosophie die Frage nach dem Guten ist und alle Bereiche der Philosophie auf diese Perspektive bezogen sind«. 120 In dieser Hinsicht ist Platon ganz und gar Sokratiker geblieben. Philosophie wird durch diese Fokussierung auf das Gute selbstreflexiv: Wie eine Beantwortung der Frage nach dem guten Leben einen Ausgriff auf das Ganze der Welt und die Erkenntnis des menschlichen Weltbezuges erfordert, so bleibt jeder Ausgriff auf das Ganze der Welt durch die leitende Perspektive des Guten auf seinen Ausgangspunkt zurückbezogen – auf die Selbsterkenntnis des Philosophen. 121 Diese Selbsterkenntnis ist allerdings wiederum nicht eine theoretische Erkenntnis, sondern sie ist im eigentlichen Sinn des Wortes als praktisch zu verstehen. Sie orientiert denjenigen, der philosophiert, in seinem Leben und Handeln, oder genauer: Philosophie ist keine Theoriebildung, die sich jenseits desjenigen vollziehen ließe, der philosophiert, sondern eine Lebensweise, die den Philosophierenden selbst verändert und sich dadurch auszeichnet, dass als Instanz menschlichen Urteilens und Handelns einzig und allein die begründete Einsicht des Einzelnen anerkannt wird. 122 119 Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 17 f. und 21 ff.; dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 32; W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 29; bereits W. Jaeger, Paideia, Bd. 1, 1934, 383. 120 Ebd., 15. Vgl. auch H. Kuhn, Die wahre Tragödie, 1969, 316: »Die Neuheit des Unternehmens bestand nicht so sehr im Nachdenken über menschliches Verhalten, sondern darin, daß das menschliche Problem des Sokrates erste, wenn nicht einzige Sorge war und daß er eine Antwort nicht auf dem Weg über die Welt, sondern in den menschlichen Gedanken und Worten, den lgoi, suchte, und das heißt letztlich in sich selbst.« 121 Zur konstitutiven Bedeutung der Frage nach dem Guten und der Selbsterkenntnis des Philosophen für die Selbstreflexivität der sokratisch-platonischen Philosophie vgl. die erhellende Studie von H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000. 122 Vgl. zur Einheit von philosophischer Lebensweise und philosophischem Diskurs von P. Hadot: Philosophie als Lebensform, 1991; Wege zur Weisheit, 1999.
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Wenn sich in den Dialogen ein systematischer Zusammenhang zwischen der Frage nach dem guten Leben einerseits und Selbstbestimmung und Individualität andererseits nachweisen lässt, dann beginnt mit Platon im Anschluss an Sokrates nicht nur die Philosophie im eigentlichen Sinn, sondern mit dieser zugleich die Geschichte von Selbstbestimmung und Individualität in der Philosophie, und zwar in einer ausdrücklich praktischen, den Philosophierenden selbst einbeziehenden Bedeutung.
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Hermeneutische und methodische Vorklärungen
Wer sich mit Platon beschäftigt, sieht sich mit mehrfachen hermeneutischen Problemen konfrontiert: Abgesehen von den für echt gehaltenen Briefen liegt uns das platonische Werk in der literarischen Form des Dialogs vor. In diesen Dialogen, in denen Platon nie selbst spricht, sondern Sokrates in den meisten Fällen als Hauptfigur im Gespräch mit anderen individuell gezeichneten Personen agiert, werden keine feststehenden Lehrsätze präsentiert. Dargestellt ist vielmehr ein konkretes Philosophieren in ganz bestimmten Gesprächssituationen, in denen von konkreten Einzelfragen ausgehend Probleme entwickelt und Versuche ihrer Lösung unternommen werden, ohne zu eindeutig übernehmbaren Ergebnissen zu gelangen. Hinzu kommt Platons eigener Vorbehalt gegenüber der Schriftlichkeit zugunsten der Mündlichkeit, die sogenannte Schriftkritik im Phaidros (274b ff.) und im Siebten Brief (341b ff.), von welcher auch seine eigenen Dialoge nicht ausgenommen werden können. Wie ist mit diesem Textbefund umzugehen? Von welchen Quellen sollte eine Interpretation der platonischen Philosophie ausgehen? Wie ist die Dialogform an sich zu verstehen? Bis heute gibt es in der Forschung darüber eine heftig geführte Diskussion. 123 Vor einigen Jahren erschien von Thomas A. Szlezák eine Monographie mit dem Titel Platon lesen. 124 Was auf den ersten Blick wie eine unparteiliche Aufforde-
123 Die wichtigsten Vorschläge für eine Interpretation der Dialogform finden sich in einer übersichtlichen Darstellung bei U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 26 ff. 124 Vgl. dazu Th. A. Szlezák, Platon lesen, 1993.
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rung zur Lektüre der platonischen Dialoge überhaupt aussieht, ist bei näherem Zusehen eine dezidierte Antwort auf die Frage, wie Platon richtig zu lesen sei. Objekt des Streites sind nämlich nicht Quisquilien, sondern sich einander ausschließende Paradigmen der Interpretation, wie Giovanni Reale behauptet: Dem bis heute aktuellen, aber aus der Sicht Reales »veralteten« schleiermacherschen Paradigma stehe das neue Paradigma der ungeschriebenen Lehre gegenüber. 125 Dieses im Vergleich zu anderen aus seiner Sicht alternativlose Paradigma wird von der sogenannten Tübinger Schule vertreten, welcher neben Szlezák und Reale insbesondere deren Initiatoren Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser angehören. 126 Ausgehend von der platonischen Schriftkritik im Phaidros und im Siebten Brief und von den nur indirekt bei anderen Autoren überlieferten Lehrstücken Platons, zum Beispiel der Bericht über den öffentlichen Vortrag Platons Über das Gute bei Aristoxenos, schließen die Vertreter der Tübinger Schule auf die Existenz einer nur innerakademisch vorgetragenen ungeschriebenen Lehre. Diese Prinzipienlehre, die ihnen als Platons eigentliche Philosophie gilt, hat in der Tübinger Perspektive den Charakter eines philosophischen Systems und wird im Sinn einer ontologischen Letztbegründung verstanden. Zugleich dient sie als Basis für ein adäquates Verständnis der Schriften selbst. Die als Quelle platonischen Philosophierens nunmehr sekundären Dialoge hätten demnach für die Mitglieder der Akademie nur die Funktion der Erinnerung an bisher Erkanntes und hinsichtlich der Öffentlichkeit als Werbeschriften für die Philosophie und die Platonische Akademie allein einen protreptischen Wert gehabt. Wegen der Gefahr von Missverständnissen, denen Geschriebenes potenziell immer ausgesetzt ist, habe Platon seine nur mündlich vorgetragene Philosophie in den Dialogen zurückgehalten, nur bestimmte Auslassungsstellen in den Texten wiesen über sich hinaus auf die ungeschriebene Lehre, die nach 125 Vgl. dazu G. Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 1993. Reale übernimmt den Begriff Paradigma, den Thomas S. Kuhn in seinem Werk The Structure of Scientific Revolution (Chicago 1962; dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1967) ursprünglich zur Beschreibung der Geschichte der Naturwissenschaften entwickelt hat, auch für die unterschiedlichen Forschungsperspektiven der PlatonInterpretation. 126 Vgl. dazu Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985; H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, 1959; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 1963.
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Tübinger Verständnis nicht nur mündlich mitteilbar, sondern auch schriftlich fixierbar sein soll. Gegen dieses Platon-Verständnis lässt sich einwenden, 127 dass die ungeschriebene Lehre aus der indirekten Überlieferung erst rekonstruiert werden muss, wohingegen die Dialoge als originäre Schriften Platons vorliegen. Außerdem überzeugt die Behauptung, dass die eigentliche Philosophie Platons nur in Vorträgen und Gesprächen innerhalb der Akademie entwickelt worden sei, aus mehreren Gründen nicht: Einerseits ist der philosophische Gehalt der Dialoge bei Weitem relevanter, als von den Vertretern der Prinzipienlehre zugestanden wird, und andererseits erhält die philosophische Dürftigkeit dessen, was sich aus der indirekten Überlieferung gewinnen lässt, eine ernst zu nehmende Relevanz erst in Verbindung mit den authentischen Erörterungen in den Dialogen. Dieser Rückgang auf die Schriften ist möglich, weil die Prinzipientheorie bereits in den späten Dialogen eine Rolle spielt und neben der marginalen Überlieferung bei anderen Autoren vom Werk her zusätzlich bestätigt wird. Aber das vermindert den philosophischen Wert der Dialoge nicht, im Gegenteil: Nicht die ungeschriebene Lehre erschließt die Schriften, sondern sie wird von diesen überhaupt erst verständlich. 128 Das auf Schleiermacher zurückgehende Paradigma der Dialogtheorie, 129 dem sich auch die vorliegende Arbeit zurechnet, geht von anderen Prämissen der Interpretation aus. Neben dem Primat der Dialoge für die Interpretation – die »methodischen Vorrang besitzen« 130 – 127 Für die in der Forschung differenziert geführte Auseinandersetzung mit den Thesen der Tübinger Schule sollen exemplarisch genannt sein: W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, bes. § 2: Geschriebene und ungeschriebene Lehren, 38 ff., Anhang. Zur Platondeutung Giovanni Reales, 326 ff.; Ch. Quarch, Sein und Seele, 1998, 3. Kapitel der Einleitung: Gegen einen hermeneutischen Paradigmenwechsel, 19 ff. und die in der folgenden Anm. genannten Literaturangaben. 128 Vgl. das »Friedensangebot« an die Vertreter der Tübinger Schule von Günter Figal, der eine Platon-Interpretation vorschlägt, die von den Dialogen ausgeht und zugleich prinzipientheoretische Überlegungen aufnimmt, ohne die dogmatischen Konsequenzen der Tübinger Schule zu ziehen (Riesenschlacht? Überlegungen zur Platoninterpretation, 1994), und die deutliche Ablehnung sowohl des »Angebotes« als auch der PlatonInterpretation der Heidelberger Schule generell (Gadamer, Wieland, Figal) von Hans Joachim Krämer (Platons Ungeschriebene Lehre, 1996, 268–270, Anm. 78). 129 Neben Gadamer, Wieland, Figal und jüngstens Quarch sind weitere exemplarische Vertreter: P. Friedländer, Platon, 1954/1957/1960, vgl. Kapitel VIII: Dialog, Bd. 1, 1954, 164 ff.; H. Gundert, Der platonische Dialog, 1968. 130 »Daß wir mit dem uns Bekannten anfangen müssen, kann nicht im Ernste kontro-
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wird die platonische Schriftkritik auch auf die Mündlichkeit bezogen. Über die berechtigte Kritik des schriftlichen Mediums hinausgehend, will die Schriftkritik, so Wolfgang Wieland, »auf die Ungegenständlichkeit des Wissens« und »auf die Grenzen möglicher Mitteilbarkeit« aufmerksam machen, wovon sowohl das geschriebene als auch das gesprochene Wort betroffen sind. 131 Das philosophische Wissen sei kein Besitz, den man nach Art eines Gegenstandes sich aneignen kann, es sei kein propositionales Wissen, das sich als semantisches Korrelat textfähiger Aussagen mitteilen lässt, sondern vielmehr von der Art eines Gebrauchswissens im Umgang mit sich und der Welt, ein Wissen mit praktischem und dispositionellem Charakter, und zwar, um es noch einmal zu wiederholen, unabhängig vom schriftlichen oder mündlichen Medium der Sprache. Dieses Wissen ließe sich nicht in Form von Dogmen oder Lehrsätzen mitteilen, auch nicht im Bereich des Mündlichen. Die Tübinger Lesart, Platon habe wegen der begrenzten Möglichkeiten des schriftlichen Mediums seine Lehre in den Dialogen zurückgehalten, im innerakademischen Gespräch gleichwohl gelehrt, erweist sich nach dieser Interpretation der Schriftkritik als fragwürdig. Im Ausgang von den Arbeiten von Hans-Georg Gadamer und Wolfgang Wieland zeigt Christoph Quarch anhand einer Interpretation der zwei Textstellen der Schriftkritik, dass das philosophische Wissen ein Wissen vom Guten oder guten Leben ist, das nur im lebendigen Vollzug erlernt und gelebt werden kann, 132 wie Platon im Siebten Brief selbst sagt: »Es gibt ja auch von mir darüber keine Schrift und kann auch niemals eine geben; denn es läßt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenstände, sondern aus häufiger gemeinsamer Bemühung um die Sache selbst und aus dem gemeinsamen Leben entsteht es plötzlich – wie ein Feuer, das von einem übergesprungenen Funken entfacht wurde – in der Seele und nährt sich dann schon aus sich heraus weiter.« (341c4–d2) Die Einsicht in das Gute vermag sich nur im lebendigen Vollzug des Philosophierens einstellen, im gemeinvers sein. Ebensowenig, daß daher die Dialoge einen nicht von uns zu verantwortenden, sondern durch die Überlieferungslage gegebenen methodischen Vorrang besitzen. Sie sind da und sind nicht Resultat einer Rekonstruktion.« Und deshalb sei daran festzuhalten, dass »der Weg über die Dialoge der Königsweg zum Verständnis Platos bleibt«. (H.-G. Gadamer, Platos ungeschriebene Dialektik (1968), GW VI, 131 und 133) 131 Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, § 1: Platons Schriftkritik, 13 ff., § 2: Geschriebene und ungeschriebene Lehren, 38 ff., zit. 27 und 38. 132 Vgl. dazu Ch. Quarch, Sein und Seele, 1998, 22 ff. A
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samen Bemühen um Erkenntnis und Verständigung. Wie die Schriftkritik gezeigt hatte, können im mündlichen sokratischen Dialog von zwei oder mehreren Partnern die Möglichkeiten, die in der Sprache als einem Instrument der Verständigung gegeben sind, am ehesten verwirklicht werden. Als praktisches Wissen lässt sich das Wissen vom Guten nicht objektivieren, auch nicht für den Wissenden selbst, sondern das Wissen ist mit dem Wissenden selbst unlösbar verbunden. 133 Deshalb prüft Sokrates in den Dialogen nicht nur das Wissen seiner Dialogpartner, sondern diese müssen zugleich auch über sich selbst Rechenschaft geben. Im Unterschied zum Tübinger Ansatz wird die Tatsache ernst genommen, dass Platon seinen Werken die literarische Form von Dialogen gegeben hat. Die Dialogform ist mehr als nur ein künstlerisches Gestaltungsmittel, sie ist die Antwort Platons auf seine eigene Schriftkritik, insofern zumindest auf der dramatischen Ebene des Dialogs die Momente der Mündlichkeit, die einem Text ansonsten fehlen, bewahrt bleiben. Als »Medium des philosophischen Gedankens« steht die Dialogform in einem inneren Zusammenhang mit dem Inhalt der Philosophie. 134 In der Perspektive dieses Paradigmas ergibt sich erwartungsgemäß auch ein anderes Verständnis der platonischen Philosophie im Ganzen: Weil wir in den Dialogen mit einem sich in konkreten Situationen artikulierenden Philosophieren konfrontiert werden, das wegen seines nicht zu vergegenständlichenden Charakters nicht in einer dogmatisch verstandenen Lehre im Sinne einer ontologischen Letztbegründung seinen Höhepunkt erreicht, sind die philosophische Tätigkeit und die ihr zugrunde liegende Methode wesentlicher als das Ziel, ohne dass dadurch das Philosophieren ziellos wäre. Die Systematik Platons besteht nicht in einem hierarchisch gedachten Ableitungssystem zweier Prinzipien, sondern vielmehr in der Einheitlichkeit ihres Verfahrens – 133 Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, § 14: Das Wissen und der Wissende, 236 ff.; bereits H.-G. Gadamer, Praktisches Wissen (1930), GW V. 134 Vgl. dazu ebd., § 3: Der Dialog als Medium des philosophischen Gedankens, 50 ff.; ebenso ders., Das sokratische Erbe, 1996, 8 ff. – Die vorliegende Interpretation benutzt überwiegend deutschsprachige Forschungsliteratur, der Grund dafür ist die mit Schleiermacher beginnende und bis heute währende Tradition der Dialogtheorie bzw. hermeneutischen Platon-Interpretation im deutschsprachigen Raum; hingegen hat die angelsächsische Platon-Forschung, bis auf Ausnahmen, den Dialog »als Medium des philosophischen Gedankens« vernachlässigt.
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der nicht abschließbaren Dialektik. 135 Auch in der vorliegenden Arbeit wird Platon in der Perspektive dieses Paradigmas verstanden – als praktischer Philosoph, der das sokratische Erbe angetreten hat. 136 Einige Bemerkungen zur methodischen Vorgehensweise in der vorliegenden Untersuchung: Jede Interpretation platonischer Texte steht vor der hermeneutischen Aufgabe, moderne Denkmuster nicht unreflektiert in die Deutung des Textes einzubringen, ansonsten besteht die Gefahr, das antizipierte Resultat bereits durch die Interpretation vorwegzunehmen. Virulent wird dieses Problem noch mehr, wenn mit einer modernen Begrifflichkeit gearbeitet wird, wie in der vorliegenden Arbeit, gelten doch Selbstbestimmung und Individualität nach üblichem Verständnis als charakteristisch neuzeitliche Begriffe. Zunächst möchte ich einem weitverbreiteten Missverständnis widersprechen: Aus der Tatsache, dass in den platonischen Dialogen keine dem modernen Verständnis adäquate Begrifflichkeit vorzufinden ist, kann nicht der Schluss gezogen werden, dass Platon die entsprechenden Sachverhalte überhaupt nicht gekannt haben konnte. Denn das Fehlen eines Begriffes bedeutet nicht notwendig das Fehlen des später mit diesem Begriff bezeichneten Sachverhaltes und der Reflexion über diesen Sachverhalt, oder anders gesagt: Die moderne Verwendung des Begriffs sagt nichts über die Modernität des Sachverhalts aus, den er bezeichnet. 137 Damit ist noch nicht gesagt, dass der jeweilige Begriff 135 Die Unabschließbarkeit der Dialektik wird auch durch die Aufnahme prinzipientheoretischer Überlegungen nicht widerlegt oder eingeschränkt. Vgl. dazu G. Figal, Riesenschlacht? Überlegungen zur Platoninterpretation, 1994, 160 ff.; H.-G. Gadamer, Platos ungeschriebene Dialektik (1968), GW VI, 150 ff. Gadamer versteht das platonische Ideendenken »als eine allgemeine Relationstheorie«, welche »die Unendlichkeit der Dialektik zur Folge« hat, weil »zwar eine jede Relation, die es an sich geben kann, in die Ausdrücklichkeit des Gehoben- und Gesetzt-Seins gebracht werden kann, daß aber ein gleichzeitiges Gesetztsein und Präsentsein aller Relationen grundsätzlich unmöglich ist. […] Aber die Unvollendbarkeit, die dem menschlichen Erkennen und Denken wie allem irdischen Seienden anhaftet, schmälert nicht die Großartigkeit des Weges der menschlichen Erkenntnis, die immer ins Offene gestellt ist.« (Ebd., 151 f.) 136 Vgl. dazu den gleichnamigen Aufsatz von W. Wieland, Das sokratische Erbe, 1996 und die Ableitung der platonischen Dialektik aus dem sokratischen Dialog von H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos (1931), GW V. Vgl. ebenso zu Platon als praktischem Philosophen die Monographie von M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, 2003, Einleitung, 1 ff. 137 Vgl. B. Zehnpfennig, Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, 1987, 12: »Die Neuzeitlichkeit des Begriffs ist aber nicht gleichbedeutend mit der Neuzeitlichkeit der Sache, die er bezeichnet – das Faktum, daß Platon Termini wie ›Subjekt‹, ›Objekt‹,
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nach modernem Verständnis vorliegt oder nicht, wie die Begriffe Selbstbestimmung und Individualität im Titel der Arbeit suggerieren könnten. Es ist vielmehr anzunehmen, was bereits mit der Rede von »Radikalisierung und Verlust« angesprochen wurde, dass platonischer und moderner Begriffsgebrauch sich nicht völlig entsprechen, und zwar in einer zweifachen Hinsicht: Reicht der moderne Begriff einerseits über das platonische Verständnis hinaus, so umfasst der platonische Begriff andererseits Aspekte, die im modernen nicht mehr enthalten sind. Das kann und soll aber erst durch die Interpretation geklärt werden. In der vorliegenden Untersuchung wird davon ausgegangen, dass Selbstbestimmung und Individualität in einer im Vergleich zu heute anderen und weniger terminologisch eindeutigen Begrifflichkeit thematisiert werden. Deshalb ist die von Platon verwendete Begrifflichkeit, die einen offensichtlich praktischen Selbstbezug verdeutlicht, z. B. »Selbsterkenntnis« (gnsi@ auto‰), »Selbstbeherrschung« (swyrosÐnh bzw. ¥gkr€teia), »Selbstsorge« (¥pimffleia auto‰) und »Übereinstimmung mit sich selbst« (aut† sumywne…n), für die Interpretation von besonderer Bedeutung. Darüber hinaus muss auch auf die Reflexivität der griechischen Sprache hingewiesen werden: Brauchen wir im Deutschen fast immer ein zweites Wort, um eine reflexive Struktur überhaupt erst deutlich zu machen, benötigt das Altgriechische für diesen Sachverhalt in vielen Fällen nur ein Wort, man denke nur an das Genus verbi des Mediums, und bei Bedarf konnte die Reflexivität zusätzlich durch reflexive Personalpronomen akzentuiert werden. Zurück zum hermeneutischen Problem selbst: Gegen die aus analytischer Sicht gestellte Forderung nach eindeutigen Definitionen der gebrauchten Begriffe ist einzuwenden, dass durch begriffliche Fest›Bewußtsein‹, ›Reflexion‹ etc. nicht verwendet, erlaubt nicht den Schluß, er kenne auch die mit ihnen gemeinten Sachverhalte nicht. Denn schließlich hat Sprache nur medialen Charakter; genausowenig, wie ein Sachverhalt unbedingt nur einen angemessenen Ausdruck seiner selbst haben muß, bezeichnet das Vorhandensein des Begriffs schon die Anwesenheit der Sache. Die Zuordnung von Medium und Sache ist also weder eindeutig noch notwendig. Wenn sich die Interpretation nun eines modernen Mediums bedient, dann unter der Voraussetzung, daß die Sache in anderen Worten vorhanden ist und zu dem Zweck, die Aktualität des Platonischen Denkens kenntlich zu machen, die ihm tatsächlich zukommt.« Vgl. zu diesem Problem auch B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 173 f.
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legungen nach heutigem Verständnis ein anderes, von diesem abweichendes Verstehen der verhandelten Sache ausgeschlossen werden könnte. Bei der methodischen Forderung, die eigene Begrifflichkeit vor der Interpretation zu klären, wird oftmals, so Arbogast Schmitt, vorausgesetzt, »nur die in die Definition eingegangenen Merkmale ermöglichten eine Identifikation der gemeinten Sache oder des gemeinten Begriffs; wo diese Merkmale fehlten, könne eben deshalb auch die Sache nicht vorhanden sein«, und das hieße, »nur die uns geläufigen Vorstellungen enthielten die Bedingungen, auf die es bei einem ›eigentlichen‹ Verständnis der Sache ankomme«. 138 Zwar sei die Forderung legitim, seine eigenen Begriffe zu kennen und wenn möglich zu definieren, aber nicht, »wenn daraus abgeleitet wird, man dürfe den in unserem Sinn definierten Begriff bei der Beschreibung des historischen Gegenstandes gar nicht verwenden, wenn dessen […] Merkmale dort nicht nachweisbar seien«. Gegen die Forderung nach eindeutigen Definitionen spricht darüber hinaus, dass der Begriff Selbstbestimmung selbst erst spät zu einer terminologisch ausgeprägten Form fand. Von Kant eher beiläufig gebraucht, hat er als zentraler Begriff der praktischen Selbstbeschreibung des Menschen seine begriffliche Offenheit auch in der nachfolgenden Zeit nicht verloren. Aus den bisherigen Überlegungen kann aber auch nicht das andere Extrem folgen: die Begriffe in jeder Beziehung unbestimmt zu belassen, denn das völlige Offenlassen der Begrifflichkeit ergibt, dass derartige Begriffe letztendlich alles und damit nichts bezeichnen. Aus hermeneutischer Sicht wäre dieser Zugang zu den Texten methodisch naiv, weil das jeweils eigene Vorverständnis gerade nicht vollständig auszuschließen ist. In jede Interpretation geht etwas von dem mit ein, was man bislang verstanden hat, jede Fragestellung gibt eine bestimmte Perspektive vor, die das weitere Suchen und Verstehen leitet, ansonsten käme eine Untersuchung überhaupt nicht in Gang. Dieser derart verstandene hermeneutische Zirkel zwischen Entwurf bzw. Vorverständnis und Textverstehen lässt sich nach Hans-Georg Gadamer nicht vermeiden, sondern bezeichnet die zirkuläre Struktur des Verstehens überhaupt. Methodisch bedeutet das, das eigene Vorverständnis offenzulegen, ohne die Möglichkeit für Korrekturen und Modifikationen im Verlauf der Untersuchung auszuschließen, soll doch das platonische 138
Vgl. hier und im Folgenden: A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990,
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Verständnis von Selbstbestimmung und Individualität gerade erst anhand der Texte entwickelt werden. Unter dem Begriff Selbstbestimmung verstehe ich in einem vorläufigen Sinn das Vermögen des einzelnen Menschen, ohne direkten Eingriff eines anderen nach eigener Einsicht zu handeln. Voraussetzung dafür ist eine praktische Disposition oder Verfügung über sich selbst. Indem sich der Einzelne handlungsrelevante Ziele aufgrund eigener Einsicht vorgibt und sich in seinem Handeln daraufhin festlegt, bestimmt er sich selbst, und zwar in einem bewussten und willentlichen Akt. Da der Anspruch, nach eigener Einsicht zu handeln, offensichtlich zum Selbstbegriff oder Selbstverständnis des Einzelnen gehört, kann Selbstbestimmung nicht auf einzelne Handlungen beschränkt sein, sondern muss auf die eigene Lebensführung insgesamt bezogen werden. Unter Individualität kann im Unterschied zum Begriff der Selbstbestimmung recht Verschiedenes gemeint sein. Ich verstehe darunter nicht die numerische Singularität des einzelnen Menschen, denn diese Eigenschaft teilt er genau genommen mit allen anderen Menschen, Lebewesen und Dingen; ebenso verstehe ich unter Individualität nicht das im schroffen Gegensatz zu jeder Form von Allgemeinheit für die Moderne in Anspruch genommene »individuum est ineffabile«, sondern – auch in Abgrenzung vom Subjekt- und Personbegriff, die gerade nicht das Eigentümliche des je Einzelnen, sondern das allen Menschen gemeinsame Allgemeine in erkenntnistheoretischer, moralischer und juristischer Hinsicht bezeichnen – zum einen die Selbstständigkeit des einzelnen Menschen und zum anderen eine daraus resultierende Einzigartigkeit und Besonderheit im Unterschied zu anderen, die dem Einzelnen die Ausbildung einer bestimmten Identität als ein bestimmtes Individuum für sich selbst und für andere ermöglichen. 139 Die folgende Interpretation des platonischen Werkes wird auf eine Auswahl aus den frühen und mittleren Dialogen begrenzt, und für diese Werkphasen wird Platon als Sokratiker, d. h. als praktischer Philosoph, verstanden. Wenn im Folgenden von Sokrates die Rede ist, dann vom platonischen Sokrates als der Hauptfigur der Dialoge Platons. Der genannten Begrenzung liegt die Annahme zugrunde, dass eine exem139 Der Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Individualität ist offensichtlich. Vgl. dazu die Monographie von V. Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, 1999.
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plarische Auswahl für die Plausibilisierung meiner These zureichend ist. Soweit Stellen aus späteren Dialogen für die Argumentation relevant sind, werden sie hinzugezogen. Die naheliegende Erwartung, dass die Ergebnisse für das platonische Gesamtwerk verallgemeinert werden können, wäre ein erwünschtes Nebenresultat, wird aber gleichwohl nicht ausdrücklich behauptet und nachgewiesen. In der Arbeit wird keine Interpretation von gesamten Dialogen vorgelegt, sondern ich beschränke mich für den Nachweis der These auf relevante Textstellen aus den frühen Dialogen Apologie, Alkibiades I und Gorgias sowie Symposion und Politeia aus der mittleren Werkphase. Auf eine generelle Einführung in die Dialoge wird verzichtet, nur insofern diese für den jeweiligen Interpretationszusammenhang wesentlich ist, wird sie den einzelnen Analysen vorangestellt. Diese Einschränkung bedeutet nicht, die literarische Form des Dialoges für die Interpretation nicht zu beachten, im Gegenteil: Dass Platon in den Dialogen nicht nur etwas sagt bzw. sagen lässt, sondern auch mittels der vorhandenen dramaturgischen Möglichkeiten dieser Literaturform vieles zu verstehen gibt, ohne dass es ausdrücklich thematisiert wird – es sind ganz bestimmte Dialogpartner, die zumeist als historische Personen bekannt waren, mit ihren Vorverständnissen und Dispositionen in ganz konkreten Situationen, also der gesamte Realkontext des Gespräches wird gezeigt –, das steht für die folgende Interpretation außer Frage. 140 Aus inhaltlich-methodischen Gründen folge ich in der Darstellung nicht einer chronologischen Abfolge der Dialoge, sondern der systematischen Entwicklung meiner These. Zu einer Fragmentierung der Dialoge führt diese methodische Herangehensweise nicht, weil eine systematische Fragestellung, welche die Texte strukturiert, eine dem Text angemessene Deutung nicht ausschließt. Dieses methodische Verfahren kann sich auf die unitarische Deutung der platonischen Philosophie berufen, wie sie von einem Teil der Platon-Forschung vertreten wird. 141 Im Unterschied zur Entwicklungsthese der Philosophie Platons nimmt die unitarische Deutung eine Kontinuität im Denken Platons 140 Vgl. dazu die wesentlich umfangreicheren Ausführungen von W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, § 3: Der Dialog als Medium des philosophischen Gedankens, 50 ff.; ders., Das sokratische Erbe, 1996, 9 ff. 141 Die auf Schleiermacher zurückgehende Auffassung vertritt aktuell z. B. Ch. H. Kahn, Plato and the Socratic Dialogue, 1996, XIV ff. und 36 ff.
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an, die eine de facto vollständige Entwicklung seiner Philosophie von Beginn an voraussetzt. Davon ausgehend wird der Interpretationsansatz vertreten, dass Platon seine Dialoge bewusst inszeniert habe und in den Dialogen arbeitsteilig vorgegangen sei, insofern niemals das Ganze eines Problems behandelt werde, sondern jeweils nur bestimmte Aspekte eines an sich komplexeren Sachverhalts, die sich zueinander komplementär verhielten. 142 Die Arbeitsteilung und Komplementarität der Problembehandlung würden von Platon durch die jeweils andere Gesprächssituation, insbesondere durch die unterschiedlichen Gesprächspartner mit ihrem je verschiedenen philosophischen Niveau, dialogtechnisch umgesetzt. Denn wenn das Gespräch dem Anspruch des Philosophierens gerecht werden will, muss auf das Niveau der Dialogpartner Rücksicht genommen werden, wie es die Schriftkritik im Phaidros vom Philosophen fordert. 143 Ein systematischer Zusammenhang zwischen diesen arbeitsteilig behandelten Aspekten eines Problems kann nur durch eine Interpretation erbracht werden, die nach wechselseitigen Verweisen und Ergänzungen der Aspekte aus verschiedenen Dialogen fragt. Dass die Erörterungen der jeweiligen Aspekte in den Dialogen auf unterschiedlich philosophischen Niveaus geführt werden, macht diese Arbeit nicht anspruchsloser, im Gegenteil: Eine einfache Ergänzung in Form einer Summierung der Aspekte scheint von vornherein ausgeschlossen. Die entscheidende Arbeit, will man zu philosophischen Einsichten kommen, muss man – ganz im Sinne Platons – selbst machen, auch bei einer Interpretation, und genau diese Arbeit soll in vorliegendem Text geleistet werden.
142 Vgl. dazu z. B. D. Frede, Platons Dialoge als Hypomnemata, 2006; G. Figal, Riesenschlacht? Überlegungen zur Platoninterpretation, 1994, 154 und 159. 143 Der Philosoph muss nicht nur der Sache, sondern auch der Einsichtsfähigkeit seines Gegenüber angemessen sprechen, wenn er den anderen wirklich etwas lehren will: »Ehe nämlich jemand nicht die wahre Beschaffenheit eines jeden Dinges kennt, worüber er redet und schreibt, […] und ebenso auch mit der Seele Natur bekannt ist, die einer jeden angemessene Art der Rede herauszufinden versteht und sie dann so ordnet und ausschmückt, daß er bunten Seelen auch bunte und wohllautreiche Reden gibt, einfachen aber einfache – eher werde er noch nicht vermögend sein, soweit es die Sache erlaubt, mit Kunst das Geschlecht der Reden zu behandeln« (277b5–c5).
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1. Anthropologische Voraussetzungen von Selbstbestimmung bei Platon
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aph. 146)
Selbstbestimmung hat neben historisch-kulturellen auch anthropologische Voraussetzungen. Diese lassen sich zunächst unabhängig von Platon benennen: Zu den wesentlichen Bestimmungen des Menschen muss gehören, dass der Mensch sich nicht mehr im Rahmen bloßer Naturbestimmtheit befindet und von seinen Instinkten wie die Tiere verlässlich geleitet wird, sondern gezwungen ist, sich als »das noch nicht festgestellte Thier«, 1 wie Friedrich Nietzsche den Menschen charakterisierte, selbst zu führen. Ob man auch bei Platon berechtigt vom Menschen als dem »noch nicht festgestellten Thier« sprechen kann, das soll zunächst anhand anthropologischer Bestimmungen geklärt werden.
1.1 Der Mensch – ein Mängelwesen Im gleichnamigen Dialog trägt der Sophist Protagoras als Erwiderung auf die durch Sokrates infrage gestellte Lehrbarkeit der Tugend den bekannten Mythos von der Entstehung der Lebewesen und den Anfängen menschlicher Kultur und Zivilisation vor (Prt. 320c–322d), auf den sich die anthropologische These vom Mängelwesen Mensch, deren bekanntester Vertreter Arnold Gehlen ist, berufen kann. In diesem Mythos geht der Mensch – im Unterschied zu den Tieren – bei der VerteiF. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 62, KSA 5, 81. Vgl. auch die nachgelassenen Fragmente Frühjahr 1884, 25 [428], KSA 11, 125 und Herbst 1885–Herbst 1886, 2 [13], KSA 12, 72.
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lung von Ausstattung und Fähigkeiten für die Lebenserhaltung durch Epimetheus zunächst leer aus. Erst das von Prometheus geraubte Feuer und das technische Können kompensieren diesen existenziellen Mangel und ermöglichen dem Menschen, seine Selbsterhaltung zu sichern, allerdings nicht in einem zureichenden Maße. Denn um miteinander kooperieren und friedlich zusammenleben zu können, bedarf es der zusätzlich von Zeus gesandten a§dð@ und dfflkh, der Sittlichkeit und des Rechtsgefühls bzw. der Respektierung des anderen und des rechtlichen Verhaltens. 2 Im jetzigen Zusammenhang ist relevant, dass der Mensch als ein Lebewesen aufgefasst wird, das für seine Lebenstüchtigkeit in zweifacher Hinsicht mangelhaft ausgestattet ist, und dass diese Mängel nur durch die von den Göttern gegebenen Fähigkeiten kompensiert werden können. Die damit verbundene pejorative Sicht auf das Mängelwesen Mensch kann, wie noch zu zeigen ist, nicht Platon zugeschrieben werden, zumal mit hoher Wahrscheinlichkeit der Mythos auf den historischen Protagoras zurückgeht. 3 Außerdem ist die Rede vom Mangel an sich bereits bedenklich: »Die Rede von einem ›Mangel‹ ist, ebenso wie die anthropologische Kennzeichnung des Menschen als ›Mängelwesen‹ (Gehlen), nicht unproblematisch. Bedenkt man, wie vielfältig der Mensch seine im Vergleich mit den Tieren ins Auge springenden ›Mängel‹ kompensiert, so kann man ihn biologisch mit gleichem Recht als besonders reich ausgestattetes Wesen kennzeichnen. Dies entspricht auch eher der verbreiteten Selbstbewertung des Menschen. Doch im Hinblick auf die Notwendigkeit, sich entscheiden zu müssen, viele Güter erkennen und schätzen, sie aber nicht alle gleichermaßen auch wählen und genießen zu können, gibt es einen guten Sinn, von einer ›Not‹ zu sprechen. […] ›Mangel‹ und ›Not‹ sollen […] eine Selbsterfahrung des Menschen zum Ausdruck bringen.« 4 Der Mangel, die Not, unsere Bedürftigkeit gelten auch bei Platon als anthropologische Kennzeichen: In der Politeia ist unsere Bedürftigkeit als menschliche Wesen die Ursache für die Entstehung der Polis, »weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern gar vie-
2 Vgl. zur Übersetzung von a§dð@ und dfflkh als Respektierung des anderen und rechtliches Verhalten den Kommentar zu 322c2 von B. Manuwald, Platon, Protagoras, Werke VI 2, 1999, 195 ff. 3 Vgl. dazu ebd., 173 ff. 4 V. Gerhardt, Selbstbestimmung, 1988, 679, Anm. 27.
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les bedarf«. 5 Und im Mythos über die zwei Weltperioden im Politikos ist der Mensch, weil die Götter in der zweiten Periode nicht mehr für ihn sorgen, durch die Erfahrung von Mangel und Not gezwungen, sich selbst zu führen und selbst für sich Sorge zu tragen (274d3–5), und zwar sowohl individuell als auch politisch. 6 Was die Bewertung der menschlichen Bedürftigkeit betrifft, wird in diesem Mythos offengelassen, ob die Menschen während des ersten Umlaufs in diesem paradiesischen Zustand, in welchem die Götter in einem umfassenden Sinn für die Menschen sorgten, sodass den Menschen in keiner Hinsicht etwas fehlte, wirklich glücklicher waren als die jetzt Lebenden oder nicht (272b–d). Bereits jetzt lässt sich vermuten, dass die Bedürftigkeit menschlicher Natur nicht pejorativ bewertet wird, ist sie doch die Ursache von Selbstherrschaft und Politik und damit von nur dem Menschen eigenen Möglichkeiten. Diese Vermutung wird das Symposion bestätigen, und gleichzeitig wird in diesem Dialog deutlich, dass der Mangel menschlicher Natur prinzipiell nicht aufgehoben werden kann, insofern er in einem grundsätzlichen Sinn zum Dasein des Menschen gehört. Bevor ich mich den relevanten Textpassagen des Dialoges zuwende, soll ein kurzer Überblick in den Dialog einführen, zumal uns das Symposion noch einmal beschäftigen wird. Das Symposion, welches zusammen mit Phaidon und Politeia die Gruppe der mittleren platonischen Dialoge bildet, ist ein vielschichtig komponiertes Werk und im eigentlichen Sinn kein Dialog wie fast alle anderen Schriften Platons. Der Autor hat mit diesem Werk, einer kunstvollen Stilisierung einer Situation, die im athenischen Leben ihren festen Platz hatte, eine neue Gattung antiker Literatur begründet. 7 Als Symbiose von Philosophie und dramatischer Dichtkunst schildert es ein Trinkgelage, das zu Ehren des Sieges des jungen Tragödiendichters Agathon gefeiert wurde. Weil bereits tags zuvor die große Siegesfeier stattgefunden hat, ist den Teilnehmern der Vorschlag des Arztes Eryximachos willkommen, nur mäßig zu trinken und den Abend damit zu verbringen, der Reihe nach Reden über ein bestimmtes 5 ¥peid¼ tugc€nei mn kasto@ o'k a't€rkh@, ⁄llÞ polln ¥ndeffi@ (369b6 f.). Vgl. auch 369c10. 6 So wird Politik als die »selbstgebietende Kunst« (a'tepitaktik¼ tffcnh, z. B. 275c10) bezeichnet. 7 Vgl. dazu W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 247; G. Picht, Platons Dialoge »Nomoi« und »Symposion«, 1992, 333–336.
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Thema zu halten. Man einigt sich schnell über die weitere Empfehlung von Eryximachos, der eine Anregung seines Freundes Phaidros aufgreift, dass dieses Thema der Reden Eros sein soll. Den Redewettstreit (⁄gn tn lgwn) eröffnet Phaidros, gefolgt von Pausanias, dann Eryximachos selbst, dem Komödiendichter Aristophanes und dem Gastgeber Agathon. Nach dessen glänzendem Redeerfolg beginnt mit Sokrates das Ende der Lobreden, denn als nächster Redner erklärt Sokrates, dass er den Eros wohl loben will, allerdings nur, indem er die Wahrheit über ihn berichtet und nicht wie seine Vorredner durch den Wohlklang und die Schönheit ihrer Wörter und Redensarten. Der philosophische Hauptteil des Dialogs mit Sokrates als zentraler Figur besteht aus zwei Abschnitten, einem Gespräch zwischen ihm und Agathon in der Form des sokratischen Dialoges und einer Rede des Sokrates, welche eigentlich keine Rede von ihm ist, sondern die Wiedergabe einer Unterredung, die in jungen Jahren Diotima, eine weise Seherin aus Mantinea, mit ihm geführt hat. Kaum hat Sokrates geendet, erscheint in Begleitung von anderen der nicht mehr nüchterne Alkibiades, welcher sich angesichts Sokrates’ auf das vereinbarte Spiel einlässt und seine Rede über Eros hält, die eine Rede auf Sokrates ist. Im Anschluss daran kommt es durch eine weitere Schar eindringender Nachtschwärmer doch noch dazu, dass das Fest in einem Gelage endet, welches am Morgen Sokrates als Letzter verlässt. Für den jetzigen Zusammenhang sind zwei Textabschnitte wesentlich: der Dialog zwischen Sokrates und Agathon sowie die von Sokrates wiedergegebene Rede der Diotima, insbesondere über die Charakteristik des Eros und seinen Nutzen für den Menschen. Agathon hatte Eros als schön und gut gelobt. Sokrates widerlegt ihn, weil dieser die Liebe mit dem verwechselt habe, worauf sie gerichtet sei: Liebe sei immer ein Streben oder ein Begehren nach etwas, und dieses etwas, worauf sich Liebe überhaupt richten kann, ist dadurch ausgezeichnet, dass es über den Liebenden selbst hinausgeht, und zwar als etwas, das der Liebende selbst noch nicht hat oder noch nicht ist, dessen er bedarf. Jeder »Begehrende begehrt das noch nicht Vorhandene und nicht Fertige, und was er nicht hat und nicht selbst ist und wessen er bedürftig ist; solcherlei also sind die Dinge, wonach es eine Begierde gibt und eine Liebe« (200e1–5). 8 Die Bedürftigkeit bedingt diese Vgl. in dem darauffolgenden Resümee von Diotima auch 200e7–201a1: »Nicht wahr, Liebe ist zuerst Liebe zu etwas und dann Liebe zu dem, wonach sie ein Bedürfnis hat?«
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über sich selbst hinausgehende Intentionalität. Eros ist auf das begehrend (¥pijume…n) gerichtet, dessen er ermangelt (¥ndeffi@), Liebe ist ein Begehren nach und nicht ein Sein von. Eros strebt nach dem Schönen und Guten, weil er es selbst noch nicht ist. Nicht anders als Agathon war es Sokrates selbst in jungen Jahren widerfahren, als er von Diotima in den Dingen der Liebe belehrt wurde. Im ersten Teil der jetzt von Sokrates wiedergegebenen Unterredung spricht Diotima über das Wesen und die Eigenschaften des Eros: Aus der Bestimmung des Eros als desjenigen, der selbst nicht schön und gut ist, darf nicht das Gegenteil – er sei hässlich und schlecht – gefolgert werden, sondern er ist ein Mittleres (metaxÐ). Als solches steht Eros sowohl zwischen dem Schönen und Hässlichen bzw. dem Guten und Schlechten. Auch kann er weder ein Gott, wie die bisherigen Redner behauptet hatten, noch ein Mensch sein, er ist weder unsterblich noch sterblich, sondern als ein Daimon vermittle er zwischen den Gegensätzen. Diese Zwischenstellung ist auch durch seine Herkunft bedingt: Als Sohn von Poros, einem Gott, dem personifizierten Erwerb, 9 und Penia, der personifizierten Armut, ist er arm und lebt dürftig, strebt aber zugleich einfallsreich und wohlbegabt nach dem Schönen und Guten. Alles, was Eros erlangt, ist kein Gewinn von Dauer, sondern das Gewonnene geht ihm wieder verloren. Auch zwischen Weisheit und Unverstand steht er in der Mitte: Weder ein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu werden, weil er es bereits ist, noch ein Unverständiger, weil dieser sich dünkt, es bereits zu sein. Nur Eros strebt nach Weisheit und verbringt »sein ganzes Leben lang philosophierend« (yilosoyn diÞ pant@ to‰ bfflou, 203d7 f.). Die Ähnlichkeiten in der Beschreibung des Aussehens und Tuns von Eros erinnern auffällig an Sokrates. 10 Hatten die Vorredner von Sokrates Eros noch als einen Gott gepriesen, Agathon sogar als den glückseligsten unter den Göttern, weil er der schönste und beste sei (195a7 f.), so wurde er inzwischen als ein Daimon bestimmt. Durch (7Allo ti ˛stin ¡ 7Erw@, prton mþn tinn, ˛peita toÐtwn n n ˛ndeia par–» a't†;) 9 Derart erläutert bei M. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 1976, 12. Gerhard Krüger nennt ihn den »Verschaffer« (Einsicht und Leidenschaft, 1939, 53). Im Kleinen Pauly ist unter »Poros« zu finden: »›Ausweg‹. Personifikation der Fähigkeit, einen Weg für alles zu finden, und daher auch des Reichtums.« (Bd. 4, 1979, Sp. 1063) 10 Was in der Forschung schon lange bemerkt wurde, z. B. von G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 156; M. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 1976, 12 f. A
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die Gleichsetzung von Eros und Sokrates wird deutlich, dass Eros als menschliches Streben aufzufassen ist, 11 wenngleich bis zu dieser Dialogstelle noch auf den philosophischen Menschen begrenzt. 12 Die weiteren Ausführungen von Diotima über den Nutzen, den Eros den Menschen gewährt, machen deutlich, dass Eros als menschliches Streben zum Wesen des Menschen schlechthin gehört. Die bisherige Erörterung hat ergeben, dass das Streben nach etwas einen Mangel voraussetzt, der behoben werden soll, indem das Erstrebte demjenigen, der danach strebt, zuteil wird. Wenn ein Gutes erstrebt wird, will der Mensch, dass es ihm zuteil werde, und wenn es ihm zuteil geworden ist, wird er glückselig sein. Unter der im Dialog eingeführten Voraussetzung, dass die e'daimonffla, die Glückseligkeit, letztes Ziel alles Strebens ist (205a1–4), ist das Gute das entscheidende Kriterium, um von Liebe und Begehren sprechen zu können. Liebe begehrt demnach nie etwas, das nicht vom Liebenden als ein Gutes aufgefasst wird. Aufgrund dieser Bestimmung charakterisiert Eros nicht nur die Liebe, sondern den gesamten Bereich menschlichen Strebens, sodass sich jetzt sagen lässt: Es gibt nichts, was die Menschen, und zwar alle Menschen, lieben bzw. begehren als das Gute, Liebe geht darauf, das Gute zu erreichen. 13 Die Beschreibung des Eros als menschliches Streben kennzeichnet den Menschen wesentlich als ein begehrendes Wesen, das seiner Bedürftigkeit nicht entkommen kann. Selbst wenn einzelnes Begehren seine Erfüllung erreicht, dann doch nur partiell und temporär. Diese grundsätzliche Bedürftigkeit des Menschen resultiert nach Platon aus seiner endlichen und sterblichen Existenz, und zwar in einer alles umfassenden Vergänglichkeit menschlichen Lebens. 14 In seiner Sterblich-
Vgl. dazu M. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 1976, 11 ff. Bereits bei der Charakterisierung des Eros als Daimon und den sich anschließenden Ausführungen über seine vermittelnde Funktion zwischen Göttern und Menschen war von einem daimonischen Mann die Rede: »Wer sich nun hierauf versteht [auf die Vermittlung zwischen Göttern und Menschen], der ist ein dämonischer Mann (daimnio@ ⁄nffir)« (203a4 f.). 13 »Dieser Wille nun und diese Liebe, glaubst du, daß sie allen Menschen gemein sind und daß alle immer das Gute haben wollen?« (TaÐthn dþ t¼n boÐlhsin ka½ tn ˛rwta to‰ton, ptera koinn o—ei e nai p€ntwn ⁄njrðpwn ka½ p€nta@ t⁄gajÞ boÐlesjai a¢to…@ e nai ⁄effl, p@ lffgei@; 205a5–7) 14 Wie radikal diese Sterblichkeit durch Diotima im Symposion gedacht wird, wird noch ausführlicher im Kapitel 2.2 unten besprochen. 11 12
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keit, die er mit allen anderen Lebewesen teilt, unterscheidet sich der Mensch wesenhaft von den unsterblichen Göttern. Aber trotz dieser Differenz steht der Mensch wie Eros zwischen beiden, der Sterblichkeit und der Unsterblichkeit: Er will nicht nur das Gute, und er will es nicht nur für einen Augenblick oder länger, sondern er will das Gute für immer. Bereits vor jeglicher Erfüllung überschreitet der Mensch allein mit diesem Anspruch den Bereich des Sterblichen auf den Bereich des Unsterblichen hin. Genau in diesem Sinn deutet Diotima das Streben nach dem Guten für immer: Wenn die Liebe darauf geht, das Gute immer zu erreichen, dann wird mit dem Guten auch die Unsterblichkeit erstrebt. Dass dieser Anspruch – das Gute immer zu haben und dadurch gleichzeitig nach Unsterblichkeit zu streben – nicht ins Leere zielt, sondern sich erfüllen kann, wenn auch nur auf eine dem Menschen mögliche Art, das ermöglicht Eros in seinen Werken, die er leiblich oder geistig produktiv-schöpferisch im Schönen hervorbringt. Denn allein die Erzeugung ist »das Unsterbliche, wie es im Sterblichen sein kann«, 15 insofern der Mensch nur in der Erzeugung eines anderen seiner selbst weiterlebt und auf diese Weise unsterblich zu sein vermag. 16 Die von Eros erzeugten Werke, bedingt durch einen Mangel und im Ausgriff auf die Unsterblichkeit, sind vielfältigster leiblicher und geistiger Art, wie die von Diotima genannten Beispiele verdeutlichen: das Zeugen, die Sorge und Erziehung von eigenen Kindern ebenso wie einmalige außerordentliche Taten, durch welche man berühmt wird und im Gedächtnis der Nachwelt bleibt, die Schöpfungen der Dichter und Künstler oder die Werke der Gesetzgeber bis hin zu Rede und Gespräch über die Tugend selbst und der damit intendierten Bildung eines anderen Menschen. 17
ˆti ⁄eigenff@ ¥sti ka½ ⁄j€naton £@ jnht† gffnnhsi@ (206e5–207a1). Das Streben nach dem Guten als ein Streben nach Unsterblichkeit, die dem Menschen mögliche Art und Weise, unsterblich zu werden, und die damit notwendige Orientierung an etwas Unveränderlichem werden ausführlich im Kapitel 2.2 unten thematisiert, deshalb sind sie im jetzigen Zusammenhang nicht kommentiert. Vgl. dazu auch das Kapitel 5.2.4 unten. 17 Neben Gorgias und Lysis, dem IX. Buch der Politeia und dem Philebos stützt sich Dorothea Frede in ihrer Interpretation der grundsätzlichen Mangelhaftigkeit des Menschen als dem principium individuationis bei Platon auch auf den Abschnitt 207d–e des Symposions und deutet die bei Platon positiv dargestellte Kreativität des Eros als individuelle Selbstvervollkommnung (Der Mangel als principium individuationis bei Platon, 2009, 45 f.). 15 16
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Margot Fleischer hat mehrfach darauf hingewiesen, dass der Versuch, den Menschen von seiner Lebewesenhaftigkeit her zu bestimmen, zu einem aporetischen Ergebnis führt: 18 Der Ruhm bei den nachkommenden Generationen erscheine zunächst als die höchste Gestalt der Unsterblichkeit. Dieser Unsterblichkeit sei allerdings Vergänglichkeit immanent, und an ihr hebe sich der Begriff der Unsterblichkeit auf. Deshalb müsse Diotima einen neuen Anfang machen, der die Zeitlichkeit transzendiert: der bekannte Aufstieg vom einzelnen schönen Körper über die Schönheit aller Körper, die Schönheit in den Seelen und die der Erkenntnisse bis zum Göttlich-Schönen selbst. Der Einwand macht darauf aufmerksam, dass im Nachruhm nicht die höchste Form von menschenmöglicher Unsterblichkeit gesehen werden kann und das Problem an dieser Stelle im Dialog noch nicht hinreichend gelöst ist. Gleichwohl spricht nichts dagegen, im Ruhm oder selbst in der Erzeugung und Erziehung eigener Kinder menschenmögliche Formen der Unsterblichkeit zu sehen, wenngleich diese vorphilosophischen Wirkungsstufen des Eros in ihrem jeweiligen Bezug auf das Schöne und in der Erreichung ihres Zieles, der Unsterblichkeit, dem philosophischen Streben, in dem sich der Eros vollendet, unterlegen sind. 19 Der Einwand sollte aber keinesfalls dazu führen, die LebeVgl. dazu M. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 1976, 16, 23 f. und 26. Die Vorläufigkeit dieser Bestimmung wird im Text selbst angezeigt: Diotima wird mit den »rechten Meistern im Wissen« (¯sper o tffleoi soyistaffl, 208c1), den vollendeten Sophisten verglichen. Neben Fleischer (ebd., 23) verweist auch Gerhard Krüger auf diese Stelle: »Diotima spricht in keinem Abschnitt ihrer Rede so ironisch, so eingeständlich (selbst dem Stile nach) ›sophistisch‹ wie hier (vgl. 208c).« (Einsicht und Leidenschaft, 1939, 176 f.) 19 Gegen die Behauptung, Platon habe die Unsterblichkeit durch Ruhm nicht ernst genommen, argumentiert Jürgen Wippern überzeugend, dass Platon diese Form der zu erlangenden Unsterblichkeit sinnvoll in sein Eros-Konzept integriert: Wegen ihrer Abhängigkeit von selbst nicht zu beeinflussenden geschichtlichen und kulturellen Bedingungen würde ihr zwar nur der Stellenwert zuerkannt, den sie im Vergleich mit den anderen Formen der Unsterblichkeit beanspruchen könne, zugleich werde eine bei den Griechen lebendige Auffassung von Ruhm und Unsterblichkeit einbezogen (Eros und Unsterblichkeit, 1965, 135 f.). Vgl. ebenso die Interpretation von Werner Jaeger, der den Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Formen menschenmöglicher Unsterblichkeit und der von Platon dargestellten geistigen Einheit der gesamten griechischen Geistesgeschichte unter der Idee der Paideia, der menschlichen Erziehung zur Tugend, betont, einer mit Homer beginnenden, über Lykurg und Solon bis zu Platon reichenden Einheit, der sich Platon, so Jaeger, nach eigenem Verständnis selbst zurechnet (Paideia, Bd. 2, 1959, 262 ff.). 18
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wesenhaftigkeit des Menschen aus dem Zusammenhang des Eros und des Strebens nach Unsterblichkeit herauszunehmen, zumal gerade sie offenbar macht, dass die sogenannte platonische Liebe mit Platon selbst wenig gemein hat. Angesichts der mannigfaltigen Möglichkeiten, in denen Eros als die produktive, jedes menschliche Streben tragende Kraft wirksam ist, kann keine Rede von einer pejorativen Bewertung des anthropologischen Charakteristikums des Mangels sein. Es kann nicht einmal von einer gleichwertigen Kompensation der nicht vorhandenen Leitung durch Instinkte gesprochen werden. Eros ermöglicht eben nicht nur die bloße Lebenserhaltung, sondern weit mehr und anderes: die menschliche Kultur. Letztlich umfasst er den gesamten Bereich von Natur und Kultur des Menschen. Der Mangel und die Bedürftigkeit des Menschen sind nach platonischer Auffassung die Ursache für die eigentlichen Möglichkeiten des Menschseins und im Vergleich zu anderen Lebewesen kein Nachteil, nicht einmal gegenüber den Göttern: Denn die Götter philosophieren nicht, aber die Menschen.
1.2 Der Mensch – ein Wesen in praktischen Selbstverhältnissen Die vorangehende Interpretation des Eros im Symposion hatte gezeigt, dass die Existenz des Menschen durch seine Bedürftigkeit und Endlichkeit charakterisiert ist. Dieser Befund wird auch dadurch nicht relativiert, dass der konkrete Mangel in Einzelfällen beseitigt werden kann oder dass in bestimmten Fällen kein Mangel an etwas besteht: Im ersten Fall gibt es, wie bereits gesagt, keinen Gewinn von Dauer, weil Eros das Erreichte wieder verloren geht (203e4 f.), und im zweiten ist der Mensch bestrebt, das in der Gegenwart vorhandene Haben oder Sein von etwas auch für die Zukunft zu sichern (vgl. 200c6–e1). Davon ausgehend wurde das menschliche Streben durch folgende Strukturmomente gekennzeichnet: Erstens ist das Begehren immer intentional, d. h. auf ein Objekt gerichtet, zweitens ist die Ursache des Begehrens ein aktueller oder zukünftiger Mangel, und drittens stehen Mangel und Begehrtes in einem direkten Zusammenhang, insofern das Begehrte den Mangel beheben kann. Obwohl in den relevanten Textpassagen des Symposions der Begriff der Selbstsorge oder eine vergleichbare Begrifflichkeit nicht verwendet sind, lässt sich diese Begehrens- oder Strebensstruktur auch als Sorge um sich selbst auffassen: A
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Der Mensch bezieht sich im Handeln auf etwas, das er begehrt, weil dieses Begehrte einen Mangel beseitigen kann. Zu diesem Mangel steht der Handelnde in einem besonderen, und zwar einem reflexiven Verhältnis, denn es ist der eigene ihn selbst betreffende Mangel, den er selbst beheben will, sodass sich sagen lässt: Aufgrund seiner derart bestimmten Natur ist der Mensch in dem, was er begehrt und erstrebt, also in allem, was er tut, immer um sich selbst besorgt. Das betrifft nicht nur die Handlungen, in denen der Handelnde sich über diese Zusammenhänge bewusst ist bzw. darüber reflektiert hat. Im Symposion selbst findet sich kein Anhaltspunkt für eine derartige Begrenzung oder Unterscheidung, sondern vielmehr wird eine jeglichem menschlichen Handeln zugrunde liegende Strukturbeschreibung gegeben. Diese Beschreibung erinnert auffällig an die von Martin Heidegger in Sein und Zeit ausgeführte Sorge als existenziale Grundstruktur menschlichen Daseins: Nach Heidegger ist jedes Erkennen, Verstehen bzw. Erschließen auch ein Erschließen eigener Möglichkeiten des Menschen, in der heideggerschen Begrifflichkeit: eigener Seinsmöglichkeiten des Daseins, sodass allem Verstehen und Erschließen immer auch das Interesse bzw. die Sorge des Menschen an sich selbst, an seinem Sein, zugrunde liegt. 20 Deshalb bezeichnet Heidegger das Sein des Menschen als Sorge, die den Bezug auf sich selbst bereits impliziert, sodass nach seinem begrifflichen Verständnis die Sorge um sich selbst eine Tautologie wäre. Bei Platon gibt es gleichwohl den Begriff der Sorge um sich selbst oder der Selbstsorge, er gehört sogar zu den zentralen Begriffen der platonischen Ethik, wird allerdings nicht zur Bezeichnung der Daseinssorge nach Heideggers Verständnis verwendet, obwohl diese der Sache nach auch bei Platon vorliegt bzw. vorhanden ist. Der griechische Ausdruck ¥pimffleia auto‰ bzw. ¥pimele…sjai auto‰ bedeutet: »Sorge um sich selbst« bzw. »auf sich selbst achten«, »sich um sich selbst kümmern«, und betont mit Nachdruck die bewusste Aufmerksamkeit, die einem Worauf geschenkt wird. In dieser Bedeutung wird der Begriff von Platon gebraucht: für die ausdrücklich bewusste Sorge um sich selbst. In der Reflexion darauf wird die unserem Tun zugrunde liegende Selbstbezüglichkeit bzw. Reflexivität – dass wir bei allem Tun bereits immer um uns selbst besorgt sind – begrifflich und somit einer Vgl. dazu M. Heidegger, Sein und Zeit, 1993, bes. § 41: Das Sein des Daseins als Sorge, 191–196.
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Analyse und Klärung zugänglich gemacht, wie im Kapitel 3 noch ausführlich zu besprechen sein wird. Die Deutung, menschliches Streben insgesamt als Sorge um sich selbst aufzufassen, also vor der Unterscheidung zwischen nicht reflektierter und sich bewusster Sorge um sich selbst, wird durch ein weiteres, im vorangehenden Kapitel bereits genanntes und jetzt ausführlicher zu besprechendes Kriterium bestätigt: das Gute. Bisher wurde gesagt, dass sich das Streben immer auf ein Gutes bezieht, und zwar für denjenigen, der danach strebt, und dass die Glückseligkeit, die sich durch das Erreichen des begehrten Guten einstellt, das letzte Ziel allen Strebens ist. Zum ersten Aspekt, dem ausnahmslosen Bezug auf ein Gutes: Menschliches Begehren setzt einen Mangel voraus und richtet sich immer nur auf etwas, das diesen Mangel beheben kann. In dieser Funktion kann das Erstrebte nur ein Gutes sein, insofern es eine Not beseitigt, und es ist nicht gut an sich oder gut für andere, sondern es ist gut für denjenigen, der es erstrebt: für ein konkretes Individuum, das im Bezug auf das Gute seinen eigenen, d. h. individuellen Mangel beheben will. 21 Unter gut wird hier nicht moralisch gut, ein Sollen oder eine an den Handelnden von außen herangetragene und zu erfüllende Norm verstanden, sondern gut hat zunächst die Bedeutung von nützlich, und zwar für den Handelnden selbst, und umfasst in dieser Bedeutung bei Platon den gesamten Bereich menschlichen Wollens und Handelns, ohne das Moralische im engeren Sinn auszuschließen. So heißt es im Menon: »denn alles Gute ist nützlich«, 22 oder in der Politeia: »Daß alles Verderbende und Zerstörende das Schlechte ist, das Erhaltende aber und Fördernde das Gute?« 23 Das Gute ist demnach das, was dem »Der wesenhaft Darbende kann das Schöne nicht bejahen, ohne dabei etwas für sich zu empfangen.« (G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 157) 22 p€nta gÞr t⁄gajÞ “yfflima (87e1 f.). 23 T mþn ⁄pollÐon ka½ diayje…ron p”n t kakn e nai, t dþ s†zon ka½ “yelo‰n t ⁄gajn. (608e3 f.) Schleiermacher übersetzt t kakn mit »das Böse« und begrenzt es dadurch auf das Moralische, ich folge Otto Apelt mit seiner Übersetzung als »das Schlechte«. Zu diesem Zusammenhang von gut und nützlich vgl. G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 158 ff.; bes. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 165 ff.: Unter Angabe der verschiedenen griechischen Ausdrücke für das Gute und das Nützliche innerhalb des platonischen Sprachgebrauchs und der relevanten Stellen in den Dialogen arbeitet Wieland sehr genau die funktionelle Beziehung zwischen dem Guten und dem Nützlichen heraus, die bis zu deren Austauschbarkeit reichen kann, und betont die Bedeutung des Nützlichen für das Motivationsproblem, das immer nur 21
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Menschen förderlich ist, was dem Menschen vonnöten ist, was ihm nützt, seine bestehende Not zu überwinden, und ist insofern für ihn gut. Zu Recht hat Gerhard Krüger in Bezug auf das Symposion gesagt: »Die platonische Untersuchung macht Ernst mit der Orientierung des gesamten Denkens an der menschlichen Bedürftigkeit.« 24 Dieser Bezug auf ein für mich selbst Gutes und Nützliches – diese Sorge um mich selbst – ist keineswegs auf die einzelne Handlung begrenzt, im Gegenteil: 25 In den seltensten Fällen wollen wir nur die Handlung an sich, sondern wir intendieren einen Zweck, den wir mittels der Handlung erreichen wollen. Wir handeln also um eines über die Handlung hinausreichenden Zwecks willen, der für uns ein Gutes im Sinne eines für uns Nützlichen ist. Das erklärt auch, dass wir unter Umständen Handlungen ausführen, die an sich für uns schlecht oder nicht förderlich sind, z. B. wenn wir Arznei einnehmen oder uns einer Operation unterziehen. Die Einnahme der Arznei ist gerade nicht das erstrebte Ziel, sondern wir nehmen sie ein, weil wir gesund werden wollen. Wir führen also gewisse Handlungen aus, weil wir mit Blick auf den erstrebten Zweck es für uns für gut und nützlich halten, gerade dies zu tun. 26 Was für die Heilkunst gilt, dass wir sie als Mittel zur Erreichung von Gesundheit als dem intendierten Ziel in Anspruch nehmen, kann ebenso für die jetzt als Mittel angesehene Gesundheit erfragt werden: Zu welchem Zweck? Um einen regressus in infinitum zu vermeiden, muss es ein letztes Ziel geben, bei dem die Frage nach dem Warum keinen Sinn mehr macht – das Gute bzw. die Glückseligkeit ist das letzte Ziel allen Strebens: »Denn durch den Besitz des Guten«, führt Diotima im Symposion aus, »sind die Glückseligen glückselig. Und hier bedarf es nun keiner weiteren Frage mehr, weshalb doch
das Problem eines Individuums sein kann, sowie den Vorrang der Orientierung am individuellen Nutzen in methodischer Hinsicht. 24 G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 157 f. 25 Die für den jetzigen Zusammenhang ausreichende knapp skizzierte Handlungstheorie Platons wird ausführlicher im Kapitel 4.1 unten besprochen. 26 Auch Diotima führt im Symposion ein ähnliches, wenngleich drastisches Beispiel an: »Denn die Menschen lassen sich ja gern ihre eigenen Hände und Füße wegschneiden, wenn sie, obgleich ihr eigen, ihnen schädlich (ponhr€) scheinen. Denn nicht an dem Seinigen hängt jeder, glaube ich, es müßte denn einer das Gute (t mþn ⁄gajn) das Angehörige nennen und das Seinige, das Schlechte (t dþ kakn) aber Fremdes.« (205e3–7)
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der glückselig sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein.« 27 Die Vorstellung des Guten als letztes Handlungsziel bedeutet, dass wir in allem Wollen und Handeln immer auf das Gute bezogen sind. Diese Intentionalität auf das Gute bildet gleichsam den Horizont unseres gesamten Strebens, nämlich ein gutes Leben zu führen, und steht uns als letztes Ziel unseres Wollens und Handelns selbst nicht zur Disposition, weil wir uns schon immer mit ihm identifiziert haben und es mit jeglichem Tun anstreben. 28 Nach Platon erstrebt demnach jeder Mensch von Natur aus das Gute, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Mensch nicht willentlich und wissentlich das für ihn Schlechte wollen kann: »Ist es nicht auch so, fragte ich [Sokrates], daß niemand aus freier Wahl dem Schlechten nachgeht oder dem, was er für schlecht hält? Und daß das, wie es scheint, gar nicht in der Natur des Menschen (¥n ⁄njrðpou yÐsei) liegt, dem nachgehen zu wollen, was er für schlecht hält anstatt des Guten«? (Prt. 358c6–d3) Die Bedürftigkeit unserer Existenz ist die Ursache für die ausnahmslose Intentionalität auf das Gute, wie diese bei Platon anthropologisch begründet wird, so wird das Gute als ein für den Wollenden und Handelnden selbst Nützliches im Ausgang von jener verstanden. 29 An dieser Stelle ist noch einmal ein Vergleich mit der Daseinssorge von Heidegger sinnvoll: Wie mir bei Heidegger die Daseinssorge 27
Ktffisei g€r, ˛yh, ⁄gajn o e'dafflmone@ e'dafflmone@, ka½ o'kffti prosde… ¥rffsjai‡ »´na tffl dþ boÐletai e'dafflmwn e nai ¡ boulmeno@;«‡ ⁄llÞ tfflo@ doke… ˛cein
⁄pkrisi@. (205a1–4) Vgl. die Diskussion zur Vermeidung des regressus in infinitum im Lysis 219b–220a; zum Gutem als letztem Ziel aller Handlungen vgl. auch Grg. 468c6–8, 499e9–500a1, Euthd. 278e3–6 und ebenso Aristoteles, EN I 1094a18–22. 28 Die Sonderstellung des Guten, die darin besteht, dass wir das Gute wirklich wissen wollen, im Unterschied zum Gerechten und Schönen, bei denen uns der Schein genügt (R. 505d7–e5), und die damit verbundene Ernsthaftigkeit, wenn nach dem guten Leben gefragt wird, findet ihren Ausdruck in den platonischen Dialogen darin, dass die Frage nach dem guten Leben oder das Wissen vom Guten mehrfach als die größte aller Fragen bzw. als das Wissen vom Wichtigsten bezeichnet werden. Vgl. dazu die Angaben in Anm. 17 im Kapitel 3.1 unten. 29 Vgl. G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 159 f.: »Hier geht die Betrachtung eindeutig vom bedürftigen Menschen aus. Das Gute ist dann von Hause aus nicht das Geforderte, sondern das, was der Mensch nötig hat – das, was ihm ›gut tut‹. Unter dieser Voraussetzung ist es allerdings selbstverständlich, daß die Entfernung der Not, die Eudämonie, das fraglos Letzte darstellt.« Auch Marcel van Ackeren betont den Zusammenhang zwischen der Bedürftigkeit der menschlichen Natur und dem Streben nach dem Guten (Das Wissen vom Guten, 2003, 68 und 167). A
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nicht zur Disposition steht, weil ich als Dasein in allem schon immer um mich selbst besorgt bin, so steht mir bei Platon das Gute als das letzte Handlungsziel nicht zur Verfügung, weil ich mich in allem Tun auf das Gute beziehe. Weder kann ich bei Heidegger mich nicht um mich selbst sorgen, noch bei Platon das Gute nicht wollen. In beiden – wenn auch sehr divergierenden – Philosophien gehört die Sorge als existenziale Grundstruktur des Daseins bzw. die intentionale Ausrichtung auf das Gute als letztes Handlungsziel, und in dieser Bedeutung: als Sorge um sich selbst, zum Sein des Menschen. Dem Guten können wir nach Platon nicht willentlich und wissentlich entgegenhandeln, niemand wird sich freiwillig und mit Absicht schaden, aber wir können uns täuschen, und zwar in mehrfacher Hinsicht: über die Eignung der Mittel, das Ziel zu erreichen, über einzelne Teilziele oder – und das ist am schwerwiegendsten – über die letzten Ziele, also über das, was man eigentlich und nicht nur scheinbar will. In der Annahme, sich am wirklich Guten zu orientieren, intendiert man in diesen Fällen ein nur irrtümlich angenommenes Gutes, verfehlt sein eigentliches Ziel und entspricht damit seinen eigenen Intentionen nicht. Bei der Unterscheidung zwischen einem wahrhaft für mich Guten und einem nur scheinbaren, irrtümlich angenommenen Guten für mich wird das Wissen relevant, und zwar das Wissen des Guten, um sicherzugehen, dass man das wahrhaft Gute verfolgt. Aber das ist ja gerade infrage gestellt: »Wie soll ich leben?« Wie noch darzustellen sein wird, genügt bei der Beantwortung dieser Frage nicht die Position des Augenblicks. Die Frage nach dem guten Leben erfordert von sich aus den Bezug auf den Gesamtzusammenhang des eigenen Handelns und Lebens und sogar darüber hinaus. Die allem Wollen und Handeln zugrunde liegende Intentionalität auf das Gute wird allerdings nicht davon berührt, ob man sich getäuscht hat oder nicht. Sie liegt auch einer weiteren Unterscheidung voraus: ob man sich über den im Bezug auf das Gute enthaltenen eigenen Selbstbezug bewusst ist oder nicht. Nach Wolfgang Wieland liegen überall dort, wo das Gute intendiert wird, Strukturen vermittelter Selbstbeziehung vor: Das Gute markiere »jenen Punkt, an dem deutlich wird, wie alle Intentionen des Wollenden und des Handelnden in letzter Instanz wieder auf ihn selbst zielen. Zwar sind es zunächst immer gegenständliche Ziele, die vom Wollen und vom Handeln intendiert werden. Doch es gibt kein Ziel, das man nicht zugleich sub ratione boni intendierte. Man kann nichts wollen, ohne das Gewollte in letzter 76
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Der Mensch – ein Wesen in praktischen Selbstverhältnissen
Instanz für gut und nützlich für sich zu halten. Aus diesem Grunde bleibt man in allem Wollen und Handeln auf sich selbst zurückbezogen, ob man sich dessen nun ausdrücklich bewußt ist oder nicht.« 30 Durch den ausnahmslosen Bezug auf das Gute befindet sich, so Wieland weiter, der Mensch nicht nur in einem Selbstverhältnis, wenn er sich dessen bewusst ist, sondern auch, wenn dieses Selbstverhältnis einer ausdrücklichen Reflexion vorausliegt: »Natürlich hat man von diesen Zusammenhängen gewöhnlich kein thematisches oder differenziertes Wissen. Man kann gewöhnlich keine Rechenschaft geben über jenes Gute, das man für sich immer erstrebt und in bezug auf das man alles andere nützlich zu machen bestrebt ist. Im Gegenteil: Die Seele bezieht sich gewöhnlich auf das Gute immer nur in der Weise einer undeutlichen Ahnung.« 31 Um diese einer ausdrücklichen Reflexion vorausliegenden Selbstverhältnisse von den reflektierten Selbstverhältnissen, die sich auf jene beziehen bzw. von jenen ausgehen, begrifflich zu unterscheiden, übernehme ich eine von Ernst Tugendhat getroffene begriffliche Unterscheidung zwischen einem »unmittelbaren praktischen« und einem »reflektierten praktischen Sichzusichselbstverhalten«: 32 Kennzeichne das erste – das unmittelbare praktische – das Selbstverhältnis, in dem wir als Handelnde schon immer das sind, was wir tun und wollen, und entspricht dem nicht thematisierten Bezug auf das Gute und dem damit verbundenen Selbstbezug bei Platon, so bezeichne das zweite – das reflektierte praktische – das Selbstverhältnis, dem die Selbstbestimmung und Eigenständigkeit des Handelnden in Form einer ausdrücklichen Reflexion und Stellungnahme entspricht, und zwar sowohl geW. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 315 f. Zur Reflexivität des Eros vgl. auch M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, 2003, 167: »Die Liebe zum Schönen ist die Liebe zum Guten. Doch das Gute wird nur geliebt als etwas, das einem zuteilwerden soll, das der Liebende haben will, was von Diotima nochmals nachträglich betont wird: Damit ist der Liebende selber Ziel seiner Liebe, denn er will das Gute nicht um seiner selbst willen, sondern wegen seiner Folgen für sich. Die Güter sind nur Mittel zum Zweck, denn der Eros hat sein Ziel und seine Erfüllung im Glücklichsein, also einem Zustand des Liebenden selber: Der Eros ist selbstreflexiv.« 31 Ebd., 173. 32 Vgl. dazu E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 1993, 28–33. Dieser Unterscheidung geht bei Tugendhat eine weitere voraus: zwischen einem epistemischen Selbstbewusstsein und einem praktischen Sichzusichselbstverhalten. Da uns nur das praktische Selbstverhältnis interessiert, ist diese erste Unterscheidung für unseren Zusammenhang ohne Belang. 30
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genüber den eigenen Wertvorstellungen und Meinungen sowie Wünschen und eigener Triebhaftigkeit als auch gegenüber den Erwartungen der Mitmenschen und den vorgegebenen intersubjektiven Rollen und Normen. Das Verhältnis dieser beiden Arten von praktischen Selbstbezügen ist nach Tugendhat kein Verhältnis von Unterarten, sondern es liegen verschiedene Stufungen vor: Auf dem unmittelbaren Sichzusichverhalten baue sich als ein höherstufiges das reflektierte Selbstverhältnis auf. Meine These ist, dass Platon sowohl beide Arten von Selbstverhältnissen als auch der zwischen beiden bestehende Zusammenhang bekannt waren. Bislang interessierte nur, inwiefern die unmittelbaren praktischen Selbstverhältnisse, also diejenigen, die einer ausdrücklichen Reflexion vorausliegen, in den platonischen Dialogen ein Gegenstand der Erörterung sind. Ausgehend von der anthropologischen Bestimmung des Menschen als einem bedürftigen und endlichen Wesen, der daraus entstehenden Sorge um sich selbst und der Intentionalität auf das Gute konnte gezeigt werden, dass diesen unmittelbaren Selbstverhältnissen sogar eine besondere Aufmerksamkeit gilt. Im weiteren Fortgang der Arbeit wird sich dieser Befund noch mehrfach bestätigen. Bevor ich dafür argumentiere, dass Selbstbestimmung – das durch Reflexion und Stellungnahme ausgezeichnete praktische Selbstverhältnis – erstens als Gegenstand philosophischer Reflexion in den Dialogen thematisiert wird und zweitens an den unmittelbaren Selbstverhältnissen anschließt, soll das folgende Kapitel erkennen lassen, dass für Platon bereits diese unmittelbaren Selbstverhältnisse im eigentlich Sinn des Wortes praktisch sind.
1.3 Die Bedeutung des Umgangs mit anderen und anderem Im Folgenden soll gezeigt werden, dass bereits unmittelbare Selbstverhältnisse bei Platon praktisch zu verstehen sind, und zwar nicht nur in der Bedeutung, dass ich mich bereits in diesen unmittelbaren Selbstverhältnissen auf etwas beziehe oder etwas intendiere, sondern darüber hinaus, dass das intendierte Etwas meines Bezuges eine Wirkung oder einen Einfluss auf mich selbst hat. Es lässt sich vermuten, dass Platon genau diesen Einfluss, insbesondere innerhalb unmittelbarer Selbstverhältnisse, im Blick hat, wenn er in den Dialogen häufig und mit Nachdruck darauf aufmerksam macht, dass der Umgang mit anderen und 78
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anderem von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, und zwar für denjenigen, der diesen Umgang hat: In den Nomoi wird eine bestimmte Beschaffenheit der Seele »durch ihren eigenen Willen und den machtvollen Einfluß ihres Umgangs« verursacht.33 Die folgende Interpretation soll sowohl die Relevanz des Umgangs mit anderen und anderem als auch das Praktische unmittelbarer Selbstverhältnisse verständlich machen, indem sich beide wechselseitig erhellen, insofern sie in einen Zusammenhang gestellt werden. Neben der Unterscheidung zwischen einem nur scheinbaren und einem wirklichen Guten, einer Unterscheidung, die das Objekt des Strebens betrifft, gibt es noch eine weitere Differenz, die sich auf die Art und Weise des Strebens selbst bezieht: Das Streben als solches und mit diesem die Intention des Ähnlichwerdens kann mehr oder weniger bewusst gewollt bzw. mehr oder weniger reflektiert sein. Dafür sollen exemplarisch drei Dialogstellen zitiert werden: Die Philosophen, die ihre Gedanken auf das Seiende richten, das »nach Ordnung und Regel sich verhält, werden […] auch dieses nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden. Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, daß einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme? […] Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur dem Mensch möglich ist.« 34 Liegt hier der Fall einer bewussten und gewollten Nachahmung mit dem ausdrücklichen Ziel vor, sich demjenigen, worauf sich der begehrend liebevolle Umgang bezieht, ähnlich zu bilden, so führt im nächsten Fall allein die zunächst wertfreie Nachahmung zu einer Veränderung des eigenen Seins: So sollen die Wächter nichts Schlechtes darstellen, »damit sie nicht von der Nachahmung das Sein davontragen. Oder hast du nicht bemerkt, daß die Nachahmungen, wenn man es von Jugend an stark damit treibt, in Gewöhnungen und in Natur übergehen, es betreffe nun den Leib oder die Töne oder das Gemüt?« 35 Und im dritten und 33 diÞ t¼n a¢t»@ boÐlhsffln te ka½ ¡milfflan […] §scur€n (904d5 f.). Vgl. zur Bedeutung des Umgangs auch 854b8–c3. 34 ksm†w dþ p€nta ka½ katÞ lgon ˛conta, ta‰ta mime…sjaffl te ka½ ˆti m€lista ⁄yomoio‰sjai‡ o—ei tinÞ mhcan¼n e nai, ˆt†w ti@ ¡mile… ⁄g€meno@, m¼ mime…sjai ¥ke…no; […] Qeffl†w d¼ ka½ kosmffl†w ˆ ge yilsoyo@ ¡miln ksmi@ te ka½ je…o@ e§@ t dunatn ⁄njrðp†w gfflgnetai (R. 500c4–d1). 35 ´na m¼ ¥k t»@ mimffisew@ to‰ e nai ⁄polaÐswsin‡ o'k –ˇsjhsai ˆti a mimffisei@, ¥Þn ¥k nffwn prrw diatelffswsin, e§@ ˛jh te ka½ yÐsin kajfflstantai ka½ katÞ sma ka½ ywnÞ@ ka½ katÞ t¼n di€noian; (R. 395c8–d3)
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letzten Fall bleibt das eigene Ähnlichwerden mit dem Unglücklichsein, das man wegen ungerechter Handlungen erfährt, für einen selbst verborgen: Diejenigen, die nicht sehen, dass in der Welt zwei Vorbilder aufgestellt sind, das Göttliche der größten Glückseligkeit und das Ungöttliche des Elends, werden »aus Torheit und höchstem Unverstande unvermerkt um der ungerechten Handlungen willen diesem ähnlich, immer unähnlicher aber jenem«. 36 Bei den angeführten Beispielen sind mindestens zwei Fälle zu unterscheiden, die in etwa unserer bisherigen Unterscheidung von unmittelbaren praktischen und reflektierten praktischen Selbstverhältnissen entsprechen: ein »unvermerktes«, d. h. sich darüber nicht ausdrücklich bewusstes, und ein willentliches Nachahmen und Ähnlichwerden. In beiden Fällen, so war zu zeigen, geht Platon von einem Einfluss dessen aus, mit dem wir umgehen, auf das wir uns strebend beziehen, und zwar sowohl unabhängig davon, ob ich mir dessen im ausdrücklichen Sinn bewusst bin, als auch, ob ich mich auf ein wirkliches Gutes beziehe. Die Ursache davon liegt in der menschlichen Bedürftigkeit, in der Struktur menschlichen Strebens: Jedes Wollen und Handeln ist immer auf etwas gerichtet, das man selbst nicht hat oder ist und das einen eigenen Mangel beheben soll, indem man dem Erstrebten teilhaftig oder ähnlich werden will. In dieser Funktion – einen Mangel zu beheben – ist das Erstrebte ein Gutes, als solches weist es zurück auf denjenigen, der es erstrebt. Infolge des Strebens nach Teilhabe oder Ähnlichkeit ist der Einfluss des begehrten Objekts auf denjenigen, der es begehrt, bereits von ihm selbst intendiert. Deshalb kann der Einfluss oder die Wirkung dessen, auf das man sich bezieht, auch nicht als ein passives Erleiden verstanden werden, geht doch die Aktivität von demjenigen aus, der danach strebt. Denn der Einfluss des Erstrebten ist nicht unabhängig vom Strebenden selbst, jeder Bezug auf etwas setzt bereits eine entsprechende Veranlagung oder Verfasstheit desjenigen voraus, der sich strebend auf dieses bezieht. Wie eingangs gesagt, interessieren im jetzigen Zusammenhang nur die unmittelbaren praktischen Selbstverhältnisse, in denen wir aber gleichfalls – vielleicht sogar in der Mehrzahl unserer Bezüge – lebend und handelnd stehen, und von diesen wiederum eigentlich nur diejenigen, die sich auf ein nur scheinbares Gutes beziehen, weil das 36
¢p ƒlijitht@ te ka½ t»@ ¥sc€th@ ⁄noffla@ lanj€nousi t† mþn ¡moioÐmenoi diÞ tÞ@ ⁄dfflkou@ pr€xei@, t† dþ ⁄nomoioÐmenoi (Tht. 176e5–177a2).
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Wissen des Guten für Platon selbst in den Fällen reflektierter Selbstverhältnisse problematisch ist, umso mehr im Fall des unmittelbaren Bezuges. Abgesehen davon, dass die Bedeutung des Umgangs in den unmittelbaren praktischen Selbstverhältnissen darin liegt, dass man selbst überhaupt nicht realisiert, weil für sich selbst »unvermerkt«, wie man sich selbst verändert, liegt die systematische Einsicht darin, dass Platon bereits auf dieser Ebene praktischer Selbstbezüge von einem Zusammenhang zwischen menschlichem Streben – Wollen und Handeln – und der Disposition der Seele ausgeht. 37 Wie lassen sich der Zusammenhang und insbesondere die Wirkung des Erstrebten auf den Strebenden genauer beschreiben? Ist die Verfasstheit des Strebenden, man kann auch sagen: die Disposition der Seele, verantwortlich für den Bezug auf etwas, so betrifft wiederum der Einfluss und damit die Bedeutung des Umgangs die Beschaffenheit der Seele selbst, wie die relevanten Dialogstellen hinlänglich deutlich machen. Es liegt demnach eine wechselseitige Relation bzw. eine vermittelte Selbstbeziehung vor: Bedingt die Verfasstheit des Menschen den jeweiligen Bezug auf etwas und damit seinen eigenen Weltbezug, so bedingt der eigene Weltbezug – vermittelt über dasjenige, was erstrebt wird – die Verfasstheit des Menschen selbst. Die Reflexivität unmittelbarer praktischer Selbstverhältnisse bedeutet, dass wir nicht gleichsam »neben« unseren Handlungen stehen. Die Handlungen sind kein uns fremder Gegenstand, von dem wir uns distanzieren könnten, sondern wir stehen handelnd immer schon in In den Dialogen ist diese Reflexivität unmittelbarer Selbstverhältnisse oftmals nicht vordergründig thematisiert oder eigens ausdrücklich gemacht. »Doch über dieses Faktum wird man sich nur dann wundern, wenn man übersieht, daß diese Strukturen für Platon schon aus Gründen, die mit den Strukturen der griechischen Sprache zusammenhängen, nicht in demselben Maße erklärungsbedürftig waren wie für die Denker neuzeitlicher Traditionen. Im Griechischen erlauben es vor allem die medialen Konstruktionen, einer Fülle von Strukturen aus dem Formenkreis der vermittelten Selbstbeziehung unmittelbar gerecht zu werden, ohne daß es dazu noch besonderer Akzentuierungen mit Hilfe besonderer Sprachelemente von der Art der Reflexivpronomina oder gar mit Hilfe von Umschreibungen bedarf.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 316) Vgl. dazu insgesamt den § 18: Reflexive Strukturen in Wissen und Handeln, ebd., 309–322. Die Aussage Wielands bezieht sich auf die Unterscheidung von Strukturen reiner bzw. unmittelbarer Reflexivität und vermittelter Selbstbeziehungen. Letztere sind nach Wieland den Akteuren oftmals nicht bewusst. Insofern ist seine Aussage auch im jetzigen Zusammenhang der unmittelbaren praktischen Selbstverhältnisse zutreffend.
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Selbstverhältnissen, auch wenn uns das nicht bewusst ist oder wenn wir meinen, dass wir uns ohne jeglichen Selbstbezug auf etwas beziehen. So wird man bereits durch die Freude – eine positive Wertung – unvermeidlich dem ähnlich, worüber man sich freut: »Ist es nur wahrscheinlich oder nicht sogar unvermeidlich (⁄nagka…on), daß es sich damit genauso verhält, wie wenn einer mit verdorbenen Charakteren schlechter Menschen zusammen ist und diese nicht haßt, sondern sich daran freut und sie sich gefallen läßt und sie nur wie im Scherz tadelt, da er die Verkehrtheit dieses Zustands nur wie im Traum ahnt? In diesem Fall ist es doch unvermeidlich, daß derjenige, der sich freut, dem ähnlich wird, worüber er sich freut (tte ¡moio‰sjai dffipou ⁄n€gkh tn cafflronta ¡potffroi@ n cafflr–h), auch wenn er sich schämen sollte, es zu loben. Was für ein größeres Gut oder Übel könnten wir nun angeben, das uns ganz unvermeidlich (¥k p€sh@ ⁄n€gkh@) trifft, als ein solches?« (Lg. 656b1–7) Deshalb hat der Umgang im Fall einer Täuschung über das wirklich Gute auch eine derartige Bedeutung, weil ich nicht nur meine eigene Intentionalität verfehle, sondern darüber hinaus – und das eröffnet eine ganz andere Dimension, und zwar eine existenzielle – werde ich aufgrund der Orientierung an einem nur scheinbaren Guten selbst schlecht, da ich aufgrund meiner Täuschung das Begehrte für ein Gutes halte und versuche, diesem ähnlich zu werden. Neben einer falschen Orientierung bedingt diese selbst zusätzlich ein falsches, d. h. schlechtes menschliches Sein. Hinzu kommt, dass die Wirkung des Umgangs die Disposition der Seele betrifft, also keine einzelne Meinung oder Wertung nach Art eines theoretischen Wissens, von dem man sich auch distanzieren kann, nicht einmal nur einzelne Meinungen in praktischer Hinsicht, sondern prinzipielle Orientierungen der eigenen Lebensführung: Die »größte Strafe besteht nun darin, daß man den Menschen ähnlich wird, die bereits schlecht sind (t ¡moio‰sjai to…@ oªsin kako…@ ⁄ndr€sin), infolge dieser Ähnlichkeit aber vor den guten Menschen und Reden flieht und sich von ihnen losreißt und sich dafür an jene im Umgang (katÞ tÞ@ sunousffla@) anschließt und ihnen nachläuft. Einmal aber mit solchen Menschen verwachsen, muß man zwangsläufig tun und erleiden (⁄n€gkh poie…n ka½ p€scein), was ihrem Wesen nach solche Menschen einander zu tun und zu sagen pflegen.« (728b4–c2) Der Umgang mit jenen schlechten Menschen hat auch deshalb ein derartiges Gewicht, weil sich die existenziellen Orientierungen nicht ohne Wei82
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teres ändern lassen, im Umgang mit anderen und anderem wird vielmehr nach der Bestätigung seiner eigenen Lebensführung bzw. seiner eigenen seelischen Disposition gesucht. 38 Die Bedeutung des Umgangs verweist auf die Notwendigkeit einer Aufmerksamkeit auf sich selbst einschließlich auf das, mit dem man Umgang hat, damit man nicht unvermerkt dem Elend ähnlich, der Glückseligkeit immer unähnlicher wird (vgl. Tht. 177a1 f.). Aber was heißt: Aufmerksamkeit auf sich selbst? Und was: auf sich selbst? Bevor diese Fragen und die in den Dialogen gegebenen Antworten in den folgenden Kapiteln eingehender behandelt werden, soll abschließend noch danach gefragt werden, ob und wie in den platonischen Dialogen die unmittelbaren praktischen Selbstverhältnisse bewusst und damit der Reflexion zugänglich gemacht werden und in welchem Zusammenhang sie mit den reflektierten praktischen Selbstbezügen stehen. Bedingung dafür, dass die unmittelbaren praktischen Selbstverhältnisse überhaupt »zur Sprache gebracht« werden können, ist ein Zusammenhang zwischen Seele und Rede, der in den Dialogen nicht nur vorausgesetzt, sondern auch mehrfach erwähnt ist: Im Dialog Theaitetos behauptet Theodoros, dass sein Schüler Theaitetos dem Sokrates ähnlich sei. Ob diese Behauptung nicht nur für ihr Aussehen zutrifft, sondern auch für ihre Seelen, kann sich für Sokrates nur erweisen, wenn sich Theaitetos, d. h. seine Seele, in Äußerungen darstellt (¥pideiknÐnai, 145b), und das bedeutet – in den eigenen Reden offenbart sich der Redende selbst. Ein zweites Beispiel: Sokrates soll den Jungen Charmides im gleichnamigen Dialog von seinen Kopfschmerzen heilen. Unter Berufung auf eine »medizinische Theorie«, welche die Ganzheitlichkeit des Menschen voraussetzt – wie es verfehlt sei, den Kopf ohne den gesamten Leib behandeln zu wollen, so lasse sich der Leib nicht ohne die Seele kurieren –, vermag Sokrates dies nur durch »gewisse Besprechungen«, oder wie es auch heißt: »schöne Re-
»Denn was nach seinem eigenen Sinn gesprochen wird, daran freut sich ein jeder, was aber aus einem fremden, das ist ihm zuwider« (t† a¢tn gÞr ˇjei legomffnwn tn lgwn kastoi cafflrousi, t† dþ ⁄llotrffl†w ˝cjontai, Grg. 513c2 f.). Vgl. auch 510b2– 4: »Freund nämlich dünkt mich einem jeden derjenige am meisten zu sein, von dem es schon die Alten und Weisen sagen, der Ähnliche dem Ähnlichen (¡ ¡mo…o@ t† ¡moffl†w).« Das Sprichwort findet sich in den Dialogen mehrfach, es ist bereits bei Homer nachweisbar (Od. XVII, 218). Vgl. dazu insgesamt C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem, 1965. 38
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den« (lgoi kaloffl, 157a4 f.), d. h. durch ein Reflektieren auf die Reden selbst. 39 Der Zusammenhang zwischen der Rede als Ausdruck von Meinungen, mit denen sich der Redende identifiziert hat, also zwischen gebrauchtem lgo@ und existenzieller Orientierung, ist zumindest für die Interpreten, die den Dialog als Medium der philosophischen Mitteilung ernst nehmen, ein bewusst gehandhabtes Darstellungsmittel in den Dialogen selbst. In der sokratischen Gesprächsführung werden zwar Behauptungen und Argumente auch auf ihre sachliche Konsistenz geprüft, aber nicht unabhängig von der Person, die sie vertritt, wie auch Nikias im Dialog Laches bestätigt: Wenn sich jemand mit Sokrates ins Gespräch einlässt, dann werde er von ihm – völlig unabhängig vom Ausgangsthema der Unterredung – unvermeidlich an den Punkt geführt, »daß er Rede stehen muß über sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt und wie er vorher sein Leben gelebt hat«. 40 Rainer Enskat hat in seiner erkenntnistheoretischen Untersuchung des Theaitetos auf zwei Komponenten des Wissens bei Platon aufmerksam gemacht: auf das von ihm sogenannte Identifikationsmuster, was uns jetzt interessiert, und auf die damit im Zusammenhang stehende Authentizitätsbedingung, über die später zu reden sein wird. 41 In den Dialogen lässt Platon, so Enskat, die beteiligten Personen nicht in theoretischer Form über einen Gegenstand sprechen, zu dem sie selbst in keinem praktischen Verhältnis stehen, sondern in jedem Erkenntnisprozess ist der Erkennende selbst ein paradigmatisches Beispiel für das infrage gestellte Problem, er personifiziert gleichsam die jeweils von ihm selbst gegebene Bestimmung des fraglichen Begriffs oder Gegenstandes, sodass er im direkten Reden über eine Sache zugleich auch indirekt über sich selbst spricht. Das dadurch ermöglichte Rechenschaftgeben (lgon didnai), diese »existenziale« Ergänzung des sokratischen Nichtwissens, 42 beVgl. R. 382b7–c2: »Aber mit vollkommenem Recht kann man doch das eben Beschriebene die wahre Unwahrheit [nennen], ich meine die Unwissenheit in der Seele des Getäuschten. Denn die in den Reden ist nur eine Nachahmung jenes Ereignisses in der Seele und ein später entstandenes Abbild, nicht mehr die unvermischte Unwahrheit.« 40 e§@ t didnai per½ a¢to‰ lgon, ˆntina trpon n‰n te z–» ka½ ˆntina tn parelhlujta bfflon bebfflwken (187e10–188a2). 41 Vgl. dazu R. Enskat, Authentisches Wissen, 1998, 110 ff. 42 So Paul Friedländer zu dieser Dialogstelle im Laches: »Sokrates ist der Menschen39
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wirkt, dass nicht ausdrücklich bewusste Orientierungen der eigenen Lebensführung einschließlich nicht reflektierter praktischer Selbstverhältnisse bewusst gemacht werden und somit der Reflexion und Überprüfung zugänglich. Diese nicht reflektierten praktischen Voraussetzungen des eigenen Wollens und Handelns sind in einer gewissen Hinsicht vertraut, sie können sogar mit der Annahme verbunden sein, dass man darüber ein sicheres Wissen zu haben glaubt, z. B. über das gute Leben. Indem die philosophische Reflexion diese praktischen Zusammenhänge bewusst macht und ihre Widerspruchsfreiheit und Gültigkeit prüft, macht der Gesprächspartner des Sokrates zugleich die Erfahrung einer ihn selbst als Individuum und Mensch betreffenden Selbsterkenntnis, die ihn über seine eigenen praktischen Orientierungen aufklärt und – wie in den sogenannten aporetischen Dialogen dargestellt – zum Bewusstsein des eigenen Nichtwissens führt. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass das philosophische Gespräch nicht einen Gegenstand theoretisch und ohne jeden Bezug zu gelebter Praxis thematisiert, sondern sich – auf einer in Bezug auf die Reflexion höheren Stufe – auf anthropologische Voraussetzungen und praktische Selbstbezüge bezieht, nach denen wir bereits mehr oder weniger bewusst leben und handeln: »Hier geht es nicht darum«, so Wolfgang Wieland zur angeführten Stelle im Laches, »eine Reflexionsbeziehung im Rahmen des Gesprächs und mit seinen Mitteln erst herzustellen: Es soll vielmehr nur eine schon vorhandene Reflexionsbeziehung als solche bewußt gemacht und dadurch zugleich modifiziert werden. Man redet der Sache nach viel häufiger implizit über sich selbst, als man sich dessen bewußt ist. Sokrates besitzt auf der Grundlage seiner Kunst der Gesprächsführung auch die Fähigkeit, solche latenten Implikationen bewußt zu machen.« 43 Wenn Philosophie nach Selbstbestimmung fragt, dann geht sie von den unmittelbaren praktischen Selbstverhältnissen aus, weil das Ziel nicht in einer theoretischen Bestimmung des Begriffs besteht, sondern zu einer umprüfer, der mit der scheinbar allgemeinsten Erörterung stets die Frage an dich richtet, ›wie du lebst und wie du leben mußt‹. Das ist die positive, die ›existenziale‹ Ergänzung seines Nichtwissens.« (Platon, Bd. 2, 1957, 36) Vgl. auch W. Wieland, Das sokratische Erbe, 1996; ders., Platon und die Formen des Wissens, 1999. Zum personengebundenen Wissen bei Platon selbst vgl. Prt. 333c7–10: »Denn ich [Sokrates] will eigentlich nur den Satz prüfen, aber es ereignet sich dann wohl, daß dabei auch ich, der Fragende, und der Antwortende geprüft werden.« 43 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 317. A
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fassenden Erkenntnis unserer selbst führen soll, was wiederum nicht ohne die Einsicht in die anthropologischen Voraussetzungen und praktisch relevanten und existenziellen Orientierungen möglich ist. Letzteres natürlich nur unter der – originär platonischen – Voraussetzung, dass dieses Verstehen von uns selbst wiederum praktische Relevanz haben soll. Philosophie nach diesem Verständnis ist nichts anderes als praktische Selbsterkenntnis. Bevor sich die Untersuchung der praktischen Selbsterkenntnis zuwendet, soll zunächst geklärt werden, was es bei Platon mit dem Selbst auf sich hat.
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2. Das Selbst (t a't) und seine Identität
Wie kann man sich selbst kennenlernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. (Johann Wolfgang von Goethe, Betrachtungen im Sinne der Wanderer)
Wenn man sinnvoll über Selbstbestimmung sprechen will, setzt man voraus, dass es jemand, ein Subjekt oder wen auch immer, jedenfalls einen Akteur gibt, der – sich dessen bewusst und willentlich – sich in seinem Handeln selbst bestimmt. Demnach gehört zu den wesentlichen Bestimmungsmomenten für die Klärung dessen, was mit Selbstbestimmung gemeint ist, das Vermögen des Menschen, einen Gebrauch von sich selbst zu machen. Aber wer gebraucht sich da eigentlich selbst? Bereits sprachlich können wir dieses wer nicht anders als aktiv benennen, als ein Subjekt, das über die Disposition der eigenen Handlungsfähigkeit verfügt und das auch entsprechend der Tradition begrifflich als Selbst bezeichnet werden kann. Zu klären ist im Folgenden, ob Platon diesen Begriff des Selbst überhaupt gebraucht und inwiefern über diesen Begriff in den Dialogen reflektiert wird, und wenn das der Fall ist, was unter dem platonischen Selbst verstanden werden kann und ob der Begriff auch die für Selbstbestimmung notwendigen Bestimmungsmomente enthält. Bereits die Anlage der Dialoge gibt Auskunft über das Problem, zumindest in einer indirekten Art und Weise: Zu erinnern ist daran, dass in den Dialogen Gespräche geführt werden, und zwar in konkreten Situationen von konkreten Personen über ein die Dialogpartner auch immer praktisch berührendes Problem. Bereits dabei wird nicht nur unterstellt, sondern im Dialog selbst vorgeführt, dass die Dialogpartner jeweils als ein Selbst agieren, natürlich nur unter der Voraussetzung, dass bei einem entsprechend weiten Handlungsbegriff auch das Reden als Handlung verstanden wird. Denn es sind die Fragen, Antworten A
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Das Selbst (t a't) und seine Identität
und Positionen der jeweiligen Dialogpartner, die sie als die eigenen gegenüber anderen artikulieren und verteidigen, weil sie sich mit diesen identifiziert haben. Indem die Gesprächspartner sich als »ich« sagende Wesen präsentieren und den anderen mit »du« ansprechen, wird bereits durch die literarische Form sowohl die jeweilige Selbstzuschreibung und die ihr entsprechende Abgrenzung von dem anderen als auch das damit verbundene Selbstverständnis zum Ausdruck gebracht. Aber philosophisch relevant im eigentlichen Sinn wird das Problem des Selbst erst dort, wo es uns als Gegenstand des Philosophierens gegenübertritt: im Alkibiades I und im Symposion.
2.1 Was ist das Selbst (t a't)? – Alkibiades I Im Alkibiades I, 1 einem der frühen Dialoge Platons, wird Alkibiades von Sokrates in einer für beide ganz bestimmten Situation angesprochen: Im Gegensatz zu Alkibiades’ anderen Liebhabern, die sich wegen seiner vergehenden äußerlichen Schönheit von ihm abwandten oder durch seinen Hochmut vertrieben wurden, spricht Sokrates ihn an, und zwar erstmalig. Bisher hatte ihn sein daimnion, die göttliche Stimme in seinem Inneren, davon zurückgehalten. Aber auch Alkibiades signalisiert Gesprächsbereitschaft: Sokrates, der ihn bisher nur beobachtet hatte, was Alkibiades nicht mit Verwunderung entgangen war, sei ihm nur einen Augenblick zuvorgekommen. Alkibiades steht kurz vor seinem Eintritt in das politische Geschehen Athens, und er Dieser Dialog wurde in der Akademie als Einführung in die platonische Philosophie verwendet, es gibt mehrere spätantike Kommentare, und er galt seit der Antike als genuin platonisch. Erst seit Schleiermachers Verdikt, dass der Dialog wegen einer miserablen Komposition und einer inhaltlichen Oberflächlichkeit »ziemlich geringfügig und schlecht erscheint, und zwar auf eine solche Weise daß wir es dem Platon nicht zuschreiben können« (Einleitung zu Alkibiades I (1826), 1987, 207 f.), ist die Autorschaft Platons bezweifelt worden, und bis heute ist über die Echtheit noch keine völlige Einigkeit erzielt. Allerdings gibt es auch gute Gründe, seine Echtheit anzunehmen. Vgl. insbesondere die Auseinandersetzung mit den gegen die Echtheit des Dialoges vorgebrachten Einwänden von P. Friedländer, Der Große Alcibiades, 1923. Nach Karen Gloy dürfte an der Authentizität des Alkibiades I »angesichts der inhaltlichen und methodischen Übereinstimmung mit dem Charmides kein Zweifel bestehen« (Platons Theorie der ¥pistffimh aut»@ im Charmides, 1986, 143). Und Ursula Wolf zählt den Alkibiades I zu den Dialogen, »bei denen nicht mit Sicherheit auszuschließen ist, daß sie von Platon stammen« (Vorwort zu: Platon, Sämtliche Werke, 1994, Bd. 1, 8). 1
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Was ist das Selbst (t a't)? – Alkibiades I
gibt Sokrates zu, dass er seine Hoffnung nicht auf eine durchschnittliche politische Karriere setzt, sondern von Ehrgeiz erfüllt ist und zu außergewöhnlicher politischer Macht und Ruhm gelangen will. 2 Sokrates führt in mehreren Schritten Alkibiades zu der Einsicht, dass er nicht die Kompetenz besitzt, die für eine erfolgreiche politische Tätigkeit nötig ist. Er weiß nämlich nicht einmal, was gerecht und ungerecht ist, sondern hat bisher nur in der Annahme gelebt, es zu wissen, ohne zu wissen, dass er es nicht weiß. Als sich Alkibiades des Weiteren über sein Verständnis von Eintracht und Freundschaft in der Polis in Widersprüche verwickelt, gesteht er: »Bei den Göttern, o Sokrates, ich weiß auch selbst nicht, was ich sage, und, mir unbewußt, muß es schon lange sehr schmählich (a—scista) um mich stehen.« (127d6–8) Die Einsicht führt Alkibiades zu dem Schluss, dass er sich zunächst um sich selbst sorgen muss. 3 An dieser Stelle wendet sich die Erörterung nun ausdrücklich dem eigentlichen Thema des Dialoges zu – der Sorge um sich selbst (¥pimffleia auto‰) und der Selbstsorge qua Selbsterkenntnis (gnsi@ auto‰). 4 Im Kontext der näheren Bestimmung der Sorge um sich selbst stellt sich jetzt die Frage nach dem Selbst. Denn offenbar kann unter dem sich selbst als dem Objekt der Sorge Verschiedenes verstanden werden, sodass mit dem Irrtum zu rechnen ist, dass man nur glaubt, um sich selbst zu sorgen, aber dabei nicht für sich selbst, sondern für anderes sorgt: »Wohlan denn, was heißt es doch, auf sich selbst Sorgfalt wenden, damit wir nicht etwa gar, ohne es zu wissen, nichts weniger als für uns selbst sorgen und es doch glauben«. 5 Aber – was sind wir selbst? 6 Solange wir das nicht wissen, können wir wohl offensichtlich Auf die nicht zu übersehende ausdrückliche Charakterisierung des Zeitpunktes und der Situation insgesamt wird im Kapitel 3.2 unten eingegangen. 3 Die Sorge um sich selbst wurde bereits vorher angesprochen. Vgl. 120b6, c10–d1 und d4, als Selbsterkenntnis 124b1 f. 4 Bereits hier wird die individualitätstheoretische Prämisse deutlich: Wie die gelingende Herrschaft über andere als Voraussetzung die gelingende Herrschaft über sich selbst hat, so kann man verallgemeinert sagen, dass Platon jedes Weltverhältnis und jede Welterkenntnis auf das individuelle Selbstverhältnis und die Selbsterkenntnis des Einzelnen zurückführt. Dieser Rückführung entspricht im Alkibiades I die methodische Vorgehensweise der begrifflichen Bestimmung des Selbst. 5 Fffre dffi, tffl ¥stin t auto‰ ¥pimele…sjai – m¼ poll€ki@ l€jwmen o'c mn a'tn ¥pimeloÐmenoi, o§menoi dff (127e8–128a2). Die Bedeutung der Frage wird wenig später durch eine Wiederholung zusätzlich unterstrichen. Vgl. 132b7–9. 6 tffl pot’ ¥smþn a'toffl; (128e11) 2
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auch nicht benennen, worin denn unsere eigene Selbstsorge zu bestehen habe. 7 Die Aufforderung, sich um sich selbst zu sorgen, setzt demnach ein Verständnis bzw. einen Begriff von uns selbst – die Erkenntnis des Selbst – voraus. Mit der Änderung der Frage von der Sorge um sich selbst zur Frage nach dem Selbst geht eine Vertiefung und Erweiterung der Problemstellung einher: Aus dem zunächst nur Alkibiades betreffenden praktischen Problem, insofern die Sorge um sich selbst die Voraussetzung für seine erfolgreiche politische Tätigkeit sein soll, wird mit der Frage nach dem Selbst als Voraussetzung für eine sich wirklich auf das Selbst beziehende Sorge das Problem ein existenzielles. Die Unklarheit über das Selbst als das Objekt der Selbstsorge betrifft weder nur Alkibiades noch einzelne Handlungen, sondern die Frage nach dem Selbst stellt sich vor dem Hintergrund des eigenen Lebenszusammenhanges. Wie sich aus der Sorge um das eigene Dasein die Frage nach dem wirklich Guten stellt und wir darin nicht getäuscht werden wollen, so haben wir ein existenzielles Interesse daran zu wissen, dass wir in der Sorge um uns selbst uns auch wirklich um uns selbst sorgen und nicht in unwissender Vermeintlichkeit um anderes als unsrer selbst oder anderes als uns selbst. Dieser existenzielle Bezug macht auch die Ernsthaftigkeit verständlich, mit der Sokrates diese Frage stellt und auf einer im Dialog geprüften Beantwortung besteht, ja, diese auf eine Lösung drängende Kraft erhält die Frage überhaupt nur im Zusammenhang mit unserem Dasein. Was ist das Selbst? Sokrates versteht die Frage zunächst umfassender, denn er fragt nach dem »Selbst selbst« (a't t a't) und macht von dessen Erkenntnis sogar die Erkenntnis des einzelnen Selbst abhängig, also auch des Selbst von Alkibiades und Sokrates: »Wohlan denn, auf welche Weise könnte man wohl das Selbst selbst (a'to ta't) finden? Denn dann könnten wir wohl auch finden, was wir selbst sind (tffl pot’ ¥smþn a'toffl), ist aber jenes noch unbekannt, dann wohl unmöglich.« (129b1–3) Allerdings geht Sokrates dieser weiterreichenden Fragestellung nicht nach. Die Frage nach dem Selbst selbst bleibt auch im Verlauf des Dialoges unbeantwortet, worauf Sokrates selbst hinweist, als er am Ende der Untersuchung des Selbst noch einmal auf sein ursprüngliches Vorhaben zu sprechen kommt und die aus7
gnnte@ mþn a't t€c’ n gno…men t¼n ¥pimffleian mn a'tn, ⁄gnoo‰nte@ dþ o'k ˝n pote (129a8 f.).
