Individualität und Selbstbestimmung 9783050061344, 9783050045757

"Individualität" und "Selbstbestimmung" sind zwei grundlegende Begriffe der Philosophie, auf die ein

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German Pages 409 [412] Year 2009

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Individualität und Selbstbestimmung
 9783050061344, 9783050045757

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Jan-Christoph Heilinger / Colin G. King / Héctor Wittwer ( Hg.) Individualität und Selbstbestimmung

INDIVIDUALITAT

u n d Selbstbestimmung Herausgegeben von Jan-Christoph Heilinger, Colin G. King und Héctor Wittwer

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der ZEIT-Stiftung

I

ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004575-7

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2009 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Grafisches Centrum Cuno, Calbe Einbandgestaltung: Matthias Gubig, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

11

Jan-Christoph Heilinger/Colin Guthrie King/Héctor Wittwer Individualität und Selbstbestimmung. Einleitung und Zusammenfassung der Beiträge

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Leben und Vernunft Dorothea Frede Der Mangel als principium individuationis bei Piaton

37

Jürgen Mittelstrass The Philosophical Self and the Identity of Philosophical Rationality

55

Josef Simon Gegenstand und Selbstbezug. Zur individuellen Komponente der Erkenntnis im Anschluss an Kant

63

Robert B. Pippin Nietzsches neue Psychologie als „Erste Philosophie". Das Problem der Selbsttäuschung

77

Marcus Willaschek Der eigene Wille. Zum Zusammenhang zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und praktischer Identität

91

Hubert Markl Unser entscheidungsfähiges Gehirn. Oder: Der freie Geist des unfreien Menschen

113

6

INHALT

Moral und Politik Richard Schröder Aristoteles über den Krieg

125

Ulrich Steinvorth Reason and Will in the Idea for a Universal History and the Groundwork

143

Hasso Hofmann Repräsentation durch Partizipation

157

Christian Möckel Das „Lebensgefühl" in der politischen Philosophie Ernst Cassirers am Beispiel des „Gemeinschaftsgefühls"

167

Otfried Höffe Dialog wagen. Bausteine für eine Theorie des realen Diskurses

183

Julian Nida-Rümelin Kollektive Selbstbestimmung

193

Wolfgang Kersting Semantischer Retributivismus. Eine freiheitsrechtliche Verteidigung des Vergeltungsprinzips

205

Carl Friedrich Gethmann Professionelle Ethik und Bürgermoral. Zur Debatte um die „Bio-Politik"

225

Dieter Sturma Individualität und Menschenrechte

243

Thomas Meyer Anerkennung, Pluralismus und Demokratie

257

Henning Ottmann Was ist politische Erfahrung?

269

INHALT

7

Mensch - Kultur - Welt Renate Reschke Bürger Apollon? Vom griechischen Gott zum bürgerlichen Subjekt. Nachgelesen bei Winckelmann und Hegel

281

Christof Gestrick Freiheit und Verantwortung in Kirche und Gesellschaft. Theologische und philosophische Argumente in Begegnung

303

Beatrix Himmelmann Über Grenzen der Selbstbestimmung

325

Annemarie

Gethmann-Siefert

Anthropologie alternativ. Überlegungen zu einer existenzialen Anthropologie . . . .

339

John Michael Krois Beginnings of Depiction. Iconic Form and the Body Schema

361

Reinhard Mehring „Berliner Geist" als „Lebensform": Eduard Spranger (1882-1963)