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bleibende Klärung mit einer »zu großen Untersuchung« begründet. 8 Alkibiades ist offensichtlich dafür nicht der geeignete Gesprächspartner, außerdem würde eine Klärung den umfassenden Prozess der Selbsterkenntnis voraussetzen. Für das Problem, die Sorge um sich selbst qua Selbsterkenntnis zu klären, ist das erreichte Ergebnis gleichwohl zureichend. In der Forschung ist a't t a't verschieden interpretiert worden: Für Otto Apelt hat die Formulierung »das Selbst selbst« eine rein logische Bedeutung, 9 hingegen für Paul Friedländer eine metaphysische, sie sei »ein bewußt ganz ins Allgemeine gewandter Ausdruck für die Sphäre des An-sich, für das was in der Vereinzelung a't¼ vucffi oder a't@ ¡ ˝njrwpo@ heißen müßte«. 10 Es gibt Andeutungen im Text, die deutlich machen, was damit gemeint ist: Im Spiegelgleichnis (132d ff.) führt Sokrates aus, dass das Auge, wenn es sich selbst schauen will, in den Teil des Auges sehen muss, dem die Tugend des Auges einwohnt, in die Pupille. Ebenso müsse auch die Seele, will sie sich selbst erkennen, in eine Seele, und zwar in den Teil der Seele sehen, dem die Tugend der Seele einwohnt – die Weisheit bzw. das Wissen und die Einsicht, die dem Göttlichen gleichen. Und »wer auf dieses schaute und alles Göttliche erkennte, Gott und die Vernunft, der würde so auch sich selbst am besten erkennen« (133c4–6). Offenbar ist mit dem »Ist es [das, was das Selbst des Menschen ist] auch nicht ganz genau, sondern nur mäßig, so genügt es uns schon. Denn ganz genau werden wir es nur wissen können, wenn wir das gefunden haben, was wir jetzt, weil es eine zu große Untersuchung wäre, vorbeigelassen haben. […] Das, wovon wir vorher sagten, daß es zuerst müsse gefunden werden, das Selbst selbst (a't t a't). Jetzt aber haben wir statt dieses Selbst selbst nur das einzelne Selbst (a't kaston) betrachtet, was es ist. Und vielleicht werden wir damit ausreichen.« (130c8–d5) 9 »Dies a't t a't hat hier keine metaphysische, sondern rein logische Bedeutung, es bezieht sich nicht auf die Idee, sondern auf den Begriff. Was hat man, frägt Sokrates, unter dem Begriff des ›Selbst‹ eigentlich zu verstehen? […] Eine allgemeine Erörterung nämlich hätte sich auf das gesamte Naturreich, unorganisches wie organisches, ja sogar auf das Reich der Technik erstrecken müssen, indem sie nach dem eigentlichen ›Selbst‹ einer jeden Sache forschte. Sokrates wäre dann vielleicht auf den Begriff einer ein jedes Ding in sich zusammenhaltenden Kraft, oder logisch ausgedrückt, auf den Begriff der Wesensbestimmung gekommen.« (Anm. 81 zu 129b1 von O. Apelt, Platon, Sämtliche Dialoge III, 1998, 223 f.) 10 P. Friedländer, Der Große Alcibiades, 1923, 18. Vgl. ebenso ders., Platon, Bd. 2, 1957, 219 und 224. Vgl. auch Reginald E. Allen, der sie – mit Verweis auf Friedländer – als »a new conception, that of a universal of the self« interpretiert (Note on Alcibiades I, 129B 1, 1962, 189). 8
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»Selbst selbst« die Vernunft als der wesentlichste Teil der Seele gemeint. 11 Auch wenn diese große Untersuchung im Alkibiades I nicht ausgeführt wird, kann angenommen werden, dass der Weg und die Methode im Dialog benannt und vorgeführt werden, die zu einer Erkenntnis des »Selbst selbst« führen, dass aber letzten Endes, wie sich zeigen wird, das einzelne Selbst immer Ausgangs- und Endpunkt dieser Untersuchung bleibt. Auch deshalb und nicht nur für den jetzigen Zusammenhang ist das erreichte Ergebnis entscheidend: das individuelle Selbst. 12 Durch die Methode der Begriffsbestimmung wird in mehreren Schritten von außen nach innen das Worauf der Sorge konkretisiert. Diese nach innen zielende Bewegung wird durch die Frage verursacht, ob die Sorge um das Seinige (tn a¢to‰) gleich der Sorge um sich selbst (a¢to‰) ist (128a2 f.). Sokrates insistiert auf einer ersten Differenz zwischen dem, zu dem man nur in äußerlichen Bezügen steht, was aber gleichwohl zur Lebenswelt des Menschen gehört, ohne dass man es selbst ist, wie z. B. äußere Güter, und dem, was man selbst ist. Letzteres ist offensichtlich unterbestimmt, deshalb führt Sokrates eine zweite Differenz ein, und das vermag er nur, indem er zu Beispielen aus dem Bereich menschlicher Lebendigkeit übergeht: Ausgehend von der Gesprächssituation zwischen ihm als demjenigen, der spricht, und Alkibiades als demjenigen, der ihn sprechen hört, erläutert er, dass er es selbst sei, der spricht und dabei die Sprache gebraucht: »Der GebrauVgl. dazu Karen Gloy (Platons Theorie der ¥pistffimh aut»@ im Charmides, 1986, 144) und auch Reto Luzius Fetz, nach dessen Interpretation die göttliche Vernunft mit dem gesuchten »Selbst selbst« identifiziert wird (Dialektik der Subjektivität, 1998, 186). Die Akzentuierung der Vernunft als das Edelste der Seele bedeutet nicht notwendig, die Vernunft neuplatonisch als logik¼ vucffi und damit als einzig unsterblichen Teil der Seele zu verstehen. Vgl. dazu die Interpretation der Unsterblichkeit der Seele, die nur dem Vernünftigen zukäme, im X. Buch der Politeia von Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 317 ff.; ders., Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele, 1976 und deren Diskussion im Kapitel 5.3 unten. 12 Gegen Charles Taylor, der die Meinung vertreten hat, die Griechen hätten noch keinen Begriff des »Selbst« bzw. keinen substantivischen Gebrauch von »selbst« gekannt (Quellen des Selbst, 1999, 211), hat Reto Luzius Fetz geltend gemacht, dass im Alkibiades I nicht nur mit »das Selbst selbst« – a't t a't – der substantivische Gebrauch von »selbst« eingeführt wird, sondern dass darüber hinaus auch das entsprechende Korrelat – das, was »wir selbst« sind, ¥smþn a'toffl – viel deutlicher das Gemeinte ausdrückt, wenn es im Deutschen gleichfalls substantivisch mit »unser Selbst« – dem Selbst des Menschen – wiedergegeben wird (Dialektik der Subjektivität, 1998, 183 und 184 f., Anm. 15). 11
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chende aber und was er gebraucht, sind die nicht verschieden?« 13 Die hier eingeführte Differenz zwischen dem Gebrauchenden und demjenigen, was der Gebrauchende gebraucht, wird verstanden als eine zwischen Selbst und Nichtselbst. Denn diese funktionale Unterscheidung überträgt Sokrates in der weiteren Erörterung auf das Verhältnis von Seele und Leib. Weil nicht nur Teile des Leibes, sondern der ganze Leib vom Menschen gebraucht wird, 14 konstituiert unsere Leiblichkeit nicht unser Selbst, und es ist zwischen unserem Leib und uns selbst nochmals zu unterscheiden. Aufgrund der disponierenden Leistung der Seele über den Körper und anderes ihrer selbst, die sich aus der funktionalen Unterscheidung hinsichtlich des Gebrauchs von etwas ergibt, ist das eigentliche Selbst des Menschen: seine Seele. Das Selbst im eigentlichen Sinn wird mit der Seele als dem aktiven, den Leib regierenden Prinzip identifiziert, sodass Sokrates auf die Frage: »Was ist also der Mensch?«, antwortet: »so kann nichts anderes der Mensch sein als die Seele«. 15 Der Mensch ist das Wesen, das sich selbst gebraucht, und die Seele ist als das Gebrauchende das Wesentliche des Menschen. Das Resultat – das Selbstsein des Menschen als Seele – kann derart interpretiert werden, »daß der Mensch Seele ist, insofern er selbst ist. […] Der Mensch ist Seele, insofern er nicht gelebt wird, sondern selbst lebt.« 16 Zurück zum Selbstbegriff im Alkibiades: Wer sind wir nun selbst? Oder korrekt: Was ist unser Selbst oder was unsere Seele, die mit dem eigentlichen Selbst des Menschen identisch sein soll? Zunächst ist auffällig, dass der von Platon zugrunde gelegte Lebensbezug – ergab sich doch die Frage nach dem Selbst aus einem zunächst Alkibiades betreffenden praktischen Problem – nicht aufgegeben wird, im Gegenteil: Das Selbst wird weder theoretisch oder metaphysisch, sondern empirisch eingeführt, denn Sokrates demonstriert das Selbst anhand an2O dþ crðmeno@ ka½ † cr»tai o'k ˝llo; (129c5) O'ko‰n ka½ pant½ t† sðmati cr»tai ˝njrwpo@; (129e3) 15 Tffl pot’ oªn ¡ ˝njrwpo@; […] mhdþn ˝llo tn ˝njrwpon sumbafflnein vucffin (129e10 und 130c3). Hatte Sokrates zunächst zwischen dem Seinigen (tn a¢to‰) als dem uns Zugehörigen und dem sich selbst (a¢to‰) differenziert, wobei das sich selbst noch ungeschieden in Leib und Seele belassen wurde, so kommt es jetzt aufgrund der zweiten Differenz, welche sich auf das sich selbst bezieht, auch zu einer terminologischen Verschiebung: Jetzt ist zu unterscheiden zwischen dem Zugehörigen bzw. dem des Seinigen (tÞ tn a¢to‰), dem Seinigen als dem Leib (tÞ a¢to‰) und sich selbst als Seele (a¢tn, a't kaston), ausdrücklich auch an späterer Stelle: »sich, das Seinige und das des Seinigen« (a¢tn, tÞ a¢to‰, tÞ tn auto‰, 133e1 f.). 16 G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1988, 57. 13 14
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schaulicher Beispiele unserer Lebendigkeit, an zentraler Stelle anhand der im Dialog von den Gesprächspartnern selbst realisierten Gesprächssituation. Damit hat Sokrates, wie er selbst feststellt, aber nichts anderes untersucht als das individuelle Selbst: 17 »Jetzt aber haben wir statt dieses Selbst selbst nur das einzelne Selbst betrachtet, was es ist.« 18 Wie die von Sokrates benutzten Beispiele hinlänglich zeigen, kann das Selbst nicht anders demonstriert werden, als dass auf die Vermögen verwiesen wird, in denen ein Selbst, und zwar ein individuelles, sich jeweils zeigt. Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen individuellem Selbst und seiner spezifischen Wirklichkeit, und dieser wird deutlicher, wenn man genauer nach der Leistung der Seele fragt. Sehen wir uns noch einmal das Beispiel an, anhand dessen Sokrates das Selbst demonstriert, und zwar das im Dialog selbst vollzogene Miteinander-Reden zwischen Sokrates und Alkibiades: Nachdem die Seele als das Wesentliche des Menschen bestimmt wurde, kommt SoDie Identifizierung des menschlichen Selbst mit der individuellen Seele stimmt gut mit dem begrifflichen Befund der Altphilologie überein (W. Burkert, Towards Plato and Paul, 1998, 70 und 73 f.): Das erste Zeugnis des Gebrauchs von vucffi als terminologische Bezeichnung für die individuelle Identität einer Person stamme aus einem Spottgedicht gegen Pythagoras von Xenophanes (ca. 500 v. Chr.). Die damit verbundene Trennung von Körper und Seele, die bei Pythagoras im Zusammenhang mit dessen Seelenwanderungslehre stehe, werde endgültig durch die Sophisten etabliert, die analog zum Training des Körpers durch Sportlehrer eine neue Form des Trainings für ein anderes »Objekt« anboten: eine Bildung ausschließlich für die Seele, wie ein Text einer Inschrift zu Ehren von Gorgias auf Olympia verdeutliche: »Die Seele in den Wettkämpfen der Tugend zu üben, erfand keiner der Sterblichen je eine schönere Kunst als Gorgias.« (Gorgfflou ⁄sk»sai vuc¼n ⁄ret»@ ¥@ ⁄gna@ o'deffl@ pw jnhtn kallfflon’ ere tffcnhn‡ DK 82 A 8; Übersetzung der Autorin) Vgl. auch das bei Albert Henrichs (Zwei Fragmente über die Erziehung, 1967, 46) angegebene und besprochene Ostrakon: »Diejenigen, die tüchtige Männer werden sollen, müssen den Körper durch Sport üben, die Seele hingegen durch Worte.« (de… to±@ mffllonta@ ⁄gajo±@ ˝ndra@ gffln‹e›sjai t mþn sma gumna{i}sffloi@ ⁄ske‹…›n, ‹t¼n› dþ vuc¼n lgoi@.) 18 n‰n dþ ⁄nt½ to‰ a'to‰ a't kaston ¥skffmmeja ˆ ti ¥stffl (130d4 f.). Dass hier wirklich das einzelne Selbst im Sinne des Selbst des Individuums gemeint ist, soll ein zusätzlicher philologischer Hinweis von Otto Apelt verdeutlichen: Seit Henricus Stephanus sei in allen Ausgaben a't kaston zu lesen, in den Handschriften fände man hingegen a'tn kaston, laut Apelt zu Recht, denn Sokrates wollte eigentlich das Wesen des »Selbst« überhaupt untersuchen, habe aber statt dessen »nur das Selbst des Menschen, den einzelnen Menschen in bezug auf sein eigentliches Selbst, untersucht, also nicht a't t a't, sondern a'tn kaston« (Platon, Sämtliche Dialoge III, 1998, 224, Anm. 84 zu 130d4). Apelts Übersetzung der Stelle lautet dann auch: »Tatsächlich aber haben wir nicht das eigentliche ›Selbst‹, sondern nur den einzelnen Menschen hinsichtlich seines ›Selbst‹ betrachtet«. 17
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krates noch einmal auf dieses Beispiel zurück und erläutert, dass es richtig sei, festzustellen, »daß wir, ich und du, zueinander reden, der Sprache uns bedienend, mit der Seele zu der Seele (t–» vuc–» pr@ t¼n vucffin). […] Und dies war es also, was wir kurz vorher sagten, daß Sokrates mit dem Alkibiades redend der Sprache sich bedient, nicht an dein Gesicht seine Reden richtend, wie es scheint, sondern an den Alkibiades; dieser aber ist die Seele (to‰to dff ¥stin vucffi).« (130d9–e4) Es scheint also nur so, als ob der Körper oder ein Teil von diesem agiert, aber dieser wird vom Selbst bzw. der Seele gebraucht, um miteinander sprechen zu können. Nach unserem eigenen Selbstverständnis wie auch dem Verständnis des anderen würde keiner von uns ernsthaft behaupten wollen, dass wir selbst nur mit dem Gesicht sprechen bzw. dass wir ausschließlich unsere Worte an das Gesicht des anderen richten, sondern an diesem Beispiel wird bereits im Dialog deutlich gemacht, dass wir immer ein Selbst annehmen oder unterstellen, wenn wir uns auf uns selbst und auf andere beziehen, genauer: auf uns und auf andere als Handelnde. 19 Aber worin besteht die dem Selbst charakteristische Aktivität? Um es noch einmal zu sagen: Das Selbst oder die Seele ist zunächst nichts anderes als dasjenige, das über den eigenen Leib verfügt. Was bedeutet die disponierende Leistung der Seele über den Leib? Aufgrund dieser Fähigkeit leitet die Seele alle willentlichen Eigenbewegungen, aber diese nicht einfach schlechthin, nicht ohne jede Ordnung oder Zusammenhang, sondern – wenn sinnvoll von absichtlichen Selbstbewegungen gesprochen werden soll – in Bezug auf einen vorliegenden Handlungszusammenhang. Als das Aktive ist die Seele das Subjekt der Handlung, sie ist nicht nur verantwortlich für den Beginn einer Handlung, sondern ebenso für den Vollzug und – da eine Handlung immer auf einen Zweck gerichtet ist, weil man sonst von willentlicher Handlung nicht sprechen kann – für die Erreichung des Zwecks. Vgl. auch Phd. 98c–99b: Eine mechanistische Erklärung von Handlungen reduziert den Menschen auf seine Physiologie und erfasst gerade nicht die für Handlungen konstitutiven Gründe, und zwar Gründe desjenigen, der sie als seine Gründe für sein Handeln hat. Der Aufenthalt von Sokrates im Gefängnis kann nicht durch die Physiologie seiner Beine erklärt werden, wenngleich diese eine notwendige Voraussetzung war, dass Sokrates dahin gelangte, sondern Sokrates ist ins Gefängnis gegangen, weil die Athener es für besser hielten, ihn zu verurteilen, und er es für sich für besser befand, das Urteil anzuerkennen. In beiden Fällen sind Gründe die Ursachen für das jeweilige Handeln gewesen. 19
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Die Aktivität der Seele bezieht sich also auf die Realisierung der Handlung insgesamt, mit anderen Worten: Ihre Leistung umfasst den gesamten Handlungszusammenhang, und diese Leistung besteht darin, die Einheit einer Handlung als einen absichtsvollen Vollzug zu ermöglichen. Diese Aussage beschränkt sich natürlich nicht auf eine einzelne Handlung, die durch die Seele hervorgebrachte Einheit ist Voraussetzung und Ausdruck menschlicher Handlungsfähigkeit schlechthin. Die über den Körper verfügende Leistung der Seele, die es dem Menschen ermöglicht, einen Gebrauch von sich zu machen, ist demzufolge notwendige Bedingung für selbstbestimmtes Handeln und Voraussetzung dafür, dass der Mensch eigene praktische, d. h. für sich handlungsrelevante Entscheidungen über sein Leben treffen und realisieren kann. Ein weiterer Aspekt des Begriffs des Selbst im Alkibiades I betrifft die Seinsweise und die damit verbundene Wirklichkeit der Seele: Die disponierende Leistung der Seele über den Körper und die dadurch hervorgebrachte Einheit des Handelnden mit sich selbst sowie der Handlung insgesamt ergaben sich allein aus der funktionalen Unterscheidung hinsichtlich des Gebrauchs von etwas. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass der Gebrauch nur in Relation zu etwas, das gebraucht werden kann und gebraucht wird, möglich ist, demnach das Selbst unabhängig von diesem Gebrauch im eigentlichen Sinn nicht ist, sondern sich nur durch die hervorgebrachte Einheit des Menschen mit sich selbst in Bezug auf einen Handlungszweck und im Akt seiner Realisierung zeigt. Mögen sich die einzelnen Handlungen hinsichtlich ihres Zwecks, der erforderlichen Fähigkeiten und der verschiedenen Situationen auch noch so sehr unterscheiden, nur im Gebrauch von uns selbst in einem vorliegenden Handlungszusammenhang tritt das Selbst in seine Wirklichkeit, sowohl für den Handelnden selbst als auch für den anderen: »Die Seele ist die praktizierte Idee der Einheit unserer selbst in der Vielfalt unserer Vollzüge.« 20 Deshalb konnte Sokrates das Selbst auch gar nicht anders als durch Beispiele unserer eigenen Lebendigkeit demonstrieren, und dabei konnte auch nichts anderes untersucht werden als das individuelle Selbst: ein sich als handlungsfähige Einheit erfahrendes und für andere erfahrbares Individuum. Die Einheit des Handelnden ist Ausdruck einer Wirksamkeit oder einer Funktion, die darin besteht, diese Einheit zu ermöglichen. Deshalb ist bei Platon von einem »funk-
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tionalen Selbstbegriff« 21 zu sprechen. Nach dieser Auffassung kann aber das Selbst oder die Seele nicht als Substanz verstanden werden. Denn das Selbst »findet sich in dem Prinzip, das die Werkzeuge in Gebrauch nimmt, einem Prinzip der Seele und nicht des Körpers. Man muß auf seine Seele Sorgfalt verwenden – das ist die zentrale Aktivität der Sorge um sich selbst. Die Sorge um das Selbst ist die Sorge um die Aktivität, nicht die Sorge um die Seele als Substanz.« 22 Wenn das Selbst seine Wirklichkeit nur im einheitsstiftenden Gebrauch eines anderen und nicht unabhängig von diesem Gebrauch hat, wird davon auch das Verhältnis zu sich selbst geprägt sein. Man kann zwar sagen, dass man einen Körper hat, aber nicht, dass man eine Seele hat, denn man kann die Seele nicht wie einen anderen Gegenstand haben, weil man die Seele selbst ist, 23 und dies wiederum nur in der ihr eigenen Aktivität. Infolgedessen ist das Selbst zugleich identisch und nicht identisch mit sich selbst: nicht identisch mit sich, weil es sich im Gebrauch eines anderen »veräußerlichen« muss, um überhaupt sein zu können, und zugleich identisch, insofern das Selbst nur in dieser Aktivität zu seiner Wirklichkeit kommt. Deshalb ist ein direkter Selbstbezug nicht möglich, sondern wir haben es immer mit einer indirekten bzw. vermittelten Selbstbeziehung zu tun. Daraus folgt wiederum, dass wir in allem, was wir tun, bereits selbst involviert sind und der Weltbezug immer einen Selbstbezug mit einschließt. 24 Dieser thematische V. Gerhardt, Das individuelle Gesetz, 1997, 16. Vgl. auch ebd., 15: »Platons Sokrates ist es schließlich auch, der uns vor Augen führt, daß dieses individuelle ›Selbst‹ (t a't) nicht mehr ist als die letztlich abstrakt bleibende Steuerungsinstanz, die wir in uns selbst annehmen, sofern und soweit wir über unseren Leib, über unsere Triebe und über die Ziele unseres Handelns verfügen.« 22 M. Foucault, Technologien des Selbst, 1993, 35. Auch die Substantivierung des Relativpronomens a't zu t a't ist keinesfalls ein hinlängliches Indiz für eine Vergegenständlichung. Die Griechen vermochten ohne Weiteres durch den Artikel das Verschiedenste zum Substantiv zu machen, von Partikeln bis hin zu Satzteilen; zu erinnern ist ebenso an die Bildung von vielen Abstrakta. Ob sich mit der Substantivierung notwendig eine Substantialisierung verbindet, muss für jeden Einzelfall konkret entschieden werden. 23 »Es ist für uns schwer, diese Wendung [Selbstsorge als Sorge für die Seele] nicht so zu verstehen, als gäbe es da ein Seelending, um das man sich wie um den Körper kümmern müßte. […] Ferner ist vom Gespräch mit Alkibiades her klar, daß Selbstsorge qua Sorge für die Seele nicht heißen kann, für etwas, das man in irgendeiner Weise hat, da ja dann dieses Etwas ›Seele‹ von einem selbst wieder zu unterscheiden wäre.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1988, 57) 24 »Individuum est ineffabile – das gilt, weil wir weder uns selbst noch irgend etwas, das 21
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Vorgriff auf das 3. Kapitel, in dem im Zusammenhang mit der Sorge um sich selbst und der Selbsterkenntnis ausdrücklich nach der Art und Weise des Selbstbezugs gefragt wird, ist berechtigt, weil der Selbstbezug systematisch in einem Zusammenhang mit dem Begriff des Selbst steht und dieser Zusammenhang im Dialog selbst vorgegeben ist, wird doch die Frage nach dem Selbst vor dem Hintergrund der Frage nach der Selbsterkenntnis thematisiert. Bisher sind zwei Aspekte des im Alkibiades I bestimmten Selbstbegriffes noch nicht benannt worden. Der erste Aspekt betrifft eine mögliche innere Differenzierung des Selbst: Innerhalb der Textpassage, in welcher Sokrates im Gespräch mit Alkibiades nach dem Selbst fragt und zu einer Antwort kommt (129b ff.), ist das Selbst des Menschen als seine Seele nicht weiter differenziert. Erst an späterer Stelle des Dialoges gibt es eine Andeutung daraufhin, dass Platon bereits in diesem Dialog von einer in sich differenzierten Seele ausgeht. Im Spiegelgleichnis ist die Rede von dem Teil der Seele, welcher die Tugend einwohnt, und zwar die Weisheit bzw. das Wissen und die Vernunft (133b8 ff.). Es ist offensichtlich, dass neben diesem Teil noch ein anderer oder andere Teile der Seele angenommen werden. Diese Differenzierung wird allerdings im Dialog nicht weiter ausgeführt, es bleibt bei dieser Andeutung, und zwar ohne Einfluss auf den Begriff des menschlichen Selbst, sodass sich sagen lässt: Der Mensch ist Seele, und das heißt – nicht nur Vernunft. 25 Im Unterschied zum Leib wird ja das Selbst gerade durch seine Aktivität charakterisiert, und zu unserem seelischen Selbst gehören auch die den Leib gebrauchenden Begierden und Neigungen der Seele. Unkommentiert blieb bislang auch die Ausgrenzung der Leiblichkeit aus dem Selbstbegriff des Menschen, die aus heutiger Sicht problematisch erscheinen mag, und das damit verbundene Verständnis der Seele: Sie – als »das den Leib Regierende« (t to‰ sðmato@ ˝rcon, wir verstehen, vollständig ins Bild rücken können. Denn was es auch ist: Wir selbst gehören, als die der Szenerie allererst Bedeutung gebenden Betrachter, immer mit dazu, ohne aber je vollständig ins Bild zu rücken.« (V. Gerhardt, Das individuelle Gesetz, 1997, 7) Vgl. zur systematischen Explikation der These: »Alles ist individuell.«, ders., Individualität, 2000. 25 Karen Gloy führt die Andeutungen aus und unterscheidet »zwischen dem Wesentlichen, dem Selbst selbst, als innerstem Kern und den kontingenten empirischen Funktionen und Verhaltensweisen des Selbst« (Platons Theorie der ¥pistffimh aut»@ im Charmides, 1986, 144).
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130a11) – beherrsche den Leib, hingegen käme ihm, dem Leib, nur die Funktion eines Instruments zu. 26 Diesem Vorbehalt lässt sich entgegnen, dass diese funktionale Unterscheidung für den Teil unserer Lebendigkeit zutrifft, in welchem die Seele im Unterschied zum Leib eine Aktivität beginnt, denn ⁄rce…n heißt neben »herrschen«, auch »anfangen«, »beginnen«, »Ursache von etwas sein«. Damit ist nicht notwendig eine Leibfeindlichkeit verbunden, nur eine unterschiedliche Bewertung in Hinsicht auf die der Seele eigentümlichen und nur ihr eigenen Leistungen vor dem Hintergrund eines angemessenen Verständnisses unserer selbst. Deshalb darf der im Dialog gegebene systematische Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden: Die Ausgangsfrage richtete sich auf das Worauf der Sorge um sich selbst. Der von der Seele ausgehende und auf sie zurückweisende Selbstbezug der Seele, und darin ist die Pointe Platons zu sehen, wird deutlich, wenn man den Genitiv, in welchem das Selbst als Seele mit der Sorge verbunden ist (¥pimffleia t»@ vuc»@), sowohl als Genitivus subiectivus wie obiectivus versteht: Die Sorge ist dann die charakteristische Tätigkeit der Seele, und zugleich ist diese Tätigkeit der Seele auf die Seele selbst gerichtet, welche somit zum Objekt der eigenen Sorge wird. 27 Die Ausgrenzung der Leiblichkeit aus dem Selbstbegriff des Menschen und die Identifikation des Selbst mit der Seele haben manchen Interpreten zu der Annahme veranlasst, die sokratische Forderung der Selbstsorge verlange, das Selbst als eine Herrschaftsinstanz innerhalb des Menschseins nicht nur zu begreifen, sondern überhaupt erst zu errichten: »Wenn wir hinzunehmen, was wir vorher schon festgestellt haben, daß nämlich das Selbst keine immer schon gegebene Instanz im Menschen ist, sondern sich in der Selbstsorge erst herausbildet und durch sie gewonnen werden soll, so können wir jetzt sagen, daß das Selbst des Menschen durch Reflexion konstituiert wird.« 28 Das kann natürlich nicht bedeuten, dass Alkibiades, um bei unserem Beispiel zu bleiben, vor dem das Selbst erst konstituierenden Prozess der Vgl. z. B. G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1988, 56: »Sokrates’ Forderung der Selbstsorge, sich um sich selbst und nicht um das Seinige zu kümmern, verlangte […] also eine Herrschaftsinstanz innerhalb des Menschseins, des Sets der Humana, zu errichten, von der her gesehen dann die anderen [z. B. der Leib] zu bloßen Instrumenten, bloßen Organen herabsanken. Diese Instanz wird dann im weiteren Gesprächsverlauf von Sokrates ›Seele‹ genannt.« Vgl. auch ebd., 57 f. 27 Vgl. dazu W. Schmid, Artikel Selbstsorge, 1995, 528. 28 G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1988, 59 u. ö. 26
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Selbstsorge keine Seele gehabt hätte. Abgesehen davon ist die Interpretation, seine Seele habe sich vordem noch nicht als Selbst konstituiert, nicht überzeugend, weil Alkibiades selbstverständlich handlungsfähig gewesen ist und ein Verständnis seiner selbst hatte. Das Selbst ist nicht eine sokratisch-platonische »Zutat«, der Prozess der Selbstsorge qua Selbsterkenntnis konstituiert kein Selbst, sondern am Anfang der ausdrücklichen Reflexion auf sich selbst steht die eigene Einsicht über die Unzulänglichkeit der bisher dem eigenen Lebensvollzug zugrunde liegenden Orientierungen: So ist im ersten Teil des Dialogs deutlich geworden, dass das bisherige Selbstverständnis von Alkibiades in einem mehr oder weniger unreflektierten Wissen von sich selbst bestand, in unreflektiert übernommenen Orientierungen seiner Umgebung, mit welchen er sich mehr oder weniger bewusst identifiziert hatte. Indem Alkibiades außerstande ist, seine Haltungen im Gespräch mit Sokrates zu verteidigen, gelingt Sokrates nicht nur eine Widerlegung dieser Meinungen, sondern dadurch auch – eine Irritation des Selbstverständnisses, eine Erschütterung der Identifikationen von Alkibiades. Bezeichnete er eingangs Sokrates als ungewöhnlich (⁄topðtero@, 106a2), so sagt er nun von sich selbst: »Aber bei den Göttern, o Sokrates, ich weiß nicht, was ich behaupte, sondern ordentlich ganz verdreht (⁄tpw@ ˛conti) komme ich mir vor.« (116e2 f.) Alkibiades begreift, dass er sich zunächst um sich selbst sorgen muss, und diese Selbstsorge wird im weiteren Gesprächsverlauf als Selbsterkenntnis (gnsi@ auto‰) verstanden. – Ausgangspunkt der Reflexion der Selbstsorge bzw. Selbsterkenntnis ist das unmittelbare praktische Selbstverhältnis, also die bisherigen Orientierungen und das bisherige Selbstverständnis, die es zunächst überhaupt erst einmal auch für sich zu explizieren gilt. Daran schließt die Selbstsorge qua Selbsterkenntnis mit dem Anspruch einer vernünftigen Rechtfertigung an. Der Unterschied vor und während des Prozesses der Selbstsorge besteht nicht zwischen »NichtSein« und »Sein« des Selbst, sondern qualitativ in der Bewusstheit und Klarheit seiner selbst und damit in einem reflektierten Selbstverhältnis. Wiewohl ich erst im 4. Kapitel den Begriff Selbstbestimmung bei Platon behandle, will ich ihn hier schon erläutern, um einem Missverständnis zu begegnen: Wenn das Selbst mit der Seele identifiziert und der Leib aus dem Selbstbegriff ausgliedert wird, dann könnte man schließen, dass Selbstbestimmung bei Platon nicht den gesamten Menschen umfasse, sondern eigentlich nur »Seelenbestimmung« sei. Die100
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ser Schluss ist allerdings bereits auf begrifflicher Ebene widersprüchlich: Selbstbestimmung als praktischer Begriff schließt immer die Realisierung des Handlungszieles in der Wirklichkeit ein, und deshalb wird der Mensch als Ganzes bereits begrifflich vorausgesetzt, sodass man sich zu fragen hätte, wie es der Seele unabhängig vom Körper möglich sei, ihre Bestimmung in der Wirklichkeit zu realisieren. Davon abgesehen beruht das Missverständnis in einem inkorrekten Verständnis des Selbst oder der Seele bei Platon, und zwar in der Annahme, die Seele getrennt vom Körper anzunehmen, indem man von einem gegenständlichen Verständnis der Seele – analog des Körpers – als Substanz ausgeht. Wie bereits gezeigt wurde, umfasst auch bei Platon der Selbstbegriff den gesamten Menschen, weil die Seele in ihrer Wirksamkeit und Wirklichkeit immer auf den Gebrauch von uns selbst, d. h. auf den Gebrauch des Leibes, angewiesen ist. Eine nur die Seele selbst betreffende Bestimmung bliebe ohne jede Wirkung und hätte nichts mit unserer Lebendigkeit und Selbsterfahrung zu tun, von der Platon ja offensichtlich ausgeht. Die platonische Bestimmung des Selbst des Menschen als seine Seele begrenzt Selbstbestimmung also keineswegs auf die Seele, sondern betrifft den gesamten Menschen. Abschließend möchte ich noch einen Einwand diskutieren, der sich auf die Verallgemeinerung meiner Interpretation bzw. deren Relativierung auf bestimmte Dialoge bezieht: Ist meine These, dass die Seele nur im Gebrauch des Leibes zu ihrer Wirklichkeit findet bzw. dass die Seele insgesamt und nicht nur ein Teil von ihr das Selbst des Menschen ausmacht, zu verallgemeinern? Oder müsste sie nicht auf die besprochenen Dialoge und Stellen eingegrenzt werden? Denn es gibt in anderen Dialogen auch gegenteilige Aussagen: Ein Teil der Seele mache das eigentliche Selbst aus bzw. sei mehr »selbst« als die übrigen Teile. Für diese Argumentation ist der Phaidon das Exempel schlechthin. In diesem Dialog werden die Neigungen und das Begehren dem Leib zugerechnet, der – als das »Gefängnis der Seele« – diese daran hindere, zu ihrem eigentlichen Sein zu gelangen. Was die Seele wirklich ist, sei erst nach dem Tod und der damit verbundenen Reinigung von ihren empirisch bedingten Teilen zu erkennen. Deshalb gelte es bereits im jetzigen Leben, dem Körperlichen so weit als nur möglich zu entfliehen, indem man philosophiere, denn Philosophieren heiße: Sterben lernen. Der Befund lässt sich zunächst entwicklungsgeschichtlich erklären: Platon habe seine Auffassung über die Seele, die er in der Entstehungszeit der Frühdialoge vertrat, aus welcher der Alkibiades I A
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stammt, in der darauffolgenden Phase der mittleren Dialoge, denen der Phaidon zugerechnet wird, offensichtlich revidiert. Die entwicklungsgeschichtliche Erklärung stößt allerdings an ihre Grenzen, wenn zwischen verschiedenen Dialogen ein und derselben Werkphase Differenzen auftreten, denn nicht nur der Alkibiades I steht im Widerspruch zum Phaidon, sondern auch der gleichfalls der Gruppe der mittleren Dialoge zugehörende Phaidros. Im letztgenannten wird im Anschluss an den Nachweis der Unsterblichkeit der Seele der Mythos vom Seelenwagen erzählt: Als ein Gespann verbildlicht, besteht die Seele aus einem Führer, dem vernünftigen Seelenteil, und zwei Pferden, einem gutartigen und einem wilden Pferd, das Mutartige und das Begehrliche (246a ff.), in denen man die zwei anderen Seelenteile der Politeia wiedererkennt. Das Problem der Interpretation spitzt sich noch einmal zu, wenn selbst innerhalb eines Dialoges ein nicht zu übersehender Widerspruch auftritt, wie dies in der Politeia der Fall ist: zwischen der Gerechtigkeit, die als eine bestimmte alle drei Seelenvermögen umfassende innerpsychische Disposition aufgefasst wird, und dem allein als unsterblich geltenden vernünftigen Seelenvermögen. Es ist offensichtlich, dass hier ein grundsätzliches Problem der Platon-Exegese vorliegt. Neben dem bereits genannten entwicklungsgeschichtlichen Ansatz versuchen die Vertreter der Tübinger Schule, gegensätzliche Aussagen vor dem Hintergrund der eigentlichen esoterischen Philosophie Platons zu verstehen: Die Aussagen über die wahre Natur der Seele, die in der von allem Leiblichen gereinigten unsterblichen Denkseele bestehe, zeigten deutlich, dass alle anderen Bestimmungen der Seele, wie wir sie z. B. im Alkibiades I und in der Politeia finden, nur als vorläufige aufzufassen wären. Eine andere methodische Erklärung stellte jüngst Dorothea Frede zur Diskussion: Ausgehend von der Gesprächssituation, insbesondere vom unterschiedlichen philosophischen Niveau der Gesprächspartner und der jeweiligen Fragestellung, stelle Platon in den Dialogen jeweils verschiedene Aspekte eines komplexeren Problems dar, die sich wechselseitig ergänzten. 29 Die methodische Annahme einer Arbeitsteilung zwischen den Dialogen, so macht Frede deutlich, erklärt in vielen Fällen wesentlich besser als andere Deutungsansätze die vorliegenden Diskrepanzen – als zwei Seiten einer Medaille, allerdings nicht mithilfe einer einfachen »Summierung« der Aspekte und auch nicht in allen Fällen, wie Frede 29
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Vgl. dazu D. Frede, Platons Dialoge als Hypomnemata, 2006. ALBER THESEN
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selbst betont. So sei der Widerspruch zwischen Symposion und Phaidon auch durch ihre methodische Herangehensweise nicht zu harmonisieren. Zurück zu Alkibiades I und Phaidon: Allein schon wegen des grundsätzlichen Problems, wie Platon richtig zu lesen sei, müsste eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Verallgemeinerung oder Relativierung meiner These umfangreicher ausfallen. Diese kann hier nicht geleistet werden, weil dazu auch eine eigenständige Interpretation des Phaidon nötig wäre. Abgesehen von diesen sachlichen Vorbehalten möchte ich zumindest die Richtung einer weiterführenden Antwort angeben: Zunächst ginge ich von der Möglichkeit aus, dass sich die gegensätzlichen Auffassungen über die Seele und das Selbst des Menschen in diesen Dialogen in Einklang bringen lassen. Wesentlich dürfte dabei sein, die Dialogsituation und die Gesprächspartner zu beachten: Der Phaidon schildert uns eine einmalige existenziell bedeutsame Situation – das Gespräch zwischen Sokrates und seinen Freunden in den letzten Stunden vor seinem Tod. Angesichts der Souveränität von Sokrates erstaunen die Freunde, ist es ihnen doch vielmehr nach Trauer und Trost über den baldigen Verlust des Lehrers und Freundes zumute. In dieser Situation, in der Sokrates seinen Freunden seine Gelassenheit mit dem eigenen Tod erklären will, hat die Rede von der Unsterblichkeit der Seele eine praktische Bedeutung: die Freunde von dieser zu überzeugen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er auf seine Gesprächspartner eingehen, und zwar auf ihre Herkunft und ihr philosophisches Niveau. Simmias und Kebes, die einen Großteil des Dialogs mit ihren Ansichten bestimmen, sind Pythagoreer, sodass Sokrates an deren philosophisches Vorverständnis und damit auch an deren Vorstellungen über die Seele anknüpfen muss. Das bedeutet aber, dass seine Antwort, die drei »Beweise« von der Unsterblichkeit der Seele, auch in Bezug auf seine Freunde zu lesen ist. So ist auch die Akzentuierung der Vernunft 30 und mit dieser die Abwertung der Leiblichkeit der Dialogsituation geschuldet: Das Diktum – Philosophieren bedeute: Sterben lernen – kann man auch wortwörtlich nehmen, denn nichts anderes wird im Dialog am exemplarischen Beispiel von Sokrates vorDie Auszeichnung der Vernunft als das beste Vermögen des Menschen – das Göttliche in uns – ist auch in anderen Dialogen zu finden (vgl. die bereits genannten Stellen Alc. I 133b f. und R. 589a8–b1), ohne dass ein Widerspruch zu meiner Interpretation besteht.
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geführt! Allein die Konzentration auf das Allgemeine ermöglicht in dieser Situation, angesichts des eigenen Todes so zu leben wie bisher – auch in den letzten Stunden ein philosophisches Gespräch zu führen. 31 Und selbst dieses philosophische Gespräch, in welchem nach dem vernünftigen Teil unserer selbst gefragt wird, führen Individuen, die sich im Gebrauch ihres Leibes artikulieren, weil unsere Vernunft nur in ihrer Aktivität – und damit an den lgo@ und gleichfalls der durch Fragestellung und Situation vorgegebenen Begrenzung gebunden – dargestellt und ihre Vermögen nur im eigenen Vollzug von uns erkannt werden können.
2.2 Zum Problem der Identität im Symposion (207a5–208b7) Zu Beginn des 2. Kapitels wurde gesagt, dass zu den wesentlichen Bestimmungsmomenten von Selbstbestimmung ein Subjekt bzw. ein Akteur gehört, der sich in seinem Handeln selbst bestimmt. Bislang hatten wir gesehen, dass Platon im Alkibiades I das Selbst des einzelnen Menschen mit dessen Seele gleichsetzt. Dabei war das ausschlaggebende Kriterium das aktive Vermögen der Seele, den Leib zu gebrauchen, mit anderen Worten: das Vermögen des Menschen, von sich selbst einen Gebrauch zu machen. Jetzt ist das Selbst dahingehend näher zu bestimmen, inwiefern von einer Identität dieses Selbst gesprochen werden kann, ob es nach platonischer Auffassung dem einzelnen Menschen möglich ist, eine Identität zu haben, zu erlangen oder auszubilden, und durch welche Momente diese Identität genauer charakterisiert ist. Mit dem Problem der Identität des Handelnden ist ein weiteres notwendiges Moment von Selbstbestimmung genannt. Notwendig deshalb, weil von Selbstbestimmung nicht gesprochen werden kann, wenn der Einzelne sich nicht als mit sich identisch versteht. Bereits im Begriff ist das Moment des Bestimmens oder Festlegens aufgenommen: Im Prozess der Selbstbestimmung legt sich der Einzelne auf ein Handlungsziel, und zwar sein Handlungsziel, fest und muss sich im Handeln bis zu dessen Realisierung daraufhin verstehen, muss sich alVolker Gerhardt zieht daraus den Schluss, dass Sokrates keinen logischen, sondern durch seinen Umgang mit dem eigenen Tod einen praktischen bzw. existenziellen Beweis seiner Unsterblichkeit führt (Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, 2003, 145 ff.).
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so bis zur Verwirklichung als derjenige verstehen, der sich auf dieses Ziel als sein Ziel festgelegt hat. Die dafür notwendige Identität reicht also bereits vom Begriff her über den jeweiligen Augenblick hinaus. Als dasjenige praktische Selbstverständnis, das der Selbstbestimmung notwendig zugrunde liegen muss, hat die Identität des Handelnden zeitlich mindestens den gesamten Prozess der Selbstbestimmung, beginnend mit der Festlegung eines Zieles bis zu dessen Realisierung, zu umfassen. Bedenkt man, dass in Abhängigkeit vom jeweiligen Ziel der entsprechende Zeitraum kürzer oder länger ausfällt, so wird im Fall des intendierten guten Lebens offensichtlich, dass die Identität des Einzelnen seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also sein gesamtes Leben umfasst. Genau diese Zusammenhänge der menschlichen Identität werden im bereits behandelten Symposion thematisiert. Zur Verdeutlichung des inhaltlichen Kontextes soll an die bisherigen Ergebnisse, soweit sie für das Problem der Identität relevant sind, noch einmal kurz erinnert werden: Wir hatten gesehen, dass der Mangel und die Not in einem grundsätzlichen Sinn zum Dasein des Menschen gehören. Aufgrund dieser Bedürftigkeit strebt der Mensch nach dem, das ihm hilft, den Mangel zumindest partiell zu beheben, nach dem für ihn Guten. Weil er aber das Gute nicht nur für den Augenblick erstrebt, sondern immer will, kann Diotima das Streben nach dem Guten als ein Streben nach Unsterblichkeit interpretieren. Eine dem Menschen als Sterblichem mögliche Unsterblichkeit vermag der Mensch durch die von Eros bewirkten Zeugungen im Schönen auf individuell verschiedenste Art zu erreichen. Ein erster Bereich der erotischen Wirksamkeit, dem sich Diotima zuwendet, könnte als Stufe der vorphilosophischen Formen des Eros und der Unsterblichkeit bezeichnet werden, die – im Gegensatz zu den philosophischen Formen als dem Aufstieg zum Schönen selbst – für alle Menschen gültig sind. Innerhalb dieser Textpassage, und zwar im ersten Teil, kommt Diotima auf das Problem der Identität des einzelnen Menschen zu sprechen. Zuvor präzisiert sie den Begriff der Unsterblichkeit des Sterblichen und denkt die Sterblichkeit als solche radikal zu Ende. Um ihre These zu bekräftigen, dass die Ursache für das Verlangen, im Schönen zu zeugen, im Streben nach Unsterblichkeit liegt, benutzt sie als Beispiel das Verhalten der Tiere bei der Zeugung und Aufzucht ihrer Nachkommen, weil man beim Menschen dieses Verhalten auf bewusste und ausschließlich rationale Berechnung (¥k logismo‰, A
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207b7) zurückführen könnte. Denn die sterbliche Natur, sowohl die der Menschen als auch der Tiere, sucht nach Möglichkeit, »immer zu sein und unsterblich«. 32 Das vermag das Sterbliche als solches nur im Weiterleben in den Nachkommen – allein »durch die Erzeugung (t–» genffsei), daß immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt« (207d3 f., vgl. 208a7–b2). In Abgrenzung von der Unsterblichkeit des Göttlichen, das als ein und dasselbe für immer existiert, bedarf die »›dämonische‹ Unsterblichkeit« 33 des Sterblichen einer fortwährenden, immer wieder vollzogenen Selbsterneuerung in den eigenen Nachkommen, weil es als Sterbliches – stirbt und deshalb das Individuum nur in der Fortsetzung seiner selbst in einem anderen Individuum der Unsterblichkeit teilhaftig werden kann. Aber, wollen wir wirklich unsterblich werden? Man könnte diese Deutung menschlichen Strebens als ein historisch bedingtes Verständnis relativieren, und zwar mit dem Verweis auf die Agonalität der Griechen, um durch einmalige und unverwechselbare Taten im Gedächtnis der Nachwelt zu bleiben. Für die Griechen war nichts schlimmer, so Kassandra in der Orestie von Aischylos, als vergessen zu werden: »Oh dieses Menschenleben! Wenn es glücklich ist, kann ein Schatten es verwandeln. Im Unglück wischt ein feuchter Schwamm darüber, und das Bild, die Schrift, verlöscht. Mehr als alles andere schmerzt mich das Vergessensein.« 34 Die Übernahme des aristokratischen Wertes der Agonalität in die athenische Demokratie hat Hannah Arendt veranlasst, den öffentlichen politischen Bereich als den Raum auszuzeichnen, in dem es für den Einzelnen möglich war, durch die Leistung des Außerordentlichen die Anerkennung der Mitwelt und unvergänglichen Ruhm in der Nachwelt zu erlangen und damit eine dem sterblichen Menschen mögliche irdische Unsterblichkeit. 35 Und wie die Ausführungen von Diotima gezeigt haben, kann – unter der Voraussetzung, das Streben nach dem Guten als Streben nach Unsterblichkeit zu deuten – jegliches menschliche Begehren als Ausdruck des Strebens nach Unsterblichkeit interpretiert werden, weil Eros als das Begehren des Guten den gesamten Bereich menschlichen Strebens umfasst.
jnht¼ yÐsi@ zhte…, katÞ t dunatn, ⁄effl te e nai ka½ ⁄j€nato@ (207d1 f.). G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 168. 34 § brteia pr€gmat’‡ e'tuco‰nta mþn ski” ti@ n prffveien‡ e§ dþ dustuc–», bola…@ ¢grðsswn spggo@ lesen grayffin. ka½ ta‰t’ ¥kefflnwn m”llon o§ktfflrw polÐ. (A. 1327–1330) 35 Vgl. dazu H. Arendt, Vita activa, 2001, 47 f. und 246 ff. 32 33
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Aber die kulturhistorische Relativierung ist selbst wieder zu relativieren, denn auch wir machen innerhalb unserer Kultur die Erfahrung, dass einzelne Individuen über ihren Tod hinaus durch einmalige Taten oder Werke im Gedächtnis ihrer Nachwelt bleiben, dass deren Tradierung zum kulturellen Selbstverständnis unserer Gesellschaft gehört. Zudem nehmen wir für uns selbst in Anspruch, dass etwas von uns über den eigenen Tod hinaus bleiben soll: in den eigenen Kindern oder von uns gebildeten Schülern, die etwas von uns aufnehmen und weiterführen, in kulturellen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistungen etc. Systematische Voraussetzung dieses Anspruches ist das Bewusstsein seiner selbst, seiner eigenen Individualität und damit verbunden: die Wertschätzung der eigenen individuellen Existenz, die zu dem Anspruch führt, den eigenen Tag zu überdauern, und zwar gerade nicht als ein Mensch unter vielen, sondern als genau dieser eine Mensch, dieses Individuum: Ich. Das Streben nach Unsterblichkeit lässt sich systematisch auch anderweitig verständlich machen: Bereits in der Wesensbestimmung des Eros ist das Über-sich-Hinausgehen konstitutiv. Eros begehrt immer das, dessen er ermangelt, jedes Streben ist intentional auf etwas außer ihm selbst Liegendes gerichtet, jedem Begehren liegt notwendig ein Über-sich-Hinausgehen zugrunde. Von der auch in zeitlicher Perspektive zu verstehenden Intentionalität geht gleichfalls das Streben aus, welches das, was man gegenwärtig ist oder hat, auch für die Zukunft erhalten will. 36 Nach dieser Charakteristik des Eros richtet sich das Streben des Sterblichen auch auf die Unsterblichkeit. Unter der Voraussetzung, dass man die Bestimmung des menschlichen Strebens, wie sie im Symposion vorgebracht wird, akzeptiert, ist das Streben nach Unsterblichkeit bei Platon anthropologisch fundiert. Diese Argumentation wird zusätzlich durch das von Diotima als Beispiel benutzte Verhalten der Tiere bei der Zeugung und Aufzucht ihrer Nachkommen gestützt, denn selbst die sterbliche Natur der Tiere strebt danach, in ihren Nachkommen unsterblich zu sein. – Wie bereits bei den unmittelbaren praktischen Selbstverhältnissen liegt auch hier der Fall vor, dass durch die philosophische Reflexion ein Vermögen nicht erst »hergestellt« wird, sondern ein bereits vorhandenes, nicht direkt bewusstes Auf diese dem Streben nach Unsterblichkeit vorausliegende zeitliche Intentionalität des Eros, dem »Streben nach Dauer und Erhaltung eines bestimmten Seins«, verweist Jürgen Wippern (Eros und Unsterblichkeit, 1965, 144, Anm. 15).
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Streben des Menschen soll bewusst gemacht werden, dadurch der Rationalität und auch einer Modifizierung, im jetzigen Fall: einer bewussten Sublimierung, zugänglich – ein weiteres Beispiel praktischer Selbsterkenntnis bei Platon. Die These von Diotima ist jedoch stärker: Das Streben nach Unsterblichkeit wird daraus abgeleitet, dass der Mensch nicht nur das Gute will, sondern dass er das Gute immer will. Ist aber diese Schlussfolgerung vom Wollen des Guten für immer auf das Streben nach Unsterblichkeit einleuchtend? Ohne Zweifel will jeder das Gute und dieses nicht nur für einen Augenblick. Allerdings ist der Schluss vom Guten auf die Unsterblichkeit nur unter der Voraussetzung gültig, wenn unter immer die nicht begrenzte Zeit verstanden wird. Versteht man hingegen darunter die eigene Lebenszeit, was heutiger Auffassung entspricht, verliert der Schluss seine Plausibilität, weil sich dann nicht mehr widerspruchsfrei sagen lässt: Ich will das Gute in Bezug auf mein gesamtes Leben und deshalb strebe ich nach Unsterblichkeit. Diotima unterstellt also bei ihrer Schlussfolgerung, dass der Mensch über seine eigene Lebenszeit hinaus – in der Bedeutung von immer – für sich das Gute will, und setzt dabei voraus, dass das Sein des Menschen über dessen Lebenszeit als empirisches Wesen hinausreicht, dass der Mensch der Möglichkeit nach auch als unsterblich begriffen werden und sich selbst derart verstehen kann. Weil uns dieser grundlegende Aspekt des menschlichen Selbstverständnisses bei Platon noch ausführlich beschäftigen wird, 37 sei jetzt nur das damit verbundene Problem skizziert: Wenn wir zu einem angemessenen Verständnis von uns selbst finden wollen, reicht keinesfalls der Augenblick als Bezugspunkt aus, offenbar auch nicht einmal die eigene Lebenszeit, sondern in zeitlicher Perspektive ist ein Darüber-hinaus-Gehen nötig, mit anderen Worten: Der Mensch kann sich, will er sich richtig verstehen, und das heißt in seinen besten Möglichkeiten, gar nicht anders als unsterblich denken. Weil der Selbstbegriff des Menschen, der sich an seinen besten Möglichkeiten orientiert, die Voraussetzung dafür ist, das intendierte wirklich Gute zu erreichen, lässt sich auch für die Frage nach dem guten Leben sagen, dass die Position der eigenen Lebenszeit für eine befriedigende Antwort unzureichend sein wird. Die in der platonischen Philosophie zentrale Frage nach dem Guten und die mit dieser systematisch verbundene Frage nach der Selbsterkenntnis erfordern, so die 37
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Vgl. dazu das Kapitel 5.3 unten. ALBER THESEN
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platonische These, ein Verständnis des Menschen von sich selbst als – unsterblich. Nachdem Diotima den Begriff der Unsterblichkeit des Sterblichen präzisiert hat, denkt sie die Sterblichkeit des Menschen in einer Art und Weise zu Ende, die man nicht anders als radikal bezeichnen kann: Die Sterblichkeit betrifft nicht nur das Individuum an sich, sondern Diotima bezieht sie ebenso auf die Identität des Individuums innerhalb der Dauer seiner Existenz in der Welt des herakliteischen Werdens: »Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, daß es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe, ungeachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe.« 38 Obwohl der Einzelne immer als ein und derselbe benannt wird, ist er in keinem Augenblick ein und derselbe. Selbst wenn wir kleinste Änderungen nicht wahrnehmen können, weil unsere Sinnesorgane aufgrund ihrer Physiognomie für diese Differenzen nicht sensibel genug sind, nehmen wir sehr wohl Änderungen größeren Umfangs wahr und können uns die für uns nicht wahrnehmbare absolute Durchgängigkeit der herakliteischen Welt des Werdens begrifflich erklären. Aber trotz der Wahrnehmung der Veränderungen und trotz der Einsicht in das Werden der Welt sehen wir im anderen und in uns selbst auch je denselben und benennen den anderen oder uns selbst mit demselben Namen. Die Ausführungen von Diotima verdeutlichen, dass wir aufgrund einer Erwartungshaltung dem jeweils anderen eine Identität unterstellen, und es lässt sich ergänzen, dass wir auch für uns selbst eine eigene Identität beanspruchen, und das mit gutem Grund: Unserer Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt können wir keine Identitäten entnehmen, diese sind allerdings für uns zur Orientierung, Verständigung und zum Handeln bis hin zur bloßen Lebenserhaltung, also für den gesamten Lebensvollzug notwendig. Wen genau erkenne ich eigentlich wieder? Und wen bezeichne ich mit ein und demselben Namen? Wie wir bei der Interpretation des
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Selbst gesehen haben, beziehen wir uns nicht auf den Leib eines anderen oder unserer selbst, sondern wenn ich jemand mit ein und demselben Namen benenne, beziehe ich mich auf das Selbst, auf seine Seele, die sich im Gebrauch des Leibes zeigt. Wenn schon der Leib ständigen Veränderungen unterworfen ist, dann sichert doch gewiss die Seele in ihrem einheitlichen Gebrauch des Leibes die Identität der Person. Denn die Seele als das Selbst des einzelnen Menschen hat sich ja gerade dadurch ausgezeichnet, dass sie im Gebrauch des Leibes nicht nur die Einheit einer Handlung, sondern die Einheit des gesamten Lebensvollzuges ermöglicht. Aber dieser ständige Wechsel des Vergehens und Entstehens, welcher der Bezeichnung als desselben widerspricht und das Problem der Identität in eminenter Weise berührt, betrifft nicht nur den Körper, sondern auch die Zustände der Seele. Denn, so führt Diotima weiter aus, auch »die Gewohnheiten, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust, Furcht, hiervon behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eins entsteht und das andere vergeht«. 39 Wenn nun neben dem Leib auch die Seele ständigen Veränderungen unterworfen ist und keine Identität auszubilden vermag, dann ist zu fragen, was uns dann berechtigt von demselben – als Unterstellung oder eigener Anspruch – sprechen lässt? Nach üblicher Lesart Platons kann erwartet werden, dass wir mithilfe des Wissens und der Erkenntnis den fließenden Prozess der Lebensvorgänge im Ausdruck fixieren und zu einer vertrauten und stabilen Wirklichkeit und auch zu unserem identischen Selbst gelangen können. Aber selbst auf dieser Ebene, auf der wir uns von der Wahrnehmungswelt in gewisser Weise distanziert haben, ist dasselbe Prinzip der ständigen Selbsterneuerung am Werke, und wir verbleiben in der Veränderung: »Und viel wunderlicher noch als dieses ist, daß auch die Erkenntnisse nicht nur teils entstehen, teils vergehen und wir nie dieselben sind in bezug auf die Erkenntnisse, sondern daß auch jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet. Denn was man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis. Nachsinnen aber bildet statt der abgegangenen eine [neue] Erinnerung ein und erhält so die Erkenntnis, daß sie scheint, dieselbe zu sein.« 40 39
o trpoi, tÞ ˇjh, dxai, ¥pijumfflai, donaffl, l‰pai, yboi, toÐtwn kasta o'dffpote tÞ a'tÞ p€restin k€st†w, ⁄llÞ tÞ mþn gfflgnetai, tÞ dþ ⁄pllutai (207e3–5). 40 Pol± dþ toÐtwn ⁄topðteron ˛ti, ˆti ka½ a ¥pist»mai m¼ ˆti a mþn gfflgnontai, a
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Diotima sagt es selbst, diese Feststellung sei viel wunderlicher als das zuvor Gesagte, entsprechend unterschiedlich ist diese Textpassage des Symposions in der Platon-Forschung behandelt worden: Entweder wird sie in den Kommentaren unerwähnt übergangen 41 oder nur erläuternd paraphrasiert, 42 als unplatonisch bezeichnet 43 oder innerhalb des platonischen Denkens und Philosophierens sinnvoll verstanden und eingeordnet. 44 Ohne dass dieses Problem insgesamt thematisiert werden kann, schließe ich mich in den folgenden Überlegungen der letztgenannten Interpretation an: Menschliches Wissen ist als Wissen von Sterblichen sterbliches Wissen! 45 Dieser Sachverhalt wurde bereits bei der Charakterisierung des Eros deutlich: Wie ihm jeder Gewinn wieder verloren geht, kein Gewinn von Dauer ist, so ist Eros auch nicht weise, noch dünkt er sich, es zu sein, sondern Eros strebt nach Weisheit und verbringt »sein ganzes Leben lang philosophierend« (203d7 f.). Im Gegensatz zum vollkommenen göttlichen Wissen ist menschliches Wissen als solches diskursiv, d. h., »es ist endlich, bestimmt, vielfältig und an seine Darstellung im lgo@ gebunden. Lgo@ und ¥pistffimh aber gehören zusammen«. 46 Beide sind, so Tilman Borsche, relativ, weil nur derjenige lgo@ als Wissen gilt, der sich im auf das Sein bezogenen »Kampf« (¥n dþ ⁄plluntai m…n, ka½ o'dffpote o a'toffl ¥smen o'dþ katÞ tÞ@ ¥pistffima@, ⁄llÞ ka½ mffla k€sth tn ¥pisthmn ta'tn p€scei. 5O gÞr kale…tai melet”n, £@ ¥xioÐsh@ ¥st½ t»@ ¥pistffimh@‡ lffijh gÞr ¥pistffimh@ ˛xodo@, melffth dþ p€lin, kain¼n ¥mpoio‰sa ⁄nt½ t»@ ⁄pioÐsh@ mnffimhn, s†ðzei t¼n ¥pistffimhn ¯ste t¼n a't¼n doke…n e nai. (207e5–208a7) 41 Z. B. von P. Friedländer, Platon, Bd. 3, 1960; W. Bröcker, Platos Gespräche, 1990; selbst von Georg Picht in seiner sonst ausführlichen Darstellung und Analyse: Platons Dialoge »Nomoi« und »Symposion«, 1992. 42 Vgl. dazu W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 263. 43 Vgl. dazu T. Krischer, Diotima und Alkibiades, 1984, bes. 58–60; G. M. A. Grube, Plato’s Thought, 1980, 149. 44 Vgl. dazu G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 165–172; S. Rosen, Plato’s Symposium, 1968, 249–255; insbesondere Tilman Borsche, welcher diese Stelle aus dem Symposion in den Zusammenhang mit anderen Dialogen Platons stellt (Was etwas ist, 1992, 71 f.). 45 »The inseparability of psyche from body, as reflected in the absence of any doctrine of personal immortality […], means that psyche and mind are also in flux. […] Therefore she mentions ›forgetting‹ (lffijh) but not ›recollection‹ (⁄n€mnhsi@). What we know is as transient as the fact that we know it. Our knowledge is continuously slipping away like a river: like the river Lethe itself.« (S. Rosen, Plato’s Symposium, 1968, 254) 46 Vgl. hier und im Folgenden: T. Borsche, Was etwas ist, 1992, 72. A
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m€c–h) der Worte als »unüberwindlich« (⁄ptti t† lg†w) erwiesen hat (R. 534b8–c5), und menschliches Wissen bleibe als Antwort auf Probleme, die sich wirklich stellen, immer auf das jeweils Gegebene bezogen. 47 Am erstaunlichsten jedoch ist der Vorgang, welcher auch der einzelnen Erkenntnis widerfährt: Auch sie ist sterblich, und um sie dem Vergessen zu entreißen, bedarf sie der sie selbst erneuernden Erinnerung, die aber zugleich eine Veränderung bedingt. Jede Erinnerung ist »bloß« eine die vergessende Erkenntnis nachahmende Imitation, nie deren identische Wiederherstellung. Was gibt uns eigentlich – nach dieser Einsicht – noch das Recht, von ein und demselben zu sprechen, obwohl es am sinnlich wahrnehmbaren anderen als auch an uns selbst nichts Haltbares zu geben scheint, sondern wir uns umfassend – physiologisch, psychologisch und mental – »im Fluss« befinden? 48 Inwiefern kann überhaupt noch von einem mit sich identischen Selbst, von Identität in der eigentlichen Bedeutung des Begriffs gesprochen werden? Wie wir gesehen haben, überträgt Diotima den Gedanken der notwendigen und fortwährenden Selbsterneuerung auf das einzelne Individuum und die drei begrifflich zu unterscheidenden Bereiche menschlichen Daseins – Körper, Seele und Geist. Ist dabei zunächst die Rede davon gewesen, dass durch die leibliche Zeugung »immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt« (207d3 f.), so sprach sie bezüglich des Körpers davon, dass er »immer ein neuer wird und altes verliert« (207d8), bzw. hinsichtlich der Zustände der Seele, dass »eins entsteht und das andere vergeht« (207e5). Dabei stehen die jeweils aufeinanderfolgenden Zustände in der Reihe sukzessiver Veränderungen in einem Zusammenhang, wie Diotima ausführt, wenngleich nur angedeutet: Davon ist selbst das Ideenwissen »betroffen«, das nie voraussetzungslos, sondern immer nur hinreichend sein kann, weil auch nach diesem Wissen immer in einer bestimmten Gesprächssituation gefragt wird, von der es sich, soll es gebraucht werden können, nicht lösen kann (ebd., § 84, 92 u. ö.). Den gegebenen Zusammenhang zwischen dem als wahr intendierten Inhalt und den zeitlichen Akten des diskursiv, in einzelne Erkenntnisse und Einsichten zerlegten menschlichen Wissens hebt besonders Gerhard Krüger hervor (Einsicht und Leidenschaft, 1939, 171). 48 Bereits nach Heraklit sind wir, wenn wir in einen Fluß hineinsteigen, nicht mehr dieselben, die wir zuvor gewesen sind: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.« (potamo…@ to…@ a'to…@ ¥mbafflnomffn te ka½ o'k ¥mbafflnomen, e mffn te ka½ o'k e men. DK 22 B 49 a) Vgl. auch B 70: »Kinderspiele nannte er die menschlichen Meinungen.« (paffldwn ⁄jÐrmata nenmiken e nai tÞ ⁄njrðpina dox€smata.) 47
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»Nachsinnen aber bildet statt der abgegangenen eine [neue] Erinnerung ein und erhält so die Erkenntnis, daß sie scheint, dieselbe zu sein.« (208a5–7) Die Erinnerung ist demnach weder mit der vergessenen Erkenntnis identisch, denn sie ist gegenüber dieser neu (kainffi), noch steht sie zu dieser in einer absoluten Differenz, denn sie scheint ja zumindest dieselbe zu sein. Im anschließenden Satz wird dieser »strukturelle« Zusammenhang von Diotima verallgemeinert: »Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, daß es durchaus immer dasselbe wäre wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes neues solches zurückläßt, wie es selbst war.« 49 Demnach vollziehen sich weder die sukzessiven Veränderungen, gleich welcher Art, ohne jeglichen Bezug aufeinander, noch sind die jeweiligen Zustände identisch im Sinne völliger Übereinstimmung, sondern in der Veränderung gibt es zugleich eine Kontinuität. 50 Das Neue steht in Differenz zu dem ihm vorausgehenden Alten und ist als dessen Transformation auf das Alte zurückbezogen, indem es dieses durch seine differenzierende Wiederaufnahme bewahrt: 51 »Durch diese Veranstaltung (taÐt–h t–» mhcan–»), o Sokrates, sagte sie, hat alles Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowie alles übrige; das Unsterbliche aber durch eine andere.« (208b3 f.) Was bedeutet nun dieser Befund für die Identität der einzelnen Menschen? Ausgehend von dem gleichzeitigen Ineinander von Veränderung und Kontinuität lässt sich für die Identität des Menschen sagen, dass er weder ständig ein absolut anderer noch je ein mit sich 49
ToÐt†w gÞr t† trp†w p”n t jnhtn s†ðzetai, o' t† pant€pasi t a't ⁄e½ e nai ¯sper t je…on, ⁄llÞ t† t ⁄pin ka½ palaioÐmenon teron nffon ¥gkatalefflpein, oon a't Æn (208a7–b2). Man könnte einwenden, dass an dieser Stelle wieder die Ebene gewechselt und von der durch leibliche Zeugung zu erreichenden Unsterblichkeit gesprochen wird, zumal wiederholende Anklänge zu 207d3 f. bestehen. Das ist richtig, aber die Verwendung von t ⁄pin (208b1) und von t»@ ⁄pioÐsh@ [mnffimh@] (208a6) bei der Darlegung über die sterbliche Erkenntnis scheint mir eine Verallgemeinerung zu rechtfertigen. 50 Vgl. J. Wippern, Eros und Unsterblichkeit, 1965, 133: »Trotzdem wird er [der Einzelne] als derselbe bezeichnet, weil in stetiger Selbsterneuerung anstelle seiner vergehenden Bestandteile neue von gleicher Beschaffenheit treten.« Diese »scheinbare Selbigkeit durch Sukzession« gilt für alle Bereiche, weil »diesem umfassenden metaxÐ-Bereich des stetigen Werdens und Vergehens das Streben nach Sein innewohnt«. 51 Das lässt sich auch annähernd philologisch am Text (208b1 f.) zeigen: Das Abgehende hinterlässt nämlich kein Gleiches, und auch kein anderes, dann würde ˝llo stehen, sondern ein anderes Neues ( teron nffon), wie es selbst war – tero@ ist der eine bzw. der andere von zweien! A
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selbst in einem absoluten Sinn identischer ist. Ist das für einen wirklich anspruchsvollen Begriff personaler Identität zureichend? Selbst wenn man zugesteht, dass die nahezu durchgängigen Veränderungen im leib-seelischen Bereich für die Identitätsbildung nicht von Belang sind, kommt man nicht umhin, das Problem zu klären, wie die eine Identität erst konstituierende Einheitsleistung auf geistiger Ebene erbracht werden kann, wenn auch dort das Wissen und die einzelne Erkenntnis nicht von der Veränderung ausgenommen sind. Die Antwort der Diotima ist bekannt: durch Nachsinnen (melffth). Selbst wenn die Erkenntnis nur dieselbe zu sein scheint, vermögen wir durch aktive Erinnerung (mnffimh) das Wissen und die einzelnen Erkenntnisse – soweit es uns möglich ist – zu erhalten. Was wird hier – im bewussten Nachsinnen auf etwas bereits bewusst Gewesenes – vorausgesetzt? Zunächst erkenntnistheoretisch nicht mehr und nicht weniger als Selbstbewusstsein. Denn wie kommt es dazu, dass die vielen verschiedenen Vorstellungen, die ich habe, überhaupt von mir als meine Vorstellungen identifiziert werden können, sodass sie auch im Nachhinein als meine Vorstellungen von mir erinnert werden können? Auf dieses Problem, wie die Identität des Bewusstseins in den Vorstellungen des Bewusstseins selbst vorgestellt werden kann, hat z. B. Kant eine unter anderen systematischen Voraussetzungen folgenreiche Antwort gegeben – die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können […]. Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesammt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesammt zu einem Selbstbewußtsein gehörten, d. i. als meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung nothwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen können, weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden.« 52 Dieser Sachverhalt wird im Symposion zwar vorausgesetzt, aber nicht weiter erörtert. 53 GleichI. Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA III, B 131–133. Der einheitliche gemeinsame Hintergrund unserer bewussten Zustände, »wie es denn im Wechsel der Zustände und Tätigkeiten zur Identität des Selbstbewußtseins kommt, bleibt«, so Klaus Oehler, bei Platon und Aristoteles »unerörtert«. Gleichwohl sei der Sache nach das Problem vakant, und zwar »das Bewußtsein des Menschen von sich selbst [ist] das Begleitwissen aller unserer Tätigkeiten, Tätigkeiten unserer selbst zu sein«. In diesem Zusammenhang scheint Oehler der wichtigste Unterschied gegenüber
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wohl ist das Problem bekannt, wie ein Blick in den Dialog Theaitetos zeigt, der dem Spätwerk Platons zugerechnet wird. Das Thema des Gespräches im Theaitetos ist das Problem, was Erkenntnis sei. Als erste von drei Thesen wird die Behauptung geprüft, Erkenntnis ist Wahrnehmung (151d ff.). Diese These wird erkenntnistheoretisch auf den Satz des Protagoras vom Menschen als Maß aller Dinge zurückgeführt und in einen Zusammenhang mit der auf Heraklit zurückgehenden sogenannten Flusslehre gebracht. Die Prüfung dieser erkenntnistheoretischen Position ergibt: Wenn alles im Fluss ist, wenn es nichts Beständiges gibt, und zwar weder an den wahrnehmbaren Objekten noch an uns selbst, dann ist allein die einzelne konkrete Wahrnehmung wahr und diese auch nur in ihrem jeweils aktuellen Vollzug, sodass sogar die Erinnerung an eine ehemals durch Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis aufgrund der fehlenden aktuellen Wahrnehmung zwar nicht unmöglich, aber jedenfalls keine Erkenntnis ist. Der Mensch als denkendes und erkennendes Subjekt zerfällt in eine Vielheit seiner je unterschiedlichen Wahrnehmungen, ohne dass irgendein Zusammenhang bzw. eine Einheit gegeben ist, sondern die verschiedenen Wahrnehmungen liegen in uns »wie im hölzernen Pferd« nebeneinander (184d2). Wenn nicht aus der Wahrnehmung, wie lässt sich dann die Einheit des Selbstbewusstseins erklären? Die Antwort im Theaitetos lautet: Es ist eine einheitliche Form, die Seele, die »durch sich selbst« (a't¼ di’ a¢t»@ vucffi, 185d9–e1) – mittels von Begriffen – das Gemeinsame in allen Wahrnehmungen erkennt und diese in einen Zusammenhang bringt. Die Seele ist die einheitliche Form des Erkennenden selbst, der sich in seinen Tätigkeiten als diese Einheit versteht, und zwar als ein in der Zeit mit sich identisches Selbst. Sonst wäre es nicht möglich, dass die Seele hinsichtlich des Schönen und Schlechten, des Guten und Bösen deren »Sein im Verhältnis zueinander« erforscht, »indem sie bei sich selbst das Geschehene und Gegenwärtige in Verhältnis setzt mit dem Künftigen«. 54 dem neuzeitlichen Denken der Subjektivität darin zu liegen, »daß Platon und Aristoteles das Wissen des Selbst von sich, die wissende Selbstbeziehung, nicht aus einem schon vorausgesetzten Begriff des Ich abgeleitet haben«. (Subjektivität und Selbstbewußtsein, 1997, 29, 39 und 49) Ähnlich spricht auch Karen Gloy von einem Selbstbezug als einem unthematischen Begleitwissen, das in allem Objektwissen mitgeht, und von einem nicht-egologischen Modell der Selbstbeziehung bei Platon (Platons Theorie der ¥pistffimh aut»@ im Charmides, 1986, 160 und 154). 54 pr@ ˝llhla skope…sjai t¼n o'sfflan, ⁄nalogizomffnh ¥n aut–» tÞ gegonta ka½ A
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Erkenntnistheoretisch ist damit die Voraussetzung für die Möglichkeit von Erinnerung gegeben, in praktischer Hinsicht ist allerdings das Ergebnis unzureichend. Erkenntnisse können für mich von unterschiedlicher Bedeutung sein, weniger wichtige werde ich schneller vergessen als diejenigen, mit denen es mir ernst ist. Eine Voraussetzung für das Erinnern in praktischer Hinsicht ist demnach die Bedeutung der jeweiligen Erkenntnisse für mich. Anstelle von »Bedeutung für mich« lässt sich ebenso sagen: Die Einsichten sind wichtig für meinen Selbstbegriff, für mein eigenes Selbstverständnis, weil sie für mich handlungsorientierend sein sollen. Damit ist ein weiteres Charakteristikum von Erkenntnissen genannt: Eine Erkenntnis ist nur dann eine Erkenntnis im eigentlichen Sinn, wenn sie über den jeweiligen Augenblick hinaus gültig ist. Offenkundig ist dieser Anspruch bei praktischen Einsichten, die ohne den Ausgriff auf die Zukunft einfach keine praktischen, d. h. für zukünftige Orientierungen handlungsrelevanten Einsichten sind. Diese die Zeit übergreifende Bedeutung von Einsichten ist bei der Frage nach dem Guten evident, denn das Gute wollen wir wirklich wissen, nicht nur für den Augenblick, sondern für immer. Gewiss hatte Diotima für die Sicherung von Erkenntnissen nur das Nachsinnen und die Erinnerung genannt. Aber wenn man den Zusammenhang bedenkt, in dem diese einzelne Aussage steht – das Streben nach dem Guten und nach Unsterblichkeit –, dann wird deutlich, dass die zeitliche Dimension Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst und die Erinnerung – trotz der gemachten Einschränkung, dass durch das Nachsinnen eine Erkenntnis nur dieselbe zu sein scheint – für die Identität des einzelnen Menschen konstitutiv ist. Man könnte sogar sagen, ohne Erinnerung ist keine Identität der Person möglich bzw. das Vermögen der Erinnerung ist eine notwendige Voraussetzung für ein Leben nach eigenen Einsichten, beides wiederum Voraussetzung für das Streben nach dem Guten und nach Unsterblichkeit. Denn nur aufgrund dieser Vermögen ist es überhaupt möglich und sinnvoll, nach dem Guten und nach Unsterblichkeit zu streben. Wir sind eben nicht nur sterbliche, empirische Lebewesen, sondern – wie Eros – befinden wir uns zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen, da wir über Fähigkeiten verfügen, die nicht von empirischer Natur sind. tÞ parnta pr@ tÞ mffllonta (186a10–b1). Zu dieser einheitsbildenden Leistung der Seele vgl. P. M. Steiner, Psyche bei Platon, 1992, 43 ff.
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Die infrage gestellte Identität des Einzelnen befindet sich zwischen einer radikal gedachten Sterblichkeit und dem gleichzeitigen Streben nach Unsterblichkeit. Trotz allem lebensbedingten leiblichen, seelischen und geistigen Wandel kann, wenn überhaupt, nur die Seele die Identität und damit die Einheit des gesamten Lebensvollzuges ermöglichen. Der dafür nötige Selbstbegriff des Einzelnen beschreibt nicht nur die jeweilige Realität, als was der Einzelne sich versteht, sondern er umfasst zugleich einen Vorgriff auf zukünftiges Gelingen, in dem der Einzelne seinen eigenen Ansprüchen genügen will. Die Identität – für sich selbst und für andere – kann nicht anders als individuell verstanden werden, denn allein die von Diotima angeführten Beispiele des Nachruhms zeigen, dass das von Platon anthropologisch fundierte Streben nach Unsterblichkeit bedeutet, dass der einzelne Mensch nicht als Mensch oder Lebewesen unter anderen unsterblich werden will, sondern er selbst, das heißt: als genau das Individuum, als das er sich versteht und verstanden wissen will. Im Symposion schließen sich den Ausführungen über die vorphilosophischen Formen der Wirksamkeit des Eros diejenigen über die philosophischen Formen an: der Aufstieg vom einzelnen schönen Körper über die Schönheit aller Körper, die Schönheit in den Seelen und die der Erkenntnisse bis zum Göttlich-Schönen selbst. Als seinem höchsten Ziel des philosophischen Aufstiegs gilt das Streben des Eros der Idee des Schönen. Auch dieser Bezug auf etwas, das als »an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend« 55 näher bestimmt wird, steht in einem Zusammenhang mit der menschlichen Identität. Aber warum stellt die Idee des Schönen das eigentliche Ziel allen Strebens dar? Wieso ist der Bezug auf etwas sich Gleichbleibendes nötig, hatten doch die Ausführungen über die vorphilosophischen Formen des Eros gezeigt, dass es dem Menschen bereits in diesen möglich ist, Unsterblichkeit zu erreichen. Formal ist der Bezug bereits in der Struktur des Eros enthalten: Sein Streben gilt jeweils demjenigen, dessen er ermangelt, und zwar demjenigen in seiner jeweils vollendeten Form. Die Ursache ist im Wesen des Eros begründet, es ist die Sterblichkeit und Endlichkeit des Menschen, die Diotima so radikal zu Ende gedacht hatte. Gerade weil unsere Sterblichkeit so umfassend ist, dass sie selbst den Bereich von Wissen und Erkenntnis umfasst und deshalb menschliches Wissen im55
a't kaj’ a¢t mej’ a¢to‰ monoeidþ@ ⁄e½ n (211b1 f.). A
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mer unsicher bleibt, ist der Bezug auf die Idee notwendig. Selbst befinden wir uns körperlich, seelisch und geistig »im Fluss«, das Vermögen der Seele, eine Beständigkeit in der eigenen Lebensführung zu erreichen, bleibt anfällig, weil wir die Erfahrung machen können, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen. Wenn wir selbst gut leben wollen, müssen wir uns zu aller Zeit und den damit verbundenen Veränderungen an etwas orientieren, das bereits das von uns Erstrebte ist, um auf menschenmögliche Art und Weise selbst eine Beständigkeit – eine Identität – zu erlangen. 56 Vorausgesetzt, es sei möglich, die Idee des Schönen zu erreichen. Was bedeutet das Erreichen des Zieles für denjenigen, der am Ziel des philosophischen Aufstiegs angelangt ist? Lässt er die sterbliche Natur und mit ihr die für sie gültige Einschränkung ihres Strebens, nur »nach Vermögen« (katÞ t dunatn, 207d2) immer zu sein und unsterblich, hinter sich? Die Schau des Schönen ermöglicht ihm, »Wahres [zu erzeugen], weil er das Wahre berührt«, 57 was in einer praktischen Hinsicht zu verstehen ist, wie die anschließende Erläuterung verdeutlicht: »Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem gebührt, von den Göttern geliebt zu werden, und, wenn irgendeinem anderen Menschen, dann gewiß ihm auch, unsterblich zu sein.« (212a6–8) In der Forschung ist mehrfach die stärkere These vertreten worden, dass – wie im Phaidon belegt – auch in diesem Fall nur die reine, d. h. leibbefreite Seele am Ziel ihres Strebens das Schöne in seiner Im Bezug auf die Idee als Allgemeines wird die zweite Relation, der Bezug auf ein anderes Individuum, nicht preisgegeben. Thomas A. Szlezák hat die Gegenthese vertreten: Im Symposion werde ein Gegensatz zwischen philosophischem Dialog und »intellektueller Einsamkeit des Dialektikers« dargestellt, ein Indiz dafür, dass der philosophische Dialog nur die Vorstufe zur eigentlichen esoterischen Philosophie innerhalb der Akademie darstelle (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 253 ff.). Dem widerspricht mit Nachdruck Rudolf Rehn: Der Zusammenhang zwischen Eros und Philosophie als einem gemeinsamen Dialog mit anderen sei gerade im Symposion offensichtlich, die dialogische Struktur habe Platon selbst im Nachdenken bewahrt als einen inneren Dialog mit sich selbst ohne Stimme (Der entzauberte Eros, 1996, 89 ff.). Vgl. Tht. 189e6–190a6, Sph. 263e3–5 und 264a9 f. Vgl. ebenfalls Volker Gerhardt, der die Individualität der Liebenden in ihrem Bezug auf die Idee als ein Allgemeines betont und das individuelle Gegenüber auch für die philosophische Selbsterkenntnis nach platonischem Verständnis für unabdingbar hält (Wer liebt wen in Platons Symposion?, 1997, 234 ff.). Für den Zusammenhang in der vorliegenden Arbeit ist der jeweils individuelle andere für die Selbsterkenntnis von systematischer Bedeutung, wie im folgenden Kapitel 3 zu zeigen sein wird. 57 ⁄lhj» ¿te to‰ ⁄lhjo‰@ ¥yaptomffn†w (212a5). 56
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Wahrheit »berührt«: Der ständige Wechsel der einzelnen Erkenntnisse, dieses »zeitliche Strömen auch der Seele kommt jedoch gleichsam zum Stand, wenn ihr Inhalt das ›Eingestaltige‹ und ›Immer-Seiende‹ wird, mit dem sie sich in kontinuierlich wiederholten Zeugungsakten verbindet. Denn so gewinnt auch die Seele den Charakter des Sich-SelbstGleichen und wird unsterblich.« 58 Dabei sei das wahrhaft Schöne und Gute, nach dem die Seele strebt, für sie selbst nichts anderes als ihr eigentliches Selbst. 59 Die Reduzierung der menschlichen Seele auf ihren vernunftartigen Teil, das logistikn, ist aus meiner Sicht problematisch. Wie die weitere Interpretation zeigen wird, muss der »Charakter des SichSelbst-Gleichen« sinnvollerweise auf die aus drei Vermögen bestehende Seele insgesamt bezogen werden. Innerhalb dieses Zusammenhanges wird an späterer Stelle noch einmal auf das Symposion zurückzukommen sein, weil bereits in diesem Dialog ein exemplarisches Beispiel für die von mir vertretene Interpretation vorliegt – die Darstellung des Sokrates in der Rede von Alkibiades. Dabei wird die in den Dialogen nicht zu übersehende Einschränkung einer »Angleichung an Gott soweit als möglich« (katÞ t dunatn) ernst genommen. 60 Diese ist auch im Symposion an exponierter Stelle zu finden: »Wenn also jemand […] jenes Schöne anfängt zu erblicken, der kann beinahe (scedn) zur Vollendung gelangen.« (211b5–7) Selbst in unserer Bezogenheit auf die Idee des Schönen, das höchste Ziel des philosophischen Aufstieges, dem das Streben des Eros nach Unsterblichkeit gilt, wird die aus unserer Sterblichkeit gezogene Einsicht in unsere menschliche Identität nicht wieder preisgegeben. Sie verbleibt in der zeitlichen Dimension der Veränderung und in Abhängigkeit von der menschlichen Bedingtheit, 61 kann aber gleichwohl durch den Bezug auf etwas J. Wippern, Eros und Unsterblichkeit, 1965, 141. Vgl. dazu ebd., 141 f.; W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 267 f. 60 Auch Jürgen Wippern relativiert seine bisherige Interpretation durch das Ernstnehmen dieses Vorbehalts: »Doch ist hier keineswegs das apollinisch-delphische Leitbild vom Menschen als dem schlechthin Sterblichen aufgegeben. Vielmehr wird diese Sterblichkeit des Menschen radikal ernst genommen, um gerade innerhalb ihrer Begrenzungen eine relative, d. h. selbst sterbliche Unsterblichkeit zu erringen – und damit auch eine ebenso begrenzte Eudaimonie.« (Ebd., 142) Zur »Angleichung an Gott soweit als möglich« vgl. das Kapitel 5.2.4 unten. 61 Zu der auch die weiter oben diskutierte Begrenztheit menschlichen Wissens gehört, mit deutlich kritischem Impuls gegen Aufklärung und neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie zu finden bei G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 1939, 170 und 172: »Die 58 59
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Unveränderliches, wenn auch keine göttliche, so doch eine dem Menschen mögliche Unsterblichkeit erreichen. Denn das Schöne selbst, die höchste Stufe des von Diotima gezeigten Aufstieges, ist als das sich in jeder Hinsicht Gleichbleibende »das göttlich Schöne« (t je…on kaln, 211e3). Damit hat Diotima allerdings nicht nur Eros, sondern ebenso den Menschen überstiegen – denn im Gegensatz zu den glückseligen und schönen, unsterblichen und weisen Göttern hatte sie Eros als ein Mittleres (metaxÐ) bestimmt, dessen daimonisches Wesen sich nicht im Sein, sondern im Streben nach Unsterblichkeit und Weisheit (yilosoyffla) zeigt –, und spricht auf der höchsten Stufe gleichsam von der Seite der Unsterblichkeit aus. 62 Diotfflma heißt nicht ohne Grund – die von Gott Geehrte! 63
Entdeckung dieses [inneren, geistigen] Selbst führt bei ihr [Diotima] nicht zu der Illusion der Aufklärung, hier walte absolute Selbstmächtigkeit. […] Aber während die Aufklärung – vor allem die moderne – meint, im Besitz des vollen Wissens sein zu können, legt Diotima den Finger auf das einfache und doch rätselhafte Faktum seiner Menschlichkeit […]. Das selbstvergessene Denken kennt zwar die Sterblichkeit – sie ist ihm der Inbegriff menschlicher Not –, aber es ahnt nicht, wie weit sie reicht.« 62 Vgl. dazu M. Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, 1976, 11 und 17 f. 63 W. Pape, Wörterbuch der griechischen Eigennamen, Erste Hälfte A–K, 1884, 312 f.
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3. Selbsterkenntnis
Man kann also […] niemals aber Philosophie (es sei denn historisch), sondern, was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophiren lernen. (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft)
Der Begriff der Selbsterkenntnis (gnsi@ auto‰) spielt in den platonischen Dialogen eine zentrale Rolle: In einigen, wie in der Apologie, dem Alkibiades I oder dem Charmides, ist die Selbsterkenntnis der eigentliche Gegenstand der Erörterung, in anderen Dialogen, wie in den sogenannten frühen Tugenddialogen oder der Politeia, bildet sie den Hintergrund, vor dem nach den einzelnen Tugenden, nach der Gerechtigkeit oder nach dem guten Leben gefragt wird. 1 Die Ursache dafür liegt in der systematischen Bedeutung des Begriffs, in der sokratischplatonischen Gleichsetzung von Selbsterkenntnis und Philosophie, mit welcher Sokrates in der Eingangsszene des Phaidros sein Desinteresse an mythologischen Fragen begründet: »Ich kann noch immer nicht nach dem Delphischen Spruch mich selbst erkennen. Lächerlich also kommt es mir vor, solange ich hierin noch unwissend bin, an andere Dinge zu denken. Daher also lasse ich das alles gut sein; und annehmend, was darüber allgemein geglaubt wird, wie ich eben sagte, denke ich nicht an diese Dinge, sondern an mich selbst, ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon 2 Neben den genannten frühen und mittleren Dialogen spielt der delphische Spruch: »Erkenne dich selbst!«, auch in den Spätdialogen eine Rolle. Vgl. Phlb. 48cd und Lg. 923a. 2 Anm. 14 in der Ausgabe von G. Eigler: »Typhon war ein sagenhaftes Ungeheuer mit hundert Drachenköpfen und Schlangenfüßen. Als er auf seiten der Giganten gegen die Olympischen Götter kämpfte, traf Zeus ihn mit dem Blitz und warf den Ätna auf ihn; an der Tätigkeit des Vulkans zeigen sich noch heute die Bewegungen des Riesen.« Vgl. auch P. M. Steiner, Psyche bei Platon, 1992, 11, Anm. 8: »Tuyn – ˝tuyo@ ist ein wortspielerischer Gegensatz zwischen der komplexen, sich gegen die Götter erhebenden 1
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(Tuyno@), oder ein milderes einfacheres Wesen, das sich seines göttlichen und edlen (⁄tÐyou) Teiles von Natur erfreut. […] Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.« (229e5–230d6) 3 Vor diesem Hintergrund des platonischen Begriffs von Philosophie als Selbsterkenntnis soll im folgenden Kapitel die Interpretation der Dialoge Apologie und noch einmal Alkibiades I klären, was Platon genau unter Selbsterkenntnis, und zwar unter praktischer Selbsterkenntnis, verstanden hat. 4 Deshalb ist auch nach der Wirkung der Selbsterkenntnis auf denjenigen, der philosophiert, und damit nach dem Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Philosophierendem zu fragen. Die in den unmittelbaren praktischen Selbstverhältnissen, die dem nicht thematisierten Bezug auf das Gute entsprechen, vorausgesetzte Reflexivität wird jetzt mit dem Problem der Selbsterkenntnis als eines reflektierten Selbstverhältnisses selbst thematisch. Ob die philosophische Reflexion auf den Menschen zu einer »Erhellung« bereits gelebter und der Reflexion vorausliegender menschlicher Handlungsstrukturen führt, um dadurch den eigenen Intentionen menschlicher Praxis angemessener entsprechen zu können, wird uns nicht nur jetzt beschäftigen. Was aber im folgenden Kapitel ausreichend geklärt werden soll, sind die Art und Weise des Selbstbezuges und die Rolle des anderen als Gesprächspartner bei der Selbsterkenntnis.
Monstrosität des mythischen Typhoeus (vgl. Hesiod, Th. (Solmsen) V, 820 ff.) und dem ›nicht-typhonischen‹, was im üblichen Wortgebrauch ›bescheiden‹ und ›nicht aufgeblasen‹ meint. Ein Gegensatz, der hier wie in R. 611b–612a die Problematik der Seele zwischen Einem und Vielem, Einfachheit und Komplexität andeutet.« 3 Vgl. ebenso zur deutlichen Abgrenzung von den ionischen Naturphilosophen bzw. den sogenannten Vorsokratikern Sokrates’ Schilderung seiner eigenen philosophischen Entwicklung in Ap. 19b ff. und Phd. 96a ff. 4 Weil der Dialog Charmides in der Forschung bereits hinlänglich, insbesondere unter dem Problem des Selbstbewusstseins bei Platon, behandelt worden ist (vgl. dazu die Anm. 69 im Kapitel 3.2 unten), wird er zur Interpretation nur ergänzend herangezogen. Dagegen sollen die Dialoge, die unter der Themenstellung bislang weniger eine Rolle spielten, Grundlage der eigenen Interpretation bilden.
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Die Apologie: Leben als Selbsterforschung
3.1 Die Apologie: Leben als Selbsterforschung Die Apologie 5 gibt in künstlerisch-stilisierter Form die Verteidigungsrede des Sokrates wieder, welche er in dem gegen ihn angestrengten Gerichtsprozess im Jahr 399 gehalten hat. Die Anklage lautete, dass er die Jugend verderbe und nicht an die Götter der Polis glaube, sondern an neue andere Gottheiten (vgl. 24b f.). Sokrates wurde mit einer knappen Mehrheit schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt. 6 Im Vergleich mit anderen Dialogen nimmt die Apologie insofern eine Sonderstellung ein, als dieses Werk in Redeform verfasst ist. Bis auf die geringfügige Ausnahme eines kurzen Dialoges mit Meletos, einem der drei Ankläger, führt allein Sokrates das Wort und – Platon lässt ihn über sich selbst sprechen. Im Gegensatz zur argumentativen Widerlegung der gerichtlichen Klage nimmt die Darstellung und Rechtfertigung seiner Lebensweise, welche ihn hauptsächlich in Verruf gebracht hatte und als der eigentliche Hintergrund und Ausgangspunkt der Anklage zum Prozess führte, den größeren Raum und das höhere Gewicht ein. Daraus lässt sich schließen, dass die Intention des Autors weniger in der Verteidigung gegen die Anklage als vielmehr in der Darstellung der sokratischen Existenz zu sehen ist. 7 Im Widerspruch zur Situation des Gerichtsprozesses und entgegen den Erwartungen seiner Zuhörer will sich Sokrates nicht mit rhetorischen Mitteln der Täuschung verteidigen, sondern mit einer philosophischen Rede. Er will so sprechen, wie er mit anderen auf dem Marktplatz gesprochen hat und den Athenern bekannt ist: »ihr aber werdet von mir die ganze Wahrheit (p”san t¼n ⁄lffijeian) hören« (17b7 f., vgl. auch 18a5). Gleichwohl weiß er um die Unzulänglichkeit der philosophischen Rede in der gegebenen Situation, weil die Bedingungen des Politischen geradezu verhindern, dass sich philosophische Einsichten zur Geltung bringen können. Deshalb befürchtet er, seine Zuhörer in einer so kurzen Zeit nicht vom Gegenteil der seit Langem gegen ihn gerichteten Vorurteile überzeugen zu können. 8 Die Für die Apologia Sokratous wird eine eigene Übersetzung benutzt. Zu den historischen Umständen des Prozesses vgl. E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, 1991, 101 ff.; H.-G. Gadamer, Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens (1990), GW VII, 101 ff.; G. Figal, Sokrates, 1995, 24–28; W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 70 ff. 7 Vgl. dazu P. Friedländer, Platon, Bd. 2, 1957, 145 und 150. 8 »So daß, was ich eingangs sagte, mich wundern würde, wenn ich imstande wäre, in so 5 6
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Gesprächsbedingungen haben wiederum einen Einfluss auf den Inhalt der Rede von Sokrates. Denn indem Platon jenen in der Rede Rechnung trägt, erfährt der eingangs von Sokrates erhobene Anspruch, die ganze Wahrheit zu sagen, dahingehend eine Einschränkung, dass Argumente und Begründungen auf die Gesprächspartner bezogen sind und wir in manchen Fragen nur Andeutungen finden. 9 Sokrates setzt sich zunächst mit seinen »früheren Anklägern« auseinander – der öffentlichen Meinung und den alt eingesessenen Ressentiments – und weist deren zweifache Fremdzuschreibung von Wissen zurück: Er habe weder das Wissen der ionischen Naturphilosophen noch verstehe er sich »in dieser den Menschen und den Bürger betreffenden Tugend«, welche die Sophisten vorgeben zu lehren (19b ff.). Die eigentliche Ursache seiner Verleumdungen und der gegen ihn gerichteten Anklage sei seine »ungewöhnliche Tätigkeit« (perittteron pragmateuomffnou, 20c6 f.) und seine damit verbundene »menschliche Weisheit« 10 (⁄njrwpfflnh soyffla, 20d7), die er sich im Gegensatz zur zweifachen Fremdzuschreibung zuspricht. 11 Zu dieser Art von Wissen ist Sokrates auf ungewöhnliche Weise gelangt: Einst hatte sein Freund Chairephon das Orakel in Delphi befragt, ob jemand weiser wäre als Sokrates, und die Pythia, die Priesterin im Tempel des
kurzer Zeit euch von dieser Verleumdung, die sich so lange eingewurzelt hat, zu befreien.« (4Wste, ˆper ⁄rcmeno@ ¥g ˛legon, jaum€zoim’ n e§ o@ t’ e—hn ¥g ¢mn taÐthn t¼n diabol¼n ¥xelffsjai ¥n o˜tw@ ¤lfflg†w crn†w o˜tw poll¼n gegonu…an. 24a1–4) Vgl. auch 19a1 f. und 37a5–b3. Grundsätzlicher im Gorgias bei der Charakterisierung der Rhetorik: »Also belehrt auch der Redner nicht in den Gerichts- und anderen Versammlungen über Recht und Unrecht, sondern macht nur glauben. Auch könnte er wohl nicht einen so großen Haufen in kurzer Zeit (clon […] toso‰ton ¥n ¤lfflg†w crn†w) belehren über so wichtige Dinge.« (455a4–8) Und aus der Politeia ist bekannt, dass eine Menge unmöglich philosophisch sein kann (494a4). 9 Vgl. dazu ausdrücklich Thomas A. Szlezák, der in den Dialogen Apologie, Kriton und Phaidon aufgrund je verschiedener Gesprächsbedingungen eine »Verteidigung auf drei Ebenen« deutlich machen kann, weil unterschiedliche Adressaten »mit unterschiedlichen Strategien behandelt und mit unterschiedlichen Inhalten konfrontiert werden« (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 221–252, zit. 250). Ebenso sind für Ursula Wolf die Argumente bezüglich der sokratischen Begründung, die Verbannung zu verweigern, auf die Gesprächspartner zugeschnitten (Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 50). 10 »Weisheit« bzw. »weise sein« (soyffla bzw. soy@ e nai) heißt hier und im Folgenden: über Wissen verfügen, kenntnisreich sein. 11 T† nti gÞr kinduneÐw taÐthn e nai soy@ (20d7 f.).
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Gottes Apollon, hatte es geleugnet (20e f.), und das bedeutet: Sokrates ist der Weiseste. Der Sinn des Orakelspruches ist nicht ohne Weiteres offenbar, sondern muss erst erschlossen werden, und dabei kommt der Reaktion von Sokrates auf den Orakelspruch die entscheidende Bedeutung zu: 12 Er konnte lange Zeit nicht den Sinn des Orakels verstehen. »Was meint eigentlich der Gott, und warum drückt er sich eigentlich in Rätseln aus? Denn ich bin mir doch bewußt, weder in bezug auf etwas Großes noch auf etwas Kleines weise zu sein. Warum meint nun der Sprechende, daß ich der Weiseste bin? Denn er lügt doch wohl gewiß nicht; denn es widerstrebt seinem Wesen.« 13 Sein Unverständnis kommt daher, dass die für wahr gehaltene Aussage des Orakels, er sei der Weiseste, sich mit seinem bisherigen Selbstverständnis, dass er überhaupt nicht weise ist, widerspricht. Nur wenn er diesen Widerspruch ernst nimmt, kann er den Sinn des Orakels erfahren. Denn es bliebe für ihn unwesentlich, wenn er sich weiterhin mit seinem Wissen von sich, dass er nicht weise sei, begnügte, obwohl dies eher unwahrscheinlich ist, weil doch der Gott, wie Sokrates selbst sagt, nicht lügt. Das Orakel bliebe aber genauso ohne Wirkung, wenn er dessen Aussage, er sei der Weiseste, einfach fraglos akzeptierte. Aber gerade das macht Sokrates nicht, obwohl dieser Fall naheläge, stammt doch die Auszeichnung nicht von irgendwem, sondern ist durch die Autorität eines Gottes verbürgt. Warum belässt es Sokrates nicht dabei? Warum nimmt er sich dieses Widerspruches an? Sokrates besteht auch gegenüber dem Gott auf seiner eigenen Einsicht, und diese hat er offensichtlich nur, wenn er auch weiß, was gemeint ist, wenn er etwas selbst verstanden hat. Zugleich betrifft die Aussage nicht etwas Beliebiges, sondern sie betrifft ihn selbst. Aber wer er selbst ist, das will Sokrates selbst begreifen. Im Folgenden stütze ich mich auch auf die erhellende Interpretation von Sokrates’ Reaktion von Günter Figal (Sokrates, 1995, 33 ff.). 13 Tffl pote lffgei ¡ je@ ka½ tffl pote a§nfflttetai; ¥g gÞr d¼ ote mffga ote smikrn sÐnoida ¥maut† soy@ n‡ tffl oªn pote lffgei, y€skwn ¥mþ soyðtaton e nai; o' gÞr dffipou veÐdetaffl ge‡ o' gÞr jffmi@ a't†. (21b3–6) Günter Figal weist darauf hin, dass die Uneindeutigkeit des Orakels zu dessen Wesen gehört, denn es habe weder den Charakter des Selbstverständlichen noch den des Unverständlichen, aber gerade darin liege seine Verbindlichkeit: Wenn man das, was es zu verstehen gibt, verstehen will, muss man sich selbst um Verständnis bemühen (ebd., 34). Vgl. dazu das Fragment von Heraklit: »Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und birgt nichts, sondern er bedeutet.« (¡ ˝nax, o t mante…n ¥sti t ¥n Delyo…@, ote lffgei ote krÐptei ⁄llÞ shmafflnei. DK 22 B 93) 12
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Deshalb bemüht er sich ernsthaft, die Auskunft zu verstehen. Es gelingt ihm nur, wenn er nicht nur sein bisheriges Selbstverständnis infrage stellt, sondern sogar das Orakel in Zweifel zieht und damit die Auskunft des Gottes und letztlich diesen selbst prüft! Erstaunlicherweise versucht Sokrates nicht einmal im Ansatz, introspektiv zu erfahren, worin er der Weiseste sei, sondern er geht zu denjenigen, von denen bekannt ist, dass sie kenntnisreich sind: »Ich ging zu einem derjenigen, die im Ruf stehen, weise zu sein, um dort, wenn überhaupt irgendwo, das Orakel zu überführen und dem Orakelspruch zu beweisen: Dieser hier ist doch wohl weiser als ich, du aber nanntest mich.« 14 – Der Ausdruck ¥lffgcein, später als Elenktik der Begriff für die sokratische Frage- und Prüfungsmethode, wird hier von Sokrates ausschließlich auf das Orakel selbst bezogen, weil nur dessen Widerlegung ihm die Möglichkeit eröffnet, den Spruch zu verstehen, und die Widerlegung kann Sokrates offensichtlich nicht anders als im Vergleich mit anderen erreichen. Natürlich ist der Vergleich mit den anderen durch die komparativ formulierte Fragestellung des Chairephon nahegelegt, doch die Bedeutung des Vergleichs allein auf diese einmalige Fragestellung zu reduzieren, würde eine wesentliche systematische Einsicht von Selbsterkenntnis ignorieren. Wie wir später sehen werden, kann der Einzelne sich selbst nur im Angesicht eines anderen erkennen. Bereits jetzt ist festzuhalten, dass nur der Vergleich, der immer einen gemeinsamen Bezugspunkt voraussetzt, zur Erkenntnis einer Differenz und damit zur Selbsterkenntnis führt. Da Sokrates offensichtlich nicht weiß, was »Weisheit« oder »Wissen« bedeutet, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich an denjenigen zu orientieren, die für weise gehalten werden (tfflne@ tn dokoÐntwn soyn e nai) – d. h. an der Erscheinung von Weisheit. 15 Das betrifft zugleich auch sein eigenes Selbstverständnis, denn seine bisherige Überzeugung, nicht weise zu sein, gewann er auch nur in Orientierung an dem, was bzw. wer weise zu sein scheint. Und erst wenn dieser »Schein« durchbrochen ist, wird er wissen, worin er der Weiseste ist. Bei seiner Prüfung von Vertretern aus drei verschiedenen Berufsgruppen (21c ff.) stellte Sokrates zunächst bei den Politikern fest, dass 14
9Hljon ¥pffl tina tn dokoÐntwn soyn e nai. £@ ¥nta‰ja, e—per pou, ¥lffgxwn t mante…on ka½ ⁄poyann t† crhsm† ˆti‡ « O¢tos½ ¥mo‰ soyðter@ ¥sti, s± d’ ¥mþ ˛yhsja ». (21b8–c3) 15 Vgl. dazu ausführlicher G. Figal, Sokrates, 1995, 35 ff.