379

Beiträgerinnen und Beiträger Personenverzeichnis

405 407

Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag

Vorwort

Den vorliegenden Sammelband widmen wir unserem verehrten akademischen Lehrer Volker Gerhardt zu seinem 65. Geburtstag. Die hier versammelten Texte wenden sich aus unterschiedlichen Perspektiven zwei zentralen Begriffen der Philosophie Volker Gerhardts zu. Sie sind dem Jubilar von Kollegen, Weggefahrten und ehemaligen Mitarbeitern freundschaftlich zugeeignet. Wir danken den beteiligten Autorinnen und Autoren, ohne deren Mitarbeit diese Festschrift nicht hätte entstehen können. Außerdem danken wir der ZEIT-Stiftung fur die Gewährung eines großzügigen Zuschusses zu den Druckkosten, dem Akademie-Verlag für die freundliche und professionelle Begleitung bei der Konzeption und Herstellung des Buches sowie Isabel Kranz und Sonja Thiel für ihre engagierte Unterstützung bei der Redaktion der Manuskripte. Unser besonderer Dank gebührt Nicole Fiebig. Sie hat die Idee dieser Festschrift und deren Umsetzung von Anfang an tatkräftig unterstützt. Berlin, im Mai 2009 Die Herausgeber

JAN-CHRISTOPH HEILINGER/COLIN GUTHRIE K I N G / H É C T O R W I T T W E R

Individualität und Selbstbestimmung Einleitung und Zusammenfassung der Beiträge

„Individualität" und „Selbstbestimmung" sind bedeutende Grundbegriffe und Bezugspunkte des philosophischen Nachdenkens über den Menschen und seine Stellung in der Welt.1 Mit ihnen wird in epistemischer Hinsicht der menschliche Zugang zur Welt charakterisiert, weil ein erkennendes Individuum zunächst einmal immer nur Einzelnes wahrnimmt. In praktischer Hinsicht übernehmen die Begriffe bei der Beschreibung des menschlichen Selbstverständnisses eine wichtige Funktion, weil ein menschliches Individuum dadurch beschrieben werden kann, dass es sich selbstbestimmt verhält und handelt. Im selbstbestimmten Handeln wird zugleich die Verbindung des Individuums mit anderen Individuen deutlich, denn im sozialen Kontext ist der Begriff Selbstbestimmung nur in Abgrenzung zur Fremdbestimmung zu verstehen. Damit ist eine politische Dimension der Begriffe angesprochen. Schließlich lässt sich in umfassender, gewissermaßen metaphysischer Hinsicht mit den Begriffen „Individualität" und „Selbstbestimmung" die Stellung des Menschen im Ganzen der Natur in den Blick nehmen: Als einzelnes Wesen sieht der Mensch sich eingebunden in die alles umfassende Natur, innerhalb derer der Mensch seinen Platz immer erst noch selbst bestimmen muss. Im vorliegenden Band dienen die beiden Grundbegriffe „Individualität" und „Selbstbestimmung" als systematische Bezugspunkte einer Reihe von Beiträgen aus unterschiedlichen Bereichen der Philosophie, die einzelne Aspekte von Individualität und Autonomie systematisch auffächern oder historisch untersuchen. Dabei wird die Bedeutung der Begriffe in den drei Sektionen „Leben und Vernunft", „Moral und Politik" und „Mensch - Kultur - Welt" exemplifiziert. Die hier versammelten Beiträge greifen zwei zentrale Begriffe der philosophischen Arbeiten von Volker Gerhardt auf, die er in drei groß angelegten systematischen Studien und einer Vielzahl von Artikeln untersucht hat. Die Selbstbestimmung aus dem Jahr 1999 untersucht auf anschauliche Weise die Dimensionen menschlichen Lebens in der Absicht, aus einer an die Alltagsphänomenologie angelehnten Reflektion eine lebensnahe Fundierung der Ethik zu unternehmen. Dabei arbeitet Volker Gerhardt die zentrale Bedeutung der Individualität eines Individuums heraus, dessen Autonomie (Selbstbestimmung) das gesuchte Fundament einer Moraltheorie abgeben kann. Gerhardt nimmt dazu die biologischen Voraussetzungen der Selbstbestimmung im lebendigen Organismus wie auch die individuellen und politischen Konditionen und Konsequenzen dieser

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Zur Übersicht vgl. Borsche (1976) und Gerhardt (1995; 1999; 2001; 2007).

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Autonomie in den Blick. In der im Jahr 2000 vorgelegten Monographie Individualität geht Gerhardt der schon in Selbstbestimmung untersuchten Bedeutung der Individualität erneut nach, indem er diese als „Element der Welt" bezeichnet und die fundamentale Bedeutung der Individualität in epistemischer, praktischer und metaphysischer Hinsicht bestimmt. Dabei gelingt Gerhardt eine ausgreifende Einordnung des Grundbegriffs der Individualität in die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens. Die in der Studie behandelten Bereiche des menschlichen Lebens - von der Kultur über die Politik zum Leben und abschließend der Bezug auf das Göttliche - legen eindrücklich Zeugnis von Gerhardts umfassenden Anspruch ab, die Relevanz des Begriffs der Individualität als eines systematischen Elementes, als eines unverzichtbaren „Bausteins" in den verschiedensten Bereichen des menschlichen Lebens nachzuweisen. Seinen vorläufigen Abschluss hat Gerhardts Theorie der Individualität und Selbstbestimmung in einer politischen Theorie gefunden, welche die Partizipation des selbstbestimmt denkenden und handelnden Individuums als das Prinzip der Politik auszeichnet (Gerhardt 2007). Der vorliegende Band versucht, die genannten Grundbegriffe der Philosophie Volker Gerhardts in einen Kontext zu stellen, der eine Diskussion der oben angesprochenen epistemischen, praktischen und metaphysischen Aspekte von Individualität und Selbstbestimmung erlaubt.

1. Leben und Vernunft Die Begriffe „Vernunft" und „Leben" nehmen in Volker Gerhardts systematischen und exegetischen Werken einen zentralen Platz ein. Auch seine Beiträge zu kontroversen bioethischen Fragen sowie seine Tätigkeit in verschiedenen Ethikräten können im Sinne einer Bemühung um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Leben gesehen werden. Um zu verstehen, warum gerade dieser Zusammenhang für Gerhardts Philosophieren so bedeutsam ist, muss man sich eine größere philosophiegeschichtliche Konstellation vor Augen führen, auf die er sich immer wieder pointiert bezieht. Mit der These, dass die Leistungen der Vernunft immanent auf das Leben bezogen sind, bezieht Gerhardt kritisch Stellung zu Versuchen, im Anschluss an die sogenannte Lebensphilosophie Gegensätze zwischen Erlebnis und Erkenntnis, Gefühl und Verstand oder auch dem Leibseelischen und dem Geist zu konstruieren. Gleichzeitig greift er den Lebensbegriff und viele Themen der Lebensphilosophie auf, die er allerdings in eine mindestens bis zu Kant zurückreichende philosophische Theorietradition einbettet (vgl. Gerhardt 2002). Dabei ist es geradezu charakteristisch für Gerhardts Arbeiten, dass er Anregungen von einer heute weniger beachteten philosophischen Strömung aufnimmt und auf der Basis breiter geschichtlicher Kenntnisse der Philosophiegeschichte diskutiert, ohne dass er primär um eine genaue historische Zuordnung der dabei verhandelten Positionen bemüht ist: Volker Gerhardts bemerkenswerte Vertrautheit mit der Geschichte der Philosophie ist verbunden mit einem vornehmlich systematischen Interesse an Philosophiegeschichte. Im Einzelnen lassen sich drei systematische Projekte identifizieren, die für Gerhardt mit den Begriffen Vernunft und Leben verbunden sind: die Analyse der Rolle der Ver-