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diese nur glauben, weise zu sein, es aber nicht waren, weil sie nur meinten, etwas zu wissen, obwohl sie es nicht wussten. Bei den Dichtern machte Sokrates die Erfahrung, dass diese ihre Werke nicht durch Weisheit (o' soyffla, 22b9–c1) schaffen, sondern aufgrund einer Naturgabe und göttlicher Begeisterung (yÐsei tin½ ka½ ¥njousi€zonte@, 22c1 f.), sodass sie nicht imstande waren, über ihre Dichtungen Auskunft geben zu können. Allerdings glaubten sie, wegen ihrer wahrhaft schätzenswerten Leistungen auch in allem Übrigen weise zu sein, worin sie es – wie die Politiker – auch nicht waren. Nur die Handwerker konnten sich als Wissende in ihrem jeweiligen Fach ausweisen, sie wussten wirklich etwas, das Sokrates nicht wusste. Gleichwohl »hielt sich jeder für würdig«, wie die Dichter »auch in den übrigen, den größten Dingen weise zu sein«. 16 Vermochten die Politiker nicht einmal eigene Leistungen vorweisen, was die Dichter anhand ihrer künstlerischen Werke zwar konnten, aber nicht, diese zu erklären, so verfügten nur die Handwerker wirklich über ein ausweisbares Wissen in ihrem Fachgebiet. Gleich ist allen drei Berufsgruppen, dass sie »in den größten Dingen«, d. h. im Wissen um das gute Leben, 17 wissend zu sein vorgaben, obwohl sie es nicht waren. Sie konnten ihr angebliches Wissen im Dialog mit Sokrates nicht rechtfertigen und begründen, sie glaubten also nur, wissend zu sein. Genau darin bestand der Unterschied zwischen ihnen und Sokrates: Jenen fehlte das Bewusstsein ihres Nichtwissens, sie waren unwissend bezüglich ihrer Unwissenheit (⁄maj¼@ t¼n ⁄majfflan, 22e3). Hingegen ist Sokrates in Hinsicht auf genau diese – ironisch zu verstehende – »winzige Kleinigkeit«, die in Wahrheit den großen Unterschied ausmacht, weiser, dass er ein Wissen um sein Nichtwissen hat. 18
kasto@ ƒxfflou ka½ tlla tÞ mffgista soyðtato@ e nai (22d7 f.). Dem Wissen in den wichtigsten Angelegenheiten entspricht die Frage nach dem Guten, die auch in den anderen von mir analysierten Dialogen präsent ist. Vgl. Alc. I 134a, Grg. 472c6–10, 487b5, 492d4 f., bes. 500c1–3, Smp. 204e f., R. 344d8–e2, 352d6 f., bes. 353d9, 505d ff. und 578c7 f. 18 So stellt Sokrates bereits nach seinem ersten Gespräch mit dem Politiker fest: »Denn es scheint eben keiner von uns beiden etwas Rechtes zu wissen; aber dieser meint, etwas zu wissen, obwohl er es nicht weiß, ich aber, wie ich nichts weiß, glaube es auch nicht. Demgemäß scheine ich wenigstens in Hinsicht auf genau diese winzige Kleinigkeit weiser zu sein als er, das, was ich nicht weiß, ich auch nicht zu wissen glaube.« (kinduneÐei mþn gÞr mn o'dfftero@ o'dþn kaln k⁄gajn e§dffnai‡ ⁄ll’ oto@ mþn o—etaffl ti e§dffnai o'k e§dð@‡ ¥g dff, ¯sper oªn oªk o da, o'dþ o—omai. 7Eoika go‰n toÐtou ge smikr† tini, a't† toÐt†w soyðtero@ e nai, ˆti ˘ m¼ o da o'dþ o—omai e§dffnai. 21d3–7) 16 17
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In der Literatur wird immer wieder die Bedeutung des Orakels und damit auch die Differenz zwischen dem Wissen vor und nach dem Orakel marginalisiert: Für Ernst Heitsch besteht die Bedeutung des Orakels für Sokrates allein darin, dass Sokrates nach dem Orakel seine Tätigkeit des Fragens und Prüfens als Auftrag des Gottes und als Hilfe für ihn verstehen kann, hingegen verstand er bereits vor dem Orakel, dass seine Tätigkeit, den Gesprächspartnern Unkenntnis in lebenswichtigen Fragen nachzuweisen, der Sache nach mit dem delphischen Gebot: »Erkenne dich selbst!«, identisch war. 19 Gewiss ist richtig, dass Sokrates vor dem Orakel bereits als ein Wissender bekannt gewesen sein muss, sonst hätte Chairephon seine Frage: »Ist jemand weiser als Sokrates?«, in dieser Form nicht stellen können. Wenn man aber vom Text der Apologie ausgeht, werden durch die – auf den Auftrag des Gottes reduzierte – Bedeutung des Orakels der Gewinn an eigener Selbsterkenntnis und die qualitative Differenz zwischen seinem Wissen vor und seiner Erkenntnis nach dem Verstehen des Orakels unterschätzt. Außerdem können diese Interpretationen nicht annähernd die Ernsthaftigkeit erklären, mit der Sokrates versucht, den Orakelspruch zu verstehen, und ebenso nicht den Aufwand, den Sokrates dafür betreiben muss. Aber ist das Wissen um sein Nichtwissen bereits alles, was Sokrates durch die Prüfung des Orakels verstanden hat? Es ist ja keineswegs der Fall, dass wir überhaupt nicht über Wissen verfügen, das sich begründen lässt und mit Erfolg gebraucht werden kann. Das hatte Sokrates anhand des praktischen Wissens der tffcnh bei den Handwerkern gelernt. 20 Problematisch wird es erst, wenn dieses Modell praktischen Wissens, das in seinem jeweiligen Bereich berechtigt Gültigkeit hat, auf das gesuchte Wissen »in den größten Dingen« angewandt Vgl. dazu E. Heitsch, Appendix IV, in: Platon, Apologie des Sokrates, Werke I 2, 2002, 197 ff. Ebenso äußerst Ursula Wolf Zweifel: »Beachten wir, daß Chairephon nicht gefragt hat, wer der weiseste Mensch oder Athener ist, sondern ob jemand weiser ist als Sokrates. Auf diese Frage wäre Chairephon wohl kaum gekommen, wenn Sokrates sich nicht bereits im Sinn einer besonderen Weisheit betätigt hätte – weshalb Zweifel an der Aussage erlaubt sind, erst Apollon sei der Urheber der sokratischen Betätigung.« (Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 38) Vgl. auch W. H. Pleger, Sokrates, 1998, 61. 20 Zum Begriff der tffcnh und zum Verständnis dieses praktischen Wissens als des damals einzig verfügbaren Modells praktischen Wissens vgl. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 32 ff. und gleichfalls die Erläuterungen im Kapitel 4.1 mit der Anm. 24 unten. Vgl. zur Erfahrung des technischen Könnens und dem damit einhergehenden »Könnens-Bewußtsein« (Ch. Meier) in dieser Zeit das Kapitel c. der Einleitung mit der Anm. 99 oben. 19
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wird. 21 Auch dafür waren die Handwerker ein lehrhaftes Beispiel. Was Sokrates versteht, das ist nicht nur, dass es eine Grenze des menschlichen Wissens gibt, sondern dass die für uns existenziell bedeutsame Frage nach dem Guten darüber hinausreicht, weil wir mit dieser Frage nach allem fragen. Was läge da nicht näher, wie die Handwerker vom Teil auf das Ganze zu schließen, und zwar in der offensichtlich falschen Annahme, dass sich Teil und Ganzes strukturell entsprechen? Aber genau in dem Bereich der ethischen Frage, und diese wesentliche Einsicht Sokrates’ macht ihn zum Weisesten von allen, wissen wir im Vergleich zu einem göttlichen, und das bedeutet: alles umfassenden Wissen nichts, streng genommen ist unser diesbezügliches Wissen nicht einmal etwas wert: »Indessen scheint, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein und in diesem Orakelspruch dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit beinahe wenig, und zwar nichts wert ist«. 22 Die Wertung erinnert zunächst an die bis dahin übliche Deutung des delphischen Spruchs: gnji sautn. (»Erkenne dich selbst!«), der auf der Wand in der Vorhalle des delphischen Apollontempels gestanden hat und als Forderung des Gottes an den Menschen verstanden wurde: Erkenne, dass du ein sterblicher Mensch und kein Gott bist. Die gegen menschliche Hybris gerichtete Aufforderung mahnte an, sich der durch die Sterblichkeit gegebenen menschlichen Grenzen bewusst zu werden und diese anzuerkennen. 23 Die Begrenzung menschlichen Wissens und die Einsicht in dessen Unzulänglichkeit im Vergleich zum göttlichen Wissen sind auch bei Sokrates zu finden. Aber entgegen der bisher immer mitgedachten Mahnung, die Grenzen nicht zu überschreiten, wird jetzt nach sokratisch-platonischer Deutung des Spruches die selbstbezügliche Aufforderung an den Menschen anders verstanden: Erkenne dich selbst, indem du prüfst, was du in Bezug auf das Gute weißt und was nicht, ob du dein Wissen rechtfertigen kannst Da sich Platon bei der Suche nach dem ethischen Wissen am praktischen Wissen der tffcnh orientiert, hat immer wieder Interpreten veranlasst zu behaupten, Platon sei der Ansicht, das gesuchte Wissen – die ⁄retffi des Menschen – entspräche derselben Struktur wie das Wissen der tffcnh. Ursula Wolf konnte überzeugend zeigen, dass die Orientierung an diesem Modell des praktischen Wissens gerade dafür genutzt wird, die Unterschiede zum ethischen Wissen herauszuarbeiten (ebd.). Vgl. auch H.-G. Gadamer, Praktisches Wissen (1930), GW V, bes. 231 f. 22 t dþ kinduneÐei, ˝ndre@, t† nti ¡ je@ soy@ e nai ka½ ¥n t† crhsm† toÐt†w to‰to lffgein ˆti ⁄njrwpfflnh soyffla ¤lfflgou tin@ ⁄xffla ¥st½n ka½ o'den@ (23a5–7). 23 Vgl. dazu W. Schadewaldt, Der Gott von Delphi, 1965, 16 ff.; H. D. Betz, Humanisierung des Menschen, 1990, 123 f.; H. Tränkle, GNWQI SEAUTON, 1985, 22 f. 21
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oder nicht, und sei dir »des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten« 24 bewusst. Nach dieser Auslegung des delphischen Gebots verfuhr Sokrates bereits bei der Prüfung des Orakels, in dieser Bedeutung wird auch die Selbsterkenntnis als Philosophie verstanden. Weil das Nichtwissen den Bereich der ethischen Frage nach dem Guten betrifft, wir aber ein existenzielles Interesse haben, das Gute wirklich zu wissen, müssen wir nach dem Wissen suchen. Gerade weil unser ethisches Wissen »nichts wert« ist, wird es selbst zur treibenden Kraft für die Prüfung bestehender Wissensansprüche und für die Suche nach diesem Wissen selbst – für das Philosophieren. 25 Selbsterkenntnis wird zur Philosophie im Unterschied zur bisherigen Deutung des Spruches, und im Unterschied zur Naturphilosophie der Vorsokratiker wird Philosophie zur Selbsterkenntnis. 26 H.-G. Gadamer, Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens (1990), GW VII, 108. – Christian Göbel, dessen Platon-Interpretation ich nicht in allem teile, hat sehr deutlich den Unterschied zwischen traditioneller und platonischer Deutung herausgearbeitet: Das Neue bestehe im anthropologischen Motiv, das die menschliche Erkenntnisfähigkeit in ihrer Wesensgleichheit mit dem Göttlichen betont, und in dessen Verbindung mit dem existenziellen Motiv als der Frage nach dem Tod und der Unsterblichkeit der Seele (Griechische Selbsterkenntnis, 2002, Teil I, 16–78). Vgl. auch C. J. Classen, Sprachliche Deutung, 1959, 151 ff.; W. Schadewaldt, Der Gott von Delphi, 1965, 26 ff.; H. D. Betz, Humanisierung des Menschen, 1990, 124 ff.; F. von Kutschera, Die großen Fragen, 2000, 9 f. 25 In der Apologie wird diese Tätigkeit von Sokrates selbst als Philosophieren in der Bedeutung von »Streben nach Erkenntnis« bezeichnet: 28e5, 29c9 und d4. Zum sachlichen Zusammenhang zwischen sokratischem Nichtwissen und Philosophieren als Streben nach Erkenntnis vgl. E. Heitsch, Appendix IV, in: Platon, Apologie des Sokrates, Werke I 2, 2002, 199 ff. 26 Heinrich Meier versteht die sokratisch-platonische Philosophie als eine grundlegende Änderung der Blick- und Fragerichtung, die für die Philosophie einen Unterschied im Ganzen begründe – als Wende der Philosophie der Vorsokratiker zur Politischen Philosophie. Innerhalb ihrer vierfachen Bestimmung sei dabei die übergreifende Bestimmung der Selbsterkenntnis des Philosophen von konstitutiver Bedeutung: »Die Wendung zur Politischen Philosophie ist in ihrem Kern eine Rückwendung und Rückbeziehung der Philosophie auf sich selbst. […] Die Antwort, die die SokratischPlatonisch-Xenophontische Wende in Gestalt der Politischen Philosophie auf die Kritik des Aristophanes gibt, bindet die Frage der Philosophie an die Frage nach dem Guten, die Erkenntnis an die Selbsterkenntnis des Philosophen zurück. Deshalb vollzieht sich der Platonische Versuch, das Ganze vermittels der Was ist?-Frage zu artikulieren, im Horizont der Frage Wozu ist es gut? Die Verbindung beider Fragen stellt den Zusammenhang von philosophischer Forschung und philosophischem Leben im einzelnen her und bringt die Reflexivität der Philosophie am konkreten Gegenstand zum Ausdruck« (Warum Politische Philosophie?, 2000, 30 f.). 24
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Das Wissen des Nichtwissens und die damit einhergehende Abwertung menschlicher Weisheit bedeuten nicht, dass überhaupt kein diesbezügliches menschliches Wissen möglich sei. Nur im Vergleich zum göttlichen Wissen, das in einem absoluten Sinn vollständig ist, bleibt das menschliche Wissen ohne Wert bzw. steht unter dem Vorbehalt der Unvollkommenheit. 27 Das Wissen des Nichtwissens ist die in eine pointierte Formel gebrachte Einsicht, dass die Suche nie zu einem absoluten Abschluss kommt, dass das menschliche Wissen prinzipiell unvollständig bleibt, weil nur das göttliche Wissen ein vollständiges ist. Menschliches Wissen ist sterbliches Wissen, wie wir aus dem Symposion erfahren haben. Gesucht ist ein Wissen, das über das Ganze des menschlichen Weltzusammenhanges Aufschluss gibt. Erforderlich wäre dafür allerdings ein uns Menschen nicht möglicher absoluter Standpunkt, der alle vorstellbaren Perspektiven des Fragens und Erkennens in sich fasste. Trotzdem ist unser Fragen weder ohne Ziel, denn wie Eros streben wir danach, dem Göttlichen ähnlich zu werden, soweit es uns Menschen möglich ist, noch ist unser Suchen richtungslos, denn wir können im Durchgang durch die jeweils einzelnen Perspektiven ein einheitliches Verfahren – lgon didnai bzw. sich Rechenschaft geben – anwenden. Der Philosoph strebt nach Wissen, er hat es nicht. Deshalb sagt Sokrates im Phaidros, solange er sich nicht nach dem delphischen Spruch selbst erkennt, hat er kein Interesse an anderen Dingen (229e–230d). Er selbst ist sowohl Anfang als auch Ende der von ihm gestellten Fragen und der durch ihn selbst gesuchten Antworten. Seine Tätigkeit kann als Selbstreflexion menschlichen Lebens angesehen werden. Hinzu kommt der grundsätzliche Anspruch, dass nur das Wissen ist und Bedeutung hat, das sich rechtfertigen und begründen lässt, unter der Voraussetzung einer selbst gewonnenen Einsicht. 28 Auf sein Trotz der unaufhebbaren Differenz zwischen menschlichem und göttlichem Wissen kann Sokrates und seinen Dialogpartnern sehr wohl Wissen zugesprochen werden, ein in einem schwächeren Sinn zu verstehendes Wissen, das im sokratischen ˛legco@ begründet werden kann und allen Widerlegungsversuchen standhält, aber zugleich mit dem Bewusstsein des Wissenden von dessen Vorläufigkeit verbunden ist (J. Hardy, Was wissen Sokrates und seine Gesprächspartner?, 2004). 28 »Wissen schließt Rechenschaftsfähigkeit ein. Wer weiß, der hat eben nicht nur eine vielleicht richtige Ansicht von etwas, sondern er weiß auch das, was er weiß, zu rechtfertigen, im Gespräch mit sich oder mit anderen. Wissen ist also Wissend-sein.« (H.-G. Gadamer, Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens (1990), GW VII, 107) Zu dieser von 27
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eigenes Verstehen und seine eigene Einsicht gründet sich ab sofort alles für den Menschen. Das Verstehen des Orakels hatte Sokrates, wenn es für ihn praktische Bedeutung haben sollte, selbst zu erbringen. Deshalb konnte er sich dieses Wissen – im Gegensatz zur oben genannten zweifachen Fremdzuschreibung von Wissen – selbst zuschreiben. Der Uneindeutigkeit des Orakelspruchs, dessen Verbindlichkeit im eigenen Bemühen um Verstehen besteht, entspricht das sokratisch-platonische Verständnis des delphischen Spruchs: »Erkenne dich selbst!«, als Aufforderung zum Selbstdenken. Die Tätigkeit des Prüfens – die Elenktik 29 – wird ihm fortan zur Lebensweise. Denn es ergibt sich bereits der Sache nach eine Fortführung, die es nicht bei einer einmaligen Prüfung, im Fall von Sokrates der Prüfung des Orakelspruches, belässt. Der Zusammenhang zwischen der existenziell zu verstehenden Frage nach dem Guten, unserem Anspruch, das Gute wirklich wissen zu wollen, und der nicht in einem absoluten Sinn einlösbaren Möglichkeit, dieses Wissen zu erreichen, wenn nicht »zwingen«, dann zumindest motivieren zu einer Weiterführung, sodass aus einer einmal praktizierten Tätigkeit des Prüfens und Suchens eine Lebensweise wird. Man könnte es auch so ausdrücken: Wer einmal ernsthaft nach dem Guten gefragt hat und sich bewusst wurde, dass er bezüglich des Guten nichts weiß, es aber wissen will, verbleibt beharrlich in dieser Fragestellung. 30 Weil Sokrates selbst seine Tätigkeit in der Apologie als »Dienst für den Gott« begreift, in dessen Auftrag er handelt, 31 haben manche Rainer Enskat sogenannten »Authentizitätsbedingung« des Wissens vgl. das folgende Kapitel 3.2. 29 Zu Gegenstand und Inhalt des sokratischen Ausfrage- und Prüfungsverfahrens, rekonstruiert anhand des Textes der Apologie, vgl. A. Patzer, Sokrates als Philosoph, 1987, 446–448. 30 Pierre Hadot hat für die gesamte antike Philosophie überzeugend die Einheit von philosophischer Lebensweise und philosophischem Diskurs herausgearbeitet: Philosophie ist nach antikem Verständnis eine Lebensform, die aufgrund einer anfänglichen existenziellen Entscheidung entsteht und aus der heraus der philosophische Diskurs seinen Anfang nimmt und darauf wieder zurückführt, sie ist damit eine geistige Übung, die Veränderungen in demjenigen bewirkt, der sie praktiziert (Philosophie als Lebensform, 1991; Wege zur Weisheit, 1999). Vgl. auch H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000, z. B. 27 f. 31 »Dieses untersuche und erforsche ich auch noch jetzt, indem ich umhergehe, im Auftrag des Gottes, wenn ich glaube, daß irgendeiner von Bürgern und Fremden weise ist; und wenn er es mir nicht zu sein scheint, dann helfe ich dem Gott und beweise, daß er nicht weise ist.« (Ta‰t’ oªn ¥g mþn ˛ti ka½ n‰n periin zht ka½ ¥reun katÞ tn
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Interpreten den Schluss gezogen, dass die sokratische Prüfung nur für den Geprüften Sorge um die eigene Seele sei, für Sokrates aber Gottesdienst – und nicht mehr Erkenntnis seiner selbst. 32 Dem entspricht, dass er sein Tun auch in den Zusammenhang mit der Polis und als Dienst für diese darstellt: Er sei »von dem Gott der Stadt (t–» plei ¢p to‰ jeo‰) beigegeben«, weil diese wie ein großes und edles Pferd aufgrund seiner Größe zur Trägheit neige und es nötig habe, durch eine Pferdebremse aufgeweckt zu werden (30e4–6). 33 Nach meinem Verständnis ist das »Stechen« der anderen keineswegs nur Gottesdienst oder Erfüllung der bürgerlichen Pflicht gegenüber dem Ganzen, weil diese Interpretation dem eigenen Selbstverständnis von Sokrates, philosophierend zu leben und sich selbst und andere zu prüfen (¥xet€zonta ¥mautn ka½ to±@ ˝llou@, 28e5 f.), widerspricht. Zudem wäre aus einer zweiseitigen Relation der Selbsterkenntnis eine einseitige geworden, was auch mit Blick auf die anderen Dialoge nicht zu rechtfertigen ist. 34 Der Bezug auf die Autorität des Gottes dient Sokrates auch zur Legitimierung seiner philosophischen Lebensweise. Hat diese Lebensweise nicht aus sich heraus genügend Gründe und Argumente, die für sich selbst sprechen? Dass die Verteidigung der philosophischen Lejen ka½ tn ⁄stn ka½ tn xffnwn ˝n tina o—wmai soyn e nai‡ ka½ ¥peid€n moi m¼ dok–», t† je† bohjn ¥ndefflknumai ˆti o'k ˛sti soy@. 23b4–7) Vgl. auch 23c1, 28e4 f. und 30a4–7. 32 »Die ›menschliche Weisheit‹, deren Kern das Bewußtsein des eigenen Nichtwissens ist, setzt sich direkt um in die sokratische Prüfung der üblichen Wissensansprüche, die für den Geprüften Sorge um seine Seele ist, für Sokrates aber Gottesdienst.« (Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 223) 33 Diesen politischen Aspekt hebt besonders Werner Jaeger hervor: »Schon die ›Apologie‹ bezieht Sokrates’ Wirken und seine Erziehung der Bürger zur wahren Arete auf ›die Polis selbst‹ und gibt seiner Sendung damit den Stempel des Politischen.« (Paideia, Bd. 2, 1959, 151) Vgl. auch ebd., 154. Paul Friedländer benennt den Aspekt etwas subtiler: Sokrates, der mahnende und prüfende Philosoph, »der seine Pflicht gegen das Ganze erfüllt, indem er ›jedem Einzelnen die größte Wohltat erweist‹« (Platon, Bd. 2, 1957, 154). 34 Vgl. die Selbstcharakterisierung von Sokrates im Dialog Gorgias: Er gehöre zu denjenigen, die im Gespräch nicht den Gesprächspartner bloßstellen und beleidigen wollen, sondern denen daran gelegen sei, sachbezogen ein Problem zu klären, wobei der Selbsterkenntnis eigener falscher Meinungen unmissverständlich der Vorrang vor der Korrektur von fremden Ansichten zugesprochen wird (458a3–b2). Vgl. auch Prt. 333c7–10. Dass Selbsterkenntnis nicht ohne Bezug auf den oder die anderen möglich ist, wird im folgenden Kapitel 3.2 ausführlich behandelt und ist auch Thema im Kapitel 5.1 unten. A
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bensweise notwendig ist, hat Heinrich Meier gezeigt, der sie zu den vier Bestimmungsmomenten der mit Sokrates beginnenden Wendung der Philosophie zur »Politischen Philosophie« zählt. 35 Aber warum durch einen wiederholten Bezug auf den Gott? Inwiefern dieser Bezug wörtlich zu nehmen ist, darüber gehen die Ansichten in der Forschung auseinander: Günter Figal unterstreicht die Insistenz auf die Wahrheit des Orakels, »weil sich ohne sie [die Geschichte des Orakels] die eigentümliche Art des Sokratischen Philosophierens nicht verstehen läßt; unverständlich bleibt ohne sie auch der gedankliche Kern der Sokratischen Philosophie«: 36 Das Fragen und Denken werde zur eigentlichen Frömmigkeit, und die Philosophie sei Dienst für den Gott. Hingegen finden sich Zweifel bei Thomas A. Szlezák, welcher in der Berufung auf die Autorität des Gottes ein nichtargumentatives Mittel sieht und sie in den Zusammenhang mit Anlass und Adressaten stellt: »Je geringer die Kompetenz der Hörer im Umgang mit Logoi, desto höhere Autorität muß der Dialektiker zur Stützung seiner Sache anrufen: vor der zur Philosophie unfähigen Menge der fünfhundert Richter beruft er sich für sein Tun auf einen göttlichen Auftrag; die Autorität, die hinter ihm steht, ist der Gott von Delphi.« 37 Und ebenso misstraut auch Ursula Wolf einem wörtlichen Verständnis, weil der Bezug auf den Gott bzw. die Götter gleichzeitig mit dem Gebrauch von Ironie vorkommt (vgl. 37e–38a). Wie diese Stelle zeige, »schreibt sich Sokrates durchaus selbst ein praktisches Wissen zu, und die Ironie und die Götter scheinen nur deswegen nötig, weil diese Art des Wissens nicht mit den üblichen Mitteln beweisbar ist«. 38 Fraglos ist auf jeden Fall, dass die Überzeugung von Sokrates durch einen göttlichen Impuls angestoßen wurde. Aber ebenso fraglos ist, dass bereits das Wie seiner Reaktion auf den Orakelspruch seine Selbstständigkeit und seine Verantwortlichkeit zeigt: im Prüfen des Orakels selbst, im eigenen und damit selbst zu verantwortenden Verstehen, im weiteren Überprüfen der anderen bis hin zu seiner von jetzt an gelebten Lebensweise. Die Rede von dem Gott und dessen Legitimierung des Philosophierens kann auch ein Verweis auf ein anderes philosophisches Problem sein: Weil das gesuchte Wissen sich auf das 35 36 37 38
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Vgl. dazu H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000, bes. 18–22. Vgl. dazu G. Figal, Sokrates, 1995, zit. 33 und 37. Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 250. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 50. ALBER THESEN
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Ganze des Lebens bezieht, stößt Philosophie an die Grenze möglichen menschlichen Wissens, reicht sie in den Bereich des übermenschlichen, des göttlichen Wissens hinein. Dieses philosophische Wissen kann – weil die Grenze des menschenmöglichen Wissens überschritten wird – nicht die Sicherheit des technischen Wissens verbürgen und bedarf deshalb einer anderen Versicherung – einer göttlichen. 39 Vordergründig ist die sokratische Methode auf die Widerlegung und Destruktion von nur vermeintlich richtigen Meinungen gerichtet, indem Sokrates den anderen fragt, prüft und ausforscht (¥rffisomai a'tn ka½ ¥xet€sw ka½ ¥lffgxw, 29e4 f.), und zwar ob sich Wissensansprüche begründen und einsichtig ausweisen lassen, eigenes Tun sich vernünftig rechtfertigen lässt, ob man für seine Meinungen und Handlungen Rede und Antwort stehen kann. Aber das heißt – über sein Leben Rechenschaft zu geben (lgon didnai to‰ bfflou). 40 Das ist nicht zu verstehen als ein Sich-Rechenschaft-Geben über den eigenen Wissensstand nach Art einer Überprüfung des Aussagegehaltes von Sätzen. Deren sachliche Konsistenz wird natürlich auch geprüft, aber die sokratische Frage zielt nicht auf ein theoretisches Wissen, dem wir neutral und distanziert gegenüberstehen können, sondern sie fragt nach einem Wissen von den größten Dingen (tÞ mffgista, 22d7), d. h. nach dem guten Leben. Insofern dieses Wissen für das je eigene Leben und die eigene Existenz handlungsrelevant ist, hat der Einzelne sich mit diesem identifiziert, sodass Sokrates bei einer Widerlegung eines Wissensanspruches ebenso denjenigen und dessen Identifikationen trifft und ihn damit auf sich selbst zurückbezieht. 41 Deshalb ist auch die Reaktion der meisten Athener verständlich: Nicht nur, dass einem Unwissenheit nachgewiesen wurde, zumal in der Öffentlichkeit, in der Sokrates seine Gespräche führte, sondern vielmehr ist man in seiner eigenen Lebensorientierung erschüttert, d. h., existenziell verunsiDiese individuelle Selbstauszeichnung des Sokrates »wird vielmehr wie ein Schicksal erfahren, in dem sich eine religiöse Botschaft erfüllt. Und die Sicherheit, ihr gerecht zu werden, ergibt sich dort, wo die Mittel der auf konsequente Welt- und Selbsterkenntnis gegründeten eigenen Einsicht nicht mehr ausreichen, also letztlich nur in der Aufmerksamkeit auf die göttliche Stimme in uns selbst, für die man freilich nur empfänglich ist, wenn man zuvor alles getan hat, was in den eigenen Kräften steht.« (V. Gerhardt, Das individuelle Gesetz, 1997, 16) 40 Zu denjenigen der Richter, welche Sokrates zum Tode verurteilt haben, sagt er, sie glaubten, »nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben« (⁄pall€xesjai to‰ didnai ˛legcon to‰ bfflou, 39c7). 41 Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, z. B. 317 f. 39
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chert, weil jetzt infrage gestellt ist, ob man das, was man wirklich will, sein Leben gut leben, auch mit seiner bisherigen Orientierung und mit der daraufhin entsprechend ausgerichteten Sorge um sich selbst auch wirklich erreicht. Aufgrund dieser Destruktion von Identifikationen, man könnte auch sagen: der Destruktion von einem selbst, entstand ihm der Hass seiner Athener Mitbürger. 42 Bei aller »Negativität« bewirkt die kritische Seite der sokratischen Tätigkeit auch einen Gewinn, werden doch die zunächst unmittelbaren praktischen Selbstverhältnisse, die dem bisherigen Leben Orientierung und Richtung gaben, durch den sokratischen Dialog artikuliert und damit einer Überprüfung zugänglich. Selbst wenn sie als nur vermeintliches Wissen der Prüfung nicht standhalten, hat der Einzelne eine ihn selbst betreffende existenziell wichtige Einsicht gewonnen: Er hat sich bislang an der Erscheinung eines nur angeblichen Wissens vom Guten orientiert, dieser Schein ist jetzt durchbrochen, weil er seine Meinungen nicht mehr für Wissen hält, sondern die Meinungen als Meinungen erkannt hat. Damit ist die weitere Einsicht in den Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Wissen verbunden: Er weiß fortan um das Defizit der Meinungen, das diese im Vergleich zu einem vollkommenen Wissen haben, er verfügt jetzt über reflektierte Meinungen. In dieser Hinsicht ist er für sich selbst transparent geworden, hat er sich selbst erkannt. Genau genommen ist er sich selbst ein Problem geworden und nun zugänglich für die Suche nach dem Wissen vom guten Leben. 43 Das bisherige Ergebnis ist allerdings nur die eine Seite der Tätigkeit von Sokrates: Andere würden nur bewirken, dass die Menschen glückselig zu sein scheinen, wohingegen er erreicht, dass sie glückselig sind. 44 Nach eigenem Verständnis will Sokrates die anderen genau auf das, worauf es wesentlich ankommt – auf die gute Beschaffenheit der eigenen Seele –, verweisen und sie davon überzeugen, sich vor allem anderen um die Sorge für die eigene Seele 45 zu bemühen: »schämst du Vgl. dazu H.-G. Gadamer, Sokrates’ Frömmigkeit des Nichtwissens (1990), GW VII, 103 f. 43 Zum Unterschied zwischen den Unwissenden und den Philosophen als den nach Weisheit Strebenden vgl. J. Hardy, Was wissen Sokrates und seine Gesprächspartner?, 2004, bes. 244 ff. 44 2O mþn gÞr ¢m”@ poie… e'dafflmona@ doke…n e nai, ¥g dþ e nai (36d9–e1). 45 Die Sorge um die Seele (¥pimffleia t»@ vuc»@) ist ein wichtiger systematischer Begriff in der platonischen Philosophie, weitere relevante Dialogstellen sind: Alc. I 128d, 42
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dich nicht, dich um Geld zu sorgen, daß es dir möglichst viel wird, und um Ansehen und Ehre, aber um vernünftiges Verhalten und Wahrheit und um die Seele, daß sie möglichst gut wird, sorgst du dich nicht und denkst auch nicht nach?« 46 Die Dialogstelle verdeutlicht, dass der griechische Begriff der Sorge oder des Sorgens (¥pimffleia oder ¥pimele…sjai) nicht den im Deutschen vorhandenen eher negativen Bedeutungsaspekt des Bedrücktseins oder des Befürchtens umfasst, sondern eine Tätigkeit bezeichnet, die intentional auf etwas bezogen ist und dessen beste Ausprägung bewirken will. Unter der allem anderen vorgeordneten Sorge um die Seele wird das eigene Bemühen um Vernünftigkeit und Wahrheit verstanden, damit die Seele möglichst gut werde, mit anderen Worten: Die Sorge um die Seele besteht in der Überprüfung dessen, was man weiß oder nur zu wissen vermeint, in der nach dem Wissen des Guten suchenden Selbsterkenntnis nach sokratischplatonischem Verständnis. Nach diesem Verständnis wird die Sorge reflexiv aufgefasst, die seelische Tätigkeit des Sorgens wird auf die Seele selbst zurückbezogen. 47 Wie wir bereits wissen, liegt diesem ausdrücklich reflexiven Selbstverhältnis eine unmittelbare Sorge um sich selbst voraus: Wir sind in allem, was wir tun, oder anders gesagt: unabhängig vom jeweiligen Objekt unserer Sorge, immer um uns selbst besorgt. Die von Sokrates genannten Beispiele bestätigen die Interpretation: Wenn ich mich um Geld, Ansehen und Ehre oder um den eigenen Leib sorge, dann stehe ich diesen Objekten meiner Sorge nicht unbeteiligt gegenüber, sondern im Bezug auf diese meine ich mich selbst, bin ich um mich selbst besorgt. Unterstellt wird also von Sokrates, dass die existenzielle Sorge um sich selbst fraglos ist, sie liegt allen genannten Formen der Sorge zugrunde, nicht fraglos ist hingegen, worin die Sorge besteht bzw. auf was sie sich beziehen soll, was ihr primäres Objekt sein soll. Die Ursache für die falschen Orientierungen über das Objekt der 132b ff., Phd. 107bc und Plt. 274b–d. Synonym dazu der Begriff der »Selbstsorge« (¥pimffleia auto‰), der »zum erstenmal bei Platon« auftaucht, selbst »das Wort ¥pimffleia (Sorge, Fürsorge) – als Ableitung vom älteren melffth – ist erst aus der Zeit des Sokrates belegt« (W. Schmid, Artikel Selbstsorge, 1995, 528). Relevante Dialogstellen für ¥pimffleia auto‰ sind: Alc. I 127e–128a, 129a9, 132b5, Ap. 36c6 f. und Plt. 274d. 46 e§@ soyfflan ka½ §scÐn, crhm€twn mþn o'k a§scÐn–h ¥pimeloÐmeno@ ˆpw@ soi ˛stai £@ ple…sta, ka½ dxh@ ka½ tim»@, yronffisew@ dþ ka½ ⁄lhjeffla@ ka½ t»@ vuc»@ ˆpw@ £@ beltfflsth ˛stai o'k ¥pimel–» o'dþ yrontfflzei@; (29d8–e2) 47 Ausführlich wird auf die vorliegende Reflexivität der als Selbsterkenntnis verstandenen Sorge um die Seele im folgenden Kapitel 3.2 eingegangen. A
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Sorge um sich selbst ist ein falsches Selbstverständnis des Menschen. Im Alkibiades I war zu erfahren, dass das Selbst des Menschen weder sein Besitz noch sein Leib, sondern seine Seele ist. Aber damit befinden wir uns bereits im Prozess der Selbsterkenntnis, die durch die Reflexion auf dieses unmittelbare praktische Selbstverhältnis nicht nur die Sorgestruktur menschlichen Seins thematisiert und die eigentliche Intention unseres Strebens nach dem guten Leben offenlegt, sondern zugleich die Orientierungen unserer Intention prüft, inwiefern sie sich vernünftig rechtfertigen lassen, und, falls nötig und möglich, korrigiert. Diese als Selbsterkenntnis verstandene Sorge um die Seele soll die Glückseligkeit desjenigen bewirken, der sich in diesem Sinn um sich selbst sorgt. Das ist erläuterungsbedürftig: Das Gutsein der Seele, so führt Sokrates in der Apologie weiter aus, sei verantwortlich für das Gutsein der anderen Güter, weil »aus dem Besitz nicht die Tugend entsteht, sondern aus der Tugend wird der Besitz und alle anderen Güter für die Menschen sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen«. 48 Die Ursache dafür liegt in der Begrenztheit des technischen Wissens als solches: Dem Bereich einer jeden tffcnh ist kein Kriterium zu entnehmen, ob das ihr zugehörende Wissen oder die Mittel für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt werden. Ein Gut ist aber erst dann ein solches, wenn es richtig, und das heißt: gut, gebraucht wird. Das zu wissen obliegt offensichtlich der Seele, und sie vermag es nicht in Anwendung eines Wissens nach Art einer tffcnh, sondern durch das ethische Wissen, aufgrund dessen es ihr möglich ist, zwischen Gutem und Schlechtem zu unterscheiden.49 Diese Kompetenz dürfte zweifellos eine Voraussetzung für die eigene Glückseligkeit sein. Ursula Wolf hat in der Frage nach dem Gutsein der Seele eine Verlagerung der Frage nach dem guten Leben gesehen: Dieser von Sokrates bzw. Platon gemachte »Schachzug« als »die Frage nach einer zweitbesten Lösung« würde verständlich, weil wir gut leben wollten, obwohl die e'daimonffla – zu verstehen als Glückseligkeit im Sinne eines vollständigen guten Lebens in jeder Hinsicht – angesichts der Wechselhaftigkeit des Schicksals und unserer Abhängigkeit davon »eher eine Art 48
o'k ¥k crhm€twn ⁄ret¼ gfflgnetai, ⁄ll’ ¥x ⁄ret»@ crffimata ka½ tÞ ˝lla ⁄gajÞ to…@ ⁄njrðpoi@ ¿panta ka½ §dffla ka½ dhmosffla (30b2–4). Vgl. auch 36c5–d1, 41e3–7, ebenso Chrm. 156e6–8. 49 Das hat überzeugend Ursula Wolf, insbesondere anhand ihrer Interpretation des Hippias Minor gezeigt (Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 59 ff. u. ö.). Vgl. auch J. Kube, TECNH und ARETH, 1969, 128 f.
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regulativer Idee als ein direkter Gegenstand des Wissens« sei. 50 Deshalb werde etwas gesucht, »das außerhalb der Veränderlichkeit des Schicksals steht, und die eigene Verfassung und das eigene Handeln haben wir am ehesten selbst in der Hand«. Damit sei zugleich die Möglichkeit gegeben, dass die fortwährende Prüfung der Seele – und das ist wesentlich – eine Einheitlichkeit des Lebensvollzugs bewirke. 51 Ermöglicht wird dieser Zusammenhang des eigenen Lebens durch eine alles Wissen prüfende einheitliche Methode, und zwar nach einem einzigen Kriterium: Gültigkeit hat nur noch ein Wissen, was sich vernünftig rechtfertigen lässt und damit zugleich die Gründe angibt, die ein Handeln nach eigener Einsicht ermöglichen. Indem der Einzelne sich selbst prüft, die Tätigkeit der Seele auf sich selbst gerichtet ist, ist die Einheit des eigenen Lebens eine selbst hervorgebrachte und weiterhin hervorzubringende. 52 Wenn man sich derart versteht und weiterhin verstehen will, dann ist das eigene Leben in seiner Einheitlichkeit ein selbstbestimmtes Leben, dann hat man den eigenen Lebensvollzug in seiner Einheitlichkeit selbst in der Hand. Das Leben von Sokrates ist dafür beispielgebend: Die Selbsterforschung ergab einen Zusammenhang seines Lebens und einen von den einzelnen Situationen unabhängigen Begriff von sich selbst, der sich in seinem Verhalten in konkreten Situationen – im Krieg wie im öffentVgl. hier und im Folgenden: ebd., 47. Allerdings widerspreche ich der Einschätzung Wolfs, dass die Frage nach dem Gutsein der Seele nur die »zweitbeste Lösung« darstellt. Vielmehr steht hinter dieser Frage die systematische Einsicht, dass jedes Weltverhältnis seine Ursache in dem ihm zugrunde liegenden Selbstverhältnis hat und dass deshalb jenes auf dieses zurückzuführen ist. Vgl. dazu das Kapitel 5 unten. 51 Das gute Leben wird, so Ursula Wolf, nicht mehr, wie nach Auffassung der Rhetorik, im Erfolg in den wechselnden Angelegenheiten gesehen, sondern Sokrates stellt die Frage, »was die eine entscheidende arete des Menschen im Unterschied zu seinen wechselnden Beschäftigungen ist«. Wo der normative Kontext einer gesellschaftlichen Moral, der den einzelnen Tätigkeiten bisher Sinn und Zusammenhang gab, entfallen sei, verbürge die kontinuierliche Prüfung eine Konzeption des guten Lebens: »In der Tat leuchtet ein, daß das ständige Ausführen der Prüfung das zerstreute Leben einheitlich macht, ihm Kontinuität und Integrität verleiht.« (Ebd., 48 f.) 52 »Philosophisch leben bedeutet aber nicht leben auf Grund einer erreichten Erkenntnis und einer dementsprechenden Zuständlichkeit. Philosophisch leben bedeutet philosophierend leben. Es handelt sich nicht um ein ein für allemal zu erreichendes Endziel, sondern um ein fortwährendes Denken […]. Philosophisch leben heißt mit Sokrates leben. Es ist ein von einem durchgängigen Lebensrhythmus bestimmtes Leben, ein Leben von der Seele aus und für die Seele, ein Philosophischwerden des Lebens.« (B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, 1928, 14) 50
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lichen Leben, in der Versammlung der Bürger Athens (im Arginusenprozess) wie unter der Herrschaft der Dreißig Tyrannen (bei der Festnahme des Leon von Salamis), 53 als freier Bürger im Gespräch mit seinen Freunden und anderen wie als Angeklagter im Prozess – als eine in sich kohärente Art und Weise des Umgangs mit sich, den anderen und der Welt bewährte, sowohl für ihn selbst als auch für andere. 54 In der Darstellung seines Verhaltens in konkreten politischen Situationen (vgl. 32a ff.) macht Sokrates deutlich, dass er im Bewusstsein der eigenen Zuständigkeit seine Entscheidungen traf und dafür jeweils seine Gründe hatte, indem er sich allein an der Vorstellung eines gerechten Handelns und einer moralischen Ordnung orientierte: Er lehnte es ab, in seine Überlegungen die Gefahr um das eigene Leben und den eigenen Tod einzubeziehen, sondern es sei nötig, jede Handlung ausschließlich nach dem Kriterium des Gerechten oder Ungerechten zu bewerten. 55 Sokrates ist noch für einen weiteren systematisch wichtigen Aspekt der Selbsterkenntnis exemplarisch, der bei der Rede von der durchgängigen Selbstprüfung, des einheitlichen Lebensvollzugs oder des Lebens der Selbsterforschung vorausgesetzt wird: der Selbstbegriff oder die Identität desjenigen, der dieses Leben führt, als was sich Sokrates selbst versteht. Die fortwährende Selbstprüfung und mit ihr die Einheitlichkeit des eigenen Lebensvollzuges setzen einen Selbstbegriff voraus, der diese Tätigkeit ausdrücklich enthält. So versteht sich Sokrates als genau derjenige, der zunächst durch das Orakel, dann aber aus eigener Einsicht sich und andere prüft, der philosophierend sein Leben führt und nach Maßgabe ihrer Vernünftigkeit die einzelne Entscheidung und Handlung beurteilt und begründet. Genau dieses Selbstverständnis gewährt die Einheitlichkeit der Handlungen in den unterschiedlichen Situationen. Sein Selbstbegriff ist für Sokrates sein Orientierungspunkt für das eigene Handeln. Es gibt noch eine BegrünVgl. zu Sokrates’ Verhalten im Krieg 28e–29a, im Arginusenprozeß 32b f. und unter der Herrschaft der Dreißig Tyrannen 32c f. 54 Diese Selbstwahrnehmung wird durch die Wahrnehmung anderer bestätigt. Vgl. z. B. die Rede des Alkibiades über Sokrates im Symposion und die Ausführungen dazu im Kapitel 5.2.4 unten. 55 ⁄ll’ o'k ¥ke…no mnon skope…n, ˆtan pr€tt–h, pteron dfflkaia ˝dika pr€ttei ka½ ⁄ndr@ ⁄gajo‰ ˛rga kako‰ (28b7–9). Zur näheren Bestimmung des gerechten Handelns unter den Gesichtspunkten der Ordnung und des Standhaltens vgl. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 42–45. 53
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dung auf einer zweiten reflexiven Ebene: Sokrates hat nämlich seine Gründe, dass er sein Leben philosophierend vollbringt bzw. dass er nur Gründe gelten lässt, und das bedeutet: Er kann seinen Selbstbegriff wiederum selbst begründen. Dieses Selbstverständnis kann das Selbstverständnis eines sich selbst als vernünftig begreifenden Wesens genannt werden. Angesichts einer fast durchgängigen Veränderung leiblicher, seelischer und geistiger Art stellte sich im Symposion das Problem, wie wir überhaupt zu einer Identität gelangen können. Auch für diese gibt Sokrates in der Apologie ein Beispiel: Die mit dem Begriff der Einheitlichkeit des Lebensvollzugs umschriebene Beständigkeit des Selbst ist fernerhin eine selbst bewirkte, sich ihrer selbst bewusste und auch bejahte Identität: »Da antwortete ich denn mir selbst und dem Orakel, es wäre mir besser, so zu sein, wie ich war.« 56 Zusätzlich geht Sokrates’ Selbstverständnis einher mit einem Bewusstsein von seiner ausgeprägten Individualität. Obwohl er seine Tätigkeit (pr”gma) zunächst ironisch gebrochen als »nichts« Ungewöhnlicheres (perittteron, 20c6) als die Tätigkeiten der anderen bezeichnet, begreift er sich im Verlauf der Prüfung des Orakelspruches als ein von dem Gott gegebenes Beispiel (par€deigma), und zwar in der Bedeutung eines Vorbildes für die anderen: »Dieser von euch, ihr Menschen, ist der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in Wahrheit nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt.« 57 In diesem Bewusstsein seiner Individualität grenzt er sich auch ausdrücklich von den vielen ab, weil er sich durch etwas vor anderen Menschen auszeichnet. 58 Obwohl Sokrates immer wieder die Autorität des Gottes bemüht, ist in der Apologie offensichtlich, dass seine philosophische Lebensweise für ihn selbst von existenzieller Bedeutung ist: Das größte Gut für den Menschen ist »täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber
56
3Apekrin€mhn oªn ¥maut† ka½ t† crhsm† ˆti moi lusitelo… ¯sper ˛cw ˛cein. (22e4 f.) 57 « Oto@ ¢mn, ˝njrwpoi, soyðtat@ ¥stin ˆsti@ ¯sper Swkr€th@ ˛gnwken ˆti o'den@ ˝xi@ ¥sti t–» ⁄lhjeffla pr@ soyfflan ». (23b2–4) 58 tn Swkr€th diayffrein tin½ tn polln ⁄njrðpwn (35a1 f.). Diese exponierte Individualität wird Sokrates auch von anderen zugeschrieben, zumeist als seine ⁄topffla – seine Ungewöhnlichkeit, auch »Ortlosigkeit« – bezeichnet. Weitere Stellen in den Dialogen sind in Anm. 162 im Kapitel 5.2.4 unten aufgeführt. A
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gar nicht verdient gelebt zu werden«. 59 Sokrates’ Selbstbegriff beschreibt nicht nur eine Realität oder dient als Begründung von vergangenen Entscheidungen und Handlungen, sondern enthält ebenso ideelle Momente, denen Sokrates jetzt und – als Vorgriff auf ein mögliches Gelingen – zukünftig entsprechen will. Das setzt allerdings die Ernsthaftigkeit dessen voraus, der sich als genau dieser und kein anderer versteht und auch in Zukunft verstehen will. Die normativen Aspekte des Selbstbegriffs werden erst obsolet, falls sich ein besserer lgo@ finden ließe (Cri. 46b4–6), und sie gewinnen an Relevanz, wenn nicht einzelne Handlungen, sondern die eigene Lebensweise infrage gestellt ist. Deshalb hält es Sokrates auch lieber mit Prometheus (PromhjeÐ@), dem Vorausdenker, als mit Epimetheus, weil er auf sein »ganzes Leben im voraus Bedacht nehmen möchte«. 60 Die mit aller Ernsthaftigkeit vertretene Einsicht, dass ein Leben ohne Selbstprüfung kein lebenswertes Leben sei, ist für Sokrates der ausschlaggebende Grund gewesen, diese für ihn so gefahrvolle Lebensweise zu leben, im Prozess andere mögliche Strafen als den Tod auszuschlagen und letztlich sich dem Tod nicht zu entziehen, sondern diesen auf sich zu nehmen. Die Entscheidung zwischen bloßer Selbsterhaltung und Sorge um die eigene Seele, 61 zwischen einer bloßen Quantität des Lebens und der individuellen Qualität der eigenen Existenz 62 ist bereits getroffen, bevor sie überhaupt gestellt wird. Die Akzeptanz des Exils oder des Berufsverbotes wäre für Sokrates keineswegs nur Ungehorsam gegenüber dem Gott und das »Zusammenbrechen einer Vorbildfunktion« 63 gewesen, sondern vielmehr eine Verleugnung seiner selbst: »Er weiß, daß ihm der k€sth@ mffra@ per½ ⁄ret»@ to±@ lgou@ poie…sjai ka½ tn ˝llwn per½ n ¢me…@ ¥mo‰ ⁄koÐete dialegomffnou ka½ ¥mautn ka½ ˝llou@ ¥xet€zonto@, ¡ dþ ⁄nexfftasto@ bfflo@ o' biwt@ ⁄njrðp†w (38a3–6). 60 promhjoÐmeno@ ¢pþr to‰ bfflou to‰ ¥mauto‰ pant@ (Prt. 361d3 f.). Vgl. zu 361c7–d6 den Kommentar von B. Manuwald, Platon, Protagoras, Werke VI 2, 1999, 448: »Obwohl entsprechend dem Mythos Epimetheus als Verursacher und die Menschen als Opfer erscheinen, sind sie es eigentlich, die es in der Hand haben, nicht selbst wie Epimetheus [als der ›Nachbedacht‹] zu handeln. Das wird an der Bevorzugung des Prometheus durch Sokrates deutlich. Das vorausschauende Vorbedenken des ›Vorbedacht‹ (Promhje±@ … promhjoÐmeno@) ist es auch, was Sokrates auszeichnet (316c5) und was er sich in den lebensentscheidenden ethischen Fragen zum Vorbild nimmt.« 61 Vgl. dazu P. M. Steiner, Psyche bei Platon, 1992, 14 f. Zu dieser existenziellen Unterscheidung vgl. die ausführlichere Interpretation im Kapitel 4.2.4 unten. 62 Zur Lebensqualität, nach welcher in der sokratischen Praxis gefragt wird, vgl. M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, 2003, 10 ff. 63 Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 50 f. 59
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Tod bevorsteht. Weicht er aus, so verzichtet er auf seine Aufgabe und ihre Bewährung. Darum also handelt es sich hier: um die Behauptung der Existenz.« 64 Auf diese müsste er im anderen Fall verzichten, und das hieße – auf sich selbst. »Aber was wäre Sokrates, wenn er nicht seines Weges ginge?« 65 Nicht nur für uns, insbesondere – für sich selbst.
3.2 Selbsterkenntnis im Auge des anderen – das Spiegelgleichnis im Alkibiades I Zur Erinnerung: Nachdem Sokrates im Gespräch mit Alkibiades dessen bisheriges Selbstverständnis erschüttert hatte, musste dieser ihm zustimmen, dass er sich zunächst um sich selbst sorgen müsse. Daraufhin hatte Sokrates die Aufmerksamkeit auf das Worauf der eigenen Sorge gerichtet. Wie wir gesehen haben, gilt die Sorge um sich selbst nicht dem uns Äußerlichen, auch nicht unserem Leib, sondern sie gilt der eigenen Seele als dem Aktivitätsprinzip. Alkibiades fragt nun zu Recht, »auf welche Weise wir denn nun für uns selbst sollen Sorge tragen (¥pimelhje…men mn a'tn)« (132b5). Sokrates erinnert zunächst an das Ergebnis der bisherigen Untersuchung, dass wir für die Seele zu sorgen haben (vuc»@ ¥pimelhtffon, 132c1), und erläutert die Selbstsorge durch die Deutung des delphischen Spruches: gnji sautn. (»Erkenne dich selbst!«), als Selbsterkenntnis 66 und diese ausgehend von der Bestimmung der Seele als dem Selbst des Menschen als Erkenntnis der Seele. Im Unterschied zur Apologie wird in diesem Dialog genauer nach der Art und Weise der Selbsterkenntnis gefragt. Sokrates kennt zur Veranschaulichung nicht viele, genau genommen nur ein Beispiel: »Wenn jemand unserm Auge wie einem Menschen ( mn t† mmati ¯sper ⁄njrðp†w) den Rat gäbe und sagte: Besieh dich selbst (« 3Idþ sautn »), wie würden wir doch glauben, P. Friedländer, Platon, Bd. 2, 1957, 155. Weil die sokratische Existenz nicht das bloße Faktum des Daseins, vielmehr die Beantwortung der essentiellen Frage: wer man ist, betrifft und mit dem Ernst, nach diesem sich daraus ergebenden Selbstbegriff zu leben, verbunden ist, gelangt Sokrates zu einem existenziellen Essentialismus (V. Gerhardt, Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, 2003, 136 ff. und 143). 65 K. Reinhardt, Platons Mythen, 1960, 225. 66 Deshalb wird der delphische Spruch im Dialog mehrfach genannt: 124b1 f., 129a2 f., hier 132c9 ff. 64
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daß er das fordere? Nicht daß es dahin schauen sollte, wohinein das Auge schauend sich selbst sehen würde?« (132d5–8) Die Antwort ist naheliegend: Weil sich ein Auge nicht selbst zu sehen vermag, muss es »in Spiegel« (e§@ k€toptra, 132e2) schauen, um sich selbst sehen zu können. Nun ist das Auge selbst ein solcher Spiegel, zumindest die Pupille als dasjenige, mit dem wir eigentlich sehen. Denn schaut man in die Pupille eines anderen Auges, sieht man sein eigenes Gesicht. Wenn also ein Auge sich selbst sehen will, muss es in ein anderes Auge sehen, »und zwar in den Teil desselben, welchem die Tugend des Auges ( ¤yjalmo‰ ⁄retffi) eigentlich einwohnt. Und dies ist doch die Pupille ( vi@)?« (133b3–5) In Analogie zum Selbstsehen des Auges überträgt Sokrates im nächsten Schritt dieses Bild auf die Selbsterkenntnis der Seele: »Muß nun etwa ebenso, lieber Alkibiades, auch die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen? Und am meisten in den Teil derselben, welchem die Tugend der Seele einwohnt, die Weisheit, und in irgend etwas anderes, dem dieses ähnlich ist?« 67 Denn wenn man in diesen Teil der Seele schaut, in dem sich Wissen (t e§dffnai) und Vernunft (t yrone…n) befinden, dem Göttlichen vergleichbar, dann würde man auch sich selbst am besten erkennen (vgl. 133c2–6). Bei dieser metaphorischen Beschreibung der Selbsterkenntnis ist offensichtlich, dass sie durch die Analogie mit dem Sehen und damit durch den Bezug auf den Bereich des Optischen als ein reflexiver Akt aufgefasst wird. 68 Entscheidend ist allerdings, dass Platon durch das par€deigma des Auges, welches sich nur im Auge des anderen spiegelnd zu sehen vermag, unmissverständlich von vornherein einen direkten reflexiven Selbstbezug bei der Selbsterkenntnis ausschließt. Das wird zusätzlich durch eine eingangs gemachte Bemerkung von Sokrates betont, indem andere, eventuell mögliche Beispiele, welche diesen Typus von Selbstbeziehung nahelegen könnten, verworfen werden: »Und es mag wohl nicht recht viel Beispiele dazu geben, sondern am Gesicht allein (katÞ t¼n vin mnon).« (132d2 f.) Was uns hier vorliegt, ist eine indirekte bzw. vermittelte Selbstbeziehung. Diese Art von Reflexion ist uns bereits vom Selbstbezug des Selbst bekannt: Da 67
9Ar’ oªn, yfflle 3Alkibi€dh, ka½ vuc¼ e§ mffllei gnðsesjai a¢tffin, e§@ vuc¼n a't–» bleptffon ka½ m€list’ e§@ to‰ton a't»@ tn tpon ¥n † ¥ggfflgnetai vuc»@ ⁄retffi, soyffla, ka½ e§@ ˝llo † to‰to tugc€nei ¡mo…on n; (133b7–10) 68 Vgl. dazu G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1988, 59.
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die Wirklichkeit des Selbst nur in seiner Aktivität bestehen konnte, lag auch bei diesem Selbstbezug keine direkt, sondern eine indirekt bzw. vermittelt reflexive Struktur vor. Damit ist nicht gesagt, dass Platon der Typ einer reinen unmittelbaren Selbstbeziehung nicht bekannt gewesen wäre, im Gegenteil: Ausgehend von der Frage nach einer Bestimmung der Besonnenheit gelangen die Gesprächspartner im Dialog Charmides in mehreren Schritten zu dem Problem der Erkenntnis des Selbst, d. h. einer Erkenntnis seiner selbst (¥pistffimh auto‰) im Sinne des delphischen Spruches, und im Anschluss daran zur Bestimmung der Selbsterkenntnis als Erkenntnis ihrer selbst bzw. als Erkenntnis der Erkenntnis (¥pistffimh aut»@ bzw. ¥pistffimh ¥pistffimh@), die den Begriff der Selbsterkenntnis im reflexiven Sinn der Selbstbezüglichkeit der Erkenntnis auslegt. Der darauffolgende zentrale Teil des Dialoges bildet in der Forschung die Textgrundlage für die Diskussion, inwiefern Platon den neuzeitlichen Begriff des Selbstbewusstseins in der Weise einer reinen und unmittelbaren Reflexivität vorweggenommen hat. 69 Im Dialog selbst wird die Möglichkeit eines reinen selbstbezüglichen Wissens bzw. einer ausschließlichen Selbstbezogenheit des Denkens mit den aus ihr hervorgehenden Schwierigkeiten durchgespielt und als unzulässige Vereinseitigung zurückgewiesen. 70 Insofern bestätigt der Charmides die vorliegende Interpretation der anderen Dialoge. Das reflexive Medium des Spiegels benutzt Platon auch in anderen Dialogen, insbesondere wenn er unbewusst vermittelte SelbstVgl. dazu K. Gloy, Platons Theorie der ¥pistffimh aut»@ im Charmides, 1986; B. Zehnpfennig, Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, 1987. Zum Problem des Selbstbewusstseins bei den Griechen im Allgemeinen und bei Platon im Besonderen vgl. ebenso K. Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken, 1962, 103 ff. und 250 ff.; erneut in: ders., Subjektivität und Selbstbewußtsein, 1997; H.-G. Gadamer, Vorgestalten der Reflexion (1966), GW VI; E. Martens, Das selbstbezügliche Wissen, 1973, bes. 86 ff.; K. Gloy, Bewußtseinstheorien, 1998, 106–144; A. Schmitt, Zur Erkenntnistheorie bei Platon und Descartes, 1989 und seine die Philosophie insgesamt umfassende Studie: Die Moderne und Platon, 2003. 70 Es ist natürlich prinzipiell zu fragen, ob die Vermitteltheit der praktischen Selbstbeziehung das infrage gestellte Phänomen nicht zutreffender und angemessener beschreibt als bestimmte Konzeptionen eines direkten Selbstbezuges des Idealismus; so auch der Intention nach die These von Barbara Zehnpfennig: Im platonischen Charmides werden »Grundstrukturen der in Fichte repräsentierten neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie antizipiert und widerlegt« (Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte, 1987, 14). 69
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beziehungen verdeutlichen will. 71 Im Gegensatz dazu ist die Passage im Alkibiades I eine der wenigen Stellen in den Dialogen, wo diese reflexive Struktur vom Typus der vermittelten Selbstbeziehung als solche erörtert wird, indem Platon sie zur expliziten Beschreibung eines Phänomens bzw. zur Erklärung eines Begriffs einsetzt. Grund genug, sich die Struktur, die der Spiegelmetapher zugrunde liegt, mit Blick auf die Interpretation der platonischen Selbsterkenntnis genauer anzusehen: Die Metapher des Spiegels 72 steht für eine Struktur, die als eine strukturelle Einheit zweier nicht gegensätzlicher, vielmehr komplementärer Momente, z. B. Ich und der andere, bezeichnet werden kann. Die Verklammerung von diesen zwei sich unterscheidenden Momenten führt nicht zu einer Synthese, sondern lässt innerhalb der strukturellen Einheit die Differenz zwischen beiden bestehen. Die übergreifende Wechselbeziehung zwischen den zugleich zusammengehörenden und sich dennoch unterscheidenden Momenten lässt sich bereits anhand des eigenen Spiegelbildes annähernd verdeutlichen: Wie ich mich in meinem mir gegenüberstehenden alter ego spiegele, so spiegelt dieses sich in mir. Dieses wechselseitige Spiegeln ist eine von zwei Seiten ausgehende Gerichtetheit, die ein und demselben Prozess zugehört, sodass das eine nicht ohne das andere sein kann, nur außerhalb dieser Beziehung, dann aber nicht mehr in dieser durch den Zusammenhang gegebenen Wirklichkeit. Nimmt man die Spiegelmetapher ernst, dann sind wir uns nie vollständig in der Weise der Selbstdurchsichtigkeit gegeben. Weil sich das Selbst im anderen und ebenso der andere im Selbst spiegelt, beide aufgrund dieser Struktur aufeinander bezogen sind, entzieht sich der Selbsterkenntnis gleichsam ein ihr unverfügbarer »Rest« – im Spiegel des anderen Auges, in der Pupille, erscheint ja auch »nur« ein Abbild des Hineinschauenden (e—dwlon n ti to‰ ¥mblffponto@, 133a2 f.). Selbsterkenntnis kann nie in einem absoluten Sinn gelingen, weil sie »Es ist durchaus nicht nötig, daß demjenigen, der zu sich selbst in einer durch den Spiegel symbolisierten Relation steht, die Eigenart dieser Relation auch klar ist.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 317) Vgl. den Zustand des Geliebten, »denn daß er wie in einem Spiegel in dem Liebenden sich selbst beschaut, weiß er nicht« (¯sper d’ ¥n katptr†w ¥n t† ¥rnti autn ¡rn lfflhjen, Phdr. 255d5 f.), und es sind auch in diesem Dialog die Augen, »wo der Weg in die Seele geht« (–! pffyuken ¥p½ t¼n vuc¼n §ffnai, 255c7 f.). Zur Parallele der Spiegelmetapher im Alkibiades I und im Phaidros vgl. P. Friedländer, Der Große Alcibiades, 1921, 44 f. 72 Die Verwendung der Spiegelmetapher hat eine lange Tradition. Vgl. dazu R. Konersmann, Artikel Spiegel, 1995. 71
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– jeweils in ihrer Bezogenheit auf den anderen – auch von dessen konkreter Individualität abhängig ist. Vor dem Hintergrund der skizzierten Struktur fällt im Gespräch von Sokrates und Alkibiades auf, dass die in der Spiegelmetapher auch implizierte Möglichkeit des eigenen Spiegelbildes nicht aufgenommen wird, obwohl Alkibiades auf die Frage, in welchen Dingen wir das Auge und uns selbst sehen können, antwortet: »in Spiegeln und dergleichen« (132e2 f.) – und damit diese Möglichkeit nahelegt. Und es wäre zudem viel einfacher, sein Auge in einem realen Spiegel selbst zu betrachten als im Auge eines anderen! Denn auch dafür ließe sich argumentieren, indem man das eigene Spiegelbild im übertragenen Sinn als mögliche Position des anderen auffasst, dessen Positionalität man nun zugleich selbst einzunehmen hat. Diese »Zweiheit in Einem« ist Platon anderenorts wohl bekannt: Denn das Denken ist für Platon nichts anderes als ein Dialog, den die Seele mit sich selbst führt, als ein ohne Stimme geführtes, sich selbst fragendes und antwortendes Gespräch mit sich selbst. 73 Die von mir eingenommene Positionalität des anderen vermag natürlich den anderen als solchen nur annähernd zu ersetzen, weil der andere für mich eine irreduzible Ergänzung meines Horizontes darstellt, und zwar sowohl im Widerspruch als auch in der Bestätigung. In Bezug auf den anderen als die notwendige Bedingung für Selbsterkenntnis hat der Dialog mit einem leibhaftig anderen den Vorrang vor einem Gespräch mit mir selbst, ohne das dieses eine andere Struktur als jener hat. 74 Sokrates nutzt also diese in der Antwort von Alkibiades angelegte Möglichkeit des Gespräches mit sich selbst bei der Erläuterung der Selbsterkenntnis anhand des Spiegelgleichnisses nicht. Der Grund dafür ist bekannt: Diese Möglichkeit würde als ein Sonderfall den anderen als die notwendige Bedingung von Selbsterkenntnis nicht so offensichtlich machen können wie die Metapher des Spiegels, sondern dazu bedürfte es erst genauer Erläuterungen. Die Bedingung, die Selbsterkenntnis erst konstituiert, so können wir dem Spiegelgleichnis entnehmen, liegt in der Bezogenheit eines Individuums auf ein anderes seiner selbst. 75 Wie sich das Auge selbst nur im Auge eines anderen sieht, so erkennt sich ein Selbst nur im Vgl. Tht. 189e6–190a6 und Sph. 263e3–5. Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 4.2.3 unten, bes. in Anm. 126. 75 Auf diese unverzichtbare Beziehung einer jeden Erkenntnis und Selbsterkenntnis auf ein anderes Selbst hat Volker Gerhardt mehrfach hingewiesen (z. B. Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, 2003, 140 f.; Wer liebt wen in Platons Symposion?, 1997, 239 f.). 73 74
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Selbst eines anderen! Selbsterkenntnis bedeutet bei Platon gerade nicht, dass sich ein individuelles Selbst durch Introspektion auf sich zurückbezieht, sondern um zu erkennen, wer ich bin und als was ich mich verstehe, bedarf es des Bezuges auf den anderen und damit auf die Welt. Also nur im tatsächlichen Umgang mit einem anderen gelange ich zu einem reflektierten Selbstverständnis und einer mir bewussten und von mir gewollten Identität. Die konstitutive Rolle des anderen im Prozess der Selbsterkenntnis war schon in der Apologie offensichtlich: Sokrates verstand die Bedeutung des Orakels, dass er der Weiseste sei, erst durch den Vergleich und die Prüfung der anderen. Mit dem Verstehen des Orakels hatte er aber zugleich sich selbst erkannt. Das Angewiesensein auf den je anderen im Prozess der Erkenntnis seiner selbst ist auch der Grund, weshalb Sokrates in der bereits zitierten Passage im Phaidros behauptet, nur die Menschen in der Stadt könnten ihm etwas lehren (230d4–6). Selbsterkenntnis als reflexiver Bezug auf mich selbst ist, soll sie gelingen, nach platonischem Verständnis untrennbar verbunden mit dem Bezug auf einen anderen meiner selbst. Was soll nun genau unter der Erkenntnis seiner selbst im Angesicht des anderen verstanden werden? Die Antwort darauf wird nicht nur durch den Dialog selbst nahegelegt, sondern auch innerhalb des Alkibiades vorgeführt: Wir müssen einen Dialog mit einem anderen Selbst führen. Neben Verweisen im Text, in denen Sokrates die Notwendigkeit des Gespräches betont, 76 liegt ein eindeutiger Bezug auf den Dialog am Ende des Spiegelgleichnisses vor: Die Seele soll in den Teil der anderen Seele blicken, »worin das Wissen (t e§dffnai) und die Vernunft (yrone…n) sich findet« (133c2). Und diese lassen sich wiederum nur im gemeinsamen Philosophieren finden. Als die Vollzugsform der Selbsterkenntnis wiederholt der Dialog auf einer anderen Ebene das Spiegelverhältnis der Metapher – im wechselseitigen Spiegeln und Bezogensein von Rede und Gegenrede. 77 Dass die Rede auch wirklich Auf die Frage Alkibiades’ nach der wirklichen Sorge um sich selbst antwortet Sokrates: »Beantworten, was gefragt wird, o Alkibiades.« (3Apokrfflnesjai tÞ ¥rwtðmena, 3Alkibi€dh, 127e4) 77 Michel Foucault hebt innerhalb seiner Analyse verschiedener »Technologien des Selbst« in der Antike besonders die »Kultivierung des Dialogs« bei Platon hervor – im Gegensatz zur »Kultur des Schweigens« und der »Kunst des Zuhörens« in den philosophischen Bewegungen der Stoa: »Bei Platon sind die Selbstbetrachtung und die Sorge um sich selbst durch den Dialog dialektisch aufeinander bezogen. Jetzt, in der Kaiserzeit, haben wir auf der einen Seite die Verpflichtung, der Wahrheit zuzuhören, und auf der anderen Seite das Gebot, auf das Selbst zu blicken und zu hören, um die darin verkör76
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ein Ausdruck der Seele ist, setzt den bereits besprochenen Zusammenhang zwischen gebrauchtem lgo@ und existenzieller Orientierung voraus, der auch im Alkibiades eigens genannt ist: »Nämlich mit der Torheit hausest du, und zwar mit der schimpflichsten, wie die Rede dich beschuldigt und du dich selbst.« 78 Dieses »Identifikationsmuster« 79 ermöglicht, dass das philosophische Gespräch als Rechenschaftsgabe über sich selbst als praktische Selbsterkenntnis in der Bedeutung der Sorge um sich selbst aufgefasst werden kann. Deshalb kann Sokrates auch behaupten, dass sie sich nach dem gemeinsamen Gespräch beide besser befinden werden (127e6, vgl. 124c1–4). 80 Nicht zu übersehen ist, dass Platon bei der Selbsterkenntnis den Akzent auf Wissen, Weisheit und Vernunft, in denen die eigentliche Tugend der Seele bestehe, und somit auf ein Allgemeines setzt. Gernot Böhme hat daraus mit kritischem Unterton den Schluss gezogen, »daß es in der Selbstsorge nicht so sehr um die individuelle Seele geht, wie es nach unserem christlich vorgeprägten Verständnis von Seele und Selbst sich nahelegen würde«. 81 Diese Formulierung suggeriert einen Gegensatz zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen, der dem Verstehen Platons nicht gerecht wird, weil Platon weder nur das eine noch ausschließlich das andere im Blick hat, sondern beides zugleich, perte Wahrheit zu entdecken. Der Unterschied zwischen beiden Positionen ist einer der deutlichsten Hinweise auf das Verschwinden der dialektischen Struktur.« (Technologien des Selbst, 1993, 42 f.) 78 ⁄majffla gÞr sunoike…@, bffltiste, t–» ¥sc€t–h, £@ ¡ lgo@ sou kathgore… ka½ s± sauto‰ (118b6 f.). 79 Vgl. dazu R. Enskat, Authentisches Wissen, 1998, 110 ff. und die Ausführungen im Kapitel 1.3 oben. 80 Es ist natürlich auch das Gegenteil möglich, dass durch von Reden vermittelte Kenntnisse ein negativer Einfluss auf die Seele ausgeübt wird, weil man, das Wissen einmal aufgenommen, sich nicht ohne Weiteres von ihm distanzieren kann. So warnt Sokrates den jungen Hippokrates, zum Sophisten Protagoras in die Lehre zu gehen, wenn er vorher nicht wisse, was ein Sophist ist und ob er gute oder schlechte Erkenntnisse lehre. Denn im Gegensatz zum Kauf von Nahrungsmitteln, die man vor dem Verzehr zu Hause noch prüfen kann, gibt man beim Kauf von Wissen seine Seele preis (¢pojffiswn t¼n vucffin, Prt. 313a2): »Kenntnisse aber kannst du nicht in einem anderen Gefäß davontragen, sondern hast du den Preis bezahlt, so mußt du sie, in deine Seele selbst aufnehmend, lernen und hast deinen Schaden oder Vorteil schon weg, wenn du gehst.« (Majffimata dþ o'k ˛stin ¥n ˝ll†w ⁄ggeffl†w ⁄penegke…n, ⁄ll’ ⁄n€gkh, katajffnta t¼n timffin, t m€jhma ¥n a't–» t–» vuc–» labnta ka½ majnta ⁄piffnai beblammffnon “yelhmffnon. 314b1–4) 81 G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1988, 61. A
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indem in der Selbsterkenntnis zwei Relationen gleichzeitig vorliegen: zwischen zwei Individuen und zwischen diesen auf ein für beide gleich angenommenes Allgemeines. 82 Weil die Notwendigkeit des Bezuges auf ein Allgemeines bereits im Zusammenhang mit dem Symposion behandelt wurde und uns überdies noch genauer beschäftigen wird, wie die Rede von der Göttlichkeit des Teils der Seele, in dem sich Wissen und Vernunft befinden, sinnvoll verstanden werden kann, soll jetzt dem Aspekt der Individualität in der Selbsterkenntnis nach platonischem Verständnis unsere Aufmerksamkeit gelten. Wie die Metapher des Spiegels anschaulich ins Bild setzt, bleibt die Selbsterkenntnis an die Sinnlichkeit und Leiblichkeit des anderen gebunden. Eine begriffliche Erklärung hätte gegenüber der Metapher den Nachteil, dass jene die sinnliche und erotische Komponente der Selbsterkenntnis nicht als solche vermitteln könnte. Und wie sich das Auge nur im Auge eines anderen spiegeln kann, so vermag ich mich selbst auch nur im individuellen Gegenüber des anderen zu erkennen. Dieses Gegenüber muss ein Individuum sein, weil eine Menge unmöglich philosophisch sein kann, 83 denn nur der Einzelne kann philosophieren. Darüber hinaus müssen es jeweils unverwechselbare Individualitäten sein: Wie aus dem Symposion bekannt, wird sich das Liebesbegehren desjenigen, der nach Unsterblichkeit strebt, auf denjenigen richten, dessen persönliche körperliche und geistige Anlagen vielversprechend sind. Ebenso gilt das Interesse von Sokrates, wie er im Dialog Theaitetos von sich selbst sagt, nur den unverwechselbaren individuellen Begabungen, die sich als geistig »Schwangere« für seine »Hebammenkunst« eignen, die anderen werden durch ihn an andere Lehrer, die deren Anlagen entsprechen, vermittelt (148e ff.). Bedenkt man, wie nah der eine dem anderen sein muss, damit sich die Augen überhaupt wechselseitig spiegeln können, gelangt die Selbsterkenntnis in den Bereich von erotischer Beziehung und Freundschaft – von IndiDie Möglichkeit einer gleichzeitig zweifachen Relation räumt letztlich auch Gernot Böhme ein: »Bestimmte sich bei Sokrates Selbstsorge noch wesentlich durch Kommunikation und durch den Bezug auf Wissen als ein Allgemeines, so konnte sie naturgemäß später zu einer Verstärkung individualistischer und subjektivistischer Tendenzen werden. Diese Möglichkeit ist im Gespräch mit Alkibiades schon vorgezeichnet. Da Sokrates nicht auf die Schönheit, den Ruhm, den Reichtum des Alkibiades sieht, wie dessen andere Liebhaber, sondern ihn selbst meint, stellt er sich als der wahre Liebhaber des Alkibiades heraus. Er liebt nämlich den Alkibiades selbst.« (Ebd., 63) 83 Filsoyon mþn ˝ra, Æn d’ ¥gð, pl»jo@ ⁄dÐnaton e nai. (R. 494a4) 82
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viduen, 84 sodass sich mit Platon sagen lässt – Philosophie ist Streben nach Erkenntnis und Weisheit von Liebe und Zuneigung. 85 Neben der für die Selbsterkenntnis konstitutiven Bedingung des anderen gibt es weitere Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit der Prozess der Selbsterkenntnis Beginn und Dauer hat, und die denjenigen betreffen, der sich selbst erkennen will. Bereits zu Beginn des Kapitels 2.1 wurde auf die für Sokrates und Alkibiades besondere und für den Dialog wesentliche Situation des Gespräches hingewiesen: So hatte bisher Sokrates’ daimonische Stimme ihn abgehalten, Alkibiades anzusprechen; Alkibiades, in einem ganz bestimmten Alter, verlassen von seinen bisherigen Liebhabern, steht kurz vor seinem Eintritt in das politische Geschehen. Bemerkenswert ist nicht nur die Tatsache, dass die konkreten Umstände so genau wiedergegeben werden, sondern dass Platon durch eine mehrfache Wiederholung offensichtlich der Situation im Ganzen eine Bedeutung beimisst. 86 Eine besondere Rolle spielt dabei der Zeitpunkt, der, wenn er der Sache und der SituaVgl. dazu V. Gerhardt, Wer liebt wen in Platons Symposion?, 1997. Gerhardt hat darauf aufmerksam gemacht, dass zu diesem Blick in das Auge des Gegenüber entweder Liebe oder Mut gehöre, im Gorgias und anderen Dialogen werde gezeigt, wie riskant das wahrheitsorientierte Gespräch mit dem anderen Menschen sei, angesichts des Prozesses gegen Sokrates sogar mit tödlichem Ausgang (Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, 2003, 141). Auch bei Aristoteles ist der Freund das zweite Ich: »der Freund ist ja ein zweites Ich« (˛sti gÞr ¡ yffllo@ ˝llo@ a't@, EN IX 1166a31 f.), und die Eigenart des Freundes bestehe darin, »ein zweites Ich zu sein« ( tero@ e nai ¥gð, MM II 1213a11). Ebenso verwendet Aristoteles das Gleichnis des Spiegels für die Selbsterkenntnis: »Da es nun einerseits die schwerste Aufgabe ist […], sein eigenes Wesen zu erkennen (t gnnai a¢tn), andererseits aber auch die angenehmste […], und wir nun aus uns selbst heraus nicht zu einem Bilde von uns selbst kommen können […]; wie wir nun, wenn wir unser eigenes Gesicht sehen wollen, durch einen Blick in den Spiegel (e§@ t k€toptron) den Anblick zustande bringen, so müssen wir auch, wenn wir unser eigenes Wesen erkennen wollen, auf den Freund (e§@ tn yffllon) blicken: dann kommen wir zur Erkenntnis. Denn es ist ja, wie wir sagen, der Freund ein zweites Ich (¡ yffllo@ tero@ ¥gð).« (II 1213a13–24) Zur Verwendung des Spiegels vgl. H.-G. Gadamer, Freundschaft und Selbstliebe. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik (1985), GW VII, 404 f. 85 Die Möglichkeit einer zweifachen Übersetzung von yilosoyffla fand ich in einem thematisch völlig anderen Zusammenhang bei Hermann Josef Schmidt: »Ich übersetze ›Philosophie‹ zumindest doppelt: als Liebe zur Weisheit bzw. Streben nach Erkenntnis (hier bezieht sich ›philein‹ auf ›sophia‹) und als Wissenschaft bzw. Weisheit von Liebe, Freundschaft und Zuneigung (hier bezieht sich ›sophia‹ so auf ›philia‹, wie sie sich in ›Anthroposophie‹ auf den Menschen und in ›Theosophie‹ auf Gott zu beziehen geglaubt wird).« (Nietzsche absconditus, Teil 1/2, 1991, 89, Anm. 22) 86 Das daimnion des Sokrates wird 103a f., 105d ff. und 124c9 f. erwähnt, Alkibiades’ kurz bevorstehender Eintritt in die Politik 105b1 und 106c4 f. Sokrates’ daimnion ist 84
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tion angemessen war, von den Griechen mit einem eigenen Begriff – kair@ – bezeichnet wurde. Bis zu dem im Dialog dramaturgisch inszenierten Gesprächsbeginn war dieser Zeitpunkt noch nicht gegeben, Sokrates wurde bis dahin von seinem daimnion zurückgehalten, Alkibiades anzusprechen. Vergleichbares findet sich in der bereits angeführten Stelle aus dem Theaitetos: Auch dort wird Sokrates von seiner inneren daimonischen Stimme abgehalten, sich um diejenigen zu bemühen, um deren sich der Aufwand nicht lohnt (151a3 f.). In beiden Fällen ist der Grund für diese Mahnung und die durch sie von Sokrates befolgte Abstandnahme, dass das Gespräch nicht vergeblich, sondern zumindest potentiell Erfolg versprechend sein soll. Eine Garantie für eine Änderung der Gesprächspartner von Sokrates ist damit keineswegs gegeben, wie das Beispiel Alkibiades trotz seiner im Dialog dargestellten Wandlung in der realen Geschichte gezeigt hat. Zusätzlich bedarf es eines Anstoßes für den Beginn von Selbsterkenntnis: Sokrates wird durch den Orakelspruch provoziert, im Vergleich mit anderen das Orakel zu prüfen und so sich selbst zu erkennen, und Alkibiades wird durch Sokrates mit sich selbst konfrontiert. Dass man für die Frage nach dem guten Leben, und zwar sowohl in ihrer reflektierten Form wie auch in ihrer existenziellen Bedeutung, überhaupt bereit ist, sie für sich zu stellen und zu beantworten und auch die Offenheit der Frage zu ertragen, setzt voraus, dass der Schein der unmittelbaren Selbstverhältnisse zerstört und damit einhergehend die Erfahrung einer existenziellen Verunsicherung gemacht wird, aus welcher heraus in der Sorge um sich selbst das Interesse für die eigene Selbsterkenntnis entsteht. Im Alkibiades I hat es Sokrates vermocht, dass Alkibiades fragt: »Was muß nun aber tun, wer es innegeworden ist, o Sokrates?« 87 Außerdem spielt auch das Lebensalter eine Rolle für die Selbsterkenntnis. Die sokratische Frage nach dem guten Leben »bleibt belanglos für alles Leben, das nicht in der gleichen Fraglichkeit steht – für das seiner selbst gewisse und in sich zur Ruhe gekommene Leben«. 88 Helmut Kuhn, der auf die Grenzen aufmerksam macht, welche das Lebensalter der Ansprechbarkeit für die sokratische Frage setzt, ein umstrittenes Phänomen in der Sokrates- und Platon-Forschung. Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 4.2.3 mit der Anm. 119 unten. 87 Tffl oªn tn a§sjmenon cr¼ poie…n, Sðkrate@; (127e3) 88 Vgl. hier und im Folgenden: H. Kuhn, Sokrates, 1934, 20 f. mit Verweis auf Alc. I 110b.
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verweist auf den greisen Kephalos zu Beginn der Politeia. Dieser habe sein Leben bereits gelebt. Als die durch Sokrates ins Gespräch gebrachte Untersuchung nach der Gerechtigkeit beginnt, verlässt er den Kreis der am Gespräch teilnehmenden Personen. Platons Dialogregie setze damit in Szene, dass Kephalos »die Lebensaufgabe, die hier gestellt wird, für sich schon gelöst [hat]. So ist seine Lage in aller Gegensätzlichkeit ähnlich der des Knöchel spielenden Knaben im Alkibiades I. Der streitet sich mit seinen Kameraden und ist dabei gewiß, daß dieser recht, jener unrecht hat: ihm ist die Aufgabe noch nicht gestellt.« Die Frage nach dem guten Leben sei, wenn sie ernsthaft gestellt und beantwortet werden will, durch das Lebensalter zweifach begrenzt: durch das »noch nicht« des Kindes und das »nicht mehr« des Alters. 89 Diese Voraussetzungen von Selbsterkenntnis sind deshalb ausführlich besprochen worden, weil Selbsterkenntnis nach platonischem Verständnis gerade nicht in einem theoretischen Erkenntnisprozess besteht, in dem der Erkennende als solcher keine Rolle spielt, sondern sie ist an die jeweils sich selbst erkennende Person gebunden, eine Person mit einem je ganz bestimmten Vorverständnis von sich selbst und von der Welt. Dieser Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und demjenigen, der sich selbst erkennt, wird an weiteren Aspekten ersichtlich: Für Platon sind zwei nicht zu trennende Bedeutungen des Begriffes Selbsterkenntnis im Dialog miteinander verbunden – die Erkenntnis des eigenen Selbst und die Selbsterkenntnis als die eigene selbstständige Erkenntnis. Wenn auch Alkibiades des zu seiner Selbsterkenntnis notwendigen »Spiegels« Sokrates bedarf, so muss es seine Einsicht über sich selbst sein, will sie dem Anspruch der Selbsterkenntnis genügen. Das versteht Alkibiades nicht sofort: Als sich sein vermeintliches Wissen von Recht und Unrecht herausgestellt hat, will es Alkibiades akzeptieren, weil angeblich Sokrates es behauptet hat, und er begeht damit den gleichen Fehler wie bisher – die ungeprüfte Übernahme von Meinun89 Beide Begrenzungen werden auch im Alkibiades I genannt: »Solange du nun jünger (newtffr†w) und ehe du so großer Hoffnung voll warest [gemeint sind Alkibiades’ auf die gesamte Welt ausgreifende politische Pläne], ließ mich, wie mich dünkt, der Gott nicht mit dir reden, damit ich nicht vergeblich redete. Nun aber hat er es verstattet, denn nun möchtest du mich wohl hören.« (105e5–106a1) »Denn hättest du, daß es so mit dir steht [daß Alkibiades seine Reden nicht zu begründen vermag], im fünfzigsten Jahre (penthkontaetffi@) gemerkt, so wäre es dir wohl schwer geworden, noch Sorgfalt auf dich zu wenden; so aber ist dein Alter eben das rechte (¨n ˛cei@ likfflan), worin man es innewerden muß.« (127d9–e2)
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gen anderer (vgl. 112e ff.). Sokrates muss einige Mühe aufwenden, um Alkibiades klarzumachen, dass er selbst es ist, der zu dieser Einsicht von sich selbst gelangt ist: »von dir magst du das wohl, nicht von mir gehört haben, und ich bin es nicht, der dies behauptet, sondern du; mich aber beschuldigst du fälschlich«. 90 Es ist die eigene Einsicht Alkibiades’ von sich selbst, die Sokrates nur indirekt hervorgerufen hat, weil er Erfahrung in der Suche nach Erkenntnis und deshalb die mäeutische Befähigung hat, anderen aus sich selbst heraus zu eigenen Erkenntnissen zu verhelfen. 91 Mit der Eigenständigkeit, zu eigenen Einsichten zu gelangen, ist nichts anderes gemeint als die von Peter Enskat sogenannte »Authentizitätsbedingung« des Wissens, also die Bedingung, die notwendig gegeben sein muss, damit man berechtigt von Wissen sprechen kann. 92 Dass diese wesentlich komplexer gedacht werden muss, als es im Dialog Alkibiades I nahegelegt wird, liegt am Niveau von Sokrates’ Gesprächspartner Alkibiades, der in einem ersten Schritt überhaupt verstehen muss, dass er etwas in authentischer Weise getan hat, etwas, worin keine Stellvertretung durch einen anderen möglich ist. Welche Sensibilität die Griechen für diesen Sachverhalt hatten, zeigt die Bedeutung, die man dem zusprach, was man selbst gesehen hatte: Die griechische Perfektform von sehen (¡r€w) heißt: »gesehen haben« und gleichzeitig »wissen« (o da). Also das, was ich selbst gesehen habe, das weiß ich wirklich. Diese Verwendung geht zurück auf die griechische Gerichtspraxis: Der Richter als derjenige, der in Bezug auf Ereignisse kein Augenzeuge ist, kann im günstigsten Fall nur richtige Meinungen haben. Über das entsprechende Wissen verfügt allein der Augenzeuge als derjenige, der die Tat mit eigenen Augen gesehen hat und insofern von ihr weiß. 93 Die eigene Einsicht ist also von keinem anderen als von mir selbst zu leisten, aber sie muss auch geleistet werden, und zwar durch aktives Nachvollziehen und 90
so‰ t€de kinduneÐei@, ⁄ll’ o'k ¥mo‰ ⁄khkoffnai, o'd’ ¥gð e§mi ¡ ta‰ta lffgwn, ⁄llÞ sÐ, ¥mþ dþ a§ti” m€thn (113c2–4). 91 Dem entspricht auch der Untertitel des Dialogs: 3Alkibi€dh@ per½ yÐsew@ ⁄njrðpou‡ maieutik@. (Alkibiades oder über die Seele des Menschen: mäeutikos.) 92 Vgl. dazu R. Enskat, Authentisches Wissen, 1998 und die näheren Ausführungen am Ende dieses Kapitels. 93 Im Unterschied zu den Richtern sind es die Zeugen in einem Gerichtsprozess, die »in bezug auf etwas, das nur, wer es selbst gesehen hat, wissen kann, sonst aber keiner« (per½ n §dnti mnon ˛stin e§dffnai, Tht. 201b7 f.). Zum diesbezüglichen Unterschied zwischen Wissen und wahrer Meinung vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 288 ff.
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Verstehen, weil sich Wissen nicht wie Wasser von einem Gefäß in ein anderes, die beide durch einen Faden verbunden sind, übertragen lässt, wie im Symposion Sokrates bildhaft der diesbezüglichen Hoffnung von Agathon, der am Wissen von Sokrates durch dessen Nähe teilzuhaben wünscht, entgegnet. 94 Durch ihren authentischen und zugleich aktiven Vollzug hat die derart verstandene Selbsterkenntnis auch einen völlig anderen Wert für denjenigen, der zu dieser Einsicht selbst gekommen ist: Sie ist unabhängig von allen und allem anderen, weil sie mir zugehört. 95 Das ist nicht mit einem Akt der Isolation verbunden, im Gegenteil: Wie wir gesehen haben, bedarf es für die Selbsterkenntnis in einer konstitutiven Art und Weise des anderen, und im gemeinsamen Gespräch beziehen sich beide auf Einsichten und Gründe, die nur durch Vernunft vermittelt werden können und für den anderen der Sache nach nachvollziehbar und überprüfbar sind. Durch den souveränen Einsatz der Möglichkeiten, welche die Dialogform zur Verfügung stellt, gelingt es Platon, dass er die Dialogpartner nicht abstrakt über Selbsterkenntnis sprechen lässt, sondern im Verlauf des Gespräches Selbsterkenntnis dramaturgisch zur Darstellung bringt, indem er den mit ihr verbundenen Wandel des Alkibiades in Szene setzt. 96 Aus der anfänglichen, wenn auch mit Neugier gepaarten Gereiztheit Alkibiades’ über Sokrates’ permanente Belästigungen Sokrates hatte längere Zeit im Vorhof verweilt, bevor er das Haus betrat, was den Teilnehmern des Symposions nicht verborgen geblieben war. Deshalb bittet Agathon, dass Sokrates sich neben ihn legen möge, »damit ich durch deine Nähe auch mein Teil bekomme von der Weisheit, die sich dir dort gestellt hat im Vorhofe«, worauf Sokrates antwortet: »Das wäre vortrefflich, Agathon, wenn es mit der Weisheit so wäre: daß sie, wenn wir einander nahten, aus dem Volleren in das Leerere überflösse, wie das Wasser in den Bechern durch einen Wollfaden aus dem volleren in den leereren fließt.« (175d1–e1) 95 »Und nicht wahr, wenn du selbst behauptest, daß sich etwas so verhält, dann bist du aufs beste überzeugt? […] Und wenn du es nicht von dir selbst hörst, daß das Gerechte zugleich vorteilhaft ist, so glaube es nicht, wenn es ein anderer sagt.« (O'ko‰n e§ lffgei@ ˆti ta‰j’ o˜tw@ ˛cei, m€list’ n e—h@ pepeismffno@; […] ka½ ¥Þn m¼ a't@ s± sauto‰ ⁄koÐs–h@ ˆti tÞ dfflkaia sumyffront’ ¥stffln, ˝ll†w ge lffgonti m¼ pisteÐs–h@. Alc. I 114e4–9) 96 »Im Alkibiades hingegen haben wir das eine Mal den gefährdetsten Menschen in dem gefährdetsten Alter [Alkibiades], und wir sehen ein einziges Mal, wie jemand sich wandelt in dem Raum eines platonischen Werkes.« (P. Friedländer, Platon, Bd. 2, 1957, 215) Es gibt in einem anderen Dialog eine Parallele, die Friedländer selbst erwähnt (Der große Alcibiades, 1921, 48): Im gleichnamigen Dialog entscheidet sich Charmides, nachdem die Untersuchung der Besonnenheit (swyrosÐnh) aporetisch endet, Sokrates ab sofort zu folgen und sich mit ihm weiterhin zu besprechen (176a ff.). 94
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und Beobachtungen und der durch Sokrates hervorgerufenen Erschütterung seines Selbstverständnisses, der daraus folgenden eigenen Einsicht, sich aufgrund seines Unwissens vor allem politischen Handeln erst um sich selbst zu sorgen, ergibt sich am Ende von Alkibiades I ein Rollentausch – aus dem zunächst Geliebten wird der Liebende selbst. Denn Alkibiades stellt fest, »daß wir nun wohl gar unsere Gestalt vertauschen werden, o Sokrates, ich die deinige annehmend und du die meinige. Denn es kann nicht fehlen, daß ich dich nicht überall begleiten sollte von diesem Tage an und du von mir begleitet werden.« 97 Der im Dialog vorgeführte Prozess der Selbsterkenntnis führte zu einer Veränderung von Alkibiades, die sich genauer als eine Änderung des eigenen Selbstverständnisses bezeichnen lässt. Zweifellos hatte er bereits vor diesem Prozess ein Wissen von sich selbst. Wenngleich er auch nur vermeinte zu wissen, was Recht und Unrecht sei, stand er kurz vor seinem Eintritt in die Politik Athens und gab gegenüber Sokrates seine Ambitionen auf eine außergewöhnliche politische Karriere zu. Diese Zielsetzung kommt nicht von ungefähr, sondern setzt ein Bewusstsein von sich selbst, den eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten voraus. Dass dieses Selbstverständnis im sokratischen ˛legco@ nicht gerechtfertigt werden konnte, spielt im Moment keine Rolle. Worauf es jetzt ankommt, ist zu verstehen, dass nicht erst die sokratisch-platonische Selbsterkenntnis in ihrer Wirkung und von ihrem Ergebnis her einen Selbstbegriff oder eine Identität ermöglicht, sondern durch sie kommt es zu einer Änderung des Selbstverständnisses. Durch den reflektierenden Bezug auf sich selbst, d. h. auf den bislang mehr oder weniger unthematischen Selbstbegriff oder, nach der weiter oben eingeführten Terminologie: auf das unmittelbare praktische Selbstverständnis, wird im philosophischen Gespräch dieses vorgängige Selbstverständnis thematisiert und der Überprüfung zugänglich gemacht. Es erweist sich, wie im Fall von Alkibiades, als eine falsche Sicherheit und ein nur angebliches Wissen. Alkibiades hatte sich bis dahin um das Seinige gesorgt, er war – um mit Heidegger zu reden – der Welt und dem Man verfallen. 98 Bereits diese erste Erkenntnis führt zu einem modifi97
ˆti kinduneÐsomen metabale…n t sc»ma, Sðkrate@, t mþn sn ¥gð, s± dþ to'mn‡ o' gÞr ˛stin ˆpw@ o' paidagwgffisw se ⁄p t»sde t»@ mffra@, s± d’ ¢p’ ¥mo‰ paidagwgffis–h (135d7–10). 98 Heidegger »bestimmte die Grundstruktur des Daseins als Sorge. Diese wird gelebt in der fundamentalen Differenz zwischen der Verfallenheit an … (die Welt, das Man, das Gerede) und der Eigentlichkeit. Der Verfallenheit entspricht bei Sokrates die Sorge um
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zierten Selbstverständnis: In der Abgrenzung von der »Uneigentlichkeit« des Man und dem Anspruch auf Selbstständigkeit gilt die Aufmerksamkeit des Selbst ab sofort sich selbst und die Sorge der eigenen Seele, der »Eigentlichkeit«. Alkibiades hat einen anderen Blick auf sich selbst, er hat sich – mit Hilfe von Sokrates – selbst geprüft und ist über den Schein seiner eigenen Orientierungen aufgeklärt und dadurch bereit, Sokrates ab sofort zu folgen und weiter nach sich selbst und dem guten Leben zu fragen. Aus einem unmittelbaren praktischen ist ein reflektiertes praktisches Selbstverständnis geworden. Angeregt durch die Arbeiten von Pierre Hadot hat Michel Foucault in seinen letzten Arbeitsjahren das Konzept der antiken Sorge um sich selbst aufgegriffen und für die moderne Ethik als eine Ästhetik der Existenz aktualisiert. 99 Im Konzept der antiken Sorge um sich selbst, beginnend mit der ersten philosophischen Explikation im Alkibiades I, findet Foucault Formen einer Selbstbeziehung, die er »Technologien des Selbst« bezeichnet und »die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt«. 100 Foucaults Aktualisierung erfolgt deutlich mit einem zeitkritischen Impetus: Sie richtet sich gegen die christliche Moraltradition, die in der Selbstsorge immer einen nicht zu akzeptierenden Egoismus sah, und gegen vereinnahmende Ansprüche der modernen Gesellschaft und Politik. 101 Inwiefern der Entwurf von Foucault insgesamt überzeugt, ist jetzt nicht die Frage, aber hinsichtlich des platonischen Konzeptes sind zwei Anmerkungen nötig: Im Unterschied zu Foucault, der offensichtlich von einem Gegensatz zwischen Individuum und Allgemeinheit ausgeht, kann man bei Platon davon gerade nicht sprechen. Zwar wendet sich auch Platon gegen eine ungeprüfte Übernahme von Meinungen und das Seinige, der Eigentlichkeit die Sorge um sich.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 1988, 62) 99 Vgl. dazu von M. Foucault: Der Gebrauch der Lüste, 2000, 14 mit Bezug auf Hadot; Die Sorge um sich, 2000, 60 mit Bezug auf Hadot; Interview mit M. Foucault, 1994; Technologien des Selbst, 1993. Zum Begriff der Selbstsorge überhaupt vgl. W. Schmid, Selbstsorge. Zur Biographie eines Begriffs, 1995. 100 M. Foucault, Technologien des Selbst, 1993, 26. 101 Vgl. dazu ebd., 31. Vgl. auch W. Schmid, Artikel Selbstsorge, 1995, 534. A
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Ansprüchen anderer und optiert für die Selbstständigkeit der Urteilsbildung des Einzelnen, aber der Selbstbezug des Individuums bedeutet gerade nicht einen Egoismus, der den anderen ausschließt oder sich gegen diesen richtet, sondern bezieht den anderen mit ein, wovon bereits die platonische Selbsterkenntnis ein augenscheinliches Beispiel ist. Diese Vereinseitigung der antiken Sorge um sich selbst benennt auch Hadot als einen Unterschied zwischen Foucault und seiner eigenen Interpretation: Foucault habe sich zu sehr auf die Selbstkultur konzentriert und dabei einen wesentlichen Aspekt antiker Selbstsorge ausgeblendet: die sich mit der Sorge um sich selbst einstellende Verinnerlichung als »Selbstüberschreitung und Universalisierung«. 102 Worin aber Hadot vorbehaltlos mit Foucault übereinstimmt und was Foucault sehr genau gesehen hat, ist das Praktische dieser Selbstbezüge und damit des Begriffs von Philosophie als einer Lebensform oder einem Lebensstil, der die ganze Existenz als Einsatz erfordert. 103 Damit schließt sich der Kreis in diesem Kapitel zur Selbsterkenntnis, das insgesamt auch auf folgende Fragen eine Antwort geben sollte: Sind verschiedene Aspekte von Selbsterkenntnis zu unterscheiden und in welchem Zusammenhang stehen diese miteinander? Was hat Platon unter praktischer Selbsterkenntnis verstanden? Wie ist der Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Philosophierendem näher zu bestimmen? Ist Selbsterkenntnis eine notwendige Voraussetzung von Selbstbestimmung oder unter gewissen Voraussetzungen bereits selbst der Selbstbestimmung zuzurechnen? Eine erste Unterscheidung betrifft Sokrates’ Wissen von sich selbst vor dem Orakel und der Erkenntnis seiner selbst, nachdem er den Sinn des Orakels verstanden hatte. Wie in der Apologie zu erfahren war, hatte Sokrates – vor dem Orakel – natürlich ein Wissen von sich selbst, das er selbst wie folgt beschreibt: Er war weder in großen noch in kleinen Fragen wissend (vgl. 21b4 f.). Auch Alkibiades, als unser zweites Beispiel, hatte vor dem Gespräch mit Sokrates ein Wissen von sich selbst. Wie Alkibiades durch den sokratischen ˛legco@ zu einem veränderten, jetzt reflektierten Selbstverständnis fand, so hatte Sokrates nach der Prüfung des Orakels verstanden, inwiefern er von P. Hadot, Überlegungen zum Begriff der »Selbstkultur«, 1991, 226. Vgl. dazu P. Hadot, Nachwort. Ein unvollendetes Gespräch mit Michel Foucault, in: ders., Philosophie als Lebensform, 1991, 179. Vgl. zu Hadots Positionierung gegenüber Foucault generell ebd. und den in der vorhergehenden Anmerkung genannten Aufsatz. 102 103
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allen der Weiseste sei: Nur er weiß, dass er nichts weiß. Der Unterschied besteht also nicht allein darin, dass Sokrates seine Tätigkeit jetzt durch den Verweis auf den Gott Apollon legitimieren kann, sondern in einem Gewinn an eigener Selbsterkenntnis und in einer qualitativen Differenz zum Wissen von sich vor dem Orakel. Auch in seinem Fall ist sein vorgängiges Wissen, dass er nichts weiß, erst jetzt durch die Reflexion auf dieses selbst in seiner eigentlichen Bedeutung für ihn verstehbar geworden. Ist nun von Selbsterkenntnis sowohl vor als auch nach dem Orakel zu sprechen? Nein, weil mit der reflektierten Einsicht in das eigene Nichtwissen nicht nur die Einsicht in die Unzulänglichkeit bisheriger Lebensorientierungen verbunden ist, sondern gleichfalls die Einsicht, dass unser Wissen vom guten Leben unvollkommen und fragil ist und bleibt, und aus dieser Einsicht die in ihrer existenziellen Bedeutung verstandene Selbsterkenntnis als Prozess der Suche nach und der Einsicht in das Wissen des Guten hervorgeht. Dem entspricht eine Veränderung in der Orientierung, wie das Leben zu führen sei, und in dieser Bedeutung wird es als Philosophieren bezeichnet. Im Anschluss an die von Ernst Tugendhat übernommene begriffliche Unterscheidung lässt sich in beiden Fällen, mögen Sokrates und Alkibiades auch noch so verschieden sein, von einem unmittelbaren praktischen – als einem vorgängigen Wissen von sich – und einem reflektierten praktischen – sich selbst erkennenden – Selbstverhältnis sprechen, oder mit Günter Figal: »Sokrates kann zwar von sich wissen; aber er kennt sich nicht, […]. Ob er ein Untier ist oder nicht, kann er zwar fragen; die Antwort jedoch erhält er nur, wenn er Gespräche führt und nicht nach sich selbst fragt, sondern nach anderem – vor allem nach dem, was für ihn das Fragwürdigste ist: nach dem Guten.« 104 Zur zweiten Frage: Das Praktische der Selbsterkenntnis Platons ist zusätzlich dadurch ausgezeichnet, dass sich diese im Zusammenhang mit der Frage nach und dem Wissen von dem Guten, das wir wirklich und nicht nur scheinbar wissen und erreichen wollen, vollzieht. Das sich daraus ergebende existenzielle Interesse bedingt eine Ernsthaftigkeit unseres Fragens, die Akzeptanz eigener Einsichten und ihrer im eigentlichen Sinn praktischen Umsetzung. Vor diesem existenziellen Hintergrund enthält jedes Wissen zugleich seine Motivation, es zu tun. Ein zusätzlicher Schritt, der die Motivation erklärte, ist nicht nötig. Bekanntermaßen lautet auch ein sokratisches »Paradox«, dass Tugend 104
G. Figal, Das Untier und die Liebe, 1991, 30. A
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gleich Wissen sei. Offensichtlich ist das Praktische der Selbsterkenntnis genau durch dieses ganz bestimmte Wissen bedingt, auf das jetzt noch einmal genauer eingegangen werden soll, betrifft es doch den Zusammenhang zwischen Selbsterkenntnis und Philosophierendem. Rainer Enskat hat in seiner erkenntnistheoretischen Untersuchung des Theaitetos auf zwei Komponenten des Wissens bei Platon aufmerksam gemacht, auf die bereits weiter oben hingewiesen wurde: auf das von ihm sogenannte Identifikationsmuster und insbesondere auf die damit im Zusammenhang stehende Authentizitätsbedingung. 105 Dass das Identifikationsmuster, nach dem in jedem Erkenntnisprozess der Erkennende selbst ein »Anwendungsbeispiel« für das infrage gestellte Problem sei, in der Selbsterkenntnis oder der Frage nach dem guten Leben vorliegt, ist evident. Die zweite Wissenskomponente besteht in der Authentizitätsbedingung, nach welcher der Erkennende selbst, also in authentischer Weise, zu eigenen Einsichten komme. Enskat hat dieses authentische Wissen als ein nicht-propositionales Erwerbs- und Gebrauchswissen charakterisiert, als ein »Know-how«, ein Wissen, wie man – im Zusammenhang der erkenntnistheoretischen Fragestellung – auf kontrollierbare und erfolgreiche Art und Weise ausfindig machen kann, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht. Für die nähere Bestimmung des Praktischen der Selbsterkenntnis ist wichtig, dass Enskat als ein weiteres Merkmal des authentischen Wissens die Tatsache nennt, dass man sich von diesem Wissen nicht distanzieren kann: »Ein Know-how ist, im Unterschied zu einer Meinung über einen bestimmten Sachverhalt, stets auf einen ganzen Gegenstands- und Untersuchungsbereich, auf ein ganzes Feld möglicher Erschließung und Orientierung bezogen. Der Inhaber eines Know-how würde daher im wahrsten Sinne des Wortes seine Orientierung verlieren, wenn er dieses Know-how aufgeben würde. Er müßte, wie ein Blinder, für unabsehbare Zeit in Kauf nehmen, sich von anderen orientieren zu lassen. Er wäre dazu verurteilt, sich in einem ganzen Gegenstandsbereich, in einem ganzen Feld möglicher Erschließung und Orientierung nicht mehr selbst, also nicht mehr in authentischer Weise zurechtfinden zu können. Der Verlust eines Know-how ist also ein Persönlichkeitsverlust, weil er ein Verlust an Authentizität ist.« 106 Nach diesem Ver-
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Vgl. dazu R. Enskat, Authentisches Wissen, 1998. Ebd., 143. ALBER THESEN
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ständnis kann auch die Selbsterkenntnis als ein praktisches Wissen 107 oder personales bzw. authentisches Wissen bezeichnet werden, auch sie ist ein Orientierungswissen in Bezug auf das eigene Leben und dieses als ein gutes Leben. Auch in diesem Fall ist es nicht möglich, sich von dem Wissen zu distanzieren oder über dieses zu verfügen, was bedeuten würde, es nach Belieben einzusetzen oder nicht, weil man es in einem bestimmten Sinn – selbst ist. Wie man sich davon nicht distanzieren kann, so ist auch eine Änderung nicht ohne Weiteres möglich, zumal, wie wir noch sehen werden, der jeweiligen Orientierung im Leben eine bestimmte psychische Disposition entspricht. Selbsterkenntnis bei Platon ist mehr als eine Erhellung und Korrektur von Lebensorientierungen, sie umfasst die ganze Seele, man könnte auch sagen: den gesamten Menschen. Wurde bisher unter Selbsterkenntnis die Suche nach dem und die Einsicht in das Gute verstanden, so enthalten die platonischen Texte einen weiteren Aspekt: Selbsterkenntnis als Selbstreflexion menschlichen Lebens bzw. Reflexion auf die Strukturen menschlichen Verstehens. In dieser Bedeutung besteht Selbsterkenntnis in der reflektierten Klärung bereits gelebter Praxis mit dem Ziel, den eigenen Intentionen menschlicher Praxis generell angemessen entsprechen zu können. Normalerweise wird man nach heute gängigem Verständnis diese Fragestellung zur Anthropologie als einem Teilgebiet der Philosophie rechnen. Aber noch Kant fasst die von ihm so bezeichneten drei Leitfragen der Philosophie – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – in einer einzigen zusammen: Was ist der Mensch? 108 Abgesehen davon, ob man die Frage nach dem Menschen als die alle anderen philosophischen Probleme umfassende bezeichnet und infolgedessen diese Frage mit der Philosophie insgesamt zusammenfällt, gibt es nach heutigem Selbstverständnis der Philosophie als einer wissenschaftlichen Disziplin eine zweite Differenz: Die Suche nach dem Guten ist nicht mit der Philosophie als Selbsterkenntnis identisch. Die Frage nach dem guten Leben gehört nach verbreiteter Lesart in die Zuständigkeit des Individuums, hingegen die Selbsterkenntnis als Reflexion auf menschliche Strukturen des Verstehens ist Gegenstand und Methode des Faches Philosophie. Beide unterscheiden sich auch hinVgl. dazu H.-G. Gadamer, Praktisches Wissen (1930), GW V. Vgl. dazu I. Kant, Logik Jäsche, AA IX, 25. Vgl. auch Kritik der reinen Vernunft, AA III, B 832/833; Brief an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Mai 1793, AA XI, Nr. 574, 429. 107 108
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sichtlich ihrer Wissensform – die Erkenntnis in dieser ist nach Art eines theoretischen Wissens, wohingegen bereits die Fragen jener mit der Intention auf ihre praktische Relevanz gestellt werden. Wie wir bereits wissen, ist bei Platon die Frage nach dem guten Leben mit der Selbsterkenntnis als Selbstreflexion menschlichen Lebens identisch: Wie eine angemessene Beantwortung der Frage nach dem guten Leben alle Bereiche menschlichen Verstehens und alle menschlichen Bezüge umfassen muss und damit in Welterkenntnis übergeht, so ist durch die leitende Perspektive des Guten jede Welterkenntnis auf den sich um Selbsterkenntnis bemühenden Philosophen zurückbezogen. Abschließend zur letzten Frage: Ist Selbsterkenntnis eine notwendige Voraussetzung von Selbstbestimmung oder unter gewissen Voraussetzungen bereits selbst der Selbstbestimmung zuzurechnen? Selbsterkenntnis wird im Alkibiades I als Voraussetzung für gelingendes und richtiges Handeln und damit für Selbstbestimmung genannt (133c ff.). Denn erst wenn ich mich selbst kenne, weiß ich auch, was für mich gut ist und was nicht. Jörg Hardy ist in seinem Aufsatz Was wissen Sokrates und seine Gesprächspartner? zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Neben epistemischen Einsichten in einer engeren Bedeutung, die Sokrates und seinen Gesprächspartnern zugesprochen werden können, wird als vierte die eines veränderten Selbstverhältnisses genannt: »Sich in der Dialektik zu üben, führt Platon zufolge auch zu einem veränderten Selbstverständnis. Dass Rechenschaft zu geben, in letzter Instanz bedeutet, die eigene Lebensweise zu prüfen, können wir uns mit dem Begriff der Selbstbestimmung verständlich machen. Selbstbestimmt zu leben erfordert die Fähigkeit, sich über die Meinungen Klarheit zu verschaffen, welche die Lebensführung, mit anderen Worten: das Wollen insgesamt betreffen. Das Glück, die e'daimonffla, ist bei Platon das übergeordnete Ziel des Wollens […]. Ein vermeintliches Wissen gefährdet insofern die Selbstbestimmung. Sich davon – in einem nicht bloß metaphorischen Sinne – zu befreien, ist eine Form von Autonomie. Auch dies ist Teil des Wissens, um das es Sokrates geht.« 109 Nach dieser Interpretation ist Selbsterkenntnis nicht die Voraussetzung für Selbstbestimmung an sich, sondern nur für eine gelingende Selbstbestimmung. Das ist der Fall, wenn Selbstbestimmung die ihr vorausliegende Intentionalität auf das Gute erreicht, ihren eigenen Intentionen gerecht wird. Selbstbestimmung wäre demnach an die Be109
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J. Hardy, Was wissen Sokrates und seine Gesprächspartner?, 2004, 261 f. ALBER THESEN
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dingung gebunden, das Gute zu treffen, und Selbsterkenntnis als wahres Wissen vom Guten die notwendige Voraussetzung dafür, dieser Bedingung gerecht zu werden. Das ist richtig, ebenso, dass jeder, der sich nicht selbst erkennt, abgesehen von Zufällen, notwendig das, was für ihn wahrhaft gut ist, nicht trifft, weil er sich in der Wahl seiner Handlungsziele getäuscht hat. Es kann aber nicht richtig sein, daraus zu schließen, dass derjenige, der über dieses Wissen von sich selbst nicht verfügt, sich zwangsläufig nicht selbstbestimmt oder sogar fremdbestimmt ist, selbst wenn er nicht das realisiert, was er eigentlich will – das für ihn Gute. Dass Selbstbestimmung nicht an die Bedingung des Wissens vom Guten gebunden werden kann, wird in den noch folgenden Kapiteln gezeigt. Es wird sich herausstellen, dass nicht nur das sokratische Leben der Selbsterforschung ein selbstbestimmtes ist, sondern auch die sich anders orientierenden Lebensweisen, wenn auch in einer unter ihren besten Möglichkeiten bleibenden Form. Der Unterschied zwischen ihnen liegt weniger darin, ob Selbstbestimmung vorliegt oder nicht, sondern vielmehr in der Qualität, inwiefern sie das Gute realisieren und damit die ⁄retffi des Menschen erreichen oder auch nicht. Wie verhält es sich nun mit der Gleichsetzung von Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung? Trotz aller Nähe können beide nicht miteinander identisch sein, weil ansonsten zwei Begriffe zur Bestimmung eines Sachverhaltes nicht nötig wären. Trifft diese Überlegung auch dann noch zu, wenn der Handlungsbegriff sowohl Sprechen als auch Denken als Dialog mit sich selbst umfasst? Ist dann nicht doch jede eigene Einsicht bereits eine Bestimmung meiner selbst, insofern ich mich im Weiteren auf diese Einsicht hin verstehe? Was passiert, wenn der Begriff der Selbstbestimmung nicht nur auf einzelne Handlungen, sondern auf eine Lebensweise insgesamt bezogen wird? Exemplarisches Beispiel dafür ist die Tätigkeit und Lebensweise von Sokrates, wie er sie selbst in der Apologie darstellt: Sokrates ist die Selbsterkenntnis zur Lebensweise geworden, mehr noch: Ein anderes als das Leben der Selbsterforschung ist für ihn nicht mehr lebenswert (vgl. 38a1–6). Zu seinem Selbstbegriff gehört, dass er für sich selbst nur noch eigene Einsichten und Gründe gelten lässt. Das sind natürlich Einsichten und Gründe für einzelne Handlungen, aber das »Prinzip« selbst, auf diese Art und Weise zu leben, liegt jeder einzelnen Entscheidung und Handlung voraus. Wie wir gesehen haben, ermöglicht dieser Selbstbegriff nicht nur eine Einheitlichkeit des eigenen LebensvollA
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zuges, sondern auch, dass sein Leben ein selbstbestimmtes ist. Im Fall von Sokrates gehen Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung ineinander über. Damit ist nicht gesagt, dass beide Begriffe identisch wären, sondern dass die Lebensweise der Selbsterforschung nur zu deutlich zeigt, wie praktisch die Selbsterkenntnis in diesem Fall gedacht werden muss.
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Falls Freiheit überhaupt irgendetwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen. (George Orwell, Farm der Tiere, Nachwort: Die Pressefreiheit)
Der Dialog Gorgias wird zu den späten Frühdialogen Platons gerechnet. Er ist relativ übersichtlich strukturiert, im inhaltlichen Aufbau allerdings sehr komplex: Nach einem knappen Vorgespräch führt Sokrates zunächst einen Dialog mit Gorgias – über die Bestimmung der Rhetorik als einer tffcnh und den Gegenstand ihres Wissens. Es folgt das Gespräch mit Polos, das von zwei Thesen Sokrates’ ausgeht – erstens sei Unrechttun das größte Übel und schlimmer als Unrechtleiden, und zweitens sei ungestraftes Unrechttun schlimmer als bestraftes Unrechttun – und das Verhältnis des Gerechten bzw. Ungerechten und des Guten thematisiert. Den Hauptteil bildet der anschließende Dialog mit Kallikles über dessen in der Natur des Stärkeren begründeten Moral, dass das gute Leben im Ausleben der Begierden bestehe, und über die gegenteilige Auffassung Sokrates’ zur menschlichen ⁄retffi als einer bestimmten Verfassung der Seele, welche als gute zugleich die gerechte Seele sei. Durch jeden folgenden Gesprächspartner von Sokrates kommt es zu einer fortschreitenden Offenlegung und Radikalisierung der von Gorgias, Polos und Kallikles vertretenen sophistischen Position, die sich in einer immer einschränkungsloseren Stellung zur Macht gleichsam entblößt. Diese Klimax bedingt zugleich eine schärfere Konturierung der platonischen Auffassung, wobei die drei Gesprächsteile ineinander verschränkt bleiben. 1 Den Abschluss bildet ein eschatologischer Mythos vom jenseitigen Seelengericht. 1
Die pejorative Darstellung der Sophisten bei Platon hat ihre eigenen Gründe: OffenA
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Benannt nach einem der berühmtesten Sophisten und Lehrer der Rhetorik, Gorgias von Leontinoi, führt Platon in diesem Dialog eine Auseinandersetzung mit der Rhetorik und ihren sowohl offenen wie auch verdeckten Grundlagen. Die Erfahrung der Konventionalität und Relativität menschlicher Lebensformen hatte innerhalb der sophistischen Bewegung zu der Einsicht geführt, dass diese Lebensformen Resultate von politischen Entscheidungsprozessen und somit veränderbar sind. Damit verband sich zugleich die Auffassung, dass im politischen Zusammenhang nicht Wahrheits-, sondern Machtfragen die ausschlaggebende Rolle spielen und sich ein maximaler Einfluss durch die Überzeugungskraft der sprachlichen Präsentation – der Rhetorik – geltend machen lässt. Die Rhetorik als praktische Redelehre ist zwar von der Sophistik zu unterscheiden, beide entsprechen sich allerdings annähernd in ihren Zielsetzungen. 2 Der von den Sophisten philosophisch vertretene Relativismus der Lebensformen wiederholt sich auf der Ebene der Sprache als eine Rhetorisierung der Sprache. Gorgias bietet dafür ein prägnantes Beispiel. In seinem Werk Per½ to‰ m¼ nto@ Per½ yÐsew@ (Über das Nichtseiende oder Über die Natur, DK 82 B 1–4), eine Widerlegung des Parmenides, vertritt er einen erkenntnistheoretischen Solipsismus: Es gibt nichts, und wenn es doch etwas gäbe, dann müsste es sich der Erkenntnis entziehen, wäre es dennoch erkennbar, so ließe es sich nicht mitteilen. 3 Sprache kann demnach kein welterschliesichtlich gab es eine gewisse Nähe zwischen Sokrates und den Sophisten. So wird Sokrates in der Komödie Die Wolken von Aristophanes als Sophist bezeichnet, und ein Vorwurf der Anklage in der Apologie lautet, dass Sokrates sich in den Angelegenheiten der Sophisten verstand. Die mehrfache Auseinandersetzung mit den Sophisten in den Dialogen zeigt deutlich, wie wichtig eine Klärung war: zur Unterscheidung von den Sophisten und damit auch zur Ausbildung und Artikulation der eigenen philosophischen Position. Dabei stellt Platon oft die sophistische Auffassung in einer radikaleren Variante dar, als sie vermutlich von den Sophisten selbst vertreten wurde. Aber nur wenn man deren Thesen auf ihren Grund zurückführt, sie also »beim Wort« nimmt, werden ihre nicht haltbaren Konsequenzen offenbar. – Inzwischen sind die Sophisten gegen eine einseitige Sicht mehrfach rehabilitiert worden, z. B. von G. B. Kerferd, The sophistic movement, 1981; Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde, 1986; O. A. Baumhauer, Die sophistische Rhetorik, 1986. Einen umfassenden Überblick bieten C. J. Classen, Sophistik, 1976; A. Graeser, Die Philosophie der Antike 2, 1993, 19–86. 2 Zum historischen Phänomen der Rhetorik vgl. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 21 f. 3 Vgl. dazu W. Bröcker, Platos Gespräche, 1990, 85. Zur historischen Person des Gorgias von Leontinoi vgl. den Kommentar von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 125 ff.
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ßendes Medium sein, in dem wir eine uns gemeinsame Welt zur Sprache bringen und mitteilen können, in dem die Rede als eine Rede über etwas und eine angemessene Darstellung eines Sachverhaltes möglich sind, sondern Reden vollzieht sich ohne sachhaltige Grundlagen und hat keine die Welt erschließende Wirkung: Sprache ist und bleibt ein Kampfplatz um Machtfragen durch bloßes Überreden. Vor diesem Hintergrund werden im Gorgias zwei Themen behandelt: Was ist die Rhetorik? und Wie soll man leben? Die Erörterung über die falsche und die richtige Rhetorik und ihr jeweiliges Verhältnis zur Politik, also über sophistische Prunkrede (¥pffldeixi@) und philosophische Dialektik als verschiedene Methoden der Diskussion, steht in einem Zusammenhang mit der Erörterung über die richtige Lebensweise (bfflo@), weil die »Grundintention des Dialogs« gerade darin besteht zu zeigen, »daß die Weise des Miteinanderredens schon offenbar macht, was man für ein Leben führt, oder schlicht: daß die Redeweise selbst schon eine Lebensweise verrät und damit eine Form des sittlichen Lebens darstellt«. 4 Diesem Zusammenhang entspricht auch die dramatische Darstellung im Gorgias: Die Aussagen spiegeln sich auf der Ebene der literarischen Form wider – durch das Verhalten der jeweiligen Person im Gespräch. 5 Den beiden Themen entsprechen wiederum zwei miteinander verwobene Dialogebenen des Gespräches. Für unseren Zusammenhang ist natürlich die Ebene von Belang, auf welcher nach dem guten Leben bzw. der richtigen Lebensweise gefragt wird. Angesichts dieser Fragestellung und der von den Sophisten vertretenen Position, die zwischen eigenem Wohl und Moralität unterscheiden und damit das Eigeninteresse des Handelnden als Kriterium für eine neue Begründung moralischen Handelns geltend machen, und dem von Platon akzeptierten motivationstheoretischen Grundsatz, dass der Einzelne nur Gründe hat, das zu tun, was für ihn letzten Endes zu seinem eigenen Wohl beiträgt, 6 ist davon auszugehen, dass das Problem von Selbstbestimmung und Individualität im Gorgias eine Rolle spielen wird. Zusätzlich ist dieser Dialog auch deshalb für das Thema der Arbeit vielverspreTh. Kobusch, Wie man leben soll, 1996, 47. Vgl. bes. 1. Die Redeweise als Lebensweise, ebd., 47 ff. 5 Darauf verweist auch G. Figal, Macht und Streit, 1991, 54. 6 Vgl. dazu P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 502 ff.; ders., Der Grundriß der platonischen Ethik, 1988, 536 ff. 4
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chend, weil nicht abstrakt über unterschiedliche Lebensweisen diskutiert wird, sondern die Gesprächspartner diskutieren ihre individuelle, sie je selbst betreffende Auffassung von dem für sie guten Leben in persona. Es ist also davon auszugehen, dass gerade in dieser personal bezeugten Gegenüberstellung und Auseinandersetzung über die richtige Lebensweise, d. h. über das gute Leben, der Einzelne für sich einen Anspruch auf selbstbestimmte Wahl und Begründung seiner Lebensweise erhebt, und es wird zu fragen sein, ob sich die Lebensweisen nicht gerade hinsichtlich der Selbstbestimmung unterscheiden.
4.1 Handeln als selbstbestimmter Vollzug (466b–468e) Sokrates hatte im ersten Teil seines Gespräches mit Polos die Rhetorik nicht den Künsten (tffcnai) zugeordnet, sondern sie als eine ¥mpeirffla (462c3), d. h. eine auf Erfahrung beruhende Geschicklichkeit, bestimmt. Als eine Schmeichelei (kolakeffla, 463b1) 7 verfügt sie – im Gegensatz zu den Künsten – nicht über ein Wissen ihres Gegenstandes, vermag folglich ihr Vorgehen nicht zu begründen, 8 und bewirkt in ihrer Orientierung am jeweils Angenehmsten (t `diston) somit nur ein scheinbares Wohlbefinden der Seele (doko‰san mþn e'exfflan, 464a5) anstatt das Beste (t bffltiston), ihre wahrhaft gute Verfassung. Worin diese besteht, wird an dieser Stelle des Dialoges noch offengelassen. Diese prinzipielle Abwertung der Rhetorik versucht Polos jetzt durch den Einwand zu entkräften, dass die Redner die größte Macht hätten (mffgiston dÐnantai, 466b5). Der Einwand führt zu einem Wechsel der Perspektive. Ausgangspunkt und bestimmendes Thema des bisherigen Dialogs war die umfassende Frage, was die Rhetorik ist, speziell: inwiefern sie die Menschen gut zu machen vermag. Jetzt wird der Blick auf den Redner selbst gerichtet, inwiefern die Handhabung der Rhetorik und die sich Der Oberbegriff für die an Lust orientierten Fertigkeiten. Neben der Rhetorik nennt Sokrates die Sophistik, als die auf die Seele, Kochkunst und Putzkunst als die auf den Leib bezogenen Schmeicheleien. Ihnen entsprechen als »wahrhaftige« Künste: Gesetzgebung und Rechtspflege, Gymnastik und Heilkunst. 8 »weil sie keine Einsicht hat wofür sie anwendet, was sie anwendet, was es wohl seiner Natur nach ist, und also den Grund von einem jeden nicht anzugeben weiß« (ˆti o'k ˛cei lgon o'dffna † prosyffrei ˘ prosyffrei ¡po…’ ˝tta t¼n yÐsin ¥stffln, ¯ste t¼n a§tfflan k€stou m¼ ˛cein e§pe…n, 465a3–5). 7
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mit ihr verbindende Macht für ihn selbst gut sind. Diese Rückwendung der Frage auf den Handelnden selbst kommt nicht nur überraschend, sondern auch ohne sichtliche Vorankündigung im Text, und verlangt eine Erklärung: »Der Sprung könnte allerdings […] eher demonstrative Zwecke haben, nämlich die Inkohärenz und Unüberlegtheit des Polos vorführen. Denn in der Sache läßt er sich leicht erklären. […] Wer die Seele anderer gut machen kann, muß wissen, was das Gutsein, die arete, der menschlichen Seele allgemein ausmacht, und wer das weiß, wüßte damit eo ipso auch, wann die eigene Seele gut ist bzw. was für sie bzw. ihre arete nützlich ist.« 9 Die Argumentation ist einleuchtend, reicht aber nicht weit genug, weil der Aspekt des Selbstbezuges des Handelnden, welchem Platon offensichtlich die Priorität einräumt, nach dieser Lesart nur sekundär ist. Es wird nämlich im folgenden Dialogteil nicht gefragt, was für alle gut ist, um dann zu wissen, was für mich selbst gut ist, sondern hier wird zunächst gefragt, was gut ist für mich. Die folgende Interpretation versucht nachzuweisen, dass in der »erste[n] Handlungstheorie (in Kurzfassung) in der Geschichte der Philosophie« 10 das handelnde Individuum als Ausgangspunkt gewählt und die individuelle Handlung als selbstbestimmt zu verstehen ist. Zudem haben wir damit ein erneutes Beispiel dafür, dass Platon das Weltverhältnis des einzelnen Individuums auf dessen Selbstverhältnis zurückführt. Ausführlich lautet Polos’ These: Der Redner hat die meiste Macht in der Stadt, weil er wie der Tyrann tun kann, was ihm beliebt – wen er will, zu töten, zu berauben und aus der Stadt zu verweisen (vgl. 466b12–c2), indem er andere durch sein Wort veranlasst, so zu handeln. Macht wird nach dieser Auffassung als unumschränkte Willkürmacht verstanden, als ein Vermögen zu tun, was einem beliebt bzw. wie es einem gefällt. 11 Und für denjenigen, der über diese Macht verfügt, ist sie nach Polos’ Auffassung fraglos etwas Gutes. 12 U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 159 f. Th. Kobusch, Wie man leben soll, 1996, 55. Vgl. zu Platons Handlungstheorie die breit angelegte Studie von C. Kauffmann, Ontologie und Handlung, 1993. 11 Die Ansicht, alles nach Belieben zu tun und zu lassen, ist bei Weitem keine Randerscheinung, sondern verbreitete Auffassung und galt sogar als Kennzeichen athenischer Demokratie. Vgl. dazu die Quellenangaben in Anm. 104 im Kapitel c. der Einleitung oben. Vgl. auch den Kommentar zu 466b12–c2 von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 254 ff. 12 t dÐnasjaffl […] ⁄gajn ti e nai t† dunamffn†w (466b7 f.). 9
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Sokrates hält dem entgegen, dass die Redner am wenigsten Macht hätten, »weil sie nämlich nichts tun, was sie wollen […]; jedoch tun sie freilich, was ihnen dünkt, das Beste zu sein«. 13 Wenn ich also etwas tue, was mir zwar gut scheint, nicht aber wirklich gut ist, dann erreiche ich nach dieser begrifflichen Differenzierung offensichtlich nicht das, was ich eigentlich will. Das Wollen (boÐlesjai) wird hier ausschließlich auf das Gute (t ⁄gajn) bezogen, 14 und dieser Zusammenhang ist uns bereits bekannt: Er ergibt sich aus unserer existenziellen Intentionalität auf das Gute. Bei allem, was wir tun, wollen wir immer nur das, was für uns gut ist, genauer gesagt, um den individuellen Aspekt hervorzuheben: was für mich gut ist, und zwar im Sinne von nützlich. Dieser Bezug auf das Gute umfasst unser gesamtes Streben, ein gutes Leben zu führen, und steht uns als letztes Ziel unseres Wollens und Handelns selbst nicht zur Disposition: »Um des Guten willen also tut alles dieses, wer es tut.« 15 Die von Polos ins Gespräch eingebrachte Selbstreflexivität allen Wollens und Handelns, der Bezug auf ein für den Handelnden Gutes und dieses als ein für ihn Nützliches, ist das Kriterium, welches die Sophisten, nachdem die traditionelle Ethik fragwürdig geworden war, für die Begründung moralischer Ansprüche geltend gemacht hatten: das Einzelinteresse des Handelnden. In dieser Beziehung sind sich Sokrates und Platon mit den Sophisten einig: Berechtigung hat nur noch, was dem Anspruch vernünftiger Rechtfertigung und Begründung in Bezug auf das eigene gute Leben genügt. Es musste jetzt gezeigt werden, dass moralisches Verhalten und Eigeninteresse des Handelnden miteinander übereinstimmen, was wiederum die oben genannte Untero'dþn gÞr poie…n n boÐlontai […]‡ poie…n mffntoi ˆ ti n a'to…@ dx–h bffltiston e nai (466e1 f.). 14 Obwohl in 466e1 f. nicht vom Guten (t ⁄gajn), sondern vom Besten (t bffltiston) gesprochen wird, liegt dieser Zusammenhang der Stelle zugrunde: t bffltiston ist einer der möglichen Superlative von t ⁄gajn. – Heute würden wir wohl eher Macht formal als Möglichkeit verstehen, etwas tun zu können oder nicht, und zwar unabhängig von der ethischen Qualität des Zieles als gut oder schlecht, hingegen wird hier von Macht allein unter der Voraussetzung der Qualität des Zieles als eines guten gesprochen, unabhängig von der formalen Möglichkeit, etwas tun zu können oder nicht. 15 4Enek’ ˝ra to‰ ⁄gajo‰ ¿panta ta‰ta poio‰sin o poio‰nte@. (468b9 f.) Weitere relevante Dialogstellen zur Intentionalität auf das Gute sind in Anm. 27 im Kapitel 1.2 oben angeführt. Die Intentionalität auf das Gute und die Differenz zwischen einem Wollen des wirklich Guten und einem des nur irrtümlich angenommenen Guten diskutiert ausführlich M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, 2003, 64 ff. 13
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scheidung zwischen einem nur scheinbaren und einem wohlverstandenen Guten bzw. Nutzen voraussetzt. Aber auch unabhängig von diesem im engeren Sinn moraltheoretischen Begründungsproblem ist evident, dass wir nicht immer erreichen, was wir eigentlich wollten, weil wir im Nachhinein feststellen müssen, dass wir uns im Ziel unseres Handelns als einem für uns Guten getäuscht haben. Und genau in diesem Punkt, worin der scheinbare und worin der wohlverstandene Nutzen besteht, sind sich Sokrates und Platon mit den Sophisten nicht einig, oder anders gesagt: Die Sorge um sich selbst ist primär, fraglos aber nicht, worin sie besteht bzw. worauf sie sich beziehen soll. 16 Wie noch zu zeigen sein wird, bedeutet nach Platon der wohlverstandene Nutzen des Einzelnen nicht einen Egoismus auf Kosten der anderen, sondern entgegen einem heute verbreiteten Verständnis einen »Egoismus«, in dessen Selbstbegriff der andere und die Welt konstitutiv aufgenommen sind. Die Unterscheidung zwischen dem Guten im Sinne des für den Einzelnen Nützlichen und dem Gerechten als dem moralisch Guten ist auch begrifflich fassbar: Sowohl Bedeutung als auch Gebrauch von t ⁄gajn für »das Gute« und seinem Gegensatz t kakn für »das Schlechte« zeigen nach Peter Stemmer deutlich, dass darunter nicht von vornherein das moralisch Gute oder Schlechte bezeichnet wird, sondern was zu unserem je individuellen Glück beiträgt. 17 Im näheren Kontext dieser Begriffe in den Dialogen fiele auch die Verwendung von “yfflimo@ und crffisimo@ für »nützlich« und »vorteilhaft« und entsprechend blaber@ für »schädlich« bzw. »nachteilig«, die der Bedeutung von ⁄gaj@ und kak@ oftmals annähernd entsprächen, sodass das Gute als das Nützliche verstanden werden könne, und zwar als gut oder Das ist natürlich eine sehr vereinfachte Sicht auf den Konsens und Dissens zwischen den Sophisten und Platon. Peter Stemmer hat in den Dialogen drei verschiedene Formen des ethischen Dissenses ausgemacht: bezüglich des deskriptiven Aspekts der Worte »gerecht« und »ungerecht« am Beispiel von Kallikles, der eine Umwertung bestimmter Handlungsweisen vornimmt, indem für ihn jetzt das gerecht ist, was bisher als ungerecht galt, und umgekehrt, für den aber gerechtes Handeln weiterhin empfehlenswert ist; bezüglich des evaluativen Aspekts dieser Worte am Beispiel von Thrasymachos, der »gerecht« und »ungerecht« konventionell benutzt, aber die gerechten Handlungen nicht mehr für empfehlenswert hält; bezüglich des Gebrauchs des Wortes »fromm« am Beispiel von Euthyphron, dass die Verwendung des moralischen Wortes »fromm« in Einzelfällen nicht mehr völlig einheitlich ist (Platons Dialektik, 1992, 12 ff.). 17 Vgl. dazu P. Stemmer, Der Grundriß der platonischen Ethik, 1988, 542 ff.; ebenso bereits in: Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 501 ff. 16
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nützlich für jemand und für dessen e'daimonffla als letztes Ziel seines Strebens. Damit sei noch nichts darüber gesagt, ob das Gute als das Nützliche auch das Gerechte umfasse oder nicht, beide Positionen wurden in der antiken Ethik vertreten. Für das Gerechte als das Moralische im engeren Sinn verwandten die Griechen, so Stemmer weiter, dfflkaio@ für »gerecht« bzw. ˝diko@ für »ungerecht«, zugleich auch kal@ für »schön« und sein Antonym a§scr@ für »hässlich«. Als allgemeines Vorzugswort habe kal@ in Anwendung auf menschliche Handlungen vorwiegend die Bedeutung des moralischen Guten, sodass kal@ bzw. a§scr@ der Bedeutung von dfflkaio@ bzw. ˝diko@ sehr nahe kämen und wir dafür auch Bezeichnungen wie t kaln bzw. t kaln ka½ t dfflkaion fänden. – Der Originaltext des Gorgias bestätigt, dass das Handlungsziel als das für das handelnde Individuum Gute verstanden wird: Im entsprechenden Dialogabschnitt (466b–468e) verwendet Platon ausschließlich die Begrifflichkeit des ethischen Kontextes – t ⁄gajn und t kakn, und an einer Stelle wird die individuelle Perspektive zusätzlich hervorgehoben: Wir handeln nicht so schlechthin an sich, »sondern wenn uns dergleichen nützlich ist, wollen wir es tun, ist es uns aber schädlich, dann nicht. Denn nur das Gute wollen wir, wie du behauptest, das weder Gute noch Üble aber wollen wir nicht, noch auch das Üble.« 18 Inwiefern das Gute als das für den Handelnden Vorteilhafte auch gerechtes Handeln umfasst, oder anders gesagt: ob gerechtes Handeln sich vor dem Kriterium des Eigeninteresses ausweisen kann, dass es nicht zum Nachteil des Handelnden führt, steht an dieser Stelle noch nicht zur Diskussion. Zurück zum Dialogverlauf selbst: Nachdem Sokrates zwischen dem wirklich Guten und dem nur scheinbar Guten unterschieden hat und nur dem ersten Fall ein eigentliches Wollen zuspricht, führt er jetzt in Klärung dessen, was eine Handlung sei, eine zweite Differenz ein: um des Guten willen. Diese Formulierung benennt eine für Platons ⁄ll’ ¥Þn mþn “yfflima –Æ ta‰ta, boulmeja pr€ttein a't€, blaberÞ dþ nta o' boulmeja. TÞ gÞr ⁄gajÞ boulmeja, £@ y–¼@ sÐ, tÞ dþ mffite ⁄gajÞ mffite kakÞ o' boulmeja, o'dþ tÞ kak€ (468c4–8). Vgl. ebenso 470a9–b1 mit Bezug auf die Ergebnisse der Handlungsanalyse im nächsten Abschnitt des Dialogs: Das »Mächtigsein« zeigt sich »nur da, wo, indem einer tut, was ihm bedünkt, auch dies damit verbunden ist, daß er es zu seinem Vorteil tue und daß es gut sei; […] wenn aber nicht dann ist es ein Übel und Ohnmächtigsein« (t mffga dÐnasjai […] ¥Þn mþn pr€ttonti ˘ doke…
phtai t “yelfflmw@ pr€ttein, ⁄gajn te e nai […]‡ e§ dþ mffi, kakn ka½ smikrn dÐnasjai).
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Handlungstheorie konstitutive strukturelle Unterscheidung zwischen Handlung und Ziel der Handlung bzw. Mittel und Zweck, wobei dem Handlungsziel oder genauer: seiner Funktion eine prinzipielle Bedeutung zukommt: Wer handelt und sich nicht bloß im Sinne eines Tuns ohne Handlungsziel verhält, handelt nämlich nicht der Handlung wegen, sondern er tut etwas um eines anderen willen. So nehmen wir z. B. Arznei nicht ihretwegen, sondern um unserer Gesundheit willen. Ausschlaggebend ist dabei nicht, ob die jeweilige Handlung für sich genommen gut, schlecht oder neutral 19 ist, sondern die willentliche Bezogenheit auf das um willen der Handlung: »Ist es nun nicht ebenso mit allem, wenn jemand etwas um eines anderen willen tut, so will er nicht das, was er tut, sondern das, um deswillen er es tut?« 20 Nicht die Handlung wird letztlich gewollt – in gewisser Hinsicht ist natürlich auch sie gewollt, aber nur in ihrer Beziehung als Mittel auf den Zweck – und ist bereits das Gute, sondern das, was durch die Handlung hervorgebracht werden soll: das Weswegen (o neka) der Handlung als ihr Ziel und dieses Ziel als ein Gutes, was man will. Was zunächst gewolltes Ziel gewesen ist, kann in einem weiteren Schritt die Funktion des Mittels übernehmen, indem wir in Bezug auf dieses wiederum fragen: Zu welchem Zweck? Dieses Fragen findet sein Ende bei einem letzten Telos, bei dem die Frage nach dem Warum keinen Sinn mehr ergibt – dem guten Leben oder der e'daimonffla (vgl. Smp. 205a1–4). Damit ist das Handlungsziel, um überhaupt ein solches zu sein, an eine erste Bedingung gebunden: Es muss für den Handelnden als ein für ihn Gutes erkennbar sein und kann deshalb von ihm gewollt werden. Dass die Redner de facto machtlos sind, liegt daran, dass ihr Tun nicht dieser Handlungsstruktur entspricht. Denn mit dem Handlungsziel als dem eigentlich Gewollten verbindet sich notwendig ein Wissen: Ich bin angewiesen auf ein Wissen davon, was für mich wahrhaft gut ist. Dieses umfassende Wissen ist zugleich Orientierungspunkt, um in der jeweiligen Situation entscheiden zu können, ob das situativ bezogene Handeln etwas bewirkt, was für mich gut ist oder nicht. Wenn Macht jetzt ein Vermögen ist, hervorzubringen, was ich will, dann nur unter der notwendigen (nicht hinreichenden) zweiten VoraussetPlaton spricht von einem Mittleren (metaxÐ, 467e–468a), das weder gut noch übel ist. 20 7Allo ti oªn o˜tw ka½ per½ p€ntwn; ¥€n tffl@ ti pr€tt–h nek€ tou, o' to‰to boÐletai ˚ pr€ttei, ⁄ll’ ¥ke…no o neka pr€ttei; (467d7–9) Vgl. bereits 467c5–7. 19
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zung, dass ich das Handlungsziel im Voraus weiß und – wie wir sehen werden – mich im Handeln daraufhin verstehen kann. Und diese Voraussetzung ist bei den Rhetoren gerade nicht gegeben. Denn sie wissen nicht, was für sie gut ist, weil sie anstelle des Zieles die Handlung qua Handlung als etwas Gutes und Erstrebenswertes erachten. 21 Die Annahme, dass die gewollte Handlung – im jetzigen Fall der bloße Machtvollzug – das Beste sei, bietet nämlich keine hinreichende Sicherheit dafür, dass sich nicht auch das Gegenteil einstellt, anders gesagt: Dieselbe Handlung kann in dem einen Fall zu einem für den Handelnden guten, im anderen Fall schlechten Ergebnis führen. Aber das wollen wir angesichts des Guten ja gerade nicht. »Dies ist wiederum nur möglich, weil die Handlungen des Rhetors oder des Tyrannen nicht eindeutig auf ein klar bestimmtes Ziel bezogen sind«. 22 Denn das Handlungsziel als solches muss – als dritte Bedingung – etwas Bestimmtes als Bestimmtes sein, weil Wissen von etwas immer ein Wissen von etwas Bestimmtem ist, das sich als dieses begreifen und von anderem unterscheiden lässt. Zugleich benötige ich das als etwas Bestimmtes ausgezeichnete Handlungsziel als stabilen Bezugspunkt zur Orientierung im Handeln selbst, in welchem sich mein Handeln vollenden kann. Hingegen ist Macht gerade durch ihre Unbestimmtheit gekennzeichnet und trägt den Charakter des Unendlichen (˝peiron). 23 Macht kann kein begrenztes Ziel sein, das als Ziel gewusst und somit als etwas Gutes gewollt werden kann. Diese Zusammenhänge werden anschaulicher, wenn man den weiteren Ausführungen von Sokrates im Gorgias folgt, der die Handlungsstruktur in Analogie zum Modell der tffcnh und zur handwerklichen Herstellung entwickelt: »Nicht wahr, der rechtschaffende Mann, der um des Besten willen sagt, was er sagt, der wird doch nicht in den Tag hinein reden, sondern etwas Bestimmtes (pr@ ti) vor Augen habend, so wie auch alle anderen Künstler, jeder sein eigentümliches Werk (˛rgon) im Auge habend, nicht aufs Geratewohl zugreifend hinzufügt, was er hinzufügt, sondern damit jedem das, was er ausarbeitet, eine gewisse bestimmte Gestalt (e d@ ti) bekomme. Wie wenn du die Sie verwechseln damit Mittel und Zweck, weil z. B. Reichtum und äußere Zwangsmacht, »die alle nur als Mittel Sinn haben, […] als Zweck erstrebt« werden (K. Hildebrandt, Nachwort zu: Platon, Gorgias, 1993, 145). 22 G. Figal, Macht und Streit, 1991, 59. 23 Die Unbestimmtheit der Macht wird anschaulich, wenn im Kapitel 4.2.1 unten die Unbegrenztheit der Lebensweise von Kallikles thematisiert wird. 21
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Maler ansehen willst, die Baumeister, die Schiffbauer, alle anderen Arbeiter, welche du willst, so bringt jeder jedes, was er hinzubringt, an eine bestimmte Stelle (e§@ t€xin tin€) und zwingt jedes, sich zu dem anderen zu fügen und ihm angemessen zu sein, bis er das ganze Werk wohlgeordnet (tetagmffnon) und ausgestattet mit Schönheit (kekosmhmffnon) dargestellt hat. So diese Künstler und so auch jene anderen, von denen wir eben sprachen, die es mit dem Leibe zu tun haben, die Ärzte und Turnmeister, bringen doch so den Leib zu Ordnung und Anstand (kosmo‰si […] ka½ sunt€ttousin).« (503d5–504a4) Obwohl diese Dialogstelle voraussetzungsvoller ist, konzentriere ich mich zunächst ausschließlich auf die Erläuterung der Handlungsstruktur anhand des Herstellungsvorganges einer tffcnh. Zunächst eine allgemeine Bemerkung zu diesem griechischen Begriff: 24 Er ist schwer übersetzbar. Unser heutiger Begriff »Kunst« gibt die Bedeutung nicht adäquat wieder, weil wir heute Kunst nur im Zusammenhang mit dem individuell Schöpferischen verstehen, wohingegen tffcnh, ursprünglich aus dem handwerklichen Bereich stammend, jedes praktische Können in Verbindung mit einem sicheren und regelgeleiteten Wissen betont und deshalb in ihrem Tun begründbar und lehrbar ist. Dieses Können und Wissen besteht darin, etwas zustande zu bringen – und zwar das der jeweiligen tffcnh zugehörende Werk, ihr ˛rgon, und dieses möglichst in seiner besten Ausprägung, seiner ⁄retffi. 25 Die für eine Sache der jeweiligen Art spezifische ⁄retffi besitzt das Werk, wenn es seine Funktion gut erfüllt oder von guter Beschaffenheit ist. So kann auch einem Messer, wenn es seine Funktion des Schneidens gut erfüllt, ⁄retffi zugesprochen werden. Der Begriff ist also nicht auf den moralischen Kontext begrenzt, sodass eine Übersetzung des griechischen Wortes ⁄retffi mit »Tugend« irreführend, hingegen mit »Gutsein« angemessener ist. Wie Sokrates ausführt, ist der Herstellungsvorgang in seinen wesentlichsten Momenten dadurch charakterisiert, dass das durch die Tätigkeit zustande gebrachte Werk (˛rgon) durch eine ihm entsprechende
24 Vgl. zum Begriff der tffcnh die Monographie von J. Kube, TECNH und ARETH, 1969; ebenso W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 192 f.; G. Figal, Sokrates, 1995, 55 f.; U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 32 ff. Vgl. dazu auch die oben genannte Unterscheidung zwischen der tffcnh und der ¥mpeirffla (465a2–6). 25 Zum Begriff der ⁄retffi vgl. W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 212; U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 35 f.; P. Stemmer, Artikel Tugend, 1998, 1532 f.
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Ordnung ausgezeichnet ist, dass diese Ordnung bzw. Gestalt (t€xi@, ksmo@ bzw. e do@) vorher verstanden sein muss und dass erst durch den Bezug auf die im voraus gewußte Ordnung die einzelnen Herstellungsschritte verständlich werden und zum gewollten Ergebnis führen. Entscheidend ist, dass der Begriff des Werkes nicht auf ein nach der Herstellung selbstständig Vorliegendes begrenzt, sondern wesentlich weiter gefasst wird: Sokrates erwähnt Ärzte und Turnlehrer, als deren Werk man die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit des Leibes auffassen kann, und die Gesundheit des Leibes kann wiederum verstanden werden als eine Ordnung bzw. ein geordneter Zusammenhang, als ein Optimum des Zusammenwirkens aller Aspekte der leiblichen Existenz. Ausgehend von der Ordnung der herzustellenden Sache, die in der Zusammengehörigkeit ihrer Momente besteht, wird der Gedanke gewonnen, das Handlungsziel, der hervorzubringende »Gegenstand« des Wollens, als einen geordneten Zusammenhang aufzufassen, sodass sich verallgemeinert sagen lässt, dass jede Tätigkeit, welche im umfassendsten Sinn etwas hervor- oder zustande bringt, und das heißt auch jedes Handeln, an einer Ordnung orientiert ist. 26 Wie an späterer Stelle des Gorgias ausführt (vgl. 506d4–e4), ist diese Ordnungsstruktur des Zieles nicht eine beliebige, sondern es ist jeweils diejenige Ordnung, durch welche das bestimmte Sein des Jeweiligen in bestmöglichster Ausprägung hervortritt – seine Vortrefflichkeit, seine ⁄retffi. Dieses derart charakterisierte Handlungsziel ermöglicht durch seine Funktion eines im voraus gewussten Ordnungszusammenhanges die Handlung als solche, und zwar als der ermöglichende Grund des Verstehens und der Verständlichkeit, indem die einzelnen Handlungsschritte von daher ihren Sinn erhalten und erklärbar sind, auf den ich mich im Handeln beziehen und daraufhin verstehen kann und auch von anderen verstanden werde. Das Handlungsziel hat somit eine die Handlung nicht nur ermöglichende und die einzelnen Handlungsschritte koordinierende, sondern insgesamt auch eine sinnstiftende Funktion. Als Ergebnis der bisherigen Interpretation lässt sich Folgendes zusammenfassen: Ausgehend vom Selbstbezug des Handelnden, der immer nur das eigentlich will, was ein für ihn Gutes im Sinne eines für sein eigenes Leben Vorteilhaftes ist, kommt dem Handlungsziel eine Vgl. dazu G. Figal, Macht und Streit, 1991, 64 f. Zum Werk der Rede und ihrer Orientierung an einer Ordnung vgl. ebd., 65–70.
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konstitutive Bedeutung zu. Es ist im Unterschied zur Handlung selbst dasjenige, was eigentlich gewollt wird. Voraussetzung dafür ist ein Wissen von seinem Gutsein für den Handelnden. Da Wissen von etwas immer Wissen von etwas Bestimmtem ist, kann das Handlungsziel nur ein Bestimmtes sein, das sich als solches wissen lässt. Es wird als ein im Voraus gewusster Ordnungszusammenhang verstanden, der die Handlung in ihren einzelnen Schritten und ihrem Zusammenhang ermöglicht und an dem sich der Handelnde in seinem Handeln orientiert, worauf er sich versteht und auch für andere verständlich wird. Inwiefern kann die derart verstandene Handlung als selbstbestimmt bezeichnet werden? Eine erste Bedingung ist bereits mehrfach genannt, soll aber noch einmal als solche im Zusammenhang mit Selbstbestimmung hervorgehoben werden: der Selbstbezug des Handelnden. Bislang war von diesem im Zusammenhang unserer anthropologisch fundierten Sorge um uns selbst die Rede. Der zunächst unreflektierte Selbstbezug der Intentionalität auf das Gute wird jetzt in der Handlungstheorie des Gorgias ausdrücklich thematisiert und sogar explizit als Anspruch an jede Handlung formuliert: Das von mir gewollte und durch mein Handeln intendierte Ziel kann nur deshalb für mich ein Ziel sein, weil sich damit für mich etwas Vorteilhaftes, ein für mich selbst Gutes verbindet, 27 welches ich als ein Gutes für mich erkannt haben muss, zumindest davon überzeugt bin, dass es ein solches für mich sei, und genau deshalb bleibe ich in allem Wollen und Handeln auf mich selbst zurückbezogen. 28 In diesem ausdrücklichen Bezug auf das für mich Gute und der Frage nach diesem wird der Selbstbezug des Handelnden in einer nicht zu überbietenden Art und Weise akzentuiert. Darin liegt nach meinem Verständnis eine der wesentlichsten Aussagen der platonischen Handlungstheorie. Wenn dem so ist, dass jede Handlung auf ihren Handelnden zurückverweist, oder wie Nietzsche sagt: jede Tat ihren Täter braucht, 29 dann ist jede Handlung und – bei einem entsprechend weiten Hand-
t “yelfflmw@ pr€ttein, ⁄gajn te e nai (470a10 f.). Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 315 f. Vgl. bes. § 18: Reflexive Strukturen in Wissen und Handeln, ebd., 309–322. 29 Der Glaube des Menschen sei »die Behauptung, daß jede Wirkung eine Thätigkeit sei und daß jedes Bedingte einen Bedingenden, jede Thätigkeit einen Thäter, kurz ein Subjekt voraussetze« (F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Anfang 1886–Frühjahr 1886, 4 [8], KSA 12, 182). Vgl. auch ders., Die fröhliche Wissenschaft 370, KSA 3, 621 u. ö. 27 28
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lungsbegriff – auch jede Rede ein Ausdruck der seelischen Disposition oder Verfasstheit desjenigen, der handelt. 30 Schaut man sich unter diesem Gesichtspunkt den weiteren Verlauf im Gorgias an, dann ist es aufgrund der Gewichtung von der Handlung auf den Handelnden hin nur konsequent, dass bereits im weiteren Gespräch mit Polos und anschließend in einer ausdrücklichen Art und Weise mit Kallikles nicht mehr Handlungen, sondern Lebensweisen und die Verfasstheit der Seele thematisiert werden. Wie noch zu zeigen sein wird, führt die Politeia dieses Thema weiter: als einen Diskurs über verschiedene Lebensweisen und die ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen seelischen Dispositionen als menschliche Charaktere. Die Intentionalität des Wollens und Handelns auf das Gute hat allerdings eine Konsequenz, die selbstbestimmten Handlungen auf den ersten Blick zu widersprechen scheint: Jeder will immer für sich das Gute, d. h., man kann seinen eigenen Intentionen nicht zuwiderhandeln, willentlich und wissentlich kann keiner das Schlechte wollen. 31 Das bedeutet, dass Selbstbestimmung durch den intentionalen Bezug auf das Gute, von dem keine Distanzierung möglich ist, prädeterminiert wird, insofern sie auf den Bereich des Guten eingeschränkt ist. Diese Einschränkung ist aber nur missverständlich, wenn man das Gute bzw. Schlechte moralisch versteht. Gerade das ist aber nicht gemeint, sondern das Gute bzw. Schlechte ist ein für mich, für mein Leben Gutes, also in der weiteren Bedeutung des ethisch Guten zu verstehen, das nach sokratisch-platonischem Verständnis gleichwohl auch das moralisch Gute und Böse umfassen kann, insofern es gut oder schlecht für mich selbst ist. Unter dieser Voraussetzung ist die Frage sinnvoll: Kann ich ernsthaft das für mich Schlechte wollen? Oder kann ich das, was für mich wirklich gut ist, ernsthaft nicht wollen? Hinzu kommt, dass es hier nicht um affektbedingtes Verhalten geht, sondern um die Wahl und Entscheidung nach einer ernsthaften Überlegung und um das Abwägen von Gründen, wie für mich richtig zu handeln wäre. Jetzt wird offensichtlich, dass es schwer, wenn nicht sogar unmöglich ist, einen überzeugenden Grund zu finden, dass ich das für mich wirkDass für Platon die seelische Disposition des Handelnden primär, demgegenüber die Handlung als Ausdruck dieser sekundär ist, wird im Kapitel 5 unten dargestellt. 31 Zum Problemzusammenhang von dem Guten, dem Nützlichen und der Teleologie des Handelns vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, § 16: Der irrende Wille und die Teleologie des Handelns, 263–280. 30
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lich Schlechte wollen kann, oder anders gesagt: Ich kann das für mich wirklich Gute nicht nicht wollen, ansonsten läge ein pathologischer Fall vor. Ähnlich argumentieren Ernst Tugendhat und Peter Stemmer im Zusammenhang eines vernunftgeleiteten Lebens: Wenn das Wollen und Handeln der Person einer vernünftigen Überlegung nicht mehr zugänglich sind, kommt es nach Meinung beider Autoren zu einer Einschränkung von eigenen Handlungsmöglichkeiten, die, wenn sie als solche bewusst ist, von niemand gewollt werden kann, weil niemand ernsthaft wollen kann, dass die Möglichkeiten seines Wollens und Handelns eingeschränkt sind. 32 Wie es demnach nicht rational oder vernünftig ist, diese Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten wirklich und ernsthaft zu wollen, so ebenso nicht, das für mich wirklich Gute nicht zu wollen. 33 Gegen diese Konzeption an sich wurde immer wieder grundsätzlich geltend gemacht, dass die Antike im Allgemeinen und Platon im Besonderen noch keinen Begriff des freien Willens gekannt hätten, sondern dieser sei vielmehr christlich-neuzeitlicher Provenienz. So lautet die These von Albrecht Dihle, bereits vor ihm vertrat Eric Robertson Dodds diese Ansicht, und aus jüngerer Zeit sei Hans-Ulrich Baumgarten genannt. 34 Gemeinsam ist dieser Position, dass von einem Willensbegriff ausgegangen wird, der mit den Worten Dihles »den Handlungsimpuls ohne Rücksicht auf seinen möglichen Ursprung in der verstandesmäßigen Überlegung oder der emotionalen Verfassung« 35 bezeichnet und der als ein von Vernunft und Emotionen eigenständiges Vermögen sich sowohl für oder gegen die Vernunft als auch für oder gegen die Begierden entscheiden kann. In Bezug auf Platon beruft man sich in diesem Zusammenhang gern auf die sokratisch-platonische Gleichsetzung von Tugend und Wissen und das damit im Zusammenhang stehende sokratische Paradox, dass »niemand mit Absicht schlecht handelt«, die als Ausdruck eines verbreiteten Intellektualismus »das unvermeidliche Ergebnis des fehlenden Willensbegriffes« Vgl. dazu E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 1984, 52 ff.; P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 515 ff. Vgl. dazu im Kapitel 4.2.3 unten. 33 Zur Sachhaltigkeit dieses Arguments in der aktuellen Diskussion zur Willensschwäche vgl. J. Schälike, Willensschwäche, 2006. 34 Vgl. dazu A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, 1985; E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, 1991; H.-U. Baumgarten, Handlungstheorie bei Platon, 1998. 35 Ebd., 31. 32
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darstellten. 36 Denn gemäß Platon handelt keiner willentlich und wissentlich schlecht, sondern im Wissen um das Gute handelt er diesem entsprechend. Davon ausgehend sei auch das Phänomen der sogenannten Willensschwäche nicht gegeben, weil ein Handeln wider besseres Wissen unter diesen Voraussetzungen eigentlich nicht möglich sei. Wenn aber Platon keinen freien Willen kannte und vielleicht noch nicht einmal eine Vorstellung von diesem Vermögen hatte, wie soll dann noch sinnvoll von Selbstbestimmung ausgegangen werden, setzt Selbstbestimmung doch die Willensfreiheit in konstitutiver Weise voraus? Die Behauptung von Dihle ist also ein ernst zu nehmender Einwand gegen die von mir vertretene These von Selbstbestimmung bei Platon. Sehen wir uns zunächst unabhängig von Platon den Begriff des Willens an sich an: Er bezeichnet, so führt Christoph Horn aus, »die Fähigkeit eines Akteurs, sich überlegtermaßen Ziele zu setzen und diese planmäßig zu verfolgen«, und im Verlaufe einer sehr komplexen Begriffsgeschichte ließen sich mindestens drei Teilaspekte unterscheiden: ein rationales Streben im Zusammenhang mit der Rationalität von Handlungszielen, ein Dezisionsvermögen im Sinne von Willensfreiheit und ein psychisches Antriebspotential. 37 Unstrittig sei, dass Platon einen Willensbegriff in der Bedeutung des ersten und dritten Aspektes habe: Das weiter oben ausgeführte Wollen werde als ein ausschließlich rationales Streben in Ausrichtung auf das wirklich Gute verstanden, und in der Politeia werde der Wille als willentliches Antriebspotential aufgefasst, mit dem Begriff jum@ bezeichnet und sei neben dem Vernünftigen und dem Begehrlichen ein dritter Seelenteil (jumoeidff@). 38 Was den zweiten Aspekt – die Willensfreiheit – betrifft, gebe ich nach den Ausführungen von Horn erstens zu bedenken, dass in der Forschung keineswegs Einmütigkeit darüber herrscht, welcher Vgl. dazu E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, 1991, 15 und 175, Anm. 105. Vgl. hier und im Folgenden: Ch. Horn, Artikel Wille, 2004, 763 f. 38 An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Übersetzung von jum@ mit Wille nicht unproblematisch ist. So weist Arbogast Schmitt darauf hin, dass die von Platon in der Politeia vorgeschlagene Dreiteilung der Seele nicht mit der uns gewohnten Dreiteilung in Verstand, Wille und Gefühl identisch sein kann, sondern jener drei unterschiedliche Strebensformen entsprechen, die jeweils eine Einheit aus kognitiven, voluntativen und emotionalen Momenten bilden (Die Moderne und Platon, 2003, 283 ff. und 298 ff.). Vgl. zu diesem Problem auch N. Blößner, Dialogform und Argument, 1997, 233 ff. und die Ausführungen im Kapitel 5.2.1 unten. Damit stellt sich die Frage, ob die übliche moderne Teilung der Seele in drei voneinander unabhängige Teile die Komplexität unseres psychischen Seins wirklich adäquat zu erfassen vermag. 36 37
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Aspekt des modernen Willensbegriffs überhaupt als relevant anzusehen ist, um in der antiken Philosophie von einem Willen zu sprechen, und zweitens, dass das von Dihle angeführte Kriterium der Willensfreiheit durch die vielfache Ablehnung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts relativiert, wenn nicht sogar infrage gestellt wird. Von dieser grundsätzlichen Frage abgesehen, gibt es auch nach Ansicht von Horn diesen Begriff des Willens im Sinne von Willensfreiheit bei Platon nicht, weil man sich nicht willentlich und wissentlich für das Schlechte entscheiden kann, da man immer schon das Gute intendiert. Allein in dieser Hinsicht ist der Wille bei Platon nicht frei. 39 Das bedeutet aber nicht notwendig, dass der Wille bei Platon in keiner Hinsicht als frei aufgefasst werden kann, denn zugleich wird in den Dialogen das Problem der Zurechnung und Verantwortlichkeit des Einzelnen diskutiert. Als Beispiel sei nur der Schlussmythos aus der Politeia genannt, in dem der Einzelne in eigener Verantwortung und in freier Wahl seine Entscheidung für die Lebensweise in seinem nächsten Leben zu treffen hat. 40 Die Zuschreibung der Verantwortlichkeit für sich selbst kann nur unter der Voraussetzung eines freien Willens getroffen werden. Ebenso betont Pierre Hadot, dass alle antiken Philosophenschulen, deren Ziel in der »Verwirklichung des Ich« bestand, von der Willensfreiheit ausgegangen sein müssen, »dank derer der Mensch in der Lage ist, sich selbst zu verändern, sich zu bessern und zu verwirklichen«. 41 Die auf das Gute eingeschränkte Freiheit des Willens steht also zur Verantwortlichkeit des Menschen nicht im Widerspruch. Denn ob der Einzelne in seiner Ausrichtung auf das Gute das wirklich Gute intendiert oder sich darüber täuscht, insofern er ein nur scheinbar Gutes erstrebt, das liegt nach Platon eindeutig in seiner Hans-Ulrich Baumgarten bescheinigt Platon erst in den Nomoi die Ausarbeitung des Begriffs eines freien, d. h. spontanen erstursächlichen Willens (Handlungstheorie bei Platon, 1998). Auf diesbezügliche Tendenzen in den Nomoi verweist auch Christoph Horn (Artikel Wille, 2004, 764). 40 Vgl. dazu das Kapitel 5.3 unten. Vgl. auch Lg. 904b8–c6: »Die Ursachen aber für die Entstehung einer bestimmten Beschaffenheit überließ er den Willensentscheidungen eines jeden von uns (ta…@ boulffisesin k€stwn mn); denn welche Richtung einer seinem Begehren gibt und wie einer hierbei in seiner Seele beschaffen ist, in dieser Richtung und zu einer solchen Beschaffenheit pflegt sich in der Regel jeweils ein jeder von uns zu entwickeln. […] So verändern sich nun alle Wesen, die einer Seele teilhaftig sind, da sie ja in sich selbst den Grund dieser Veränderung tragen (¥n auto…@ kekthmffna t¼n t»@ metabol»@ a§tfflan)«. 41 P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 38. 39
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Zuständigkeit. Trotz der Intentionalität auf das Gute ist der Wille innerhalb dieser Ausrichtung frei zu wählen, menschliche Freiheit ist bei Platon im Rahmen eines am Guten ausgerichteten Willens möglich. Damit ist die Frage, ob bei Platon berechtigt von selbstbestimmtem Handeln gesprochen werden kann, aber noch nicht ausreichend beantwortet. Als zweite Bedingung für ein Handlungsziel, dass es ein solches sei, wurde genannt, dass der Handelnde das Handlungsziel im Voraus, und zwar als ein für ihn Gutes weiß. Wie wir bereits aus der Rede der Diotima im Symposion erfahren haben, kennt Platon kein »leeres« Wollen. Wollen ist immer ein Etwas-Wollen, ein anderes seiner selbst, dessen man ermangelt. Im Zusammenhang des Symposions konnte zunächst offenbleiben, unter welchen Voraussetzungen das anthropologisch fundierte Streben nach dem Guten als unmittelbar oder als reflektiert aufzufassen ist. Jetzt kann das Etwas-Wollen eindeutig nicht mehr als bloßes Begehren oder Wünschen gedacht werden, sondern das Wollen ist ausschließlich in seinem ausdrücklichen Bezug auf ein Handlungsziel zu verstehen, welches willentlich und wissentlich von mir als Handlungsziel für mich selbst gewählt worden ist. Aber das Handlungsziel kann nicht einfach schlechthin gesetzt werden, wenn wir sicher sein wollen, dass es wirklich ein Gutes für uns ist, denn wir haben ein ernsthaftes Interesse zu wissen, was das für uns Gute jeweils ist, weil wir uns in diesem Fragehorizont nicht mit einem scheinbaren Wissen begnügen. Dabei ist deutlich, dass es sich um ein äußerst anspruchsvolles Wissen handeln muss, betrifft es doch nicht nur das Wissen, welches Partikularziel jeweils gut für mich ist, sondern auch und gerade das Wissen über die letzten Ziele meines Handelns und damit über mich selbst in Hinblick auf den Gesamtzusammenhang meines eigenen Lebens. Dieses praktische Wissen wäre letztlich eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben. Dieses Wissen zu erlangen, ist auch deshalb so voraussetzungsvoll, weil es sich um ein praktisches Orientierungswissen im eigenen Lebenszusammenhang handelt. 42 Da es so schwierig ist, das Gute wirklich zu treffen, sind wir selbst herausgefordert, nicht nur das Handlungsziel im Voraus zu wissen, Zum Begriff dieses praktischen Wissens vgl. H.-G. Gadamer, Praktisches Wissen (1930), GW V; W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, Kapitel 3; R. Enskat, Authentisches Wissen, 1998; ebenso die entsprechenden Ausführungen am Ende von Kapitel 3.2 oben.
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sondern wir benötigen für uns selbst Gründe, weshalb es für uns ein Handlungsziel sein kann. Es ist nicht nur ein Wissen vom Handlungsziel an sich, sondern weil es ein für mich Gutes ist und ich darum weiß, kann ich begründen, weshalb es dieses sein kann. Wegen des eigenen Anspruchs, nicht fehlzugreifen, bedarf es der vernünftigen Überlegung, die es ermöglicht, für sich selbst und auch vor anderen das Handlungsziel als ein für mich Gutes zu rechtfertigen. Dabei muss der Einzelne, weil es gar nicht anders möglich ist, von seinem unmittelbaren oder bereits reflektierten praktischen Selbstverständnis ausgehen, das – neben dem praktischen Problem an sich – in die vernünftige Überlegung eingeht. Hier liegt nichts anderes vor als ein reflektiertes praktisches Selbstverhältnis, das an das eigene unmittelbare anschließt bzw. das bereits vorhandene reflektierte aufnimmt und zum eigenen Selbstverständnis in Verbindung mit dem aktuellen Problem reflektiert Stellung nimmt. Abgesehen davon, dass das praktische Problem von selbst auf eine Lösung drängt, ist dieses Wissen am Erfolg, soll heißen: an der Ausführung der Handlung, orientiert, denn ich will etwas für mich Gutes realisieren. Das Wissen in eigenster Sache, dieses von Hans-Georg Gadamer sogenannte »Für-sich-Wissen«, 43 enthält zugleich die Motivation, es auch zu tun, weil jeder das will, was für ihn gut und nützlich ist, und eine zusätzliche Motivation ist deshalb nicht nötig. 44 Diese die Handlung motivierende Einsicht ist – unter der platonischen Voraussetzung der Selbstbewegung der Seele (vgl. Phdr. 245c–246a und Lg. 895e f.) – für mich auch die Ursache, die Handlung von selbst zu beginnen und von mir aus einen Anfang zu machen. 45 Die dritte Bedingung einer Handlung betrifft, wie bereits oben ausgeführt, das Handlungsziel selbst. Dieses muss, damit es überhaupt ein Handlungsziel sein kann, ein Bestimmtes sein, weil Wissen von etwas immer nur Wissen von etwas Bestimmtem ist, das sich als dieses Bestimmte begreifen und von anderem unterscheiden lässt. Diese Verfasstheit des Handlungszieles ist eine notwendige, wenngleich nicht
Ebd., 239 u. ö. Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 167 ff., 261 ff. und 270. 45 Vgl. zu den Einsichten bzw. Gründen eines Individuums als Ursachen für sein jeweiliges Handeln die Anm. 19 im Kapitel 2.1 oben. 43 44
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hinreichende Bedingung für die Selbstbestimmung des Handelnden. Wenn nämlich das Handlungsziel ein Unbestimmtes ist, kann sich der Handelnde in der Festsetzung dieses Zwecks nicht selbst bestimmen, weil dem Zweck gerade die Bestimmtheit fehlt. 46 Wenn ich mich wegen eines praktischen Problems, das die Frage hervorruft, was in dieser Situation für mich das Beste sei zu tun, auf mich selbst beziehe und mir selbst als Antwort ein Handlungsziel gebe, dann bestimme ich mich zugleich selbst. »Also gewinnt das Subjekt erst in der Konkretion der Zwecksetzung einen bestimmten Gehalt. Im Etwas-Wollen liegt nicht allein die Fixierung eines Ziels, sondern immer auch die Fixierung eines Ich, das sich in diesem Ziel selbst bestimmt.« 47 Der einzelne Mensch bestimmt sich in seinem Wollen selbst, durch das, was er will – durch die Festlegung des eigenen Handlungszieles und damit auch die Festlegung seiner selbst, weil neben der Fixierung des Zieles auch das Selbst, wenn es das Ziel ernsthaft erreichen will, sich notwendig bis zur Realisierung des Zieles auf dieses festgelegt haben muss. Wie wir im Zusammenhang des Selbst gesehen haben, geht Platon davon aus, dass das, was ein Selbst ist, sich nur in dem zeigt, was es tut (Alc. I 129b ff.), und zwar nicht nur für den anderen, sondern auch für den Einzelnen selbst, insofern ich mich selbst erst im Handeln als eine Einheit erfahre und daraufhin verstehe und auch für die anderen als individuelles Selbst erkennbar werde, mit anderen Worten: Nur im Handeln gebe ich für mich und für andere zu erkennen, wer ich bin. Der Handlung als der Realisierung des für sich selbst gesetzten Zwecks geht die Festlegung dieses Zwecks voraus und mit dieser die Bestimmung des eigenen Selbst, sodass sich auch im Fall der Handlungstheorie Platons sagen lässt: »So sehr jedes Wollen notwendig auf etwas – und somit auf äußere Zwecke – aus ist, so deutlich ist doch auch, daß sich in diesem Wollen der Anspruch des Subjekts erfüllen soll. Der gesetzte Zweck ist das, worin das Subjekt sich seinem Begriff nach bestimmt, der erreichte Zweck dasjenige, worin es sich verwirklicht. Folglich ist es sich in seinen Willensbestimmungen selbst ein Zweck. In
Auf die Unbestimmtheit der Macht als Ursache dafür, dass Macht kein Handlungsziel sein kann, ist bereits hingewiesen worden. Im anschließenden Gespräch mit Kallikles wird im Mythos von den Wasserträgerinnen in der Unterwelt (Grg. 493a ff.) die Unbestimmtheit auf die Seele selbst bezogen: Als undichtes Sieb vermag sie nichts festzuhalten. Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 4.2.1 unten. 47 V. Gerhardt, Selbstbestimmung, 1988, 672. 46
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aller Selbstbestimmung durch Zwecke zielt es auf Verwirklichung seiner selbst.« 48 Die Bestimmtheit des Handlungszieles allein reicht für die menschliche Selbstbestimmung nicht aus, wenn nicht auch aufseiten des Handelnden die Fähigkeit und der Anspruch bestehen, die eigene Selbstbestimmung durch das Festlegen eines Zieles bis zu dessen Realisierung aufrechtzuerhalten. Mit Fähigkeit ist nichts anderes gemeint als das Vermögen des Gedächtnisses und der Erinnerung, mehr noch: etwas wirklich wissen zu können, was zugleich praktische Bedeutung für uns hat. Hinzukommen muss der eigene Anspruch, sich durch Festsetzung eines Zwecks selbst zu bestimmen und an dieser Selbstbestimmung festzuhalten. Auch wenn das Handlungsziel als ein für mich Gutes diesen Anspruch bereits motiviert: Wenn ich wirklich, d. h. ernsthaft, etwas will, dann stelle ich mich selbst unter den Anspruch, das Gewollte, den Zweck, zu realisieren. Sich selbst ernst nehmen, das bedeutet, dass ich mich als jemand verstehe, der aufgrund vernünftiger Überlegung zu eigenen Einsichten gelangt, die für ihn handlungsrelevante Bedeutung haben – von der Festsetzung eines Handlungszieles, über die eigene Bestimmung auf das Ziel, das Festhalten an der Bestimmung des Zwecks und von sich selbst bis hin zur Realisierung der Handlung. 49 Die durchgängige Bestimmtheit ist demnach nicht nur auf der Seite des Handlungszieles, sondern ebenso auf der Seite des Handelnden eine Voraussetzung für eine selbstbestimmte Handlung. Im Zusammenhang mit dem Selbst in Kapitel 2.1 hatte sich ergeben, dass das Selbst als ein sich als handlungsfähige Einheit erfahrendes und für andere erfahrbares Individuum zu verstehen ist und die Leistung der Seele darin besteht, diese Einheit des Handelnden zu ermöglichen. Dieser Befund muss durch die besprochene Handlungstheorie nicht korrigiert, sondern nur ergänzt werden: Voraussetzung für diese Aktivität der Seele ist die Orientierung an dem und Selbstbestimmung durch das Handlungsziel, dessen Funktion darin besteht, die Handlung in ihren einzelnen Schritten und in ihrem Zusammenhang zu koordinieren. Dieser Ordnungszusammenhang ergibt sich aus der Sache, genauer: aus dem Wesen bzw. der Natur der Sache selbst, und zwar in ihrer jeweils besten Ausprägung – ihrer ⁄retffi. Wenngleich in der bereits zitierten Stelle des Gorgias (503d5–504a4) der 48 49
Ebd., 687. Die Ernsthaftigkeit wird im Kapitel 4.2.3 unten besprochen. A
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Terminus der Idee (§dffa) nicht genannt wird, ist der ihr verwandte Begriff der Gestalt benutzt: e do@, sodass mit gutem Grund davon auszugehen ist, dass im Hintergrund die Ideenlehre Platons steht. 50 Wie die von Platon in den Dialogen selbst gebrauchten Beispiele zeigen, muss man die Funktion oder den Gebrauch des jeweiligen »Gegenstandes« und dessen für seinen bestmöglichen Gebrauch nötige Beschaffenheit verstanden haben. 51 Sich darauf zu verstehen, das ist eine Voraussetzung von menschlichen Handlungen, sodass sich jetzt sagen lässt: Damit der Mensch eine handlungsfähige Einheit sein kann, bedarf es der Orientierung an einem Handlungsziel – im optimalen Fall des Hinblicks auf eine Idee – und eines Wissens von dessen Funktion und seiner ⁄retffi. Damit sind nichts anderes als die Verbindlichkeiten selbstbestimmten Handelns genannt – sowohl die Ordnungsstruktur des Handlungszieles als auch die daraus resultierenden Handlungsschritte bzw. die daraufhin ausgewählten Handlungsmöglichkeiten sind durch das Ziel selbst vorgegeben, und ihnen ist während der Handlung Rechnung zu tragen, wenn das Ziel erreicht werden soll. Selbstbestimmtes Handeln besteht demnach darin, die Verbindlichkeiten oder einen Ordnungszusammenhang zur Geltung zu bringen, indem es der Natur seines jeweiligen »Gegenstandes« zu entsprechen versucht. Das Allgemeine gilt es zu individualisieren, weil Handeln, wenn es denn erfolgreich sein will, und das liegt wiederum in seiner Natur begründet, das in einem je konkret gegebenen Zusammenhang Passende, das der gegebenen Situation Entsprechende (prffpon) zu sein hat – was es immer erst zu finden gilt! Aber was bedeutet das für die menschliche Handlungstheorie? Kann man bei dieser Ausgangslage von eigener Zwecksetzung sprechen? Ist nicht das eigentliche, richtige Ziel meines Handelns mir immer schon vorgegeben und nicht ein von mir selbst zu bestimmendes Ziel? Zur Ideenlehre im Ganzen verweise ich auf meine Ausführungen im Kapitel 5.2.4 unten, zur zitierten Stelle aus dem Gorgias auf die von Günter Figal, der zwischen einer sokratischen und einer platonischen Ideenlehre unterscheidet (Sokrates, 1995, 75–77). 51 »Nun aber bezieht sich doch eines jeglichen Gerätes und Werkzeuges sowie jedes lebenden Wesens und jeder Handlung Tugend, Schönheit und Richtigkeit auf nichts anderes als auf den Gebrauch, wozu eben jegliches angefertigt oder von der Natur hervorgebracht ist.« (O'ko‰n ⁄ret¼ ka½ k€llo@ ka½ ¤rjth@ k€stou skeÐou@ ka½ z†ðou ka½ pr€xew@ o' pr@ ˝llo ti t¼n crefflan ¥stffln, pr@ ¨n n kaston –Æ pepoihmffnon peyuk@; R. 601d4–6) 50
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Es ist richtig, dass eine platonische Grundannahme in der Vorgegebenheit der ontologischen Strukturen des Seins besteht, die auch dadurch, dass sie in den Dialogen in Form eines Mythos vorgetragen wird, nicht relativiert wird. Die Seele verhält sich den Ideen gegenüber rezeptiv, diese werden durch sie nicht hervorgebracht. Andererseits ist eine Erkenntnis der Ideen allein kraft der Seele selbst möglich, nach dem Mythos durch »Wiedererinnerung«, darin besteht die Spontaneität der Seele im Erkenntnisprozess. 52 Das bedeutet wiederum nicht, dass man die Ideen in einem einfachen Akt des geistigen Schauens, einer Intuition oder aufgrund visionärer Fähigkeiten erkennen könnte, vielmehr sind sie uns aufgegeben. Auch wenn wir das jeweils Bestmöglich nicht erfinden, so gilt es, dieses überhaupt erst zu finden. Und wie man aus den Dialogen lernen kann, gelingt das nur durch harte und anspruchsvolle geistige Arbeit und über einen längeren Zeitraum hinweg, wie der Bildungsweg der Philosophen in der Politeia deutlich macht. 53 In diesem Sinn ist auch die universale Teleologie allen Handelns zu verstehen: »Nicht gemeint ist eine Teleologie, die schon von Natur aus das Handeln mitsamt seinen Folgen, notfalls sogar gegen den Willen des Handelnden, einem letzten Ziel zuordnete. Denn es geht um eine Teleologie, die auf das Wissen und Wollen des Handelnden angewiesen bleibt. Wenn das Ziel überhaupt erreicht wird, dann wird es durch die Vermittlung bewußten Wollens und Handelns erreicht. […] Die Tugenden werden bei Platon auch nicht zufällig in Analogie zum technischen Wissen und zu technischen Fertigkeiten verstanden. Doch das richtige Handeln bedarf nicht nur der Fertigkeit, seine Ziele zu erreichen. Es muß sich auch dessen bewußt werden können, wie seine eigentlichen Ziele beschaffen sind.« 54 Das ethische Wissen vom Guten ist aber nicht von gleicher Struktur wie das Wissen einer tffcnh, wie die Dialoge hinlänglich vorführen. Die Orientierung am Modell der tffcnh dient dazu, die Grenzen dieses praktischen Wissens erkennbar werden zu lassen und damit indirekt zu zeigen, dass das gesuchte ethische Wissen offenbar von anderer Art sein muss. Dagegen spricht nicht, dass die Charakterisierung der Handlung vom Herstellungsvorgang ausgeganZur Funktion des Anamnesismythos sowie zur Rezeptivität der Seele und Spontaneität des Erkennens bei Platon vgl. T. Borsche, Was etwas ist, 1992, §§ 92–97, 100–105. 53 Auf die eigene geistige Arbeit, um das Bestmögliche zu finden, hat Dorothea Frede aufmerksam gemacht, zwischen der Wirklichkeit und dem vorgegebenen Ideal bliebe auch bei Platon eine weite Spanne für Kreativität (Kreativität bei Platon?, 2005). 54 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissen, 1999, 269. 52
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gen ist. Wie weit die Analogie zur tffcnh reicht bzw. wo die Grenzen des Vergleichs liegen, ist bislang noch nicht diskutiert worden, wird aber im anschließenden Kapitel 4.2.2 erfolgen. An dieser Stelle sei nur so weit vorgegriffen, dass die Übertragung des Modells der technischen Herstellung auf die Seele und auf das Gute möglicherweise nicht gelingen kann, weil sowohl das eine als auch das andere nicht wie ein Gegenstand der tffcnh herstellbar und uns nicht direkt zugänglich und verfügbar wie deren Gegenstände sind. Letztlich ist die eigene Einsicht mit handlungsrelevanter Bedeutung ausschlaggebend, denn das, was für mich gut ist, kann letzten Endes nur ich selbst wissen. Es ist an meine eigene, durch Gründe zu rechtfertigende Einsicht gebunden, die zugleich handlungsrelevante Bedeutung hat. In dieser Hinsicht kann ich durch niemand vertreten werden. Zwar bestimme ich den Zweck an sich nicht selbst, aber dass dieser Zweck für mich ein Handlungsziel ist, das bestimme ich sehr wohl. Und nur in dieser Funktion als Handlungsziel hat der Zweck für mich überhaupt Bedeutung, vor der Festlegung als ein Zweck für mich ist er nicht relevant, sodass die Vorgegebenheit in diesem praktischen Sinn genau genommen ohne Belang ist. Bedeutung erlangt demnach ein vorgegebenes Handlungsziel erst, wenn ich dieses als ein Handlungsziel für mich festgelegt habe und dann daraufhin mich selbst bestimme. Darin besteht nach wie vor und ohne Zweifel meine Selbstbestimmung. Auch die Handlungsfreiheit als Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten bleibt von der Vorgegebenheit unberührt. Für jedes praktische Problem, das diese Bezeichnung auch verdient, bestehen mehrere Möglichkeiten, zwischen denen wir aufgrund einer vernünftigen Überlegung zu wählen haben: Was ist das Beste in dieser Situation für mich? Ich erinnere nur an das Gespräch zwischen Sokrates und Kriton im gleichnamigen Dialog: Sokrates wird durch Kriton vor die Alternative gestellt, entweder im Gefängnis zu bleiben oder das Angebot seiner Freunde zur Flucht aus dem Gefängnis anzunehmen. Sokrates verhält sich wie immer: Er prüft seinen bisherigen lgo@, im Gefängnis zu bleiben, und dieser bewährt sich gegenüber dem Angebot der Flucht als der bessere – durch Gründe, die für Sokrates eine praktisch relevante Bedeutung haben. Ausgehend von seinem Selbstverständnis bestätigt sich seine Einsicht auf begründete Art und Weise, und er ist deshalb gewillt, dieser Einsicht auch praktisch zu folgen und das Gefängnis nicht zu verlassen. Der Zusammenhang zwi188
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schen eigenem Selbstverständnis, der Einsicht und dem Willen, dieser Einsicht zu folgen, ist nicht zu übersehen. Es liegt hier nichts anderes vor als Selbstbestimmung – wenn auch nicht nach modernem Begriffsgebrauch in der Bedeutung von Autonomie oder einer absolut freien Zwecksetzung. Gegen die moderne Auffassung ist allerdings mit dem platonischen Verständnis die systematische Einsicht verbunden, dass zwar eine sich von allen Vorgegebenheiten und Bedingungen gelöste Selbstbestimmung theoretisch denkbar ist, aber wenig zum menschlichen Selbstverständnis und der Erhellung der mit ihr verbundenen Praxis beiträgt. Denn eine völlig freie Setzung von individuellen Zielen und Lebensentwürfen läuft Gefahr, ohne Erfolg zu sein, weil die gegebenen Bedingungen deren praktische Umsetzung einschränken, wenn nicht sogar verhindern können. Der Begriff des guten Lebens impliziert aber, dass Ziele nicht Gedankenexperimente bleiben sollen, sondern zu unserem Verständnis eines guten Lebens gehört, von pathologischen Ausnahmen einmal abgesehen, die Intention, ernsthaft an der Realisierung unserer Ziele und Lebensentwürfe interessiert zu sein. Da wir in vielfältigen Bezügen stehen und in Zusammenhängen unterschiedlicher Art leben, sind wir bei unserer Selbstbestimmung – vorausgesetzt, wir nehmen uns selbst ernst – gehalten, diese Bezüge und Zusammenhänge mit zu bedenken. Insofern gehen diese »Vorgegebenheiten« als Bedingungen, die wir nicht oder nur teilweise selbst hervorgebracht haben, in die Selbstbestimmung mit ein. Von einer freien Selbstbestimmung im streng autonomen Sinn kann nach diesem Verständnis unserer selbst kaum noch gesprochen werden. Sokrates handelt selbstbestimmt, weil er weiß, was er eigentlich will, worin seine letzten Ziele bestehen. Er intendiert nicht nur das eigentlich Gute, sondern er entspricht ihm auch. Kann man nur in seinem Fall von Selbstbestimmung sprechen, oder liegt nicht auch im Fall von Polos, welcher der Handlungsstruktur nicht entspricht, selbstbestimmtes Handeln vor? Zunächst bietet sich eine Unterscheidung an, die Platon selbst benutzt: freiwillig und unfreiwillig. Freiwillig bedeutet: wissen, was man eigentlich will, und das von mir intendierte Gute treffen; unfreiwillig: sich über die letzten Ziele des eigenen Handelns täuschen und deshalb das, was man eigentlich will, das Gute, verfehlen. Überträgt man diese begriffliche Unterscheidung auf selbstbestimmtes oder nicht selbstbestimmtes Handeln, käme nur dem freiwilligen Handeln Selbstbestimmung zu, dem aufgrund einer TäuA
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schung über das eigentlich Gute unfreiwilligen nicht, sondern dieses wäre fremdbestimmt. Damit ergäbe sich allerdings das gleiche »Dilemma«, vor dem ein Teil der Kant-Forschung steht, welche Selbstbestimmung ausschließlich mit moralischer Autonomie gleichsetzt und dadurch den Bereich der kantischen Heteronomie der Fremdbestimmung zuordnet. 55 Für Platon würde dies bedeuten, dass sämtliche Handlungen, die auf einer Täuschung über das eigentlich Gute beruhen, nicht selbst-, sondern fremdbestimmt wären. 56 Dann könnte allerdings nicht mehr erklärt werden, wieso Platon diejenigen, die sich täuschen, für ihre eigenen Handlungen und Lebensweisen selbst verantwortlich sein lässt, wie wir noch mehrfach sehen werden. Ich argumentiere dafür, dass in beiden Fällen selbstbestimmtes Handeln vorliegt und die Unterscheidung eine andere ist. Es lässt sich nämlich auch ohne Weiteres für den Rhetor oder Tyrann sagen, dass er von sich aus einen Anfang macht und mit Bewusstheit handelt. Polos nimmt ja gerade auf den Anspruch, es von sich aus und bewusst zu tun, ausdrücklich Bezug, indem er Macht als ein Tun dessen, was man will, Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel b. der Einleitung oben. Diese Position ist in ähnlicher Form in der Forschung mehrfach vertreten worden, nicht nur von Jörg Hardy (Was wissen Sokrates und seine Gesprächspartner?, 2004, 261 f.), mit dessen Interpretation ich mich bereits im Kapitel 3.2 oben auseinandergesetzt habe: Selbstbestimmt zu leben, erfordere das Wissen des Guten, ein vermeintliches Wissen gefährde die Selbstbestimmung. Ohne dass Hardy selbst diesen Schluss zieht, heißt das, jeder, der nicht über dieses Wissen verfügt, handelt zwangsläufig nicht selbst-, sondern fremdbestimmt. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Wolfgang M. Zeitler: »Aber die Freiheit einer Entscheidung ist für Platon noch nicht mit der Freiheit der Ermöglichung gegeben, sie ist ihm auch nicht identisch mit Autonomie (wie etwa seit Kant), noch gleichzusetzen mit Indeterminiertheit. Platon sah vielmehr die Gefahr für die Freiheit der Entscheidung kommen von der Übertragung der politischen Formel ›frei ist, wer tut was er will‹ auf die Ethik. Denn die Freiheit einer Entscheidung fällt für Platon nicht mit ihrer Beliebigkeit zusammen, sondern mit ihrer Vernünftigkeit. […] Die Freiheit des so-oder-anders-Könnens ist für Platon Mangel an Freiheit. Ziel ist nicht, die sich aus der vernunftmäßigen Ordnung im Menschen ergebende Eudaimonie jederzeit wieder verlassen zu können, sondern Ziel ist die Festigkeit im Glück.« (Entscheidungsfreiheit bei Platon, 1983, 162 und 165) Noch deutlicher ist bei Arbogast Schmitt zu lesen, zur »Besonderheit des platonischen Freiheitsbegriffs« gehöre, »daß Freiheit für Platon nur dann besteht, wenn jemand das für ihn wirklich Gute will, da die Verfolgung nur scheinbarer Vorteile niemals frei gewollt sein kann, sondern immer abhängig ist von Augenblickszwängen. Auf keinen Fall ist für Platon das Bewußtsein, frei wählen zu können, bereits ein Aufweis tatsächlich freier Entscheidung. Freie Selbstbestimmung gibt es erst bei dem, der aus einem Wissen um das für ihn Gute handelt.« (Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 38, Anm. 37)
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versteht. Es ließe sich natürlich einwenden, dass er sich in seinem Verhalten durch die Bedingungen des Augenblicks oder der Situation beeinflussen lässt. Aber die Position, die er vertritt, ist nicht die eines völlig affektgebundenen Verhaltens, und man machte sie durch eine derartige Interpretation schwächer, als sie in Wirklichkeit ist. Gleichfalls muss sein Wollen (nach seinem Begriff des Wollens) als ein selbstbestimmtes aufgefasst werden, weder wird er durch äußere Gewalt gegen seinen Willen gezwungen, etwas zu tun, noch ist das Wollen selbst ein absolut diffuses Begehren, sondern auch immer schon, wenngleich mehr oder weniger, bestimmt. Denn auch sein Dasein ist nicht gänzlich ohne Wertung, die Voraussetzung ist, sich aus der Fülle des Möglichen etwas Bestimmtes als Gewolltes auszuwählen, z. B. jemand zu töten oder des Eigentums zu berauben. Aber, und das ist ja die eigentliche platonische Pointe – weil Polos die Handlung mit dem Ziel verwechselt und Macht aufgrund ihrer Unbestimmtheit kein mögliches Handlungsziel sein kann, fehlt das Ziel als das um des Guten willen. Der Unterschied besteht nicht darin, ob in dem einen oder dem anderen Fall Selbstbestimmung vorliegt oder nicht, sondern – und das macht die Differenz zwischen Sokrates und Polos aus – inwiefern selbstbestimmtes Handeln den eigenen Intentionen, dem vom Handelnden selbst intendierten letzten Ziel seines Handelns entspricht oder nicht. Die Verschiedenheit besteht vielmehr darin, ob das gute Leben, die dem Menschen mögliche ⁄retffi erreicht wird oder nicht, mit anderen Worten: Die Differenz besteht in der Qualität des Lebens. Ursache dafür ist das zugrunde liegende Wissen des Guten bzw. eine verschiedene Begründung der Handlung: Ist Polos in unserem Fall derjenige, »der sein Wollen durch eine grundlose Entscheidung selbst zum Handeln determiniert«, so Sokrates derjenige, »der weiß, was er will«. 57 Für eine begriffliche Unterscheidung schlage ich vor, von einer gelingenden und einer verfehlenden Selbstbestimmung zu sprechen. Letztgenannte liegt im Fall von Polos vor: Er kann nicht das für sich Gute realisieren, was er eigentlich will, weil er nicht nur über die Bedingungen menschlichen Handelns im Unklaren ist, sondern sich in seinem Wollen irrt, sich deshalb selbst täuscht und seinen eigentlichen Intentionen widerspricht. Dagegen haben wir am Beispiel von Sokrates von gelingender Selbstbestimmung zu sprechen, als Realisierung
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der besten Möglichkeiten seiner selbst und damit seines guten Lebens. 58 Zwei Aspekte von Selbstbestimmung sind allerdings noch nicht hinreichend geklärt: Unterscheidet sich die Selbstbestimmung von Polos und Sokrates wirklich nur in ihren Ausgangspositionen – in einer Unwissendheit über sich selbst oder im Wissen des Guten – und in ihren Resultaten – die eigene Intention verfehlend oder im Fall des Erreichens gelingend –, wie ich bisher argumentiert habe? Demnach läge in beiden Fällen Selbstbestimmung gleichwertig vor bzw. sie wäre äquivalent verteilt. Oder ist Selbstbestimmung nicht vielmehr im Fall von Polos in einer bestimmten Art und Weise eingeschränkt? Der zweite Aspekt betrifft die unterschiedlichen Voraussetzungen: Bei der vorgeschlagenen begrifflichen Unterscheidung zwischen einer gelingenden und einer verfehlenden Selbstbestimmung habe ich im ersten Fall zumindest implizit vorausgesetzt, dass Sokrates ein Wissen vom Guten hat, soll doch dieses die Voraussetzung für die Entsprechung der eigenen Intentionalität sein. Damit liegt die Frage nahe, was es denn mit diesem Wissen näher auf sich habe, also worin die Einsicht von Sokrates bestehe. Dieses Wissen zu konkretisieren oder inhaltlich zu füllen, ist ein großes Problem in der Platon-Forschung, setzt die Antwort doch eine Interpretation der Ideenlehre und insbesondere der Idee des Guten voraus. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich im Folgenden deshalb nur auf Andeutungen und eine Richtungsweisung, will aber keinen Versuch unternehmen, das Problem in einer umfassenden Weise zu klären. Bislang ist uns die Methode bekannt – die Rechtfertigung von Gründen im sokratischen Dialog, in dem Entscheidungen auf ihre Vernünftigkeit hin überprüft werden. Hinzu kommt, dass Sokrates das Wissen vom Guten in einem umfassenden Sinn nicht hat und auch nicht haben kann, weil – wie aus der Apologie und dem Symposion bekannt – menschliches Wissen notwendig unabgeschlossen bleiben muss. Deshalb lässt sich zum jetzigen Stand vermuten, dass die (nicht abschließbare) Suche nach dem Guten – die philosophische Lebensweise – zum einen die Voraussetzung für die Platons Handlungstheorie kann als eine Selbstauslegung menschlicher Handlungsstrukturen gedeutet werden. Die immer schon vorhandene unreflektierte Sorge um sich selbst (vgl. dazu das Kapitel 1.2 oben) wird durch philosophische Reflexion bewusst gemacht, durch diese werden falsche Orientierungen, und das heißt: falsche Selbstverständnisse, überhaupt erst als solche sichtbar – ein weiteres Beispiel für das platonische Verständnis von Philosophie als Selbsterkenntnis des Menschen.
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Einsicht in das Gute ist und zum anderen, gerade weil sie zu keinem absoluten Ende findet, bereits das gute Leben selbst realisiert. Die Klärung beider Aspekte wird auch die Aufgabe der noch folgenden Überlegungen sein.
4.2 Wie soll ich leben? »Denn du siehst, daß davon die Rede unter uns ist, worüber es gewiß für jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat, nichts ernsthafteres geben kann, nämlich auf welche Weise er leben soll«. 59 An dieser Stelle betont Sokrates mit allem Nachdruck, dass die Frage nach dem guten Leben die Frage schlechthin ist. Darauf eine hinreichende und sichere Antwort zu haben, das ist, so kann man Sokrates verstehen, das Wichtigste, dem alles andere nach- oder untergeordnet ist. Die Frage betrifft ja keineswegs nur einzelne Handlungen, sondern sie hat ihre eigentliche Bedeutung im Bezug auf den Gesamtzusammenhang des eigenen Lebens, indem nach unserer Glückseligkeit (e'daimonffla), nach dem Gutsein des Lebens in jeglicher Beziehung und seiner gesamten Dauer, gefragt wird. Weil diese Einheit des Lebens »als solche weder handelnd verfügbar ist noch aus unbeteiligtem Abstand erfahren und beurteilt werden kann«, 60 ist das Glück im Sinne eines vollkommen guten Lebens »eher eine Art regulativer Idee als ein direkter Gegenstand des Wissens« nach Art eines tffcnh-Wissens. 61 Deshalb wird auch verständlich, weshalb die Frage auf die Voraussetzung des guten Lebens gerichtet wird: auf das Gutsein der menschlichen Seele, deren ei-
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¡r”@ gÞr ˆti per½ toÐtou m…n e§sin o lgoi, o tffl n m”llon spoud€seiff ti@ ka½ smikrn no‰n ˛cwn ˝njrwpo@, to‰to, ˆntina cr¼ trpon z»n (Grg. 500c1–3). Ebenso bereits mit exponiertem Ausdruck im Gespräch mit Polos, 472c6–10: »Ist doch auch das, worüber wir streiten, nichts Kleines, sondern fast wohl dasjenige, welches zu wissen das Schönste, nicht zu wissen aber das Unschönste ist. Denn das Wesentliche davon ist doch entweder einsehen oder nicht einsehen, wer glückselig ist und wer nicht.« (Ka½ gÞr tugc€nei per½ n ⁄myisbhto‰men o' p€nu smikrÞ nta, ⁄llÞ scedn ti ta‰ta per½ n e§dffnai te k€lliston m¼ e§dffnai te a—sciston‡ t gÞr key€laion a'tn ¥st½n gignðskein ⁄gnoe…n ˆsti@ te e'dafflmwn ¥st½n ka½ ˆsti@ mffi.) Vgl. auch 487b5, 487e8–488a4 und 492d4 f., weitere Stellen aus anderen Dialogen sind in Anm. 17 im Kapitel 3.1 oben zu finden. 60 G. Figal, Sokrates, 1995, 70. 61 U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 47. A
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gentümliches Werk, ihr ˛rgon, in der Hervorbringung der jeweiligen Lebensweise als Ausdruck ihrer eigenen Verfasstheit besteht. Bereits im Gespräch mit Polos wurde auf den Selbstbezug des Handelnden zurückgegangen, als Polos die Perspektive wechselte: von der Frage, was die Rhetorik sei und worin ihr Werk bestehe, zur Frage, inwiefern die Handhabung der Rhetorik für den Rhetor selbst gut sei. Diese Wendung auf den Handelnden selbst und auf dessen beste Verfassung setzt sich im Dialog fort: In der Diskussion, ob der gerecht oder der ungerecht Handelnde glückselig sei oder nicht, hatte Sokrates zwei Thesen vertreten – Unrechttun sei schlimmer als Unrechtleiden und ungestraftes Unrechttun schlimmer als bestraftes – und diese verteidigt, indem er ungerechtes Handeln als Ausdruck einer Krankheit der Seele auffasste und hinsichtlich der e'daimonffla auf die Gesundheit der Seele als ihrer besten Verfassung hinwies. Die Frage: Wie soll ich leben?, und zwar in dieser auf das Gutsein des Menschen bezogenen Perspektive, steht nun im Zentrum des Dialoges zwischen Kallikles und Sokrates. Der Text wird daraufhin zu lesen sein, inwiefern in der Auseinandersetzung von zwei im Dialog vom jeweiligen Gesprächspartner argumentativ und zugleich in persona vertretenen Lebensweisen die Aspekte von Selbstbestimmung und Individualität erneut thematisch werden. Es sei noch darauf hingewiesen, dass im Gorgias nicht alles bis ins Letzte ausgeführt ist, sondern einige wesentliche Gesichtspunkte werden in der Politeia aufgenommen und fortgeführt. Aus diesem Grund konzentriere ich mich auf die Punkte, die hauptsächlich der Gorgias thematisiert, und auf jene, die zum Verständnis nötig sind, selbst wenn sie erst im Rahmen der Politeia ausführlicher besprochen werden.
4.2.1
Die Antwort des Kallikles – Leben für die Begierden
Nachdem Polos mehr widerwillig als überzeugt Sokrates zugeben musste, dass das unbestrafte Unrechttun das größere Übel als das bestrafte sei, übernimmt Kallikles dessen Part und behauptet, Sokrates vertrete nichts anderes als den üblichen Standpunkt: Das ist gerecht, was dem Gesetz (nmo@) entspricht und seine Legitimation durch die Entsprechung mit der Natur (yÐsi@) erhält. Für Kallikles liegt aber gerade in dieser Annahme, dass sich Gesetz und Natur entsprechen, eine Täuschung vor, weil sie sich nach seiner Auffassung entgegenstehen. 194
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Im Rückgriff auf die sophistische Antithese von nmo@ und yÐsi@ 62 argumentiert er, dass die Gesetze als bloß konventionelle Festlegungen den Rangunterschied nivellieren, der von Natur aus zwischen den wenigen Starken und den vielen Schwachen besteht. Weil die Schwachen unvermögend sind, die eigenen Begierden auszuleben, genügt ihnen, Gleiches zu erhalten, und zu ihrem eigenen Schutz und aus Furcht vor den Stärkeren, welchen von Natur aus zukäme, mehr zu haben (plffon ˛cein), errichten sie Gesetze, nach denen das Streben, mehr haben zu wollen als andere, Unrechttun ist. Von Natur aus sei allerdings das Unrechtleiden das Schlechtere: »Denn von Natur ist allemal jedes das Unschönere, was auch das Üblere ist, also das Unrechtleiden, gesetzlich aber ist es das Unrechttun«, und die natürliche Gerechtigkeit – »dem Gesetz gemäß, nämlich dem der Natur« – besteht nach Kallikles darin, »daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und mehr habe«. 63 Die Position von Kallikles ist im Vergleich zu denen seiner beiden Vorgänger die stärkste, da sie die Kritikpunkte von Sokrates – die Probleme des Guten bzw. Nützlichen und des Gerechten bzw. Ungerechten – versucht, produktiv aufzunehmen. Mächtigsein besteht nämlich nicht mehr wie bei Polos darin, das zustande zu bringen, was man will, sondern ist die Überlegenheit über andere in der Auseinandersetzung mit ihnen. Macht als etwas Gutes wird nicht mehr wie von Polos auf das Handlungsziel, sondern auf den Handelnden selbst – den Stärkeren – bezogen. Durch den Bezug auf die Natur des Stärkeren ist es Kallikles auch möglich, den Begriff der Gerechtigkeit positiv zu bestimmen: als die Herrschaft des Stärkeren, indem er von einem Gesetz oder Recht der Natur (t t»@ yÐsew@ dfflkaion, 484b1) ausgeht. 64 Vgl. dazu das Fragment des Sophisten Antiphon (DK 87 B 44, A 1–6), die Hauptquelle für die Theorie von nmo@ und yÐsi@, und F. Heinimann, Nomos und Physis, 1987, bes. III. Die sophistische Antithese Nomos-Physis, 110 ff. 63 FÐsei mþn gÞr p”n a—scin ¥stin ˆper ka½ k€kion, t ⁄dike…sjai, nm†w dþ t ⁄dike…n. (483a6–b1) katÞ nmon ge tn t»@ yÐsew@ (483e4 f.), tn krefflttw to‰ `ttono@ ˝rcein ka½ plffon ˛cein (483d6). Schleiermacher übersetzt diese Stelle: »daß der Bessere über den Schlechteren herrsche und mehr habe«, was m. E. unkorrekt ist, da krefflttwn und `ttwn, nicht beltfflwn und cefflrwn im Originaltext steht, was zu seiner Übersetzung berechtigen würde. Die Konkretisierung des Stärkeren zum Besseren erfolgt erst in der anschließenden Diskussion. 64 Mit der Herrschaft des Stärkeren als einem Naturgesetz kommt Kallikles der Forderung von Sokrates nach, eine Sache in Hinblick auf ihre Natur aufzuweisen (G. Figal, Macht und Streit, 1991, 61). 62
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In der sich anschließenden Diskussion muss Kallikles seine These mehrfach präzisieren: Wie bereits der erste Einwand von Sokrates zeigt, erweist sich das Kriterium der jeweils faktischen Macht als unzureichend. Indem die vielen Schwachen auch für die Stärkeren gültige Gesetze aufstellen, setzen jene sich gegen diese durch. Gerade darin erweist sich ihre natürliche Stärke, und Gesetz und Natur entsprechen einander. Deshalb ist es für Kallikles nötig, den Begriff des Stärkeren zu differenzieren. Der Stärkere (krefflttwn) ist nämlich der Bessere (beltfflwn bzw. ⁄mefflnwn), und – so ein Vorschlag von Sokrates, den Kallikles aufnimmt – er ist der Bessere als der Einsichtsvollere (yronimðtero@, vgl. 489e7 f.). Nachdem Sokrates anhand von Beispielen aus dem Bereich der tffcnh deutlich macht, dass der Einsichtsvollste nicht in jedem Fall für sich das meiste wählte, weil es nicht zu seinem Vorteil sei, z. B. würde ein Arzt für sich nie das meiste an Speisen und Getränken beanspruchen, weil er um den Nachteil für seine Gesundheit wüsste, erwidert Kallikles, dass es ihm um die Einsicht in Bezug auf die Angelegenheiten des Staates geht. Die Stärkeren und Besseren sind nun diejenigen, die »in den Staatssachen einsichtsvoll sind und tapfer. Denn diesen kommt es zu, die Staaten zu beherrschen, und das ist eben das Recht, daß diese mehr haben als die anderen, die Herrschenden als die Beherrschten.«65 Mit der anschließenden Frage von Sokrates, ob denn nicht der über andere Herrschende auch sich selbst beherrschen sollte (a't@ auto‰ ˝rcein, 491d3–e1), führt Platon die Herrschaft über andere auf die Voraussetzung einer Herrschaft über sich selbst zurück, 66 und gleichzeitig wird damit die Perspektive erneut gewechselt – vom Verhältnis des Herrschenden zu den Beherrschten auf das Verhältnis des
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to±@ yronfflmou@ e§@ tÞ t»@ plew@ pr€gmata ka½ ⁄ndrefflou@. ToÐtou@ gÞr prosffikei tn plewn ˝rcein, ka½ t dfflkaion to‰t’ ¥stffln, plffon ˛cein toÐtou@ tn ˝llwn, to±@ ˝rconta@ tn ⁄rcomffnwn. (491c6–d2) 66 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 318: »Reflexivstrukturen besonderer Art liegen im Umkreis des Herrschens und des Beherrschtwerdens vor. Schon im ›Gorgias‹ führt Sokrates in der Diskussion mit Kallikles die Möglichkeit einer Herrschaft über andere auf die Voraussetzung der Möglichkeit einer Herrschaft über sich selbst zurück (491d f.). Er wird von Kallikles zunächst gar nicht verstanden. Kallikles bildet sich zwar ein, sich auf Fragen des Herrschens zu verstehen. Gleichwohl befindet er sich im Zustand der Selbsttäuschung, solange ihm die reflexiven Implikate verborgen bleiben, die zu jeder Art von Herrschaft gehören.« Vgl. zu 491d f. auch den Kommentar von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 360 f.
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Herrschenden zu sich selbst, auf sein Selbstverhältnis. 67 Kallikles weist die Frage strikt von sich und artikuliert seine Position erneut genauer: »Denn wie könnte wohl ein Mensch glückselig sein, der irgendwem diente? Sondern das ist eben das von Natur Schöne und Rechte […], daß, wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen; und diesen, wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht, und worauf seine Begierde jedesmal geht, sie befriedigen.« 68 Zunächst ist diese Lebenskonzeption keineswegs unattraktiv formuliert. Sie besteht nämlich nicht nur in dem Vermögen (dÐnami@), die eigenen Begierden so groß wie möglich werden zu lassen, sondern gleichfalls in dem Können (kann e nai), ihnen unabhängig vom jeweiligen Inhalt in der Erfüllung zu entsprechen – durch die Unterstützung von Einsicht und Tapferkeit! 69 Der Einsicht bedarf es, um die richtigen Mittel zur Befriedigung auszuwählen, der Tapferkeit zur Ausführung und Durchsetzung der entsprechenden Handlungen. 70 Besonnenheit und Gerechtigkeit nach konventionellem Verständnis können nach diesem dynamischen Lebenskonzept der von Die Herrschaft über andere auf die Selbstbeherrschung zurückzuführen, ist ein weiteres Beispiel für den individualitätstheoretischen Ansatz Platons, das Weltverhältnis auf dem Selbstverhältnis des handelnden Individuums zu gründen. Wieso die Selbstbeherrschung die Bedingung für die Herrschaft über andere sein soll, bleibt an dieser Stelle im Gorgias offen und wird im Zusammenhang der Politeia im Kapitel 5.2.2 unten ausführlich behandelt. 68 3Epe½ p@ n e'dafflmwn gffnoito ˝njrwpo@ douleÐwn ¡t†wo‰n; 3AllÞ to‰t’ ¥st½n t katÞ yÐsin kaln ka½ dfflkaion […], ˆti de… tn ¤rj@ biwsmenon tÞ@ mþn ¥pijumffla@ tÞ@ auto‰ ¥”n £@ megfflsta@ e nai ka½ m¼ kol€zein, taÐtai@ dþ £@ megfflstai@ osai@ kann e nai ¢phrete…n di’ ⁄ndrefflan ka½ yrnhsin, ka½ ⁄popimpl€nai n n ⁄e½ ¥pijumffla gfflgnhtai. (491e5–492a2) 69 Die Tugend der Tapferkeit wurde bereits 491b2–4 eingeführt: Die Besseren sind nicht nur einsichtsvoll, »sondern auch tapfer, so daß sie imstande sind, was sie ersonnen haben, auch auszuführen und nicht dabei ermüden aus Weichlichkeit des Gemüts« (⁄llÞ ka½ ⁄ndre…oi, kano½ nte@ ˘ n noffiswsin ¥pitele…n, ka½ m¼ ⁄pok€mnwsi diÞ malakfflan t»@ vuc»@). 70 Hier bestehen gewisse Parallelen zur Politeia: »Es spielen dabei dieselben Seelenvermögen eine Rolle wie in Buch IV der Politeia, allerdings mit einer anderen Aufgabenverteilung. Für Kallikles bestimmt die Begierde (epithymia) die Ziele, und Denken und Tapferkeit (Mut, thymos) unterstützen die Begierde. In der Politeia gibt das Denken die Zielsetzungen vor, der Mut unterstützt das Denken, und beide zusammen beherrschen die Begierde.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 183, Anm. 4) Vgl. ebenso den Kommentar zu 492a von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 363 f. 67
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Natur aus großen Menschen nur als Einschränkungen gelten: »Üppigkeit und Ungebundenheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt [d. h. Tapferkeit und Einsicht] haben, sind eben Tugend und Glückseligkeit«. 71 Die Lebenskonzeption des Kallikles ist in der Literatur mehrfach als Paradigma des Immoralismus bezeichnet worden; 72 auch auf Parallelen zu Nietzsches »großem Individuum«, dem Ideal des Übermenschen, wurde mehrfach aufmerksam gemacht. 73 Nach meinem Verständnis vertritt Kallikles eher eine aristokratische Ethik, die sich sophistischer Argumentationen bedient: 74 Gegen die Bestimmung der Gerechtigkeit durch die Gleichheit aller Bürger werden die von Natur aus vorhandenen und kultivierten individuellen Unterschiede geltend gemacht. Dieses Konzept von Individualität ist eine Konsequenz aus der griechischen Agonalität seit Homer und wird jetzt durch den Verweis auf das Recht der Natur legitimiert. Dem Gesetz der Natur gemäß sollen die Besten 75 herrschen, die sich gerade durch die Tugenden der Einsicht und Tapferkeit auszeichnen. Allein die Besonnenheit fehlt, in deren Zusammenwirken mit den beiden anderen Kardinaltugenden sich die vierte, die umfassende Tugend der Gerechtigkeit zeigt, wie später in der Politeia ausgeführt wird. Die Besonnenheit musste im Gortruy¼ ka½ ⁄kolasffla ka½ ¥leujerffla, ¥Þn ¥pikourfflan ˛c–h, to‰t’ ¥st½n ⁄retffi te ka½ e'daimonffla (492c5 f.). 72 Vgl. dazu P. Friedländer, Platon, Bd. 2, 1957, 227 u. ö.; Th. Kobusch, Wie man leben soll, 1996, 58. 73 Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 164; A. Graeser, Die Philosophie der Antike 2, 1993, 75 f. und 292, Anm. 12. 74 Kallikles nimmt eine Umwertung vor: Was vordem als ungerecht galt, gilt ihm jetzt als gerecht und umgekehrt, und er empfiehlt nach wie vor, sich gerecht zu verhalten, natürlich nach seinem Verständnis von gerecht. Gerechte Handlungen werden demnach wie bisher positiv bewertet: »Kallikles ist also keineswegs ein Immoralist, er ist ein Reformer, der die ethischen Einschätzungen der Menschen verändern will.« (P. Stemmer, Platons Dialektik, 1992, 15, zu Kallikles insgesamt 13 ff.) Vgl. zum positiv bewerteten Gebrauch des Begriff der ⁄retffi den Kommentar von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 365 f. 75 Dass sich diese Ethik nicht ausschließlich machtpolitisch definiert, macht der Begriff des Besseren deutlich: Hatte Kallikles anfangs vom Stärkeren (krefflttwn) gesprochen und damit einen machtpolitischen Begriff benutzt, so wurde dieser im nächsten Schritt durch den Begriff des Besseren (beltfflwn bzw. ⁄mefflnwn) als des Edleren bzw. Vortrefflicheren näher bestimmt. ⁄mefflnwn ist der Komparativ von ⁄gaj@, der entsprechende Superlativ lautet ˝risto@ und ist stammverwandt mit ⁄retffi – der Tugend als dem Zustand der Vortrefflichkeit, der optimalen Ausprägung des jeweiligen Wesens. 71
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gias dem Gedanken der Pleonexie weichen, weil sie nicht mit dem natürlichen Gerechtigkeitsbegriff kompatibel ist. 76 Sokrates benutzt einen Mythos, um die ungebundene Lebensweise (⁄klasto@ bfflo@) der Unvernünftigen bildhaft darzustellen und damit die Unzulänglichkeiten dieser Konzeption, welcher der Gedanke der Ungebundenheit (⁄kolasffla) als Garant für Glückseligkeit der mächtigen Individuen gilt, deutlich werden zu lassen: Wie der Teil der Seele, in dem die Begierden sind, einem lecken Fass (tetrhmffno@ pffljo@) gleicht, das »wegen der Ungebundenheit und Unhaltbarkeit nicht schließen« (t ⁄klaston a'to‰ ka½ o' stegann, 493b2) kann, so gleicht auch die Seele der Unvernünftigen einem lecken Sieb (tetrhmffnon kskinon), weil es nichts festhalten könne, »aus Unbeständigkeit und Vergeßlichkeit« (di’ ⁄pistfflan te ka½ lffijhn, 493c3). Und weil die Unvernünftigen wie mit einem löchrigen Sieb Wasser in ein leckes Fass tragen, sind sie ebenso die Unglücklichen. Offensichtlich geht Platon hier von zwei getrennten Seelenteilen aus, dem »Fass« und dem »Sieb«, welche den Begierden und der Einsicht entsprechen, 77 und wichtig ist sowohl der einzelne Zustand als auch das Verhältnis beider zueinander. Das lecke Fass als die ins Bild gesetzten ständig wechselnden Begierden kann nicht das eigentlich Problematische sein, denn wie bereits aus dem Symposion bekannt ist, gehört die Bedürftigkeit zu unserer menschlichen Natur, die uns immer nach dem streben lässt, dessen wir ermangeln. Die Unzulänglichkeit der Lebenskonzeption des Kallikles besteht vielmehr in der ausschließlichen Orientierung an den Begierden und der damit verbundenen instrumentalen Funktion der Einsicht. Die Unbegrenztheit und Gestaltlosigkeit der Begierden widersprechen nämlich den jeweiligen Befriedigungsversuchen. Jede erfüllte Begierde verweist zugleich über sich hinaus auf die nächste zu befriedigende Begierde, sodass kein Ende der Mühen der Befriedigung absehbar ist. Wie bereits bei Polos die Anders z. B. Helen F. North, die in der Position von Kallikles die Auflösung der Tugenden der Besonnenheit und Gerechtigkeit sieht, welcher der große Respekt des Nutzens von Einsicht und Tapferkeit korrespondiert (Sophrosyne, 1966, 161). Allerdings beachtet sie nicht die Neubestimmung der Gerechtigkeit als natürlicher Gerechtigkeit. 77 Das zeigt überzeugend Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 202 f. Die theoretische Annahme einer in sich differenzierten Seele, die bereits dieser Stelle zugrunde liegt, erhält eine ausschlaggebende Funktion bei der Begründung der von Sokrates vertretenen besonnenen Lebensweise und ist konstitutiv für die Bestimmung der gerechten Seele in der Politeia. Vgl. dazu das Kapitel 5.2.1 unten. 76
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Macht wegen ihrer Unbestimmtheit, so kann jetzt bei Kallikles die Lust, die sich bei der Befriedigung von Begierden einstellt, wegen ihrer Unbegrenztheit kein wohlverstandenes Ziel des Handelns sein, weil man »den Zustand der Befriedigung niemals in dem Sinne wissen« kann, »daß es möglich wäre, sich an ihm für das Handeln zu orientieren und in ihm eine Erfüllung des Handelns zu sehen«. 78 Nicht sofort verständlich ist, wieso die Seelen der Unvernünftigen (tn ⁄noffitwn, 493c2) mit einem löchrigen Sieb und nicht mit einer dichten Kelle Wasser in ein leckes Fass schöpfen. Um die Unbegrenztheit der Begierden und die dadurch bedingten, nicht enden wollenden Mühen, das Fass zu füllen, bildhaft darzustellen, reichte allein ein leckes Fass. Aber in dem Fall, wenn wir also unsere Vernunft eigenständig und nicht instrumental gebrauchen, sähen wir ein, dass die Begierden keinen Maßstab als Orientierung für ein gutes Leben abgeben können, sondern dass wir uns zu unseren Neigungen in ein Verhältnis setzen müssen, indem wir sie anhand eines außerhalb von ihnen liegenden Maßstabes zu bewerten haben. Wenn auch Kallikles keineswegs auf die Einsicht verzichten will, ihr aber dabei keinen Eigenwert einräumt, so zeigt das Bild des löchrigen Siebes gerade deren Unvernünftigkeit. Das Bild von der Vernunft als einem löchrigen Sieb lässt noch eine weiterreichende Deutung zu: Das Sieb ist löchrig, und das heißt ebenso wie die Begierden – wechselhaft und unbeständig, denn es kann nichts festhalten »aus Unbeständigkeit und Vergeßlichkeit«. Die ausschließliche Orientierung an den Begierden hatte zu einer Instrumentalisierung der Vernunft geführt, und zwar mit dem Ergebnis, dass auch aufseiten der Vernunft keine Beständigkeit mehr besteht. Der Ungebundenheit der Begierden entspricht auf der anderen Seite die Unbeständigkeit der Vernunft. Erinnern wir uns an die Bedeutung des Umgangs im Kapitel 1.3: Dort konnte gezeigt werden, dass die Seele demjenigen, mit dem sie Umgang hat, ähnlich wird. Dieser Zusammenhang liegt auch jetzt vor: Wenn sich die Vernunft auf etwas prinG. Figal, Macht und Streit, 1991, 63. Vgl. auch ders., Handlungsorientierung, 1998, 146 f.: Der Versuch der Orientierung an der Lust, wie bei Kallikles, oder an der Macht, wie bei Polos, scheitere notwendig: »Mit dem, was man will, müßte man hier zugleich das Gegenteil wollen – mit der Lust ihre Unerfülltheit, ohne die sie nicht zu erfahren ist, und mit der Macht auch die Schwäche, weil die Macht nur so auf weitere Steigerung angelegt sein kann. So erreicht man im Handeln nicht nur, was man will, sondern auch, was man nicht will: man will nicht wirklich, nicht einfachhin, sondern will und will nicht.«
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zipiell Unbestimmtes bezieht, überträgt sich diese Verfassung auf sie selbst. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich die Vernunft auf etwas Beständiges beziehen muss, um selbst beständig sein zu können, weil offenbar die Vernunft nur in diesem Bezug ihre besten Vermögen und Leistungen erreicht. Und zu diesen gehören auch das Nachsinnen (melffth) und die Erinnerung (mnffimh), 79 um trotz der mit unserer Endlichkeit verbundenen Unbeständigkeit und des Vergessens (lffijh) zu einer eigenen, uns als Mensch entsprechenden Identität finden zu können, wie wir aus dem Symposion wissen. Im Bild vom löchrigen Sieb ist genau das Gegenteil der Fall: »aus Unbeständigkeit und Vergeßlichkeit« vermag die Vernunft nichts festzuhalten, in der Orientierung an sich ständig wechselnden Begierden wird sie selbst unbeständig und, um sich jeweils der aktuellen Begierde zuwenden zu können, muss die vorhergehenden vergessen haben. Wie der ständige Wechsel keine Kontinuität ergeben kann, so bewirkt er selbst das Vergessen. Wer aber nichts festhalten kann, der kann auch sich selbst – sein Selbst – nicht festhalten. Dadurch wird die Beständigkeit des Selbst bzw. dessen Identität problematisch und mit dieser die Einheitlichkeit des Lebensvollzugs. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
4.2.2
Sokratische Selbstbeherrschung als Lebensweise
Welche Art und Weise der Lebensführung hält Sokrates für angemessen, um das Ziel – das gute Leben – erreichen zu können? Bereits innerhalb seiner Ausführungen über den Mythos von den Wasserträgerinnen hatte er die besonnene Lebensweise (sðyrwn bfflo@) erwähnt. Kallikles hatte diese dahingehend interpretiert, dass dieses Leben dem Leben der Steine gleiche, die nach Erfüllung der Begierden wunschlos glücklich wären, weil sie weder Lust noch Unlust, weder Freude noch Schmerz empfänden. Dass Sokrates dieses Extrem eines Lebens der Bedürfnislosigkeit und Gemütsruhe vertritt, ist allerdings nur die Interpretation seines Gesprächspartners Kallikles. 80 Zur Bedeutung eines guten Gedächtnisses »in der Epoche einer cultura orale« und bei Platon selbst vgl. den Kommentar zu 466a von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 251 f. 80 Vgl. dazu W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 207; ebenso U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 165 f.: »Ein solches Ideal der Seelenruhe ist in der griechischen Ethik häufig, insofern hinter ihr […] die existenzielle Problematik der äußeren und inneren 79
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Wie die weitere Diskussion über die von Kallikles vertretene These der Identität der Lust mit dem Guten zeigt, lehnt Sokrates keineswegs die Begierden und die mit ihnen verbundene Lust ab. Ihm kommt es vielmehr darauf an zu zeigen, dass die Lust als alleinige Orientierung dem guten Leben abträglich ist. Gegen die Identitätsbehauptung wendet Sokrates ein, dass zwischen der Lust und dem Guten eine strukturelle Differenz besteht und deshalb die Orientierung am Guten strukturell unabhängig von unserem Empfinden des Angenehmen ist, sodass sich zwischen einer guten und schlechten Lust und ebenso zwischen einer guten und schlechten Unlust unterscheiden lässt. 81 Gut sind sowohl Lust als auch Unlust, wenn sie nützlich sind. Nützlich sind sie, wenn sie Gutes bewirken, d. h., wenn sie zur Gesundheit des Leibes oder – unter der von Sokrates angenommenen Voraussetzung einer Analogie zwischen Leib und Seele – zur Gesundheit der Seele beitragen, also die jeweilige Vollkommenheit bzw. ⁄retffi bewirken (vgl. 499d f.). Hinzu kommt, dass die Erfahrung der Lust und der Unlust an den jeweiligen Augenblick gebunden ist, hingegen das Kriterium des Guten eine Distanz vom Augenblick nicht nur ermöglicht, sondern von sich aus erfordert, weil wir die Frage nach dem Guten letztlich aus der Perspektive des gesamten Lebenszusammenhanges stellen. 82 Für unser Wohl im Ganzen ist nicht die Hinnahme der Begierden, sondern ihre Bewertung unerlässlich. Dabei wird nichts anderes als ein Selbstverhältnis vorausgesetzt, das Sokrates bereits erwähnt hat – die Selbstbeherrschung. Auf Nachfrage von Kallikles erläutert er diese als eine einsichtige Verfügung über sich selbst: »besonnen sein und seiner selbst mächtig, und die Lüste und Begierden, die jeder in sich hat, beherrschend«. 83 Wie diese Erläuterung deutlich macht, ist die Rede von Abhängigkeit steht. […] Die ethischen Konzeptionen von Sokrates, Platon und Aristoteles gehören nicht auf diese Seite, sondern versuchen, zwischen den Extremen der völligen Ausgesetztheit auf der einen Seite und dem Verzicht auf jedes Wollen auf der anderen Seite hindurchzusteuern und eine Konzeption des guten menschlichen Lebens zu finden, welche bei möglichst großer Unabhängigkeit zugleich die Entfaltung von Fähigkeiten und Befriedigung von Wünschen zuläßt.« 81 Die strukturelle Differenz besteht darin, dass das Gute und das Schlechte sich einander ausschließen, wohingegen Lust und Unlust als zusammengehörend erfahren werden. Vgl. 496c ff., bes. 497d. 82 Vgl. dazu M. Hauskeller, Erkenntnis und Wahrnehmung, 1998. 83 sðyrona nta ka½ ¥gkrat» a'tn auto‰, tn donn ka½ ¥pijumin ˝rconta tn ¥n aut† (491d9–e1).
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der Selbstbeherrschung offensichtlich nur unter der Voraussetzung eines »in sich geteilten Individuums« – eines »dividuums« – sinnvoll. 84 Sie ergibt aber nur dann einen Sinn, wenn von mindestens zwei psychischen Strebungen ausgegangen wird: einem vernünftigen Teil einerseits und dem Begehren auf der anderen Seite, und diese von sich aus nicht miteinander harmonieren, im Gegenteil: Nur wenn es sich widersprechende und gegeneinanderstrebende Momente sind, ist überhaupt eine Herrschaft des einen über das andere notwendig. Dabei ist zu beachten, darauf hat Peter Schulz aufmerksam gemacht, dass Platon die Leidenschaften »offensichtlich nicht als rein affektive Bewegungen ohne jeglichen kognitiven Inhalt auffaßt. Die Begierden nach dem Angenehmen enthalten ebenso wie die nach Macht bereits eine bestimmte Vorstellung über die Bedeutung der Dinge, die ihrerseits handlungsleitend sind.« 85 Demnach käme es Platon, wie oftmals angenommen, weniger auf eine affektive Ausgewogenheit an, sondern plausibler »erscheint die Annahme, daß nach Platon die Vorstellung von der Wohlgeordnetheit der Seele unmittelbar in einem Zusammenhang mit jener Disposition der Seele steht, in der diese sich auf ihre Endabsicht eines glücklichen Lebens besinnt und die Beherrschung ihrer Leidenschaften dem Ziel ihres Lebens entsprechend erfolgt«. Wie wir noch sehen werden, kennt Platon mehrere Verhältnisse eines Ausgleichs zwischen den gegensätzlichen Strebungen, denen jeweils eine andere Grundorientierung im Handeln und Leben entspricht. Der Unterschied zwischen der besonnenen Lebensweise des Sokrates und der auf die Befriedigung der ungebundenen Begierden ausgerichteten Lebensweise des Kallikles besteht demnach nicht nur in einem unterschiedlichen Umgang mit den eigenen Leidenschaften, sondern in einer jeweils damit verbundenen Orientierung in Bezug auf das gute Leben, von der aus sich der Handelnde versteht und im Blick auf die er seine Leidenschaften beherrscht oder sein Handeln der Erfüllung seines Begehrens unterordnet. Und nur dasjenige Selbstverhältnis, in dem sich der Handelnde auf sein eigentliches Ziel des guten Lebens bezieht und von diesem Ziel ausgehend seine Leidenschaften beherrscht, wird als besonnen, selbstF. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches I, 57, KSA 2, 76. Vgl. zur »Selbstzertheilung des Menschen« und zur platonischen Selbstbeherrschung als einsichtiger Verfügung über sich selbst und nicht als Herrschaft der Vernunft in Form einer Unterdrückung des eigenen Begehrens das Kapitel 5.2.2 unten. 85 Vgl. hier und im Folgenden: P. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe, 2000, 62. 84
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beherrscht oder auch seiner selbst mächtig bezeichnet. Damit ist aber nichts anderes als das Individuum wieder hergestellt, und zwar in der Funktion einer handlungsfähigen Einheit, was zum Thema der Selbstbeherrschung in der Politeia noch ausführlich behandelt wird. Im Gorgias ist außerdem zu erfahren, wie das als besonnen bezeichnete und ausgezeichnete Verhältnis zwischen Einsicht und Begierden näher bestimmt wird. Nach dem bisherigen Gesprächsverlauf ist zu vermuten, dass im Austrag des Konfliktes nicht Selbstversagung und Unterdrückung der Begierden das Ziel sein können, sondern vielmehr die Frage nach der Koordination der beiden Seelenteile als der je zu erbringenden Einheit zu stellen ist. Die Antwort auf diese Frage ist zugleich eine nähere Bestimmung des Gutseins des Menschen bzw. der ⁄retffi der menschlichen Seele. Wie bei der Darstellung der menschlichen Handlungsstruktur geht Sokrates auch jetzt vom Gedanken der Ordnung des ˛rgon einer jeden tffcnh aus, 86 um daraus die Bestimmung der ⁄retffi zu entwickeln. Obwohl bereits im Zusammenhang der Handlungstheorie der griechische Begriff der ⁄retffi erläutert wurde, 87 soll jetzt noch einmal auf sein angemessenes Verständnis hingewiesen werden: ⁄retffi wird manchmal mit »Tugend« übersetzt, was aber die Bedeutung des griechischen Wortes nicht umfassend wiedergibt. Die Griechen verstanden unter ⁄retffi jede Art von Vortrefflichkeit im Sinne des besten Zustandes von etwas, und das Moralische, auf den sich der heutige Ausdruck Tugend bezieht, erschien nur als ein Spezialfall des Strebens aller Dinge nach Vollkommenheit. So ist es Sokrates dann ohne Weiteres möglich, von der ⁄retffi »eines jeglichen Dinges aber, eines Gerätes wie eines Leibes und so auch einer Seele und jegliches Lebenden« zu sprechen, die er bezeichnet als eine »gewisse eigentümliche Ordnung also, die sich in einem jeden bildet«. 88 Die ⁄retffi der in sich differenzierten Seele besteht demnach in einer Ordnung ihrer Teile – der Einsicht und der Begierde, die einen strukturellen Zusammenhang bilden müssen, der nicht als eine bloße Einheit aufzufassen ist, sondern als ein Zusammenstimmen der mit-
Vgl. dazu die bereits zitierte und besprochene Textstelle 503d5–504a4. Vgl. dazu das Kapitel 4.1 mit der Anm. 25 oben. 88 ` ge ⁄ret¼ k€stou, ka½ skeÐou@ ka½ sðmato@ ka½ vuc»@ aª ka½ z†ðou pant@ (506d5 f.). Ksmo@ ti@ ˝ra ¥ggenmeno@ ¥n k€st†w ¡ k€stou o§ke…o@ (506e1 f.). 86 87
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einander strittigen Strebungen oder Seelenteile. 89 Wichtig ist, was Sokrates über das Vorhandensein dieser Ordnung sagt, was allerdings nicht verwundert, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass es sich um die ⁄retffi, also um die beste Ausprägung der menschlichen Seele, handeln soll: Die ⁄retffi eines jeden »findet sich [allerdings] nicht so von ungefähr herzu, sondern durch Ordnung, richtiges Verhalten und durch die Kunst, welche eben einem jedem angewiesen ist«. 90 Die ⁄retffi der menschlichen Seele ist nicht ohne Weiteres gegeben, sondern die der Seele eigentümliche Ordnung ist ein von uns selbst Hervorzubringendes, wozu es offensichtlich eigener Bemühungen und sogar einer dafür zuständigen tffcnh bedarf. Wir sind uns selbst Aufgabe und – metaphorisch gesprochen – ˛rgon, allerdings ein ˛rgon, das jedesmal wieder erneut »hervorzubringen« ist, weil die einmal erreichte, unserer Seele eigentümliche Ordnung keinen statischen Zustand verbürgt, ja keinen verbürgen kann. Das kann man sich sehr leicht klarmachen angesichts des ständigen Wechsels der Begierden des Lebewesens Mensch. Gewiss lässt sich Selbstbeherrschung einüben, und anzustreben ist sicherlich ein Habitus der Besonnenheit, aber auch das ändert nichts an der Tatsache, dass die Seele als eine besonnene immer wieder neu diese ihr eigene Ordnung zu bilden hat. Ursula Wolf hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Übertragung des Modells der tffcnh auf die Seele an einem entscheidenden Punkt misslingt: 91 Im Unterschied zum Herstellungsvorgang, der sich auf sein ˛rgon als das Gute und dieses als ein Bestimmtes bezieht, das Wie der Zustand der harmonischen Verfassung der Seele und ihrer Teile genauer vorzustellen sei, geht aus dem Gorgias nicht weiter hervor; es ist dies ein zentraler Punkt der Politeia. 90 otoi e§k–» […] paragfflgnetai, ⁄llÞ t€xei ka½ ¤rjthti ka½ tffcn–h, `ti@ k€st†w ⁄podffdotai a'tn (506d6–8). 91 Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 168. Die zentrale These von Wolf lautet, dass das gute Leben aufgrund seiner inhaltlichen Unbestimmbarkeit in der Suche nach ihm, im andauernden Vollzug des sokratischen ˛legco@ besteht. Zur Ambivalenz der Analogie des guten Lebens mit der tffcnh vgl. G. Figal, Handlungsorientierung, 1998, 147 ff.; zur unverfügbaren Einheit des Lebens, dem gerade keine Idee zugrunde liegt, die man herstellend zur Geltung bringen kann, vgl. ders., Sokrates, 1995, 69 f. und 77. Wolfgang Wieland erklärt die Orientierung allen Handelns am Guten dahingehend, dass das Gute kein Gegenstand ist, den man als solchen und isoliert von bestimmten Inhalten intendieren kann, und man deshalb keine inhaltliche Bestimmung des Guten bei Platon findet, sondern sich auf formale und funktionelle Bestimmungen verwiesen sieht (Platon und die Formen des Wissens, 1999, 272). Vgl. dazu auch das Kapitel 5.2.4 unten. 89
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man wissen kann bzw. weiß und von dem aus sich in einem gewissen Sinn alles andere ergibt, sei das Gute, worauf sich die ⁄retffi der menschlichen Seele bezieht, gerade kein Bestimmtes, das für uns erkennbar und handelnd verfügbar wäre. Was die Parallelisierung ergäbe, sei also nur die Vorstellung von der Wohlgeordnetheit als solcher. Da aber die geordnete Seele gleichwohl auf das gute Leben bezogen sei, könne ihr Woraufhin nur die Suche nach der Wahrheit, nach dem Guten sein. In diesem Sinn betont auch Sokrates am Ende des Dialogs, indem er alle bisherigen Einsichten unter einen diese relativierenden Vorbehalt stellt, es wäre nichts Besonderes, diese zu verachten, »wenn wir nur irgendwie suchend etwas Besseres und Wahreres finden könnten«. 92 Es ist sicher richtig, wenn Wolf die Gesprächsverweigerung von Kallikles dahingehend versteht, dass die Suche nach dem Guten anhand eines korrekt durchgeführten ˛legco@ bereits die wohlgeordnete Seele voraussetze und deshalb die besonnene Seele zugleich die gute Seele sei. 93 Nicht beherrschte Begierden mit ihrer Ausrichtung auf das Angenehme können der Wahrheitssuche hinderlich sein. Aber dann fragt man sich, wie bzw. durch was die Seele den Zustand erreicht, wenn dieser Zustand zugleich Voraussetzung für die Suche nach dem guten Leben sein soll? Ist hier nicht das, was erreicht werden soll, zugleich seine eigene Bedingung? Möglicherweise liegt hier ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Verfasstheit der Seele und deren Ausrichtung auf das Gute vor, deren gemeinsamer Schnittpunkt das sokratische Gespräch ist. Dass sich dieses Problem für Platon noch viel komplizierter darstellt, soll zunächst nur ein Hinweis auf den Bildungsweg als eine Umlenkung (periagwgffi) der gesamten Seele in der Politeia (518d4) andeuten, ebenso auf die in den Nomoi empfohlene Einübung der 92 e— p–h zhto‰nte@ e—comen a'tn beltfflw ka½ ⁄lhjffstera e¢re…n (527a6 f.). Nach heutigem Verständnis ist der Komparativ von »wahr« irritierend: Entweder etwas ist wahr oder ist es nicht. Die griechische Steigerung macht allerdings zweierlei deutlich: Einerseits kann die eigene Einsicht handlungsrelevante Gültigkeit beanspruchen, andererseits steht sie unter dem Vorbehalt des menschlichen Wissens, nicht endgültig zu sein. So findet sich auch in anderen Übersetzung die nämliche Wiedergabe, wie z. B. bei O. Apelt: »Und in der Tat wäre diese Abweisung auch ganz begreiflich, wenn wir, eifrig forschend, etwas finden könnten, was besser und wahrer wäre als dieses.« Bereits kurz vorher wird die Suche nach dem guten Leben ausdrücklich betont, als Sokrates sagt, er »will, der Wahrheit nachjagend (t¼n ⁄lffijeian skopn), versuchen, wirklich so sehr ich nur kann, als der Beste sowohl zu leben als auch, wenn ich dann sterben soll, zu sterben« (526d6–e1). 93 2H ˝ra sðyrwn vuc¼ ⁄gajffi. (507a1 f.)