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nunft in sozialen und politischen Prozessen; die Klärung der Stellung der Vernunft im Verhältnis zur Entwicklung des organischen Lebens und die Erläuterung der Rolle rationaler Entscheidungen in der menschlichen Verfügung über das Leben. Bereits in seiner Dissertation zum Thema Vernunft und Interesse wird Gerhardts Denken explizit von der „Rechtfertigung der Philosophie vor einem praktischen Anspruch" und der „Legitimation pragmatischen Handelns" motiviert (Gerhardt 1974, 9). Dem Autor dieser umfangreichen und breit angelegten Schrift ist es ein dringendes Anliegen, die immanent praktische Relevanz philosophischer Reflexion nachzuweisen. Diesen Nachweis unternimmt er mit einem nachdrücklichen Hinweis auf den „gesellschaftlichen Charakter der Philosophie", der durch einen engen Zusammenhang zwischen Vernunft und gesellschaftlichem Interesse bedingt sei. Mit Blick auf die gesellschaftliche Fundierung der Vernunft vertritt Gerhardt eine These, die auch für seine Auffassung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Leben gelten sollte: „Im Medium der Sozialität ist die Natur auf die Vernunft hin angelegt und die Vernunft auf die Natur angewiesen" (Gerhardt 1974, 16). Hier habe die Philosophie als eine Instanz der Vernunft zu gelten, deren „Strukturzusammenhang" oder Wirkungsmedium die Gesellschaft sei. - Das theoretische Unterfangen, die sozialen und politischen Bedingungen aller Theoriebildung sowie die immanent praktische Orientierung der Vernunft nachzuweisen, hat Volker Gerhardts philosophisches Schaffen nachhaltig geprägt. Seine Dissertation kündigte Gerhardt als eine „Vorbereitung auf eine Interpretation Kants" an, da es ihm in dieser Schrift darum ging, die Richtigkeit der kantischen Theorie nicht vorauszusetzen, sondern eigenständig und in Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen zu erweisen. Die versprochene Kant-Interpretation erschien dann etwas mehr als 25 Jahre nach ihrer ersten Ankündigung unter dem Titel Vernunft und Leben (Gerhardt 2002). Gerhardts Anspruch, die Vernunft als eine durch und durch natürlich gewachsene Fähigkeit gelten zu lassen, ohne sich damit auf eine Spielart des Naturalismus einzulassen, lässt sich vor dem Hintergrund seiner Kant-Interpretation verdeutlichen. Im Anschluss an das kantische Prinzip der Selbstorganisation - dass die Entwicklung des Lebendigen trotz aller materiellen Bestimmungen immer als ein Fall von individueller Selbstbildung verstanden werden kann - hebt Gerhardt eine weitere Einsicht Kants hervor: Für die Identifizierung solcher individueller Lebewesen sind wir auf den Begriff eines im lebendigen Individuum verkörperten, organischen Ganzen angewiesen (siehe ζ. B. Gerhardt 2002, 314). Und diesen Begriff eines organischen Ganzen, das in sich zweckmäßig ist, gibt uns bekanntlich die Vernunft. Unter dem Vorbehalt der Kritik der teleologischen Urteilskraft zieht Gerhardt daraus die Konsequenz, dass „im Organismus stets schon etwas von dem wirkt, was nur im menschlichen Leben als artikulierte Vernunft hervortritt" (Gerhardt 2002, 317). Die menschliche Vernunft begegne sich folglich in der Betrachtung jeglichen lebendigen Wesens selbst; und jede verständige Anschauung des Lebendigen sei „ein Stück Selbsterkenntnis der Vernunft" (ebd.). Die Erläuterung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Leben unter einem breiten Begriff der Selbsterkenntnis ermöglicht im Übrigen einen offenen und unbefangenen philosophischen Umgang mit naturwissenschaftlichen Ansätzen zur Erklärung des Lebendigen, da diese als weitere Formen der vernünftigen Selbsterkenntnis des Lebens zu gelten haben.