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Selbstbeherrschung beim Weintrinken in den Symposien (645d ff., vgl. dazu das Kapitel 5.2.2). Neben der formalen Beschreibung der ⁄retffi der Seele als Wohlgeordnetheit ist im Gorgias noch Weiteres zu erfahren: In Analogie zum Leib, dessen beste Verfasstheit in seiner »Gesundheit und Stärke« (¢gffleia ka½ §scÐ@, 504b9) besteht, bezeichnet Sokrates die Realisierung der ⁄retffi der Seele als »Gerechtigkeit und Besonnenheit« (dikaiosÐnh ka½ swyrosÐnh, 504d3). Was sich für den Leib ohne Weiteres als das Optimum seiner leiblichen Wirkungsmöglichkeiten sinnvoll beschreiben und auch als ein selbstverständliches Ziel unseres Wollens plausibel machen lässt, weil die Beeinträchtigung unserer physischen Gesundheit für uns mit einer Einschränkung unserer Handlungsmöglichkeiten verbunden ist, müsste sich nun auch analog für die Seele zeigen lassen. Die Metapher der psychischen Gesundheit wird zunächst nicht anders beschrieben als eine uns allen bekannte Selbsterfahrung, dass wir im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte sind, wenn wir im Gebrauch unserer intellektuellen Vermögen diese optimal entfalten können. In der Literatur ist die Selbstbeherrschung als psychische Gesundheit mehrfach als Ausdruck für ein vernunftgeleitetes Leben verstanden worden. 94 Unter diesem Begriff lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: zum einen das durch die Vernunft gestaltete Verhältnis zwischen ihr und den Begierden, zum anderen die psychische Gesundheit unserer geistigen Vermögen, die darin besteht, ohne Beeinträchtigung gleich welcher Art zu sein. Bevor wir uns im anschließenden Kapitel 4.2.3 unter dem Begriff der Übereinstimmung mit sich selbst der letztgenannten Bedeutung eines vernunftgeleiteten Lebens zuwenden, soll an dieser Stelle über den ersten Aspekt, das Verhältnis zwischen Vernunft und Begierden, gesprochen werden, auch wenn der Gorgias im Vergleich zur Politeia diesen Aspekt weniger thematisiert. Selbstbeherrschung ermöglicht nicht nur, dass sich die intellektuellen Vermögen ungestört von den auf das Angenehme ausgerichteten Begierden betätigen können, dass ich meine besten Kräfte auch in Anspruch nehmen kann, sondern die Leitung der Begierden durch die Vernunft ist gleichfalls die Voraussetzung für ein Handeln nach eigenen Einsichten. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, wenn ich mich also in diesem Sinn nicht beherrschen kann, riskiere ich, dass meine verVgl. dazu E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 1984; P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985.
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nünftigen Überlegungen von mir nicht realisiert werden. Unter diesem Aspekt der Selbstbeherrschung – der Verfügung über sich selbst – ist es wiederum die Vernunft, die in ihrer Herrschaft über die Begierden die handlungsfähige Einheit des Individuums herstellt, die für vernünftiges Handeln als Grundvoraussetzung benötigt wird. Nach diesem Verständnis kann man die griechische Selbstbeherrschung begründet mit unserem modernen Begriff der Selbstbestimmung übersetzen. 95 Die Verfügung über sich selbst, die für vernünftiges Handeln notwendig ist, setzt wiederum voraus, dass eigene Einsichten und vernünftige Überlegungen eine handlungsrelevante Bedeutung haben, soll heißen: dass ich mich in meinen eigenen Einsichten ernst nehme, insofern sie für mich eine Antwort auf ein praktisch zu lösendes Problem sind. Sie müssen also von mir selbst für mich selbst eine Verbindlichkeit für die Praxis haben. Die Ernsthaftigkeit wird im nächsten Kapitel von noch größerer Bedeutung sein, weil dort der zeitliche Faktor hinzukommt: Eine einmal gemachte Einsicht, in ihrer notwendig auch allgemeinen Form, beansprucht von sich aus, nicht nur für den Augenblick oder für das aktuelle Problem wesentlich zu sein. Das gibt es natürlich auch, aber in der Perspektive des guten Lebens ist vielmehr davon auszugehen, dass diesbezügliche vernünftige Überlegungen und Einsichten von sich aus »zeitinvariant« sind. In diesem Fall spielt die Ernsthaftigkeit noch eine ganz andere Rolle – in ihrer Verbindlichkeit für das unter Umständen gesamte eigene Leben.
4.2.3
Das Motiv der Übereinstimmung mit sich selbst
Entscheidend für unsere Fragestellung nach Selbstbestimmung und Individualität ist das Motiv, welches für Sokrates den Ausschlag für die besonnene Lebensweise gibt – die sich als Ergebnis dieser Lebensweise einstellende Übereinstimmung mit sich selbst (aut† sumywne…n). Mehrfach von Sokrates im Gespräch mit Kallikles erwähnt, stellt Platon dieses Motiv der eigentlichen Diskussion zwischen den beiden voVgl. V. Gerhardt, Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, 2003, 137: »Die Alten aber hätten die Unerlässlichkeit der Selbstherrschaft niemals so unerbittlich exponiert, wenn sie nicht gewusst hätten, dass sie andernfalls von ihren Gegensätzen zerrissen werden. Die ›Selbstregierung‹, die wir heute wohl am besten mit ›Selbstbestimmung‹ übersetzen, ist praktischer Vollzug der Sorge um sich selbst.«
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ran, was seine Bedeutung zusätzlich betont: Nachdem Polos aufgegeben hat, übernimmt Kallikles seinen Gesprächspart mit der Frage, ob Sokrates seine Thesen im Ernst vertrete oder scherze. 96 Sokrates hält ihm entgegen, dass Kallikles nicht fähig sei, seinen beiden Lieblingen – dem athenischen Volk und dem Sohn des Pyrilampes (d»mo@ und D»mo@) – zu widersprechen, sondern sich nach den Meinungen seiner Lieblinge richte und seine Reden hin- und herwende. 97 Hingegen er, Sokrates, sage immer dasselbe – wie sein Liebling, die Philosophie. Und falls Kallikles seine These, unbestraftes Unrechttun sei das ärgste aller Übel, unwiderlegt ließe, dann »wird Kallikles niemals mit dir stimmen, o Kallikles, sondern dir mißtönen das ganze Leben hindurch. Und ich wenigstens, du Bester, bin der Meinung, daß lieber auch meine Lyra verstimmt sein und mißtönen möge oder ein Chor, den ich anzuführen hätte, und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte.« 98 In diesem Dialogabschnitt sind verschiedene Aspekte angesprochen, konzentrieren wir uns zunächst auf das Phänomen der Übereinstimmung mit sich selbst. Sokrates wirft Kallikles vor, dass er sich nach den Meinungen der anderen richte und infolgedessen seine Reden »hin- und herwende«, wohingegen er immer dasselbe sage. Offensichtlich besteht der Unterschied nicht bloß darin, dass Kallikles nie dasselbe sagt, sondern dass er sich in seinen Äußerungen widerspricht und deshalb nicht mit sich übereinstimmt. Der Selbstwiderspruch betrifft hier die Inkonsistenz auf der Ebene des Redens. Übereinstimmung mit sich selbst heißt zunächst, sich in seinen Äußerungen nicht selbst zu widersprechen. 99 E§pff moi, Caireyn, spoud€zei ta‰ta Swkr€th@ pafflzei; (481b6 f.) ˆ ti n y–» sou tÞ paidikÞ ka½ ˆpw@ n y–» ˛cein, o' dunamffnou ⁄ntilffgein, ⁄ll’ ˝nw ka½ k€tw metaballomffnou (481d7–e1). 98 o soi ¡mologffisei Kallikl»@, Kallfflklei@, ⁄llÞ diaywnffisei ¥n ¿panti t† bffl†w. Kaffltoi ˛gwge o mai, bffltiste, ka½ t¼n lÐran moi kre…tton e nai ⁄narmoste…n te ka½ diaywne…n, ka½ corn † corhgofflhn, ka½ plefflstou@ ⁄njrðpou@ m¼ ¡mologe…n moi ⁄ll’ ¥nantffla lffgein m”llon na nta ¥mþ ¥maut† ⁄sÐmywnon e nai ka½ ¥nantffla lffgein. (482b4–c2) Die Verwendung von Begriffen und Vergleichen aus dem Bereich der Musik zur Beschreibung der Übereinstimmung mit sich selbst und des Selbstwiderspruchs lässt sich durch die Bedeutung erklären, welche die musisch-musikalische Erziehung für die seelisch-charakterliche Bildung des Menschen hat (Kommentar zu 482c von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 315). 99 Ebenso 491b5–8: »Siehst du, bester Kallikles, wie es gar nicht dasselbe ist, was du mir 96 97
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So wichtig die logische Konsistenz im Reden ist, die Übereinstimmung mit sich selbst umfasst mehr, und zwar als zweiten Aspekt die Einheit zwischen dem, was man in letzter Instanz wirklich will, und dem, was man jeweils will. Dass Kallikles in seinem ganzen Leben im Zwiespalt mit Kallikles, also mit sich selbst, bleibt, wie Sokrates behauptet, zeigt sich daran, dass er einen für die Lebensführung entscheidenden Satz, der auch für Kallikles wahr ist, solange er nicht widerlegt ist, dennoch nicht für wahr hält und ihn daher für seine Lebensführung nicht akzeptiert. Dieser Widerspruch zwischen seiner tatsächlichen Lebensweise und der eigentlichen, auch von ihm letztlich akzeptierten, wenngleich nicht zugestandenen Auffassung vom guten Leben wird an seiner empörten Reaktion deutlich, als Sokrates ihn bezüglich seiner These von der Identität der Lust und des Guten fragt, ob nicht das ganzkörperliche Jucken oder das Leben eines Knabenschänders, da mit Lust verbunden, auch glückselig sei: »Schämst du dich nicht, Sokrates, die Rede auf solche Dinge zu bringen?« (494e7 f.) Und zweitens wird der Zwiespalt mit sich selbst offensichtlich, weil Kallikles keine in sich konsistente Lebenskonzeption vertreten kann. Seine Position lässt sich nicht widerspruchsfrei rechtfertigen, weil er sich weigert, vernunftgeleitet zu leben. Der dritte Aspekt der Übereinstimmung mit sich selbst bezieht sich auf die einheitliche Verfasstheit der Person. Diese ist im Gorgias als eine »Konsistenz in der Reihe der Äußerungen und Handlungen einer Person« 100 thematisiert. Wegen der im Dialog dominierenden Musikmetaphorik kann sie auch als Harmonie mit sich selbst bezeichnet werden. 101 Die Konsistenz im Reden und Handeln, genauer: zwiSchuld gibst und was ich wiederum dir? Denn du behauptest von mir, ich sagte immer dasselbe (¥mþ y–¼@ ⁄e½ ta'tÞ lffgein), und tadelst mich deshalb. Ich aber beschuldige dich im Gegenteil, daß du nie dasselbe sagst von derselben Sache (ˆti o'dffpote ta'tÞ lffgei@ per½ tn a'tn)«. Vgl. auch 499c2 f. 100 P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 515. Dabei liegt »der Akzent […] weniger auf der Konkurrenz der Vernunft mit den Leidenschaften als auf ihrer Fähigkeit, im Elenchos über Handeln und Reden Rechenschaft geben zu können« (ebd.). 101 Vgl. dazu die parallele Verwendung der Harmoniebegrifflichkeit bei der metaphorischen Beschreibung der Gerechtigkeit als einem Zusammenstimmen der drei Seelenkräfte am musikalischen Beispiel der Saitenstimmung eines Dreiklangs in der Politeia (443d f.) im Kapitel 5.2.1 unten. Dahingehend auch die Interpretation von U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 171: »Diese Übereinstimmung ist eine Harmonie der Seelenkräfte, die sich ihrerseits einstellt im Verlauf der kontinuierlichen, unter Be-
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schen Reden und Handeln, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass ich nach meinen Einsichten auch handle und meine tatsächliche Lebensweise wiederum im Reden rechtfertigen kann. In der oben zitierten Textstelle wird nämlich über das speziell Dialogische hinaus auf das ganze Leben (¥n ¿panti t† bffl†w, 482b5 f.) verwiesen. Die »Einheit von Wort und Wirklichkeit der sokratischen Existenz« 102 kommt bereits durch die im Text nicht zu übersehenden Anklänge an den Prozess des Sokrates zum Ausdruck, und Sokrates macht diese auch explizit für sich selbst geltend: »Und wenn du findest, daß ich dir jetzt zwar beistimme, in der Folge aber dasjenige nicht tue, worin ich dir beigestimmt, so halte mich nur ganz für einen Taugenichts und ermahne mich niemals wieder nachher, wie einen, der nichts wert ist (£@ mhden@ ˝xion nta).« (488a7–b2) Der vierte Aspekt umfasst die bislang theoretisch getrennten Konsistenzen: Für Sokrates ist – unabhängig von der Zustimmung oder Ablehnung, von der Übereinstimmung oder dem Widerspruch des anderen bzw. der anderen – das Wichtigste der Einklang mit sich selbst. Man darf nur das zugestehen, wofür man eigene Gründe hat, und man darf nicht deswegen etwas zugeben, weil der andere oder wenige oder die meisten oder sogar alle Menschen es für richtig halten. Maßgebend ist allein die eigene Einsicht. Das schließt ebenso die andere Möglichkeit aus, etwas zu vertreten oder zu tun, weil keiner so handelt, nur um sich von den anderen zu unterscheiden. Andererseits umfasst die Übereinstimmung mit sich selbst sowohl ein Handeln wie die anderen als auch die Widerlegung der eigenen Ansicht, solange in beiden Fällen die eigene Einsicht den Ausschlag gibt. Dabei ist die Widerlegung eigener Ansichten für Sokrates sogar das größere Gut, als wenn er einen anderen widerlegt: »Und von welchen bin ich einer? Von denen, die sich gern überführen lassen, wenn sie etwas Unrichtiges sagen, auch gern selbst überführen, wenn ein anderer etwas Unrichtiges sagt; nicht dingungen der Besonnenheit vollzogenen Selbstprüfung.« Nach Andreas Graeser bietet der Dialog Gorgias sowohl den Beleg für die platonische Weiterentwicklung der populär-philosophischen Unterscheidung von Vernunft und Affekt zur Annahme einer in sich geteilten Seele, die es ermöglicht, von einem differenzierten psychischen Konflikt zu sprechen, als auch den Beleg für die uns aus der Politeia bekannte Seelentrichotomie, die Platon aus arbeitstechnischen Gründen im Gorgias nicht weiter ausführt (Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, 1969, 51–55). Vgl. zu dieser Arbeitsweise auch D. Frede, Platons Dialoge als Hypomnemata, 2006. 102 W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 218. A
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unlieber jedoch jenes als dieses. Denn für ein größeres Gut (me…zon ⁄gajn) halte ich jenes um so viel, als es ja besser ist, selbst von dem größten Übel befreit zu werden (a'tn ⁄pallag»nai kako‰ to‰ megfflstou) als einen anderen davon zu befreien. Denn nichts, denke ich, ist ein so großes Übel für den Menschen als irrige Meinungen über das, wovon jetzt die Rede ist unter uns.« (458a2–b2) Mit allem Nachdruck wird hier der eigenen Einsicht des Individuums die Priorität eingeräumt! Die Souveränität der eigenen Einsicht besteht darin, dass ich, selbst wenn alle anders handeln, ihnen nicht folge, solange ich für mich meine Gründe habe, die dagegen sprechen, ja, sie reicht so weit, dass sie sogar imstande ist, die Wirklichkeit »auf den Kopf« zu stellen (vgl. 481c2–6). Die Abgrenzung von der Menge verwundert kaum, 103 angesichts der Bedeutung des Dialoges für das sokratisch-platonische Philosophieren ist vielmehr die Abgrenzung gegenüber dem anderen überraschend, hatte doch die Analyse des Alkibiades I die konstitutive Rolle des anderen für die Selbsterkenntnis ergeben, und selbst das Denken war als ein Selbstgespräch der Seele aufgefasst, welches das konkrete Fremdbewusstsein zwar nicht zu ersetzen vermag, aber strukturell den Dialog und damit die Positionalität des anderen wiederholt. 104 Wie lässt sich aber nach diesen Befunden die Priorität der eigenen Einsicht erklären? Meines Erachtens nicht wie Ursula Wolf vorschlägt, die in diesem Zusammenhang den mit einem anderen geführten Dialog unterbewertet: »Die Übereinstimmung mit der eigenen Person ist jedoch unabhängig von der Übereinstimmung mit anderen Menschen (Gorgias 482c). Der elenchos gewinnt seine vorläufige Richtigkeit nicht durch einen Konsens, sondern durch den Wahrheitsbezug des logos, dessen interner Ordnung er zu folgen versucht. Die Beteiligung einer zweiten Person mag förderlich sein; sie ist aber für die Annäherung an die Wahrheit nicht konstitutiv oder wesentlich.« 105 Ich optiere eher dafür, dass sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse die eigene Einsicht und der Dialog mit dem anderen sinnvoll miteinander verbinden lassen: Die Betonung der eigenen Einsicht mindert nicht die Bedeutung des mit einem anderen Philosophierens, der gemeinsamen Vgl. dazu die Anm. 8 im Kapitel 3.1 oben. Vgl. zur Bedeutung des anderen hinsichtlich der Selbsterkenntnis und zum Denken als einem Dialog der Seele mit sich selbst das Kapitel 3.2 oben. 105 U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 146 f. 103 104
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durch Frage und Antwort ermöglichten Übereinstimmung. Betont wird – und das schließt einen miteinander geführten Dialog nicht aus –, dass der letzte Schritt von jedem selbst vollzogen werden muss. Philosophieren bedeutet: Selbstdenken. Die je zu erbringende eigene Erkenntnisleistung ist von anderer Qualität als ein nur von einem anderen übernommenes Wissen, weil man sie auf eine authentische Art und Weise, in der man von keinem vertreten werden kann, selbst gefunden hat. An diesem Punkt zeigt sich die Grenze des Dialoges: Die eigene Einsicht vermag mir kein anderer zu geben, sondern nur ich selbst. Unter der Voraussetzung, dass die Einsicht eine Antwort auf ein praktisches Problem sein soll, welches sich mir stellt und durch mich selbst auf eine Lösung drängt, zeigt sich zum zweiten Mal die Grenze des Gespräches: die Anwendung der eigenen Einsicht auf mich selbst, und das heißt nichts anderes, als dass ich mich in Hinsicht auf die Lösung des Problems selbst bestimme. Auch das kann mir niemand anderes abnehmen. Als sozusagen »letzter Schritt« besteht die eigene Einsicht allerdings nicht in einer Intuition, die einer gemeinsamen Kommunikation entzogen wäre. Wenn ich wirklich Einsichten habe und über Gründe verfüge, dann sind diese bereits von sich aus allgemein verfasst, kommunizierbar und werden mit dem Anspruch vertreten, einem sokratischen ˛legco@ standhalten zu können. Dass Platon den Vorrang der eigenen Einsicht in mehreren Dialogen, neben dem Gorgias sei nur die Apologie genannt, derart betont, ist bereits jetzt, noch vor der Behandlung der Politeia, ein nicht zu übersehendes Beispiel für den individualitätstheoretischen Ausgangspunkt seiner Philosophie. Die Metapher der psychischen Gesundheit ist in der Forschung mehrfach als Ausdruck für ein vernunftgeleitetes Leben aufgefasst worden. Wie wir jetzt wissen, aus naheliegendem Grund: Die Übereinstimmung mit sich selbst als Konsistenz in den Reden und Handlungen ist nur eine genauere Charakterisierung der bislang metaphorisch bezeichneten ⁄retffi der Seele als psychischer Gesundheit und ein anderer Ausdruck für ein von der Vernunft geleitetes Leben. So hat Ernst Tugendhat vorgeschlagen, anhand des formalen Kriteriums der Funktionsfähigkeit des Wollens unter psychischer Gesundheit die »Idee einer vollkommenen Selbstentfaltung« und ein freies »Über-sich-verfügen-Können« zu verstehen. 106 Im anderen Fall läge eine Beeinträch106 Vgl. dazu E. Tugendhat, Antike und moderne Ethik, 1984, 52 ff., zit. 45 und 55, Anm. 10.
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tigung der psychischen Funktionsfähigkeit vor, und zwar derart, dass der Wille oder das Handeln der Person einer vernünftigen Überlegung nicht zugänglich seien. Diese Einschränkung könne, wenn sie als solche bewusst wird, nicht gewollt werden, weil niemand ernsthaft wollen könne, dass die Möglichkeiten seines Wollens bzw. seines freien Wählens dezimiert seien. Ausgehend von seiner Analyse des Gorgias gelangt Peter Stemmer zu einer ähnlichen Interpretation: 107 Als Ergebnis von Selbstbeherrschung und Besonnenheit stelle sich eine Übereinstimmung oder Harmonie mit sich selbst ein, und zwar in der Konsistenz der Äußerungen und Handlungen einer Person, aufgrund derer man über sein Reden und Handeln Rechenschaft zu geben vermag. Darin bestehe die platonische Konzeption eines vernunftgeleiteten Lebens, eines »Leben[s] ohne Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten«, dem metaphorisch der Ausdruck der psychischen Gesundheit entspräche. Ausdrücklich hat Stemmer, im Unterschied zu Tugendhat, nur Handlungsbeschränkungen im Blick, »die aus Mangel an intellektueller Bewußtheit resultieren« und nicht aufgrund einer psychischen Krankheit, weshalb derjenige, dessen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind, keines Psychologen, sondern des sokratischen ˛legco@ bedarf. Spätestens jetzt wird deutlich, dass die Analogie zwischen körperlicher und psychischer Gesundheit nicht völlig gelingen kann: Um die Krankheit unseres Körpers wissen wir im Allgemeinen, um die Krankheit der eigenen Seele nicht, weil wir sie selbst sind. Der »Mangel an intellektueller Bewußtheit« ist uns nicht derart bewusst, wie wir um die Einschränkung unserer physischen Funktionsfähigkeit wissen, denn die Einschränkung an eigenen Handlungsmöglichkeiten wird nicht als solche erfahren, im Gegenteil: Man hält sich in einem derartigen Fall für »intellektuell gesund«, sonst würde man etwas gegen den eigenen Mangel unternehmen, weil keiner freiwillig eine derartige Einschränkung wollen kann. Deshalb muss Sokrates seine Gesprächspartner durch den Dialog zunächst dahin bringen, dass ihnen ihre diesbezügliche Beschränktheit bewusst wird. Dass die Widerstände groß sind, führt der Aufstieg aus der Höhle des gleichnamigen Gleichnisses in der Politeia drastisch vor Augen, handelt es sich doch nicht um ein-
107 Vgl. dazu P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 515 ff., zit. 517, Anm. 30.
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zelne Erkenntnisse, sondern um Lebensorientierungen, die einer Korrektur bedürfen. Vernunftgeleitet leben bedeutet, über sich selbst und sein Handeln Rechenschaft abzulegen, es besteht in Überprüfung, Kritik und gegebenenfalls Korrektur eigener Meinungen und Einstellungen und ermöglicht, sich von Vorurteilen, Autoritäten und vermeintlichem Wissen zu befreien. Darauf zu verzichten bedeutet, einen wesentlichen, wenn nicht sogar den wichtigsten Teil der eigenen Handlungsmöglichkeiten aufzugeben. Folgte man der Interpretation von Jörg Hardy, dass die Prüfung der eigenen Lebensweise Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben ist, würde man im Fall eines »Mangels an intellektueller Bewußtheit« auf die Fähigkeit verzichten, selbstbestimmt zu leben. Wie ich bereits im Kapitel 4.1 ausgeführt habe, schlage ich eine andere Interpretation vor: Auch in den anderen Fällen liegt Selbstbestimmung vor, die allerdings unter ihren Möglichkeiten bleibt. Es ist offensichtlich, dass die Übereinstimmung mit sich selbst kein Zustand sein kann, der sich von selbst einstellt, sondern es ist vielmehr ein Anspruch, dem sich der Einzelne selbst unterstellt, den er als für sich verbindlich ansieht und dem er insofern immer wieder gerecht werden will. Unter dem Aspekt der Zeitlichkeit bedarf es dafür einer ausdrücklichen Referenz auf sich selbst. Die Interpretation des Mythos von den Wasserträgerinnen hatte gezeigt, dass die ausschließliche Orientierung an den Begierden auch zu einer in ihren Diensten stehenden Unbeständigkeit der Vernunft führt. Der Unbeständigkeit und Vergesslichkeit des löchrigen Siebes entspricht die Wandelbarkeit der Meinungen, die Kallikles jeweils vertritt. Hinzu kommt, und das ist mindestens genauso wesentlich, dass Kallikles seine Ansichten nicht mit einer für ihn selbst notwendigen und über den jeweiligen Augenblick hinausgehenden Verbindlichkeit vertritt. Diese Verbindlichkeit lässt sich sinnvoll mit dem Begriff der Ernsthaftigkeit des eigenen Redens und Handelns bezeichnen. So fragt Kallikles zu Beginn des Dialogs mit Sokrates diesen nicht ohne Grund gleich mehrfach, ob er das wirklich im Ernst meine oder scherze. 108 Ihm ist offenbar die damit verbundene 108 E§pff moi, Sðkrate@, ptern se jmen nun½ spoud€zonta pafflzonta; (481c1 f.) Vgl. auch 481b6 f., ebenso Prt. 331c4–7: »Wenn du willst, soll uns auch die Gerechtigkeit fromm und auch die Frömmigkeit gerecht sein. – Das ja nicht! sagte ich. Ich begehre gar nicht, daß ein solches ›Wenn du willst‹ und ›Wie du meinst‹ untersucht werde, sondern ›Ich‹ und ›Du‹ (o'dþn gÞr dffomai t e§ boÐlei to‰to ka½ e— soi doke… ¥lffgcesjai, ⁄ll’ ¥mff te ka½ sff).« Dass der Begriff der Ernsthaftigkeit bei Platon eine
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Verbindlichkeit, und zwar eine wechselseitige zwischen den Gesprächspartnern, wohl bewusst. Denn wenn Sokrates seine Thesen ernsthaft vertrete, dann »wäre ja wohl das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt und wir täten in allen Dingen das gerade Gegenteil, wie es scheint, von dem, was wir sollten?« 109 Die Ernsthaftigkeit der im Dialog vertretenen Meinungen ist demnach nicht nur eine Grundvoraussetzung jedes philosophischen Gespräches, sondern mit der Frage: Meinst du das wirklich ernst?, wird unterstellt, dass Einsichten handlungsrelevant sind und angesichts der im Dialog diskutierten Frage nach dem guten Leben sogar sein sollen (vgl. 500c1–3). Denn aus diesem existenziellen Zusammenhang unserer Sorge um das eigene Dasein resultiert die Ernsthaftigkeit, mit welcher nach dem guten Leben gefragt wird und aus der sich eine gewollte Verbindlichkeit für das eigene Handeln ergibt. Die Ernsthaftigkeit des eigenen Handlungsanspruches bezieht sich prinzipiell auf die Relevanz und Verbindlichkeit von eigenen Einsichten für das Handeln überhaupt. Sie umfasst keineswegs jeweils nur eine einzelne Handlung, sondern einen alle Handlungen übergreifenden Zusammenhang. Dabei reicht bereits jede Einsicht aufgrund ihrer auch immer schon allgemeinen Form über die singuläre Handlung hinaus, die Verbindlichkeit von Gründen für eine einzelne Handlung enthält von sich aus das Moment von Beständigkeit und Identität in der Festlegung auf ein Handlungsziel bis hin zu dessen Realisierung. Daran kann die Ernsthaftigkeit anschließen, die sich über eine einzelne Handlung hinaus auf einen in sich widerspruchsfreien Zusammenhang meiner Reden und Handlungen, also auf die Lebensweise insgesamt bezieht. Sie muss gegeben sein, damit eine Übereinstimmung mit sich selbst, oder wie Peter Stemmer als anderen Ausdruck vorgeschlagen hat: eine »Konsistenz in der Reihe der Äußerungen und Handlungen einer Person«, als Anspruch formuliert und ihr praktisch im Leben entsprochen werden kann. Unter der Voraussetzung der Ernsthaftigkeit ermöglicht die Übereinstimmung mit sich selbst eine Beständigkeit der Lebensweise, sie ist ein dem Leben zugrunde liegendes Prinzip, ein Grundsatz oder ein einheitliches Verfahren mit Verbindlichkeit bedeutende Rolle spielt, zeigen auch die auffallend zahlreichen Belegstellen von spoud€zw, spouda…o@ und spoudffi bei F. Ast, Lexicon Platonicum, Bd. 3, 1908, 267– 270. 109 ˝llo ti mn ¡ bfflo@ ⁄natetrammffno@ n e—h tn ⁄njrðpwn ka½ p€nta t€ ¥nantffla pr€ttomen, £@ ˛oiken, ˘ de… (481c4–6).
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für alle Entscheidungen und Handlungen. Der Grundsatz von Sokrates ist bekannt: Allein die eigene Einsicht ist handlungsleitend, und solange diese für mehr als nur eine Handlung relevante Einsicht nicht durch eine bessere, selbst gewonnene Einsicht widerlegt wird, bleibt sie für alle weiteren Handlungen verbindlich. Deshalb kann Sokrates über sein Leben, d. h. über sich selbst, Rechenschaft geben und seinem Anspruch nach mit sich selbst übereinstimmen. Voraussetzung dafür ist, dass der Grundsatz, so und nicht anders zu leben, in den Selbstbegriff des Individuums eingegangen ist. Ich muss mich als derjenige verstehen, zu dessen Selbstverständnis dieser Grundsatz gehört, und indem ich diesen ernsthaft auf mich selbst anwende, nehme ich niemand und nichts anderes ernst als – mich selbst. Dabei umfasst der Selbstbegriff neben real gegebenen Aspekten der jeweiligen Situation immer auch normative Momente. Wenn ich mich ernsthaft als genau dieser verstehe, dann formuliere ich damit auch einen Anspruch, diesem Selbstbegriff nicht nur in der aktuellen Situation, sondern auch zukünftig entsprechen zu wollen. Der Selbstbegriff enthält mit dem Moment des Sollens einen Vorgriff auf ein mögliches Gelingen, in dem man seinen Selbstansprüchen genügen will, und er ist und bleibt die Grundlage aller zukünftigen Einsichten und Entscheidungen. So erleben wir in den Dialogen Platons Sokrates als denjenigen, der in verschiedenen Situationen als genau dieses Individuum dem eigenen Selbstbegriff gemäß agiert. Offenkundig wird das in der Apologie, aber auch im Kriton und Phaidon, als Sokrates im Rückgang auf den eigenen Selbstbegriff seine Entscheidung, das Todesurteil anzunehmen, begründet: Im anderen Fall hätte er nicht mehr entsprechend seinem eigenen Selbstverständnis leben können. Der normative Aspekt des Selbstbegriffs wird vollends deutlich, wenn man bedenkt, dass es auch immer die Möglichkeit gibt, seinem eigenen Anspruch nicht gerecht zu werden. Wie nur der Einzelne die Übereinstimmung mit sich selbst leisten kann, so kann es auch nur der Einzelne selbst sein, der eigenen Anspruch und Realität seiner selbst miteinander konfrontiert, indem er das, was er zu tun beabsichtigt oder bereits getan hat, vor sich selbst, d. h. seinen Grundsätzen, rechtfertigt: ego tritt sich selbst als alter ego gegenüber. Zu fragen ist, ob hier nicht strukturell das vorliegt, was wir heute modern als Gewissen bezeichnen. Das Problem des Gewissens in der Antike wird in der Forschung widersprüchlich diskutiert, und ich möchte nur auf einige einschlägige Publikationen verweisen: Für die vorhellenistische Zeit stellt Friedrich A
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Zucker fest, dass besonders der Sophistik und der Vulgärethik des vierten Jahrhunderts v. Chr. die Vorstellung vom guten und bösen Gewissen als einem rückschauenden geläufig war, allerdings ohne die dem Gewissensbegriff eigene Aufspaltung der Subjektivität. 110 Dagegen spricht er Sokrates und Platon ein als Gewissen aufgefasstes sittliches Bewusstsein ab, weil deren Auffassungen nur auf das objektiv Sittliche und allgemein Verbindliche gerichtet wären. Erst von Beginn der hellenistischen Zeit könne man von einer fortschreitenden Tendenz zur Verinnerlichung sprechen, der aber eine genügende Aufnahme ins Systematische noch fehle, sodass insgesamt »in grundlegenden Fragen, in Fragen, bei denen man ohne weiteres Übereinstimmung vorauszusetzen geneigt sein würde, eine tiefe Fremdheit zwischen der Antike und uns besteht, eine vollkommene Artverschiedenheit geistiger und sittlicher Haltung«. Nicht viel anders fällt das Urteil von Gerhard Krüger aus: Der griechischen Philosophie fehle aufgrund ihrer »Weltbefangenheit« neben anderen modernen Grundbegriffen, »die uns als Bestätigung des Inneren und seines Verhaltens vollkommen geläufig sind«, nicht nur der Begriff des Gewissens, sondern gleichzeitig das diesbezügliche Phänomen der Innerlichkeit. 111 Die Betonung der sittlich erzieherischen Aufgabe des Staates, die auch Thema des Gorgias ist, motiviert Werner Jaeger zu der einseitigen Deutung, dass man »der Bedeutung der Freiheit gegenüber aller Tradition, die Sokrates verkörpert, nicht gerecht [wird], wenn man sie im modernen Sinne als die neuerrungene Unabhängigkeit des persönlichen ›Gewissens‹ deutet. […] Gerade an der Stelle der Entwicklung, an der wir dem modernen Begriff des persönlichen Gewissens und der freien sittlichen Entscheidung des Einzelnen zu begegnen erwarten, wird sie erneut ausgeschaltet und statt ihrer die Autorität einer objektiven philosophischen Wahrheit aufgerichtet, die beansprucht, das ganze Leben der menschlichen Gemeinschaft und dadurch das des Individuums zu beherrschen.« 112 Diesem negativen Befund widerspricht Otto Seel, der gegenüber der »vollkommenen Artverschiedenheit« Zuckers bereits dem altgriechischen Denken das Phänomen des »Gewissens« bescheinigt, wenngleich dieses Denken sich zur Darstellung der Innerlichkeit anderer Ausdrucksformen, z. B. der Metapher und des Gleichnisses, be110 111 112
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Vgl. dazu F. Zucker, Syneidesis – Conscientia, 1928, zit. 1. Vgl. dazu G. Krüger, Grundfragen der Philosophie, 1958, 107 f. W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 227. Vgl. bereits ebd., 209. ALBER THESEN
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diente, deren Gehalt er als »latentes« oder »präformiertes Gewissen« bezeichnet, ohne dabei die Differenzen zu verwischen. 113 Die Sprachentwicklung führte im fünften Jahrhundert zu einer terminologischen Ausgliederung und Verfestigung, sodass nach Ansicht von Seel bereits bei Platon und Aristoteles »die volle sittliche Selbstbesinnung« gegeben sei. Ähnlich gilt für Pierre Hadot »die Figur des Sokrates« als »ein lebender Aufruf zur Erweckung des moralischen Gewissens«. 114 Und die Gewissensprüfung in der sokratisch-platonischen Bedeutung des »Erkenne dich selbst!« begreift er als eine geistige Übung, die eine Transformation des Philosophierenden bewirken sollte und für die antike Philosophie als Lebensweise charakteristisch war. 115 Abschließend sei zum Problem des Gewissens im Gorgias noch Kurt Hildebrandt genannt, der die Übereinstimmung mit sich selbst zweifellos als Gewissen versteht. 116 Hannah Arendt hat darauf aufmerksam gemacht, dass Sokrates im Gorgias – bei einer genauen Übersetzung – sagt, für ihn wäre es besser, mit noch so vielen Menschen uneins zu sein, »als daß ich, der ich Einer bin [ na nta ¥mff], nicht im Einklang mit mir selbst sein und mir widersprechen sollte«. 117 Nach Arendt ist diese Formulierung der ich Einer bin nicht so unverfänglich, wie es zunächst den Anschein hat, weil sich bei genauerem Hinsehen ergibt, dass ich – im Gegensatz zur Beziehung für andere als der Eine – in der Beziehung für mich selbst, wenn ich mir selbst bewusst bin, nicht mehr bloß Einer bin, sondern »Zwei-in-einem«. 118 Das einzige Kriterium für diesen inneren Dialog, 113 Vgl. hier und im Folgenden: O. Seel, Zur Vorgeschichte des Gewissens-Begriffes, 1953, 315 f. 114 P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 23. Vgl. zur Gewissensprüfung insgesamt den Abschnitt: Mit anderen reden lernen, ebd., 23 ff. 115 Vgl. dazu P. Hadot, Wege zur Weisheit, 1999, bes. den Abschnitt: Konzentration auf sich und Gewissensprüfung, 230 ff. 116 Vgl. dazu K. Hildebrandt, Nachwort zu: Platon, Gorgias, 1993, 150 f. 117 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1, 1989, 180. – na nta ¥mþ ¥maut† ⁄sÐmywnon e nai ka½ ¥nantffla lffgein (482c1 f.). Schleiermacher übersetzt na nta ¥mff mit allein (»als daß ich allein mit mir selbst« usw.) und übergeht damit die nach Arendt wichtigsten Worte dieser Passage. 118 Vgl. dazu ebd., 182 ff., zit. 184. Sokrates habe damit nichts anderes entdeckt als »das Wesen des Denkens«, das Platon als das stumme Zwiegespräch zwischen mir und mir selbst bezeichnete (ebd., 184). Im Theaitetos erläutert Sokrates das Denken wie folgt: »Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durchgeht über dasjenige was sie erforschen will. […] Denn so schwebt sie mir vor, daß, solange sie denkt, sie nichts anders tut als sich unterreden (dialffgesjai), indem sie sich selbst fragt und antwortet (a't¼ aut¼n
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den man denkend allein mit sich führt, ohne einsam zu sein, weil man sich in der eigenen Dualität selbst Gesellschaft leistet, sei für Sokrates die Übereinstimmung mit sich selbst, d. h., dass die zwei gesprächsführenden Instanzen als Freunde sich miteinander im Einklang befänden. 119 Und genau diese Situation, in der Sokrates sich selbst gegenübertritt, wird am Ende des Dialoges Hippias maior beschrieben: Sokrates preist Hippias, dass er weit glücklicher sei als er. Bestehe er, Sokrates, nämlich auf seinen Ansichten, dann werde er von Hippias der Beschäftigung mit nichtswürdigen Dingen bezichtigt. Übernehme er aber die Meinung von Hippias, dann werde er wiederum »von diesem Menschen, der mich immer widerlegt, alles Üble […] hören; denn er ist mir gar nahe verwandt und wohnt mit mir zusammen. Wenn ich nun zu mir nach Hause komme und er hört mich so sprechen, so fragt er mich, ob ich mich denn nicht schäme, davon, was man Schönes lernen und treiben soll, zu reden, der ich so offenbar widerlegt worden bin, daß ich von ebendiesem, dem Schönen, gar nicht einmal weiß, was es ist.« 120 Diesen Menschen (¡ ˝njrwpo@ oto@), der Sokrates zu Hause ¥rwtsa ka½ ⁄pokrinomffnh), bejaht und verneint (ka½ y€skousa ka½ o' y€skousa). […] das Vorstellen ist ein Reden, und die Vorstellung ist eine gesprochene Rede, nicht zu einem andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst.« (189e6–190a6) Vgl. auch Sph. 263e3–5. 119 Von Sokrates ist auch noch eine andere innere Stimme bekannt – sein daimnion, das er selbst als eine innere Stimme charakterisiert, die jedes Mal warnt, etwas zu tun, und weit mehr betrifft als nur den Umgang mit einzelnen Menschen. Vgl. z. B. Ap. 31d1–5, 40a ff., Euthd. 272e3 f., Euthphr. 3b5 f., Phdr. 242b f., R. 496c3 und Tht. 151a3 f. Das daimnion ist ein umstrittenes Phänomen in der Sokrates- und Platon-Forschung. Was dagegen spricht, es als Ausdruck des sittlichen Bewusstseins im Sinne des Gewissens aufzufassen, zeigt Hermann Gundert (Platon und das Daimonion des Sokrates, 1977). Ich folge der Deutung von Otto Apelt: »Das Dämonium, der Schutzgeist des Sokrates, tritt hier genau in seiner von Sokrates selbst in der Apologie 31D gekennzeichneten negativen Bestimmung als Warner und Abmahner auf. Es ist also nicht die in Sokrates mächtige Kraft des Selbstdenkens, sondern etwas Mantisches: ein inneres Orakel. Es ist eine innere Warnungsstimme, die sich nicht auf den sittlichen Wert, sondern auf den Erfolg einer Handlung bezieht, nur dieser ist das dem Menschen Verborgene und wie alles Zukünftige ein Gegenstand der Mantik. Das Dämonium des Sokrates ist mithin keine Quelle der Erkenntnis sittlicher und überhaupt philosophischer Wahrheiten. Es ist vielmehr praktischer Takt, ein scharfes Gefühl für das der eigenen Individualität Angemessene, wie es nur Naturen eigen sein kann, die, in sich fest gegründet, eine instinktive Sicherheit in Abweisung des ihrer Eigenart Unzuträglichen haben.« (Platon, Sämtliche Dialoge IV, 1998, 157, Anm. 13 zu Tht. 151a3 f.) 120 ¢p toÐtou to‰ ⁄njrðpou to‰ ⁄effl me ¥lffgconto@ p€nta kakÞ ⁄koÐw. Ka½ gÞr moi tugc€nei ¥ggÐtata gffnou@ #n ka½ ¥n t† a't† o§kn‡ ¥peidÞn oªn e§sffljw
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erwartet und ihn ständig verhört, nannte man, der Interpretation Arendts folgend, in späteren Zeiten »Gewissen«. 121 Obwohl Sokrates sich Prometheus zum Vorbild genommen hat und auf sein ganzes Leben vorbedacht ist (Prt. 361d2–5), tritt der Geselle ihm erst zu Hause, also nachträglich entgegen, was ebenso verständlich ist: Wir benötigen die Distanz zu unserem Tun, in welchem wir, um überhaupt handlungsfähig zu sein, Einer sind, um daraufhin im stummen, alleinigen Zwiegespräch uns vor uns selbst für unser Reden und Tun Rechenschaft geben zu können. In diesem Dialog mit uns selbst konfrontieren wir uns mit unserem idealen Selbstverständnis und untersuchen kritisch, ob wir unserem eigenen Selbstbegriff entsprochen, unseren eigenen Normen gemäß gehandelt haben. Diese reflektierende Selbstbewertung wird nur dadurch erreicht, indem man sich selbst gegenüber die Rolle eines Partners einnimmt, der Rechenschaft fordert. Diese Verdopplung des Selbst oder das »dividuum« nannte Nietzsche eine conditio sine qua non für ethisches Handeln, 122 sie ist bereits bei Kant in vollem Umfang anerkannt: Kant gebraucht für das Gewissen die Metapher des Gerichtshofes, vor dem der einzelne Mensch als zwiefache Persönlichkeit auftritt – in der Funktion des Richters als Subjekt der moralischen Gesetzgebung und der des Angeklagten als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch. 123 Von Platon wird die Verdopplung des Selbst durch den Gesellen, der Sokrates zu Hause erwartet, wo nämlich jeder bei sich ist, sinnfällig ins Bild gebracht. 124 Der Geselle des Sokrates vertritt weder die Vorstellungen und Vorgaben der Gemeinschaft, noch entspricht er der später für das Gewissen stehenden Stimme Gottes oder dem unbeteiligten Beobachter im Sinne von Kants transzendentalem Subjekt, sondern in seiner Gestalt tritt sich Sokrates selbst gegenüber – es sind seine eigenen, bisher sich durch Prüfung als gültig erwiesenen Einsichten, sein eigener Anspruch auf Übereinstimmung mit sich o—kade e§@ ¥mauto‰ kaffl mou ⁄koÐs–h ta‰ta lffgonto@, ¥rwt” e§ o'k a§scÐnomai tolmn per½ kaln ¥pithdeum€twn dialffgesjai, o˜tw yaner@ ¥xelegcmeno@ per½ to‰ kalo‰ ˆti o'd’ a't to‰to ˆ tffl pot’ ˛stin o da. (304d1–8) 121 Vgl. dazu H. Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1, 1989, 188 f. 122 Vgl. dazu F. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches I, 57, KSA 2, 76. 123 Zu Kants Theorie des Gewissens vgl. Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, § 13, AA VI, 437–440. 124 Vgl. zur Verdopplung des Individuums in das »dividuum« als systematischer Voraussetzung von Ethik die Ausführungen im Kapitel 5.2.2 unten im Zusammenhang der Selbstbeherrschung. A
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selbst. Und so paradox es klingen mag, der Geselle ist sein »individuelles« Gewissen. 125 Auf den ersten Blick könnte der Eindruck entstanden sein, dass diese Interpretation dem Egoismus das Wort redet. Verstehen wir, wie heute üblich, unter Egoismus eine Einstellung, die nur eigene Zwecke verfolgt und im Gegensatz zu jeglicher Sozialität steht, dann ist das hier gerade nicht der Fall. Denn indem ich mich mir selbst in Anspruch und Realität gegenüberstelle, teile ich mich in ego und alter ego, und in meinem alter ego nehme ich die Position des anderen ein, vor dem ich mich selbst rechtfertige. Im inneren Dialog sind wir bereits immer schon über uns selbst hinaus, weil das innere Gespräch die dialektische Struktur des äußeren Dialoges mit einem anderen nicht aufhebt, sondern widerspiegelt: »Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem Gespräch mit sich selbst und dem Gespräch mit einem anderen. Nur derjenige, der einer echten Begegnung mit dem anderen fähig ist, ist einer authentischen Begegnung mit sich selbst fähig, und das Umgekehrte ist gleichfalls wahr. Ein authentischer Dialog ist nur gegeben, wenn man für andere und für sich selbst präsent ist.« 126 Eine Rechtfertigung gelingt aber nur, wenn man Einsichten und Gründe anführt, die schon von sich aus, weil durch die Vernunft gegeben, allgemein verfasst sind, ganz abgesehen davon, dass sie es sein müssen, sollen sie überhaupt mitteilbar und verständlich sein. Hinzu kommt, dass man nur dann wirklich überzeugen kann, wenn man sich auf den anderen und die Welt, also auf den gemeinsamen Zusammenhang, in dem man 125 »Ihr Kriterium [das der Übereinstimmung mit sich selbst] für das Handeln sind nicht die üblichen von der Menge anerkannten und in der Gesellschaft eingeführten Regeln, sondern die Frage, ob ich mit mir selbst in Frieden werde leben können, wenn einmal die Zeit gekommen ist, über meine Taten und Worte nachzudenken. Das Gewissen ist die Vorwegvorstellung des Gesellen, der einen nur dann, aber auch immer dann erwartet, wenn man nach Hause kommt.« (H. Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1, 1989, 190) 126 P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 26. Thomas A. Szlezák geht von einem wesentlich strukturellen Unterschied zwischen beiden Gesprächsformen aus: »im Gespräch der Seele kommt alle Bewegung des Gedankens aus ein und demselben Bewußtsein, während das Gespräch mit dem leibhaftigen Gegenüber den Sprechenden in Bezug setzt zu einem fremden Bewußtsein, das über eine eigene Dynamik verfügt« (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 354). Auch ich widerspreche dieser gegen die Dialogformtheorie gerichteten Feststellung, weil für Platon auch das Denken als ein Dialog der Seele mit sich selbst soziomorph verfasst ist, wie die eben besprochene Passage aus dem Dialog Hippias I 304d f. deutlich zeigte.
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lebt, bezieht. So lässt sich erneut paradox formulieren: Gerade indem ich mich in meinem eigenen Handeln nicht an den anderen orientiere, sondern meine eigenen Einsichten diesem zugrunde lege, stimme ich mit mir selbst überein. Und gerade diese Übereinstimmung mit mir selbst umfasst, weil ich in ihr ein Selbstverhältnis ausbilde, indem ich mich in ego und alter ego teile, die Positionalität des anderen. Sie dürfte somit nicht nur die Voraussetzung für ein gutes Leben sein, sondern zugleich die Bedingung für gerechtes Handeln. 127 Aber steht nicht, so könnte ein Einwand lauten, hinter den in meiner Argumentation akzentuierten eigenen Einsichten des Individuums Sokrates nichts anderes als die von Platon angenommene unveränderliche Wahrheit? 128 Steht doch für heutiges Verständnis außer Zweifel, dass das individuelle Selbstverständnis und die ihm zugrunde liegenden Einsichten Wandlungen unterworfen sind. Lässt sich das auch für den Gorgias sagen? Und wie fügt sich dieser Dialog in den Zusammenhang der bislang vorliegenden Ergebnisse der Interpretation? Dazu enthält der Gorgias auf den ersten Blick fast widersprüchliche Aussagen. Einerseits sagt Sokrates zu Beginn seines Dialoges mit Kallikles, dass die Philosophie, sein Liebling, immer dieselben Reden führe ( dþ yilosoyffla ⁄e½ tn a'tn, 482a8 f.). Und bereits im Gespräch mit Polos behauptet er: »Denn das Wahre kann nie widerlegt werden.« (t gÞr ⁄lhjþ@ o'dffpote ¥lffgcetai, 473b10 f.) Diese Behauptung beruht offenbar darauf, dass ein korrekt durchgeführter ˛legco@ zu diesem und keinem anderen Ergebnis gelangen würde. Andererseits versteht Sokrates selbst seine Ergebnisse nicht als Dogma, 127 Volker Gerhardt hat anhand verschiedener anderer Gründe herausgearbeitet, dass eine Selbstbestimmung nach eigenen Grundsätzen nicht als Privatethik verstanden werden kann, sondern dass das »individuelle Gesetz« in letzter Konsequenz die Bedingung allgemeiner ethischer Normen bildet (Das individuelle Gesetz, 1997, bes. 16–21). Vgl. auch ders., Selbstbestimmung, 1999, Kapitel 9: Selbstgesetzgebung. Das individuelle Gesetz, 362 ff.). 128 Ein anderer Einwand könnte sich auf den Begriff der Scham berufen, der im Gorgias eine große Rolle spielt – als Ausdruck des Bewusstseins der Abweichung von einer vorgegebenen allgemeinen Norm, und zwar vor dem im ˛legco@ erscheinenden lgo@ (Th. Kobusch, Wie man leben soll, 1996, 50–53), oder als die Weise, in der die Erinnerung an den Maßstab einer natürlichen Ordnung erfahren werde (G. Figal, Macht und Streit, 1991, 64 ff.). Ich gebe zu bedenken, dass Sokrates sich schämen würde, wenn ihm nachgewiesen werden könnte, dass er unfähig gewesen sei, sich die entscheidende Selbsthilfe zukommen zu lassen, kein Unrecht zu tun (vgl. 522c7–d7) – weil er seinem eigenen Anspruch nicht entsprochen hat.
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das keiner weiteren Überprüfung mehr bedürfe: Zwar habe sich das von ihm Gesagte »mit eisernen und stählernen Gründen« (sidhro…@ ka½ ⁄damantfflnoi@ lgoi@, 509a2) erwiesen, aber – die sokratische Einschränkung folgt sofort: »Denn ich bleibe immer bei derselben Rede, daß ich zwar nicht weiß, wie sich dies verhält, daß aber von denen, die ich angetroffen, wie auch jetzt, keiner imstande gewesen ist, etwas anderes zu behaupten, ohne dadurch lächerlich zu werden.« 129 Gegen die von mir behauptete Einschränkung des Wahrheitsanspruches könnte eingewendet werden, dass sich hinter dem Satz, dass Sokrates nicht weiß, wie es sich verhält, nur Ironie verberge. Allerdings ist ernst zu nehmen, dass er diesen Anspruch doch relativiert, insofern er die Gültigkeit seiner Thesen von der Tatsache abhängig macht, dass sie bisher von keinem anderen widerlegt werden konnten. Diese Interpretation kann durch eine weitere, fast analog lautende Textstelle belegt werden. Gegen Ende des gesamten Dialoges lässt Platon dies noch einmal ausdrücklich von Sokrates wiederholen: Seine Gesprächspartner konnten nicht erweisen, dass man auf eine andere Weise leben müsse als auf diejenige, die er vertreten habe. Deshalb wäre es auch nichts Besonderes, die bisherig handlungsrelevanten Einsichten zu verachten, wenn diese durch »bessere«, d. h. überzeugendere Einsichten ersetzt werden könnten (vgl. 527a5–7). Solange Sokrates noch nichts »Besseres« gefunden hat, bleibt die eigene Einsicht, die sich bisher widerspruchsfrei begründen und rechtfertigen ließ, orientierunggebend. Sie beansprucht Gültigkeit durch den Wahrheitsbezug ihrer Rede (lgo@), und insofern sie noch nicht widerlegt ist. Sie erfährt allerdings durch das Bewusstsein der eigenen Irrtumsfähigkeit und durch ihren Status als menschliches Wissen, weil sie als dieses vorläufig und revidierbar ist, eine Einschränkung dahingehend, dass nicht nur mit der Möglichkeit zu rechnen ist, sie durch etwas »Besseres und Wahreres« ersetzen zu können, sondern dass es sogar notwendig ist, diese Möglichkeit, »der Wahrheit nachjagend« (t¼n ⁄lffijeian skopn, 526d6), zu suchen. Wie ernst ihm diese Suche in Bezug auf sich selbst ist, belegt der Vorzug, den Sokrates der Widerlegung eigener Ansichten im Vergleich zu denen anderer gibt: weil die
129 ¥pe½ ˛moige ¡ a't@ lgo@ ¥st½n ⁄effl, ˆti ¥g ta‰ta o'k o da ˆpw@ ˛cei, ˆti mffntoi n ¥g ¥ntetÐchka, ¯sper n‰n, o'de½@ o@ t’ ¥st½n ˝llw@ lffgwn m¼ o' katagfflasto@ e nai (509a5–8).
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Rede nicht von etwas Beliebigen ist, sondern – vom eigenen guten Leben.
4.2.4
Selbstbestimmung und Individualität der Lebensweisen
Untersuchen wir nun rückblickend die beiden von Kallikles und Sokrates vertretenen Lebensweisen, inwiefern sie durch Selbstbestimmung und Individualität charakterisiert werden können, so gibt es einen ersten Unterschied, der aus der vorhandenen oder fehlenden Übereinstimmung mit sich selbst folgt und die Individualität betrifft. Kallikles steht offensichtlich in einer zweifachen Abhängigkeit: Zum einen betrifft es die seelische Disposition, sein eigenes Verhältnis zu sich selbst, d. h. zu seinen eigenen Begierden. Kallikles, der Ungebundenheit und Freiheit für die Garanten eines glückseligen Lebens hält, ist aber nicht nur von seinen Begierden abhängig, letzten Endes dient er diesen sogar ausdrücklich und widerspricht sich damit in seiner eigenen Lebenskonzeption. 130 Die andere, nicht unwesentlichere Abhängigkeit besteht in der Orientierung seiner Reden an den Meinungen der Menge und des anderen. Um bei seinen Lieblingen, sowohl bei dem Jüngling Demos als auch beim athenischen Volk, Erfolg zu haben, spricht er beiden nach dem Munde. »Denn was nach seinem eigenen Sinn gesprochen wird, daran freut sich ein jeder, was aber aus einem fremden, das ist ihm zuwider«. 131 Die Abhängigkeit von dem oder den anderen zeigt sich auch darin, dass die anderen in ihrem Agieren gleich welcher Art vorab nicht zu berechnen sind, somit das Moment der nicht zu beeinflussenden Faktoren derart groß ist, dass man auf sie nur reagieren kann. Indem sich Kallikles nach dem jeweiligen Sinn seines Gegenübers und nicht nach seinem Eigensinn richtet, erreicht er gerade nicht das, was er sich durch seine auf der natürlichen Stärke begründeten Lebensweise versprach – als »großes Individuum« die Ab130 Vgl. dazu auch den Kommentar zu 491e10–492a2 von J. Dalfen, Platon, Gorgias, Werke VI 3, 2004, 363: »Kallikles, der die völlige Ungebundenheit propagiert, ist letztlich doch ein Diener, ein Sklave seiner Wünsche.« 131 t† a¢tn gÞr ˇjei legomffnwn tn lgwn kastoi cafflrousi, t† dþ ⁄llotrffl†w ˝cjontai (513c2 f.). Vgl. auch 481d7–e6 und 521a4 f., wo Sokrates den Politiker Kallikles verallgemeinert als einen charakterisiert, »der ihnen [den Athenern] dienstbar sein muß und nur, wie es ihnen wohlgefällt, mit ihnen umgeht« (£@ diakonffisonta ka½ pr@ c€rin ¡milffisonta).
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grenzung von den Vielen. In seiner Abhängigkeit von den anderen und ihren Interessen begibt er sich der von ihm selbst erstrebten Möglichkeit zur Individualität zugunsten der heideggerschen Uneigentlichkeit des Man. Im Gegensatz dazu ist Sokrates in dieser zweifachen Hinsicht unabhängig: Selbstbeherrscht und besonnen ist er seinen eigenen Begierden und Wünschen nicht ausgeliefert, sondern verhält sich zu ihnen, also zu diesem Teil von sich selbst, indem er sie bewertet, inwiefern sie mit Blick auf sein ganzes Leben diesem zuträglich sind oder nicht. Zudem gewährt ihm die Selbstbeherrschung, dass sich die intellektuellen Vermögen ungestört von dem auf das jeweils Angenehme gerichteten Begehren betätigen können und er als handlungsfähiges Individuum seine vernünftigen Einsichten – auch im Fall von gegenstrebenden Begierden – praktisch realisieren kann. Zugleich erreicht Sokrates, weil für ihn ausschließlich die eigene Einsicht und die Übereinstimmung mit sich selbst maßgebend sind, gegenüber den anderen eine Selbstständigkeit, die kaum noch übertroffen werden kann, und eine Unabhängigkeit bzw. Autarkie sowohl von inneren als auch äußeren »Zwängen«, den jeweiligen Begierden und ebenso den Meinungen und Interessen der anderen wie auch den situativen Verhältnissen, ohne dass er sich dabei der Welt und den anderen abgewandt verhält, im Gegenteil: Wie wir wissen, ist Sokrates gerade in seiner Eigentlichkeit, um noch einmal die heideggersche Begrifflichkeit zu benutzen, derjenige, der auf die Welt und die anderen zugeht. Eine zweite Differenz besteht in der Ausbildung einer Identität. Unter der Voraussetzung der Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit der eigenen Einsichten und der ständigen Prüfung seiner selbst ermöglicht die sokratische Übereinstimmung mit sich selbst, die auch als psychische Gesundheit oder vernunftgeleitetes Leben verstanden wurde, eine einheitliche Verfasstheit der Person und ihres Lebensvollzuges. Die dadurch selbst hervorgebrachte Beständigkeit verweist auf den Begriff der Identität, weil die eben genannten Aspekte zum Selbstbegriff desjenigen gehören, der sich so und nicht anders, und zwar als ein vernünftiges Wesen versteht. Dass die Übereinstimmung mit sich selbst mit Selbstbejahung und subjektivem Glück einhergeht, ist offensichtlich. 132 Zum guten Leben gehört allerdings noch mehr: Identität, zumal 132 »Diese Übereinstimmung ist eine Harmonie der Seelenkräfte, die sich ihrerseits einstellt im Verlauf der kontinuierlichen, unter Bedingungen der Besonnenheit vollzoge-
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eine selbst gebildete, ist mehr als nur eine »Selbstbejahung« oder »Zufriedenheit mit seinem eigenen Gutsein«. Platon misst der Identität des Einzelnen große Bedeutung bei und verbindet die Vorstellung der e'daimonffla eng mit dem Begriff der individuellen Identität, worüber noch zu sprechen sein wird. Im Unterschied dazu kann bei Kallikles von einer Identität im eigentlichen Sinn nicht gesprochen werden. Das bedeutet natürlich nicht, er habe überhaupt kein Verständnis von sich selbst, aber seine Identität ist weder beständig noch in sich konsistent. Wie wir gesehen hatten, folgte als Konsequenz der Abhängigkeit von den ungebundenen Begierden und der Instrumentalisierung der Vernunft in deren Dienst eine »Unbeständigkeit und Vergeßlichkeit« der Vernunft, sodass Kallikles nicht zu einer eigenen Beständigkeit, einer Kontinuität und Einheitlichkeit des Lebensvollzuges und einer selbst hervorgebrachten Identität finden kann. Hinzu kommt die äußerliche Abhängigkeit von den Meinungen der anderen, die als das äußere Spiegelbild der inneren Dimension diese Konsequenz wiederholt und somit verstärkt. Wenn man die von Kallikles vertretene Position auf das ihr zugrunde liegende Prinzip zurückführt, dann ist Kallikles ein von Augenblick zu Augenblick nur reagierender, nicht agierender, den eigenen Begierden wie den Meinungen und Interessen der anderen gleichermaßen sich selbst aussetzender und ausgesetzter Mensch. Unterscheiden sich die beiden Lebensweisen hinsichtlich der Hervorbringung von Individualität und Identität, so argumentiere ich im Folgenden erneut dafür, dass von Selbstbestimmung in beiden Fällen gesprochen werden muss, obwohl das Handeln und Leben von Kallikles, wie vordem bei Polos, auf einer Selbsttäuschung über die eigenen wahren Ziele beruht. 133 Angesichts seiner Lebensweise, die einer Ausbildung der individuellen Identität entgegensteht, fragt man sich allerdings, ob und wie es denn überhaupt möglich sein soll, bei Kallikles von nen Selbstprüfung. Da die innere Harmonie Selbstbejahung nach sich zieht, Zufriedenheit mit dem eigenen Gutsein, könnte auf diese Weise das Leben der dauernden Selbstprüfung ein Moment von subjektivem Glück enthalten.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 171) 133 Vgl. dazu die am Schluss des Kapitels 4.1 oben kritisierte Interpretation, nur demjenigen Selbstbestimmung zuzusprechen, der sich über seine wirklichen Ziele im Klaren ist, weil er ein Wissen vom Guten hat, und nicht nur das für ihn Gute intendiert, sondern dieses auch trifft, hingegen demjenigen, der sich über das wirklich Gute täuscht, selbstbestimmtes Handeln abzusprechen. A
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Selbstbestimmung zu sprechen, weil er doch durch seine zweifache Ausrichtung an anderem seiner selbst nicht als selbst-, sondern eher als fremdbestimmt erscheint. Aber weder wird Kallikles von einem anderen gezwungen, noch ist er sich seiner Lebensweise nicht bewusst, im Gegenteil: Er beansprucht ausdrücklich, dass er Gründe hat, mögen sie auch noch so widersprüchlich sein, so und nicht anders leben zu wollen: als »großes Individuum« die eigenen Begierden so groß wie möglich werden zu lassen und die Fähigkeiten zu haben, ihrer Befriedigung auch entsprechen zu können, und durch die Ausrichtung an den anderen für sich selbst den größten Vorteil zu erhalten (vgl. 521a). Nur diese Lebensweise gilt ihm als Garant für ein gutes Leben. Der Unterschied zwischen Sokrates und Kallikles kann demnach nicht darin bestehen, ob Selbstbestimmung vorliegt oder nicht, sondern inwiefern selbstbestimmtes Handeln das intendierte Gute trifft oder nicht und in dieser Hinsicht gelingt oder misslingt. Diese Interpretation lässt sich durch ein zusätzliches Argument stützen, das nicht nur im Gorgias, sondern auch in anderen Dialogen thematisiert wird: Auch derjenige, der sich über sich selbst täuscht, ist für sein Handeln und Leben, also für sich selbst – verantwortlich. Am Ende des Gorgias geht Sokrates im Mythos vom jenseitigen Seelengericht (523a ff.) von der realen Tatsache aus, dass nach dem Tod einem Leib noch immer seine von Natur aus gegebene und durch die jeweilige Lebensweise hervorgebrachte Konstitution anzusehen ist. Ebenso verhalte es sich nun mit der Seele nach dem Tod: »Sichtbar ist alles an der Seele, wenn sie vom Leibe entkleidet ist, sowohl was ihr von Natur eignete als auch die Veränderungen, welche der Mensch durch sein Bestreben um dies und jenes in der Seele bewirkt hat.« 134 Die von Sokrates vorgenommene Unterscheidung ist wichtig: Es gibt demnach einen Teil unserer psychischen Disposition, der auf die natürliche Veranlagung zurückgeführt werden kann, und einen anderen Teil, dessen Beschaffenheit jeder durch seine jeweilige Lebensweise hervorbringt. Wie wir nicht für alles verantwortlich sind, so sind wir es gleichwohl für denjenigen Teil, der durch unser Tun gewisse Veränderungen erfährt. Das Handeln, welches die Veränderungen in der Seele bewirkt hat, wird im Text näher als ein »Bestreben um dies und jenes« bezeichnet. 134
˛ndhla p€nta ¥st½n ¥n t–» vuc–», ¥peidÞn gumnwj–» to‰ sðmato@, t€ te t»@ yÐsew@ ka½ tÞ pajffimata ˘ diÞ t¼n ¥pitffideusin k€stou pr€gmato@ ˛scen ¥n t–» vuc–» ¡ ˝njrwpo@ (524d4–7).
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Das kann nicht das Streben nach dem Guten an sich betreffen, denn das wollen alle gleichermaßen, sondern es sind – wie auch die darauffolgenden Ausführungen deutlich machen – Handlungen von ungerechter oder gerechter Art gemeint, die jeweils unterschiedliche Veränderungen in der Seele bewirken bzw. selbst Ausdruck einer Seele voller Ungerechtigkeit und Missverhältnis (⁄dikffla@ und ⁄summetrffla@, 525a1 und a5) sind oder Ausdruck der psychischen Verfassung »eines weisheitsliebendes [Mannes], der das Seinige getan und nicht vielerlei äußerlich betrieben hat in seinem Leben«. 135 Weil Platon in der Politeia mit diesen Worten den Begriff der Gerechtigkeit definiert, 136 ist hier niemand anders als der gerechte Mensch gemeint. Was hier im Gorgias vorausgesetzt wird, ist der bereits mehrfach besprochene Zusammenhang zwischen Handlung bzw. Lebensweise und psychischer Disposition, der sich aus der Reflexivität der Sorge um sich selbst und dem intentionalen Bezug auf das Gute ergibt: Wie einerseits die Handlung äußerer Ausdruck unserer seelischen Verfasstheit ist, so wird die Seele durch die Art und Weise zu handeln und durch ihren Umgang mit demjenigen, auf das sie sich bezieht, selbst geprägt. Es lässt sich noch allgemeiner ausdrücken: Wie Platon jedes Weltverhältnis auf das entsprechende Selbstverhältnis des Handelnden zurückführt, so bildet sich jedes Selbstverhältnis nur in Bezug auf das Weltverhältnis aus. 137 Wir stehen nicht »unberührt« außerhalb bzw. neben unseren Handlungen, sondern in allem, was wir tun, sind wir bereits immer schon involviert und verweisen im Handeln auf uns selbst zurück. Gleichzeitig haben das Handeln und seine Ziele einen Einfluss auf uns selbst, weil wir uns mit dem, was wir tun, identifizieren. Die Ursache für diesen wechselseitigen Zusammenhang liegt darin, dass die Seele oder unser jeweils individuelles Selbst wegen ihres anderen kategorialen Status im Vergleich zu den Gegenständen der empirischen Welt nicht wie diese erfahrbar ist, sondern immer eines anderen Mediums bedarf, in dem sie – die Seele – in einer indirekten
135 yilosyou tÞ a¢to‰ pr€xanto@ ka½ o' polupragmonffisanto@ ¥n t† bffl†w (526c3–5). 136 »Und gewiß, daß das Seinige zu tun und sich nicht in vielerlei einzumischen Gerechtigkeit ist« (Ka½ m¼n ˆti ge t tÞ a¢to‰ pr€ttein ka½ m¼ polupragmone…n dikaiosÐnh ¥stffl, 433a9 f.). Vgl. dazu das Kapitel 5.2.1 unten. 137 Wir werden im abschließenden Kapitel sehen, dass Platon dem Selbstverhältnis des Individuums die Priorität gibt.
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und vermittelten Art und Weise für einen selbst und für andere erfahrbar wird. Im Jenseitsmythos des Gorgias wird nun der Einfluss der eigenen Handlungen auf die Seele betont. Aufgrund dessen findet der jenseitige Richter die Seelen derart vor, »wie eben jedem seine Handlungsweise sich in der Seele ausgeprägt hat«. 138 Dabei fällt auf, dass hier nicht von Handlungen, sondern von Handlungsweise die Rede ist. Das lässt sich ohne Weiteres erklären: Gewiss bestimmen wir uns selbst durch die Festlegung auf ein Handlungsziel. Aber die Trennung des einzelnen Handlungszieles von der Lebensweise des Handelnden ist eine rein theoretische Annahme, praktisch ist jedes Festsetzen eines Handlungszieles eingebunden in eine dem zugrunde liegende Handlungs- oder Lebensweise, die de facto die Auswahl und Bestimmung von etwas als Handlungszweck vorstrukturiert. Deshalb ist es korrekt zu sagen, dass wir uns durch unsere Lebensweise selbst bestimmen, denn durch eine so oder so getroffene Entscheidung oder Handlung oder letztlich Lebensweise lässt der Einzelne nicht nur erkennen, wer er ist, sondern trägt auch selbst dazu bei, wer und wie er wird – in unserem Fall sowohl Sokrates als auch Kallikles! Auch das findet seine Bestätigung im Jenseitsmythos: Für den Aufenthaltsort der Seelen nach dem Tod, ob Tartaros oder die Insel der Seligen, wird allein der Einzelne selbst verantwortlich gemacht, denn der Richter entscheidet anhand des Kriteriums der gerechten oder ungerechten Lebensweise ausschließlich nur nach dem jeweiligen Zustand der nackten Seelen, unerachtet der äußeren Umstände des gelebten Lebens. Denn wie der Einzelne gelebt hat, lag offensichtlich in seiner freien Entscheidung, seiner Selbstbestimmung. Als Sokrates den Mythos von den Wasserträgern erzählt hat, sagt er zu Kallikles, dass dies wunderlich sei, »es macht aber doch deutlich, was ich dich gern, wenn ich es dir irgend zeigen könnte, überreden möchte zu wechseln (pe…sai metajffsjai), und anstatt des unersättlichen und ausgelassenen und ungebundenen Lebens das besonnene und mit dem jedesmal Vorhandenen sich begnügende zu wählen (lffsjai)« (493c4–8). arffomai heißt nicht nur »wählen«, sondern: etwas einem anderem aus freier Wahl vorziehen! 139 Allerdings suggeriert ˘ k€sth pr”xi@ a'to‰ ¥xwmrzato e§@ t¼n vucffin (525a1 f.). Vgl. zur Wahl der Lebensweise R. 617e1–5. Vor einer Wahl zu stehen, begreift Hans-Georg Gadamer als »unabdingbare Grundsituation des Menschen«: »Menschsein 138 139
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Sokrates mit dieser Aufforderung, es sei ein Leichtes, die eigene Lebensweise zu wechseln. Die Änderung und der Wechsel sind möglich, aber sie stellen sich wesentlich komplizierter dar, als es Sokrates an dieser Stelle nahelegt. 140 Wir können nicht in einem absoluten Sinn uns von uns selbst distanzieren, eine tabula rasa ist nicht möglich und auch nicht wünschenswert, sondern wir bringen uns gleichsam immer so, wie wir sind, in unsere Handlungen ein. Deshalb ist vielmehr von einem längeren, unter Umständen auch schmerzhaften Prozess auszugehen, und selbst bei denjenigen, die zu Hoffnungen Anlass gaben, wie z. B. Alkibiades, kann die philosophische Bemühung scheitern. Ein weiteres Argument, auch bei Kallikles von Selbstbestimmung zu sprechen, sehe ich in der Anlage des Dialoges als eines dramatischen Gespräches, in welchem die Aussagen auf verschiedene Personen verteilt werden und jeweils der Position der Redenden entsprechen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass beide Dialogpartner jeweils ihre Lebensweise im Gespräch vertreten und ihre Redeweise bereits als Ausdruck der ihnen zugrunde liegenden Lebensweise aufzufassen ist. Bei dieser dadurch zustande kommenden Multiperspektivität von an sich gleichberechtigten Positionen ist es im Unterschied zur monologischen Abhandlung gerade nicht festgelegt, wer recht hat. Allein aus diesem Grund scheint es mir verdächtig, in Kallikles den prinzipiell Widerlegten und in der von Sokrates vertretenen Lebensweise die wahrhaft gültige zu sehen. Zwar führt Platon uns die Inkonsequenzen des Kallikles vor; er zeigt dramaturgisch nicht nur einmal, wohin eine derartige theoretische Position, praktisch gelebt, führt: in ein Unvermögen zur Kommunikation, weil Kallikles die Weiterführung des Gespräches verweigert. 141 Ob Kallikles wirklich widerlegt ist, sei dahingestellt, überzeugt ist er jedenfalls nicht! Gegen Ende des Dialoges, als Sokrates heißt, immer wieder vor die Wahl gestellt zu sein. […] Wählen müssen schließt aber Wissenwollen ein, Wissen des Besseren und Wissen des Guten, und das heißt: Gründe wissen und mit Gründen unterscheiden. […] Das macht den Menschen zum Menschen, daß er nach dem Guten fragen muß, das eine dem anderen in bewußter Entscheidung vorzieht, also sich selbst Rechenschaft geben muß (Apol. 38a5).« (Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), GW VII, 189) 140 Dazu ausführlich im Kapitel 5.3 unten. 141 Vgl. dazu die Interpretation von Theo Kobusch, nach der sowohl theoretisch als auch praktisch die Position des Kallikles widerlegt wird: »Das Gespräch mit Kallikles widerlegt daher nicht nur theoretisch dessen Position, sondern zeigt zugleich auch, wohin sie schon im Gespräch selbst als einer Version dessen, ›wie man leben soll‹, notwendig führt: nämlich in die Kommunikationslosigkeit und in die Unfähigkeit zum Dialog.« A
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fragt, welcher Art der Politik der Vorzug zu geben sei, ob derjenigen, die versucht, die Athener besser zu machen, oder derjenigen, die sich nur nach dem Wohlgefallen des Volkes richtet (vgl. 521a), hält Kallikles an seiner bisher vertretenen Position fest: Wer den Leuten nach dem Mund redet, macht sich beliebt, wer hingegen versucht, sie besser zu machen, begibt sich in Gefahr, auch in jene, getötet zu werden. Letzteres ist nicht eine belanglose Randbemerkung, sondern eine deutliche Anspielung auf den Tod des Sokrates, was uns erneut die existenzielle Dimension des Gesprächsgegenstandes vor Augen führt. Und Kallikles hat dafür eigene Gründe, die, abgesehen davon, dass sie sich im bisherigen Gespräch nicht ohne Widerspruch verteidigen ließen, für ihn einsichtiger sind als die Argumente des Sokrates, und – dadurch bestimmt Kallikles nichts anderes als sich selbst. Der relativ offene, unentschiedene Ausgang der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Kallikles zeigt vielleicht nicht gleich die »Ohnmacht« der Vernunft in Fragen der eigenen Lebensweise, jedoch die nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten, die mit der Überzeugung eines anderen verbunden sind, geht es doch um eine Änderung eines praktischen Orientierungswissens im eigenen Lebenszusammenhang. Mögen die Argumente auch noch so widerspruchslos sein, Sokrates konnte Kallikles nicht zwingen, mit ihm übereinzustimmen. In Diskussionen ist man an die Einsichtsfähigkeit des Einzelnen verwiesen. Gleichzeitig lässt sich bereits aus dem Gorgias lernen, dass sowohl der Anspruch, mit sich selbst übereinzustimmen, vom Einzelnen selbst aufgestellt werden muss als auch moralisches Handeln an die Einsicht des Einzelnen gebunden ist. 142 Ob im Gorgias die Begründung moralischen Handelns überzeugt, ist eine ganz andere Frage. Erinnern wir uns: Bislang bestand die Vollkommenheit der Seele in ihrer psychischen Gesundheit, die als Ausdruck für ein vernunftgeleitetes Leben aufgefasst wurde und ein Opti(Wie man leben soll, 1996, 60) Vgl. dazu 505c ff., wo Kallikles das weitere Gespräch verweigert und es vorzieht, bis zum Ende des Dialogs zu schweigen. 142 Auch Peter Schulz betont die Offenheit des Ausgangs und konstatiert, dass es Sokrates nicht gelungen sei, Kallikles von einer vernunftgeleiteten Lebensführung zu überzeugen. Die Ursache sieht Schulz weniger in der mangelnden Beweiskraft der sokratischen Argumente, sondern hält es für möglich, dass Platon die Verweigerung von Kallikles bewusst inszeniert habe, um zu zeigen, dass auch die beste Argumentation niemals als solche ausreicht, um den anderen für die Selbstüberprüfung zu gewinnen. (Freundschaft und Selbstliebe, 2000, 64 f.)
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mum an eigenen Handlungsmöglichkeiten sicherstellte. Bei einer derart verstandenen Besonnenheit der Seele ist es evident, dass niemand freiwillig eine Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten wollen kann. Daraus wird allerdings im weiteren Dialogverlauf die Konsequenz gezogen, dass die wohlbeschaffene Seele nicht nur die besonnene ist, sondern zugleich auch die gerechte: Weil der Besonnene (¡ sðyrwn) sich gegenüber Göttern und Menschen gebührend verhält, ist er zugleich gerecht (dfflkaio@), fromm (ˆsio@) und tapfer (⁄ndre…o@), verkörpert also alle üblichen ⁄retaffl (507a7 ff.). Behauptet wird allerdings nicht bloß, dass die besonnene Seele auch die gerechte Seele sein kann, aber nicht notwendig sein muss, sondern wesentlich stärker, dass allein die gerechte Seele zugleich auch die besonnene, d. h. gesunde oder vernunftgeleitete Seele ist. Diese Konsequenz wird durch zwei zusätzliche Argumente gestützt: Erstens könne derjenige, dessen Leben nur in der zügellosen Befriedigung seiner Begierden bestehe, mit keinem anderen befreundet sein, weder mit einem anderen Menschen noch mit Gott (507e5–7). Und das zweite Argument lautet, dass »die Welt als ein Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit« aufzufassen sei und dass dieses wohlgeordnete Ganze zwischen Himmel und Erde, Göttern und Menschen nur Bestand habe durch Gemeinschaft, Freundschaft, Schicklichkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. 143 Wie die Ordnung des Einzelnen ihre Entsprechung in der Ordnung des Ganzen findet, so ist der Einzelne selbst zugleich in diesen großen ksmo@ eingebunden. Die Begründungsfrage moralischen Handelns im Gorgias wird in der Literatur kontrovers diskutiert: Das gute und gerechte Leben ist für Marcel van Ackeren in einem Welt, Staat und Mensch gleichermaßen umfassenden und allem zugrunde liegenden Ordnungsprinzip fundiert, das – als geometrische Gleichheit aufgefasst – mathematisch erfassbar sei (vgl. 508a6–8). 144 Aufgrund dieses Prinzips wären alle Künste durch dieselbe Methodik und Zielsetzung charakterisiert, und die Verwirklichung des guten und gerechten Lebens sei selbst eine solche Kunst. In anderen Kommentaren wird die Begründung mora143 Fas½ d’ o soyoffl, Kallfflklei@, ka½ o'rann ka½ g»n ka½ jeo±@ ka½ ⁄njrðpou@ t¼n koinwnfflan sunffcein ka½ yilfflan ka½ kosmithta ka½ swyrosÐnhn ka½ dikaithta, ka½ t ˆlon to‰to diÞ ta‰ta ksmon kalo‰sin, ta…re, o'k ⁄kosmfflan o'dþ ⁄kolasfflan. (507e7–508a4) 144 Vgl. dazu M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, 2003, Kapitel: Die Techne vom Guten und ihre Fundierung (Gorgias), 97 ff.
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lischen Handelns unproblematisiert akzeptiert, z. B. von Werner Jaeger und Paul Friedländer, 145 oder völlig infrage gestellt, z. B. durch Walter Bröcker, für den »die ganze Lehre des ›Gorgias‹ in der Luft« hängt, weil sie von begründungstheoretisch unbewiesenen Voraussetzungen abhängig sei: 146 Erstens könne Platon nur aufgrund der angenommenen, aber unbewiesenen Analogie von Leib und Seele voraussetzen, dass die Seelengesundheit als Gerechtigkeit so notwendig wie die Gesundheit des Leibes sei, und zweitens könne »ohne die Voraussetzung eines Lebens nach dem Tode«, von dem der Schlussmythos spricht, die Seelengesundheit nicht als höchstes Gut postuliert werden, weshalb »die Moralbegründung des platonischen ›Gorgias‹ den Boden verliert«. Treffender, wenngleich nicht unkritisch ist die Interpretation von Peter Stemmer: Die Begründung der Moralität unter Rekurs auf das Eigeninteresse des jeweils Handelnden bleibt, so das Ergebnis Stemmers, im Gorgias Programm. 147 Zwar zeige Platon, dass die mit moralischem Handeln möglicherweise verbundenen Nachteile durch einen Vorteil, der mit moralischem Handeln verbunden ist, aufgewogen werden. Dieser Vorteil bestehe in der Harmonie mit sich selbst, einem vernunftgeleiteten Leben, für das die Metapher der psychischen Gesundheit zu Recht gebraucht werden könne. Problematisch sei die These des Sokrates, dass moralisches Handeln notwendige Bedingung eines vernunftgeleiteten Handelns und einer Harmonie mit sich selbst sei. Denn es ließe sich fragen, ob nicht auch der rationale Amoralist nach einem einheitlichen Lebensprinzip, d. h. konsistent und vernunftgeleitet, agiere: dem Prinzip des eigenen handfesten Vorteils. Zu denken ist hierbei an die Position des Polos, der empfiehlt, wenn er beobachtet wird, zur Vermeidung von Strafe moralisch, im anderen Fall nicht moralisch zu handeln. Nach Stemmer reicht das Kriterium der Konsistenz, wie es zumindest im Gorgias eingeführt wird, nicht für eine Begründung von Moralität aus, und es bliebe ungeklärt, dass moralisches Handeln als notwendige Bedingung eines harmonischen Lebens bzw. Unrechtleiden auch unter dem Gesichtspunkt des eigenen Wohls dem Unrechttun vorzuziehen sei.
145 Vgl. dazu W. Jaeger, Paideia, Bd. 2, 1959, 188 f.; P. Friedländer, Platon, Bd. 2, 1957, 226 ff. 146 Vgl. hier und im Folgenden: W. Bröcker, Platos Gespräche, 1990, 107 f. 147 Vgl. dazu P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 518 ff.
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Zwei Anmerkungen möchte ich dieser Diskussion hinzufügen, die erste in Bezug auf den Schlussmythos im Gorgias: Sicher stehen wir heute der Annahme eines Lebens nach dem Tod, von welcher der Mythos ausgeht, eher skeptisch gegenüber. Allerdings würden wir Platon gründlich missverstehen, wenn wir den dramaturgisch eingesetzten und auch deutlich akzentuierten Unterschied zwischen Dialog und Mythos nicht zur Kenntnis nehmen würden und den Mythos wie ein Argument behandelten. 148 Sinnvoll lässt sich der Jenseitsmythos im Gorgias als metaphorischer Ausdruck einer Einsicht von Platon auffassen, dass eine argumentativ zwingende philosophische Letztbegründung für moralisches Handeln problematisch ist, weil wir als Menschen in Bezügen stehen und leben, die über das, über was wir in jeglicher Hinsicht verfügen können, in das uns Unverfügbare hinausreichen. 149 Viel wichtiger ist allerdings die Bedeutung des Mythos für ein angemessenes Verständnis unserer selbst. Wenn man von dieser existenziellen Dimension der Mythen bei Platon ausgeht, dann wird auch eine für heute nachvollziehbare Deutung der behaupteten Unsterblichkeit der Seele möglich sein, wie im Kapitel 5.3 gezeigt werden soll. 150 Meine zweite Anmerkung betrifft die von Polos vertretene Position: Er kann nicht mit Sicherheit ausschließen, dass er in Situationen, 148 Vgl. zur Interpretation der platonischen Mythen im Allgemeinen und dem Problem des richtig verstandenen Umgangs mit den Mythologemen im Besonderen die in Anm. 184 im Kapitel 5.3 unten angegebene Literatur. 149 Eine andere Erklärung der »Offenheit« des Gorgias gibt Thomas A. Szlezák: Weil Kallikles unfähig sei, Sokrates zu erproben, liege dem Gorgias die Vorstellung vom adressatenbezogenen Philosophieren zugrunde, d. h., »daß Sokrates die Darlegung seiner Gedanken vor einem solchen Gesprächspartner bewußt limitiert und dies auch ausspricht« (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 199). Deshalb fänden sich im Gorgias nur Konturen des skizzenhaften Bildes der Dialektik als konkreter Theorie der Grundlegung der Ethik, die es aber bereits zur Zeit der Abfassung des Gorgias gegeben hätte. Dieses skizzenhafte Bild wisse der heutige Leser gleichwohl mit Hilfe der Politeia und des Phaidros auszufüllen. (Ebd., 207) 150 In diese Richtung geht auch die Interpretation von Peter Schulz: Abgesehen von bestehenden Vorbehalten gegen die Verwendung von Mythen verweist Schulz auf die Einschränkung, mit welcher Sokrates selbst den Mythos vom Jenseitsgericht vorträgt (vgl. 527a4 ff.). Gegen die übliche Lesart, Sokrates wolle seinen Gesprächspartner überzeugen, ein vernunftgeleitetes Leben zu führen, indem er diesem Bestrafung oder Belohnung für begangene Taten im Jenseits in Aussicht stellt, schlägt Schulz eine andere Deutung vor: Der Mythos zeige das Motiv, um dessentwillen es sich für den Menschen lohne, vernunftgeleitet zu leben: die Liebe oder Zuneigung zu sich selbst als unsterbliche Seele. (Freundschaft und Selbstliebe, 2000, 65 ff.)
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in denen er vermeint, unbeobachtet zu sein und deshalb wegen seines Vorteils ungerecht handelt, nicht doch beobachtet worden ist und sich dies erst im Nachhinein herausstellt. Sicher, wo kein Kläger, da kein Richter, aber das Damoklesschwert der Beobachtung schwebt über ihn. Deshalb wird er jedem und allem nicht mehr unvorbelastet und unvoreingenommen, sondern misstrauisch begegnen und letztlich für kein Gespräch und keine Freundschaft mit einem anderen mehr fähig sein. 151 Das Motiv der Freundschaft spielt auch im Gorgias eine Rolle, wie wir bereits gehört haben: Derjenige, der sein Leben an der Befriedigung seiner ungebundenen Begierden orientiert, könne mit keinem anderen befreundet sein, weder mit einem Menschen noch mit einem Gott. Hier klingt bereits das an, was dann in der Politeia seine Ausführung findet: die Freundschaft mit sich selbst als Voraussetzung der Freundschaft mit einem anderen. Zugleich wird im Gorgias von der Welt als einem »wohlgeordneten Ganzen« (t ˆlon to‰to diÞ ta‰ta ksmon, 508a3), also einem größeren Ordnungszusammenhang ausgegangen, der den Menschen umfasst und dem er zu entsprechen hat, weil das Ganze nur durch Freundschaft Bestand habe. Die gute, und das heißt: auch gerechte Seele entspricht diesem Zusammenhang, weil eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben alle Bezüge, in denen wir stehen, mit zu bedenken hat und insofern der entsprechende Selbstbegriff desjenigen, der die Frage stellt und eine Antwort sucht, den anderen und die Welt mit einschließt. Zurück zu Polos’ Position: Wir können nicht mit Sicherheit ausschließen, dass unser ungerechtes Handeln als solches erkannt wird. Deshalb ist die Position von Polos in sich widersprüchlich, weil sie von einem Unterscheidungskriterium ausgeht, dass sie selbst nicht umfassend sicherstellen kann. 152 Andererseits können wir aber auch nicht 151 Auch heute gehört die Freundschaft zu den allgemeinen Vorstellungen eines guten Lebens, in der Antike hat sie gleichwohl einen noch größeren Stellenwert. Ich verweise nur auf den anderen im philosophischen Gespräch und dessen notwendige Funktion bei der eigenen Selbsterkenntnis bei Platon sowie auf die Bedeutung der Freundschaft, die Aristoteles ihr beimisst (vgl. EN VIII und IX). Vgl. dazu die Monographie von P. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe, 2000; ebenso H.-G. Gadamer, Freundschaft und Selbstliebe. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik (1985), GW VII. 152 In dem unten geschilderten realen Fall wurde de facto der Versuch unternommen, die Position von Polos empirisch nachzuweisen, was misslang: »Drehbuchautor Claus Cornelius Fischer hat sich die Idee für seinen Stoff von einem realen Fall geholt. In Rom haben im Mai 1997 zwei Assistenten am Institut für Rechtsphilosophie eine zufällig
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mit Sicherheit behaupten, dass ungerechtes Handeln jetzt oder in Zukunft als solches bemerkt wird. Darauf könnte Polos spekulieren, dass es Fälle gibt, in denen ein Menschenleben nicht ausreicht, um ungerechtes Handeln aufzudecken und zu bestrafen. Es liegt nahe, an dieser Stelle auf den Mythos vom Jenseitsgericht zu verweisen, übernimmt er doch genau diese »Leerstelle«: Ungerechtes Handeln wird als solches erkannt und bestraft, wenn nicht im jetzigen Leben, dann nach dem Tod. Doch dieses »Argument« überzeugt wenig, insbesondere nicht mit Blick auf die Politeia, in der das Problem der Beobachtung oder Nicht-Beobachtung durch die Parabel vom Ring des Gyges (359b ff.) beseitigt und zugleich das dahinterstehende eigentliche Problem der Motivation zu moralischem Handeln radikalisiert wird. 153 Solange man sich am üblichen Verständnis von Gerechtigkeit orientiert, d. h. an dem, was durch das Gesetz als gerecht festgelegt ist, wird es schwer sein, eine überzeugende Antwort zu finden, weil die externen Gründe, insbesondere in ihrer negativen Form wie Verfolgung und Bestrafung, entfallen. Eine evidente Antwort ist nur in Bezug auf interne, das Selbstverständnis des Individuums betreffende Gründe möglich und setzt zugleich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit voraus. 154 Unabhängig davon, ob die Begründung moralischen Handelns im Gorgias überzeugt oder nicht, kann die Frage nach der Selbstbestimvorbeilaufende Studentin erschossen, zuvor hatten sie in einem Seminar über das perfekte Verbrechen theoretisiert. Die beiden wollten beweisen, dass sie niemand mit der Tat in Verbindung bringen könne. Und falls doch, dass sie aus Mangel an Motiven trotzdem straffrei ausgehen würden. Sie wurden gefasst, sie leugneten, sie wurden mal frei gesprochen, dann wieder für schuldig befunden, sogar Ministerpräsident Berlusconi mischte sich ein. […] Die beiden Mörder in Rom sind vor genau zwei Jahren schließlich doch noch verurteilt worden, in dritter und letzter Instanz.« (B. Wirth, Rezension von »Tatort: Schneetreiben«, 2005, 37) 153 Vgl. dazu das Kapitel 5.1 unten. 154 Vgl. die ähnlichen Ausführungen von U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 14: »Wenn moralische Normen fordern, daß wir die eigenen Interessen zugunsten der Rücksicht auf die Interessen anderer einschränken, stellt sich die Frage, welchen Grund wir zu dieser Rücksicht haben. Da zum Moralsystem Reaktionen wie Vorwürfe, Groll, Verachtung usw. gehören, könnte man sagen, das Motiv zur Befolgung der Normen liege darin, daß man diese negativen Folgen vermeiden will. Doch wer nur diese Motive hat, bräuchte dort nicht moralisch zu handeln, wo er nicht beobachtet wird. Durchgängig moralisch wird sich (unter aufgeklärten Bedingungen, wo autoritäre Gründe nicht mehr akzeptiert werden) nur verhalten, wer einen Grund im Rahmen seines eigenen guten Lebens hat, sich an die moralischen Normen zu halten.« Zum anderen Gerechtigkeitsbegriff bei Platon vgl. das folgende Kapitel 5 zur Politeia. A
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mung beider Lebensweisen beantwortet werden. Bislang ist gezeigt worden, dass auch Kallikles für sein eigenes Handeln und seine Lebensweise verantwortlich gemacht wird. Wenn sich sowohl Sokrates als auch Kallikles selbst bestimmen, dann ist anzunehmen, dass sie sich in den Resultaten ihrer Selbstbestimmung unterscheiden, was auch in ihren verschiedenen Auffassungen vom Begriff der Selbsthilfe erkennbar ist: Kallikles versteht unter dem Sich-selber-helfen-Können, kein Unrecht leiden zu müssen. Unrechtleiden wäre nur ein Zustand für einen Sklaven, »dem besser wäre zu sterben als zu leben, weil er beleidigt und beschimpft nicht imstande ist, sich selbst zu helfen (a't@ a¢t† bohje…n) noch einem anderen, der ihm wert ist« (483b2–5). Aus demselben Grund empfiehlt er Sokrates, von der Philosophie zu lassen, da sie ihn, selbst im Falle einer ungerechten Anklage vor Gericht, nicht befähige, sich selbst zu helfen und aus den größten Gefahren zu retten (486a ff.). Kallikles vertritt die Position der Selbsterhaltung, die Erhaltung von sich und dem Seinigen, weil er sich nur darum sorgt, »daß er die längstmögliche Zeit lebe« (£@ ple…ston crnon z»n, 511b8 f.; vgl. auch 512d f.). Sokrates fragt hingegen, ob der Mensch das Streben, nur zu leben, solange es irgend geht, nicht aufgeben und die eigene Lebenszeit dem Gott überlassen sollte, um nur darauf zu sehen, »auf welche Weise er während der Zeit, die er nun zu leben hat, am besten leben möge«. 155 Sein Einwand richtet sich gegen die als letztes Handlungsziel verstandene Selbsterhaltung, die sich als letztes Handlungsziel nicht eignet, weil das Leben an sich immer gefährdet ist. Die Begrenzung unserer Lebenszeit liegt zum geringsten Teil in unserer eigenen Macht. Deshalb fragt Sokrates nach dem guten Leben, und er bezieht die Frage auf sich, weil er das eigene Gutsein selbst in seiner eigenen Hand hat. Und aus diesem Grund ist für Sokrates »nichts Unrechtes jemals gegen Menschen und Götter zu reden und zu tun […], die wichtigste Hilfe, die jeder sich selbst zu leisten hat«. 156 tffln’ n trpon to‰ton ˚n mfflloi crnon binai £@ ˝rista bi†ðh (512e4 f.). mffite per½ ⁄njrðpou@ mffite per½ jeo±@ ˝dikon mhdþn mffite e§rhk@ mffite e§rgasmffno@. A˜th gÞr t»@ bohjeffla@ aut† […] kratfflsth e nai. (522c8–d3) Vgl. auch Cri. 48b5 f.: »sondern betrachte nun auch diesen [Satz], ob er uns noch fest steht oder nicht, daß man nämlich nicht das Leben am höchsten achten muß, sondern das gut Leben« (ka½ tnde aª skpei e§ ˛ti mffnei m…n o, ˆti o' t z»n per½ plefflstou poihtffon, ⁄llÞ t eª z»n), und Ap. 28b. 155 156
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Selbsterhaltung versus Gutsein der eigenen Seele – zwei prinzipiell verschiedene Antworten auf die Frage nach dem guten Leben, nach seiner Erfülltheit im Ganzen. Für Kallikles besteht gutes Leben im quantitativen Aspekt des Lebens, im bloßen Faktum seiner Existenz. Hingegen versteht Sokrates unter gut leben die ethisch und moralisch bestimmte Qualität des Lebens, das Wie des eigenen Daseins oder wer er selbst ist und sein will. Die existenzielle Dimension dieser bewusst gewählten und gewollten Lebensweise ist selbst Kallikles bewusst, wie sein Rat an Sokrates, nicht mehr zu philosophieren, deutlich werden lässt. Sokrates ist diesem Rat nicht gefolgt, sondern hat sich vor Gericht nach seinem Verständnis selbst geholfen, indem er seine Existenz, sein eigenes Selbstverständnis, so und nicht anders zu leben, behauptete und sich gegen das Exil und für die Annahme des Todesurteils entschied. 157 Die Apologie des Sokrates ist zugleich eine Apologie der philosophischen Lebensweise gegenüber den Vorbehalten, Vorurteilen bis hin zu Gefährdungen, die ihr aus der Umwelt erwachsen. Die Verteidigung der individuellen philosophisch lebenden Existenz kann bis in den Tod reichen, wie uns Sokrates durch die Annahme des Urteils existenziell beglaubigte. 158 Der »gestaltlosen« Lebensweise des Kallikles, in welcher versucht wird, die freigelassenen Begierden im Handeln einzuholen, und welche auf das bloße Faktum ihrer Existenz zielt, stellt Platon den Lebensvollzug der sokratischen Selbstbeherrschung gegenüber, die sich an Ordnung und Einheit und an der ethischen Qualität der eigenen Existenz orientiert. Beiden Antworten auf die Frage nach dem guten Leben liegt selbstbestimmtes Handeln zugrunde. Weil selbstbestimmtes Handeln und Leben immer intentional auf das gute Leben bezogen sind, kann Selbstbestimmung gelingen, wenn sie das Gute trifft, und misslingen, wenn sie daneben greift. Für diese steht exemplarisch Kallikles, für jene – Sokrates. 157 Vgl. zur Sokrates’ Verteidigung und Darstellung seiner eigenen Existenz das Kapitel 3.1 oben. 158 Nicht nur im Gorgias wird dieser Aspekt angesprochen, dass sich Sokrates nicht verteidigen könne, ebenso trifft im Theaitetos den Philosophen der Vorwurf von praktischer Lebensferne (174a ff.), und die Politeia kann insgesamt als Verteidigung der philosophischen Lebensweise gelesen werden, verbunden mit der Behauptung, dass allein diese Art und Weise zu leben ein gutes Leben in allen Hinsichten ermöglicht. Vgl. dazu das folgende Kapitel 5 und zum Problem der Verteidigung der philosophischen Lebensweise an sich H. Meier, Warum Politische Philosophie? 2000.
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Die sich im Treffen des Guten unterscheidenden Resultate – eine gelingende oder verfehlende Selbstbestimmung – ergeben sich wiederum hinsichtlich des Wissens des Guten: Ist dieses Wissen Voraussetzung dafür, das Gute zu erreichen, so ist die Unwissendheit oder Täuschung über die eigenen Ziele seines Handelns die Ursache, dass man das, was man eigentlich will, nicht erreicht. Es steht außer Frage, dass hierin wesentliche Unterschiede vorliegen. Sind aber mit den unterschiedlichen Ausgangspositionen und Ergebnissen selbstbestimmten Handelns bereits alle Differenzen ausgemacht? Noch ist ungeklärt, ob in beiden Fällen Selbstbestimmung gleichwertig vorliegt bzw. äquivalent verteilt ist? Oder ist Selbstbestimmung nicht vielmehr im Fall von Polos und Kallikles in einer bestimmten Art und Weise eingeschränkt? 159 Für die Klärung des Problems ist die im vorhergehenden Kapitel diskutierte Metapher der psychischen Gesundheit, die für die ⁄retffi der Seele benutzt wurde, hilfreich. Wie bereits dort erwähnt, ist diese Metapher in der Forschung mehrfach als Ausdruck für ein vernunftgeleitetes Leben verstanden worden. Sind hingegen das Wollen und Handeln der Person einer vernünftigen Überlegung nicht zugänglich, liegt eine Beeinträchtigung bzw. Einschränkung der Möglichkeiten des eigenen Wählens und Handelns vor: »Denn zu leben ohne das Bestreben und die Bereitschaft, Rechenschaft über sein Tun und Lassen abzulegen, bedeutet auch, Einschränkungen eigener Handlungsmöglichkeiten hinzunehmen. Wer auf das lgon didnai verzichtet, wer also auf Klärung, Begründung, Kritik der Begriffe, Meinungen, Einstellungen verzichtet, die sein Handeln bestimmen, der verzichtet auf die Möglichkeit, sich von Handlungsdeterminanten zu befreien, die etwa in undurchschauten individuellen und gesellschaftlichen Vorurteilen, in unbemerkten sozialen, religiösen, kulturellen Eingeschränktheiten, in unbefragtem Geltenlassen von Autoritäten verschiedener Art bestehen können. Im Verzicht auf die elenchtische Prüfung seiner Meinungen und Handlungen verschenkt der Mensch ein Stück möglicher Autonomie, er verschließt sich Möglichkeitsräume, die ihm, lebte er vernunftgeleitet, offenstünden; indem er die Freiheitschancen, die im lgon didnai liegen, ungenutzt läßt, engt er sich ein und ist weniger
159 Die Aufmerksamkeit auf diese Differenz verdanke ich einer kritischen Nachfrage von Christof Rapp.
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Herr über sich und die Welt als möglich.« 160 Davon ausgehend lässt sich jetzt in Bezug auf den Begriff der Selbstbestimmung eine weitere Differenz angeben: Im Fall von Sokrates haben wir es mit einer Selbstbestimmung ohne jede Einschränkung zu tun, weil er aufgrund seiner vernünftigen Lebensweise über sich und sein Leben Rechenschaft geben kann und infolgedessen ihm alle Handlungsmöglichkeiten zur Wahl stehen. Dagegen liegt im Fall von Polos und Kallikles eine Selbstbestimmung in einer eingeschränkten oder defizitären Form vor, weil ihnen nicht mehr alle Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, sondern sich ein Teil, und zwar die für sie selbst besten Handlungsoptionen, außerhalb ihres Wollens und Handelns befindet, sozusagen jenseits des Horizontes ihrer Selbstbestimmung. 161 Begrifflich lässt sich der Unterschied zwischen den beiden verschiedenen Formen der Selbstbestimmung noch präzisieren: Im Vergleich zur Selbstbestimmung in ihrer defizitären Form kann die Selbstbestimmung, der alle Handlungsoptionen zur Disposition stehen, als Autonomie verstanden werden: »Dass Rechenschaft zu geben, in letzter Instanz bedeutet, die eigene Lebensweise zu prüfen, können wir uns mit dem Begriff der Selbstbestimmung verständlich machen. Selbstbestimmt zu leben erfordert die Fähigkeit, sich über die Meinungen Klarheit zu verschaffen, welche die Lebensführung, mit anderen Worten: das Wollen insgesamt betreffen. […] Ein vermeintliches Wissen [in Fragen des guten Lebens] gefährdet insofern die Selbstbestimmung. Sich davon – in einem nicht bloß metaphorischen Sinne – zu befreien, ist eine Form von Autonomie.« 162 Der Unterschied kann kein rein formaler oder bloß quantitativer sein, denn die Selbstbestimmung eines Sokrates ist im Vergleich zu anderen nicht nur dadurch ausgezeichnet, dass ihm alle Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, sondern weil er sein Wollen und Handeln vernünftig rechtfertigen kann, ist sie zugleich von anderer Qualität: autonom zu leben. Abschließend ist zu klären, inwiefern die derart verstandene Selbstbestimmung mit dem heute üblichen Verständnis von Autonomie übereinstimmt, kann doch Selbstbestimmung als naheliegende P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 516 f. Wie wir im Kapitel 5.3 noch sehen werden, haben auch der Charakter und die mit ihm verbundene Lebensorientierung einen Einfluss auf die Auswahl möglicher Handlungsoptionen. 162 J. Hardy, Was wissen Sokrates und seine Gesprächspartner?, 2004, 261 f. 160 161
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Übersetzung von Autonomie aufgefasst werden. Wenn man unter Autonomie nicht wie Kant die Selbstgesetzgebung des Willens bzw. der praktischen Vernunft versteht, sondern einerseits die Unabhängigkeit von Einschränkungen und andererseits die Möglichkeit, dass der Einzelne frei entscheiden bzw. seinem Handeln einen mit Gründen gewählten Zweck geben kann, dann lässt sich auch bei Platon sinnvoll von Autonomie sprechen, und zwar trotz bestimmter Einschränkungen: der nicht hintergehbaren Intentionalität auf das Gute, der Vorgegebenheit der Strukturen des Seins als Verbindlichkeiten, denen gelingendes Handeln entsprechen muss, und, wie noch zu zeigen sein wird, der Bedingtheit der Wahl des Handlungszieles auch durch den eigenen Charakter bzw. die eigene Lebensweise. Erinnern wir uns an den Beginn dieses Kapitels: Kallikles stand in einer zweifachen Abhängigkeit, derjenigen von den Meinungen der anderen und derjenigen von seinem eigenen Begehren. Im Unterschied dazu war die sokratische Lebensweise der Selbstbeherrschung bzw. das durch Vernunft geleitete Leben durch eine doppelte Unabhängigkeit charakterisiert: von den Meinungen der anderen, weil allein die eigene Einsicht und die Übereinstimmung mit sich selbst handlungsrelevant waren, und gegenüber der eigenen Bedürftigkeit, insofern Sokrates zu dieser in einem bewertend und zugleich reflektierten Selbstverhältnis stand. Damit ist das eine Kriterium für Autonomie gegeben: die Unabhängigkeit von Einschränkungen sowohl äußerer als auch innerer Art. Auch das zweite Kriterium wird durch das vernunftgeleitete Leben realisiert: die Möglichkeit der freien Entscheidung bzw. der freien Wahl eines Handlungszieles, indem man über sich selbst Rechenschaft gibt und dadurch alle Handlungsmöglichkeiten zur Disposition stehen, indem man in der Situation, zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen zu müssen, sich mit eigenen Gründen für ein Handlungsziel und gegen ein anderes entscheidet. Und das gilt trotz der genannten Einschränkungen: Wer würde wirklich ernsthaft das für ihn Gute, und zwar in dem umfassenden ethischen Sinn, nicht wollen? Trotz aller Vorgegebenheit der Strukturen des Seins – dass etwas zu meinem Handlungsziel wird, das ist abhängig von meiner Wahl und Entscheidung, die ich in begründeter Weise treffe. Und wie wir noch im Zusammenhang der Politeia sehen werden, ist allein der gerechte Charakter bzw. die philosophische Lebensweise die Voraussetzung und Realisierung dieser derart verstandenen Autonomie.
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Die Mehrheit der Menschen hat immer an einen freien Willen, ein »liberum arbitrium indifferentiae« geglaubt. Die Ansicht der Wenigen war aber die der Auserwählten und wog schwer: sie verneinte den freien Willen und erklärte sich für den »Determinismus«. (Emanuel Lasker, Die Philosophie des Unvollendbar)
Im Fall der Politeia ist es nötig, an den Anfang eine methodische Vorbemerkung zu stellen: Dieser Dialog, der seit der Antike als Platons zentrale staatsphilosophische Schrift und seit Schleiermacher als ethisches Hauptwerk seiner Philosophie gilt, ist im Vergleich zu den anderen Dialogen derjenige, der wohl am häufigsten Anlass zu kontroversen Interpretationen gab. Ich erinnere an Kants prinzipiellen Einwand gegen die in der Politeia vorgetragene Personalunion von Philosoph und Politiker: »Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.« 1 Nach ihm formulierte Hegel sein bereits in der Einleitung genanntes Diktum, Platon habe in der Politeia nur »die Natur der griechischen Sittlichkeit« aufgefasst, hingegen das »Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen« ausgeschlossen und sogar absichtlich verletzt. 2 Noch einmal soll auch Karl R. Popper genannt sein, der in Platon den »Urvater« des modernen Totalitarismus erblickte. 3 Im Gegensatz dazu sieht Robert William Hall in der I. Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 369. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, WA 7, Vorrede, 24 und § 185, 342. 3 Vgl. dazu K. R. Popper, Die offene Gesellschaft, Bd. 1: Der Zauber Platons, 1980. Zur Widerlegung der Platon-Interpretation Poppers im Allgemeinen und seiner These von 1 2
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Politeia und anderen platonischen Dialogen eine »theory of the individual« entwickelt, die neben dem Konzept des Wertes des Individuums ebenso das der Freiheit und der Gleichheit beinhalte und Platon deshalb als ein Vorläufer des demokratischen Individualismus gelten könne. 4 Die unterschiedlichen Interpretationen haben zweifellos verschiedene Gründe: Der Dialog enthält neben den Ausführungen zur personalen und politischen Gerechtigkeit nahezu alle Probleme und Themen platonischer Philosophie, wie Ontologie, Erkenntnistheorie, Metaphysik, um nur einige zu nennen. Aus guten Gründen kann man von einer »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« sprechen, die unter dem Titel des »Staates« bzw. der »Gerechtigkeit« aufgearbeitet werden. 5 Deshalb sollte man bei der Interpretation der Politeia von einem alles umfassenden Zusammenhang ausgehen und nicht einzelne Textpassagen isoliert betrachten, weil sie dann ihre ursprüngliche Bedeutung, die sie in diesem funktionalen Kontext erhalten haben, verlieren und zu Auslegungen führen können, welcher der platonischen Intention nicht gerecht werden. Auch die zweite Ursache gilt an sich für alle Dialoge: Zu falschen Schlussfolgerungen gelangt man auch, wenn man die Dialogführung Platons nicht beachtet und alles wortwörtlich nimmt, z. B. die von ihm angeblich intendierte Verwirklichung der idealen Polis. 6 Die dritte Ursache, die ich für die unterschiedlichen Deutungen der Politeia nennen möchte, bezieht sich nur auf diesen Dialog, und zwar als was dieser Text gelesen wird: als ein staatsphilosophischer Text, dem die Darstellung der personalen Gerechtigkeit untergeordnet wird, oder als eine Schrift, in dessen Mittelpunkt die Analogie zwischen Individuum und Polis steht, oder als ein Dialog über die individualethische Gerechtigkeit, deren Klärung die staatsphilosophischen Ausführungen dienen. 7 Platons Historizismus im Besonderen vgl. D. Frede, Platon, Popper und der Historizismus, 1996. 4 Vgl. dazu R. W. Hall, Plato and the Individual, 1963, 3: »I contend that these three concepts: the individual and his value, freedom, and equality, are present in Plato’s theory of the individual.« Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen von H. Kuhn, Rezension von Robert William Hall, Plato and the Individual, 1967. 5 O. Höffe, Einführung in Platons Politeia, 1997, 3 f. 6 Vgl. dazu von H.-G. Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), GW VII, 166 f.; Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen (1983), GW VII, 281 und 288 f. 7 Vgl. dazu O. Höffe, Einführung in Platons Politeia, 1997, 20 ff. Höffe diskutiert insbesondere die Schwierigkeiten, welche die individualethische Lektüre mit sich bringt,
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Ohne die Bezüge zwischen Individuum und Polis zu vernachlässigen, interpretiere ich die Politeia in dieser letztgenannten Hinsicht. Diese Lesart lässt sich gut mit dem Stichwort des »sokratischen Arguments« bezeichnen. 8 Dahinter steht die Annahme, dass es eine zentrale Frage in der Politeia gibt, und zwar die Frage, wie zu leben gut sei. Sokrates vertritt die Auffassung, dass ein gerechtes Leben einem ungerechten vorzuziehen sei, und versucht in einem weitausgreifenden Argumentationsgang, seine Dialogpartner davon zu überzeugen. Dieser Interpretationsansatz bezieht sich nicht nur auf die Textpassagen, in denen mehr oder weniger offensichtlich die Frage nach dem guten Leben erörtert wird. Auch die Themen, die zunächst in keinem näheren Zusammenhang mit der leitenden Frage stehen, werden auf das sokratische Argument bezogen, und das bedeutet: Es wird angenommen, dass alle Ausführungen in der Politeia, auch diejenigen über die sogenannte Ideenlehre und insbesondere über die Idee des Guten, in einem funktionalen Zusammenhang mit der für den Dialog zentralen Frage nach dem guten Leben stehen und als Teil des Arguments von Sokrates, die Überlegenheit des gerechten Lebens nachzuweisen, zu verstehen sind. Damit behaupte ich nicht, dass es einfach wäre, die Frage nach dem guten menschlichen Leben und ihre Erweiterung zur Frage nach der Idee des Guten in einem universal ontologischen Sinn in einen Zusammenhang zu stellen, sondern nur, dass es möglich ist, diesen Zusammenhang aufzuzeigen. 9 Im Folgenden lese ich die Politeia insgesamt als eine Verteidigung der philosophischen Lebensweise. Im Zentrum des Dialogs steht der Versuch, die gerechte Lebensweise – der ungerechten gegenüber – als die gute und damit erstrebenswerte Lebensweise zu begründen. Es ist zu bedenken, dass mit Sokrates und in Fortführung durch Platon die philosophische Existenz als eine neue Lebensform begonnen hat, die sich dadurch auszeichnet, dass als einzige Instanz menschlichen Urteilens und Handelns die eigene begründete Einsicht anerkannt wird. 10 und schlägt für ein angemessenes Verständnis die Lektüre aller drei oben genannten Hinsichten vor. 8 Vgl. dazu N. Blößner, Dialogform und Argument, 1997, Kapitel I: Das sokratische Argument, 17 ff. 9 Vgl. dazu H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), GW VII, 179 f. 10 Nietzsches Diagnose, in Sokrates den ersten modernen Menschen, »den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen« (Die Geburt der TragöA
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Die Absicht besteht nicht nur darin, sie als eine neue zu etablieren und sie im Vergleich mit anderen Lebensweisen als gleichwertig und berechtigt auszuweisen, sondern die leitende Intention zielt darauf, dass der Gerechte bzw. der Philosoph zugleich der Glücklichste sei, oder mit anderen Worten: Die philosophische Lebensweise ist allen anderen überlegen, sodass es auf die Frage, wie zu leben gut sei, nur eine Antwort geben könne: philosophisch. Dessen muss man sich bewusst sein, um sowohl Anspruch und Provokation dieser Behauptung als auch Angriff und Verteidigung dieser neuen Lebensform verstehen zu können. 11 Für diesen Interpretationsansatz spricht gleichfalls der im Dialog präsente existenzielle Ernst, den die Diskussion über das gute Leben allein durch die Anwesenheit von Sokrates, dessen Schicksal dadurch gegenwärtig ist, erhält. Aber Angriff und Verteidigung der philosophischen Existenz sind in den Dialogen auch direkt thematisch, ich erinnere nur an die wortwörtlich zu nehmende Apologie des Sokrates oder an den »Ratschlag« eines Kallikles im Gorgias, wenn Sokrates weiterhin nicht von der Philosophie lassen kann, wird er sich nicht zu verteidigen wissen (485e ff.). Und in der Politeia selbst wird am Ende des Höhlengleichnisses derjenige, der wieder in die Höhle zurückkehrt, nicht nur von den in der Höhle Verbliebenen verlacht, weil sich nach ihrer Meinung der Weg aus der Höhle nicht lohne, sondern ihm wird als demjenigen, der andere aus der Höhle führen will, unmissverständlich der Tod angedroht (517a). Aber auch den Gesprächspartnern von Sokrates ist es mit der Frage nach dem guten Leben ernst. Wie wir noch sehen werden, stellen Glaukon und Adeimantos diese Frage mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit und Radikalität. Und selbst Thrasymachos kann unterstellt werden, dass er seine eigene in der Praxis gelebte Lebensweise in der Diskussion vertritt. Deshalb ist davon auszugehen, dass es allen Beteiligten ernsthaft um handlungsrelevante Einsichten zu tun ist, geht es doch nicht um irgendeine Frage: »Denn es fragt sich hier um das Wichtigste, nämlich gut leben oder schlecht.« 12 die 15, KSA 1, 100), trifft sehr genau das Neue, was mit Sokrates in die Welt kommt, wenngleich Nietzsche selbst Sokrates als den Typus des »theoretischen Menschens« überwinden will. Vgl. dazu V. Gerhardt, Die Moderne beginnt mit Sokrates, 1998. 11 Zu den vier Charakteristika der durch die sokratische Wende entstandenen »Politischen Philosophie« gehört auch die Verteidigung der philosophischen Lebensweise. Vgl. dazu H. Meier, Warum Politische Philosophie?, 2000. 12 per½ g€r toi to‰ megfflstou skffvi@, ⁄gajo‰ te bfflou ka½ kako‰ (578c7 f.).
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5.1 Platons individualitätstheoretischer Ansatz in der Politeia Die Politeia ist für das Thema Selbstbestimmung und Individualität bei Platon einer der wichtigsten Dialoge. Nicht nur werden die bisherigen Einsichten weiterhin vorausgesetzt und bestimmte Ansätze, wie z. B. die in sich differenzierte Seele und deren Ordnungsstruktur im Gorgias, jetzt umfassend als eine Theorie der Gerechtigkeit der individuellen Seele ausgearbeitet, sondern in der Politeia geht Platon zu einer grundlegenden Behandlung dieser Probleme über, insofern er methodologisch vom Individuum ausgeht. Dazu gehört auch die bereits mehrfach erwähnte Rückführung des Weltverhältnisses auf das Selbstverhältnis des handelnden Individuums, ich erinnere nur an die Apologie, in welcher Sokrates die Sorge um sich selbst der Sorge um die Polis vorordnet, oder an den Gorgias, in dem Sokrates seinen Gesprächspartner Kallikles fragt, ob nicht für die Herrschaft über andere die eigene Selbstbeherrschung eine notwendige Voraussetzung sei. Weil diese reflexive Wendung auf sich selbst in der Politeia mehrfach auftritt und systematisch von Bedeutung ist, werde ich darauf an den entsprechenden Stellen meiner Interpretation ausführlicher eingehen und jetzt nur anhand einiger wesentlicher Aspekte aus dem Dialog Platons individualitätstheoretischen Ansatz skizzieren. Der Beginn der Politeia ist nicht so unverfänglich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Berichtet wird von einem Gespräch im Hause von Kephalos, das angeblich in nur einer Nacht geführt worden sei. Bereits mit dem ersten Gespräch des Dialogs wählt Platon den Einstieg methodologisch beim Individuum. Der betagte Kephalos, der Hausherr, führt das zunächst beiläufige Gespräch über das Alter und den aus seiner Sicht angemessenen Umgang mit dessen Vor- und Nachteilen, und das bedeutet: über seine individuelle Lebenssituation, auf das Problem nach der für ihn richtigen Lebensführung. Im Dialog gibt er sich selbst und seinen Gesprächspartnern darüber Auskunft, nach welchen Maßstäben er sein Leben gelebt hat. Als Vertreter der aristokratischen Ethik galten ihm die traditionellen und für ihn nach wie vor selbstverständlich geltenden Werte als moralische Orientierung: als vermögender Mann mit gutem Charakter keinen anderen übervorteilt oder hintergangen zu haben, keinem Gott irgend Opfergaben oder einem Menschen Geld schuldig geblieben zu sein. Der weitere Gesprächsverlauf zeigt, dass die Lebensauffassung von der individuellen Verfasstheit und Einstellung des Einzelnen abhängt: Die Werte der Väter, die KeA
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phalos noch vertritt, sind für die jüngere Generation nicht mehr überzeugend. Als Sokrates die Wendung von Kephalos – »keinem Menschen Geld schuldig zu bleiben« – aufgreift und als eine Frage der Gerechtigkeit verstanden wissen will, und zwar als das Wiedergeben dessen, was man von einem anderen empfangen hat, zieht sich Kephalos aus der Runde zurück. Dialogtechnisch wird dadurch einerseits gezeigt, dass Kephalos einem sokratischen ˛legco@ nicht gewachsen wäre, und andererseits, dass er in seinem jetzigen Alter für die Frage nach der Gerechtigkeit kein geeigneter Gesprächspartner mehr sein kann. Erinnern wir uns an den Alkibiades I: Dort hatte der Zeitpunkt für Beginn und Dauer der Selbsterkenntnis eine nicht zu übersehende Bedeutung, 13 jetzt spielt das Lebensalter zu seinem Ende hin eine entscheidende Rolle. Weder darf man zu jung noch zu alt sein, in beiden Fällen ist man für die sokratische Frage nach dem guten Leben nicht empfänglich: durch das »noch nicht« des Kindes und das »nicht mehr« des Alters. 14 Kephalos kann auf sein Leben zurückblicken, er hat sein Leben gelebt, die Frage nach dem guten Leben ist ihm gleichgültig, weil sein Leben bereits eine Antwort, besser: seine Antwort auf diese Frage ist. Ob diese Antwort befriedigend ist, das ist eine andere Frage. Aber bereits an dieser Stelle ist deutlich, dass mit der Frage nach dem guten Leben, die bislang als Frage nach der Gerechtigkeit gestellt wurde, eine individuelle Problemdisposition vorliegt, welche die Lebenssituation des Individuums mit umfasst. Diesem methodologischen Einstieg beim Individuum entspricht am Ende des Dialogs die Wahl der individuellen Lebensweisen im Schlussmythos, mit dem sich thematisch der Kreis der Politeia wieder schließt. Wie bereits erwähnt, ergibt sich für die jüngeren Teilnehmer des Gespräches aus der individuell erfahrenen Frage nach der richtigen Lebensführung das Problem der Gerechtigkeit. Beides – Gerechtigkeit und gutes Leben – steht für Platons Sokrates in einem elementaren Zusammenhang, der bereits im Gespräch mit Kephalos latent gegeben war. Als der Sophist Thrasymachos das Kriterium des Nutzens und des Vorteils für den Handelnden in die Diskussion einbringt und damit die These verbindet, dass die Ungerechtigkeit besser für den Handelnden sei, wird dieser Zusammenhang das eigentliche Thema des weiteren Dialogs: Das Problem ist keine Kleinigkeit, sondern »die Einrichtung des ganzen 13 14
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Vgl. das Kapitel 3.2 oben. Vgl. dazu H. Kuhn, Sokrates, 1934, 20 f. ALBER THESEN
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Betragens, wie es jeder von uns einrichten muß, um das zweckmäßigste Leben zu leben«, 15 d. h. das vorteilhafteste, also das beste Leben, oder mit anderen Worten: Wer lebt besser und glückseliger, der Gerechte oder der Ungerechte? Und dabei ist die Frage nach dem guten Leben nicht irgendeine, im Gegenteil: »Denn es ist nicht von etwas Gemeinem die Rede, sondern davon, auf welche Weise man leben soll.« 16 Die unpersönliche Form, »wie man leben soll«, und ebenso wenig später: »Wie nun aber leben?« (Tffl d’ aª t z»n; 353d9), könnte Grund für einen Einwand gegen meine These von der Individualität bei Platon sein: Mit Verweis auf den Originaltext könne man die Stellen nicht in der ersten Person übersetzen, also gerade nicht mit: Wie soll ich leben? Zunächst unabhängig von Platon lässt sich diese Frage sinnvoll nur als Frage eines Individuums verstehen. 17 Wer die Frage wirklich ernsthaft stellt, artikuliert damit bereits ein Problembewusstsein hinsichtlich seines eigenen Lebens. Ob dabei bisherige Selbstverständlichkeiten nur infrage gestellt werden oder sogar einer sich bewussten Orientierungslosigkeit weichen müssen, macht nur einen graduellen Unterschied aus. Zugleich zeigt sich in dieser Frage das Bewusstsein, dass ein Leben gelingen kann oder auch nicht, es gibt ein Wissen um das mögliche Scheitern des eigenen Lebens. Und letztlich werden mit dieser Frage sowohl der Anspruch, das Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, als auch die Zuständigkeit für die eigene Lebensführung ausgedrückt. Das eigene Leben kann man nur selbst führen, dafür gibt es keinen Stellvertreter. Die Frage nach dem guten Leben macht also nur Sinn, wenn sie unter der Voraussetzung der Ernsthaftigkeit in Bezug auf den eigenen Lebenszusammenhang von einem Individuum gestellt wird. Diese zunächst unabhängig von Platon skizzierten Aspekte der Frage nach dem guten Leben finden sich auch in seinen Dialogen, wie 15
smikrn o—ei ¥piceire…n pr”gma diorfflzesjai, ⁄ll’ o' bfflou diagwgffin, –! n diagmeno@ kasto@ mn lusitelest€thn zw¼n z†ðh; (344d8–e2) 16 o' gÞr per½ to‰ ¥pitucnto@ ¡ lgo@, ⁄llÞ per½ to‰ ˆntina trpon cr¼ z»n (352d6 f.). Die Untersuchung betrifft die größte aller Fragen. Vgl. 353d9, 505d ff., 578c7 f. und die Angaben zu anderen Dialogen in Anm. 17 im Kapitel 3.1 oben. 17 Für Ursula Wolf kann das Subjekt dieser Frage nur ein Individuum sein: »Schon die Tatsache, daß der Träger des Lebens und Entscheidens das Individuum ist, spricht dafür, daß die Frage eine aus der Perspektive der ersten Person Singular ist.« (Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 73) Zur systematischen Analyse der Frage vgl. Kapitel 3: Bedeutungsaspekte der Frage nach dem guten Leben, ebd., 67 ff. A
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in der Forschungsliteratur von verschiedenen Autoren gezeigt worden ist: So hat Volker Gerhardt mehrfach für eine persönliche Übersetzung der Frage plädiert: »Wie soll ich leben?« 18 Ebenso hat Ursula Wolf darauf aufmerksam gemacht, dass zwar die Frage, wie man leben solle, in dieser unpersönlichen Form eine allgemeine Frage ist, allerdings würde Sokrates die Frage zunächst so einführen, dass sie von der Person eine Prüfung ihres je eigenen Lebens verlangt. 19 Aus der ethischen Frage nach dem guten Leben, die aus der Perspektive der ersten Person Singular gestellt werde, gehe zwar bei Platon strukturell die Philosophie als Reflexion auf die Struktur unseres Selbst- und Weltverstehens hervor, weil eine ausreichende Antwort auf die ethische Frage streng genommen das Gesamt unserer Bezüge zu thematisieren habe. In der Allgemeinheit philosophischer Reflexion bleibe allerdings die Verbindung zur Ausgangsfrage immer relevant, man könne sogar sagen, dass beide Ebenen, sowohl die ethische Überlegung des Individuums als auch die Reflexion der nach den allgemeinen Strukturen fragenden Philosophie, zusammenfielen. Im Unterschied dazu kann nach Norbert Blößner die Frage: »Wie soll ich leben?«, nur über eine Beantwortung der Frage in der allgemeinen Fassung: »Wie soll man leben?«, beantwortet werden, weil es für Sokrates und selbst für Thrasymachos jeweils nur eine richtige Konzeption des Glücks gebe. 20 Die andere Möglichkeit, dass jeder ad libitum leben könne, wie er will, um glücklich zu sein, habe Platon am Beispiel der Demokratie, wie man sie zu seiner Zeit verstand, bewusst verworfen. Dieser Befund widerspricht der bisherigen Option für die individuell zu verstehende Frage nicht, wie die weiteren Ausführungen von Blößner selbst zeigen: »Allerdings darf die von Sokrates favorisierte Lösung, daß Gerechtigkeit für jedermann Bedingung des Glücks ist, nicht so mißverstanden werden, als behaupte Sokrates damit, daß jeder Mensch sein Glück in denselben Dingen fin-
Vgl. dazu von V. Gerhardt: Das individuelle Gesetz, 1997, 12 ff.; Der groß geschriebene Mensch, 1997, 50, Anm. 25; Selbstbestimmung, 1999, 115 ff. Auch Marcel van Ackeren argumentiert mit Verweis auf die innere Motivation für das individualistische Verstehen dieser Frage (Das Wissen vom Guten, 2003, 130). 19 Vgl. dazu U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 16 f., 24, 63 f. und 99 f. 20 Vgl. hier und im Folgenden: N. Blößner, Dialogform und Argument, 1997, 22 f. (mit Bezug auf P. Stemmer, Der Grundriß der platonischen Ethik, 1988, 529 f.), zit. 23. Zu Platons diesbezüglicher Kritik an der Demokratie vgl. 555b–561e. 18
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den müsse; die besondere Art der sokratischen Glückskonzeption als Struktur der Seele erlaubt eine differenziertere Lösung.« Mit Platon lässt sich noch auf eine andere Art und Weise für die persönliche Übersetzung der Frage argumentieren. Erinnern wir uns an das bereits besprochene anthropologische Konzept der Sorge um sich selbst und unsere ausnahmslose Intentionalität auf das Gute, die aus der Bedürftigkeit und Endlichkeit unserer Existenz resultieren: In allem, was wir tun, sind wir immer auch um uns selbst besorgt, weil wir etwas begehren, dessen wir selbst ermangeln, ein für uns Gutes, und zwar sogar unabhängig davon, ob uns dies bewusst ist oder auch nicht. 21 Dass dieses Konzept auch der Politeia zugrunde liegt, zeigt nicht nur die Auszeichnung der Frage, wie zu leben gut sei, als der wichtigsten Frage überhaupt, ebenso die Änderung der Perspektive von der Gerechtigkeit zum Gerechten selbst, also in einem allgemeinen Sinn: die Zurückführung vom Weltverhältnis auf das Selbstverhältnis desjenigen, der gerecht sein soll, sondern auch an prominenter Stelle, und zwar vor den drei Gleichnissen im VI. Buch, die Feststellung, dass jede einzelne Seele das Gute, in der Bedeutung des Vorteilhaften für sich selbst, wirklich wissen will: »Und ist nicht auch das klar, daß von Gerechtem und Schönem viele nur, was so scheint, wenn es auch nicht ist, tun und haben wollen und dafür angesehen sein. Gutes aber genügt niemandem nur scheinbares zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist, und den Schein verachtet hierbei schon jeder. […] Was also jede Seele anstrebt und um dessentwillen alles tut, ahnend, es gäbe so etwas, aber doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen Überzeugung gelangend, wie auch bei anderen Dingen, daher aber auch anderes mit verfehlt, was irgend nutz wäre«. 22 Die Frage, wie zu leben gut sei, als die Frage eines Individuums zu verstehen, wird auch durch den Dialog selbst gestützt: Spätestens mit dem Eingreifen des Sophisten Thrasymachos, des dritten Gesprächspartners von Sokrates, wird als Kriterium zur Beurteilung von HandVgl. dazu das Kapitel 1.2 oben. tde o' yanern, £@ dfflkaia mþn ka½ kalÞ pollo½ n lointo tÞ doko‰nta, kn m¼ –Æ, ˆmw@ ta‰ta pr€ttein ka½ kekt»sjai ka½ doke…n, ⁄gajÞ dþ o'den½ ˛ti ⁄rke… tÞ doko‰nta kt”sjai, ⁄llÞ tÞ nta zhto‰sin, t¼n dþ dxan ¥nta‰ja ˇdh p”@ ⁄tim€zei; […] 5O d¼ diðkei mþn ¿pasa vuc¼ ka½ toÐtou neka p€nta pr€ttei, ⁄pomanteuomffnh ti e nai, ⁄poro‰sa dþ ka½ o'k ˛cousa labe…n kan@ tffl pot’ ¥st½n o'dþ pfflstei crffisasjai monfflm†w o´a ka½ per½ tÞ ˝lla, diÞ to‰to dþ ⁄potugc€nei ka½ tn ˝llwn e— ti yelo@ Æn (505d7–e5).
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lungen, inwiefern sie empfehlenswert sind oder nicht, das dem eigenen guten Leben Zuträgliche in die Diskussion aufgenommen. Darin besteht zwischen den Gesprächspartnern auch keine Meinungsverschiedenheit: Empfehlenswert ist nur das, was letzten Endes dem eigenen guten Leben förderlich ist. Was allerdings in diesem Sinn empfehlenswert ist, das ist das eigentliche Problem, oder anders gesagt: Ob Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit als ein Prinzip der Lebensgestaltung zu empfehlen sei, das hängt davon ab, ob die eine oder die andere dem guten Leben des Einzelnen förderlich ist oder nicht. Thrasymachos vertritt die Position, »das dem Stärkeren Zuträgliche ist das Gerechte, das Ungerechte aber ist das jedem selbst Vorteilhafte und Zuträgliche«, weil »die Gerechtigkeit und das Gerechte eigentlich ein fremdes Gut« und ein »eigener Schaden« sind. 23 Gerechtes Handeln sei demnach immer mit einem eigenen Nachteil und für den anderen mit einem Vorteil verbunden, hingegen zahle sich Ungerechtigkeit immer für einen selbst aus. Deshalb, und das bedeutet: weil die Ungerechtigkeit zu einem für das eigene Glück oder das eigene gute Leben Vorteilhaften führt, sei der Ungerechtigkeit der Vorzug vor der Gerechtigkeit zu geben. Im Unterschied zu Kallikles im Gorgias, der eine Umwertung von gerechten und ungerechten Handlungen vornahm, indem er die Anwendungsfelder der Wörter austauschte, aber nach wie vor gerecht als empfehlenswert verstand, nur dass er jetzt mit diesem Wertwort ehemals ungerechte Handlungen empfahl, versteht Thrasymachos das Gerechte und Ungerechte nach konventionellem Sprachgebrauch, verbindet allerdings damit eine umgekehrte Empfehlung: Nicht mehr die Gerechtigkeit wird positiv bewertet und empfohlen, sondern die Ungerechtigkeit, weil sie, um es noch einmal zu sagen, im Gegensatz zu gerechten Handlungen dem guten Leben des Handelnden zuträglich sei. 24 Darin liegt die eigentliche Herausforderung für Platon: den Zusammenhang zwischen gerechtem Handeln und gutem Leben wieder herzustellen. Und das wird nur möglich sein, wenn eine überzeugende Antwort auf die Frage gefunden wird, weshalb der Einzelne gerecht handeln soll, wenn also begründet gezeigt werden kann, dass die Ge-
23 t mþn to‰ krefflttono@ xumyffron t dfflkaion tugc€nei n, t d’ ˝dikon aut† lusitelo‰n te ka½ xumyffron (344c7–9), t dfflkaion ⁄lltrion ⁄gajn t† nti […] o§keffla […] bl€bh (343c2–5). Vgl. 338c2 f. und 367c. 24 Zur Position von Thrasymachos vgl. P. Stemmer, Platons Dialektik, 1992, 16 ff.; W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 30 ff.
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rechtigkeit für denjenigen, der sie hat, also für den Gerechten selbst, ein Vorteil oder ein Gut ist und insofern zu seinem guten Leben beiträgt. 25 An sich sind diese Zusammenhänge bereits aus anderen Dialogen bekannt. Neu sind in der Politeia hingegen die Radikalisierung der Gegenposition und die dadurch bewirkte Verstärkung des Anspruchs, Gerechtigkeit als dem eigenen guten Leben förderlich zu begründen, was – wie ich zeigen möchte – zu einer Fokussierung auf den Handelnden selbst führt. Sokrates versucht in mehreren Argumentationsschritten Thrasymachos zu widerlegen und vom Gegenteil zu überzeugen. Beides gelingt nicht, Thrasymachos verweigert die Fortführung der Diskussion.26 Auch die Brüder Glaukon und Adeimantos sind von der bisherigen Argumentation Sokrates’ nicht überzeugt: »O Sokrates, willst du nur scheinen uns überführt zu haben oder uns wirklich überführen, daß es auf alle Weise besser ist, gerecht zu sein als ungerecht?« (357a5–b2) Deshalb nehmen sie die Rede des Thrasymachos wieder auf, um durch eine Stärkung seiner Position, die auch die eigentliche Herausforderung in ihrem ganzen Umfang deutlich werden lässt, wiederum Sokrates zu einer besseren Begründung der Gerechtigkeit aufzufordern, woran ihnen eigentlich gelegen ist: »Ich wünsche sie [die Gerechtigkeit] nämlich an und für sich selbst gepriesen zu hören; und am ersten denke ich noch dies von dir zu vernehmen. Darum werde ich mit dem größten Eifer in meiner Rede das Leben des Ungerechten loben; und dadurch werde ich dir denn zugleich gezeigt haben, wie ich wiederum wünsche, dich die Ungerechtigkeit tadeln und die Gerechtigkeit loben zu hören.« (358d2–6) Glaukon und Adeimantos machen sich also nur theoretisch zu Advokaten des Thrasymachos, weil sie praktisch an einer überzeugenden Begründung der Gerechtigkeit interessiert sind. Ihnen liegt nicht an einem strategischen Streitgespräch, sondern an einer gemeinsamen sachbezogenen Diskussion, in der sich die Gesprächspartner unvoreingenommen begegnen, weil alle Beteiligten wirklich die Wahrheit über das infrage gestellte Problem wissen wolZu dieser Herausforderung vgl. P. Stemmer, Der Grundriß der platonischen Ethik, 1988, 535 ff.; W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 35; M. van Ackeren, Das Wissen vom Guten, 2003, 124 ff. 26 Dass sich Thrasymachos geschlagen gibt, sei nicht der Qualität der sokratischen Argumente geschuldet, sondern dies sei platonische Inszenierung und Ausdruck des Unterschiedes zwischen Sophist und Philosoph (W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 37 und 50 ff.). 25
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len. In diesem Fall haben sie sogar ein existenzielles Interesse zu erfahren, ob es wirklich besser ist, immer und überall gerecht zu sein. Deshalb bleibt trotz der Einnahme der Position des Sophisten ihre Authentizität gewahrt. Zunächst führt Glaukon aus, dass die meisten die Gerechtigkeit weder zu der Art des Guten zählen, das um seiner selbst willen angestrebt wird, wie das Wohlbefinden, noch zu derjenigen Art, das als ein Gut an sich und wegen seiner Folgen gewollt wird, wie z. B. Vernünftigsein, Sehen und Gesundheit, sondern »sie rechnen sie zu der mühseligen Art, wonach man sich nur des Lohns und des Ruhms wegen um der Meinung willen bemühen muß, an und für sich aber es fliehen, weil es beschwerlich ist«. 27 Diese Auffassung von Gerechtigkeit als einem notwendigen Übel, das allein wegen seiner Folgen – der positiven von sozialer Anerkennung oder der bei Nichteinhaltung angedrohten negativen von Bestrafung und Sanktion – empfehlenswert sei, ist nicht nur die Lebenshaltung von Thrasymachos und vielleicht noch einiger anderer Sophisten, sondern als allgemeine Überzeugung wird sie, wie Glaukon sagt, von den meisten geteilt. 28 Außerdem ist anzunehmen, dass dieses Verständnis auch für Glaukon und Adeimantos einer gewissen Attraktivität nicht entbehrt, wird doch auch im Dialog die Verführung der jungen Männer durch die Rede von der Nützlichkeit des Unrechtsein bei Wahrung des Scheines der Gerechtigkeit ausführlich besprochen (365a ff.). Die Frage, die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit als Lebensprinzip zu wählen, hat aber nicht nur an sich eine lebenspraktische Relevanz, sondern weil es für die beiden Brüder letztlich um eine Lebensentscheidung geht, ist sie »von ganz besonderer Wichtigkeit für die am Gespräch beteiligten Personen in ihrer spezifischen Lebenssituation; sie hat also einen konkreten personalen und situativen Rückbezug«. 29 Ein weiteres Indiz für die Anziehungskraft dieser Position ist der Aufwand, den Platon erbringen muss, um vom to‰ ¥pipnou e—dou@, ˚ misjn j’ neka ka½ e'dokimffisewn diÞ dxan ¥pithdeutffon, a't dþ di’ a¢t yeuktffon £@ $n calepn (358a4–6). Auf diese in der Polis gelebte Praxis macht auch Peter Stemmer (Der Grundriß der platonischen Ethik, 1988, 540 f.) aufmerksam. Vgl. auch 358c3 f. und 360c5–7. 28 Das Handeln nach dem Prinzip des je eigenen Vorteils – unter Beobachtung gerecht, aber nur scheinbar, im Verborgenen ungerecht – ist eine damals verbreitete Ansicht. Vgl. dazu die Angaben zu Antiphon, Demokrit und anderen bei Peter Stemmer (ebd., 556). 29 N. Blößner, Dialogform und Argument, 1997, 39. Vgl. dazu bereits ebd., 36 ff. 27
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Gegenteil – der dem Glück zuträglichen Gerechtigkeit – überzeugen zu können. Sowohl Umfang als auch Komplexität der Politeia wären angesichts einer schwachen Position derer, die die ungerechte Lebensweise empfehlen, unnötig, sie lassen indirekt auf einen ernst zu nehmenden und von Platon ernst genommenen Gegner schließen. Das Lob der Ungerechtigkeit, das Glaukon anhand der Parabel vom Ring des Gyges (359b ff.) vorträgt, ergibt, dass es nach konventioneller Auffassung von Gerechtigkeit nicht möglich ist, gerechtes Handeln gegenüber der Ungerechtigkeit als empfehlenswerter auszuweisen: Der Ring wirkt für den Träger wie eine Tarnkappe, er wird für andere unsichtbar. Unter den Bedingungen dieser nach heutigem Sprachgebrauch spieltheoretischen Situation 30 gibt es keinen vernünftigen Grund, gerecht zu handeln, weil die Wirkung des Ringes die externen Bedingungen von Gerechtigkeit – die Beobachtung durch andere – außer Kraft setzt und die mit dieser Orientierung verbundene Motivation für gerechtes Handeln, negative Konsequenzen zu vermeiden, entfällt. Erst jetzt gewinnt die Frage: Warum soll ich moralisch handeln?, ihre eigentliche Brisanz. Die Parabel offenbart, dass in der Situation der Unsichtbarkeit alle der Ungerechtigkeit den Vorzug geben würden, weil es kein Motiv gibt, den Nachteil gerechten Handelns gegenüber dem Vorteil des Ungerechtseins zu wählen, ja, es wäre sogar mit Blick auf das immer vom Handelnden angestrebte Gute unvernünftig. Das bedeutet wiederum unter normalen Bedingungen, dass nur deshalb gerecht gehandelt wird, weil der damit verbundene Nachteil gegenüber den zu befürchtenden Strafen bei ungerechtem Handeln das geringe Übel ist. An sich handelt der Gerechte nicht wirklich gerecht, sondern nur zum Schein, außerhalb jeder Beobachtung würde er genau wie der Ungerechte ungerecht handeln, der »Unterschied zwischen den Gerechten und Ungerechten bildet sich also nicht in der Seele ab, er ist nur einer des äußeren Verhaltens«. 31 Den Unterschied zwischen Sein und Schein nutzt Glaukon für eine weitere Untersuchung, in der er den Gerechten und den Ungerechten in idealtypischer Ausprägung gegenüberstellt, um entscheiden Als spieltheoretische Entscheidungssituation unter rationalitätstheoretischem Aspekt ist die Gyges-Parabel bei Wolfgang Kersting analysiert (Platons ›Staat‹, 1999, 59 f.). 31 Ebd., 58. Die Parabel spitzt die Herausforderung, Gerechtigkeit als dem guten Leben dienlich zu erweisen, noch einmal zu. Vgl. dazu die Ausführungen von Kersting, ebd., 60 ff. und 73 ff. 30
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zu können, welcher von beiden der Glückseligere ist. Die bereits durch den Ring des Gyges nahegelegte Lebensweise, in jeder Hinsicht den maximalen Nutzen zu erzielen, wird jetzt als die Handlungsstrategie des Ungerechten par excellence beschrieben: »Denn die höchste Ungerechtigkeit ist, daß man gerecht scheine, ohne es zu sein.« 32 Trotz aller Idealisierung vermag selbst ein »Meister« dieses Faches, nicht mit Notwendigkeit auszuschließen, dass sein Unrechttun eines Tages als solches entdeckt und erkannt wird und er der Bestrafung nicht entgeht, weil es nicht zu kalkulierende Faktoren gibt, die außerhalb seiner Macht liegen. Diese Unsicherheit bedingt eine weitere fatale Konsequenz, die mit Blick auf das gute Leben nicht zu unterschätzen ist: Weil der Ungerechte nie mit hundertprozentiger Sicherheit wissen kann, ob sein jeweiliges Gegenüber seinen Gerechtigkeitsschein als Unrechttun durchschaut, muss er ständig und überall vor den anderen auf der Hut sein. Sein sich aus seinem Lebensprinzip notwendig ergebendes Misstrauen gegen alle und jedes führt zur Unfähigkeit, authentische Beziehungen zu anderen einzugehen und aufrechtzuerhalten, und diese Unfähigkeit kann gewiss nicht zum guten Leben gezählt werden. Andererseits können diejenigen, die Ungerechtigkeit bestraft sehen wollen, nicht mit Gewissheit behaupten, dass alle ungerechten Handlungen im Zeitraum des eigenen Lebens aufgedeckt und bestraft werden. Und der Jenseitsmythos im Gorgias, der diese Unsicherheit, ob ein Menschenleben ausreichend ist, beseitigen soll, bleibt unbefriedigend, weil auch er sich noch immer auf der gleichen Ebene des Verstehens von Gerechtigkeit bewegt: Gerechtigkeit als ein von seinen externen Folgen motiviertes Handeln. Wie sich gezeigt hat, ist nach konventionellem Verständnis von Gerechtigkeit, das sich an äußeren bzw. externen Bedingungen – den Folgen von ungerechten und gerechten Handlungen – orientiert, eine Begründung von Moralität, die von der Motivation des Handelnden ausgeht, nicht möglich. Hält man an dem Anspruch fest, die Motivationsfrage: »Warum soll ich gerecht handeln?«, überzeugend beantworten zu können, muss Gerechtigkeit ein Gut sein, das um seiner selbst willen gewollt wird, unabhängig von den damit einhergehenden ¥sc€th gÞr ⁄dikffla doke…n dfflkaion e nai m¼ nta (361a5 f.). Vgl. die Diskussion dieser Position im Zusammenhang des Gorgias bei P. Stemmer, Unrecht tun ist schlechter als Unrecht leiden, 1985, 516 ff. und die entsprechenden Ausführungen im Kapitel 4.2.4 oben.
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Folgen: »Denn ich begehre zu hören«, so Glaukon in der Politeia, »was jedes [die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit] ist und was für eine Kraft es an und für sich hat, sowie es in der Seele ist, den Lohn aber dafür und die Folgen davon ganz beiseite zu lassen.« (358b4–7) 33 Auch unter diesen Voraussetzungen muss die Gerechtigkeit für den Handelnden selbst ein Gut sein, wie Glaukon fordert: »Zeige uns also in deiner Rede nicht nur, daß Gerechtigkeit besser ist als Ungerechtigkeit, sondern wozu jede von beiden den, der sie hat, machend an und für sich selbst die eine ein Übel ist und die andere ein Gut ( mþn kakn, dþ ⁄gajn ¥stin).« (367b2–5) Aus diesen Gründen geht Platon vom gerechten Handeln auf den Handelnden selbst, den Gerechten, zurück. 34 Nur im Rückgang auf das Selbstverhältnis des handelnden Individuums besteht überhaupt – so jedenfalls nach Platon – die Möglichkeit, Gerechtsein zu begründen. Damit wird aus der Frage nach der Gerechtigkeit die Frage nach dem Gerechten selbst. Dieser Wechsel von der Außen- zur Innenperspektive ist ein weiterer Beleg dafür, dass Platon das jeweilige Weltverhältnis – im jetzigen Fall die gerechte oder ungerechte Handlung – auf das Selbstverhältnis des Handelnden – im jetzigen Fall des Gerechten oder Ungerechten – zurückführt, und ein weiteres Argument für die These, dass er einen individualitätstheoretischen Ansatz gewählt hat. Nachdem im Anschluss an Glaukon auch Adeimantos sein Lob der Ungerechtigkeit »gesungen« hat, schlägt Sokrates zur Bestimmung der Gerechtigkeit, weil zu dieser Untersuchung ein »sehr Scharfsichtiger« nötig wäre, einen »Umweg« vor: Man solle anstelle der Gerechtigkeit im Leben eines Einzelnen (¥n n½ k€st†w) über die Gerechtigkeit in der Stadt (¥n t–» plei) nachdenken, denn beides könne »gerecht« genannt werden. Und da eine Stadt größer sei als der einzelne Mensch, sei auch die Gerechtigkeit an dieser besser zu erkennen, denn beide verhielten
Glaukon fordert, die Gerechtigkeit unabhängig von ihren Folgen zu bestimmen. Sokrates hatte sie zuvor als ein Gut der zweiten Art verstanden: ein Gut, das um seiner selbst willen und um seiner Folgen willen angestrebt wird (358a1–3). Eine überzeugende Begründung der Gerechtigkeit muss zunächst nachweisen, dass sie ein Gut der ersten Art ist. Vgl. dazu P. Stemmer, Der Grundriß der platonischen Ethik, 1988, 554 ff. 34 Peter Stemmer zufolge hat Platon seine Theorie der Gerechtigkeit im Kontext der Motivationsfrage entwickelt, die eine handlungstheoretische Bestimmung der Gerechtigkeit ausschließt. Aufgrund dessen sei Platon veranlasst worden, die Gerechtigkeit als eine bestimmte Verfasstheit der Seele zu interpretieren. (Ebd., 558 f.) 33
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sich zueinander wie gleiche Buchstaben, die sich nur durch ihre unterschiedliche Größe unterscheiden, sodass man die kleineren besser lesen können wird, nachdem man die großen nachbuchstabiert habe. Die Rede ist von nichts anderem als dem bekannten Buchstabengleichnis (368c ff.). Dieses Gleichnis ist oft und auch kontrovers diskutiert worden. Hier ist nicht der Ort, diese Diskussion im Einzelnen nachzuvollziehen, sondern ich werde mich auf einige Aspekte beschränken, die für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit relevant sind. Zunächst fällt auf, was uns bereits aus der Apologie und dem Alkibiades I bekannt ist: Wir benötigen für unsere eigene Selbsterkenntnis den Bezug auf anderes als uns selbst, ohne diesen Bezug kommen wir bei dem Problem der eigenen Erkenntnis nicht weiter. Ist es in den beiden genannten Dialogen der Bezug auf den anderen gewesen, so ist es jetzt in der Politeia der »Umweg« über die Polis als die politische Verfassung unseres Daseins. Man kann es auch so formulieren, dass Selbsterkenntnis nur in der auf Welterkenntnis bezogenen Beschreibung der eigenen Tätigkeiten möglich ist. 35 Auf den ersten Blick könnte allerdings durch das Buchstabengleichnis der Eindruck entstehen, dass der Staat für den Menschen das Paradigma ist, weil doch die Untersuchung vom Individuum auf den Staat übergeht und die Dreigliederung des Staates auf die Seele des Individuums übertragen wird. Aber die Umkehr des Verfahrens ist nur eine scheinbare, weil Nachvollzug und Auslegung der eigenen menschlichen Leistungen nur in Bezug auf andere und anderes als sich selbst möglich sind: »Die scheinbare Umkehrung dieses Verfahrens in der Politeia, daß Platon mit dem Staat beginnt und erst aus den in ihm vorfindbaren Differenzierungen die innere Differenzierung der Einzelseele erschließen will, geht, wie inzwischen in der Forschung deutlich gesehen ist, auf den Unterschied zwischen dem, was ›für uns‹, für unsere lernende Erfahrungsweise früher ist, und dem, was der Sache nach früher ist, zurück. Da sich im Staat die Potenzen der Einzelseele realisieren, sind sie in dieser Form für uns dort früher erkennbar, wir schließen aber von diesen realisierten Akten auf die sie bedingenden und begründenden Vermögen der Seele zurück und erkennen dadurch in ihr die eigentlichen Sachgründe Dieser Befund bestätigt die bisherigen Ergebnisse: neben der konstitutiven Funktion des anderen für die Selbsterkenntnis ebenso die Wirklichkeit des Selbst für sich und für andere im Gebrauch des Leibes und im Handlungsvollzug. Vgl. dazu die Kapitel 2.1 und 4.1 oben.
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für die im Staat verwirklichten seelischen Möglichkeiten.« 36 Arbogast Schmitt begründet dieses Verfahren damit, dass für Platon der Mensch aufgrund seiner Bedürftigkeit und Endlichkeit nicht autark sei, sondern von vornherein als ein soziales Wesen aufgefasst werden müsse. 37 So ist in der Politeia zu erfahren, dass eine Stadt entsteht, »weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern gar vieles bedarf«. 38 Wenn es nicht nur um die bloße Selbsterhaltung gehe, die ein sozialer Verband, wie eine Familie oder eine Gruppe, vielleicht sicherstellen könne, sondern um die Ausprägung und Aktualisierung der besten Fähigkeiten des Menschen in ihrer je optimalen Form, dann reicht, so Schmitt weiter, dieser soziale Verband nicht mehr aus, weil nach Platon der Mensch für ein gutes Leben, zu dessen Begriff auch die volle EntA. Schmitt, Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 45, Anm. 67. Eine direkte Bestätigung, dass trotz der Umkehr des Verfahrens nicht der Staat das Paradigma für das Individuum, sondern dieses das Paradigma für jenen ist, findet sich im Dialog selbst: »Ist es nun nicht uns ganz notwendig, sprach ich, zu gestehen, daß in einem jeden von uns diese nämlichen drei Arten und Handlungsweisen sich finden wie auch im Staat? Denn nirgends anders her können sie ja dorthin gekommen sein. Denn es wäre ja lächerlich, wenn jemand glauben wollte, das Mutige sei nicht aus den Einzelnen in die Staaten hineingekommen (¥k tn §diwtn ¥n ta…@ plesin ¥ggegonffnai), die vorzüglich in diesem Rufe stehen […], oder das Wißbegierige, was man vorzüglich unseren Gegenden zuschreiben kann, oder das Erwerbslustige« (435e1–436a2). 37 Vgl. dazu ebd., 35 ff. 38 ¥peid¼ tugc€nei mn kasto@ o'k a't€rkh@, ⁄llÞ polln ¥ndeffi@ (369b6 f.). Wenig später wird ausdrücklich unsere Bedürftigkeit als Ursache für die Entstehung einer Stadt genannt: »Es gründet sie [die Stadt] aber, wie sich zeigte, unser Bedürfnis ( metffra creffla).« (369c10) Man vergleiche auch die ironische Lobrede auf den »Alleskönner« Hippias, der sich rühmt, in allen Künsten, sowohl technischen als auch künstlerisch-rhetorischen, ein Meister zu sein (Hp. Mi. 368b ff.). Ein einziges Mal, und zwar in der Politeia, verwendet Platon den Begriff a't€rkeia auf den Menschen bezogen positiv, allerdings in einer durch den vorgegebenen Kontext, der die Gültigkeit auf einen Bereich eingrenzt, relativierten Bedeutung, und zwar im Zusammenhang mit der Ausbildung der Wächter und deren Tugend der Tapferkeit, welche einen gefassten Umgang mit dem eigenen Tod und dem Tod von Freunden und Angehörigen ermöglichen soll: »Aber wir sagen auch noch dieses, daß ein solcher am meisten selbst sich genügt, um gut zu leben, und vorzüglich vor den übrigen eines anderen nicht bedarf.« (3AllÞ m¼n ka½ tde lffgomen, £@ ¡ toio‰to@ m€lista a't@ a¢t† a't€rkh@ pr@ t eª z»n ka½ diayerntw@ tn ˝llwn `kista tffrou prosde…tai. 387d11–e1) Vgl. die bei Friedrich Ast angegebenen Stellen zu a't€rkeia und a't€rkh@ in: Lexicon Platonicum, Bd. 1, 1908, 310. Hingegen ist das Synonym der ¥gkr€teia in der Bedeutung des »Sich-in-der-Macht-Habens«, des »Herr-seiner-selbst-Seins« ein tragender Begriff zur Charakterisierung der swyrosÐnh, der Selbstbeherrschung bzw. Besonnenheit. Näheres dazu im Kapitel 5.2.2 unten. 36
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faltung menschlicher Vermögen gehört, des Zusammenhangs eines politischen Gemeinwesens bedarf. Wenn dem so sei, dass der Mensch sich nur im Staat vollendet entwickeln und in diesem Sinne gut leben könne, dann müsse gefragt werden, wie dieser Staat eingerichtet sein muss, um dieses menschliche Telos garantieren zu können. Davon ausgehend hat Schmitt plausibel dargelegt, dass der Frage nach der entsprechenden Einrichtung des Staates eine Analyse der menschlichen Grundvermögen vorausgehen muss, weil diese Vermögen die Basis für die Gestaltung der Polis bilden, deren Ziel darin bestehe, eine vollendete Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen. Darin sieht Schmitt auch die eigentliche Darstellungsintention der Politeia. Das eigentliche Projekt Platons besteht demnach darin, den Staat vom Individuum bzw. von der Einzelseele ausgehend zu entwerfen, anders gesagt: Platon findet in der Seele des Individuums das Paradigma für seine politische Philosophie, die Gerechtigkeit der Seele bildet das Paradigma für die Gerechtigkeit in der Polis. 39 Die Behauptung von der Priorität des Individuums vor der Polis bedeutet nun keineswegs, einen Zusammenhang zwischen Individuum und Polis zu leugnen, denn dieser ist durch das Buchstabengleichnis durchaus symbolisiert. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Wie das gute Leben des Einzelnen auf eine entsprechende Verfassung des politischen Ganzen angewiesen ist, so bedarf der Staat einer entsprechenden Verfasstheit seiner Bürger. 40 Die Aussage des BuchstabenVgl. dazu Enno Rudolph, welcher »die platonische Theorie der Einzelseele für die erste ›moderne‹ Theorie von Individualität im sowohl ontologischen Sinne als auch im Sinne der politischen Philosophie« hält: »Das Paradigma für die Lebensfähigkeit, die Organisierbarkeit und die moralische, d. h. tugendhafte Praxis des politischen Lebens ist für Platon die Einzelseele. […] Die Harmonie der Seele bildet das Paradigma für die Gerechtigkeit in der Polis.« (Odyssee des Individuums, 1991, 24 und 32) Für die Priorität des Individuums vor dem Staat spricht nicht nur die gesamte Anlage der Politeia, ebenso wird mehrfach im Text selbst darauf verwiesen, z. B. als Glaukon drängt zu erfahren, ob Sokrates die beste Polis für realisierbar hält, erinnert dieser an das eigentliche Ziel des Gespräches: zu finden, was Gerechtigkeit sei (472a8–b5). 40 Diesen »unlösbaren Zusammenhang von Einzelseele und Polis« hat Hans-Georg Gadamer betont: Das zentrale Problem von Politik sei, »den Mißbrauch von Macht zu verhindern«, was auf dem Weg von Verfassung und Institution möglich wäre. Oder man lege den Akzent darauf, und das sei Platons Punkt, »daß keine Verfassung und Staatseinrichtung ohne erfolgreiche Erziehung ihrer Bürger gelingen kann«. (Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen (1983), GW VII, 284) Vgl. auch O. Höffe, Einführung in Platons Politeia, 1997, 7 f.: »In der Politeia interessiert sich Platon nicht für das Funktionieren politischer Ämter und Institutionen, sondern für die Bin39
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gleichnisses reicht allerdings weiter, wird doch mit ihm die bekannte und in der Forschung auch umstrittene Analogie zwischen der gerechten individuellen Seele und dem gerechten Gemeinwesen behauptet. Inwiefern diese Analogie wirklich überzeugend ist, ob der Dreigliederung der Seele auch eine Dreigliederung des Staates in die drei Stände von Herrschern, Wächtern und Bürgern entspricht und, wenn man die Polisgenese hinzunimmt, gleichfalls dieser die drei Polisstufen zugeordnet werden können bzw. ob Individuen prinzipiell genauso »funktionieren« wie Staaten, das kann an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden. Fest steht allerdings, dass eine einfache Entsprechung von Seelenteilen, Ständen in der Polis, Tugenden und Polisstufen zu Absurditäten führt, sodass für eine sinnvolle Deutung von einer wesentlich komplexeren Zuordnung ausgegangen werden muss. 41 Von diesem Problem abgesehen, lässt sich zumindest von einer strukturellen Entsprechung zwischen Individuum und Polis ausgehen, denn für eine Analogie spricht der Gedanke der inneren Gliederung und des Zusammenhangs zwischen den verschiedenen Teilen. Wie die Seele so ist auch der Staat als ein struktureller Zusammenhang eines in sich funktionell Gegliederten zu verstehen. Vorausgesetzt ist dabei eine »Konvergenz verschieden realisierter Ordnungsstrukturen […]. Gerechtigkeit ist eine Ordnung des Individuums in seiner Lebendigkeit, eine Ordnung der Seele ebenso wie sie eine Ordnung des Staates ist.« 42 Dieses strukturelle Verständnis des Buchstabengleichnisses erdung der Gerechtigkeit oder der Ungerechtigkeit eines Gemeinwesens an das êthos, den im Fall der Philosophen gerechten, im Fall der Tyrannen aber ungerechten Charakter der Herrscher (vgl. VIII 544d–e). Auf diese Weise macht er bereits auf eine Schwierigkeit aufmerksam, auf die neuerdings Theoretiker des modernen Verfassungsstaates verweisen: daß ein institutionell gerechter Staat aus Voraussetzungen lebt, die dieser Staat selbst – allein durch seine Institutionen – nicht garantieren kann.« 41 Vgl. dazu die kritischen Ausführungen von Otfried Höffe (Zur Analogie von Individuum und Polis, 1997, 84 ff.) zu Bernard Williams, der die Analogie für gescheitert erklärt, aber wegen der einfachen Zuordnung zu keinem anderen Resultat kommen konnte (The Analogy of City and Soul, 1973). Ebenso führt Arbogast Schmitt die Schwierigkeiten der Deutung von Williams darauf zurück, dass die neuzeitliche Teilung der Seele in Verstand, Wille und Gefühl auf die Dreiteilung der Seele bei Platon in logistikn, jumoeidff@ und ¥pijumhtikn übertragen wird, was dem komplexeren Verständnis der Seelenteile Platons nicht gerecht werde (Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 50 ff., zu Williams direkt: 58, Anm. 100, 64 ff. und 69 ff.). 42 G. Figal, Sokrates, 1995, 78. Vgl. auch ders., Eine Frage der Zeit, 1991, 118: Die Gleichheit der Buchstaben veranschaulicht, »daß der Ausdruck ›gerecht‹ im Hinblick auf den einzelnen und im Hinblick auf eine Stadt dasselbe bedeutet. […] Sagt man A
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möglicht zugleich, dass der Blick frei wird für die wechselseitige Erkennbarkeit von Individuum und Polis: Wie sich der Einzelne angesichts der Polis als ein Wesen zu begreifen hat, in dem sich drei grundverschiedene Kräfte in einem ständigen Gegensatz – einem inneren Krieg (st€si@) – befinden, 43 der angemessen zu überwinden ist, indem man sich selbst besiegt oder gerecht ist, und das bedeutet: indem man sich als ein in sich differenziertes Wesen – eine »Institution« – zu begreifen hat, so muss sich die Polis, wie Platon in den Nomoi zeigt (625c–628e), »wie ein Individuum« als eine handlungsfähige Einheit verstehen: Im Rückgang auf die Handlungsbedingungen des Individuums als den »letzten Grund« der Untersuchung (626d5 f.) wird deutlich, dass sich die Polis nicht über den Krieg mit einer anderen politischen Organisation (plemo@) definieren kann, weil sie für ihre eigene Handlungsfähigkeit, und zwar auch gegenüber einer anderen Polis in einem äußeren Krieg, erst den Krieg in ihrem Inneren, den Bürgerkrieg (st€si@), befriedet haben muss, sodass die primäre Aufgabe der Polis in der Herstellung des inneren Friedens, also der Einigkeit mit sich selbst, in der Überwindung des Konflikts durch Konsens bestehen muss. Zu den Konsequenzen dieser individuellen Ausgangsposition für die politische Philosophie gehört, und das sei abschließend genannt, die entscheidende Bestimmung der Gerechtigkeit, wie wir sie in der Politeia finden: Diese besteht auf der Ebene der Polis darin, dass jedem »das Seinige« von der Gemeinschaft zukomme (433e f.) bzw. jeder »das Seinige« tut: »Und gewiß, daß das Seinige zu tun und sich nicht in vieler-
nämlich, jemand sei oder lebe gerecht, so ist das eine mögliche Antwort auf die Frage ›wie‹ er lebt; Gerechtigkeit ist also eine Form des Lebens, und eine bestimmte Form hat auch das Leben in einer Stadt: Es ist die Verfassung, die Politeia einer Stadt, was die Form des Lebens in ihr ausmacht, und eine Verfassung wiederum hat Sokrates zufolge auch das Leben des einzelnen; gerecht leben kann man nur, sofern man auf die Verfassung in einem selbst schaut und sich ihr angemessen verhält (Resp. 591e).« Zur Interpretation der Analogie als einer strukturellen Entsprechung zwischen Mensch und Staat vgl. auch V. Gerhardt, Der groß geschriebene Mensch, 1997, 51 ff. und in Nachfolge von Platon auch bei Hobbes und Kant: ders., Person und Institution, 1999. 43 Vgl. Lg. 626e5 f.: Der Sieg über sich selbst als der beste deutet darauf hin, »daß in jedem von uns ein Krieg gegen uns selbst stattfindet« (£@ polffmou ¥n k€stoi@ mn nto@ pr@ m”@ a'toÐ@). In der Politeia wird der innere Krieg im Individuum ausdrücklich mit der politischen Begrifflichkeit des Bürgerkrieges (st€si@) bezeichnet. Vgl. dazu das Kapitel 5.2.2 unten.
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lei einzumischen Gerechtigkeit ist«. 44 Bereits bei den natürlichen Anlagen und Begabungen geht Platon von einer fundamentalen Verschiedenheit der Individuen aus, 45 die durch Erziehung und Ausbildung zur eigenen Selbstständigkeit nur noch verstärkt werden kann, sodass sich sagen lässt: Die derart verstandene Gerechtigkeit als dasjenige, was einem selbst im Zusammenhang des Ganzen am besten möglich ist, gibt der Entfaltung des Einzelnen im politischen Rahmen den größten Raum. Wie Henning Ottmann für die Geschichte des politischen Denkens und die Althistoriker aus ihrer Perspektive feststellten, dass Individualität und Verantwortlichkeit des Einzelnen Voraussetzungen für Politik sind, 46 so finden wir dieses Prinzip der Individualität auch als Ausgangspunkt der platonischen Philosophie: »Die durch die Tragödie und durch Sokrates bereits zugespitzte Auffassung von der Verantwortlichkeit des einzelnen wird mit Platon vollendet. Der Mensch wird als ein Wesen anerkannt, das sein Leben wählt und zu verantworten hat. In der Stadt der Gerechtigkeit kommen die Menschen jeweils in ihr ›Eigenes‹. Sie tun dort, was sie lieben und was sie am besten tun können. Platons politisches Denken markiert einen welthistorischen Wendepunkt zur Subjektivität.« 47
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Ka½ m¼n ˆti ge t tÞ a¢to‰ pr€ttein ka½ m¼ polupragmone…n dikaiosÐnh ¥stffl (433a9 f.). Vgl. z. B. 423d2–6: »Dieses sollte aber andeuten, daß man auch die anderen Bürger jeden zu dem einen Geschäft, wozu er geeignet ist, hinbringen müsse, damit jeglicher, des einen ihm eigentümlichen sich befleißigend, nicht viele, sondern einer werde, und so auch die gesamte Stadt uns zu einer erwachse und nicht zu vielen.« (To‰to d’ ¥boÐleto dhlo‰n ˆti ka½ to±@ ˝llou@ polfflta@, pr@ ˆ ti@ pffyuken, pr@ to‰to na pr@ ˙n kaston ˛rgon de… komfflzein, ˆpw@ n ˙n t a¢to‰ ¥pithdeÐwn
kasto@ m¼ polloffl, ⁄ll’ e@ gfflgnhtai, ka½ o˜tw d¼ xÐmpasa pli@ mffla yÐhtai, ⁄llÞ m¼ pollaffl.) 45 »Denn wir haben ja festgesetzt und oftmals gesagt, wenn du dich dessen erinnerst, daß jeder sich nur auf eines befleißigen müsse von dem, was zum Staat gehört, wozu nämlich seine Natur sich am geschicktesten eignet.« (3Ejffmeja dþ dffipou ka½ poll€ki@ ¥lffgomen, e§ mffmnhsai, ˆti na kaston ˙n dffoi ¥pithdeÐein tn per½ t¼n plin, e§@ ˚ a'to‰ yÐsi@ ¥pithdeiot€th peyukuffla e—h. 433a4–7) 46 Vgl. dazu in der Einleitung das Kapitel b. oben. Zu den Konsequenzen der individuellen Ausgangsposition für die politische Philosophie vgl. auch von V. Gerhardt: Der groß geschriebene Mensch, 1997, bes. 49 ff.; Person und Institution, 1999. 47 H. Ottmann, Die Geschichte des politischen Denkens, Bd. I/2, 2001, 1 f. A
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5.2 Die Individualität des Gerechten und der Ungerechten 5.2.1
Die Gerechtigkeit der Einzelseele und ihre Individualität
Zur Erinnerung: Die sich im Gespräch ergebende Frage nach der richtigen Lebensführung: »Wie soll man leben?«, führte die Gesprächspartner auf das Problem der Gerechtigkeit, inwiefern sie als ein Gut für den Einzelnen der Ungerechtigkeit vorzuziehen sei. Als man in der Bestimmung der Gerechtigkeit nicht weiterkommt, schlägt Sokrates vor, zunächst einen Umweg zu gehen – am größeren Modell, der Polis, ließe sich die Gerechtigkeit besser erkennen. Nachdem die ideale Stadt mit ihren drei Ständen – den Herrschern, Wächtern und Bürgern – gegründet und ihnen die Tugenden der Weisheit, der Tapferkeit und der Besonnenheit zugewiesen wurden, wird die Gerechtigkeit der Polis bestimmt als dasjenige, was sie in ihrem Bestand erhält und so auch die anderen Tugenden zu bewahren hilft. Sie besteht darin, dass »jeder das Seinige und Gehörige hat und tut«. 48 Im Anschluss daran erinnert Sokrates selbst an das eigentliche Ziel der Untersuchung, dem der »Umweg« über die Gerechtigkeit der Polis gegolten hatte: die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen zu erkennen (434d ff., vgl. 368d–369a). Die Übertragung der an der Polis gewonnenen Gerechtigkeit auf den einzelnen Menschen erfolgt keineswegs schematisch, ja, Sokrates räumt sogar die Möglichkeit ein, dass sie nicht gelingt, und wenn doch, dann sind dafür offenbar zusätzliche Anstrengungen nötig: »Und vielleicht, wenn wir so beides [die Gerechtigkeit der Polis und die Gerechtigkeit des Individuums] gegeneinander betrachten und reiben, werden wir doch wie aus Feuersteinen die Gerechtigkeit herausblitzen machen und, wenn sie uns klar geworden ist, sie recht bei uns selbst befestigen.« 49 In einem ersten Schritt überträgt Sokrates die verschiedenen Handlungsweisen des Mutigen, des Wissbegierigen und des Erwerbslustigen im Staat auf die Einzelseele. Er begründet sein Vorgehen damit, dass die Ursache für deren Vorkommen im Staat nur die Vermögen im einzelnen Menschen selbst sein können und sich diese drei
to‰ o§kefflou te ka½ auto‰ xi@ te ka½ pr”xi@ (433e12–434a1). ka½ t€c’ n par’ ˝llhla skopo‰nte@ ka½ trfflbonte@, ¯sper ¥k purefflwn ¥kl€mvai poiffisaimen t¼n dikaiosÐnhn, ka½ yanerÞn genomffnhn bebaiwsafflmej’ n a't¼n par’ m…n a'to…@ (435a1–4). Vgl. dazu die bekannte Stelle 341c6–d2 im Siebten Brief über die Einsicht in eine Sache.
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Handlungsweisen in einem jeden von uns finden lassen (vgl. 435e1– 436a3). Konnten in der Polis drei Stände mit der jeweils entsprechenden Tugend namhaft gemacht werden, so ist die Annahme einer dreifach gegliederten Seele problematisch. Zunächst muss geklärt werden, ob wir mit der ganzen Seele verschiedene Arten von Handlungen ausführen oder ob es sozusagen verschiedene »Teile« gibt, die jeweils wiederum für eine bestimmte Handlungsweise zuständig sind. Bemerkenswert ist bei dieser Untersuchung, dass Platon, wie im Alkibiades I bei der Klärung, was denn das Selbst sei, weder von einer begrifflichen Ableitung noch von der Vorstellung einer Substanz, sondern von einer phänomenalen Beschreibung unserer Selbsterfahrung ausgeht: von uns selbst bekannten Verhaltensweisen, und von diesen auf die Vermögen schließt, die uns in den Stand setzen, das eine oder das andere zu tun. Damit werden aber nichts anderes als verschiedene Lebensfunktionen festgestellt, die uns von unserer eigenen Lebendigkeit her vertraut sind: Wer kennt nicht die Situation, den Durst zu stillen oder diesem elementaren Begehren gerade nicht nachzugeben, weil man um die Gefährlichkeit eines bestimmten Getränkes weiß, oder dem Appetit auf eine ganz bestimmte Speise nachzugeben oder dann doch aus bestimmten Gründen auf sie zu verzichten? Allen diesen Situationen ist gemeinsam, dass es uns möglich ist, das eigene Begehren zu befriedigen oder ihm begründet nicht nachzugeben, mag es uns auch noch so dazu drängen. Diese zwei möglichen Verhaltensweisen in jeweils einer Situation lassen den Schluss auf zwei einander entgegengesetzte, miteinander in Konflikt liegende Grundkräfte zu – dem Begehrlichen und dem Vernünftigen. Soll die Analogie zwischen Individuum und Polis aber wirklich tragen, fehlt in der menschlichen Seele noch eine dritte Kraft, die sich als solche, also auch unabhängig von der infrage gestellten Analogie, plausibel machen lassen muss. 50 Auch dafür finden wir uns selbst beDamit soll nicht der Eindruck entstehen, als würde es bloß darum gehen, die Analogie zwischen Polis und Individuum wirklich nachzuweisen. Ziel der Untersuchung ist es ja, die Gerechtigkeit als ein ausgezeichnetes Selbstverhältnis im Unterschied zu anderen möglichen Selbstverhältnissen zu bestimmen. Das setzt sowohl die Möglichkeit von inneren Konflikten voraus, die wiederum nur bei mehreren und zugleich gegensätzlichen Grundkräften möglich sind, als auch verschiedene Lösungen, von denen eine durch die eigens dafür zuständige Kraft das Selbstverhältnis der Gerechtigkeit hervorbringt. Der eigentliche Ausgangspunkt ist erneut unsere Selbsterfahrung: die Erfahrung, dass
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kannte Beispiele: Obwohl wir es ablehnen, aus reiner Sensationslust etwas anzusehen, ergeht es uns wie Leontios, der sich nicht beherrschen konnte und sich im Nachhinein sozusagen über sich selbst empört (439e ff.). Als »Verbündeter der Vernunft« im Konflikt mit dem eigenen Begehren ist das Mutartige aber vom Vernünftigen selbst unterschieden: Wenn die eigene Empörung maßlos zu werden droht, wird sie von der eigenen Vernunft zurechtgewiesen, wie in Homers Odyssee, als Odysseus zu sich sagt: »Er aber schlug an die Brust und schalt sein Herz mit den Worten: Herz, halt aus! schon anderes Hündisches hast du ertragen«. 51 Demnach können drei Funktionen unserer Lebendigkeit bzw. innerpsychische Grundvermögen unterschieden werden: das Vernünftige (logistikn), das Begehrliche (¥pijumhtikn) und, als ein in der Mitte Liegendes, das sich Ereifernde bzw. Mutartige (jumoeidff@). 52 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die platonische Unterscheidung in den meisten Fällen durch die neuzeitliche Teilung der Seele in Vernunft, Wille und Begierden wiedergegeben wird. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich aus diesem Verständnis für die weitere Interpretation ergeben und die als Indiz genommen werden sollten, dass die moderne Dreiteilung der Seele nicht dem entspricht, wovon wir wählen müssen, uns Handlungsalternativen vor Augen stehen und wir uns oftmals nicht sofort entscheiden können, sondern mit uns selbst im Streit uns dann doch für die eine oder auch die andere Möglichkeit entscheiden. Zur Grundidee der Seelenteilung vgl. O. Höffe, Einführung in Platons Politeia, 1997, 17 f.: »Nur wenn man mehrere Antriebskräfte annimmt, läßt sich die Wirklichkeit innerer Konflikte erklären; und erst mit der Annahme einer übergeordneten, ›schlichtenden‹ Kraft wird die Lösung der Konflikte verständlich.« 51 st»jo@ dþ plffixa@ kradfflhn ƒnfflpape mÐj†w‡ tfftlaji dffi, kradfflh‡ ka½ kÐnteron ˝llo pot’ ˛tlh@ (Od. XX, 17 f.). Vgl. R. 441b7, bereits 390d4 f.: »Aber er schlug an die Brust und strafte das Herz mit den Worten: Dulde nun aus, mein Herz, noch Härteres hast du geduldet.« Dieser Homer-Vers gehört in der Literatur zu den meist besprochenen Homer-Stellen. Vgl. z. B. Ch. Voigt, Überlegung und Entscheidung, 1972, 69 ff. und 81; A. Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit, 1990, 19, 190 f. und 217 ff.; B. Seidensticker, »Ich bin Odysseus«, 2000, 177 f. 52 Die Übersetzung von jum@ mit »das sich Ereifernde bzw. Mutartige« ist eine unbefriedigende, aber bewusst gewählte Lösung. Die scheinbar naheliegende mit »Wille« verfehlt nämlich die Bedeutung dessen, was Platon damit bezeichnet. In der Literatur wird immer wieder auf die Schwierigkeiten einer angemessenen Übersetzung hingewiesen. Eine Untersuchung, die sich ausschließlich mit dem jum@ befasst, steht noch aus. Auf deren Notwendigkeit hat Arbogast Schmitt mehrfach verwiesen: Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 69, Anm. 133; Die Moderne und Platon, 2003, 305.
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im Dialog gesprochen wird, stellt Sokrates die Übertragung der Gerechtigkeit der Polis auf den einzelnen Menschen selbst unter den Vorbehalt der Ungenauigkeit: »Und wisse nur, o Glaukon, daß nach meiner Meinung wir dergleichen durch ein solches Verfahren, wie wir jetzt in unseren Reden beobachten, niemals genau erhalten werden, sondern der Weg, der dazu führt, ist weiter und größer, vielleicht aber doch erhalten wir es so, wie es sich zu dem vorher Erklärten und Erwogenen schickt.« (435d1–6) Auf diesen »größeren Weg« kommt Sokrates später wieder zu sprechen (504b–d), und zwar kurz vor der Erörterung der größten Einsicht – in die Idee des Guten –, und im Verlauf des Dialogs wird mehrfach eine genauere Differenzierung der einzelnen Grundvermögen vorgenommen. 53 Bereits durch den Text wird also ein differenzierteres Verständnis als das von einer einfachen Dreiteilung nahegelegt. So schlägt z. B. Arbogast Schmitt vor, in den drei Grundvermögen der Seele komplexe, jeweils Fühlen, Wollen und Erkennen umfassende Strebeformen bzw. Aktivitätseinheiten anzunehmen, die jeweils auf unterschiedliche Erkenntnisformen mit jeweils unterschiedlichen Lusterfahrungen zurückgeführt werden können. 54 Schmitt stützt seine Interpretation darauf, dass Platon das Denken wesentlich als ein Unterscheiden aufgefasst habe und deshalb Wahrnehmung, Meinung und Vernunft hinsichtlich ihrer Unterscheidungsleistung als verschiedene Erkenntnisformen aufgefasst werden könnten. Den Grundvermögen werden wiederum analog die an der Polisgründung gewonnenen Tugenden zugeordnet: Weisheit (soyffla), Besonnenheit (swyrosÐnh) und Tapferkeit (⁄ndreffla). Und die vierte Tugend, die Gerechtigkeit (dikaiosÐnh), besteht auch hier darin, dass jeder Seelenteil das Seinige verrichtet: Der Vernunft obliegt es, weise zu sein und Vorsorge für die ganze Seele zu tragen, d. h., den von sich aus unbegrenzten Begierden ein Maß zu setzen; die Leidenschaft tut das Ihrige, wenn sie als »ein Verbündeter der Vernunft« (xÐmmacon t† lg†w, 440b3; vgl. 441e5 f.) diesem beisteht; und die Begierden, wenn dieser Seelenteil besonnen ist, d. h., die eigene Begrenzung durch Vgl. dazu die Anm. 53 zu 435d4 bei O. Apelt, Platon, Sämtliche Dialoge V, 1998, 470 f. 54 Vgl. dazu A. Schmitt, Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 50 ff.; ders., Die Moderne und Platon, 2003, 283 ff. und 298 ff. Weil diese Interpretation meine Deutung der Teilung, Struktur und Einheit der Seele, worauf sich mein Interesse bezieht, nicht tangiert, ist es auch nicht dringend notwendig, diese sehr differenzierte Auslegung von Schmitt zu übernehmen, obwohl vieles für seine Interpretation spricht. 53
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die Vernunft akzeptiert und der Vernunft nicht den Herrschaftsanspruch in der Seele streitig macht (442c f.), sondern wie die anderen zwei Strebungen sich dem idealen Über- und Unterordnungsverhältnis in der Seele gemäß ausrichtet. In dieser letzten Bedeutung kommt allen drei Strebungen die Tugend der Besonnenheit zu. Ihre jeweilige Bestheit, ihre ⁄retffi, können die einzelnen Vermögen aber nur unter der Voraussetzung erreichen, dass jedes Vermögen »das Seinige tut«: Das bedeutet einerseits, dass es nur das tut, was es und nur es selbst jeweils am besten kann, wofür es und nur es selbst die dafür notwendige Kompetenz besitzt, und andererseits, dass es in den Bereichen, wo die anderen zuständig sind, ihnen dort bereitwillig die Wirksamkeit und Kompetenz überlässt. Nach Arbogast Schmitt sind hier »Aspekte der Gleichberechtigung« mit »Aspekten einer hierarchischen Ordnung« verbunden: 55 Jedes Vermögen hat das Recht, sich auf seinem Gebiet optimal zu entfalten, aber nur die Vernunft vermag das Ganze zu überblicken, und in dieser Hinsicht haben sich die beiden anderen Vermögen unterzuordnen. Als Resultat dessen, dass jeder Seelenteil das Seinige tut und dadurch authentisch zur Wirkung kommt, also zur besten Ausprägung der ihm jeweils zukommenden Kompetenz gelangt, ist die Gerechtigkeit zugleich auch die Kraft oder die Tätigkeit der Seele, welche den anderen Tugenden ihr Dasein ermöglicht 56 und die Einheit oder Harmonie der Seele selbst hervorbringt: »In Wahrheit aber war die Gerechtigkeit […], indem einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist und die drei in Zusammenstimmung bringt, ordentlich wie die drei Hauptglieder jedes Wohlklangs, den Grundton und den dritten und fünften, und wenn noch etwas zwischen diesen liegt, auch dies alles verbindet und auf alle Weise einer wird aus vielen, besonnen und wohl gestimmt«. 57 Ebd., 70. Schmitt spricht an dieser Stelle auch von einer »gerechte[n] Aufteilung der gegenseitigen Kompetenzen«. 56 Die Gerechtigkeit ist, »was jenen [den anderen drei Tugenden] insgesamt die Kraft (t¼n dÐnamin) gibt dazusein, und müsse auch jenes, nachdem es nun da ist, erhalten, solange es selbst vorhanden ist« (433b9–c1). 57 T dff ge ⁄lhjff@, toio‰tn mffn ti Æn, £@ ˛oiken, dikaiosÐnh, […] m¼ ¥€santa t⁄lltria pr€ttein kaston ¥n a¢t† mhdþ polupragmone…n pr@ ˝llhla tÞ ¥n t–» 55
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Innerhalb dieser Textstelle ist sehr viel und auch Unterschiedliches gesagt, um die Gerechtigkeit näher zu erläutern. Die metaphorischen Umschreibungen könnten ein Hinweis dafür sein, wie schwierig es ist, dem Inneren des Menschen begrifflich gerecht zu werden. Davon abgesehen, interessiert mich jetzt nur ein Aspekt: der durch die Gerechtigkeit ermöglichte Zusammenhang der Seele bzw. ihrer Grundvermögen. Denn als die harmonisierende Kraft für die Gemeinsamkeit der Tugenden steht die Gerechtigkeit für die gute Verfasstheit der Person, sie ermöglicht die Einheit der Seele ( na genmenon ¥k polln) bzw. deren Harmonie (%rmonffla). Ein Zusammenstimmen von an sich gegensätzlichen und im Konflikt miteinander stehenden Vermögen, das deren Eigenständigkeit und damit auch die Differenzen zwischen den Vermögen gerade nicht aufhebt, sondern diese sogar zur jeweils besten Ausprägung gelangen lässt, kann nicht als bloße Summe der anderen Tugenden aufgefasst werden, sondern die Gerechtigkeit stellt vielmehr eine strukturelle Einheit dar, einen Zusammenhang, der sich nur einstellt, wenn die Seelenteile gegenseitig aufeinander bezogen sind: »Paradoxal formuliert läßt sich sagen, daß die Sinne bei Platon durch eine solche Harmonisierung mit dem Maß der Schönheit, wie es die Vernunft vermittelt, selbst ›vernunftartig‹ sind, indem sie über die Orientierung an der Schönheit mit der Vernunft eine harmonische Einheit bilden. Und entsprechend umgekehrt ist die Vernunft selbst sinnlich, wenn sie sich als maßorientierendes Vermögen für die Sinne begreift, deren Maßstab die höchste Form der Sinneswahrnehmung ist, nämlich die Wahrnehmung der Schönheit selbst.« 58 Die Interpretation der Harmonie der Seele als einer Einheit, in der im gegenseitigen Bezug aufeinander die einzelnen Vermögen sich optimal entwickeln, lässt sich auch sehr gut anhand der von Platon selbst gewählten Metaphorik des Zusammenklangs von drei Tönen verdeutlichen: Es ist davon auszugehen, dass Platon mit der Musiktheorie des Pythagoras vertraut gewesen ist, aber auch unabhängig davon lässt sich zeigen, dass diese Metapher wörtlich zu nehmen ist: Der Zusammenklang der höchsten, der untersten und der mittleren Saite eines Octavuc–» gffnh, ⁄llÞ t† nti tÞ o§ke…a eª jffmenon ka½ ˝rxanta a'tn a¢to‰ ka½ kosmffisanta ka½ yffllon genmenon aut† ka½ xunarmsanta trffla nta, ¯sper ˆrou@ tre…@ %rmonffla@ ⁄tecn@, ne€th@ te ka½ ¢p€th@ ka½ mffsh@, ka½ e§ ˝lla ˝tta metax± tugc€nei nta, p€nta ta‰ta xundffisanta ka½ pant€pasin na genmenon ¥k polln, syrona ka½ rmosmffnon (443c9–e3). 58 E. Rudolph, Odyssee des Individuums, 1991, 28 f. A
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chords (das sind Grundton, Quinte und Oktave, bei einer dorisch gestimmten Kithara die Töne e’, a und e) 59 ist nämlich auch keine bloße Summe, sondern aufgrund des Mitklingens von Obertönen kommt es im Zusammenklang zu einer Überlagerung und Verstärkung dieser Obertöne, und zwar bei allen drei Tönen des Zusammenklangs. 60 Und dieses Klangphänomen macht für unseren Höreindruck den jeweiligen Gesamtklang aus. Die musiktheoretische Metaphorik trägt noch ein Stück weiter: Jeder Seelenteil trifft die für ihn richtige Tonhöhe, wenn er »das Seinige tut«, und im Zusammenklang gelangen die seelischen Vermögen durch die Verstärkung der musikalischen Obertöne zu ihrer je besten Ausprägung. Weil sich dieser Zusammenklang aber nur auf relative Tonhöhen beziehen kann, 61 sind bei diesem nicht die Tonhöhen relevant, das wären sie nur in Bezug auf eine absolute Tonhöhe, sondern die Intervallverhältnisse. Wie der Zusammenklang hinsichtlich der Tonhöhen relativ, aber hinsichtlich der Intervallverhältnisse absolut ist, so kann die Harmonie der Seele kein allgemeines Maß sein, allgemein ist nur das formale Verhältnis der Grundkräfte zueinander.
¯sper ˆrou@ tre…@ %rmonffla@ ⁄tecn@, ne€th@ te ka½ ¢p€th@ ka½ mffsh@ (443d7–e1) bezeichnet den Zusammenklang der drei Hauptsaiten des Oktachords, der höchsten, untersten und mittleren Saite (bezogen auf Tonhöhen): der ne€th (der untersten Saite, wie bei der Gitarre der Diskantsaite – Ton e’), der ¢p€th (der obersten Saite, wie bei der Gitarre der Bass-Saite, also der tiefste Ton e) und der mffsh (der mittleren Saite – Ton a), also keinen Dur-Dreiklang, sondern Grundton, Quinte und Oktave. Schleiermacher übersetzt diese Stelle falsch, weil »ordentlich wie die drei Hauptglieder jedes Wohlklangs, den Grundton und den dritten und fünften« unseren heutigen Dreiklang bezeichnet; hingegen übersetzen Otto Apelt (»als wären es die Haupttöne eines Zusammenklangs, der höchsten, der untersten und der mittleren Saite«) und Rudolf Rufener (»in ein harmonisches Verhältnis gebracht, ganz wie die drei Hauptsaiten eines Instrumentes, die tiefste, die höchste und die mittlere«) die Stelle korrekt, und beide geben gleichfalls korrekte Anmerkungen (Platon, Sämtliche Dialoge V, 1998, 474, Anm. 77; Platon, Der Staat, 1973, 536, Anm. 1). 60 Sicher kommt es auch bei einem Dreiklang zur Verstärkung durch Obertöne, insofern ist die falsche Übersetzung von Schleiermacher nicht so gravierend, allerdings fällt die Verstärkung weniger stark aus als bei der von Platon angegebenen Tonfolge. – Bereits an dieser Stelle ist offensichtlich, dass Platon gerade nicht von einer Unterdrückung der Sinnlichkeit ausgeht und somit nicht, wie oft behauptet, eine strikte Moralphilosophie der Vernunft vertritt. Vgl. dazu das folgenden Kapitel 5.2.2 zum Thema der Selbstbeherrschung und Besonnenheit. 61 Das änderte sich streng genommen erst mit der Festlegung des Kammertons a’ auf 440 Hz auf der 2. Internationalen Stimmtonkonferenz 1939 in London. 59
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Deshalb kann die Harmonie der individuellen Seele im Vergleich mit anderen nur als ein jeweils individuelles Maß verstanden werden. Zu einer Verstärkung der Obertöne gelangen wir nur, wenn wir diese Harmonie in uns entwickelt haben, aber der Zusammenklang ist ein individuell verschiedener, wir tönen sozusagen jeweils anders. Auch unabhängig von dieser Metaphorik kann die Harmonie der Seele nur als eine je individuelle verstanden werden. Nicht nur hinsichtlich unserer Bedürfnisstruktur, z. B. aufgrund verschiedener physischer Konstitution, unterscheiden wir uns notwendig voneinander, nach Enno Rudolph noch viel eher bezüglich unseres mittleren Vermögens, des jumoeidff@: Es sei »die Funktion der Affekte oder Leidenschaften, durch die bei Platon verständlich wird, warum er ausdrücklich im Zusammenhang seiner Analyse nicht von Seele überhaupt, sondern von der Seele eines jeden Einzelnen spricht. Denn es ist nicht nur evident, daß die Begierden je so individuell verschieden sind wie demzufolge auch die jeweils hergestellte innere Einheit der Seele eine individuell unterschiedliche sein muß, sondern es ist noch deutlicher, daß gerade das, was mit dem Begriff des Affektes oder der Leidenschaft bezeichnet wird, nicht auf eine Form zu bringen ist, durch die das Individuelle dem Transindividuellen untergeordnet würde.« 62 Den Einklang oder die Harmonie der individuellen Seele habe ich bisher als ein individuelles Maß bezeichnet, jetzt kann man hinzufügen: Gerechtigkeit ist nicht, das Beste zu tun, sondern sein Bestes. Aber auch für den Einzelnen selbst kann seine Gerechtigkeit nicht als ein statischer oder von vornherein stabiler Zustand angemessen verstanden werden: Wie wir aus dem Symposion wissen, gehören wir auch der herakliteischen Welt des Werdens an, unser Begehren und Gefühl, ja, auch die Erkenntnisse sind stetigen Veränderungen ausgesetzt. Natürlich ist die Bedürfnisstruktur des Einzelnen nicht ständig prinzipiellen Modifikationen unterworfen, aber in der Zeit ist doch von einer durch das jeweilige Lebensalter bedingten Änderung der Bedürfnisse auszugehen. Bedenkt man dazu noch die sich ständig ändernden Situationen, in welchen sich die individuelle Einheit immer wieder neu einstellen muss, so wird die »Flexibilität« der individuellen Harmonie endgültig offensichtlich. Dabei ist sie nicht jedes Mal eine völlig ande-
62 E. Rudolph, Odyssee des Individuums, 1991, 31. Rudolph übersetzt jumoeidff@ mit »Leidenschaften« und zählt neben der Affektivität gleichfalls das Temperament dazu.
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re, sondern Gerechtigkeit ist eine individuelle Disposition, die sich zwar jeweils neu zu erweisen hat, der aber auch eine Einheitlichkeit und gewisse Stabilität, wie der Begriff der Disposition bereits nahelegt, zukommen kann und sogar soll. 63 Die Harmonie der eigenen Seele kann nur jeder selbst hervorbringen. Weil damit nichts anderes als ein Selbstverhältnis bezeichnet wird, kann es auch aus Sicht von Enno Rudolph dafür keinen Stellvertreter geben: »Zum einen geht es um die innere Zusammenstimmung der einzelnen ›Teile‹ der Seele untereinander, zum anderen um die Authentizität der Teile selbst. Man könnte – moderner formuliert – von einem doppelten ›Selbstverhältnis‹ sprechen, welches nicht vorgegeben, sondern aufgegeben ist, und das die Seele jeweils in sich selbst zu finden und zu entwickeln hat.« 64 Deshalb spricht Sokrates auch von der Gerechtigkeit des Einzelnen als einer inneren Tätigkeit, die sich »nicht an den äußeren Handlungen in bezug auf das, was dem Menschen gehört, sondern an der wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige« ausbildet. 65 Diese Ausdrücklichkeit des inneren Selbstverhältnisses ist im Vergleich zu den bisher behandelten Dialogen neu. Aus dem Gorgias ist uns zwar bereits die Übereinstimmung mit sich selbst bekannt. Stand dort die Konsistenz im Reden und Handeln im Vordergrund und konnte diese Übereinstimmung nur unter Zuhilfenahme des Mythos von den Wasserträgern und der angedeuteten Ordnungsstruktur der Seele als eine der Seelenteile interpretiert werden, so bezieht sich jetzt in der Politeia die Harmonie bzw. der Zusammenklang direkt auf die Seele selbst. Diese Weiterführung kann man auch daran sehen, dass erst in der Politeia, und nicht bereits im Gorgias, Platon den Terminus ¥nt@ (innen) gebraucht. 66 Mit diesem
Vgl. dazu bes. Kapitel 5.2.4 unten. Ebd., 25. 65 o' per½ t¼n ˛xw pr”xin tn a¢to‰, ⁄llÞ per½ t¼n ¥nt@, £@ ⁄lhj@ per½ autn ka½ tÞ auto‰ (443d1 f.). Otto Apelt und auch Rudolf Rufener beziehen ⁄lhj@ nicht auf die innere Tätigkeit, sondern auf das Selbst bzw. die individuelle Seele. Vgl. Apelt: »sondern in bezug auf seine innere Tätigkeit, die ja doch sein wahres Selbst und wahrhaft das Seinige ist«, bzw. Rufener: »doch nicht in bezug auf das äußere Handeln der Teile des Menschen, sondern auf das innere, bei dem es wirklich um ihn selbst und um seine Sache geht«. 66 Platon spricht auch vom »des Menschen innerer Mensch« (to‰ ⁄njrðpou ¡ ¥nt@ ˝njrwpo@, 589a8–b1). Vgl. dazu die Belegstellen zu ¥nt@ bei F. Ast, Lexicon Platonicum, Bd. 1, 1908, 727. 63 64
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Verständnis von Gerechtigkeit hat er nichts anderes als »the dimension of the ›inner‹ personality« eröffnet. 67 Wir hatten gesehen, wie die Parabel vom Ring des Gyges die Frage nach der Motivation zu gerechtem Handeln derart radikalisiert, dass eine Beantwortung nach konventionellem Verständnis von Gerechtigkeit und in Orientierung an externen Gründen sich de facto selbst desavouiert. Wenn es denn wirklich Gründe für gerechtes Handeln geben soll, dann können, ja, dann müssen sie quasi als ihre einzige Möglichkeit das Selbstverständnis des Individuums betreffen. Dem entspricht das bisher im Dialog entwickelte Konzept einer völlig anders zu verstehenden Gerechtigkeit: Sie bezieht sich nicht mehr auf äußere Handlungen und deren positive oder negative Konsequenzen. Externe Gründe für gerechtes oder ungerechtes Handeln, ob gesetzliche Festlegungen oder die Anwesenheit anderer, sind für die Beantwortung der Frage, warum man gerecht handeln soll, gegenstandslos. Gerechtigkeit wird jetzt als ein durch seine Bestheit ausgezeichnetes Selbstverhältnis des handelnden Individuums verstanden. Die damit vollzogene zweifache Zurückführung ist offensichtlich: von der äußeren Handlung auf den Handelnden selbst und von der Frage nach der Gerechtigkeit auf den Gerechten. Weil Gerechtigkeit als Harmonie der individuellen Seele zu begreifen ist, kann das platonische Prinzip der Gerechtigkeit kein allgemeines Gesetz, sondern nur ein Prinzip sein, das von individuellen Differenzen ausgeht und diese ausdrücklich zulässt. Aber reichen diese Ausführungen bereits aus, mein Gegenüber von der Gerechtigkeit, besser: von seinem Gerechtsein-Sollen zu überzeugen?
5.2.2
Einer sein – Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln
Im letzten Kapitel habe ich anhand der Metapher der Harmonie die Gerechtigkeit als eine nur individuell zu verstehende Disposition der menschlichen Seele interpretiert. Neben der Musikmetaphorik gibt es eine Reihe weiterer Kennzeichnungen, die Platon zu einer näheren Bestimmung dessen, was Gerechtigkeit sei, gebraucht und denen ich mich in diesem Kapitel zuwende: Die Gerechtigkeit bestehe darin, dass einer »sich selbst beherrscht und ordnet (˝rxanta a'tn a¢to‰ ka½ kosmffisanta)« und »die drei in Zusammenstimmung bringt […], und wenn 67
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noch etwas zwischen diesen liegt, auch dies alles verbindet (p€nta ta‰ta xundffisanta) und auf alle Weise einer wird aus vielen ( na genmenon ¥k polln), besonnen (sðyrona) und wohl gestimmt« (443d5–e3). 68 »Sich selbst beherrschen« (˝rcein a¢to‰), »sich selbst überlegen sein« bzw. »seiner selbst Herr sein« (krefflttwn auto‰, vgl. 430e7 f., oder auch: ¥gkrat¼@ auto‰), »sich selbst ordnen«, »besonnen sein« (sðyrwn) – das sind alles Umschreibungen dafür, dass jedes Strebevermögen der Seele nur die ihr von Natur zukommende Funktion erfüllt, sodass sich als Resultat eine innere Ordnung einstellt, in der man aus vielen – einer wird. Die Dualität mit sich selbst ist uns bereits aus dem Hippias maior bekannt, in Gestalt des Gesellen, der Sokrates zu Hause, also im Nachhinein des Handelns, gegenübertritt. Jetzt wird von vielen, die zu einem werden sollen, gesprochen. Angesichts der dreigeteilten Seele überrascht das nicht. Aber dieser Zusammenhang ist nicht so unverfänglich, wie man vielleicht beim flüchtigen Lesen meinen könnte. Im X. und letzten Buch der Politeia verweist Sokrates auf die Stelle im IV. Buch zurück (439c–441c), an der zunächst der begehrende als zweiter und dann der eifernde als dritter Seelenteil gewonnen wurden, und zwar anhand von Beispielen, die jeweils auf eine innere Widersprüchlichkeit in uns selbst verweisen. Über diese sei man sich bereits zu diesem früheren Zeitpunkt einig geworden, stellt er fest: »Ist nun in allem diesem der Mensch etwa einstimmig mit sich (¡monohtik@ ˝njrwpo@ di€keitai)? Oder wie er in Sachen des Gesichtes uneins war (¥stasfflazen) und über dieselben Gegenstände zu gleicher Zeit entgegengesetzte Vorstellungen in sich hatte, schwankt (stasi€zei) er nicht ebenso auch in seinen Handlungen und liegt selbst mit sich im Streit (m€cetai a't@ a¢t†)? Doch ich erinnere mich, daß wir hierüber jetzt gar nicht nötig haben etwas abzumachen, denn wir haben in unseren Reden schon oben alles dieses zur Genüge nachgewiesen, daß unsere Seele von viel tausend solchen gleichzeitig vorhandenen Widersprüchen (murfflwn toioÐtwn ¥nantiwm€twn ¿ma gignomffnwn) voll ist.« (603c11–d7) Unsere Seele ist also keineswegs von sich aus in Harmonie, auch nicht nur gelegentlich in sich widersprüchlich, sondern im Gegenteil: Ihr »normaler« Zustand ist gerade dadurch charakterisiert, dass in ihr 68 Die Charakterisierung der Gerechtigkeit als Freund seiner selbst (yffllo@ aut†, 443d6) behandle ich im Kapitel 5.2.4 unten.
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viele Widersprüche und diese gleichzeitig vorhanden sein sollen. In uns ist von Natur aus ein Konflikt angelegt, in unserer Seele sind Gegensätze wirksam. Die Agonalität menschlichen Lebens, durch welche der Mensch zur Auseinandersetzung mit seinesgleichen veranlagt ist, beginnt bereits in der eigenen Seele, durch die unterschiedlich ausgerichteten Kräfte entsteht »der äußerste Kampf der Seele« (⁄gn ˛scato@ vuc–», Phdr. 247b6). 69 Wie machtvoll Platon den begehrenden Seelenteil jeweils ins Bild bringt, zeigt nur zu deutlich, welche Bedeutung er diesem im Kräftehaushalt des Menschen attestiert, ist es doch auch »das meiste […] in der Seele eines jeden und seiner Natur nach des Unersättlichste«. 70 Es ist das Strebevermögen, das sich der Vernunft von sich aus widersetzt, und nur wenn seine Wirksamkeit nicht unterschätzt wird, wird der zu leistende Ausgleich zu einem philosophisch ernst zu nehmenden Problem. Auffällig ist die Begrifflichkeit, mit der Platon diesen innerseelischen Konflikt beschreibt: Neben Redewendungen wie »sich selbst Feind sein« (¥cjr@ e nai aut†) oder »mit sich selbst im Streit liegen« (m€cesjai aut†) finden sich in nahezu allen relevanten Stellen in den Dialogen der Begriff der Stasis (st€si@) und dessen Ableitungen: der Aufruhr, der Zwiespalt oder die innere Unruhe und letztlich der Bürgerkrieg innerhalb einer Polis. 71 Die begriffliche Unterscheidung zwischen dem plemo@ als dem Krieg mit einer anderen Polis und der st€si@ als dem Bürgerkrieg innerhalb einer Polis gehörte zur Zeit Platons bereits zum festen Sprachgebrauch. Die Bedeutung des 69 So wird auch in den Nomoi festgestellt, »daß in jedem von uns ein Krieg gegen uns selbst stattfindet« (£@ polffmou ¥n k€stoi@ mn nto@ pr@ m”@ a'toÐ@, 626e5). Gleichfalls sei an das Bildnis von der dreigestaltigen Seele erinnert, zusammengewachsen aus einem vielgestaltigen, zugleich zahmen und wilden Tier, einem Löwen und des Menschen innerer Mensch (R. 588b ff.), oder an das Bildnis vom Seelenwagen im Phaidros (246a ff.), der Seele als Gespann zweier, eines guten und eines schlechten Pferdes und eines Führers: Widersetzt sich das schlechte Pferd, entsteht dieser äußerste Kampf in der Seele, drastisch dargestellt in der dramatischen Schilderung der Zähmung des schlechten Pferdes. In beiden Bildnissen werden die innere Dissonanz der Seele und die Mächtigkeit der Gegensätze eindrucksvoll anschaulich. 70 ple…ston t»@ vuc»@ ¥n k€st†w […] ka½ crhm€twn yÐsei ⁄plhsttaton (R. 442a6 f.). 71 Die Häufigkeit und die durchgängige Verwendung dieses Begriffes sind ein deutliches Indiz dafür, dass eine bei Platon feststehende Terminologie vorliegt. Vgl. zu den relevanten Stellen und zur Verwendung dieser Begrifflichkeit im platonischen Œuvre die angegebenen Stellen bei F. Ast, Lexicon Platonicum, Bd. 3, 1908, 271 f.
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Phänomens der st€si@ in der griechischen Geschichte wird angesichts ihrer Wirkungen deutlich: Die wichtigsten geschichtlichen Vorgänge hatten ihren allerersten Anlass in inneren Unruhen in den Poleis. Für die Griechen nur allzu gut bekannt, war die st€si@ zwar kein allgegenwärtiges Phänomen, aber selbst in Zeiten der inneren Ruhe waren die Voraussetzungen für den Ausbruch eines Bürgerkriegs immer latent vorhanden. Seit Herodot galt sie sogar als das schlimmste Übel: »denn Zwietracht im Innern ist um so viel schlimmer als ein einmütig geführter Krieg, wie Krieg schlimmer ist als Friede«. 72 Platon verwendet diese begriffliche Unterscheidung nicht nur im politischen Zusammenhang, 73 sondern er ist der Erste, der die politische Begrifflichkeit auf das einzelne Individuum überträgt: Das Mutartige ergreife, so können wir in der Politeia lesen, »in dem Zwiespalt der Seele (¥n t–» t»@ vuc»@ st€sei) die Waffen für das Vernünftige« (440e4 f.). 74 Aber was ist damit geleistet? Gewiss ergibt sich die Mög72 st€si@ gÞr ˛myulo@ polffmou ¡moyronffonto@ tosoÐt†w k€kin ¥sti ˆs†w plemo@ e§rffinh@ (8, 3, 1). Vgl. dazu H.-J. Gehrke, Stasis, 1985, 1 f. (mit Angabe weiterer Belege in der griechischen Literatur) und 355 ff. 73 Vgl. z. B. R. 470b5–10: »Mir scheinen nämlich, wie sie ja auch als zwei Wörter gesprochen werden, Krieg und Fehde [Zwietracht, Zwist, Anm. d. Bearb.], so auch zweierlei zu sein und sich auf zwei verschiedene Dinge zu beziehen; nämlich von diesen zweien ist das eine Befreundetes und Verwandtes, das andere Fremdes und Ausländisches. Für Feindschaft nun mit dem Befreundeten brauchen wir das Wort Fehde, mit dem Fremden aber Krieg.« (Fafflnetaffl moi, ¯sper ka½ ¤nom€zetai dÐo ta‰ta ¤nmata, plem@ te ka½ st€si@, o˜tw ka½ e nai dÐo, nta ¥p½ duo…n tinoin diayora…n. Lffgw dþ tÞ dÐo t mþn o§ke…on ka½ xuggenff@, t dþ ⁄lltrion ka½ ¤jne…on. 3Ep½ mþn oªn t–» to‰ o§kefflou ˛cjra st€si@ kffklhtai, ¥p½ dþ t–» to‰ ⁄llotrfflou plemo@.) Vgl. auch Lg. 628a9–b2 und 629c ff. Carl Joachim Classen verweist sogar auf eine begriffliche Schärfung bei Platon: Er habe die st€si@ weniger in der Bedeutung von Aufstand als vielmehr im Sinne von Uneinigkeit und Zwietracht im Blick und deshalb an manchen Stellen sprachliche Ersetzungen vorgenommen oder Erläuterungen hinzugefügt: ¥pan€stasi@ (R. 444b3), st€si@ d¼ ka½ ⁄ntfflstasi@ ka½ m€ch (560a1 f.) und Lg. 744d5: die größte Krankheit in der Polis solle man richtiger Spaltung (di€stasi@) als Aufruhr (st€si@) nennen (Sprachliche Deutung, 1959, 3 f.). 74 Vgl. auch 444b1–3: »Muß sie [die Ungerechtigkeit] nun nicht ihrerseits ein Zwiespalt eben dieser drei sein und eine Vieltuerei und Fremdtuerei und ein Aufstand irgendeines Teiles gegen das Ganze der Seele« (O'ko‰n st€sin tinÞ aª trin ntwn toÐtwn de… a't¼n e nai ka½ polupragmosÐnhn ka½ ⁄llotriopragmosÐnhn ka½ ¥pan€stasin mffrou@ tin@ t† ˆl†w t»@ vuc»@). Auch Aristoteles gebraucht die st€si@-Begrifflichkeit in Bezug auf den Menschen, und zwar bei der Charakterisierung der Minderwertigen: »es ist (eine Art) Parteienzwist in ihrer Seele (stasi€zei gÞr a'tn vucffi); […] der eine Teil zieht hierhin, der andere dorthin, als wollten sie [die Seelenteile] (den Unglücklichen) in Stücke reißen (diaspnta)« (EN 1166b19–22).
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lichkeit, »quite a new level of metaphorical language to illustrate the ›inner‹ dimensions«, und weil der politische Diskurs als auch die realen politischen Erfahrungen »narrative models to describe all kinds of dramatic events and conflicts, of breakdown and dominance within the soul« liefern, konnte die Seele »a battlefield in Platonic language« werden. 75 Aber die systematisch wichtige Einsicht liegt auch hier in der Analogie zwischen Polis und Individuum: Wie die Polis als eine politische Einheit aufzufassen ist, so der Einzelne als eine politische Einheit, weil das Individuum nicht von vornherein ein Handlungssubjekt in der Bedeutung einer unteilbaren Entität ist, sondern im Individuum ist ein Konflikt von sich widersprechenden Kräften angelegt, und erst in der Überwindung dieses Konflikts ist der Einzelne überhaupt handlungsfähig. Ist die Einigkeit mit sich selbst nicht hergestellt, ist jedes Handlungssubjekt gleich welcher Art handlungsunfähig (vgl. 351e10– 352a3). So bewirkt die derart verstandene Ungerechtigkeit auch im Fall des Ungerechten Nämliches: »Zuerst wird sie ihn unfähig machen, etwas auszurichten, weil er im Zwiespalt ist und nicht einig mit sich selbst, dann auch feind sich selbst und den Gerechten.« 76 Selbst eine Räuberbande muss, wie Platon zeigt, untereinander einig sein, um Ungerechtes ausführen zu können, d. h., gemeinschaftliches Tun einer ungerechten Handlung setzt innerhalb des jeweiligen Handlungssubjektes selbst Gerechtigkeit voraus. Im anderen Fall ist man unvermögend, »gemeinschaftlich miteinander etwas auszurichten« (koin–» met’ ⁄llffilwn pr€ttein, 351e1 f.). Nach diesem Verständnis von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als Einigkeit und Zwietracht hebt sich die Ungerechtigkeit als Handlungsprinzip selbst auf, weil sie Handlungsunfähigkeit bewirkt. 77 Hier liegt uns ein erneutes Beispiel für Platons individualitätstheoretischen Ansatz vor: Das Verhältnis des Einzelnen zu einem anderen, allgemein gesagt: sein Weltverhältnis wird auf sein eigenes Selbstverhältnis zurückgeführt, denn er ist nur handlungsW. Burkert, Towards Plato and Paul, 1998, 77 f. Neben 440c f. und 441b verweist Burkert auch auf 560a1–3. Vgl. zur Bedeutung des inneren Konflikts auch G. M. A. Grube, Plato’s Thought, 1980, 133: »Far from being a ›primitive view‹, this ist very advanced; one of the most startlingly modern things in Platonic philosophy is just this discovery of the importance of conflict in the mind.« 76 prton mþn ⁄dÐnaton a'tn pr€ttein poiffisei stasi€zonta ka½ o'c ¡monoo‰nta a'tn aut†, ˛peita ¥cjrn ka½ aut† ka½ to…@ dikaffloi@ (352a7–9). 77 Der Zusammenhang zwischen Ungerechtigkeit und Handlungsunfähigkeit bzw. Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit wird weiter unten noch näher behandelt. 75
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fähig, wenn er mit sich selbst einig ist. Erinnern wir uns an den Gorgias, als Sokrates vorschlug, dass der über andere Herrschende auch sich selbst beherrschen soll (491d3 ff.). Diese Zurückführung der Herrschaft über andere auf die Herrschaft über sich selbst, die im Gorgias nicht weiter ausgeführt wurde, ist jetzt nachvollziehbar: Die Bedingung für die Herrschaft über andere ist die Herrschaft über sich selbst bzw. die Selbstbeherrschung, weil ich nur unter dieser Voraussetzung überhaupt handlungsfähig bin und insofern über andere zu herrschen vermag. Die Einmütigkeit mit sich selbst in Hinblick auf die Handlung muss also immer erst hergestellt werden und setzt den inneren Konflikt und dessen Überwindung bereits voraus. Nicht erst im sozialen oder politischen Zusammenhang, sondern bereits in uns selbst erheben wir als diejenigen, die handeln wollen, den Anspruch auf Konsens unter den Bedingungen des inneren Widerstreits, ja, man könnte sogar berechtigt von einer Parallelität von Konflikt und Konsens sprechen. 78 Aber lässt sich noch genauer bestimmen, was es heißt, dass aus vielen einer wird? An der bereits mehrfach zitierten Stelle aus dem IV. Buch der Politeia folgt in der Reihe der Erläuterungen für die Gerechtigkeit der Umschreibung, dass »auf alle Weise einer wird aus vielen«, der Begriff besonnen (sðyrwn, 443e3). Unter »Besonnenheit« (swyrosÐnh) versteht Platon die Beherrschung der eigenen Begierden, »eine Mäßigung gewisser Lüste und Begierden« ( donn tinwn ka½ ¥pijumin ¥gkr€teia, 430e7). 79 Der Begriff der Enkrateia (¥gkr€teia) wird nahezu synonym für Sophrosyne verwandt, und dieser Begriff kommt auch in seiner reflexiven Form vor: ¥gkr€teia auto‰ (390b3), wodurch das der Besonnenheit zugrunde liegende Selbstverhältnis nun auch begrifflich akzentuiert wird und Sophrosyne auch mit Selbstbeherrschung übersetzt werden kann. 80 Für Selbstbeherrschung gibt es wiederum einen weiteren zu Platons Zeiten gebräuchlichen Ausdruck: krefflttwn auto‰, was soviel heißt wie: »sich selbst überlegen« 78 »Müssen wir nicht einen jeden von uns an sich als einen ( na mþn mn kaston a'tn) betrachten? […] Der aber in sich selbst zwei einander entgegengesetzte und unverständige Ratgeber hat, die wir Lust und Schmerz nennen?« (Lg. 644c4–7) Otto Apelt übersetzt die Stelle wie folgt: »daß jeder von uns für sich eine Person ist«. 79 Dieses Verständnis ist uns bereits aus dem Gorgias bekannt: 491d9–e1. Vgl. dazu das Kapitel 4.2.2 oben. 80 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. R. Bubner, Artikel Besonnenheit, 1971; P. Hadot, Artikel Selbstbeherrschung, 1995.
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oder »stärker als er selbst sein«, »seiner selbst mächtig« oder »Herr seiner selbst sein«, und das Gegenteil: `ttwn auto‰, in der Bedeutung von »sich selbst unterlegen« sein. Wie Sokrates selbst bemerkt, ergäbe diese Rede keinen Sinn, wenn es in der Seele nicht einen besseren und einen schlechteren Teil gäbe, und unter dieser Voraussetzung erschließt sich die Bedeutung des Ausdrucks krefflttwn auto‰: »wenn nun das von Natur Bessere über das Schlechtere Gewalt (¥gkratff@) hat, dies nennt sie [die vorhergehende Erklärung] stärker sein als er selbst (t krefflttw a¢to‰)«, wenn aber »von der Menge des Schlechteren das kleine Bessere überwältigt wird, […] dies schwächer sein als er selbst (`ttw auto‰)« (431a6–b2). Der Vernunft als dem besseren Teil kommt es zu, über den schlechteren Teil der Seele, dem Begehrlichen, zu herrschen. 81 Und nur in diesem Fall, wenn der ganze Mensch seiner Vernunft folgt, kann man davon sprechen, dass er sich selbst besiegt hat bzw. sich selbst überlegen ist, im anderen Fall, wenn die Begierden den Ausschlag gegeben haben, ist er sich selbst unterlegen. 82 Es ist naheliegend, in der Rede von einem Besseren und einem Schlechteren in der menschlichen Seele eine Abwertung der menschlichen Begehrensstruktur und in der Herrschaft der Vernunft eine Unterdrückung menschlichen Begehrens zu sehen. Ausgehend von diesem Verständnis ist Platons Ethik oft in die Tradition der Moralphilosophie der Vernunft gestellt und auch als Vorläufer Kants genannt worden. 83 Gewiss ist richtig, dass Platon der Vernunft bzw. dem ver81 Dieses übliche Verständnis der Besonnenheit als Herrschaft des rationalen Seelenteils über den irrationalen Teil der Seele bzw. als Unterordnung von diesem unter jenen findet man exemplarisch bei P. Hadot, Artikel Selbstbeherrschung, 1995, 325. 82 Eine bis in die Begrifflichkeit hinein analoge Erläuterung und Bewertung der Selbstbeherrschung finden sich in den Nomoi: zunächst am Beginn des Dialoges, wo die Gesprächspartner sich Klarheit darüber verschaffen, worin das eigentliche Ziel und das Selbstverständnis der Polis bestehen (626e ff.). In diesem Zusammenhang wird der Sieg über sich selbst als der erste und beste Sieg von allen bezeichnet und die Überlegenheit über sich selbst als die Herrschaft des Besseren über das Schlechtere bestimmt. Noch im Buch I, also wenig später, wird anhand des Bildes vom Menschen als einer Marionette ein weiteres Mal erörtert, was unter Selbstbeherrschung zu verstehen sei: Wer dem goldenen Draht, der vernünftigen Überlegung (logism@), folgt, ist sich selbst überlegen, wer den anderen Drähten, der Lust und dem Schmerz sowie der durch diese geprägten Zuversicht oder Furcht, folgt, der unterliege sich selbst (644c ff.). 83 Exemplarisch sei verwiesen auf Ch. Taylor, Quellen des Selbst, 1999, 217: »In gewissem Sinne kann man Platon als Schlüsselfigur bei der Durchsetzung dieser dominierenden Moralphilosophie [der Vernunft] ansehen.« Vgl. auch Kapitel 6: Platonische Selbst-
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nünftigen Seelenteil bei der Bildung und Selbstbildung des Einzelnen eine große Bedeutung zuspricht. Nicht ohne Grund wird allein die Vernunft als des Menschen innerer Mensch (to‰ ⁄njrðpou ¡ ¥nt@ ˝njrwpo@, 589a8–b1) bezeichnet und mehrfach als das Göttliche in der menschlichen Seele ausgezeichnet. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass das eigentliche Problem in der Verfassung der Seele insgesamt besteht, was allein schon anhand der vier Tugenden bereits hinreichend deutlich wird, sodass das Verhältnis zwischen Vernunft und Begierden nicht mit den Begriffen des Befehlens und Gehorchens, wie sie Nietzsche gebrauchte, 84 wirklich angemessen beschrieben werden kann. Die Rede vom Besseren und Schlechteren erschließt sich erst, wenn man fragt: In welcher Hinsicht soll das eine besser sein als das andere? Jede Sache hat nach allgemein griechischem Verständnis ihr eigenes ˛rgon bzw. ihre eigene Funktion, und diese Funktion erfüllt die Sache am besten, wenn sie gut ist, wenn sie ihre ⁄retffi erreicht hat. Nicht dem Begehren, sondern der Vernunft obliegt die Aufgabe, für das Ganze zu sorgen: »Nun gebührt doch dem Vernünftigen zu herrschen, weil es weise ist und für die gesamte Seele Vorsorge hat?« 85 Denn allein die Vernunft vermag das Ganze eines Lebenszusammenhanges und nicht nur einen Einzelaspekt zu überblicken. Die Distanzierung vom jeweiligen Augenblick ist nötig, sobald wir nach dem für uns Guten fragen, dem guten Leben in seiner Gesamtheit. Dann reicht das Angenehme oder Unangenehme, die Lust oder der Schmerz als Maßbeherrschung, ebd., 223 ff. Dazu kritisch P. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe, 2000, 315 f. und 323 f. 84 Vgl. zur Begrifflichkeit des Befehlens und Gehorchens bei F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 19, KSA 5, 32 f.: »Ein Mensch, der will –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist […]: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen«. 85 O'ko‰n t† mþn logistik† ˝rcein prosffikei, soy† nti ka½ ˛conti t¼n ¢pþr %p€sh@ t»n vuc»@ promffijeian (441e4 f.). Vgl. auch 442c5–8: »Und weise [nennen wir jeden Einzelnen] durch jenen kleineren Teil, welcher in ihm herrscht und dieses verkündigt, indem auch in dem Einzelnen dieser Teil in sich hat die Erkenntnis dessen, was einem jeden und dem Ganzen, aus allen dreien gemeinsam, zuträglich ist.« (Soyn dff ge ¥keffln†w t† smikr† mffrei, t† ˚ Ærcffn t’ ¥n a't† ka½ ta‰ta parffiggellen, ˛con aª k⁄ke…no ¥pistffimhn ¥n a¢t† t¼n to‰ xumyffronto@ k€st†w te ka½ ˆl†w t† koin† syn a'tn trin ntwn.)