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Diese Offenheit gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über das Leben tut jedoch dem selbstbewussten Anspruch, dass die Philosophie einen zentralen Platz in der Diskussion über den Gebrauch biotechnischer Möglichkeiten einzunehmen habe, keinen Abbruch. Mit seinen eigenen Beiträgen zu den Kontroversen um Abtreibung, therapeutisches Klonen oder den Gebrauch von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken hat Volker Gerhardt diesen Anspruch der Philosophie auf einen zentralen Platz in der öffentlichen Diskussion dieser Themen immer wieder geltend gemacht. Seine Stellungnahmen zu diesen und anderen verwandten Fragen beschreibt Gerhardt, anders als die meisten anderen philosophischen Autoren in diesem Bereich, jedoch nicht als „bioethisch", sondern als Beiträge zur „Biopolitik" (siehe z. B. Gerhardt 2001a). Damit macht er kenntlich, dass die Frage nach dem richtigen Umgang mit lebenswissenschaftlichen Technologien keine rein moralische ist, sondern vor allem genuin politische Probleme aufwirft, die in einer demokratischen Öffentlichkeit zur Debatte stehen sollen. Mit seiner pointierten These, dass „der Mensch geboren" wird d. h. dass menschliche Föten erst nach der Geburt rechtlich als Personen und moralisch als Menschen zu gelten haben - , hat Volker Gerhardt einen Vorschlag zur Bestimmung des Anfangs menschlichen Lebens gemacht, der vielfach und kontrovers diskutiert wurde.

2. Moral und Politik Wollte man die Ethik Volker Gerhardts möglichst knapp charakterisieren, so müsste man auf die beiden Begriffe zurückgreifen, die der vorliegenden Sammlung ihren Titel geben: Individualität und Selbstbestimmung. Gerhardt vertritt eine radikal individualistische Moralphilosophie, in deren Mittelpunkt der Anspruch eines jeden Menschen steht, über sich und seine Lebensführung selbst zu bestimmen. Eine Ethik, die sich darauf beschränkt, verallgemeinerbare Normen begründen zu wollen, hält er für grundsätzlich verfehlt. Moralische Konflikte entstehen nicht erst dann, wenn wir uns fragen, welchen allgemein gültigen Regeln unser Zusammenleben unterworfen sein soll. Vielmehr haben sie ihren Ursprung bereits in dem jeweils individuellen Anspruch eines Menschen, sich selbst zu erhalten und zu verwirklichen. Dementsprechend versteht Gerhardt unter „Ethik" die „Lehre von der Verfassung, die sich das Individuum selbst zu geben und zu bewahren versucht" (Gerhardt 2000, 187f.). Da Individuen nicht selbstgenügsam sind und da sie mit anderen zusammenleben müssen und wollen, vollziehen sich Selbsterhaltung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in aller Regel in der Gesellschaft anderer. Deshalb lässt sich Gerhardt auf die geläufigen Unterscheidungen zwischen „dem Guten" und „dem Gerechten", dem „ethischen" und dem „moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft oder der „eudämonistischen" und der „normativen Ethik" nicht ein. Gerhardt zufolge ergeben sich moralische Ansprüche aus dem Selbstbegriff eines Individuums. Dieser Selbstbegriff, den jeder benötigt, um sein Leben führen zu können, ist nicht rein deskriptiv, sondern er schließt immer auch normative Aspekte mit ein. Als vernünftiges Wesen konstatiert das Individuum nicht einfach, wie es ist und was es bisher getan hat, sondern es stellt Ansprüche an sich selbst, die sein zukünftiges Handeln