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stab der Beurteilung nicht mehr aus, weil das Angenehme, gebunden an den jeweiligen Augenblick seiner Erfahrbarkeit, aus der Perspektive des guten Lebens für das eigene Wohl nicht zuträglich sein muss. Deshalb ist nicht die Hinnahme der Begierden, sondern ihre Bewertung unerlässlich. Und diese Aufgabe kann nur die Vernunft erfüllen, nicht die Begierden, ja, sie wären sogar schlichtweg überfordert, sowohl mit Blick auf die gesamte Seele und deren Lebenszusammenhang als auch für sich selbst: Indem sie das ihnen zuträgliche Maß überschreiten, erreichen sie gerade nicht das Optimum der ihnen zukommenden Kompetenz, anders gesagt: Das Maß, welches den Begierden durch die Vernunft gesetzt wird, ermöglicht ihnen allererst, ihr Optimum zu erreichen. Nur in dieser Hinsicht der Aufteilung der unterschiedlichen Kompetenzen gibt es eine Hierarchie der Seelenteile, wenn die Vernunft den Begierden ihr Maß setzt und die Begierden sich diesem von der Vernunft gesetzten Maß fügen. »Das Wissen kann sich nicht nur gegen das Begehren behaupten, es kann dieses auch bestimmen, und dabei wird das Begehren keineswegs unterdrückt, im Gegenteil: ein Begehren, das der Einsicht, dem Wissen, entspricht, kann sich frei entfalten. […] Wissen und Begehren sind nun versöhnt« – versöhnt, indem man begehrt, das als richtig Eingesehene auch tun zu wollen, versöhnt, indem das Wissen vom guten Leben in seiner Gesamtheit selbst begehrenswert ist. 86 Von diesem von Gewalt und Unterdrückung freien Verhältnis zwischen Vernunft und Begehren ist in den Dialogen selbst die Rede: So soll des Menschen innerer Mensch, das Vernünftige in der Seele, keineswegs das vielköpfige Geschöpf, das Begehrliche, unterdrücken, sondern sich dessen annehmen (¥pimele…sjai), »wie ein Landmann das zahme nährend und aufziehend, dem wilden aber, nachdem er sich die Natur des Löwen zu Hilfe genommen, wehrend, daß es nicht wachse, auf daß er so, für alle gemeinsam sorgend (koin–» p€ntwn khdmeno@), nachdem er sie untereinander und mit ihm selbst befreundet (yfflla poihs€meno@ ⁄llffiloi@ te ka½ a¢t†), sie so erhalte« (589b2–6). Und in den Nomoi wird derjenige Richter als der beste bezeichnet, der es vermag, einen inneren Streit nicht durch Beseitigung der Schlechteren, auch nicht dadurch, dass diese sich freiwillig der Herrschaft der Besseren unterwerfen, sondern allein durch Versöhnung (¢p diallagn, 628b8; vgl. auch a1) zu beenden. Versöhnung bedeutet – freiwillige Überzeugung, der Konflikt zwischen verschiede86
G. Figal, Das Untier und die Liebe, 1991, zit. 22 und 24 f. A
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nen Parteien wird nach heutiger Begrifflichkeit durch Konsens überwunden. Aus heutiger Sicht mag es zunächst erstaunen, in welchem Umfang und mit welcher philosophischen Ernsthaftigkeit Platon das Problem der Selbstbeherrschung als Umgang mit dem eigenen Begehren behandelt: »Wenn Menschen aber über Gesetze eine Untersuchung anstellen, dann gilt fast die ganze Untersuchung den Lust- und Schmerzgefühlen in den Staaten wie in den Gemütern der einzelnen. Denn diese beiden Quellen läßt die Natur frei dahinströmen, und wer aus ihnen schöpft, wo und wann und soviel sich gehört, der ist glücklich, und zwar ein Staat ebenso wie ein einzelner Mensch und überhaupt jedes Lebewesen; wer das aber ohne Verstand und zur unrechten Zeit tut, dem dürfte wohl ein jenem entgegengesetztes Leben beschieden sein.« (636d5–e3) 87 Den Grund dafür kann man sich schnell klarmachen: Die Begierden, die Lust und die Unlust oder wie immer man sie benennen mag, sind für uns Menschen in unserer Lebendigkeit unsere ständigen Begleiter. 88 Wir können uns nicht von ihnen derart distanzieren, dass wir ohne sie sein könnten, angesichts ihrer Mächtigkeit wäre es auch kontraproduktiv, sie unterdrücken zu wollen, weil man in diesem Fall die gesamte Aufmerksamkeit und Energie dazu verwenden müsste, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten. Was wir vermögen, das ist, dass wir uns zu unserem eigenen Begehren unterschiedlich verhalten können. Wie das Begehren durch das Wissen »wissender« werden kann, so sollte das Wissen selbst mit Lust begehrenswert sein, mit anderen Worten: Unsere Affektivität muss als das anerkannt werden, was uns auch in unseren Tugenden trägt, es gilt, die affektive Seite menschlichen Seins zu kultivieren. Diese Zusammenhänge unserer Lebendigkeit hat Platon sehr genau gesehen, auch in ihrer Bedeutung für die Ethik, die von der Ganzheitlichkeit des Lebensvollzuges auszugehen hat, will sie denn zur Selbsterkenntnis menschlichen Seins beitragen. Vgl. auch Aristoteles, EN 1105a12 f.: »Denn wer diese beiden [Lust und Unlust] richtig in sein Leben einbezieht, wird ein trefflicher Mann – wer es falsch macht, wird schlecht.« 88 »Und auch mit […] allem, was es der Begierde Angehöriges oder der Lust und Unlust Verwandtes in der Seele gibt, wie wir denn zugeben, daß dieses uns durch alle Verhältnisse begleitet (p€s–h pr€xei m…n pesjai)« (R. 606d1–3). Vgl. auch Lg. 732e4–7: »Etwas wesenhaft Menschliches sind nun vor allem Lust und Schmerz und Begierden, an die mit Notwendigkeit jedes sterbliche Wesen geradezu wie festgebunden und aufgehängt ist mit seinen ernstesten Bestrebungen.« 87
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Die Bedeutung der Selbstbeherrschung reicht so weit, dass in den Nomoi zur Erziehung und Selbsterziehung zur Besonnenheit eigens eine bereits bestehende, jetzt mit anderer Zielsetzung verbundene Institution genutzt wird: das Symposion. 89 Als erste Institution, die in diesem Dialog überhaupt besprochen wird, erfährt das ehemalige Trinkgelage eine Aufwertung zu einem Beispiel kultivierten Lebens: Unter der Aufsicht eines erfahrenen Leiters soll sich der Einzelne »bei scherzendem Spiel auf harmlose Weise ohne empfindliche Vergeltung« (650a6 f.) der Versuchung und Verführung des Weingenusses aussetzen, um den Umgang mit der eigenen Lust und deren Beherrschung zu lernen. Dahinter steht die Einsicht, dass unsere Affektivität einen integralen Bestandteil des einheitlichen Lebensvollzuges bildet und ihr deshalb weder durch Abstinenz noch durch einfache Hinnahme angemessen zu begegnen ist, sondern die Lust wird als Lust genossen, und darüber hinaus wird ihr auch noch Selbsterkenntnis und vernünftige Praxis abgewonnen. Dass hier der Einzelne mit seiner eigenen Erfahrung im Mittelpunkt steht, ist offensichtlich: Die Erfahrung, wann die Grenze des genussvollen Weintrinkens erreicht ist und der Zustand des Rausches beginnt, diese Erfahrung kann nur jeder selbst machen, und das jeweilige Maß kann nur je ein individuelles sein, und zwar auch für den Einzelnen selbst – man verträgt an manchen Tagen mehr oder auch weniger. Es gilt, jeweils das eigene Maß zu finden. Im Zentrum dieses Symposions steht die Erfahrung des Rausches, der die Affekte stärkt, die Funktionen der Vernunft schwächt und letzten Endes zur Erfahrung der eigenen Zweiheit führt – des schlechtesten Seelenzustandes, wenn man nicht mehr Herr seiner selbst ist. 90 Diese Erfahrung, der Verlust der eigenen Selbstbeherrschung, zeigt uns einerseits, was es heißt, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein, und neben der »Furcht vor der Niederlage« (t¼n !ttan yoboÐmeno@, 648e4) ist auch Den Zusammenhang zwischen Selbstbeherrschung als Einigung seelischer Gegensätze und Erziehung platonischer Provenienz hat auch Hans-Georg Gadamer hervorgehoben: »Plato aber meint mit dieser Harmonie die Stimmung einer in der Natur des Menschen gelegenen Dissonanz (Rep. 375 c 7). Bildung ist die Einigung dieses Unvereinbaren, des Zwiespalts des Wilden und des Friedlichen im Menschen. Die Wächter des Staates, um deren Bildung es sich allein handelt, sind nicht von Natur im Rechten, so daß es nur darauf ankäme, ihnen die Entfaltung ihrer Anlagen zu ermöglichen. Gerade um den Zwiespalt ihrer Anlagen zur Einheit des Ethos zu fügen, bedarf es vielmehr der Paideia.« (Plato und die Dichter (1934), GW V, 198) 90 4Hkista d¼ tt’ n a't@ a¢to‰ gfflgnoito ¥gkratffi@. (645e8) 89
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die eigene Anerkennung, dass man vor sich selbst bestanden hat, Motiv genug, ab sofort der Versuchung widerstehen zu wollen. Andererseits zeigt uns diese Erfahrung der Zweiheit auch, was es heißt und welchen Wert es für uns hat, dass man Macht über sich selbst hat. Man muss sich mindestens einmal besaufen, um die Erfahrung zu machen, dass man in den Abgrund geblickt oder sich sogar darin befunden hat, also mit sich entzweit zu sein, um aufgrund dieser Erfahrung die Bedeutung und den Gewinn der eigenen Einheit mit sich selbst auch affektiv zu erfahren. Die Erfahrung der Freiheit ist nicht nur an die begriffliche Leistung der Begründung unserer Handlungen gebunden, von Bedeutung ist auch das sinnliche Erleben unseres eigenen Tuns, die leibliche Selbsterfahrung: die Erfahrung, dass wir Macht über uns selbst haben und dass wir wirklich etwas können. Nietzsche hat betont, Moral sei nur durch eine »Selbstzertheilung des Menschen« möglich: 91 In Fällen des moralischen Handelns liebe »der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr […], als etwas Anderes von sich«, und dieses würde jenem im Entschluss zur Handlung geopfert, der Mensch folglich sein Wesen zerteilen, sodass Nietzsche den Schluss zieht: »In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.« Er selbst hat diesen Einwurf als Kritik der Moral verstanden. Das wäre dieser Einwand auch, wenn die Moral den Einzelnen wirklich als unteilbare Entität voraussetzte. Aber das ist gerade nicht der Fall, weder bei Kant, der das Gewissen als einen inneren Gerichtshof versteht, vor dem der Einzelne als »zwiefache Persönlichkeit«, als Richter und Angeklagter, sich anklagt und verteidigt, 92 noch bei Platon, wie wir bereits wissen: Die Seele befindet sich von Natur aus in einem inneren Widerstreit, einer st€si@ zwischen verschiedenen Parteien, zwischen drei »dramatis personae«. 93 Vgl. hier und im Folgenden: F. Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches I, 57, KSA 2, 76. 92 Vgl. dazu I. Kant, Die Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, § 13, AA VI, 437–440. 93 Aus der dreifachen Teilung der Seele zieht Wolfgang Kersting allerdings den nach meiner Interpretation unverständlichen Schluss, dass »dem platonischen Denken die für die neuzeitliche Philosophie so wichtige Vorstellung von der Subjekteinheit und personalen Identität [fremd] ist. Die Überzeugung des common sense von der Subjekteinheit und einfachen Substantialität der Person findet in seinem Denken keinerlei philosophischen Rückhalt. […] An die Stelle der einen handelnden Seele tritt eine Trias von distinkten Seelenteilen, die als selbständige dramatis personae spannungsvoll interagieren.« (Platons ›Staat‹, 1999, 162) Kritisch dazu A. Schmitt, Der Einzelne und die 91
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Der Konflikt in uns, mit den Worten Platons: die innere st€si@, ist keine abstrakte Vorstellung, sondern eine uns bekannte phänomenale Erfahrung. In einer Handlungssituation, in der sich für mich ein wirkliches Problem stellt, an dessen Lösung ich ernsthaft interessiert bin, verfüge ich nicht ohne Weiteres über die Antwort, wie ich handeln soll, sondern mir stellt sich die Frage nach dem richtigen Handeln und ich habe zwischen widerstreitenden Motiven und entsprechenden Handlungsoptionen zu wählen und mich zu entscheiden. In dieser Situation liegt man mit sich selbst im Streit. Wer kennt sie nicht, die eigene innere Zerrissenheit, in der wir Alternativen mit je unterschiedlichen Gründen des Für und Wider gegeneinander abwägen, indem wir mit uns – wie mindestens zwei Personen oder zwei Parteien der st€si@ – im Gespräch oder im Streit sind? Wir werden uns für eine Alternative entscheiden, und diese Wahl, wenn es ein wirklich ernsthaftes, ein existenzielles Problem ist, können wir nur mit Gründen treffen, die uns selbst überzeugt haben, genau diese Option vorzuziehen. Damit stellt man sich als ganzer Mensch unter dieses Handlungsgebot, dem sich der andere Teil seiner selbst fügen muss. Auch die von Platon gewählten Beispiele in der Politeia zeigen hinlänglich, dass dem inneren Konflikt – der st€si@ – eine Entscheidung folgt, die es dem Menschen ermöglicht, als einer zu handeln. Diese Verfügung über sich selbst ist notwendige Bedingung dafür, dass aus dem dividuum des inneren Konflikts in der Handlung funktional ein individuum wird. Somit ist die Dividualität die conditio sine qua non jeglichen Handelns, die prozessuale Bedingung der für die Handlung notwendigen Einheit mit sich selbst. Streng genommen tritt erst hier die gemeinte Individualität des Handelnden hervor, erst in diesem Fall kann von Selbstbestimmung im ausdrücklichen Sinn gesprochen werden. Solange wir ohne jegliches Problembewusstsein handeln, lässt sich zwar auch von Selbstbestimmung sprechen, insofern wir uns auf handlungsrelevante Ziele festlegen und uns in diesem Sinn selbst bestimmen, aber im jetzigen Fall ist die Bestimmung seiner selbst, indem man sich für einen Teil seiner selbst entscheidet und in der Handlung diesem Teil den anderen Teil unterordnet, ausdrücklich. 94 Gemeinschaft, 2000, 59 f. Gleichfalls betont Hans-Georg Gadamer, dass die Dreiteilung der Seele die »Selbstbezüglichkeit der Seele« erweisen soll und dass es in Wahrheit auf die Einheit des Ganzen, der Gerechtigkeit der Seele bzw. deren Harmonie mit sich selbst, ankommt (Vorgestalten der Reflexion (1966), GW VI, 117 ff.. 94 Zu dieser praktisch wirksamen Selbstbeziehung vgl. V. Gerhardt, Selbstbestimmung, A
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Der griechische Begriff der Selbstbeherrschung in der von Platon gebrauchten Bedeutung setzt sowohl den inneren Konflikt – die st€si@ – als auch die Einheit mit sich selbst in der Handlung, der die Wahl einer Handlungsoption voranging, voraus: dass »auf alle Weise einer wird aus vielen« (pant€pasin na genmenon ¥k polln, 443e2 f.). Dieses praktisch wirksame Selbstverhältnis der Selbstbeherrschung entspricht unserem heutigen Verständnis von Selbstbestimmung, allerdings mit einer Einschränkung: Der platonische Begriff der Selbstbeherrschung umfasst nur die Fälle, in denen der Einzelne sich selbst überlegen ist, in denen er dem vernünftigen Teil seiner selbst folgt – im besten Fall, wenn er als Ganzes damit einverstanden ist, wenn er Freund seiner selbst geworden ist und nicht Befehlender und Gehorchender zugleich. 95 Nach der bisherigen Interpretation habe ich die Einheit mit sich selbst als Bedingung von Handlungsfähigkeit verstanden. Am Text selbst ist dieser Befund allerdings bis jetzt nur am Gegenteil, dem Ungerechten und seiner seelischen Disposition, nachgewiesen worden (vgl. 352a7–9). Im Gegensatz zum Ungerechten, der wegen seines inneren Zwiespalts mit sich nicht einig und deshalb unfähig ist, etwas auszurichten, wird der Gerechte im Anschluss an die ausführliche Bestimmung der Gerechtigkeit als derjenige bestimmt, der im Einklang mit sich selbst handlungsfähig ist: »und so erst verrichtet [er], wenn er etwas verrichtet (o˜tw d¼ pr€ttein ˇdh, ¥€n ti pr€tt–h), es betreffe nun Erwerb des Vermögens oder Pflege des Leibes oder auch bürgerliche Geschäfte und besondere Verhandlungen, daß er in dem allen diejenigen für gerechte und schöne Handlungen hält und erklärt, welche diese Beschaffenheit (taÐthn t¼n xin) unterhalten und mit hervorbringen, und für Weisheit (soyfflan) die diesen Handlungen vorstehende Einsicht (t¼n ¥pistato‰san taÐt–h t–» pr€xei ¥pistffimhn)« (443e3– 444a1). Und gleich im Anschluss daran wird die Bestimmung der Un1999, Kapitel 8.7: Person als Institution, 337 ff., in dem die soziale Verfassung der Person betont wird: »Die Person begreift sich als Institution und somit als eine von der eigenen Aktivität getragene hierarchische Einrichtung nach Art einer gesellschaftlichen Beziehung.« (Ebd., 340) 95 Die Verantwortlichkeit für die eigene Entscheidung ist von dieser Einschränkung nicht betroffen, denn ob man seiner Vernunft oder seinem Begehren folgte, das lag in eigener Entscheidung. Deshalb ist bei Platon sowohl derjenige, der sich selbst überlegen ist, für seine Entscheidung und der daraus folgenden Handlung verantwortlich, als auch derjenige, der sich selbst unterlag. Vgl. Lg. 904b8–c3.
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gerechtigkeit im Gegensatz zur Gerechtigkeit als Zwiespalt in der Seele bestätigt. Die innere Gerechtigkeit (per½ t¼n ¥nt@ pr”xin, 443d2) als Einheit mit sich selbst findet ihren Ausdruck in äußeren Handlungen. Wie die Seele selbst eine Einheit bilden muss, so ist sie auch die Kraft, die für einen einheitlichen Handlungsvollzug verantwortlich ist, wie wir aus dem Gorgias wissen. Die Einheitsbildung beschränkt sich nicht auf die einzelne Handlung, da diese wiederum nur einen Ausschnitt der Lebensweise des Handelnden darstellt. Wie die einzelne Handlung Ausdruck der ihr zugrunde liegenden seelischen Disposition ist, so ist die Verfasstheit der Seele wiederum ursächlich für die ihr entsprechende Lebensweise. So wurde ja in der Politeia auch nach dieser und nicht nach der einzelnen Handlung gefragt: »Wie nun aber leben?« (353d9) Und sofort im Anschluss an diese Frage erklärt Sokrates, dass eine dem Leben und den Umständen angemessene Lebensführung erst hervorzubringen ist. Diese Lebensführung zu bewirken, das sei das ˛rgon der Seele, und ein gutes Leben, dasjenige einer wohlbeschaffenen Seele, ihrer ⁄retffi – man könnte auch sagen: der Verfasstheit des Einzelnen. Diese Funktion vermag die Seele aufgrund der nur ihr eigentümlichen Fähigkeiten und Leistungen zu erfüllen: »besorgen, beherrschen, beraten und alles dieser Art«. 96 Diese Fähigkeiten weisen alle darauf hin, dass das ˛rgon der Seele – die Lebensweise – in der Art und Weise zu leben besteht, d. h. in einem einheitlichen Lebensvollzug. 97 Die Seele vermag in der Mannigfaltigkeit unserer Bezüge, in denen wir leben und handeln, eine Einheit herzustellen, einen im Vollzug des Lebens selbst befindlichen Zusammenhang, und zwar zunächst unabhängig davon, ob diese Einheitlichkeit gelungen ist oder auch nicht. An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass von der seelischen Disposition des Individuums, von seinem Selbstverhältnis, die Art und Weise des Umgangs mit dem oder den anderen und der Welt, d. h. sein Weltverhältnis, ursächlich bestimmt ist. Die Einigkeit mit sich selbst ist nicht nur die Voraussetzung des Handelns, sondern als solche auch die Bedingung für die Identität des Individuums und dessen Individualität. Wie bereits mehrfach gesagt, t ¥pimele…sjai ka½ ˝rcein ka½ bouleÐesjai ka½ tÞ toia‰ta p€nta (353d4–6). Vgl. dazu auch bei Aristoteles, EN 1166a13 f.: »denn der Treffliche ist mit sich selber einig und strebt mit seiner Gesamt-Seele nach Zielen, die nicht auseinanderfallen« (oto@ gÞr ¡mognwmone… aut†, ka½ tn a'tn ¤rffgetai katÞ p”san t¼n vucffin).
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findet die innere Verfasstheit des Einzelnen ihren Ausdruck ausschließlich nur in seinen Handlungen bzw. seiner Lebensweise. Das, was das Selbst oder die Seele ist, zeigt sich nur in dem, was es tut (Alc. I 129b ff.), und zwar nicht nur für den anderen, sondern auch für mich selbst. Wenn der Handlungsbegriff wie bei Platon weit genug gefasst ist und auch das Gespräch und die Rede umfasst, lässt sich sagen, dass ich mich selbst nur als Handelnden erfahre, insofern ich mich selbst erst im Handeln als eine Einheit – als dieses Individuum – erfahre und mich daraufhin verstehe und auch für die anderen als Individuum erkennbar werde. Denn in diesem Fall gibt es einen für mich selbst und auch für den anderen sinnvollen Zusammenhang, der auf mich und auf meinen Selbstbegriff verweist: Ich erfahre und verstehe mich als genau derjenige, der als Handelnder im Vollzug der Handlung derselbe bleibt, der dieses Handlungsziel erreichen will und dafür gegenüber anderen Handlungsoptionen seine Gründe hat. Insofern hat der Handelnde eine Identität für sich selbst und auch für andere. Gleichfalls kann erst im Handeln selbst die Individualität – als authentische Person in ihrer unverwechselbaren Eigenart im Unterschied zu anderen – sichtbar werden oder sich überhaupt erst als solche erweisen – für sich selbst, wie Sokrates in seiner Selbstdarstellung in der Apologie hinreichend deutlich macht, und für den anderen, wovon die Beschreibung des Sokrates in der Rede von Alkibiades im Symposion ein Beispiel ist.
5.2.3
Der Charakterdiskurs im VIII. und IX. Buch – die Individualität der Ungerechten
In meiner bisherigen Interpretation bin ich davon ausgegangen, die ausschließlich nur der gerechten Seele zugesprochene Handlungsfähigkeit, bedingt durch deren Einheit mit sich selbst, als Voraussetzung von Identität und Individualität des Handelnden zu verstehen. Dem Ungerechten wurde aufgrund seines inneren Zwiespalts die Fähigkeit zu handeln abgesprochen, deshalb vermag er auch nicht, eine eigene Identität und Individualität auszubilden. Diese Dichotomie führt aber noch zu einer weiteren Konsequenz: Vorausgesetzt, dass das eigene Handeln eine notwendige Bedingung guten Lebens und damit eigener Glückseligkeit ist, ließe sich nach dem bisherigen Verständnis nur dem Gerechten, nicht dem Ungerechten die Möglichkeit zusprechen, ein gutes Leben überhaupt führen zu können. 288
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Widerspricht dieses Ergebnis nicht jeder Erfahrung? Wer würde von sich behaupten, dem in der Politeia entwickelten Ideal des Gerechten zu entsprechen, und sich damit selbst im gleichen Atemzug als handlungsunfähig bezeichnen? Selbst in den platonischen Dialogen lässt sich nur von Sokrates sagen, dass er der Gerechte ist, seine Gesprächspartner hingegen nicht. Aber indem sie ein Gespräch führen, sind sie handlungsfähig, selbst wenn sie in vielen Fällen von Sokrates der eigenen Widersprüchlichkeit überführt werden. Sollte wirklich nur das Einssein bzw. die Einheit der gerechten Seele Handlungsmöglichkeit verbürgen bzw. jede Identität, zu welcher der Einzelne im Handeln findet, dieser von Platon so bezeichneten und ausgezeichneten Harmonie mit sich selbst entsprechen? 98 Wie ich im Folgenden zeigen möchte, ist diese Interpretation unzureichend, weil Platon im Dialog selbst die Möglichkeit diskutieren lässt, dass es nach dem idealen Verständnis der Gerechtigkeit auch Ungerechte oder nicht Gerechte geben kann, die aber gleichwohl vermögen, etwas auszurichten. Demnach wäre die Handlungsfähigkeit für den Gerechten eine zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bestimmung, und er selbst ist also noch genauer zu charakterisieren. Wenn die Annahme zutrifft, dass auch den Ungerechten Handlungsfähigkeit zugesprochen werden kann, muss sich gleichfalls die Differenz zwischen ihnen und dem Gerechten feststellen lassen. Und zugleich ist der Fall anzugeben, der das bisherige Ergebnis bestätigt, dass der Ungerechte nicht vermag, etwas auszurichten. Die bisherige Bestimmung der Gerechtigkeit im IV. Buch ist, wie wir bereits wissen, nur eine vorläufige! Zu ihrer nicht geringen Verwunderung erfahren die Gesprächspartner nach den längeren Ausführungen zur Frauen- und Kindergemeinschaft und der Notwendigkeit der Philosophenherrschaft im VI. Buch, dass nicht die Gerechtigkeit, sondern »die Idee des Guten die größte Einsicht ist […], durch welche erst das Gerechte und alles, was sonst Gebrauch von ihr macht, nützlich
Vgl. zur Kritik am »Kooperationsargument« z. B. W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 47: Das Argument sei fragwürdig, weil es auf einem strikten Dualismus von Ordnung und Unordnung beruhe. Ursache dafür sei der unterbestimmte Vernunftbegriff bei Platon, der es nicht zulasse, zwischen einer moralischen und einer rationalen Vernunft zu unterscheiden, und somit auch verhindere, unterschiedliche Ordnungsstrukturen in der Seele – eine moralische und eine rationale, aber unmoralische – gegenüberzustellen. Die vorliegende Interpretation wird zeigen, dass das VIII. und IX. Buch eine Antwort auf diesen Einwand geben.
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Individualität und Selbstbestimmung in der Politeia
und heilsam wird«. 99 Denn das Gerechte kann auch missbraucht werden, da der Schein der Gerechtigkeit bereits zufriedenstellend ist, weil es ausreicht, für gerecht gehalten zu werden, um möglichen Sanktionen zu entgehen bzw. gesellschaftliche Belohnung für diese geforderte Verhaltensweise zu erhalten. Im Gegensatz zum Gerechten und Schönen, so führt Sokrates aus, gebe man sich beim Guten mit dem, was nur so scheine, nicht zufrieden, sondern suche, was wirklich gut sei (vgl. 505e1–5). Denn erst diese Einsicht in die Idee des Guten – als eine Form von Umgangs- und Gebrauchswissen – befähigt zu beurteilen, ob das jeweils Gerechte auch gut ist. Derjenige, der Philosoph, der die Mühen des Bildungsweges auf sich genommen hat, sich das Wissen von oder die Einsicht in das Gute selbst erarbeitet hat und über diese Kompetenz verfügt, weiß um den guten Gebrauch des Gerechten und ist gerecht und insofern selbst gut. 100 Demnach wird mit dem Einssein der gerechten Seele nicht nur die Handlungsfähigkeit bezeichnet, sondern eine durch Einsicht in das Gute ausgezeichnete Einheit mit sich selbst. Jede Abweichung davon lässt sich als Ungerechtigkeit bezeichnen, insofern nicht jeder Seelenteil das Seinige tut, diese Einheit bzw. ausgezeichnete Struktur der Seele zerstört wird und auch die einzelnen Seelenteile nicht mehr die beste Ausprägung ihrer jeweils zukommenden Kompetenz erreichen. Aber diese Änderung muss nicht notwendigerweise mit dem Verlust von Handlungsfähigkeit und Identität verbunden sein, denn auch der kranke Körper – Platon benutzt die aus der Medizin stammende Begrifflichkeit von der Gesundheit und Krankheit des Körpers zur Charakterisierung der gerechten und ungerechten Seele – ist, von schweren Störungen abgesehen, wenngleich in seinen Funktionen beeinträchtigt, lebensfähig. Infolgedessen ist anzunehmen, dass zwar jede Abweichung von der Struktur der gerechten Seele sowohl den Zusammenhang der Seelenteile untereinander als auch die jeweilige Ausübung der Funktionen der einzelnen Seeleteile selbst betrifft, aber zugleich eine andere Gesamtstruktur der Seele hervorgebracht wird, weil sich der Zusammenhang der Seele in unterschiedlicher Art und Weise ausprägen kann und es verschiedene Gesamtverfassungen der Seele gibt.
to‰ ⁄gajo‰ §dffa mffgiston m€jhma […], –! d¼ dfflkaia ka½ tlla proscrhs€mena crffisima ka½ “yfflima gfflgnetai (505a2–4). 100 Zur Idee des Guten und der Kompetenz des Philosophen vgl. das folgende Kapitel 5.2.4. 99
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Die Individualität des Gerechten und der Ungerechten
Es muss sich folglich zeigen lassen, dass es zwischen der Einheit der gerechten Seele einerseits und der mit sich selbst zerrissenen Seele des Ungerechten andererseits Abstufungen ungerechter seelischer Dispositionen gibt, die gleichwohl handlungsfähig sind und somit eine Identität und Individualität des Handelnden ermöglichen. Dieses alle bewusste Lebensfunktionen umfassende Selbstverhältnis – in seinen unterschiedlichen Ausprägungen – bezeichne ich als Charakter. Wie die folgende Interpretation des VIII. und IX. Buches der Politeia zeigen wird, geht Platon nicht nur vom Charakter aus, sondern diskutiert sogar verschiedene Charaktertypen. Zu Beginn des VIII. Buches nimmt Sokrates die Untersuchung wieder auf, welche er am Anfang des V. Buch fallen ließ, weil seine Gesprächspartner noch Genaueres über die Einrichtungen des Gerechtigkeitsstaates wissen wollten – die Bestimmung der ungerechten Staatsformen und der ihnen entsprechenden ungerechten Seelenverfassungen. Der einen Gestalt der Gerechtigkeit stehen vier Arten der Ungerechtigkeit gegenüber, und in Weiterführung der Parallelisierung von Polis und Individuum unterscheidet Platon entsprechend den Staatsformen der Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis den timokratischen, oligarchischen, demokratischen und tyrannischen Menschen. Dabei stellt der tyrannische Typus den äußersten Gegensatz zum Gerechten dar, die drei anderen, sowohl die menschlichen Charaktere als auch die Staatsformen, werden entsprechend ihrer jeweils größeren Abweichung vom Gerechten zwischen diesem und dem tyrannischen Menschen bzw. der Tyrannis angeordnet und gemäß ihrer absteigenden Rangfolge von einer Stufe zur nächsten jeweils negativer bewertet. Manche Interpreten haben behauptet, dass Platon eine zwangsläufige politisch-ethische Verfallsgeschichte darstellen wollte. So hat Werner Jaeger die Lehre von den Staatsformen als eine »Pathologie der Erziehung« verstanden. 101 Andere Interpreten haben in diesem Prozess der zunehmenden Dekadenz eine deterministische Geschichtsphilosophie gesehen, wie z. B. Karl R. Popper, oder meinten, eine zyklische Geschichtstheorie ausmachen zu können. Dagegen darf man nicht den konstruktiven Charakter der Darstellung, die ironischen Hinweise, die Platon im Text selbst gibt, und das eigentliche Ziel dieser Unter-
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suchung übersehen: 102 Die Ergänzung der Darstellung der politischen und seelischen Gerechtigkeit durch eine politische und seelische Phänomenologie der Ungerechtigkeit war erforderlich, weil nur eine Gegenüberstellung der »reinen Gerechtigkeit« und der »reinen Ungerechtigkeit« die Prüfung ermöglicht, ob der Gerechte oder der Ungerechte ein glückliches Leben führt und somit welchem von beiden der Vorzug zu geben ist. Es galt ja gerade nicht nur zu zeigen, was der Gerechte ist und was ihn auszeichnet, sondern vielmehr darüber hinaus zu beweisen, dass er auch der Glücklichste ist: »Also zunächst müssen wir nun die schlechteren durchnehmen […], damit, wenn wir den ungerechtesten herausgefunden haben, wir ihn dem gerechtesten gegenüberstellen und so die Untersuchung sich uns vollende, wie sich die reine Gerechtigkeit zu der reinen Ungerechtigkeit verhält in Absicht der Glückseligkeit oder des Elends dessen, der sie hat, damit wir entweder dem Thrasymachos folgend der Ungerechtigkeit nachtrachten oder der jetzt schon in Beleuchtung stehenden Rede gemäß der Gerechtigkeit.« (545a2–b2) 103 Die Ungerechtigkeit muss aber erst noch in ihrer Reinheit, d. h. ohne Schein, entworfen werden, und dieses Ziel erreicht Platon mit einer modellhaften Abfolge von schrittweise strukturellen Abweichungen von der Gerechtigkeit bis hin zur Ungerechtigkeit, welche er gleichzeitig mit der Analogie zwischen Polis und Individuum verknüpft. 104 102 Vgl. dazu die angegebene Literatur, die auch eine Diskussion der anderen Interpretationen enthält: D. Hellwig, Adikia in Platons »Politeia«, 1980, 1 ff. und 73 ff.; D. Frede, Platon, Popper und der Historizismus, 1996, 81 ff.; dies., Die ungerechten Verfassungen, 1997; W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 266 ff. – Zu den ironischen Hinweisen im Text gehört die Form, in der berichtet wird: Sokrates lässt die Musen für sich sprechen, die »im Ton der Tragödie, spielend und scherzend wie mit Kindern, aber doch so, als sprächen sie im Ernst, mit erhabenen Worten« sprechen (tragik@ £@ pr@ pa…da@ m”@ paizoÐsa@ ka½ ¥reschloÐsa@, £@ d¼ spoud–» legoÐsa@, ¢vhlologoumffna@ lffgein, 545e1–3). Hinzu kommt die Erklärung, welche die Musen als Ursache für den Verfall des besten Staates nennen: Die Philosophenkönige haben sich bei der Berechnung der sogenannten Hochzeitszahl, um den geeigneten Augenblick für die Paarung und Zeugung neuer zukünftiger Philosophenkönige zu bestimmen, schlechthin verrechnet (546a ff.). Deutlicher kann die Ironie kaum sein. Zur Deutung des Berechnungsfehlers vgl. H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), GW VII, 168 f.; ders., Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen (1983), GW VII, 286 ff. 103 Vgl. bereits 544a3–8 bei der Aufnahme der Untersuchung der vier Arten der Ungerechtigkeit. 104 Eine einfache Gegenüberstellung des Gerechten und des Ungerechten hätte nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt, weil nur »im stufenweisen Abbau des Idealstaates
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Auch im jetzigen Zusammenhang macht Platon hinlänglich deutlich, welche Seite der Analogie zwischen Individuum und Polis die Priorität hat: »Und du weißt doch, daß es gewissermaßen ebensoviel Arten von Menschen geben muß wie von Verfassungen. Oder meinst du, daß die Verfassungen von der Eiche oder vom Felsen entstehen und nicht aus den Charakteren derer, die in den Staaten sind, nach welcher Seite hin eben diese den Ausschlag geben und das übrige mit sich ziehen?« 105 Demnach wird die Verfassung der Polis auf die »Verfassung« ihrer Bürger, also auf ihren Charakter, zurückgeführt. 106 Man wird hier an den zeitgenössischen Spruch erinnert, dass jedes Volk die Regierung besitzt, die es verdient. Und das betrifft auch die Änderung der Staatsverfassung: Die Ursache dafür sind nicht äußere Umstände, sondern es ist nur konsequent, dass Platon die Ursache dafür wiederum in der Veränderung des Charakters seiner Bürger ausmacht. Ein erneuter Beleg für den individualitätstheoretischen Ausgang platonischer Philosophie. Vor der Interpretation der Bücher VIII und IX sind zwei begriffliche Vorbemerkungen nötig: Unter Charakter verstehe ich im Folgenden nicht die Bezeichnung für die Forderung, der Mensch solle einen Charakter haben, und zwar im Sinne von: ein sittlich verlässlicher bzw. moralischer Mensch sein, sondern ein alle bewusste Lebensfunktionen umfassendes Selbstverhältnis, ein ganzheitliches Gefüge – in seiner je unterschiedlichen, und das heißt: individuellen Ausprägung, das seinen Ausdruck in der ihm entsprechenden Lebensform hat. 107 Platon verwendet zwar den griechischen Begriff caraktffir in der heutigen Be[…] die Entstehung der reinen Formen der Ungerechtigkeit plausibel« wird (D. Frede, Die ungerechten Verfassungen, 1997, 264 f.). 105 O sj’ oªn, Æn d’ ¥g, ˆti ka½ ⁄njrðpwn e—dh tosa‰ta ⁄n€gkh trpwn e nai, ˆsaper ka½ politein; o—ei ¥k dru@ pojen ¥k pfftra@ tÞ@ politeffla@ gfflgnesjai, ⁄ll’ o'c½ ¥k tn ƒjn tn ¥n ta…@ plesin, ˘ n ¯sper «ffvanta tlla ¥yelkÐshtai; (544d7–e2) Schleiermacher übersetzt ¥k tn ƒjn: »aus den Sitten«. 106 Vgl. dazu H.-G. Gadamer, Platos Staat der Erziehung (1942), GW V, 256. 107 Vgl. die begriffliche Unterscheidung zwischen »person« und »personality« bei C. J. de Vogel, The Concept of Personality, 1963, 23: »A. Person is man as a rational being and moral subject, free and self-determining in his actions, responsible for his deeds. B. Personality is man’s in individual character, his uniqueness.« Allerdings verwende ich die Begriffe »Charakter« und »Persönlichkeit« nicht gleichbedeutend, sondern gebrauche den Begriff Persönlichkeit ausschließlich nur für den Charakter des Philosophen. Vgl. dazu das folgende Kapitel 5.2.4. – de Vogel ist ein Beispiel für die begriffsgeschichtliche Ablösung des Begriffs »Charakter« von dem der »Persönlichkeit«. Vgl. dazu L. J. Pongratz, Artikel Charakter, 1971; ders., Artikel Charakterologie, 1971. A
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deutung noch nicht, 108 sondern erst Theophrast überträgt in seiner Schrift 3Hjiko½ carakt»re@ diesen Begriff auf die menschliche Seele. Gleichwohl spricht auch Platon vom Charakter, denn Æjo@ bedeutet neben: »gewohnte Sitze«, »Aufenthalt«, »Wohnort« sowie »Herkommen und Brauch« auch Charakter, »Sinnesart«, »Gesinnung« und »sittliche Beschaffenheit«. Außerdem kann aus dem jeweiligen Kontext heraus die Übersetzung mit Charakter gerechtfertigt werden, weil Platon nicht die gelebte Sittlichkeit, sondern primär das innere Selbstverhältnis als die Gesamtstruktur der Seele phänomenal-typologisch beschreibt. 109 Zudem spricht Sokrates von fünf Arten, die bezüglich der Einrichtung bzw. Beschaffenheit der Seele zu unterscheiden wären – dementsprechend übersetzt Werner Jaeger kataskeu¼ t»@ vuc»@ (544e5) mit »Seelenstruktur«. 110 Die zweite Vorbemerkung betrifft den Begriff des Typus: Gegen meine These von der Individualität des Gerechten und der Ungerechten könnte eingewandt werden, dass gerade die Typisierung der Charaktere meiner Interpretation widerspricht, da z. B. der Philosoph einen Typus bezeichnet, an dem viele auf gleiche Weise teilhaben können und welcher der Individualisierung in der Bedeutung von Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit entgegensteht. 111 Allerdings hat Platon von vornherein für den Zweck der Untersuchung bewusst typisiert: Die Gestalt der Verfassung muss nur den Grundzügen nach gedacht und angedeutet werden, »weil ja doch auch der Entwurf (¥k t»@ ¢pogray»@) schon hinreicht, um den Gerechtesten und Ungerechtesten zu erkennen« (548d2–4). Die Typologisierung erfasst somit das Wesentliche eines Charakters, also das, worin er sich gerade von anderen unterscheidet und als derjenige zu erkennen ist, sie erfasst in genauerer Form die Eigentümlichkeit eines Charakters als die deskriptive Beschreibung eines empirischen Einzelfalls. 112 Zudem spricht bereits die 108 Friedrich Ast gibt für diesen Begriff nur zwei Stellen an: in der Bedeutung von »Kennzeichen« (Phdr. 263b8) und von »aufgedruckte Zeichen« (Plt. 289b4) (Lexicon Platonicum, Bd. 3, 1908, 536). 109 Schleiermacher übersetzt nahezu alle einschlägigen Belegstellen von Æjo@ in der Politeia mit »Sitte«, auch mit »Gemüt«, hingegen Otto Apelt und insbesondere Rudolf Rufener mit Charakter! 110 W. Jaeger, Paideia, Bd. 3, 1955, 51. 111 Vgl. dazu D. Frede, Der Mangel als principium individuationis bei Platon, 2009, 41 f. 112 Auch wenn Platon an dieser Stelle nicht den anderenorts mehrfach benutzten Begriff tÐpo@ in der Bedeutung von »Gepräge« oder vielfach auch »Umriss« oder »Grund-
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Annahme des konstruktiven Charakters der Darstellung gegen eine Abbildung der Realität, so ebenfalls, dass Platon von vornherein keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Bereits am Ende des IV. Buches hatte Sokrates festgestellt, »daß es nur eine Gestalt der Tugend gibt, unzählige aber der Schlechtigkeit (˝peira dþ t»@ kakffla@), unter welchen sich jedoch gewisse vier auszeichnen als bemerkenswert« (445c5– 7). 113 Und nach der Charakterisierung der Timokratie im VIII. Buch hebt Sokrates erneut hervor, dass »es ein Geschäft von unabsehbarer Länge wäre, alle Verfassungen und alle Charaktere so durchzunehmen, daß man nichts übergehe« (548d4 f.). Platon geht also sehr wohl von einer Vielzahl von Charakteren und Individualitäten in der Wirklichkeit aus, die, bedenkt man den konstruktiven Charakter der Darstellung und ihr Erkenntnisziel, in der Realität gleichzeitig vorkommen bzw. vorkommen können. Hinzu kommt, dass Individualität nach meinem Verständnis nicht in einem absoluten Gegensatz zum Allgemeinen verstanden werden kann, wofür der moderne Ausdruck »individuum est ineffabile« steht, und zwar aus zwei Gründen: Erstens – so richtig es ist, dass der Philosoph einen Typus bezeichnet, an dem viele auf gleiche Weise teilhaben können, z. B. in ihrer Ausrichtung auf das Allgemeine, so falsch wäre es, daraus den Schluss zu ziehen, dass damit die Individualität des Einzelnen gerade unterdrückt wird. Die geistigen Vermögen stehen uns an sich gleichermaßen zur Verfügung, aber gerade in ihrer jeweiligen charakteristischen Verwirklichung vermag der Einzelne seine Individualität ausprägen, indem er für seine Entscheidungen und Handlungen selbst der Ursprung ist – in Form eigener vernünftiger Überlegung und eigener Gründe. 114 Zweitens – selbst wenn man den Bezug auf den anderen und die Welt außer Acht lässt, besteht die Individualität des Einzelnen notwendig auch aus allgemeinen Momenten. Anhand züge« verwendet, so ist durch den bedeutungsähnlichen Begriff ¢pograyffi – »Grundriss«, »Umriss« oder, wie Schleiermacher übersetzt, »Entwurf« – eine Interpretation als Abfolge von Charaktertypen gerechtfertigt. 113 Das wird in Bezug auf die Staatsverfassungen festgestellt, wird aber in Folge auf die Seelenordnungen übertragen. Vgl. auch 544d. 114 Mit Blick auf die philosophischen Positionen der Antike führt Arbogast Schmitt als Grund, der Individualität möglich macht, ein Prinzip an, was wir heute Subjektivität nennen: »Dieses Prinzip darf aber nicht eine bloße Potenz im Einzelnen sein, sondern er muss sie in bestimmten, für ihn charakteristischen Formen verwirklicht haben, damit aus einer allen gleich zu Gebote stehenden Subjektivität Individualität wird.« (Individualität als Faktum menschlicher Existenz, 2002, 119) A
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des Charakterbegriffs lässt sich das gut deutlich machen: Es ist die Art und Weise des Umgangs mit sich und der Welt, die als solche erkennbar ist, und zwar gerade durch ihre allgemeinen Elemente und zugleich in ihrer Unterscheidbarkeit zu anderen, d. h. aufgrund ihrer Individualität. In diesem Sinne betont auch Arbogast Schmitt, »dass sich die Einheit des Charakters und seine individuelle Bestimmtheit (auch) in der Kontinuität bzw. in der kontinuierlichen Entwicklung seiner Handlungstendenzen, d. h. der Art und Weise, wie er auf bestimmte Situationen und äußere Umstände reagiert und sich zu ihnen verhält, abbildet«. 115 Individualität in diesem Sinn ist nicht mit dem modernen Gegensatz von Allgemeinem und Individuellem zu verstehen, sie wird jenseits dessen gedacht: als ein Ineinander von beiden. Am Beispiel des ersten ungerechten Charaktertyps, des timokratischen Menschen, möchte ich meine Behauptung, dass auch den ungerechten Charakteren von Platon Individualität zugesprochen wird, ausführlicher am Text belegen. Es muss sich erstens zeigen lassen, dass wirklich eine neue Seelenstruktur, ein neuer Charakter, entsteht, und zweitens, dass dieser handlungsfähig ist und sich damit eine neue Identität und mit ihr Individualität sowohl für denjenigen selbst als auch aus der Sicht der anderen ergeben. Sehen wir uns zuerst die Entstehung dieses Charaktertypus an (549c ff.), welche Platon in eine kleine Geschichte verpackt hat: Der Jüngling wächst in einem Umfeld widerstreitender Einflüsse auf. Der Vater, ein trefflicher Mann, nimmt immer auf sich selbst Bedacht und tut das Seinige, hält sich aber wegen der nicht guten Verwaltung des Staates aus allen öffentlichen Tätigkeiten zurück. Von der Mutter hört der junge Mann Klagen über den Vater und ähnliche Schmähreden auch von den Dienstleuten. Der Vater bemühe sich weder um Ehre, denn er gehöre nicht zu den Regierenden, noch gäbe er sich um das Vermögen Mühe, auch ein Streit in eigener Sache vor Gericht oder öffentlich um diese Dinge interessiere ihn wenig: Sein Vater sei unmännlich und schlaff, er, der Jüngling, solle sich im Mannesalter männlicher verhalten. »Hört und sieht nun dergleichen alles der junge Mann, hört aber auch wieder des Vaters Reden und sieht sein Treiben nahebei neben dem der anderen, so wird er von beiden angezogen, indem der Vater das Vernünftige in seiner Seele hegt und pflegt, die anderen aber das Begehrliche und Zornartige. Und weil er die Natur zwar des 115
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schlechten Mannes nicht an sich hat, der schlechten Gesellschaft der anderen (¡milfflai@ dþ ta…@ tn ˝llwn kaka…@) aber doch nicht entgehen kann, so kommt er, von beiden auf diese Art angezogen, in die Mitte und übergibt die Herrschaft in sich selbst (t¼n ¥n aut† ⁄rcffin) dem Mittleren, dem Streitsüchtigen und Zornartigen (yilonfflk†w ka½ jumoeide…), und wird so ein hochmütiger und ehrsüchtiger Mann.« (550a5–b7) Obwohl der Begriff Zwiespalt an dieser Stelle nicht genannt wird, 116 ist die st€si@ doch der Sache nach vorhanden: Der junge Mann befand sich im Zwiespalt, im Spannungsfeld gegensätzlicher Einflüsse, dem des Vernünftigen und dem des Begehrlichen und Zornartigen. Er wird »von beiden angezogen« (lkmeno@, 550a8 und b4), man könnte auch sagen: von beiden in entgegengesetzte Richtung gezogen, was den inneren Zwiespalt genauer fasst. Im Schnittpunkt widerstrebender Einflüsse, denn er kann dem Umgang mit der schlechten Gesellschaft nicht entgehen, wird der innere Zwiespalt beseitigt, indem der mittlere Seelenteil, der jum@, ehedem in der gerechten Seele der »Verbündete der Vernunft« (440b3), nun selbst die Herrschaftsfunktion erhält. 117 Der Zwiespalt ist beseitigt, die neue thymoszentrierte Seelenstruktur und die dem jum@ zugeordneten Kräfte der Streitlust und des Ehrgeizes bilden zugleich eine neue Wertorientierung aus: Ehre und Anerkennung. Daraufhin versteht sich fortan der timokratische 116 Genannt wird der Begriff gleich zu Beginn der Erklärung, wie es überhaupt zu einer Änderung der idealen Polis kommen kann: »Oder ist dieses ganz einfach, daß jede Änderung der Verfassung von dem herrschenden Teile selbst ausgeht, wenn nämlich in diesem Zwietracht entstanden ist; bleibt dieser aber einig, wie klein er auch sei, so kann unmöglich eine Bewegung entstehen?« ( tde mþn %plo‰n, ˆti p”sa politeffla metab€llei ¥x a'to‰ to‰ ˛conto@ tÞ@ ⁄rc€@, ˆtan ¥n a't† toÐt†w st€si@ ¥ggffnhtai‡ ¡monoo‰nto@ dff, kn p€nu ¤lfflgou –Æ, ⁄dÐnaton kinhj»nai; 545c10–d3) Wenig später ist von der st€si@ bei der Entstehung der Timokratie aus der Aristokratie deutlich die Rede: Es besteht Zwietracht (st€si@, 547a5 und b2) zwischen – in Anspielung auf den Mythos von der gesellschaftlichen Ungleichheit (414c ff.) – dem goldenen und silbernen Geschlecht der Herrscher und Wächter, die zur Tugend streben, und dem eisernen und ehernen der Bürger, die Erwerb und Besitz begehren. »Wie sie nun Gewalt gebrauchen und einander entgegenstreben, einigen sie sich am Ende in der Mitte (e§@ mffson)« (547b7 f.). 117 Wolfgang Kersting erklärt den mittleren Standpunkt, indem er die Reden der Frau und der Dienstleute als Ausdruck der Kräfte des ⁄lgiston, der seelischen Niederungen, auffasst, dass der Jüngling zwischen Vernünftigem und Unvernünftigem einen in der Mitte liegenden Standpunkt einnimmt: Der jum@ ist fortan der Herrscher seiner selbst (Platons ›Staat‹, 1999, 272).
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Mensch, diese Werte sind für ihn orientierend und maßgebend: in seinem Selbstverständnis, seinem Handeln und seiner Identität, die sich in seiner Lebensweise insgesamt ausdrückt. Da er sich nicht mehr durch vernünftige Einsicht leiten lässt, ist er ein Mann der Tat und nicht des Wortes, begierig und ehrgeizig nach Ämtern und Herrschaft, die er aber nicht mehr wegen seiner geistigen Kompetenz beansprucht, sondern wegen kriegerischer Leistungen, wie er denn auch ein Freund der Leibesübungen und der Jagd ist. Dieser agonale, auf Anerkennung und Ehre zielende Charaktertyp beschreibt eine völlig andere Individualität als diejenige des Gerechten. Auch für den oligarchischen, demokratischen und, wenn auch eingeschränkt, tyrannischen Charaktertyp lässt sich der am Beispiel des timokratischen Menschen gewonnene Zusammenhang der Charakteränderung angeben: Angesichts des völligen Scheiterns seines timokratisch ausgerichteten Vaters, der nach Ehre und auch Vermögen strebend alles verliert, wird der Sohn zum oligarchischen Menschen, indem er »jenes Ehrliebende und Zornartige kopfüber von dem Thron in seiner Seele« wirft (553b9–c2) und die Herrschaft dem Begehrlichen und Besitzliebenden übergibt. Die beiden anderen, das Vernünftige und das Zornartige, haben als dessen Knechte nur noch die Funktion, die Vergrößerung des Reichtums rational zu berechnen und zu erstreben. Allerdings gehört es zur Lebensorientierung des oligarchischen Menschen, dass er nur seine besseren, d. h. notwendigen und nützlichen Begierden zu befriedigen sucht, hingegen die ihm auch zugehörenden schlechten unterdrückt. 118 Infolgedessen kann er in sich selbst nicht frei von Zwiespalt (⁄stasfflasto@) sein, ja, er ist sogar »nicht einmal einer, sondern ein zwiefacher« (o'dþ e@, ⁄llÞ diplo‰@, 554d9–e1). Gleichwohl muss Sokrates zugeben, dass der Zwiespalt in den meisten Fällen überwunden ist, weil denn doch die besseren Begierden in ihm über die schlechteren herrschen. Insofern ist er im Vergleich mit vielen anderen sogar »anständiger«, was aber nicht mit der »wahrhafte[n] Tugend einer mit sich selbst einigen und wohlgestimmten Seele« zu verwechseln sei (554e4–6). Die Unterdrückung der nicht notwendigen Begierden und insbesondere der Umgang mit denjenigen, deren alleiniger Orientierungspunkt des Handelns bereits die schlechten Begierden sind, wer118 Die Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Begierden stellt die Voraussetzung für die Änderung des oligarchischen zum demokratischen Charakter dar.
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den dem oligarchischen Menschen zum Verhängnis: »Und wie der Staat sich verwandelte, wenn dem einen Teil ein Bündnis von außen, Ähnliches dem Ähnlichen, zu Hilfe kam, so verwandelt sich auch der Jüngling, wenn der einen Gattung Begierde bei ihm die verwandten und ähnlichen von außen zu Hilfe kommen.« (559e4–7) Appelliert nun der Vater oder ein anderer an sein oligarchisches Lebensprinzip, den besseren Begierden die Priorität zu geben, »so entstehen dann in ihm Parteien und Gegenparteien und Streit mit sich selbst«. 119 In einem mehrfachen Hin und Her wird letztlich die st€si@ in sich selbst durch den einflussreicheren Umgang mit den bereits demokratisch verfassten Menschen entschieden: Die Herrschaft in der Seele übernehmen die nicht notwendigen Begierden, und als Legitimation der eigenen Lebensweise ist mit der neuen Orientierung zugleich eine Umwertung der Werte verbunden. Die Ausrichtung an den schlechten Begierden ist, zumindest der Intention Platons nach, allerdings nicht das, was diesen Charakter und mit ihm seine Lebensform prägt. Denn nach einer bacchischen Begeisterung in jugendlichen Jahren lebt der demokratische Mensch »in einem gewissen ruhigeren Gleichgewicht der Lüste« (561b3), insofern er jeder Begierde mit ihrem aktuellen Auftreten nachgibt und sie befriedigt und zwischen Begierden verschiedener Art keinen Unterschied macht. Die Begierden werden keiner Bewertung mehr unterzogen, weder sind sie gut noch schlecht, sondern sie sind alle gleich, alleiniger Maßstab ist nur das aktuelle Auftreten der Begierde. Im Gegensatz zur Isopragie der Gerechtigkeit, dass jeder nur das Seine tue, entspricht diesem Charakter die Lebensform der Vielgeschäftigkeit, der polupragmosÐnh (vgl. 561c6–d5). »So daß irgendeine Ordnung oder Notwendigkeit gar nicht über sein Leben schaltet«, und er ein »gar mannigfaltiger« Mann ist, »die meisten Charakterzüge in sich vereinigend«. 120 Der demokratische Mensch ist nach Wolfgang Kersting nicht nur prinzipien- und charakterlos, weil er auf jegliches Unterscheiden, Beurteilen und Bewerten konsequent verzichtet, sondern gleichfalls ohne Vernunft und Rationalität, weil er sich nicht vom Augenblick distanziert, um zukünftige Interessen in seine Überlegungen und Wertungen
st€si@ d¼ ka½ ⁄ntfflstasi@ ka½ m€ch ¥n a't† pr@ a¢tn tte gfflgnetai (560a1–3). ote ti@ t€xi@ ote ⁄n€gkh ˛pestin a'to‰ t† bffl†w […] pantodapn te ka½ plefflstwn ƒjn mestn (561d5 f. und e3 f.). 119 120
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mit einzubeziehen. 121 Platon habe die Prinzipien der Herrschaftsfreiheit und Gleichheit der Demokratie konsequent auf den demokratischen Menschen übertragen: Abhängig vom Augenblick, vielgeschäftig in seinen Tätigkeiten, de facto eine »Multiidentität«, sei der platonische Demokrat »ein Gedankenexperiment […], das ein Leben schildern will, das gänzlich frei von Vernunft, Ordnung und eigener Strukturierung ist«. Es ist richtig, von einem Gedankenexperiment oder von einer absichtlichen Überzeichnung zu sprechen, hinter dem die Kritik am Gleichheitsprinzip und der Herrschaftsfreiheit der Demokratie steht. Indem die Prinzipien der Demokratie, in der »jeder sich seine Lebensweise für sich ein[richtet], welche eben jedem gefällt«, 122 beim Wort genommen werden, kann Platon zeigen, zu welchem Ergebnis sie in letzter Konsequenz führen: zu einem ohne Vernunft geführten Leben eines Menschen mit einer Vielzahl von Identitäten. Kann man in diesem Fall eigentlich noch von Lebensführung sprechen? Erstaunlich ist, weil man nach der Interpretation von Kersting anderes erwartet hätte, und das sollte zu denken geben, dass der demokratische Mensch sich wohl befindet, »ein solches Leben nennt er anmutig und frei und selig und hält sich überall danach«. 123 Zugegeben, dass Selbsteinschätzungen nicht immer der Wirklichkeit entsprechen. Aber – nur weil nicht mehr zwischen guten und schlechten Begierden unterschieden wird, soll dieses Leben völlig ohne Vernunft und jede Ordnung sein? Der demokratische Mensch – kein von anderen deutlich abgrenzbarer Charakter, ohne jede Beständigkeit im Leben? Meiner Ansicht nach muss die Interpretation von Kersting relativiert werden: Der demokratische Mensch ist nämlich handlungsfähig, das wird im Text eindeutig gesagt: Er übergibt jeder aktuellen Begierde, wenn auch ohne Bewertung, die Herrschaft in sich, bis sie befriedigt ist. Um eine Begierde nicht nur zu haben, sondern auch zu befriedigen, bedarf es der Rationalität. Es reicht die Begierde an sich nicht aus, um sie zu befriedigen. Selbst der demokratische Mensch, der nach dem Prinzip lebt, tun zu können, was ihm gefällt, muss rational vorgehen, um sein Handlungsziel – die Bedürfnisbefriedigung – zu erreichen. Gewiss ist 121 Vgl. dazu W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 279 ff., zit. 281 f. Vgl. auch ebd., 282: eine »meisterhafte Darstellung des absoluten Nullpunktes von Rationalität«. 122 §dfflan kasto@ n kataskeu¼n to‰ a¢to‰ bfflou kataskeu€zoito ¥n a't–», `ti@
kaston ⁄rffskoi (557b8–10). 123 ⁄ll’ dÐn te d¼ ka½ ¥leujffrion ka½ mak€rion kaln tn bfflon to‰ton cr»tai a't† diÞ pant@ (561d6–8).
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es schwierig, diesem Charaktertyp eine das Lebensganze übergreifende Identität und Individualität zusprechen zu können, aber zumindest für den Zeitraum einer einzelnen Handlung ist es möglich. Für die Dauer des ganzen Lebens besteht seine Individualität allerdings darin, dass er sich von anderen in seiner Unbeständigkeit, Wandelbarkeit und somit auch Unzuverlässigkeit gegenüber anderen unterscheidet. Es fehlt noch der tyrannische Charakter, der zugleich das idealtypische Gegenteil des Gerechten darstellen soll. Zunächst ist eine weitere Differenzierung der menschlichen Begierden nötig. Unter den nicht notwendigen Begierden, so Sokrates, gibt es uns aus Träumen bekannte »gesetzwidrige« (˝nomo@) Begierden, das Tierische und Wilde in uns, was zu allem fähig ist (vgl. 571c f.). 124 Diese spielen die entscheidende Rolle bei der Entstehung des tyrannischen Menschen: Als demokratisch erzogener Sohn gerät er unter den Einfluss derer, die sich bereits den aus menschlichen Abgründen kommenden Begierden hingeben und die den Streit mit dem Einfluss des demokratischen Vaters gewinnen. Jeglicher Rest von Vernunft und Besonnenheit wird getilgt, der tyrannische Mensch lebt in vollständiger Zügel- und Gesetzlosigkeit (¥n p€s–h ⁄narcffla ka½ ⁄nomffla, 575a2 f.). Das Bild seiner Seele zeigt das vielgestaltige Tier und den Löwen gestärkt, hingegen des Menschen inneren Menschen nahezu verhungert, »so daß er sich schleppen lassen muß, wohin eben eines von jenen beiden ihn zieht, und nicht etwa sie einander zu gewöhnen und eines mit dem anderen zu befreunden, sondern sie sich untereinander beißen und im Streite verzehren zu lassen« (589a1–4). Die Seele des tyrannischen Menschen, der »in sich selbst so schlecht verwaltet« (kak@ ¥n aut† politeumeno@, 579c5) ist, befindet sich in der st€si@. Führte die st€si@ bisher zu einer jeweils neuen Seelenordnung, einem neuen Charaktertyp, befindet sich die tyrannische Seele derart im Zwiespalt, dass keine neue Ordnung mehr möglich ist. Als das idealtypische Gegenbild zum Gerechten ist er zum Feind seiner selbst geworden. Der tyrannische
124 Vgl. dazu 572b5 f.: Es gibt eine »heftige, wilde und gesetzlose Art von Begierden in einem jeden« (deinn ti ka½ ˝grion ka½ ˝nomon ¥pijumin e do@ k€st†w ˛nestin) von uns. Vgl. auch die Eingangspassage im Phaidros, in der Sokrates sein Desinteresse an Mythen und Naturphilosophie damit begründet, dass er sich noch immer nicht erkennen könnte, ob er wohl »ein Ungeheuer« sei, »noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes einfacheres Wesen, das sich seines göttlichen und edlen Teiles von Natur erfreut« (230a3–6).
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Mensch hat damit seine innere Einheit und mit dieser seine Handlungsfähigkeit verloren. Er ist nicht mehr der Akteur seines Tuns, sondern Sklave seiner selbst, seiner eigenen Triebe, unberechenbar wie sie sind, kann er sie nicht mehr rational steuern, geschweige denn beherrschen. Er ist unfähig zu handeln, weil er keinen rational ausweisbaren Handlungszweck verfolgt, den er mit Gründen als solchen gewählt hat, auf den er sich selbst festgelegt hat und auf den er sich im Handeln hin versteht. 125 Mit dem Verlust der Handlungsfähigkeit verliert er auch seine Identität und damit die Möglichkeit, sich im Vergleich mit anderen als Individualität zu erweisen. Die Herrschaft der untersten Triebe macht ihn also nicht nur handlungsunfähig, sondern zerstört auch sein Selbst. Sein eigentliches Ziel, das er mit allen anderen Menschen teilt, ein gutes Leben zu führen, erreicht der tyrannische Mensch von allen anderen am wenigsten. 126 Fassen wir zusammen: Durch den Umgang mit anderen wird im Individuum ein innerseelischer Konflikt, ein Streit sich widersprechender Kräfte hervorgerufen. Dieser Zwiespalt zerstört die bisherige psychische Disposition und macht ihn zunächst handlungsunfähig, weil er nicht mit sich selbst einig, sondern im Kampf verschiedener Handlungsoptionen zerrissen, oder mit Nietzsche gesagt: ein »dividuum« ist. Eine Überwindung der st€si@ gelingt nur, wenn ein Teil von sich selbst sich gegen einen anderen durchsetzt. Entscheidend ist allerdings, dass sich mit der Überwindung der st€si@ eine veränderte Gesamtstruktur der Seele, ein neuer Charakter, ausbildet, der wiederum die Handlungsfähigkeit des Individuums ermöglicht. In der Abfolge der verschiedenen Charaktertypen ergab sich die jeweilige Metamorphose nach dem Prinzip, dass die Herrschaft in der Hierarchie der Seelenteile von oben nach unten weitergegeben wurde: Die Herrschaft der Vernunft ging beim timokratischen Charakter auf den jum@ über, dann 125 Zu den Voraussetzungen menschlichen Handelns vgl. das Kapitel 4.1 oben. – Auch Wolfgang Kersting betont, dass die Schilderung des tyrannischen Charakters nicht den Tyrannen als realen Politiker trifft und wohl auch nicht treffen sollte, weil dieser sehr wohl sein Selbstinteresse gegen die Interessen der anderen rational zu behaupten weiß (Platons ›Staat‹, 1999, 285). 126 »So wird auch wohl die tyrannisch beherrschte Seele am wenigstens tun, was sie gern wollte, wenn man nämlich von der ganzen Seele redet, sondern wie sie immer vom Stachel mit Gewalt getrieben wird, muß sie auch immer voll Schrecken und Reue sein.« (Ka½ turannoumffnh ˝ra vuc¼ `kista poiffisei ˘ n boulhj–», £@ per½ ˆlh@ e§pe…n vuc»@‡ ¢p dþ o—strou ⁄e½ lkomffnh bffla tarac»@ ka½ metameleffla@ mest¼ ˛stai. 577e1–3)
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beim oligarchischen auf die besseren Begierden, anschließend übernahmen beim Demokraten die Begierden an sich die Führung, und zuletzt herrschten die untersten Begierden der Wollust und des Wahnsinns beim tyrannischen Charakter. Von der je anderen Zuständigkeit für die Herrschaft in der Seele waren auch die Funktionen der anderen Seelenteile betroffen, es wurden sozusagen Aufgaben und Kompetenzen von allen neu verteilt. Mit der Ausbildung des neuen Charakters war, bedingt durch den jeweils herrschenden Seelenteil, zugleich eine andere existenzielle Orientierung des Individuums für sein Handeln und seine Lebensweise insgesamt verbunden. Es sind Grundwerte, die für jeden Charakter typisch sind, nach denen alles bewertet und erstrebt wird: die Wertschätzung von Ruhm und Ehre beim timokratischen Menschen, beim Oligarchen das Geld, die unbegrenzte Freiheit der Bedürfnisse und deren Befriedigung beim demokratischen Charakter. In Orientierung am jeweiligen Grundwert richtet der Einzelne sein Handeln aus, versteht er sich selbst daraufhin und wird im Handlungsvollzug wie auch in seiner Art und Weise zu leben zugleich für andere als genau derjenige – als genau dieses Individuum – verstehbar, der handelnd diese Orientierung – seinen Charakter – zum Ausdruck bringt und damit seinem Leben eine Beständigkeit zu geben vermag. Aber es ist nur eine relative Beständigkeit des Lebensvollzuges: Der Umgang mit jeweils schlechteren Menschen und ihr Einfluss auf den Einzelnen wurden als Ursachen für die Entstehung des inneren Konfliktes nahezu bei allen Charakteränderungen genannt. Neben diesen äußeren Ursachen gibt es aber noch eine innere Bedingung. Man kann sich nämlich fragen, wieso es überhaupt möglich ist, dass der Einzelne für einen derartigen Einfluss empfänglich ist? Die Stabilität der verschiedenen Charaktere ist nämlich nur eine scheinbare: Es sei das Vorhaben Platons, »die innere Instabilität der Staatsverfassungen und der Zustände der Seelen zu veranschaulichen, die auf einem solchen Wertemonopol beruhen«. 127 Genau dieses Problem der Beständigkeit, der Stabilität des Charakters, wird uns abschließend im Schlussmythos der Politeia noch einmal genauer beschäftigen: als Unterschied zwi127 D. Frede, Die ungerechten Verfassungen, 1997, 263. Vgl. auch ebd., 269: »Unbeschadet der Frage, ob sie [die Staatsverfassungen und seelischen Dispositionen] nun in Wirklichkeit genauso anzutreffen sind oder nicht, läßt sich behaupten, daß solche Staaten und Menschen instabile Systeme darstellen und als solche, bei entsprechenden äußeren Umständen, zum Verfall verurteilt sind.«
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schen einer auf Gewöhnung beruhenden Tugend und der durch Philosophie erworbenen ⁄retffi. Die Interpretation der stufenweisen Abfolge der ungerechten Charaktere ermöglicht jetzt genauer, den Unterschied zwischen dem Gerechten und den Ungerechten anzugeben, und zwar in Bezug auf unsere Problemstellung von Selbstbestimmung und Individualität. Beginnen wir mit letztgenannter: Die Differenz zwischen dem Gerechten und den Ungerechten besteht nicht darin, dass die Ungerechten keine Individualitäten sind, insofern sie handlungsunfähig zu keiner Identität mit sich selbst gelangen könnten. Abgesehen vom tyrannischen Menschen vermögen alle anderen Charaktertypen zu handeln, im Handeln eine Identität auszubilden und aufgrund ihrer unterschiedlichen Wertorientierungen sich in ihrer jeweils verschiedenen Individualität voneinander zu unterscheiden. Platon geht also keineswegs nur beim Philosophen von Individualitäten aus. Der Gerechte und die Ungerechten unterscheiden sich vielmehr in der Entwicklung und Ausbildung ihrer Fähigkeiten, im Erreichen oder im Verfehlen ihrer ⁄retffi, der Bestheit aller seelischen Vermögen. Dieses Ziel kann vollständig oder nur graduell erreicht oder gänzlich verfehlt werden. Die Ungerechten bleiben unter ihren eigenen Möglichkeiten, wohingegen die Individualität des Gerechten eine ausgezeichnete ist – weil er zu seinem eigentlichen Selbstsein findet. Arbogast Schmitt hat die These vertreten, dass in der Antike, im Gegensatz zur Moderne, Individualität »nicht einfach ein ›zu gewahrendes‹ ›Grundfaktum‹ menschlicher Existenz, sondern eine zu bewältigende Aufgabe« sei: 128 Die seelischen Vermögen »sind dem Menschen bei der Geburt nicht schon als vollständig ausgebildete und spezifisch individuelle Einheiten ›gegeben‹, sondern es sind Anlagen, aus denen der Einzelne dadurch seine bestimmte Individualität ausbilden kann, dass er diese Anlagen durch Erziehung in optimaler Weise zur Vollendung bringt«. Dabei spiele die Ausbildung des rationalen Vermögens für die Individualität des Einzelnen eine ausschlaggebende Rolle: »Erst mit der Ausbildung und Vollendung auch seiner höheren Vermögen, vor allem des Vermögens zu begrifflich-allgemeiner Er128 Vgl. hier und im Folgenden: A. Schmitt, Individualität als Faktum menschlicher Existenz, 2002, 126 und 125. Dass damit keine Sinnenfeindlichkeit verbunden ist, sondern die Ausbildung des rationalen Vermögens die Kultivierung der Sinnlichkeit voraussetzt, betont Schmitt mit Nachdruck. Vgl. dazu ebd., 124 ff.
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kenntnis und kritischer Reflexion auf die eigenen Erkenntnistätigkeiten bestimmt der Einzelne sich selbst im eigentlichen Sinn zu einem bestimmten menschlichen Individuum, weil er sich erst durch solche seelische ›Dispositionen‹ und Handlungen von denen der Tiere und auch von denen anderer Menschen in spezifischer Weise unterscheidet.« Dem entspricht in einem praktischen Sinn, was ich bisher unter der Fähigkeit zu handeln verstanden habe: Der Einzelne weiß von sich selbst in einem ausdrücklichen Sinn nur im selbst vollzogenen Handeln, mit dem er ein selbst gewähltes Handlungsziel erreichen will, für welches er seine Gründe hat. Nur in diesem praktischen Zusammenhang, in dem der Handelnde sich auf dieses Ziel hin versteht und sich dadurch selbst bestimmt, vermag der Einzelne ein Selbstverständnis auszubilden, man kann auch sagen: eine Identität, und sich als Individualität von anderen zu unterscheiden. Die graduell verschiedene Ausbildung aller seelischen Vermögen führt bezüglich der Selbstbestimmung zu einer weiteren Differenz zwischen dem Gerechten und den Ungerechten: Der Ausgangspunkt menschlicher Intentionalität ist für alle gleich – das Gute. Von ihm kann man sich nicht distanzieren, weil jeder es in all seinem Tun erreichen will. Allein der Gerechte, weil er alle und insbesondere seine rationalen Fähigkeiten optimal ausgebildet hat, vermag nach Platon das erreichen, was er schon immer intendiert und selbstbestimmt erstrebt – das gute Leben. Hingegen verfehlen die Ungerechten das Ziel ihrer eigenen Intentionalität, weil sie ihre Kompetenzen nicht vollständig entwickelt haben. Genau darin unterscheidet sich die Selbstbestimmung der verschiedenen Charaktere in einer ersten Hinsicht: ob der Handelnde das, was er intentional will, durch sein selbstbestimmtes Handeln erreicht oder nicht, ob also eine gelingende Selbstbestimmung vorliegt, die ihrer eigenen Intention entspricht, oder eine misslingende, die ihr eigentliches Ziel verfehlt. Auch wenn die Ungerechten unter ihren besten Möglichkeiten bleiben, als handlungsfähige Individuen bestimmen sie sich der Sache nach wie der Philosoph. Selbstbestimmung kann nicht auf den Philosophen, der um das Gute weiß, eingegrenzt werden. Im Zusammenhang mit dem Phänomen der st€si@ wurde gesagt, dass im Fall des aus dem »dividuum« hervorgehenden Individuums von Selbstbestimmung in einem ausdrücklichen Sinn gesprochen werden kann. Genau dieser Fall liegt hier vor, in der Überwindung des inneren Konfliktes jeweils im Übergang von einem zum A
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anderen Charakter. Die Selbstbestimmung erhält hierbei sogar eine existenzielle Dimension, die im Schlussmythos der Politeia, in dem der Einzelne für die Wahl seines Charakters verantwortlich gemacht wird, offensichtlich wird. Auch in einer zweiten Hinsicht bestätigt der Charakterdiskurs im VIII. und IX. Buch das Ergebnis aus dem Gorgias: 129 inwiefern die Selbstbestimmung des jeweiligen Charakters alle möglichen Handlungsoptionen umfasst oder nur in einer mehr oder weniger defizitären Form vorliegt. Der autonomen Selbstbestimmung des Philosophen stehen drei Formen defizitärer Selbstbestimmung gegenüber, bei denen die Möglichkeiten des eigenen Wählens und Handelns in zunehmendem Maße eingeschränkt sind: Der Timokrat verzichtet auf eine Prüfung seiner Meinungen und Handlungen, weil die Vernunft sich seinem Wert von Ehre und Ruhm unterzuordnen hat; indem der Oligarch alles allein nach dem Wert des Geldes und des Reichtums bewertet, bleibt ihm die soziale Dimension menschlichen Daseins an sich verschlossen; und der Demokrat begibt sich der Fähigkeit des Wertens und Beurteilens überhaupt, indem ihm jede Begierde gleich wichtig ist. Dieser zunehmenden Einschränkung der Selbstbestimmung entspricht der Verlust an Möglichkeiten guten Lebens. Damit ist noch nichts darüber gesagt, inwieweit dem Handelnden – einem der ungerechten Charaktere – diese Handlungsstruktur und das Ergebnis eigenen Tuns bewusst sind. In den meisten Fällen sind sich diejenigen, die selbstbestimmt unter ihren Möglichkeiten bleiben und das, was sie immer wollen, verfehlen oder nur teilweise treffen, darüber nicht im Klaren. Im Gegenteil, sie behaupten von sich, glücklich zu sein, ohne zu wissen, dass sie es nicht sind, weil sie nur vermeinen, ein gutes Leben zu führen. Das betrifft nicht nur die einzelnen Charaktere, sondern ebenso die ungerechten Staatsverfassungen. 130 Das Dasein der Ungerechten – eine Lebenslüge? So naheliegend diese Schlussfolgerung auch sein mag, richtig ist sie nicht: Zwar stehen sich der Gerechte und der Ungerechte als Idealtypen in der Glücksbilanz diametral gegenüber. Wie wir im Dialog erfahren, ist der Philosoph 729-mal glücklicher als der Tyrann, dieser 729-mal unglücklicher als Vgl. dazu das Kapitel 4.2.4 oben. »Denn jedes Gemeinwesen, sei es timokratisch oder oligarchisch, demokratisch oder tyrannisch, verständigt sich öffentlich über sich selbst und verfügt über eine Legitimationsideologie, die die Vorzugswürdigkeit der eigenen Ordnung herausstellt.« (W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 266) 129 130
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jener (587e1–5). Aber das bedeutet gerade nicht, dass die ungerechten Zwischenstufen des Timokraten, Oligarchen und Demokraten derart unglücklich wie der Tyrann sind. Da sie wie der Gerechte handlungsfähig sind, eine Identität ausbilden und sich als Individualitäten von anderen unterscheiden können, wird von Platon auch ihnen ein gutes Leben attestiert, wenngleich in Abstufungen des jeweils erreichten Glücks im Vergleich mit dem Gerechten als dem Glückseligsten. Die gegenteilige Behauptung, ausschließlich der Philosoph erreicht ein gutes Leben, hingegen alle anderen nicht, wäre wenig überzeugend und auch realitätsfern. Hinzu kommt, dass sich alle ungerechten Lebensweisen in der griechischen Lebenswelt finden: Im timokratischen Menschen, der Ruhm und Ehre schätzt, erkennt man schnell das Ideal des Agonalen der Griechen; die Wertschätzung des Geldes und Besitzes durch den Oligarchen war schon damals ein verbreitetes Lebensideal; und den ohne Maß zu befriedigenden Begierden als Orientierung für das eigene Leben liegt natürlich das demokratische Prinzip zugrunde, machen zu können, was man will. Außerdem bestand das Dialogziel nicht darin zu erweisen, dass ausschließlich der gerechte Charakter ein gutes Leben ermöglicht, sondern dass die philosophische Lebensweise im Vergleich zu anderen weniger glücklichen Lebensweisen diesen an Glückserfahrung überlegen ist. 131 Indem Platon den ungerechten Charakteren, bis auf dem tyrannischen, ein mehr oder weniger gutes und glückliches Leben zugesteht, ergibt sich für die philosophische Lebensweise ein Motivationsproblem: Warum sollte man dann noch Philosoph werden? Warum sollte ich mich der Mühen dieses langen Bildungsweges unterziehen? Unstrittig ist, dass die ungerechten Lebensweisen im Vergleich mit der gerechten Lebensweise offensichtliche Defizite haben: Ruhm und Ehre stehen in Abhängigkeit von den anderen; Geld und Besitz können als äußere Güter verloren gehen, was man selbst nicht verhindern kann; die Abhängigkeit von den eigenen Begierden verhindert die Freiheit der Distanz zu diesem Teil meiner selbst. Insofern bestätigen die unge131 Die ungerechten Lebensweisen sind auch nicht ohne Weiteres abzulehnen. So argumentiert z. B. Wolfgang Kersting für die oligarchische Lebensweise: »Nun kann die ökonomische Rationalität es an Disziplinierungswirkung mit der moralischen Rationalität durchaus aufnehmen; und wenn sie das ganze Dichten und Trachten des Oligarchen auf die Mehrung seines Besitzes richtet, dann kann sie die Seele genauso erfolgreich einen und befriedigen wie die vernünftige Einsicht.« (Ebd., 274) Vgl. die auffällig positive, wenngleich relativierte Bewertung dieser Lebensform von Sokrates (554e4–6).
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rechten Lebensweisen indirekt die Überlegenheit der Lebensweise des Philosophen. 132 Aber, ist das überzeugend? Ist der gerechte Charakter den anderen im Lebensvollzug wirklich überlegen? Was zeichnet ihn gegenüber den anderen derart aus, sodass der Einzelne ein Motiv hat, selbst philosophisch zu leben? Darauf werde ich im folgenden Kapitel eine Antwort geben. Abschließend komme ich auf meine zweite These zurück: Anhand des VIII. und IX. Buches kann gezeigt werden, dass in der Politeia weniger ein Diskurs über Tugenden, sondern vielmehr ein Charakterdiskurs geführt wird. Entscheidend ist für Platon die Ganzheit des jeweiligen Selbstverhältnisses, also der Charakter in seiner jeweiligen Ausprägung, weniger die einzelnen Tugenden an sich. Auch deshalb enden die meisten Frühdialoge aporetisch, weil in ihnen die Frage nach einer nur einzelnen Tugend gestellt wird, die sich aber nur in ihrem Zusammenhang mit den anderen Tugenden adäquat beantworten lässt. Der Vorrang des Charakters vor der einzelnen Tugend erklärt auch, weshalb Platon ersichtlich kein Problem mit der Willensschwäche bzw. dem Handeln wider besseres Wissen hat: Niemand tut freiwillig Schlechtes, so lautet bekanntermaßen die sokratische These, weil unserem jeweiligen Selbstverständnis eine Gesamtorientierung zugrunde liegt, ein die Existenz des Einzelnen umfassendes Orientierungswissen im eigenen Lebenszusammenhang, das den jeweiligen Horizont unserer Einsichtsfähigkeit bestimmt. Deshalb ist auch eine Änderung des Charakters so schwierig, dafür bedarf es der Umlenkung der gesamten Seele (periagwgffi, 518d4). Es ist vollkommen richtig, dass die Vernunft oder das rationale Vermögen für Platon maßgeblich ist, ja, er bezeichnet sie sogar als »göttlich«. Gewiss liegt darin eine Auszeichnung der Vernunft gegenüber den anderen seelischen Vermögen, die sich daher erklärt, dass der Mensch alle anderen Lebensfunktionen mit den anderen Lebewesen gemeinsam hat, sich von diesen nur durch das Vermögen der Vernunft unterscheidet und offensichtlich durch deren Gebrauch erst zum Menschen wird. Das bedeutet aber nicht, dass ausschließlich im richtigen Gebrauch des Rationalen, und zwar unabhängig von den anderen seelischen Vermögen, der Mensch zu seiner besten Form findet, sondern seine Bestheit besteht im Zusammenwirken aller seelischen Kräfte. Denn die Gerechtigkeit ist, um es noch einmal zu sagen, »an der wahr132
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Vgl. dazu bei W. Kersting auch ebd., 277 und 282. ALBER THESEN
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haft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige« zu finden, indem der Einzelne »Freund seiner selbst ist […] und auf alle Weise einer wird aus vielen« (443d2–e3). Im Fall des Gerechten ist diese Einheit mit sich selbst in seiner besten Form erreicht, in den Fällen der ungerechten Charaktere in einer weniger guten Ausprägung. Platon führt, selbst im Fall des Tyrannen, das Weltverhältnis des Einzelnen auf dessen Selbstverhältnis, auf dessen seelische Disposition bzw. seinen Charakter, zurück, weil es vom Selbstverhältnis des Individuums abhängt, wie er sich selbst, den anderen und der Welt begegnet und ihnen gerecht wird. Aus diesem Grund ist die Frage nach der Gerechtigkeit im Sinn einer allgemein begründbaren Norm oder eines äußeren Gutes, was man haben kann, nach Platon falsch gestellt: Gerechtigkeit ist weder eine bloße Definition noch ein äußeres Gut, sondern eine innere Verfassung des Einzelnen – des Gerechten. Deshalb wird aus der Frage nach der Gerechtigkeit im Verlaufe der Politeia die Frage nach dem Gerechten und aus der Frage nach der Tugend die Frage nach dem Charakter. Abstrakte Normen, mögen sie theoretisch noch so überzeugend begründet sein, bleiben praktisch wirkungslos, wenn das jeweilige Selbstverständnis des Einzelnen nicht beachtet wird, denn letzten Endes geht es um denjenigen, der diese Normen in seinen Selbstbegriff aufnehmen und ihnen gemäß handeln soll, und das steht wiederum in einem elementaren Zusammenhang mit seinem Selbstverständnis. Das Wesen der Moral kann nicht in der Befolgung gewisser Grundsätze bestehen, sondern in der Ausbildung einer bestimmten seelischen Disposition und muss deshalb auf das Selbstverständnis des Einzelnen zurückgehen, auf seinen Charakter, nach platonischem Verständnis: seine Verfasstheit – seine politeffla. 133
133 Spätestens seit Alasdair MacIntyre’s Monographie Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (1997; After Virtue. A Study in Moral Theory, 1981) ist der Begriff der Tugend wieder in der aktuellen Ethikdiskussion präsent. Eine umfassendere Interpretation des platonischen Charakterkonzeptes könnte auf die Notwendigkeit aufmerksam machen, dass es den Charakterbegriff als einen ethischen Grundbegriff wieder zu aktualisieren gilt. Zu Begriffsgeschichte und systematischem Gebrauch vgl. L. J. Pongratz, Artikel Charakter, 1971; ders., Artikel Charakterologie, 1971.
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Der Philosoph als Persönlichkeit
Nehmen wir die offengebliebene Frage aus dem letzten Kapitel wieder auf: Die Interpretation des VIII. und IX. Buches hatte ergeben, dass auch die ungerechten Charaktere handlungsfähig sind, dadurch zu einer individuellen Identität gelangen und ein glücklich empfundenes Leben führen können. Trotz offensichtlicher Defizite der anderen Lebensweisen gegenüber der philosophischen ist noch keine Antwort gegeben, ob es überzeugende Gründe für die Wahl dieser Lebensweise gibt. Was ist der wirkliche Gewinn der philosophischen Lebensweise gegenüber den ungerechten, sodass man mit guten Gründen, nach denen Glaukon und Adeimantos mit aller Ernsthaftigkeit fragen, philosophisch zu leben sucht? Weil Platon auch den Ungerechten ein mehr oder weniger gutes Leben zugesteht, wird das Begründungsproblem zusätzlich erschwert. Im Vergleich mit den anderen Lebensweisen muss die philosophische als diejenige ausgewiesen werden, die den anderen hinsichtlich der e'daimonffla überlegen ist. Das ist das eigentliche Problem der Verteidigung der philosophischen Lebensweise, wie in vielen Dialogen deutlich wird: den anderen von dieser neuen Lebensweise zu überzeugen, obwohl er selbst überzeugt ist, bereits gut zu leben. Solange der andere noch immer auf sein glückliches Leben verweisen kann, mag er sich auch aus platonischer Sicht noch so sehr darüber täuschen, ist es doppelt schwer, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Das Problem lässt sich noch zuspitzen: Wird die platonische Ethik vom Gerechten mit dieser Interpretation, dass auch ein Großteil der Ungerechten mehr oder weniger glücklich leben kann, nicht außer Kraft gesetzt? Fassen wir zunächst die bisherigen Ergebnisse zusammen: Die Gerechtigkeit der Seele besteht darin, dass jedes Vermögen nur die ihm zukommende Kompetenz beansprucht, also das Seinige tut, und dass es gerade im Bezug aufeinander – dem Einsseins, der Harmonie der Seele mit sich selbst – zur Ausbildung und zum Vollzug der verschiedenen Kompetenzen des Menschen in ihrer optimalen Form kommt. Dagegen bilden die Ungerechten ihre Anlagen nicht optimal aus und bleiben deshalb unter ihren besten Möglichkeiten menschlichen Seins. Neben der Handlungsfähigkeit und der Ermöglichung einer individuellen Identität, die allen Charakteren zugesprochen wurden, ist die Disposition der gerechten Seele im Unterschied zu den ungerechten Charakteren durch die Einsicht in die Idee des Guten ausgezeichnet. 310
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Weil diese Einsicht einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Gerechten und den Ungerechten begründet, soll im Folgenden auf die Idee des Guten näher eingegangen werden, allerdings nur im Zusammenhang mit der Darstellung der philosophischen Lebensweise. Auf ein damit verbundenes Problem ist bereits am Ende des Kapitels 4.1 hingewiesen worden: die Einsicht in die Idee des Guten genauer zu bestimmen. Worin besteht sie genau? Wie vollzieht sich der Erkenntnisaufstieg im Höhlengleichnis, an dessen Ende diese Einsicht erlangt werden soll? Was bedeutet die damit verbundene Umlenkung der Seele desjenigen, der sich auf diesem Bildungsweg befindet? In der Forschung wird dieses Problem kontrovers diskutiert, ich beschränke mich darauf, im Anschluss an die hermeneutische Platon-Interpretation 134 eine Antwort zu skizzieren, aber keineswegs das Problem insgesamt zu klären. Die hermeneutische Platon-Forschung versteht die Idee des Guten prinzipiell in einem praktischen Sinn. Wolfgang Wieland sieht in ihr das Prinzip, welches »die Betätigung der Urteilskraft« reguliert, 135 und verweist in diesem Zusammenhang auf den Abschluss des Höhlengleichnisses: Sinn und Aufgabe des höchsten Wissens, der Einsicht in die Idee des Guten, sei die Rückkehr in die Höhle, denn wer diese Einsicht gewonnen habe, »kennt nicht nur das Prinzip alles Seins und alles Erkennens«, sondern zugleich »das Prinzip alles vernünftigen privaten und politischen Handelns«. 136 Dabei ist diese Einsicht weder ein technisches noch ein theoretisches Wissen, sondern nach Hans-Georg Gadamer – »praktische Vernünftigkeit«, die darin bestehe, ohne mögli134 Ich verweise auf folgende Arbeiten: Ch. Quarch, Sein und Seele, 1998, die eine Diskussion einschlägiger Interpretationen der Ideenlehre enthält; W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, bes. § 10: Die Idee des Guten und ihre Funktionen, 159–185; T. Borsche, Was etwas ist, 1992, Teil II, Kapitel 3: Die Notwendigkeit der Ideen; ders., Die Notwendigkeit der Ideen, 1996; D. Frede, Platon und die Augen des Geistes, 2002, die sich gegen die Annahme der sogenannten Zwei-Welten-Theorie Platons richtet. Innerhalb meiner Arbeit orientiere ich mich an den Interpretationen der Idee des Guten von: H.-G. Gadamer, Praktisches Wissen (1930), GW V; ders., Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), GW VII; W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999; im Anschluss an Gadamers Deutung: G. Figal, Die praktische Vernunft des guten Lebens, 1992; ders., Handlungsorientierung, 1998; W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999. 135 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 164. 136 Ebd., 222 mit Verweis auf 517c. Für Wolfgang Kersting stellt die Einsicht in die Idee des Guten eine »praktisch-praxeologische Kompetenz« dar (Platons ›Staat‹, 1999, 242 ff.).
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chen Rückgriff auf ein allgemein vorerworbenes Wissen, sondern allein aufgrund eigener Überlegung zu wissen, was in einer bestimmten Situation des Handelns das Richtige sei, und die Platon auf die theoretische Haltung des Dialektikers ausgedehnt habe. 137 Für Günter Figal ermöglicht die Einsicht in die Idee des Guten nicht nur eine Distanz zum Leben, sondern auch zum Wissen, und erst dieser Abstand zum Wissen selbst befähige zu beurteilen, »ob die Einsicht jeweils das dem Leben, das seiner Situation und Besonderheit Angemessene erschließt«. 138 Der gute Gebrauch des Wissens orientiert sich dabei an der Vorstellung, dass das Wissen – als solches immer ein Allgemeines – auf das jeweils Konkrete bezogen oder angewandt werden muss und sein richtiger Gebrauch sich an der Angemessenheit gegenüber dem Besonderen zu erweisen hat. Das Problem, allem Individuellen gerecht werden zu wollen, ist uns bereits bekannt: im Verstehen der Gerechtigkeit als »das Seinige tun und erhalten«. Diesem liegt das Prinzip der proportionalen bzw. geometrischen Gleichheit zugrunde, bei welcher im Gegensatz zur arithmetischen Gleichheit, die jedem ohne Unterschied dasselbe zuteilt, gerade die Verschiedenheit als Ausgangspunkt genommen und ihr Rechnung getragen wird. 139 Es ist offensichtlich, dass die geometrische Gleichheit äußerst schwierig umzusetzen ist, dass ein höchstes Maß an Urteilskraft vorausgesetzt wird, um dem Anspruch gerecht zu werden, dem jeweils Individuellen das ihm Gebührende (prosffikwn), das ihm Zustehende und Angemessene zukommen zu lassen. Diese Kompetenz entspricht nach obiger Interpretation der Einsicht in die Idee des Guten. 140 Zu dieser gehört auch die Fähigkeit des Philosophen, 137 Vgl. dazu H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), GW VII, 146 ff. Das von Gadamer hervorgehobene Praktische der Dialektik als ein Prozess des Rechenschaftgebens und -nehmens hat eine Entsprechung in der ethisch-politischen Herkunft der Ideen. Vgl. dazu T. Borsche, Was etwas ist, 1992, 78 ff. und die Anm. 157 unten. 138 G. Figal, Handlungsorientierung, 1998, 151. 139 Beide Verteilungsprinzipien sind Platon bekannt: 558c, Lg. 744b f. und 756e ff. 140 Relevant ist diese Kompetenz auch in politiktheoretischer Hinsicht: Der königliche Herrscher ist aufgrund seiner Urteilsfähigkeit, dem je Konkreten und Individuellen gerecht zu werden, indem das Einzelne das ihm je Gebührende erhält, den Gesetzen in genau dieser Hinsicht überlegen, weil diese dem Einzelnen von sich aus nicht gerecht werden können und deshalb nur die zweitbeste Lösung bei der Führung und Organisation einer Polis sind: »Weil das Gesetz nicht imstande ist, das für alle Zuträglichste und Gerechteste genau zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen. Denn die Unähn-
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dass er in Kenntnis der Seele seines jeweiligen Gesprächspartners diesen dort »abzuholen« vermag, wo er sich intellektuell befindet, mit anderen Worten: Er ist fähig, das Gespräch dem philosophischen Niveau seines Dialogpartners anzupassen (vgl. dazu Phdr. 277b f.). Dieses Können ist in der Gesprächsführung allerdings nur dann nötig, das sei vermerkt, wenn von der Individualität der Dialogpartner ausgegangen wird. Die Einsicht in die Idee des Guten muss vom Einzelnen eigenständig erworben werden, es handelt sich um authentisches Wissen: 141 Dabei ist der Einzelne in einer zweifachen Hinsicht gefragt: Weder kann eine Menge philosophisch sein (R. 494a4), sondern immer nur der Einzelne, noch reicht es aus, das Wissen von einem anderen einfach zu übernehmen. Gewiss ist diese Einsicht im vorgängigen Dialog mit anderen vorbereitet, zumal über einen längeren Zeitraum, wie der in der Politeia beschriebene Bildungsweg des Philosophen deutlich werden lässt. Oder man vergegenwärtige sich, dass es sich um eine Kompetenz handelt, die als solche Übung und Erfahrung benötigt. Aber letztlich muss der Einzelne diese Einsicht selbst vollziehen, analog dem griechischen Verständnis, dass man nur das weiß, was man selbst gesehen hat. In unserem Fall der Einsicht in das Gute ist damit keine Intuition, keine Schau einer metaphysischen Wesenheit, wie oft behauptet wurde, gemeint, sondern, wie in den Dialogen dargestellt, anspruchsvolle geistige Arbeit: 142 »denn es läßt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lerngegenstände, sondern aus häufiger gemeinsamer Bemühung um die Sache selbst und aus dem gemeinsamen Leben entsteht es plötzlich – wie ein Feuer, das von einem übergesprungenen Funken entfacht wurde – in der Seele und nährt sich dann schon aus sich heraus lichkeit der Menschen und der Handlungen, und daß niemals nichts sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, die gestattet nicht, daß irgendeine Kunst in irgend etwas für alle und zu aller Zeit einfach darstelle.« (4Oti nmo@ o'k ˝n pote dÐnaito t te ˝riston ka½ t dikaitaton ⁄krib@ ¿ma p”sin perilabn t bffltiston ¥pit€ttein‡ a gÞr ⁄nomoithte@ tn te ⁄njrðpwn ka½ tn pr€xewn ka½ t mhdffpote mhdþn £@ ˛po@ e§pe…n sucfflan ˝gein tn ⁄njrwpfflnwn o'dþn ¥sin %plo‰n ¥n o'den½ per½ %p€ntwn ka½ ¥p½ p€nta tn crnon ⁄poyafflnesjai tffcnhn o'd’ ntino‰n. Plt. 294a10–b6) Vgl. auch den gesamten Abschnitt 293e ff. und Lg. 875c f., wo Platon die Existenz des mit Einsicht begabten königlichen Herrschers unter Vorbehalt stellt. 141 Vgl. dazu R. Enskat, Authentisches Wissen, 1998 und die Ausführungen dazu im Kapitel 3.2 oben. 142 Vgl. dazu D. Frede, Kreativität bei Platon?, 2005. A
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weiter« (Ep. 341c6–d2). Diese metaphorische Beschreibung des Moments, in dem man es endlich begriffen hat, entspricht der Selbsterfahrung der Evidenz. Die Einsicht ist selbst kein Wissen, das sich in die Form von Argumenten bringen ließe. Als nicht-propositionales »oberstes Gebrauchswissen«143 lässt es sich zeigen, es kann dialogisch, und d. h. rational, ausgewiesen werden – im Ausweis seines Gebrauchs. Verstehen kann es nur der Einzelne selbst, wie auch nur er selbst urteilen kann. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass sowohl die Idee des Guten als auch die Ideen selbst nicht durch uns im Erkenntnisprozess hervorgebracht werden. Sie sind uns aber auch nicht einfach vorgegeben, sondern vielmehr aufgegeben, und zwar in dem Sinn, dass es für uns gilt, durch anspruchsvolle geistige Arbeit die Strukturen des Seins in ihrer je besten Ausprägung zu finden. »Was die Gesprächspartner zustandebringen, ist nicht die natürliche Ordnung von allem, sondern nur die Ausdrücklichkeit dieser Ordnung in der jeweiligen Situation«. 144 Über diese Kompetenz zu verfügen, in jeder Situation das jeweils Richtige begründet zu wissen, ist bereits Ausdruck einer individuellen Disposition, deren genauere Bestimmung auch die von Platon behauptete Überlegenheit der philosophischen Lebensweise begründet: Sie besteht darin, so meine These, den Einzelnen zu befähigen, eine anspruchsvolle individuelle Identität auszubilden: »Denn wer in der Tat seine Gedanken auf das Seiende richtet, […] auf Wohlgeordnetes und sich immer Gleichbleibendes schauend, was unter sich kein Unrecht tut oder leidet, sondern nach Ordnung und Regel sich verhält«, wird »dieses nachahmen und sich dem nach Vermögen ähnlich bilden. […] Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur dem Mensch möglich ist.« 145 Die Ausbildung der individuellen Identität scheint mit dem Streben, Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 180 u. ö. G. Figal, Macht und Streit, 1991, 66. Zur Rezeptivität der Seele gegenüber den Gegenständen des Wissens und zur Spontaneität des Erkennens vgl. T. Borsche, Was etwas ist, 1992, 102 f. Borsche betont in seiner Interpretation der Anamnesislehre zwei Hauptaspekte, auf die Platon selbst hinweise: die Schwierigkeit des Erkennens und das nur in sich selbst zu findende Wissen. 145 t† ge £@ ⁄lhj@ pr@ to…@ oªsi t¼n di€noian […] e§@ tetagmffna ˝tta ka½ katÞ ta'tÞ ⁄e½ ˛conta ¡rnta@ ka½ jewmffnou@ ot’ ⁄diko‰nta ot’ ⁄dikoÐmena ¢p’ ⁄llffilwn, ksm†w dþ p€nta ka½ katÞ lgon ˛conta, ta‰ta mime…sjaffl te ka½ ˆti m€lista ⁄yomoio‰sjai‡ […] Qeffl†w d¼ ka½ kosmffl†w ˆ ge yilsoyo@ ¡miln ksmi@ te ka½ je…o@ e§@ t dunatn ⁄njrðp†w gfflgnetai (R. 500b8–d1). 143 144
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dem Göttlichen ähnlich werden zu wollen, soweit es dem Menschen möglich ist, zunächst in keinem engeren Zusammenhang zu stehen. Aber genau darauf zielt meine Behauptung: In Ausrichtung auf das Vollkommene und im willentlichen Streben nach dessen Ähnlichkeit bildet der Einzelne seine individuelle Identität aus. Darin – in der individuellen Identität – ist die Lebensweise des Philosophen den anderen Lebensweisen überlegen: in ihrer Beständigkeit und Stabilität, worin sich das Streben des Einzelnen nach seiner e'daimonffla erfüllt. Die Angleichung an das Göttliche, soweit dem Menschen möglich, ist keineswegs nur an dieser Dialogstelle genannt, sondern kommt mehrfach im platonischen Œuvre vor und ist deshalb für die Interpretation von Bedeutung. 146 Was besagt aber diese für uns ungewöhnliche Redewendung? Der Begriff des Göttlichen oder Gott ist ein Gegenbegriff für unsere endliche menschliche Existenz, er stellt die Vorstellung von etwas Unendlichem zur Verfügung, die wiederum den sinnvollen Gebrauch des Begriffes Endlichkeit des menschlichen Daseins voraussetzt. Es ist eine Vorstellung von dem, was die Endlichkeit gerade nicht sein soll, und ist insofern notwendig für die Abgrenzung des Begriffes menschlicher Endlichkeit. Der Sache nach ist uns dieses Streben nach dem Vollkommenen bereits aus dem Symposion bekannt: Denn es sucht »die sterbliche Natur nach Vermögen, immer zu sein und unsterblich«. 147 Das Göttliche ist im Gegensatz zum Menschlichen ewig, immer gleich bleibend, vollkommen. Wie sollte es dem Menschen bei diesem Unterschied überhaupt möglich sein, dem Göttlichen ähnlich zu werden? Ist dies nicht von vornherein ausgeschlossen? Die Rede von der Angleichung an Gott setzt voraus, dass eine Verwandtschaft mit demjenigen besteht, dem man ähnlich zu werden strebt. Platon bezeichnet die menschliche Vernunft mehrfach als das Göttliche in uns (vgl. Alc. I 133c1–6), und es ist nach diesem Verständnis konsequent, wenn im Bildnis von den drei Seelenteilen – dem buntscheckigen und vielköpfigen Untier, dem Löwen und einem Menschen – der für die Vernunft 146 Neben 500c9–d1 z. B. 613b1 f., Tht. 176b1 f. und Lg. 716c f. Vgl. zur ¡mofflwsi@ je† katÞ t dunatn (Angleichung an Gott der Möglichkeit nach) in der gesamten literarischen und philosophischen Überlieferung bis Platon einschließlich seiner Verwendung die Studie von D. Roloff, Gottähnlichkeit, 1970. 147 ¥nta‰ja gÞr tn a'tn ¥keffln†w lgon jnht¼ yÐsi@ zhte…, katÞ t dunatn, ⁄effl te e nai ka½ ⁄j€nato@ (207d1 f.).
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stehende Mensch als »des Menschen innerer Mensch« (R. 589a8–b1) ausgezeichnet wird. Es sind die Leistungen der Seele, die Platon zu dieser Bezeichnung veranlassen. Neben den bislang im Zusammenhang mit dem Symposion genannten Fähigkeiten des Nachsinnens und der Erinnerung ist uns die einheitsbildende Leistung der Seele mehrfach begegnet: im Gebrauch des Leibes, im selbstbestimmten Vollzug einer Handlung, in der Ausprägung des ihr eigentümlichen Werkes einer Lebensform. 148 Dass die Seele nicht von empirischer, sondern von kategorial anderer Art sein muss, wird angesichts einer weiteren Leistung deutlich: Dass es uns möglich ist, mit sich identischen Begriffen umzugehen, und dass dieses Vermögen für uns praktische Bedeutung hat, obwohl wir zur Welt des herakliteischen Werdens gehören, berechtigt, die Seele nicht allein auf die Empirie zu reduzieren, sondern sie als göttlich auszuzeichnen. Modern ausgedrückt würden wir heute dieses Nicht-Empirische mit anderen Begriffen bezeichnen: als das Universelle, das Allgemeine oder auch das Transzendentale. 149 Dass es uns Menschen möglich ist, dem Göttlichen ähnlich zu werden, bedeutet auch bei Platon nicht, dass wir göttlich werden könnten. 150 Außerdem stünde diese Aussage im Widerspruch zum Inhalt des Symposions: Als sterbliche Wesen befinden wir uns in einer ständigen Veränderung, die nicht nur den Körper, sondern auch die Seele und sogar die Erkenntnisse betrifft. Es kann also nur eine dem Menschen eigene Art und Weise gemeint sein, göttlich zu werden, welche die bei Platon immer ausdrücklich genannte Differenz zwischen Mensch und Gott – »soweit es dem Menschen möglich ist« oder in
148 Dieser Befund stimmt gut mit dem Ergebnis in epistemologischer Sicht überein: Die Seele bringt die einzelnen Wahrnehmungseindrücke in einen Zusammenhang, indem sie durch sich selbst das Gemeinschaftliche in ihnen erkennt (Tht. 185c–e). Vgl. dazu im Kapitel 2.2 oben. 149 »Ihre ordnende und anordnende, ihre organisierende und disponierende Potenz stammt allein aus ihr [der Seele] selbst. Auch um diese offenkundig nicht durch die Sinne vermittelte Leistung kenntlich zu machen, wird die Seele ›göttlich‹ genannt. […] Die mit der Auszeichnung vollzogene kategoriale Abgrenzung von der bloß empirischen Welt besteht völlig zu Recht.« (V. Gerhardt, Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, 2003, 140) 150 Vgl. J. Wippern, Eros und Unsterblichkeit, 1965, 158 f., Anm. 123 (mit Angabe aller wesentlichen Dialogstellen zur Einschränkung einer vollkommenen Angleichung an Gott): »Es handelt sich insgesamt also nicht um das völlige Gottwerden, sondern nur um das Streben nach möglichst großer Gottähnlichkeit.«
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einer anderen Formulierung: »nach Vermögen« (katÞ t dunatn) – ernst nimmt. Die Bedeutung des Umgangs und der Einfluss dessen, mit dem man umgeht, ist bereits im Kapitel 1.3 ausführlich behandelt worden. In der folgenden Dialogstelle aus der Politeia wird ausdrücklich auf diesen Zusammenhang Bezug genommen: »Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, daß einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme?« 151 Dabei ist vonseiten desjenigen, der danach strebt, dessen positive Hinwendung akzentuiert – ⁄g€meno@ bedeutet »bewundern«, »verehren«, »hochschätzen« und »von Bewunderung über etwas ergriffen sein« – und der Umgang zugleich als ein bewusst gewolltes und reflektiertes Streben hervorgehoben. Der Philosoph, der den Umgang mit dem Göttlichen pflegt, ist sich darüber bewusst, was und aus welchem Grund er es tut. Ansonsten ließe sich nicht verstehen, dass er sich selbst bildet: »Wenn ihm nun, fuhr ich fort, eine Notwendigkeit entsteht, zu versuchen, wie er das, was er dort sieht, auch in der Menschen Sitten einbilden könne, im einzelnen sowohl als öffentlichen Leben, um nicht nur sich allein zu bilden (autn pl€ttein); glaubst du, er werde ein schlechter Bildner zur Besonnenheit und Gerechtigkeit sein und zu jeder volksmäßigen Tugend?« (500d4–8) Sich selbst bilden – autn pl€ttein! 152 Pl€ttein an sich heißt neben »schaffen« und »gestalten« auch »formen« oder »bilden«; und autn pl€ttein – »sich selbst bilden«, »sich selbst formen«, und das heißt: seiner Seele, sich selbst eine Form und Gestalt geben. Bereits der Begriff der Gestaltung und Formgebung verweist auf einen mehrere Teile umfassenden Zusammenhang, sodass sich auch etymologisch bestätigt, dass die Selbstbildung natürlich auch, aber nicht ausschließlich auf den Erwerb von Wissen zielt, und der platonische Bildungsbegriff umfasst, wie wir wissen, den gesamten Menschen. Göttlich werden, soweit es dem Menschen möglich ist, lässt sich jetzt verstehen als die Ausbildung einer bestimmten Disposition des eigenen Selbst und damit der eigenen Identität. Diese ist nicht mit der einer Person in moralischer oder rechtlicher Hinsicht oder der eines allgemeinen Erkenntnissubjekts zu verwechseln, sondern in Ausrichtung auf das göttlich o—ei tinÞ mhcan¼n e nai, ˆt†w ti@ ¡mile… ⁄g€meno@, m¼ mime…sjai ¥ke…no; (500c6 f.) Werner Jaeger hat darauf hingewiesen, dass hier der Begriff des »Sich-selbst-Bildens« in der Erziehungsgeschichte zum ersten Mal erscheint (Paideia, Bd. 2, 1959, 418, Anm. 389). 151 152
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Allgemeine bildet der Philosoph – sich dessen selbst bewusst – sich selbst: seine eigene individuelle Identität. So bringt auch der Begriff der Selbstbildung zum Ausdruck, dass das eigentliche Ziel nicht das Göttliche an sich ist, sondern Ziel ist es, diesem ähnlich werden zu wollen – um seiner selbst willen. Im Umgang mit dem Göttlichen als einem Sich-gleich-Bleibenden kommt es zur Ausbildung der eigenen Beständigkeit und einer Stabilität der eigenen Identität. Philosophie als platonische Dialektik »übt, an dem unverwirrbar festzuhalten, was einem als das Rechte vor Augen steht«. 153 Trotz des Vorbehaltes, dass menschliches Wissen, weil unvollkommen, kein göttliches ist, folgt Sokrates immer dem lgo@, der sich jeweils als der beste gezeigt hat, und hält an ihm fest, solange sich kein anderer als besser erwiesen hat: »Denn nicht jetzt nur, sondern schon immer habe ich ja das an mir, daß ich nichts anderem von mir gehorche als dem Satze, der sich mir bei der Untersuchung als der beste zeigt.« 154 Die in Bezug auf das Göttliche gewonnenen Einsichten sind – vor dem Hintergrund der Frage, wie zu leben gut sei – handlungsrelevant und identitätsbildend, indem der Einzelne sich daraufhin versteht, sich selbst festlegt und bestimmt, »unverwirrbar« daran festhält und in dieser Hinsicht ein in sich stabiles Selbstverständnis hat und eine Identität ausbildet, die ihren Namen verdient. Die Notwendigkeit des Bezuges auf ein Allgemeines für die eigene Identität ist bereits im Kapitel 2.2 zum Symposium erörtert worden. Angesichts unserer umfassenden Eingebundenheit in die Welt des herakliteischen Werdens stellte sich dort das Problem, inwiefern wir aufgrund dieses alles umfassenden Werdens überhaupt in der Lage sein sollten, eine stabile personale Identität ausbilden zu können. Können wir zu Recht annehmen, im permanenten Wechsel von Zeit, Ort und Zuständen derselbe zu sein? Jetzt lautet die Antwort: Ja, indem wir das Göttliche nachahmen, ihm so ähnlich werden wollen, wie nur möglich, und das bedeutet: indem wir an den Einsichten festhalten und dadurch 153 H.-G. Gadamer, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (1978), GW VII, 150. 154 £@ ¥gð, o' mnon n‰n, ⁄llÞ ka½ ⁄effl, toio‰to@ oo@ tn ¥mn mhden½ ˝ll†w peffljesjai t† lg†w $@ ˝n moi logizomffn†w bffltisto@ yafflnhtai (Cri. 46b4–6). Vgl. auch R. 534c1–4: Nur derjenige lgo@ gilt als Wissen, welcher, »wie im Gefecht durch alle Angriffe sich durchschlagend […], durch dies alles mit einer unüberwindlichen Erklärung durchkommt« (¯sper ¥n m€c–h diÞ p€ntwn ¥lffgcwn diexiðn […], ¥n p”si toÐtoi@ ⁄ptti t† lg†w diaporeÐhtai).
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selbstbestimmt – beständig – werden. Selbst für die gerechte Seele ist der Bezug auf das Allgemeine durchgängig nötig. Sie ist zwar eine Disposition, ein Habitus, eine Lebensweise, aber wie sich die Einsichten immer wieder neu zu bewähren haben, so muss auch die Seele angesichts der wechselnden Situationen, Bedürfnisse und Interessen ihre Bestheit immer wieder unter Beweis stellen. Der platonische Begriff von Individualität orientiert sich, wie in der Politeia zu lesen ist, an der Beständigkeit der Identität des Individuums: »die vernünftige und ruhige Gemütsfassung aber, welche ziemlich immer sich selbst gleichbleibt«. 155 Nicht nur im Erkennen, Handeln und gemeinsamer Kommunikation unterstellen wir die eigene Identität wie die des anderen, sondern die individuelle Identität hat als solche einen Wert für uns. Es ist vollkommen richtig, ein Argument für diese Lebensform darin zu sehen, dass man das Gutsein der eigenen Seele in der eigenen Hand hat und nicht von äußeren Umständen abhängig ist. 156 Hinzu kommt allerdings, dass mein Selbstbegriff, so wie ich mich verstehe, für mich von existenzieller Bedeutung ist. Denn ich bin es, der Kunde von sich gibt, der im Wechsel der Zeiten sich als genau das Individuum versteht und verstanden wissen will und als genau dieser sich wiedererkennen und wiedererkannt werden will. So, wie ich mich verstehe, bin ich im gelingenden Fall sowohl für mich selbst als auch für den anderen. Diese sich selbst bewusste und auf Dauer zielende Beständigkeit meines Daseins ist gelingendes und insofern gutes Leben. So soll ja auch der Gerechte von allen Charakteren der glückseligste sein. Wie wir bei der Behandlung der Charaktere gesehen haben, bestand ein Merkmal der ungerechten Charaktere in ihrer nur relativen Beständigkeit, die sie für interne Verfallserscheinungen anfällig machte. Im Unterschied dazu zeichnet sich der gerechte Charakter bzw. die philosophische Lebensweise dadurch aus, dass sie durch den Bezug auf das Göttliche und ihr Streben nach Ähnlichkeit vielleicht keine absolute, aber eine dem Menschen mögliche stabile seelische Disposition und eine dementsprechende Identität auszubilden vermag, sodass sich sagen lässt: In der beständigen Identität des Individuums realisiert sich das gute Leben des Einzelnen.
t dþ yrnimn te ka½ sÐcion Æjo@, paraplffision $n ⁄e½ a't a¢t† (604e2 f.). Vgl. dazu U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 47. Vgl. dazu auch das Kapitel 3.1 oben. 155 156
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Wodurch zeichnen sich die individuelle Identität des Philosophen und seine Lebensweise als Ausdruck jener aus? Der Philosoph, der selbst mit dem »Göttlichen und Geregelten« umgeht, soll – soweit es ihm als Mensch möglich ist – selbst »göttlich und geregelt« werden (vgl. 500c9–d1). Das bedeutet, nach einer Regel leben, die eine in sich kohärente Art und Weise des Umgangs mit sich, den anderen und der Welt angesichts der Vielfalt der Situationen ermöglicht, die aber in ihrer Konstanz die Individualität nicht unterdrückt, sondern nach meiner Interpretation diese geradezu exponiert. Denn die Identität des Individuums ist ein ganz bestimmtes Selbst- und Weltverhältnis, das Gleichbleibende in allen Bezügen und sich darin von anderen Unterscheidende. Damit ist nicht nur der einheitliche Vollzug des Lebens an sich gemeint, sondern der vernünftige Vollzug aller bewussten Lebensäußerungen, denn es ist ein Leben nach eigenen Einsichten, das die Einheitlichkeit des Lebens und damit auch die Identität des Individuums hervorbringt. 157 Für die Behauptung, dass die Orientierung auf das Allgemeine die Voraussetzung für eine exponierte und sich selbst bewusste individuelle Identität sein soll, ist Sokrates das Beispiel par excellence. Welchen Begriff er von sich selbst hatte, ist uns aus seiner Apologie bekannt: Durch die Methode der Selbstprüfung, über sich und sein Leben Rechenschaft abgeben zu können, gab er selbst seinem Leben eine einheitliche Form. Er verstand sich als ein vernünftiges Wesen, weil er als einziges Kriterium des Entscheidens und Handelns nur die eigene Einsicht gelten ließ: Er lebte sein »individuelles Gesetz«. 158 Die individuelle Identität und die mit ihr verbundene exponierte Individualität beanspruchen den Unterschied zu anderen, der auch als solcher von anderen erfahrbar und benennbar sein muss. Inwiefern stimmen im 157 Es gibt eine auffällige Parallele zur Interpretation der Ideen bei Tilman Borsche: Er erklärt das Prädikat der Unbeweglichkeit, das den Ideen in Phd. 78d6 f. zugesprochen wird, durch dessen Herkunft aus dem ethisch-politischen Bereich. Unbeweglich hieße dort, z. B. bei der Tapferkeit, dass einer »›sich selbst, seiner Natur und seinem wahren Sein treu bleibt‹, man könnte auch sagen: einer, der sich in allen Wechselfällen des Schicksals ›immer auf die gleiche Weise verhält und niemals und nirgends irgendeine Veränderung annimmt‹«. Gemäß dieser Herkunft ginge es bei den Ideen »um das Beharrliche, Maßgebende, Wertsetzende«, dementsprechend verhielten sich die Ideen »den Dingen und der Erkenntnis gegenüber immer auf dieselbe Weise. Gerade angesichts der Vielfalt der Fälle und Situationen bewährt sich die Idee wie die Tugend als Eine.« (Was etwas ist, 1992, 79 und 81) 158 Vgl. dazu V. Gerhardt, Das individuelle Gesetz, 1997.
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Fall von Sokrates Selbst- und Fremdwahrnehmung überein? Dafür ist die Darstellung von Sokrates in der Rede des Alkibiades im Symposion ein Beispiel: Es ist sicher richtig, dass Alkibiades Wesentliches nicht verstanden hat, und die Redewendung, dass im Wein die Wahrheit liegt, ist mit Vorsicht zu gebrauchen. 159 Aber selbst wenn man diese den Wahrheitsgehalt einschränkenden Vorbehalte gegenüber der Rede von Alkibiades beachtet, ist sie für eine Interpretation nicht völlig wertlos, weil Alkibiades uns einen Sokrates schildert, der uns aus anderen Dialogen vertraut ist: einen Menschen, der im Wechsel der Situationen und Umstände ein nicht mit anderen zu Verwechselnder ist. Es ist die Art und Weise seines Selbst- und Weltbezuges, die sich nicht nur in bestimmten Situationen zeigt, sondern im gesamten Lebensvollzug ausprägt, seine für ihn selbst und für andere erfahrbare individuelle Identität. Andererseits besteht gerade darin seine exponierte Individualität, sodass sich Alkibiades in seiner Beschreibung von Sokrates gezwungen sieht, zu Bildern greifen zu müssen: »wie aber dieser Mensch in seiner Wunderlichkeit ist, er selbst und seine Reden, so würde einer auch von fern nichts Ähnliches finden, weder bei den Jetzigen noch bei den Alten, wenn ihn nicht jemand, wie ich eben tue, mit keinem Menschen vergleichen will, sondern mit den Silenen und Satyrn, ihn und seine Reden«. 160 Es ist Sokrates’ sogenannte ⁄topffla 161 , seine Ungewöhnlichkeit im Vergleich mit anderen, seine »Ortlosigkeit«, die eine Zuordnung verhindert, es ist das Neue seiner Lebensweise gegenüber Gewohntem und im Umfeld Gelebtem. Als begrifflicher Aus-
Zur Interpretation des Auftritts und der Rede des Alkibiades über Sokrates im Symposion vgl. z. B. Th. A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 263–268; ebenso G. Figal, Sokrates, 1995, 97–101. 160 Oo@ dþ o¢tos½ gffgone t¼n ⁄topfflan ˝njrwpo@, ka½ a't@ ka½ o lgoi a'to‰, o'd’ ¥gg±@ n e˜roi ti@ zhtn, ote tn n‰n ote tn palain, e§ m¼ ˝ra e§ o@ ¥g lffgw ⁄peik€zoi ti@ a'tn, ⁄njrðpwn mþn mhdenffl, to…@ dþ silhno…@ ka½ satÐroi@, a'tn ka½ to±@ lgou@. (221d1–6) Vgl. auch 215a2–6: »Denn gar nicht leicht ist es, deine Wunderlichkeiten (t¼n s¼n ⁄topfflan) […], fertig und ordentlich hintereinander aufzuzählen. Also den Sokrates zu loben, ihr Männer, will ich so versuchen, durch Bilder (di’ e§knwn); er wird nun wohl vielleicht glauben, spöttischerweise, aber gerade zur Wahrheit soll mir das Bild dienen ( e§kn to‰ ⁄lhjo‰@ neka) und gar nicht zum Spott.« 161 ˝topo@, ⁄topffla heißt: nicht an seiner Stelle, daher: ungewöhnlich, auffallend, wunderbar, das Ungewöhnliche, Seltsamkeit, Wunderlichkeit, Widerspruch, wohl auch Scheußlichkeit. 159
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druck für seine Individualität wird ihm die ⁄topffla in den Dialogen mehrfach und keineswegs nur von Alkibiades attestiert. 162 Eine exponierte Individualität, die sich dessen selbst bewusst ist, eine individuelle Identität, die ihr eigenes individuelles Gesetz lebt, eine optimale Ausprägung aller Kompetenzen: All das legt den Eindruck nahe, dass wir es mit einer Art von Egoismus zu tun haben. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man bedenkt, dass in der Politeia den Ausführungen zu den ungerechten Charakteren drei weitere Beweise folgen, die darlegen sollen, dass der Gerechte gegenüber dem Ungerechten wirklich der Glücklichere ist, weil er dem Ungerechten auch noch hinsichtlich der Lusterfahrung überlegen sei. 163 Nicht nur hat der Gerechte die reichste Erfahrung an Lust – die Lust des Erkennens, des gelingenden Strebens, der Sinnlichkeit – und weiß sie gegeneinander richtig zu bewerten, sondern mit der optimalen Ausprägung der Kompetenzen der Seelenvermögen erreichen diese auch ihre jeweils beste und höchste Lust: »Wollen wir kühnlich sagen, daß von allen auf das Eigennützige sowie das Streitlustige bezüglichen Begierden diejenigen, welche, der Erkenntnis und vernünftiger Rede nachgehend und nur nach deren Anleitung der Lust nachstrebend, diejenigen Lüste erlangen, auf welche die Vernunft hindeutet, daß diese sowohl die wahrhaftesten (tÞ@ ⁄lhjest€ta@) erlangen werden, soweit ihnen nämlich möglich ist, Wahres zu erlangen, weil sie ja der Wahrheit gefolgt sind, als auch die ihnen eigentümlich Zugehörigen (tÞ@ autn o§keffla@), wenn doch das Beste für einen (t bffltiston 162 Neben 215a2, 216c f., 221c auch Alc. I 106a2, Grg. 494d1 und Tht. 149a10. Zur ⁄topffla des Sokrates vgl. z. B. P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 148 f. und 153 f.; ebenso B. Groethuysen, Philosophische Anthropologie, 1928, 8 f.: Sokrates sei ein Mensch, »der als solcher gar nicht wieder in einen philosophischen Begriffszusammenhang aufgeht, seine Stelle in einem System finden könnte. Er bleibt außerhalb aller philosophischen Interpretation, kann einer solchen gar nicht unterworfen werden, geht in kein analytisches Schema ein. Er läßt sich nur darstellen, nur zur Anschauung bringen: eine Figur. Sokrates als dieser Mensch ist etwas Unerschöpfliches, ein Mensch, der sich von verschiedenen Seiten zeigen, von den Menschen verschieden aufgefaßt werden kann und im Grunde doch sein Geheimnis stets bewahrt. Dabei bleibt er eine Figur des Diesseits, ist kein Weltwesen, kein Symbol, kein Gott in Menschengestalt. In allen metaphysischen Spekulationen wird in der Anschauung des Sokrates die Bedeutung des Diesseits im Verhältnis zum Jenseits, des Augenblicks im Verhältnis zum Ewigen, des Individuums zum Allgemeinen, des Denkenden zum Gedachten wiederhergestellt. Es bleibt der stets geschaute Sokrates, etwas Einmaliges: ein Mensch.« 163 Wieso anhand des Kriteriums der Lust bzw. des Angenehmen und nicht des Nützlichen erklärt P. Stemmer, Der Grundriß der platonischen Ethik, 1988, 563 ff.
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k€st†w) jeden auch das ihm Eigentümlichste ist. […] Folgt also die ganze Seele dem Weisheitsliebenden und ist ihm nicht aufsässig, so gelangt jeder Teil dazu, daß er nicht nur im übrigen das Seinige verrichtet und gerecht ist, sondern jeder erntet auch an Lust das ihm Zugehörige (tÞ@ auto‰ kaston) und Beste (tÞ@ beltfflsta@) und soweit irgend möglich das Wahrhafte (tÞ@ ⁄lhjest€ta@).« (586d4–587a1) 164 Der Gerechte – im Vollbesitz seiner menschlichen Möglichkeiten – ist natürlich kein Beispiel für den heute üblichen negativen Gebrauch des Begriffs Egoismus, ein Haltung, welche die eigenen Interessen ohne Rücksicht auf moralische Normen oder Ansprüche anderer in den Mittelpunkt stellt. Egoismus kann aber auch positiv verstanden werden, es gibt eine Tradition von Thomas Hobbes, Bernard de Mandeville bis hin zu Adam Smith, die sich bis zu Aristoteles (EN IX, Kapitel 4 und 8) zurückverfolgen lässt: 165 So hat Aristoteles in deutlicher Abgrenzung zur Selbstliebe in der Bedeutung der Pleonexia als dem Mehr-haben-Wollen die Freundschaft mit sich selbst als Vorbild und Ursprung von Freundschaft überhaupt aufgefasst. Weil der Gute seinen vernünftigen Seelenteil, der sein wahres Selbst ausmacht, liebt, ist er mit sich im Einklang. Deshalb könne er zu Recht im positiven Sinn sich selbst liebend oder Freund seiner selbst genannt werden. Im Unterschied dazu ist einigen Interpreten zufolge dieses positive Verständnis bei Platon nicht belegt, sondern nur die negative Verwendung als Pleonexia und die gleichfalls negativ bewertete Selbstliebe, die verhindere, dass man seiner eigenen Unwissenheit bewusst werde (Lg. 732a f.). 166 Man mag Cornelia J. de Vogel zugestehen, dass der platonische Philosoph auf ein »Gut, das ihn selbst und die menschliche Welt weit übersteigt«, bezogen ist, aber von einer »selbstlose[n] Hingabe um des überweltlich-transzendenten Agathon willen« zu sprechen, 167 überzeugt nicht, im Gegenteil: So lässt sich die Interpretation der Ge164 Inwiefern die Argumentation überzeugend ist, diskutiert kritisch W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 296 ff. 165 Vgl. dazu I. Schudoma, Egoismus bei Platon, 1994, 148, Anm. 1. Vgl. auch S. Knoche, Artikel Selbstliebe, 1995. 166 Neben Schudoma vgl. dazu auch C. J. de Vogel, Selbstliebe bei Platon und Aristoteles, 1987, 413: »Platon kennt nämlich überhaupt nichts Derartiges wie den Kult des eigenen Ichs als des für uns höchsten und in sich begründeten Wertes. Für ihn reicht der höchste Wert weit über den Menschen hinaus, und dieser bleibt hinter dem Ideal des vollkommenen Seins immer wesentlich zurück.« Darauf, so de Vogel weiter, verweise auch der einschränkende Zusatz katÞ t dunatn bei der ¡mofflwsi@ de†. 167 Ebd., 412 und 426.
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rechtigkeit von Wolfgang Kersting als positiver Egoismus verstehen: »Gerechtigkeit ist für den Tugendethiker Platon kein fremdgerichtetes, das Recht anderer respektierendes Verhaltensprogramm, sondern rationale Selbstsorge.« 168 Schwerwiegender und nicht nachvollziehbar ist die Tatsache, dass sowohl Ingeborg Schudoma als auch de Vogel die Metapher der Gerechtigkeit als Freund seiner selbst und damit auch den vorhandenen Unterschied zwischen dieser und der von Platon abgelehnten »übergroßen Selbstliebe« ( sydra auto‰ yilffla, 731e4) ignoriert haben. 169 Im Gegensatz dazu hat Peter Schulz zeigen können, dass bereits Platon die Gerechtigkeit als Freund seiner selbst als eine positive Selbstliebe bewertet und in ihr die Voraussetzung für die Freundschaft mit anderen sieht. 170 Die Metapher von der Gerechtigkeit als Freund seiner selbst hatte ich bislang in meiner Interpretation zurückgestellt. Sie hat neben den anderen Umschreibungen für die Charakterisierung dessen, was Platon unter der gerechten Seele versteht – der Harmonie mit sich selbst oder dem Einssein der Seele – den Vorteil, dass der Selbstbezug als positive Selbstliebe bereits in der Metapher – Freund seiner selbst – deutlich ist und zugleich nach üblichem Sprachgebrauch über sich hinausweist auf einen Weltbezug – auf die Freundschaft mit einem anderen: Der Einzelne hat in sich die Gerechtigkeit ausgebildet, »indem einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist (yffllon genmenon W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 303. Die Textpassage 731d ff., auf die sich beide Autorinnen in ihrer Beurteilung beziehen (C. J. de Vogel, Selbstliebe bei Platon und Aristoteles, 1987, 412 f.; I. Schudoma, Egoismus bei Platon, 1994, 146 f.), ist wesentlich differenzierter: Mit der Selbstliebe an sich werde bezeichnet, »daß jeder Mensch von Natur sich selbst lieb und wert ist und daß es in der Ordnung ist, daß er so sein muß« (£@ yffllo@ a¢t† p”@ ˝njrwpo@ yÐsei tff ¥stin ka½ ¤rj@ ˛cei t de…n e nai toio‰ton, 731e2 f.). Nur wenn die Selbstliebe übergroß werde, d. h., wenn individuelle Interessen im Vordergrund stehen und man für eine Korrektur der eigenen Ansichten nicht mehr zugänglich ist, sei diese Art der Selbstliebe das größte aller Übel (p€ntwn dþ mffgiston kakn, 731d7). 170 Vgl. dazu P. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe, 2000, 116 ff., 129 ff. und bereits in der Einführung: 16 mit Bezug auf 731d ff. Vgl. auch H.-G. Gadamer, Freundschaft und Selbstliebe. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik (1985), GW VII, 401 f., der – ähnlich wie Schulz – in der aristotelischen yilautffla, der Selbstliebe, ein platonisches Erbe erkennt. 168 169
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aut†) […] und auf alle Weise einer wird aus vielen, besonnen und wohl gestimmt« (R. 443d2–e3, vgl. 589b1–6). Freund ist man sich selbst, wenn man besonnen ist, wenn also alle Seelenteile miteinander darüber einig sind, wem welche Kompetenzen obliegen, und sie sich um Zuständigkeiten nicht streiten. Nach der vorliegenden Interpretation wird erst dadurch die eigene Handlungsfähigkeit und auch die Ausbildung einer individuellen Identität ermöglicht. Demnach ist es nicht nur berechtigt, diesen Selbstbezug als positiven Egoismus zu verstehen, sondern darin gleichfalls den notwendigen Ausgangspunkt für einen gelingenden Weltbezug zu sehen. Freund seiner selbst zu sein, ist Voraussetzung für die Freundschaft mit einem anderen. Der andere Fall, die Ungerechtigkeit, bestätigt indirekt diesen Schluss, denn die Feindschaft mit sich selbst führt zur Feindschaft auch mit anderen (vgl. 351e10–352a9). Der Vorrang des Selbstbezuges in der Freundschaftsbeziehung ist ein weiteres Beispiel für Platons individualitätstheoretischen Ansatz, jedes Weltverhältnis auf das zugrunde liegende Selbstverhältnis zurückzuführen, wie bislang schon mehrfach gezeigt werden konnte. Das Individuum ist und bleibt für sich selbst und für den anderen der notwendige Ausgangspunkt jeglichen Handelns, und zwar auch und gerade des gerechten Handelns gegenüber einem anderen. In der heute üblichen Begrifflichkeit kann man sagen: Altruismus ist keine Alternative zum Egoismus, zwischen beiden besteht kein Gegensatz, dieser schließt jenen nicht aus, sondern Egoismus ist notwendige Bedingung des Altruismus. 171 Demzufolge bedeutet Egoismus, dass sich das Selbstverhältnis nicht in einem reinen Selbstbezug, sondern über einen Weltbezug bildet: im Bezug auf den anderen, das Wissen und die Welt. Der Selbstbegriff des Individuums weist über sich hinaus, weil über den Weltbezug vermittelt Elemente des Begriffes des anderen, der anderen und der Welt bereits enthalten sind, sodass vielmehr eine wechselseitige Bezogenheit zwischen Selbst- und Weltbezug vorliegt. So paradox es auch klingen mag, der Selbstbegriff ist dort am anspruchsvollsten, wo der Weltbezug, der sich am Optimum des jeweiligen Erkenntnisgegen-
171 Systematisch ausgearbeitet bei V. Gerhardt, Selbstbestimmung, 1999, Kapitel: Altruismus ist keine Alternative, 428 ff. mit direktem Bezug auf Grg. 458a, und Kapitel: Rationaler Egoismus, 438 ff.
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standes orientiert, am weitesten gefasst wurde und in das Selbstverständnis eingegangen ist. 172 Diese wechselseitige Bezogenheit von Selbst und Welt ist uns schon mehrfach begegnet: Konnte Sokrates in der Apologie den auf ihn bezogenen Orakelspruch, dass er der Weiseste unter den Menschen sei, nur im Vergleich mit den anderen und deren Anspruch auf Wissen deuten, und war im Alkibiades I der andere im Dialog eine konstituierende Bedingung der Selbsterkenntnis schlechthin, so gelang es in der Politeia die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen nur angesichts der im Großen bestehenden Gerechtigkeit einer Polis zu bestimmen. Der Ausgriff auf die Welt beginnt allerdings bereits in uns selbst: Im Dialog der Seele mit sich selbst ist die Positionalität des anderen mit inbegriffen. Denn wenn es mir ernsthaft um handlungsrelevante Einsichten zu tun ist, dann benötige ich Gründe, um vor mir und vor anderen über mich und mein Leben – in der Sprache von Sokrates und Platon: lgon didnai – vernünftig Rechenschaft geben zu können. Die Gründe kann ich mir selbst nur durch meine Vernunft geben, und sie sind deshalb von sich aus auf den anderen bezogen: allgemein verfasst, dadurch für den anderen kommunizierbar und einer Prüfung zugänglich. Sollen sie dann noch den anderen überzeugen können, muss ich mich bei meinen Überlegungen auf den Zusammenhang beziehen, in dem ich lebe und den ich mir nur kraft meines vernünftigen Vermögens erschließen kann – den Zusammenhang mit anderen in einer gemeinsam geteilten Welt. Dieser nach Platon notwendige Bezug über mich selbst hinaus lässt sich auf den Ursprung all unseres Fragens und Suchens zurückführen – auf die Frage nach dem guten Leben. Denn diese Frage verlangt von sich aus den Ausgriff auf alle Bezüge des menschlichen Daseins. Nur wenn ich die Gesamtheit der Bezüge, in denen ich stehe, angemessen verstehe, kann ich mit einer zureichenden Antwort – wie 172 Das bestätigt auch Peter Schulz für die Freundschaft und Selbstliebe in seiner gleichnamigen Monographie: Bereits in der Einführung verweist er darauf, dass die Selbstzuwendung nicht ausschließlich auf einer Introspektion beruht, sondern jedem Selbstbezug notwendig ein Weltbezug korrespondiert. Dabei käme den Überlegungen zur Freundschaft in der Klärung der Selbstbeziehung ein methodischer Vorrang zu, insofern »für Platon und für Aristoteles erst auf dem Wege einer Reflexion über das Charakteristikum einer gelungenen interpersonalen Beziehung auch das Eigentümliche der Selbstbeziehung aufgewiesen werden kann«, und er davon ausgehend die These vertritt, »daß Selbstliebe im positiven Sinne nur im Ausgang von der paradigmatischen Bedeutung der Freundschaft zugänglich« sei. (Freundschaft und Selbstliebe, 2000, 15)
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zu leben gut sei – rechnen. Der Frage nach der Glückseligkeit entspricht letzten Endes nur eine aufs Ganze gehende Dimension, eine alle Bereiche des Verstehens umfassende Selbstauslegung menschlichen Lebens. Bei Platon lässt sich lernen, dass der oftmals behauptete und thematisierte Gegensatz zwischen Individualität und Sozialität bzw. zwischen Individuum und Allgemeinheit – entweder könne die Ausbildung der eigenen Individualität nur auf Kosten anderer erreicht oder der Anspruch der Gerechtigkeit nur auf Kosten der eigenen Interessen eingelöst werden – nur angeblich ein vorgegebener ist: Indem ich einen anspruchsvollen, d. h. meine besten menschlichen Möglichkeiten umfassenden Selbstbegriff nur im Bezug auf den anderen und die Welt erreiche und dadurch Welterkenntnis zu einem konstituierenden Bestandteil meiner Selbsterkenntnis wird, kann von vornherein ein Gegensatz zwischen Individuum und Allgemeinheit ausgeschlossen werden. Gleichzeitig ist und bleibt das Selbstverständnis des Individuums weiterhin primär: Wer seine Möglichkeiten und Kompetenzen optimal ausgebildet hat, wer gelernt hat, den nur scheinbaren Nutzen von dem für ihn wirklichen Nutzen zu unterscheiden, wer also seine wohlverstandenen Eigeninteressen bestmöglich vertritt, der wird auch dem Ganzen am meisten nützen, sodass sich sagen lässt: Selbstbestimmung und Individualität sind entgegen oft vertretener Ansicht Voraussetzung und Bedingung für ein gutes und, weil auch den anderen mit einschließend, gerechtes Leben. 173 In der Literatur ist immer wieder von Autarkie und Selbstsein zu lesen, um den Philosophen begrifflich genauer zu charakterisieren. 174 Aus meiner Sicht spricht gegen eine Verwendung von Autarkie in der Bedeutung von »sich selbst zu genügen«, dass nach Platon eine wesent173 Vgl. dazu A. Schmitt, Der Einzelne und die Gemeinschaft, 2000, 39 und 41: »Platon geht es im Sinn seines Gerechtigkeitsprinzips, das jedem das ihm Gemäße zuzuteilen fordert, um die vollendete Entfaltung des jeweils Einzelnen. Das, was der Staat von seinen Bürgern verlangen muß und wozu er ihnen dienen muß, ist, daß sie sich selbst, ihre je eigenen Anlagen, optimal verwirklichen; der Nutzen für den Staat ergibt sich daraus als konsequente Folge.« Das Ziel, die Übereinstimmung des Wohls des Einzelnen mit dem des Ganzen werde dadurch erreicht, »daß der Einzelne, und zwar der individuell Einzelne, lernt, seinen wahren Vorteil [und nicht den nur scheinbaren Vorteil] zu verfolgen. […] Versteht man unter Egoismus aber das wohl verstandene Streben nach dem, was einem wirklich zuträglich ist, dann kann man im Sinn Platons das Paradoxon formulieren, daß der größte Egoismus zugleich der beste Dienst für das Ganze ist.« 174 Vgl. dazu O. Gigon, Der Begriff der Freiheit in der Antike, 1973, 14 f.; H. J. Krämer, Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs, 1977, 258 ff.
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liche Ursache für die Gründung einer Stadt gerade die nicht vorhandene Autarkie darstellt, »weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern gar vieles bedarf« (369b6 f.). Und gegen die Auffassung Olof Gigons, Autarkie als »Ausdruck der geistigen Unabhängigkeit« 175 zu verstehen, gebe ich zu bedenken, dass Platon den Begriff nur ein einziges Mal positiv in Bezug auf den Menschen verwendet und in einem sehr speziellen Kontext (vgl. 387d11–e1). 176 Gegen den Begriff des Selbstseins zur Bezeichnung des gerechten Charakters wende ich ein, dass zwar der Philosoph seine besten Möglichkeiten ausbilden und realisieren kann und in diesem Sinne sein Selbstsein erreicht, dass aber die Ungerechten, auch wenn sie unter ihren Möglichkeiten menschlichen Daseins bleiben, natürlich auch sie selbst sind, zumal ihnen die Verantwortung für ihr eigenes Leben nicht abgenommen wird. Hinzu kommt, dass der Begriff Selbstsein durch seine Verwendung im Existenzialismus vorgeprägt ist 177 und sich aus diesem Grunde gleichfalls nicht eignet, die ausgezeichnete Seelendisposition des Philosophen und seine dementsprechende Lebensweise im Unterschied zu den Ungerechten begrifflich zu akzentuieren. Deshalb schlage ich zur genaueren Bezeichnung des gerechten Charakters, und nur für diesen, den Begriff der Persönlichkeit vor. Was dazu berechtigt, ist auch gleichzeitig eine weitere Antwort auf die Frage, inwiefern die philosophische Lebensweise den anderen mit Blick auf das Gute überlegen ist: Der Philosoph begreift sich als ein Wesen mit verschiedenen Fähigkeiten und Vermögen, die mit ihren jeweiligen Ansprüchen – gleichsam wie mehrere Personen – einen Konflikt bewirken, der »im gegenseitigen Einverständnis«, d. h. in Anerkennung der Kompetenzbereiche der jeweils anderen Vermögen, erst auszugleichen ist. Allein dieser unter Leitung der Vernunft erreichte Ausgleich, den Platon auch als besonnen bzw. selbstbeherrscht bezeichnet, führt zur Ausbildung aller Kompetenzen und Fähigkeiten menschlichen Seins in ihrer jeweils besten Form. Das ist nur möglich, wenn der Gerechte oder der Philosoph ein politisches Selbstverständnis hat und sich nach Art einer Institution begreift. 178 Im Fall der Ungerechten führt die Überwindung Ebd., 14 mit Bezug auf die im Text folgende Dialogstelle in der Politeia. Vgl. dazu die Anm. 38 im Kapitel 5.1 oben. 177 Vgl. dazu A. Hügli, Artikel Selbstsein, 1995. 178 Wie sich der Philosoph politisch begreift, so die Polis nach Art eines handlungsfähigen Individuums, einer handlungsfähigen Einheit. Vgl. dazu die Ausführungen zum Buchstabengleichnis im Kapitel 5.1 oben. 175 176
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der inneren st€si@, wie wir gesehen haben, auch zu einer seelischen Disposition, allerdings kann diese, weil nicht mehr der Leitung der Vernunft unterstehend, nicht selbstbeherrscht und insofern nicht politisch verstanden werden. Zu Beginn der Arbeit hatte ich darauf verwiesen, dass Individualität von Althistorikern wie von Philosophen gleichermaßen als Voraussetzung für Politik in einem anspruchsvollen Sinn verstanden wird. Jetzt lässt sich umgekehrt sagen: Ein politisches Selbstverständnis ist die Voraussetzung für eine exponierte Individualität – für eine Persönlichkeit. 179 Zugleich sind dieses politische Selbstverständnis und die damit verbundene Identität kein Resultat einer »von außen« wirkenden Sozialisation, sondern Ergebnis einer sich selbst bewussten und gewollten Aktivität des Individuums, also ein Resultat der oben so bezeichneten Selbstbildung. Wie es mir jederzeit möglich ist, über mich und mein Leben Rechenschaft zu geben, so gewährt diese Lebenspraxis neben einer Einheitlichkeit des Lebensvollzuges auch ein Wissen um diesen selbst hervorgebrachten Anteil meiner selbst. Wer ich bin, das bin ich infolgedessen sowohl für mich als auch für die anderen in einer authentischen Art und Weise. Diese Authentizität ermöglicht einen Zugang zu Wirklichkeitsbereichen, die Teil des guten Lebens sind, aber den Ungerechten mehr oder weniger verschlossen bleiben. An dieser Stelle sei noch einmal an die Position von Polos bzw. des Ungerechten erinnert, immer nach der Maxime des eigenen Vorteils zu handeln, d. h. unter Beobachtung gerecht und im anderen Fall ungerecht. Polos kann nicht von sich aus sicherstellen, dass sein Unrechttun zu einem späteren Zeitpunkt nicht doch als solches erkannt wird. Dieses Bewusstsein des eigenen Unrechttuns verhindert in letzter Konsequenz das Vertrauen zu einem anderen, muss Polos doch immer damit rechnen, dass der andere genau derjenige ist, der davon wissen könnte. Das permanente Misstrauen, dass auch ihn selbst betrifft, weil er sich seiner Einschätzung des anderen nicht sicher sein kann und sich insofern selbst nicht trauen darf, macht authentische Freundschaftsbeziehungen unmöglich. Es ist evident, dass von einem guten Leben ohne jede positive Beziehung zu einem anderen Menschen nicht gesprochen werden kann. 179 Vgl. zu diesem Zusammenhang von politischem Selbstverständnis und Persönlichkeit von V. Gerhardt: Selbstbestimmung, 1999, 337 ff.; Individualität, 2000, 158 f., 164, 166 ff. und 170 ff.
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Im Gegensatz dazu kann der Philosoph, weil er jederzeit über sich und sein Leben Rechenschaft abzugeben vermag und er aufgrund dessen nichts zu verbergen hat, allen anderen jederzeit vorbehaltlos begegnen und muss sich gegenüber den anderen nicht strategisch oder taktisch verhalten. Deshalb ist es ihm auch möglich, authentische Freundschaftsbeziehungen einzugehen, in denen der Freund im wechselseitigen Vertrauen ein »zweites Ich« oder »zweites Selbst« ist. 180 Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für den philosophischen Dialog gegeben, in dem sachfremde Interessen, Rechthaberei und persönliche Eitelkeiten keine Rolle spielen, sondern allein die vorbehaltlose Suche nach dem Guten, die problemorientiert und sachbezogen geführt wird und dessen gemeinsames Ziel die Wahrheit der infrage gestellten Sache ist. Aber das ist nur gewährleistet, wenn sich das Auge im Spiegel des anderen Auges erkennen kann, wenn der Freund ein Spiegel meiner selbst ist. Erst unter dieser Voraussetzung kann man ohne Vorbehalt sagen, dass die Widerlegung meiner selbst den Vorrang vor der Widerlegung des anderen hat (vgl. Grg. 458a2–b2). Weil der Philosoph nichts zu verbergen hat und sich seiner eigenen durch ihn selbst hervorgebrachten Individualität bewusst ist, kann er sich in der Öffentlichkeit in einer authentischen Art und Weise und ausdrücklich als Individualität darstellen. In dieser bewussten Präsentation seiner selbst vor anderen legt er Wert darauf, auch von den anderen als diese Individualität erkannt und gleichfalls anerkannt zu werden. Er ist zur Persönlichkeit geworden. Fassen wir zusammen: Die Individualität des Philosophen – die Persönlichkeit – ist wesentlich umfassender, komplexer und von größerer Intensität als diejenige der Ungerechten. Es sind alle Kompetenzen und Möglichkeiten menschlichen Seins in ihrer jeweils besten Form ausgebildet. Zu diesen gehören die authentische Freundschaft und eine bewusste Darstellung der eigenen Individualität in einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit. Der Bezug zur Wirklichkeit ist damit reichhaltiger: quantitativ, weil alle möglichen Bereiche der Wirklichkeit zugänglich sind, qualitativ, weil von sich aus unvoreingenommen, authentisch und sowohl der jeweiligen Situation als auch dem jeweils individuellen Gesprächspartner (vgl. Phdr. 277b f.) angemessen. Im Vollbesitz der eigenen Möglichkeiten die Vielzahl der möglichen Wirklichkeitsbezüge zu leben, und zwar: als diese durch sich selbst hervor180
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Die Wahl der Lebensweise
gebrachte Individualität – das ist gelingendes und gutes Leben. Aber damit ist die Verteidigung der philosophischen Lebensweise in der Politeia noch nicht abgeschlossen.
5.3 Die Wahl der Lebensweise – »Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.« (617e4 f.) Ausgangspunkt und zentrales Thema der Politeia ist die Frage: Wie nun aber leben? Mit dieser Frage nach der richtigen Lebensführung endet auch der Dialog – allerdings in Form eines Mythos. Warum verwendet Platon Mythen und Gleichnisse in seinen Dialogen? Welche Funktion haben sie im Vergleich zum lgo@ bzw. philosophischen Dialog? Die in den Mythen behandelten Themen, z. B. die Unsterblichkeit der Seele, verweisen auf einen Bereich, der uns nicht in Form des lgo@, also der vernünftigen Begründung, zugänglich ist. Der Gebrauch des Mythos als Weltdeutung im Unterschied zum lgo@ als Welterklärung ist Ausdruck der Einsicht Platons, dass menschliches Wissen nicht vollständig, sondern begrenzt ist und der Mythos in einer kritischen Funktion diese Grenze markiert. 181 Dramaturgisch hat Platon die Grenze zwischen lgo@ und Mythos nicht verwischt, sondern in den Dialogen kenntlich gemacht – ein deutliches Zeichen dafür, dass er von dem Unterschied zwischen beiden bewusst Gebrauch macht und durch den jeweiligen Hinweis auch dem Leser den Wechsel der Form und damit der Bedeutung zu verstehen gibt. Es wäre also falsch, wenn wir den Mythos wie einen lgo@ behandelten und nach seinen Argumenten fragten. Als Mythos ist sein Wahrheitsgehalt nicht zu erweisen. Aber gleichwohl gibt der Mythos etwas zu verstehen, dessen Akzeptanz jedoch auf Vertrauen beruht. Denn der Mensch fragt über die Grenze des lgo@ hinaus, weil das mit dem lgo@ nicht Verfügbare für ihn von Bedeutung ist, und zwar nicht nur aus einem rein theoretischen Interesse, z. B. zu wissen, was mit uns nach dem Tod geschieht. Viel wichtiger ist dessen praktische Bedeutung für das Jetzt der eigenen 181 »Platon entwickelt eine Philosophie, die begründet, warum der logische Anspruch auf Wahrheit einer Korrektur durch den Mythos bedarf und wie diese kritische Funktion des Mythos zur Geltung kommt.« (E. Rudolph, Platons Weg vom Logos zum Mythos, 1994, 96)
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Lebensführung. So hat z. B. Tilman Borsche die praktische Bedeutung hervorgehoben, welche der Mythos von der Wiedererinnerung für die gute Lebensführung hat: Zwar ließe sich nicht theoretisch begründen, dass die Seele das wahre Sein vor ihrem Leben »gesehen« habe und deshalb jede Seele fähig sei, sich dessen zu erinnern, aber nur unter der Voraussetzung dieser Hypothese sei es möglich, davon auszugehen, dass Bedeutungsfragen gewiss und mit Notwendigkeit beantworten werden könnten und somit die Suche nach der Wahrheit nicht ohne Sinn bleibe. 182 Naheliegend ist die praktische Bedeutung im Fall der Jenseitsmythen, die »in existentiellen Fragen psychologisch wirkungsvoller« sind, 183 insofern sie die Seele in ihrer Gewissheit, dass es so und nicht anders sei, bestätigt. Man kann aber auch mit Hans-Georg Gadamer das Bedingungsverhältnis von Mythos und nicht aufklärbarer, deshalb sich im Mythos artikulierender Gewissheit umkehren: Diese Gewissheit spricht sich im Mythos selbst aus, der Mythos ist nichts anderes als »das ins Kosmische ausgezogene Lineament der sich im Logos deutenden Seele selbst«. 184 Wenden wir uns wieder der Politeia zu: Nach der Darstellung der ungerechten Charaktere, dem Vergleich zwischen Gerechtem und Ungerechtem mit dem Ergebnis, dass der Gerechte der Glücklichere ist, scheint der Schluss des Dialogs erreicht zu sein. Aber es ist nicht an dem: Relativ unvermittelt folgt eine erneute Kritik der Dichtung, der sich die Frage nach dem Lohn der Gerechtigkeit anschließt. Offensichtlich reicht es nicht aus, Gerechtigkeit und die mit ihr erreichbare Glückseligkeit allein auf das interne Selbstverständnis des Individuums zu begrenzen. Zu einem Vollbegriff von Glückseligkeit gehören auch die ihr gemäßen äußeren Bedingungen. Aber was ist, wenn der Gerechte unter ungerechten Bedingungen lebt, wenn Gerechtigkeit und Glückseligkeit nicht übereinstimmen? Man könnte auf Sokrates verweisen, der das ungerechte Todesurteil annahm, weil es für ihn kein Argument gab, gegen sein Selbstverständnis nicht mehr gerecht bzw. philosophisch zu leben. Allerdings bezieht er sich bei seiner Entscheidung selbst auf die Unsterblichkeit der Seele. Wenn also die eigene LeVgl. dazu T. Borsche, Was etwas ist, 1992, §§ 92–97, 100 ff. J. Dalfen, Platons Jenseitsmythen, 2002, 228. 184 H.-G. Gadamer, Plato und die Dichter (1934), GW V, 208. Zu Platons Mythen generell vgl. K. Reinhardt, Platons Mythen, 1960; P. Friedländer, Platon, Bd. 1, 1954, Kapitel IX: Mythos, 182–221; zur aktuellen Diskussion den Sammelband von M. Janka und Ch. Schäfer, Platon als Mythologe, 2002. 182 183
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benszeit nicht ausreicht, dass sich Gerechtigkeit und Glückseligkeit mit Sicherheit entsprechen, und dieser Anspruch trotzdem aufrechterhalten wird, dann kann nur davon ausgegangen werden, dass nach dem Tod im Jenseits durch göttliche Gerechtigkeit die Übereinstimmung von beiden hergestellt oder die Belohnung für ein gerechtes Leben gegeben wird. 185 Dem dafür erforderlichen Beweis der Unsterblichkeit der Seele folgen im Dialog die Ausführungen über die Belohnung im diesseitigen Leben und der Abschnitt über den Lohn der Gerechtigkeit im Jenseits – der Mythos des Er (614b ff.). Er, ein Pamphylier, wurde im Krieg tödlich verletzt. Als er zu Hause bestattet werden sollte, lebte er wieder auf und berichtete, was er gesehen hatte: Seine Seele wäre an einen wunderbaren Ort gekommen, mit jeweils zwei Spalten in der Erde und im Himmel, zwischen diesen hätten Richter gesessen, welche die Seelen der Verstorbenen nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit beurteilt und ihnen befohlen hätten, den Weg durch die eine Spalte des Himmels oder der Erde zu nehmen. Dieses Gericht ist uns bereits aus dem Jenseitsmythos des Gorgias bekannt: Die Seelen werden nach ihrer gerechten oder ungerechten Beschaffenheit beurteilt, die sie selbst zu verantworten haben, und ihnen wird entsprechend ihrer Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der jeweilige Ort im Jenseits zugewiesen (523a ff.). 186 Aus der Beurteilung des vergangenen Lebens lässt sich bereits schließen, dass auch im Schlussmythos der Politeia die Seelen ihre Lebensweise selbst bestimmt haben, anders wären sie nicht dafür verantwortlich zu machen. Im Vergleich zu den Jenseitsmythen der anderen Dialoge enthält der zweite Teil des Mythos des Er eine entscheidende Weiterung: Nach einer tausendjährigen Wanderung kommen die Seelen aus der jeweils zweiten Spalte des Himmels oder der Erde zurück. Aus ihren Erzählungen wird klar, dass die Ungerechten für ihre ungerechten Taten 185 Norbert Blößner spricht von einer Lücke im sokratischen Argument, auf die Platon im X. Buch (612c f.) durch den Rückverweis auf 361a–d selbst aufmerksam macht: der fehlende Nachweis der Glückseligkeit des Gerechten auch unter extrem ungerechten Bedingungen. Zwar könne der Gerechte in diesem Fall auf die Belohnung durch die Götter im Jenseits hoffen, aber diese Belohnung sei unsicher, weil die Behauptung auf einer bloßen Annahme über das Wesen der Götter beruhe. (Dialogform und Argument, 1997, 19 f., Anm. 34) 186 Vgl. dazu das Kapitel 4.2.4 oben. Vergleichbares findet sich auch im Phaidon: der Mythos über das Schicksal der Seele nach dem Tode (107d ff.), oder der Mythos von der göttlichen Gerechtigkeit und dem Schicksal der Seele in den Nomoi (903b ff.).
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zehnfach zu büßen hatten, die Gerechten erhielten entsprechenden Lohn für ihre guten Taten. Dann werden sie zu der Lichtsäule, die Himmel und Erde verbindet, sowie der Spindel der Notwendigkeit mit ihren Himmelssphären und ihrer Sphärenharmonie geführt, die von den Töchtern der Notwendigkeit umgeben sind: den Moiren Lachesis, Klotho und Atropos. Bevor sie wieder in ein neues Leben eintreten, werden die Seelen selbst an diesem Ort vor die Wahl ihrer Lebensweise gestellt: »Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig verharren wird. Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.« 187 Wurden die Seelen in den Jenseitsmythen der anderen Dialoge nur für ihre vergangene Lebensweise verantwortlich gemacht, so steht jetzt der in der Gegenwart zu vollziehende Akt der Wahl selbst im Mittelpunkt, und zwar mit einer nahezu dramatischen Bedeutung: einer für das nächste Leben nicht wieder zu ändernden Entscheidung. Vorausgesetzt werden dabei nicht nur die Selbstständigkeit der Wahl und die Freiheit der Entscheidung, als wer wir ins nächste Leben kommen wollen, ebenso das Moment des Sollens bzw. des Normativen, das in jeder Selbstbestimmung enthalten ist. Dieses Moment – ich lege mich auf etwas fest und bestimme mich selbst unter der Voraussetzung, dass ich mich in meiner Entscheidung selbst ernst nehme – wird unter den kosmologischen Bedingungen des Mythos als irreversibel erklärt. Man könnte auch sagen: Die Seelen werden in ihrer Entscheidung beim Wort genommen, denn die Wahl der Lebensweise gilt, weil nicht mehr zu ändern oder rückgängig zu machen, mit Notwendigkeit für ein gesamtes Leben. »Die Tugend ist herrenlos« – über seine ethische Beschaffenheit entscheidet der Mensch selbst, er bestimmt sich selbst zu dem, der er sein will. 188 Die Disposition der eigenen Lebens187 O'c ¢m”@ dafflmwn lffixetai, ⁄ll’ ¢me…@ dafflmona arffisesje. Prto@ d’ ¡ lacn prto@ arefflsjw bfflon † sunffstai ¥x ⁄n€gkh@. 3Aret¼ dþ ⁄dffspoton, ¨n timn ka½ ⁄tim€zwn plffon ka½ ˛latton a't»@ kasto@ xei. A§tffla lomffnou‡ je@ ⁄naffltio@. (617e1–5) 188 Vgl. F. Ricken, Artikel Seele, 1995, 3 und 4 mit Verweis auf 610c6–611a2 und 617d6–618c6: Die Seele »als Prinzip der sittlichen Selbstbestimmung« ist »Träger der sittlichen Verantwortung, welcher der Mensch sich auf keine Weise entziehen kann. Sie ist das Vermögen der Lebens- und Charakterwahl; die Sorge um die S. besteht im Er-
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führung wird dem Menschen selbst unter kosmologischen Bedingungen der Notwendigkeit zugewiesen. Ohne Frage ist die Wahl der Lebensweise durch die Seelen selbst von systematischem Interesse, gleichfalls sollte die philosophiehistorische Bedeutung nicht unterschätzt werden: Platon benutzt im Schlussmythos der Politeia die weitverbreitete mythische Vorstellung von der göttlichen Lenkung des Menschenschicksals, um sie zugleich zu transformieren: Den Griechen galt das eigene Schicksal als durch Götter vorherbestimmt. Das einzelne Individuum wählte gerade nicht seinen eigenen Daimon, sondern dieser wurde ihm beigegeben und bestimmte ganz oder teilweise sein individuelles Schicksal – zum Guten wie zum Schlechten. So finden sich in der Theogonie von Hesiod die nämlichen Moiren Klothos, Lachesis und Atropos als Lenkerinnen des Schicksal: die den Lebensfaden Spinnende, die Losverteilende und die Unbeugsame, und sie sind es, »die den sterblichen Menschen gleich bei ihrer Geburt bestimmen Gutes und Schlimmes«. 189 In diesem Sinn beklagt sich auch Theognis: »Es sind viele, die einen elenden Verstand, aber einen guten Daimon haben, und denen das, was schlecht scheint, zum Guten gerät; es gibt aber auch welche, die mit guten Überlegungen, aber einem schlechten Daimon sich mühen. Das Ende ergibt sich nicht aus den Werken. Kein Mensch, kein reicher, kein armer, kein schlechter ist vom Daimon frei und auch kein guter.« 190 Einen Vordenker für Platon findet man in Heraklit, der sich entschieden gegen diesen Schicksalsglauben wendet: »Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon (d. h. sein Geschick).« 191 Indem Platon jetzt den Menschen sich seinen eigenen Daimon selbst wählen lässt, erzählt der Mythos auch »vom werb des Wissens, das uns zur richtigen Wahl befähigt.« Ebenso V. Gerhardt, Artikel Selbstbestimmung, 1995, 337 mit Verweis auf 617d f.: »Die Wahl der Lebensweisen durch die geläuterten Seelen, wie sie im Schlußmythos von Platons ‹Politeia› beschrieben wird, läßt sich ebenfalls als S. fassen.« 189 a´ te broto…si geinomffnoisi dido‰sin ˛cein ⁄gajn te kakn te (Th. 218 f.). 190 polloffl toi crntai deila…@ yresffl, dafflmoni d’ ¥sjli, o@ t kakn dokffon gfflnetai e§@ ⁄gajn‡ e§s½n d’ o& boul»i t’ ⁄gaj»i ka½ dafflmoni deili mocjfflzousi, tfflo@ d’ ˛rgmasin o'c ˛petai. o'de½@ ⁄njrðpwn ot’ lbio@ ote penicr@ ote kak@ nsyin dafflmono@ ot’ ⁄gaj@. (161–166) 191 2H. ˛yh £@ Æjo@ ⁄njrðpwi dafflmwn. (DK 22 B 119) Neben dieser Interpretation – »Der Charakter ist das Schicksal des Menschen.« – hat man das Fragment in der Forschung auch anderes interpretiert, z. B. Heinrich Gomperz: Die Natur des Menschen, die in seiner Stumpfgeistigkeit bestehe, sei sein Verhängnis. (Über die ursprüngliche Reihenfolge, 1923, 42–48) A
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schuldlosen Gott, indem sie [die Politeia] an die Autonomie und Schuldhaftigkeit der Einzelseele appelliert«. 192 Die eigene Wahl des Daimons betrifft ausnahmslos und ohne jeden Unterschied alle Seelen. Spricht Platon damit nicht allen Seelen das Personsein zu und nimmt den Begriff Person vorweg? Dieser Begriff wird abgeleitet von dem lateinischen persona und dieser wiederum vom griechischen prswpon. Platon verwendet zwar den griechischen Begriff, aber – laut der bei Friedrich Ast angegebenen Stellen – in der damals üblichen Bedeutung von »Gesicht«. Daraus muss nicht zwingend folgen, dass Platon noch keine Vorstellung von dem mit »Person« bezeichneten Sachverhalt gehabt hat. Nach einer bereits verwandten begrifflichen Unterscheidung zwischen Person und Persönlichkeit bezeichnet der Begriff Person ein rationales und moralisches Wesen, frei und selbstbestimmt in seinen Handlungen und verantwortlich für seine Taten. Genau dieser Fall liegt auch nach Cornelia J. de Vogel bei der Wahl der Lebensweise im Schlussmythos der Politeia vor: »In the myth of Er (Rep. X 617de) Plato expressed the principle of free will and self-determination.« 193 Dieser Befund bestätigt meine bisherige Interpretation 194 in einem wichtigen Aspekt: Ich hatte dafür plädiert, Selbstbestimmung nicht auf die Handlungen einzugrenzen, die gelingen, weil sie die ihnen vorausliegende Intentionalität auf das Gute erreichen, sondern auch die Handlungen als selbstbestimmt aufzufassen, die entgegen ihrer eigenen Intention sich über das Gute getäuscht haben und dieses insofern verfehlen. Analoges konnte über den gerechten und die ungerechten Charaktere gesagt werden. Im anderen Fall ließe sich schwerlich erklären, wieso derjenige, der sich über das Gute täuscht, dennoch für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden sollte. Jetzt wissen wir aus dem Schlussmythos, dass alle Seelen für die Wahl ihrer Lebensweise selbst verantwortlich sind, und zwar unabhängig davon, ob ihre Disposition gerecht oder ungerecht ist und sie sich deshalb in ihrer Wahl getäuscht haben oder nicht. 195 Der Dialog gibt dafür selbst E. Rudolph, Platons Weg vom Logos zum Mythos, 1994, 111. C. J. de Vogel, The Concept of Personality, 1963, 33. 194 Vgl. dazu meine Ausführungen in den Kapiteln 4.1, 4.2.4 und 5.2.3 oben. 195 Voraussetzung dafür, dass sich unter den Seelen auch ungerechte befinden, ist die Annahme, dass die ungerechte Seele nicht an dem ihr eigenen Übel, der Ungerechtigkeit, zugrunde geht, sondern – wie die gerechte Seele – unsterblich ist. Vgl. dazu den Beweis der Unsterblichkeit der Seele kurz vor dem Schlussmythos (608c ff.). 192 193
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ein Beispiel: Derjenige, der durch Losverfahren als Erster wählen durfte, habe ohne Überlegung für sich »die größte Zwingherrschaft« (t¼n megfflsthn turannfflda, 619b8) erwählt und dabei nicht das ihm drohende Unheil beachtet. Als er dies aber begriff, »habe er auf sich losgeschlagen und seine Wahl bejammert, nicht beachtend, was der Prophet vorhergesagt: Denn er habe nicht sich selbst (o' gÞr autn) dieses Unheils Schuld beigelegt (a§ti”sjai), sondern das Glück und die Götter und alles eher als sich selbst (⁄nj’ auto‰) angeklagt.« (619c3–6) Er täuschte sich also ein zweites Mal, indem er – nach misslungener Wahl – die Schuld von sich weist, aber zu Unrecht: Keiner kann sich seiner ethischen Verantwortung entziehen. Der Mythos weist auch auf Grenzen menschlicher Verantwortlichkeit hin: Neben den kosmologischen Zusammenhängen befinden sich ebenso das Schicksal, die Umstände oder äußere Lebensbedingungen außerhalb unserer Verfügbarkeit. Dass wir nicht über den gesamten Zusammenhang Macht haben, braucht auch heute nicht eigens betont zu werden. Aber selbst die freie Wahl der Lebensweise unterliegt gewissen Einschränkungen: Auf den ersten Blick könnte gegen die Freiheit der Wahl eingewandt werden, dass die Reihenfolge der Wahl den Seelen durch Los vorgegeben wird und die Seelen, die erst als Letzte wählen dürfen, in der Auswahl der Lebensweisen benachteiligt wären. Dagegen ist zu sagen, dass die zur Auswahl stehenden Lebensweisen »in weit größerer Anzahl als die der Anwesenden [der anwesenden Seelen]« sind (618a2 f.). Zudem widerlegt der Prophet selbst diesen Einwand: »Auch dem letzten, welcher hinzunaht, wenn er mit Vernunft gewählt hat und sich tüchtig hält, liegt ein vergnügliches Leben bereit, kein schlechtes. Darum sei weder, der die Wahl beginnt, sorglos noch, der sie beschließt, mutlos.« 196 Die Wahl findet also zu nahezu gleichen Bedingungen für alle Seelen statt. Viel wichtiger als diese »äußeren« Bedingungen der Wahl und letztlich für das Ergebnis der Wahl entscheidend ist, so der Mythos, die mit Vernunft (x±n n†) getroffene Entscheidung, über die noch zu sprechen sein wird. Es gibt eine weitere Begrenzung: Neben den Erfahrungen, die sie an den verschiedenen Orten während ihrer eintausendjährigen Wan-
196
Ka½ teleutaffl†w ¥pinti, x±n n† lomffn†w, suntnw@ znti ke…tai bfflo@ ⁄gapht@, o' kak@. Mffite ¡ ˝rcwn arffsew@ ⁄meleffltw mffite ¡ teleutn ⁄jumeffltw. (619b3–6) A
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derung gemacht haben, 197 hätten die meisten Seelen »der Erfahrung ihres früheren Lebens gemäß« (katÞ sunffijeian gÞr to‰ protffrou bfflou, 620a2 f.) gewählt. Das hier angesprochene Problem der zeitlichen Entwicklung des Individuums und der Möglichkeit seiner Änderung hatte ich bislang zurückgestellt, um es jetzt im Zusammenhang mit dem Schlussmythos der Politeia ausführlicher zu behandeln. Zunächst aber noch einmal zum Mythos selbst: Die Seelen wählen also ihre neue Lebensweise in Abhängigkeit von der Lebensweise in ihrem letzten Leben. Demnach gibt es einen Einfluss des ehemaligen Charakters bzw. – als äußerer Ausdruck dessen – der ehemaligen Lebensweise auf die Entscheidung und Wahl des zukünftigen Lebens. Die eigene Vergangenheit ist zwar kein determinierender Faktor, ansonsten wäre jegliche Änderung ausgeschlossen, wovon nicht einmal der Mythos ausgeht. 198 Aber sie ist ein die Entscheidung mitprägender Faktor, der eine gewisse Auswahl nahelegt. Demnach ist die Wahl der Lebensweise keine in einem absoluten Sinn autonome Entscheidung. Diese Abhängigkeit wird zwar im Mythos genannt, dann aber am Beispiel homerischer Helden, die sich aufgrund bestimmter Erfahrungen für das Schicksal von Tieren entscheiden, mehr spielerisch ausgeführt. Für die Interpretation muss sie trotzdem ernst genommen werden, weil uns dieser Aspekt einer gewissen Abhängigkeit oder einer gewissen Vorstrukturierung schon aus anderen Zusammenhängen bekannt ist: Was soeben für die Wahl der Lebensweise gesagt wurde, gilt gleichfalls für jede existenziell bedeutsame Entscheidung oder Handlung. Die Trennung des einzelnen Handlungszieles von der Lebensweise des Handelnden bzw. dessen Charakter ist eine theoretische Annahme. Praktisch ist jede Wahl eines Handlungszieles eingebunden in eine dieser Wahl zugrunde liegenden Lebensweise, die wiederum auf meinen Charakter und damit meine Vorstellung vom guten Leben verweist und als existenzielle Grundorientierung sowohl Auswahl als auch Bestimmung von etwas als Handlungszweck vorstrukturiert. Denn jedes 197 Darauf wird u. a. die Wahl der »Zwingherrschaft« der Seele zurückgeführt, die an erster Stelle gewählt hat: Aus dem Himmel gekommen, sei sie in Mühseligkeiten unerfahren, im Gegensatz zu denjenigen, die aus der Erde zurückkamen. Diese hätten selbst Mühseligkeiten genug gehabt und deshalb ihre Wahl nicht auf den ersten Anlauf, sondern mit vernünftiger Überlegung getroffen. Vgl. dazu 619c f. 198 Zwar gilt die Wahl der Lebensweise mit Notwendigkeit für das gesamte nächste Leben, aber ein Wechsel zwischen den Lebensweisen wird nicht ausgeschlossen, sowohl vom Besseren zum Schlechteren als auch umgekehrt. Vgl. dazu 619d.
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Handlungsziel muss, damit es ein solches für mich sein kann, mit meinem Selbstverständnis kompatibel sein. Nach Platon ist Selbstbestimmung kein einzelner, sich aus vorgegebenen Zusammenhängen befreiender Akt eines autonomen Subjekts, sie vollzieht sich nicht losgelöst von der Gesamtorientierung des Handelnden. Was in einer theoretischen Diskussion vorstellbar ist oder auch nicht, von sich als Individuum abzusehen, ist in praktischen Zusammenhängen, und um diese geht es in der platonischen Philosophie, nicht möglich. Wir können nicht von uns, wie und wer wir jetzt sind, absehen, wir vermögen es nicht, uns in einem absoluten Sinn von uns selbst zu distanzieren, sondern sind in allem, was wir tun, selbst involviert, nach platonischem Verständnis bereits in einem sokratischen geführten Dialog. Selbstbestimmung ist demnach der Akt eines in Zusammenhängen und Bezügen – einschließlich des eigenen Charakters und der eigenen Lebensweise – stehenden Individuums, dessen bisherige Verfasstheit der Seele einschließlich der Geschichte ihrer Aktivität in jede neue Selbstbestimmung mit eingeht und damit die eigene Gegenwart und Zukunft mit prägt. Trotz aller Vorprägung trifft – wie der Schlussmythos vor Augen führt – jeder selbst die Entscheidung für die Form seines nächsten Lebens, und er allein trägt dafür die Verantwortung. Diesem Zusammenhang mit der eigenen Geschichte könnte man sich nur entziehen, wenn es möglich wäre, »reinen Tisch« zu machen. Als Sokrates das politische Vorgehen der Philosophen erläutert, kommt er auf diese Möglichkeit selbst zu sprechen: »Wenn sie [die Philosophen] nun, sprach ich, wie eine Tafel (¯sper pfflnaka) den Staat und die Gemüter der Menschen zur Hand nehmen, werden sie sie wohl zuerst rein (kajar€n) machen müssen, was gar nicht eben leicht ist (˚ o' p€nu «€dion). Denn das weißt du wohl, daß sie sich gleich dadurch von den anderen unterscheiden werden, daß sie weder mit einzelnen noch mit dem Staat sich eher würden befassen noch Gesetze geben wollen, bis sie ihn rein übernommen oder selbst gereinigt haben.« (501a2–7) Ob Sokrates wirklich eine tabula rasa für realisierbar hält, ist eher unwahrscheinlich, weil die Einschränkung »was gar nicht eben leicht ist«, ironisch verstanden, vielmehr das Gegenteil bedeutet, nämlich dass es sehr schwer sein dürfte. Diese Deutung wird ebenfalls durch die sokratische Gesprächsführung des Philosophen bestätigt, zu dessen Kompetenz es gehört, den Dialog entsprechend dem philosophischen Niveau seines Partners zu führen, um überhaupt wirksam sein A
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zu können (Phdr. 277b f.). Bedenkt man dann noch das platonische Erziehungsverständnis, wird endgültig offensichtlich, dass eine tabula rasa weder in Bezug auf sich selbst noch auf andere möglich ist. Darin besteht auch die Ursache, weshalb eine Änderung des Charakters bzw. der seelischen Disposition und damit auch der Lebensweise so schwierig und langwierig ist. Um selbst gut zu werden, bedarf es der »Umlenkung der gesamten Seele« oder – damit identisch – des jahrelangen Bildungsweges des Philosophen. Denn es müssen existenziell bejahte Grundorientierungen verändert werden, die aus der Sicht desjenigen, der besser werden will oder soll, zunächst weder in sich widersprüchlich noch seinem guten Leben abträglich sind. Das pädagogische Ziel besteht dabei keineswegs darin, ein neues Vermögen erst auszubilden, sondern ein Vermögen, das man schon gebraucht, richtig einzusetzen: Die Erziehung (paideffla) ist, so lesen wir in der Politeia, »die Kunst der Umlenkung (periagwgffi), auf welche Weise wohl am leichtesten und wirksamsten dieses Vermögen [des Erkennens] kann umgewendet werden, nicht die Kunst, ihm das Sehen erst einzubilden, sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern« (518d3–7). 199 Die Erziehung des Einzelnen und seine dadurch bewirkte Änderung lassen sich nur als ein Prozess verstehen, innerhalb dessen die Entwicklung des Wissens mit einer Veränderung desjenigen, der erkennt und weiß, und nicht unabhängig von diesem einhergeht. Man kann auch sagen, es gibt eine sich wechselseitig bedingende Relation zwischen Wissen und Verfasstheit des Wissenden oder zwischen Wissen von und Disposition zu etwas. Als Beispiel sei hier kurz auf die Interpretation des Höhlengleichnisses von Wolfgang Wieland verwiesen: 200 Das Gleichnis stelle verschiedene Wissensformen als Stufen eines Bildungsweges dar. Dabei repräsentiere jede Wissensform kein bloßes Element der Erkenntnis, sondern eine Auffassung von der Wirklichkeit im Ganzen. Deshalb werde man den jeweiligen Wissensstufen nur gerecht, wenn man die Selbstdeutung desjenigen berücksichtigt, der sich auf der jeweiligen Stufe befindet. Im Unterschied zu einem äußeren Beobachter wisse jener nämlich gerade nicht, dass er es 199 Der platonische Erziehungsbegriff richtet sich auch gegen die pädagogische Auffassung der Sophisten, die behaupten, »wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten« (518b9–c2). 200 Vgl. dazu W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 219–223.
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zunächst immer mit Ausschnitten zu tun habe, weil er den jeweiligen Ausschnitt bereits für die ganze Wirklichkeit halte. 201 So habe es der Mensch in der Höhle nur mit Schatten und Abbildern zu tun, aber er wisse gerade nicht, dass es sich nur um Schatten und Abbilder handle. Erst auf der nächsten Stufe lerne er, die Schatten und Abbilder als solche zu sehen. Nach Wieland liegt die Pointe des Höhlengleichnisses in der fehlenden Übereinstimmung zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeitsauffassung auf den einzelnen Wissensstufen. Am Ende des Bildungsweges steht als Ziel das eigene gute Leben, und zwar in seiner besten Ausprägung und in jeglicher Hinsicht. Denn nichts anderes soll durch die philosophische Lebensweise zu erreichen sein. So lautet die These der Politeia, und auch der Schlussmythos ist vor dem Hintergrund der Verteidigung der philosophischen Lebensweise zu lesen. Der Mythos zeigt, dass diese Lebensweise den anderen nicht nur gleichwertig, sondern sogar mehrfach überlegen ist: Vergegenwärtigen wir uns noch einmal genau die existenzielle Bedeutung der Lebenswahl, gilt sie doch als irreversibel für das gesamte nächste Leben. Bedenkt man, wie oft man selbst schon Entscheidungen bereut oder revidiert hat, wird die Tragweite dieser Lebenswahl evident: Es ist weder eine Entscheidung, die reversibel ist, noch eine Entscheidung, die nur einen bestimmten Lebensausschnitt betrifft, sondern mit dieser einzigen Wahl legt der Einzelne sich selbst für sein gesamtes folgendes Leben fest! Diese eigene Entscheidung kommt einem – selbst gewählten – Schicksal gleich, welches das Leben in seiner Gesamtheit bestimmen wird. Wenn man sich darüber täuscht, ist keine Änderung mehr möglich. Über die Bedeutung, die dabei dem Wissen und Urteilsvermögen zukommt, damit die Wahl auch wirklich die richtige Lebensweise trifft, wird gleich noch zu sprechen sein. Die praktische Relevanz dieser existenziellen Dimension der Lebenswahl besteht meiner Ansicht nach darin, dass wir bereits in unserem jetzigen Leben für unsere Lebensweise verantwortlich sind, und sie macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns bei jeder Wahl und Entscheidung – vorausgesetzt, sie sind von existenzieller Bedeutung und wir nehmen uns selbst ernst, beides ist im Rahmen der Frage nach dem guten Leben 201 Nach Wieland stehen dem Menschen die verschiedenen Wissensstufen nicht zur Disposition: »Wer den Bildungsweg selbst geht, erkennt die Stufen immer erst nachträglich als das, was sie sind. Seinem eigenen, aktuellen Bewußtsein nach hat er es auf jeder Stufe mit der Wirklichkeit im ganzen zu tun.« (Ebd., 221)
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immer gegeben – festlegen und uns in diesem Sinn selbst bestimmen. Der Mythos kann als Mahnung gelesen werden, dass wir uns bei jeder Entscheidung über die uns selbst betreffenden Konsequenzen bewusst sein sollen, dass uns dieser Zusammenhang zwischen Wahl und uns selbst immer präsent sein soll. Nicht anders verstand Sokrates die Sorge um sich selbst – als Bewusstheit und Wachheit gegenüber sich selbst und seinen eigenen Entscheidungen, und zwar bereits in der Gegenwart des eigenen Lebens. Auf die praktische Bedeutung des Mythos macht Sokrates selbst aufmerksam. Nach dem ersten Teil der mythischen Erzählung unterbricht er die Wiedergabe durch eine außergewöhnlich lange Erläuterung: »Hierauf nun eben, o lieber Glaukon, beruht alles für den Menschen, und deshalb ist vorzüglich dafür zu sorgen, daß jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen Kenntnisse nur dieser Kenntnis (toÐtou to‰ majffimato@) nachspüre und ihr Lehrling werde, wie einer dahin komme, zu erfahren und aufzufinden, wer ihn dessen fähig und kundig machen könne, gute und schlechte Lebensweisen unterscheidend, aus allen vorliegenden immer und überall die beste auszuwählen (tn beltfflw are…sjai), alles eben Gesagte und untereinander Zusammengestellte und Verglichene, was es zur Tüchtigkeit des Lebens beitrage, wohl in Rechnung bringend, und zu wissen, was zum Beispiel Schönheit wert ist mit Armut oder Reichtum gemischt und bei welcher Beschaffenheit der Seele sie Gutes oder Schlimmes bewirkt und was gute Abkunft und schlechte, zurückgezogenes Leben und staatsmännisches, Macht und Ohnmacht, Vielwisserei und Unkunde und was alles dergleichen der Seele von Natur Anhaftendes oder Erworbenes miteinander vermischt bewirkt, so daß man aus allen insgesamt zusammennehmend, auf die Natur der Seele hinsehend, die schlechtere und die bessere Lebensweise scheiden könne (are…sjai), die schlechtere diejenige nennend, welche die Seele dahin bringen wird, ungerecht zu werden, die bessere aber, welche sie gerecht macht, um alles andere aber sich unbekümmert lassen; denn wir haben gesehen, daß für dieses Leben und für das nach dem Tode dieses die beste Wahl (a˜th kratfflsth a´resi@) ist.« (618b6–619a1) Es ist offensichtlich, dass Sokrates besonderen Wert darauf legt, seinen Gesprächspartnern deutlich zu machen, dass der Mythos eine praktische Bedeutung für das jetzige Leben hat, indem er auf jenes Wissen und Urteilsvermögen insistiert, die uns instand setzen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dieses Wissen wird deshalb von 342
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ihm vor allem anderen Wissen ausgezeichnet, weil wir anhand dessen die Lebensweisen in all ihren Facetten und ihren einzelnen Aspekten daraufhin beurteilen können, ob die Seele durch die eine oder andere gerecht oder ungerecht wird. Dass dieses Wissen des Guten nicht ohne Weiteres zu erlangen ist, sondern de facto lebenslanger Anstrengung bedarf, ist uns bekannt. Im Mythos selbst wird dieser Umstand dadurch verdeutlicht, dass die zur Wahl gestellten Lebensweisen vielfältig sind und eine gute Wahl nur mit Besonnenheit möglich ist, wie das Beispiel von Odysseus zeigt. In seiner Erläuterung nennt Sokrates derart viele Aspekte unserer Lebendigkeit und unseres Daseins, die es einzeln und im Zusammenhang zu beachten und zu beurteilen gilt, dass die Schwierigkeit der Wahl evident ist. Primär geht es also weniger um Unsterblichkeit und Lebenswahl im Jenseits, sondern um das gute Leben jetzt und als Voraussetzung dafür um das Wissen des Guten als Orientierung, dieses zu ermöglichen. In der zitierten Textpassage beschreibt Sokrates nichts anderes als die Suche nach dem Guten, ein anderer Ausdruck für die philosophische Lebensweise, welche durch seine Deutung zusätzlich legitimiert wird: »Durch das, was der Berichterstatter aus dem Jenseits darüber erzählt, wie die Seelen sich entschieden haben, sieht Sokrates die Notwendigkeit und Bedeutung des Philosophierens im Diesseits bestätigt (619d–e).« 202 Philosophie als Suche nach dem Guten wird damit zur Voraussetzung für die richtige Wahl der Lebensweise im Jenseits. Vor dem Hintergrund der Verteidigung der philosophischen Lebensweise gibt der Mythos ein zusätzliches Motiv für das Philosophieren als Suche nach diesem für uns wichtigsten Wissen. So sehr dieses Wissen im Mittelpunkt der Bemühungen steht, ist es doch nur Mittel für einen Zweck: das eigene Leben gut zu führen, denn es hat nur Bedeutung für denjenigen, der philosophierend nach ihm sucht. Die philosophische Lebensweise ist nicht nur die Voraussetzung, das Wissen des Guten zu erlangen, sondern wegen der Unabschließbarkeit menschlichen Wissens und in Orientierung auf das Gute zugleich die Realisierung guten Lebens selbst. Diese Interpretation wird auch durch den letzten Satz der Politeia bestätigt: »Sondern wenn es nach mir geht, wollen wir, in der Überzeugung, die Seele sei unsterblich und vermöge alles Übel und alles Gute zu ertragen, uns immer an den oberen Weg halten und der Gerechtigkeit mit Vernünftigkeit auf alle Weise nachtrachten, 202
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damit wir uns selbst und den Göttern lieb seien (´na ka½ m…n a'to…@ yfflloi men ka½ to…@ qeo…@), sowohl während wir noch hier weilen, als auch, wenn wir den Preis dafür davontragen, den wir uns wie die Sieger von allen Seiten umher einholen, und hier sowie auch auf der tausendjährigen Wanderung, von der wir eben erzählt, uns wohl befinden (eª pr€ttwmen).« (621c3–d3) Die Überlegenheit der philosophischen Lebensweise besteht aber nicht nur in der sich bewussten Sorge um die eigene Seele, immer die richtige Wahl und Entscheidung zu treffen, und der Suche nach dem diesbezüglichen Wissen sowie dem entsprechenden Urteilsvermögen, sondern der Mythos verweist noch auf einen weiteren essentiellen Aspekt – die Bewahrung der Identität des Philosophen. Wenden wir uns noch einmal demjenigen zu, der im Mythos als Erster wählen durfte: Er sei einer von den aus dem Himmel Kommenden gewesen, »der in einer wohlgeordneten Verfassung sein erstes Leben verlebt und nur durch Gewöhnung ohne Philosophie an der Tugend teilgehabt«. 203 Das Ergebnis seiner Wahl ist bekannt: Er wählte für sich die größte Tyrannenherrschaft. So lobenswert die Tugend aus Gewohnheit, z. B. im Vergleich mit einer Tyrannis, auch sein mag, sie gibt keine Sicherheit für die richtige Wahl, vielmehr trägt sie die Gefahr in sich, dass eine schlechte Lebensweise gewählt wird, weil ihr etwas Grundsätzliches fehlt: eigene Einsicht in der Bedeutung von philosophischer Vernünftigkeit und Kompetenz. Diese Lebensweise ver203 ¥n tetagmffn–h politeffla ¥n t† protffr†w bffl†w bebiwkta, ˛jei ˝neu yilosoyffla@ ⁄ret»@ meteilhyta (619c7–d2). Vgl. zu dieser Stelle die Anmerkung von O. Apelt, Platon, Sämtliche Dialoge V, 1998, 541, Anm. 65: »Sehr sinnreich wird hier der Unterschied zwischen niederer – auf bloßer Gewöhnung beruhender – und höherer, durch Philosophie erworbener Tugend auch noch als wirksam im Jenseits gekennzeichnet. Die philosophische Tugend wird einem niemals untreu, auch im Jenseits nicht.« Vgl. auch zum Unterschied zwischen einer Tugend aus Philosophie und einer Tugend aus Gewohnheit das unterschiedliche Schicksal der Seelen nach dem Tod im Phaidon: »Also, sprach er, sind auch wohl die glücklichsten unter diesen die und kommen an den besten Ort, welche der gemeinen und bürgerlichen Tugend (t¼n dhmotik¼n ka½ politik¼n ⁄retffin) nachgestrebt haben, die man doch auch Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt, die aber nur aus Gewöhnung und Übung entsteht (¥x ˛jou@ te ka½ melffth@ gegonu…an) ohne Philosophie und Vernunft (˝neu yilosoyffla@ te ka½ no‰)?« (82a8–b3) Diese gelangen entweder in eine gesellige und zahme Gattung, z. B. der Bienen und Ameisen, oder bleiben maßvolle Menschen. Allein den Philosophen wird der Zutritt zum Geschlecht der Götter ermöglicht: »In der Götter Geschlecht aber ist wohl keinem, der nicht philosophiert hat und vollkommen rein abgegangen ist, vergönnt zu gelangen, sondern nur dem Lernbegierigen.« (b8–c1) Vgl. ebenso 68c ff.
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mag aus sich heraus nicht, und darauf kommt es an, der eigenen Identität in allen weiteren Entscheidungen Dauer zu verleihen. Im Unterschied dazu gewährt allein die Philosophie, wenn keine absolute, dann zumindest eine relative und im Vergleich mit den anderen Lebensweisen die größte Sicherheit überhaupt, als derjenige weiterhin zu leben, der man ist und als der man sich versteht. Wie wir bereits wissen, bedingt der Bezug auf das Allgemeine, der Umgang mit dem sich immer Gleichbleibenden, dass auch derjenige, der sich auf dieses Gleichbleibende bezieht, diesem ähnlich wird (vgl. 604e2 f.). Hinzu kommt, dass die »wahre Dialektik« als die Kunst, sich über das Gute Rechenschaft zu geben, dazu erzieht, »stählern (⁄damantfflnw@) an seiner Meinung fest[zu]halten« (619a1 f.), weil es in der Frage nach dem Guten kein verfügbares Wissen und keine Berufung auf andere gibt, sondern man sich auf sich selbst verwiesen sieht. Diese Orientierung an seiner eigenen Einsicht ermöglicht eine durchgängige Identität des Einzelnen, eine Beständigkeit des eigenen Selbst im gesamten Lebensvollzug und, unter den Bedingungen des Mythos, auch für die Zeit nach dem Tod. Wenn sich abschließend zeigen lässt, dass die eigene Identität nicht nur als ein Teil unter anderen zu einem anspruchsvollen Begriff der Glückseligkeit bei Platon zählt, sondern die Beständigkeit des eigenen Selbst für das Glück des Einzelnen zentral ist und nur durch die philosophische Lebensweise erreicht werden kann, dann wissen wir endlich, worin sie den anderen Lebensweisen in letzter Konsequenz überlegen ist. Die Beständigkeit des eigenen Selbst, die individuelle Identität, verbindet Platon mit der Behauptung, dass sie sich nicht nur über die Dauer eines Lebens erstrecken soll, sondern – wie im Mythos vorausgesetzt – über den eigenen Tod hinaus. Dieser Behauptung von der Unsterblichkeit der Seele stehen wir heute eher skeptisch gegenüber. Trotzdem muss die Frage gestellt werden, ob sich dieser Annahme nicht auch für uns eine sinnvolle Deutung abgewinnen lässt. Auf den von Sokrates geführten Beweis von der Unsterblichkeit der Seele, der dem Mythos von der Lebenswahl vorangestellt ist, werde ich insgesamt nicht eingehen, sondern nur auf eine Deutung, welche durch den Vergleich mit dem Meergott Glaukon nahegelegt wird: Die Seele sei nicht »ihrer wahrhaftesten Natur nach vieler Mannigfaltigkeit und Unähnlichkeit und Verschiedenheit voll […] an und für sich«, weil nicht ewig sein könne, »was aus vielem zusammengesetzt ist und sich nicht der allervortrefflichsten Zusammensetzung erfreut, wie sich uns doch jetzt A
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die Seele gezeigt hat«; hingegen sei nur das »wissenschaftsliebende Wesen« der Seele »dem Göttlichen und Unsterblichen und immer Seienden verwandt«. 204 Allein das Vernünftige der Seele, also das logistikn, sei unsterblich, weil nur dieses Vermögen der Seele eine Voraussetzung von Unsterblichkeit erfülle – eingestaltig und nicht vielgestaltig zu sein. Abgesehen davon, dass die Argumentation des Beweises fraglich ist und die Unsterblichkeit mehr behauptet, als bewiesen wird, 205 gibt es eine offenkundige Merkwürdigkeit, wenn nicht sogar Widersprüchlichkeit zum vorangehenden wie auch nachfolgenden Text in der Politeia: Wenn nur das Vernünftige der Seele unsterblich ist, wie stimmt dann diese Behauptung mit der bisherigen Bestimmung der Gerechtigkeit als einer innerseelischen Disposition der drei verschiedenen seelischen Vermögen überein? Daraus ergeben sich weitere Probleme: Wie können unter dieser Annahme die Seelen im Jenseits gemäß ihrer Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit beurteilt werden? Lässt sich angesichts der Unsterblichkeit allein des Vernünftigen noch von einer individuellen Seele sprechen? 206 204 t–» ⁄lhjest€t–h yÐsei toio‰ton e nai vucffin, ¯ste poll»@ poikilffla@ ka½ ⁄nomoitht@ te ka½ diayor”@ gffmein a't pr@ a¢t. […] sÐnjetn te ¥k polln ka½ m¼ t–» kallfflst–h kecrhmffnon sunjffsei, £@ n‰n m…n ¥y€nh vucffi (611b1–7); E§@ t¼n yilosoyfflan a't»@ […] £@ xuggen¼@ oªsa t† te jeffl†w ka½ ⁄jan€t†w ka½ t† ⁄e½ nti (e1–3). 205 Zur kritischen Diskussion der Beweisführung vgl. z. B. W. Kersting, Platons ›Staat‹, 1999, 316 ff. 206 Wolfgang Kersting hat diesen Widerspruch als einen erneuten Beleg für »die die ganze Politeia durchziehende und immer wieder die Argumentation verwirrende Grundspannung zwischen dem Integralkonzept der Gerechtigkeit einerseits und der höchsten Tugend der Weisheit und dem höchsten Glück der Erkenntnis andererseits« gewertet (ebd., 320). Platon allerdings zu bescheinigen, dass ihn »gegen Ende des Dialogs entschieden die Lust und Konzentration verlassen haben« (ebd., 321), dürfte dann doch über eine die Bedeutung des Textes erschließen wollende sachbezogene Interpretation hinausgehen. – Die im X. Buch behauptete Unsterblichkeit der Seele wird in der Forschung anhand subtiler Textinterpretationen kontrovers diskutiert: Für Thomas A. Szlezák ist angesichts der Ausführungen über die »wahre Natur der Seele« die Seelenpsychologie des IV. Buches eine nur vorläufige Bestimmung der Seele, hingegen würde eine im Dialog nur angedeutete weiterführende Untersuchung, der sogenannte »längere Weg«, ergeben, dass die »wahre« Seele allein die von allem Leiblichen, einschließlich der unteren zwei Seelenteile gereinigte unsterbliche Denkseele wäre. Dass Szlezák als Vertreter der Tübinger Schule davon ausgeht, dass Platon diesen Weg für gangbar hielt und auch gegangen ist, braucht nicht eigens ausgeführt zu werden (Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 1985, 317 ff.; bereits ders., Unsterblichkeit und Trichotomie der Seele, 1976). Dagegen vertritt Andreas Graeser die Position, dass die Unsterblichkeit nicht auf das
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Es finden sich im Text aber auch Hinweise, die eine andere Interpretation zulassen: Erstens die nicht überzeugende Argumentation des Beweises, zweitens die Bemerkung von Sokrates, der Beweis sei »leicht« zu demonstrieren, »denn es ist gar nichts Schweres« (o'dþn gÞr calepn, 608d7 f.), und drittens die Unstimmigkeit zwischen der als einer bestimmten innerpsychischen Disposition aufgefassten Gerechtigkeit und dem allein als unsterblich geltenden Vernünftigen sind derart offensichtlich, dass einer wörtlichen Interpretation, ein immaterieller Teil unserer selbst überdauere, misstraut werden sollte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dieser Widerspruch zur Inszenierung des Dialoggeschehens gehört und Platon damit die Absicht verband, vor einer direkten Interpretation zu warnen und eine andere Deutung als sinnvoll nahezulegen, die in Bezug auf unser Thema abschließend noch ausgeführt werden soll. Die Rede von der Unsterblichkeit der Seele kann auch als Ausdruck für die nicht-empirischen Leistungen der Seele verstanden werden: Zu diesen gehören neben den Vermögen des Gedächtnisses und der Erinnerung ebenso die Fähigkeiten des Erkennens und Urteilens sowie die bereits mehrfach genannte Leistung, Einheit und Zusammenhang zu ermöglichen. Diese Leistungen lassen sich nicht empirisch ableiten, sie können nicht als endlich gedacht werden und werden deshalb als »göttlich« ausgezeichnet. Weil die Seele sich aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten auf das Allgemeine beziehen kann, Begriffe gebraucht, die nicht der Veränderung unterworfen, sondern beständig sind, muss auch sie als dasjenige, das sich darauf bezieht, in einer gewissen Hinsicht beständig – also unsterblich – sein. Der Bezug auf das Allgemeine beschreibt nicht nur in epistemischer Hinsicht unsere besten Vermögen, sondern er ist auch praktisch relevant. Zum Selbstverständnis eines vernünftigen Wesens gehören Anspruch und Selbsterfahrung, sein Leben eigenständig und konsistent, d. h. durch Einsicht begründet, zu führen, ansonsten wird man in einem sokratischen Gespräch, in dem man Rede und Antwort geben soll, in dem, was man sagt, »sich selbst nicht gefallen« (o'k ⁄rffskousin a'to½ a¢to…@, Tht. 177b5). Wenn ich mich – fragend nach dem Guten – als ein vernünftiges Wesen verstehe, das als solches nach logistikn eingegrenzt werden kann, sondern sich auf die trichotomische Seele bezieht, wie sie im IV. Buch entwickelt wurde (Probleme der platonischen Seelenteilungslehre, 1969, 27–40). A
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Gründen für sein Handeln sucht, dann werde ich mich in meinem Handeln an diesen orientieren und mein Handeln für mich und vor anderen in begründeter Weise ausweisen und rechtfertigen können. Da Einsichten und Gründe als solche immer allgemein verfasst sind und sein müssen, um ihre Funktionen als Orientierungspunkt für den Handelnden selbst und als Erklärungs- und Rechtfertigungsgrund vor anderen zu erfüllen, verstehen wir uns im Bezug auf unsere Gründe gerade nicht in einer empirischen Art und Weise. Damit die Lebensführung auch wirklich gelingt, die Sorge um mich selbst auch wirklich zu einem für mich guten Leben führt, ist das Selbstverständnis eines vernünftigen Wesens nötig, das sich als solches nicht empirisch, sondern aufgrund seiner besten Vermögen aus einer metaphysischen Perspektive heraus versteht und in diesem Sinn als – unsterblich. Dieses Selbstverständnis ermöglicht uns, ein gutes Leben zu führen und auch noch im Sterben der zu bleiben, der wir im Leben gewesen sind. 207 Als eigentliches Motiv für ein vernunftgeleitetes Leben, der platonischen Antwort auf die zentrale Frage: »Wie soll ich leben?«, hat Peter Schulz im Zusammenhang des Jenseitsmythos im Gorgias »die Liebe zu seiner Bestimmung als unsterbliche Seele« interpretiert und in Bezug auf die Politeia die Vermutung geäußert, »daß auch die Idiopragieformel ihre Begründung in letzter Instanz nicht in einem Konzept der affektiv-volitiven und rationalen Ausgeglichenheit findet, sondern ihr – wie auch den anderen Tugenden – nach Platon jene Zuneigung zu sich selbst als unsterbliche Seele zugrundeliegt«. 208 Diese Überlegung, sich selbst als unsterbliche Seele zu lieben und darin den letztlich ausschlaggebenden Beweggrund für die philosophische Lebensweise zu se207 Ausgehend vom Phaidon vertritt Volker Gerhardt die These, dass die Unsterblichkeit »nur existentiell errungen und allein dadurch bewiesen werden« kann: Der eigentliche Beweis läge nicht in den im Gespräch entwickelten Argumentationen, sondern in der Haltung, in der Sokrates stirbt, einer Haltung, als wäre er unsterblich. »Wer aber selbst vor dem vermeintlichen Nichts des Todes unbeirrt in seinem Sein beharrt, der widersteht dem Tod und setzt ein auch anderen erkennbares Zeichen seiner Überlegenheit. […] Sokrates ist unsterblich, weil er als dieser Sokrates leben und sterben konnte.« (Sokrates als Denker seiner eigenen Existenz, 2003, 148 und 149) 208 P. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe, 2000, 66 f. Vgl. ebd., 66: »Das, was den Menschen folglich dazu bewegt, sich der Überprüfung der eigenen Angelegenheiten wie der der anderen zu stellen, bis hin zu der Bereitschaft, dafür mit dem eigenen Leben einzustehen, ist jenes affektive Ergriffensein von der Idee der eigenen Unsterblichkeit, wie sie in dem Mythos des Jenseits symbolisch dargestellt wird.« Die erwähnte Vermutung ist im Kapitel zur Politeia leider nicht näher ausgeführt worden.
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hen, ist meiner Ansicht nach richtig, aber zu undifferenziert. Unklar bleibt nämlich, wieso die derart verstandene Selbstliebe nicht auch ein Motiv für eine andere Lebensform sein kann bzw. wieso die Zuneigung zu sich selbst als unsterbliche Seele einen Kallikles oder Thrasymachos, die eine andere Lebensform favorisieren, überzeugen sollte, die Lebensweise zu wechseln. Auch wenn sie sich nach platonischer Auffassung über sich selbst und ihre eigentlichen Ziele täuschen, für sich selbst unterliegen sie keinem Irrtum, sondern entsprechend ihrem Selbstbegriff fänden sie in ihrer Liebe zu sich selbst als unsterbliche Seele sogar noch eine Bestätigung und ein zusätzliches Motiv für ihre Lebensweise. Das Problem der These von Schulz ist nicht die Selbstbejahung des Philosophen, sondern dass sie nicht erklärt, wieso die Zuneigung zu sich selbst als unsterbliche Seele ausschließlich für die philosophische Lebensweise ein Motiv sein soll, wird doch nirgends behauptet, dass allein die Seelen, die sich in ihrem Leben durch ihre Vernunft leiten lassen, unsterblich sein können. Die Liebe zu sich selbst als unsterbliche Seele ist also nicht nur bei den Philosophen vorauszusetzen. Die Annahme stimmt gut mit den Ausführungen im Symposion überein: Alle Menschen, so wurde dort behauptet, wollen das für sich Gute, insofern sorgen sie um sich selbst oder sind sich selbst zugeneigt, und zwar wollen alle das für sich Gute nicht nur für jetzt, sondern für immer und streben deshalb nach Unsterblichkeit. Es ist allerdings keine rein formale Unsterblichkeit, die der einzelne Mensch erstrebt. Er will nämlich nicht in einem formalen Verständnis unsterblich sein, nicht als Lebewesen oder als Exemplar der Gattung Mensch, sondern jeder will als genau derjenige unsterblich sein, der er ist, als der er sich versteht und von anderen verstanden wird – als Individuum mit seiner individuellen Identität. Das zeigten bereits die Ausführungen im Symposion, das ist uns als agonales Wesen der Griechen, durch einmalige Taten im Gedächtnis der Nachwelt bleiben, begegnet und fand den treffenden Ausdruck bereits bei Homer: »Immer der erste zu sein und ausgezeichnet vor andern«. 209 Und die Rede der Kassandra in der Orestie von Aischylos – »Oh dieses Menschenleben! Wenn es glücklich ist, kann ein Schatten es verwandeln. Im Unglück wischt ein feuchter Schwamm darüber, und das Bild, die Schrift, verlöscht. Mehr als alles andere schmerzt mich das Vergessensein.« 210 209 210
a§þn ⁄risteÐein ka½ ¢pefflrocon ˛mmenai ˝llwn (Il. VI, 208; XI, 784). § brteia pr€gmat’‡ e'tuco‰nta mþn ski” ti@ n prffveien‡ e§ dþ dustuc–», boA
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– kann gar nicht anders verstanden werden, als dass ein Individuum, das sich seiner Individualität bewusst ist, im Gedächtnis der Nachwelt bleiben möchte. Die eigene Identität hat für den Einzelnen eine Bedeutung für den Lebensvollzug, für Erkennen, Handeln und der Verständigung mit anderen. Aber ihr Wert, und zwar für das Individuum selbst, reicht weit darüber hinaus. Die Bedeutung, die wir uns selbst zusprechen, kann so weit gehen, dass man unter bestimmten Umständen sogar den Tod auf sich nimmt, wenn man im anderen Fall nicht mehr als der leben kann, der man ist, als der man sich versteht und von anderen verstanden werden will. Die Aufgabe der eigenen Identität war für Sokrates der ausschlaggebende Grund, sich gegen eine mögliche Flucht zu entscheiden und das Urteil zu akzeptieren. Die Identität meiner selbst ist für mich, so lässt sich sagen, von existenzieller Bedeutung. Voraussetzung dafür ist, dass der Einzelne, indem er über sich und sein Leben Rechenschaft zu geben vermag, sich des eigenen Anteils an seiner Identität bewusst ist, oder anders gesagt: dass der Einzelne seine Identität selbst hervorgebracht und deshalb ein exponiertes Bewusstsein von seiner Individualität hat. Deshalb erhält die eigene Identität eine Bedeutung, die uns sogar nach Unsterblichkeit streben lässt, aber nur unter der bereits genannten Voraussetzung: unsterblich zu sein als derjenige, der ich bin und als der ich mich verstehe – als genau dieses Individuum mit seiner individuellen Identität. Weil Platon der individuellen Identität eine derartige Relevanz zuspricht, ist die Beständigkeit des eigenen Selbst als ein zentraler Aspekt menschlichen Glücks zu verstehen. Genau darauf weist der Mythos der Lebenswahl symbolisch hin: Die Bewahrung der eigenen Identität vermag nur die philosophische Lebensweise zu sichern, und genau darin ist sie – in Bezug auf das Glücklichsein des Einzelnen – allen anderen Lebensweisen überlegen. Im Unterschied dazu bleiben die anderen, wie der Mythos zu berichten weiß, gerade nicht diejenigen, die sie im vergangenen Leben gewesen sind, denn sie wählen andere Lebensweisen, sodass sich ihr Streben nach Unsterblichkeit, über die Zeit hinweg derjenige zu bleiben, der man ist, nicht erfüllt. Dieser nicht gewollte Wechsel der Lebensweise ist uns bereits aus der Abfolge der Charaktere bekannt: Wie die innere Instabilität die Charaktere für la…@ ¢grðsswn spggo@ lesen grayffin. ka½ ta‰t’ ¥kefflnwn m”llon o§ktfflrw polÐ. (A. 1327–1330)
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eine Änderung anfällig macht, so bewahrt vor einem Wechsel der Lebensweisen nicht einmal die Tugend aus Gewöhnung, wie das Beispiel desjenigen zeigt, der im Mythos für sich die Herrschaft eines Tyrannen gewählt hat. Allein der Philosoph bleibt derselbe, indem er sich am Guten orientiert und an seiner Einsicht festhält, dass das höchste Wissen darin besteht, die Lebensweisen daraufhin unterscheiden zu können, inwiefern sie zur Gerechtigkeit der Seele beitragen, und ist in diesem Sinn – unsterblich. Jetzt wissen wir auch genau, weshalb es Sokrates mit Prometheus, dem Vorausdenker, hält: damit er sich nicht nur jetzt, sondern immer wohl befindet, weil er der bleibt, der er ist – Sokrates.
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Bibliographie
Erläuterungen zur Angabe der Literatur und Zitierweise: Platons Dialoge werden nach der Ausgabe: Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1990, zitiert. Nur bei Abweichungen wird die jeweils andere Ausgabe genannt. Texte antiker Autoren, einschließlich Platons, werden mit den bei Henry George Liddell and Robert Scott, A Greek-English Lexicon, angegebenen Siglen abgekürzt. Monographien und Aufsätze werden in den Anmerkungen in einer verkürzten Form nachgewiesen: Autor, Kurztitel, Erscheinungsjahr, Seitenzahl. Werkausgaben sind im Literaturverzeichnis als solche und mit einem Sigel angegeben, in den Anmerkungen erscheint der ungekürzte Titel nebst Sigel und Bandangabe der Werkausgabe. Ergänzungen in eckigen Klammern sind grundsätzlich Ergänzungen der Autorin. 1. Editionen, Übersetzungen, Kommentare Aeschylus: Oresteia. Agamemnon. Libation-Bearers. Eumenides, ed. and translated by Alan H. Sommerstein, Cambridge/Mass./London 2008. Aischylos: Orestie, übersetzt von Peter Stein, hrsg. von Bernd Seidensticker, 2. Aufl., München 2007. Aristoteles: Aristotelis Opera, edidit Academia Regia Borusica, ex recognitione Immanuelis Bekkeri, 2 Bde., Berlin 1831. Aristoteles: Magna Moralia, übersetzt von Franz Dirlmeier, Berlin 1958 (Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Ernst Grumach, Bd. 8). Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier, 8., gegenüber der sechsten, durchgesehenen, unveränderte Aufl., Berlin 1983 (Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 6). A
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Bibliographie Aristoteles: Politik. Buch II und III, übersetzt und erläutert von Eckart Schütrumpf, Berlin 1991 (Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 9, Teil II). Aristoteles: Politik. Buch IV–VI, übersetzt und eingeleitet von Eckart Schütrumpf, erläutert von Eckart Schütrumpf und Hans-Joachim Gehrke, Berlin 1996 (Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 9, Teil III). Cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum, lateinisch und deutsch, übersetzt und hrsg. von Ernst Alfred Kirfel, Stuttgart 1997. Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von Hermann Diels, 3 Bde., sechste verbesserte Aufl., hrsg. von Walther Kranz, Berlin 1951/52 (= DK). Herodot: Historien, griechisch und deutsch, hrsg. von Josef Feix, 2 Bde., 4. Aufl., München/Zürich 1988. Hesiod: Theogonie. Werke und Tage, griechisch und deutsch, hrsg. und übersetzt von Albert von Schirnding, mit einer Einführung und einem Register von Ernst Günther Schmidt, München/Zürich 1991. Homer: Ilias, griechisch und deutsch, mit Urtext, Anhang und Registern, übertragen von Hans Rupé, 11. Aufl., Düsseldorf/Zürich 2001. Homer: Odyssee, griechisch und deutsch, mit Urtext, Anhang und Registern, übertragen von Anton Weiher, Einführung von Alfred Heubeck, 11. Aufl., Düsseldorf/Zürich 2000. Isocrates: Isocrates, with an english translation by George Norlin, Vol. 2, London/ Cambridge/Mass. 1962. Platon: Sämtliche Dialoge, in Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Schneider hrsg. und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Otto Apelt, 7 Bde., unveränderter Nachdruck: Hamburg 1998. Platon: Sämtliche Werke, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter Otto neu hrsg. von Ursula Wolf, Reinbek b. Hamburg 1994. Platon: Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, griechischer Text von Louis Bodin u. a., deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher u. a., Darmstadt 1990. Platon: Apologie des Sokrates, Übersetzung und Kommentar von Ernst Heitsch, Göttingen 2002 (Werke, Übersetzung und Kommentar, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und Literatur zu Mainz hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Bd. I 2). Platon: Gorgias oder Über die Beredsamkeit, nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher hrsg. von Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1993. Platon: Gorgias, Übersetzung und Kommentar von Joachim Dalfen, Göttingen 2004 (Werke, Übersetzung und Kommentar, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und Literatur zu Mainz hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Bd. VI 3). Platon: Protagoras, Übersetzung und Kommentar von Bernd Manuwald, Göttingen 1999 (Werke, Übersetzung und Kommentar, im Auftrag der Akademie der
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Bibliographie Wissenschaften und Literatur zu Mainz hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Bd. VI 2). Platon: Der Staat, eingeleitet und hrsg. von Olof Gigon, übertragen von Rudolf Rufener, 2. Aufl., Zürich/München 1973. Plutarchus: Vitae parallelae, Vol. 1, Fasc. 1, quartum recensuit Konrat Ziegler, editionem quintam curavit Hans Gärtner, München/Leipzig 2000. Plutarch: Große Griechen und Römer, Bd. 1, eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler, Übersetzung der Biographie des Themistokles von Walter Wuhrmann, Zürich/Stuttgart 1954. Sophokles: Dramen, griechisch und deutsch, hrsg. und übersetzt von Wilhelm Willige, überarbeitet von Karl Bayer, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Bernhard Zimmermann, 2. Aufl., München/Zürich 1985. Theognis. Mimnermos. Phokylides: Frühe griechische Elegien, griechisch und deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Dirk Uwe Hansen, Darmstadt 2005. Thucydidis: Historiae, recognovit brevique adnotatione critica instruxit Henricus Stuart Jones, apparatum criticum correxit et auxit Johannes Enoch Powell, 13. Aufl., Oxford 1991. Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, übersetzt und hrsg. von Helmuth Vretska und Werner Rinner, Stuttgart 2000.
2. Hilfsmittel, Lexika A Greek-English Lexicon, compiled by Henry George Liddell and Robert Scott, with a revised supplement, 9., verbesserte Aufl., Oxford 1996 (Nachdruck: Oxford 1940). Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in 5 Bänden, auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet und hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, München 1979. Lexicon Platonicum, sive vocum Platonicarum index (1835–1838), condidit D. Fridericus Astius, 3 Bde., 2. Aufl., Berlin 1908. Wörterbuch der griechischen Eigennamen, hrsg. von Wilhelm Pape, neu bearbeitet von Gustav Eduard Benseler, 3. Aufl., Braunschweig 1884.
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Personenregister
Ackeren van, Marcel 57, 75, 77, 142, 170, 233, 250, 253 Adkins, Arthur W. H. 32, 40 Aischylos 44, 106, 349 Allen, Reginald E. 91 Anaxagoras 46 Antiphon 49, 195, 254 Apelt, Otto 73, 91, 94, 206, 220, 267, 270, 272, 278, 294, 344 Arendt, Hannah 41–42, 106, 219, 221– 222 Aristophanes 130, 166 Aristoteles 17–19, 27, 39, 46, 75, 114– 115, 151, 202, 219, 236, 276, 282, 287, 323, 326, 330 Aristoxenos 53 Ast, Friedrich 216, 259, 272, 275, 294, 336 Augustinus 15–16 Baumgarten, Hans-Ulrich 179, 181 Baumhauer, Otto A. 166 Betz, Hans Dieter 129–130 Blößner, Norbert 180, 245, 250, 254, 333 Böhme, Gernot 29, 93, 97, 99, 144, 149– 150, 157 Borsche, Tilman 111, 187, 311–312, 314, 320, 332 Bröcker, Walter 111, 166, 234 Bubner, Rüdiger 278 Buchheim, Thomas 47–48, 166 Burckhardt, Jacob 36–38 Burkert, Walter 32–33, 94, 273, 277
Cicero 50 Classen, Carl Joachim 48, 130, 166, 276 Dalfen, Joachim 166, 169, 196–198, 201, 209, 225, 332, 343 Demokrit 46, 254 Descartes, René 12, 16 Dihle, Albrecht 179–181 Dilthey, Wilhelm 15 Dodds, Eric Robertson 32, 37, 46, 123, 179–180 Eigler, Gunther 121 Enskat, Rainer 84, 132, 149, 154, 160, 182, 313 Euripides 46 Fetz, Reto Luzius 92 Fichte, Johann Gottlieb 145 Figal, Günter 54, 57, 62, 123, 125–126, 134, 159, 167, 174–176, 186, 193, 195, 200, 205, 223, 261, 281, 311–312, 314, 321 Fleischer, Margot 67–68, 70, 120 Foucault, Michel 26–27, 97, 148, 157– 158 Fränkel, Hermann 32 Frede, Dorothea 62, 69, 102, 187, 211, 244, 292–294, 303, 311, 313 Friedländer, Paul 54, 84, 88, 91, 111, 123, 133, 143, 146, 155, 198, 234, 332 Gadamer, Hans-Georg 54–57, 59, 123, 129–131, 136, 145, 151, 161, 182–183, A
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Personenregister 230, 236, 244–245, 260, 283, 285, 292–293, 311–312, 318, 324, 332 Gaiser, Konrad 53 Gehlen, Arnold 63–64 Gehrke, Hans-Joachim 276 Gerhardt, Volker 9, 21–22, 25–26, 60, 64, 96–98, 104, 118, 135, 143, 147, 151, 184, 208, 223, 246, 250, 262–263, 285, 316, 320, 325, 329, 335, 348 Gigon, Olof 21, 327–328 Gloy, Karen 88, 92, 98, 115, 145 Göbel, Christian 130 Goethe von, Johann Wolfgang 87 Gomperz, Heinrich 48, 335 Gorgias von Leontinoi 94, 166 Graeser, Andreas 48, 166, 198, 211, 346 Groethuysen, Bernhard 139, 322 Grube, Georges M. A. 111, 277 Gundert, Hermann 19, 54, 220 Habermas, Jürgen 27–29 Hadot, Pierre 51, 132, 157–158, 181, 219, 222, 278–279, 322 Halfwassen, Jens 19 Hall, Robert William 243–244 Hardy, Jörg 131, 136, 162, 190, 215, 241 Hauskeller, Michael 202 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11–20, 29, 31, 45, 243 Heidegger, Martin 16–17, 72, 75–76, 156 Heimsoeth, Heinz 16 Heinimann, Felix 49, 195 Heitsch, Ernst 128, 130 Hekataios 46 Hellwig, Dorothee 292 Henrich, Dieter 26 Henrichs, Albert 94 Heraklit 46, 112, 115, 125, 335 Herodot 41, 276 Hesiod 122, 335 Hildebrandt, Kurt 174, 219 Himmelmann, Beatrix 22–23 Hobbes, Thomas 262, 323 Höffe, Otfried 244, 260–261, 266 Homer 32–37, 45, 70, 83, 198, 266, 349
370
Horn, Christoph 180–181 Hossenfelder, Malte 23, 26 Hügli, Anton 26, 328 Isokrates 46 Jaeger, Werner 47–48, 51, 65, 70, 111, 119, 133, 175, 201, 211, 218, 234, 291, 294, 317 Janka, Markus 332 Jauss, Hans Robert 16 Kahn, Charles H. 61 Kant, Immanuel 21–27, 59, 114, 121, 161, 190, 221, 242–243, 262, 279, 284 Kauffmann, Clemens 169 Kerferd, George Briscoe 46, 166 Kersting, Wolfgang 252–253, 255, 284, 289, 292, 297, 299–300, 302, 306– 308, 311, 323–324, 346 Kleisthenes 38 Knoche, Susanne 323 Kobusch, Theo 167, 169, 198, 223, 231 Konersmann, Ralf 146 Krämer, Hans Joachim 14, 21, 53–54, 327 Krischer, Tilman 111 Krüger, Gerhard 15–16, 67, 70, 73–75, 106, 111–112, 119, 218 Kube, Jörg 138, 175 Kuhn, Helmut 44, 51, 152, 244, 248 Kuhn, Thomas S. 53 Kutschera von, Franz 130 Lasker, Emanuel 243 Leon von Salamis 140 Liddell, Henry George 45 Lykurg 70 MacIntyre, Alasdair 26, 309 Mandeville de, Bernard 323 Manuwald, Bernd 64, 142 Martens, Ekkehard 145 Martin, Jochen 46 Meier, Christian 38–43, 45, 47, 128
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Personenregister Meier, Heinrich 25, 27, 51, 130, 132, 134, 239, 246 Meyer, Eduard 30 Müller, Carl Werner 83 Nietzsche, Friedrich 36, 63, 177, 198, 203, 221, 245–246, 280, 284, 302 North, Helen F. 199 Oehler, Klaus 30, 114, 145 Orwell, George 165 Ottmann, Henning 30–32, 34, 36–37, 40, 263 Pape, Wilhelm 120 Parmenides 166 Patzer, Andreas 132 Perikles 41–42 Picht, Georg 65, 111 Pleger, Wolfgang H. 48–49, 51, 123, 128 Plutarch 37 Pohlmann, Rosemarie 44 Pongratz, Ludwig J. 293, 309 Popper, Karl R. 17, 243, 291 Prauss, Gerold 22 Protagoras 48, 64, 115 Pythagoras 94, 269 Quarch, Christoph 54–55, 311 Raaflaub, Kurt 38 Rapp, Christof 9, 240 Reale, Giovanni 53 Rehn, Rudolf 118 Reinhardt, Karl 143, 332 Ricken, Friedo 334 Roloff, Dietrich 315 Rosen, Stanley 111 Rudolph, Enno 260, 269, 271–272, 331, 336 Rufener, Rudolf 270, 272, 294 Rupé, Hans 36 Sandvoss, Ernst 18 Schadewaldt, Wolfgang 129–130
Schäfer, Christian 332 Schälike, Julius 179 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 31 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 54, 56, 61, 73, 88, 195, 219, 243, 270, 293–295 Schmid, Wilhelm 27, 99, 137, 157 Schmidt, Hermann Josef 151 Schmitt, Arbogast 31–36, 45, 59, 145, 180, 190, 259–261, 266–268, 284, 295–296, 304, 327 Schudoma, Ingeborg 323–324 Schulz, Peter 203, 232, 235–236, 280, 324, 326, 348–349 Seel, Martin 24, 26–27 Seel, Otto 218–219 Seidensticker, Bernd 32–35, 58, 266 Smith, Adam 323 Snell, Bruno 31–34, 37 Solon 31, 38, 70 Sophokles 44 Spaemann, Robert 26 Spahn, Peter 38–39, 41, 43 Spranger, Eduard 18 Stein-Hölkeskamp, Elke 36–37 Steiner, Peter M. 116, 121, 142 Stemmer, Peter 46, 50, 167, 171–172, 175, 179, 198, 207, 210, 214, 216, 234, 241, 250, 252–254, 256–257, 322 Stenzel, Julius 16 Stephanus, Henricus 94 Sternberger, Dolf 17 Szlezák, Thomas Alexander 52–53, 92, 118, 124, 133–134, 199, 222, 235, 321, 346 Taylor, Charles 26, 92, 279 Themistokles 37 Theognis 335 Theophrast 294 Thukydides 31, 41, 46 Tränkle, Hermann 129 Tugendhat, Ernst 23, 26, 77–78, 159, 179, 207, 213–214 A
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Personenregister Vogel de, Cornelia J. 34–35, 293, 323– 324, 336 Voigt, Christian 32, 266 Webster, Thomas B. L. 35 Weidemann, Hermann 26 Wieland, Wolfgang 54–57, 61, 73, 76– 77, 81, 85, 135, 146, 154, 177–178, 182–183, 187, 191, 196, 205, 311, 314, 340–341 Williams, Bernard 21, 26, 32–34, 37, 261 Wingert, Lutz 27 Wippern, Jürgen 70, 107, 113, 119, 316
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Wirth, Björn 237 Wolf, Ursula 23, 25, 27, 50–52, 88, 124, 128–129, 134, 138–140, 142, 166, 169, 175, 193, 197–198, 201, 205–206, 210, 212, 227, 237, 249–250, 319 Xenophanes 46, 94 Xenophon 18 Zehnpfennig, Barbara 57, 145 Zeitler, Wolfgang Maria 190 Zeller, Eduard 14 Zucker, Friedrich 218
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