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anleiten sollen. Es will sein eigenes Leben führen, seinen eigenen Idealen gerecht werden, das Beste aus sich machen und dabei konsequent sein. - Freilich kann nicht jeder alles tun und erreichen. Selbstbestimmung kann sich nur im Rahmen der jeweils individuellen Fähigkeiten und Neigungen vollziehen. Darum ist es eine wesentlich moralische Aufgabe, herauszufinden, worin diese bestehen. In diesem Zusammenhang greift Gerhardt gern Nietzsches Diktum Werde, was Du bist! auf. Weil jeder von uns einzigartig ist, ist jeder Versuch, ausnahmslos gültige Verhaltensregeln aufzustellen, die für jeden in jeder denkbaren Situation angemessen wären, von Vornherein zum Scheitern verurteilt. „Eines ziemt sich nicht für alle, [...]." Diesem schönen Wort Goethes könnte sich Volker Gerhardt wohl ohne jeden Vorbehalt anschließen. Die Ansprüche, die der Einzelne an sich selbst stellt, sind häufig an seine verschiedenen sozialen Rollen geknüpft - vorausgesetzt, dass er diese Rollen ernst nimmt. Wer sich ernsthaft als Ehemann oder Vater versteht, der unterwirft sich Gerhardt zufolge dadurch selbst bestimmten normativen Ansprüchen, ohne dass diese von anderen an ihn herangetragen werden müssten. Die den unterschiedlichen Rollen entsprechenden Ansprüche können unter Umständen unvereinbar sein. Wenn dieser Fall eintritt, haben wir es nach Gerhardt mit einem typischen moralischen Konflikt zu tun. Wer beispielsweise eingesehen hat, dass er auf Dauer die Anforderungen, die er an sich in seiner Rolle als Wissenschaftler stellt, nicht mit seiner Vorstellung von einem guten Vater vereinbaren kann, der muss eine moralische Entscheidung treffen, bei der er sich nicht auf allgemein gültige Normen stützen kann. Allerdings wird er vernünftigerweise bestrebt sein, sich dabei durch gute Gründe leiten zu lassen, die andere akzeptieren können, sofern sie sich in seine Lage hineinversetzen können. Deshalb schließt Gerhardts ethischer Individualismus allgemein nachvollziehbare Begründungen nicht aus. Diese Begründungen müssen aber immer auf die individuelle Eigenart des Einzelnen bezogen sein. So lässt sich unseres Erachtens Gerhardts Rede von der Selbstgesetzgebung, die an Simmeis Begriff des individuellen Gesetzes anschließt, verstehen. Volker Gerhardt betont zwar mit Nachdruck die strukturellen Analogien, die zwischen Individuum und Staat, zwischen Person und Institution, zwischen individueller und kollektiver Selbstbestimmung bestehen. Er weist aber auch darauf hin, dass die Politik - bei allen Parallelen zur Moral - ihren eigenen Gesetzen unterworfen ist. Die vier Grundbegriffe, mit denen er die Eigenart der Politik zu charakterisieren versucht, sind Repräsentation, Partizipation, Konstitution und Öffentlichkeit. Im Unterschied zu anderen Autoren begreift er Repräsentation nicht als spezifisches Moment des modernen, parlamentarischen Staates, sondern als konstitutives Moment der Politik überhaupt. Wo immer sich Menschen in einem Gemeinwesen organisieren, sind sie auf Repräsentationen angewiesen. Dabei bezeichnet der Begriff der Repräsentation einerseits die gemeinsamen Vorstellungen davon, wie ihr Zusammenleben beschaffen sein soll, die sie benötigen, um ihr Handeln koordinieren zu können. Andererseits muss „Repräsentation" in diesem Zusammenhang aber auch im Sinne von „Stellvertretung" verstanden werden. Politik ist nur dort möglich, wo einige Menschen im Namen aller auftreten und entscheiden können. Repräsentation hängt untrennbar mit Partizipation zusammen. Politik steht von sich aus immer schon unter dem Anspruch der Mitbestimmung. Die Regierenden müssen

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sich zumindest öffentlich darauf verpflichten, im Interesse der Bürger zu handeln, und sie müssen zumindest vorgeben, denjenigen, in deren Namen sie entscheiden, dabei ein Mitspracherecht einzuräumen. Wer in einem Wahlkampf verkündet, nicht die Interessen des Ganzen, sondern nur einer Minderheit vertreten zu wollen, der wird keine Aussicht auf Erfolg haben. Selbst Tyrannen oder Einheitsparteien sind aufgrund der Eigengesetzlichkeit der Politik genötigt, das Prinzip der Partizipation wenigstens in ihren öffentlichen Äußerungen anzuerkennen. Wo es aber öffentlich anerkannt ist, da kann es auch jederzeit von den Repräsentierten eingefordert werden, sei es in der Form der öffentlichen Kritik oder der Gewalt. Die Pointe dieses Gedankengangs liegt darin, dass es sich bei der Forderung nach Mitbestimmung nicht um einen moralischen Anspruch handelt, der erst nachträglich oder von außen an die Politik gestellt wird, sondern dass diese Forderung der Politik inhärent ist. Das wichtigste Medium, in dem Repräsentation und Partizipation institutionalisiert werden, ist das Recht. Im Recht werden allgemein gültige Verhaltensregeln so festgelegt, dass Handlungsfolgen berechenbar werden, dass individuelle Ansprüche eingeklagt werden können und dass Konflikte auf gewaltfreie Weise gelöst werden können. Dafür steht bei Gerhardt der Begriff der Konstitution. Dabei gibt es nach Gerhardt keinen Gegensatz zwischen Herrschaft und Macht einerseits und dem Recht andererseits. Die Idee einer „herrschaftsfreien Gesellschaft" ist seiner Meinung nach ein Widerspruch in sich. Macht wird vielmehr vor allem mithilfe des Rechts ausgeübt und durch dieses zugleich begrenzt. Repräsentation, Partizipation und Konstitution setzen eine politische Öffentlichkeit voraus. Damit ist das vierte und letzte Moment der Politik benannt. Politische Handlungen vollziehen sich in aller Regel im öffentlichen Raum. Daher unterstehen sie der kritischen Kontrolle anderer. Wer öffentlich auftritt, der ist aufgrund der „inneren Logik der Politik" gezwungen, sich von seiner besten Seite zu zeigen und sich in allen seinen Äußerungen auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Somit bildet die Öffentlichkeit nicht nur eine notwendige Bedingung für Repräsentation, Partizipation und Konstitution, sondern ihr kommt darüber hinaus eine erzieherische und kontrollierende Funktion zu.

3. Mensch - Kultur - Welt Volker Gerhardt ist ein Philosoph, der nicht nur ein beeindruckend breites Spektrum philosophischer Themen und Disziplinen bearbeitet, sondern darüber hinaus auch den Zusammenhang der verschiedenen philosophischen Bereiche reflektiert. Sein systematischer Ausgangspunkt, von dem aus er die vielfältigen Verbindungen zwischen verschiedenen philosophischen Fragestellungen untersucht, ist das in unterschiedliche Kontexte eingebundene Individuum: zum einen als Mensch unter seinesgleichen; dann als in der Kultur lebender und Technik gebrauchender Akteur; schließlich auch als Teil der Natur und der Welt. Gerhardt betont die Individualität in der Welt, die auch für individuelle menschliche Wesen vorrangig ist. Schon jedes Sandkorn ist einzigartig, und jeder Einzeller ist als ein Individuum identifizierbar. So ist auch jeder Mensch zunächst und vor allem ein unver-

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wechselbares Individuum. Allerdings bestehen auch Gemeinsamkeiten und Gleichheiten zwischen den verschiedenen menschlichen Individuen, die im anthropologischen Projekt der auf Allgemeinheit angelegten „begrifflichen Selbstauslegung" des Menschen (Gerhardt 1999, 187ff.) expliziert werden. Um die Gemeinsamkeiten zwischen den Individuen hervorzuheben, hebt Gerhardt die Fähigkeit der Menschen hervor, sich selbst und einander als „ihresgleichen" erkennen zu können. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir einander als unseresgleichen erkennen können, liegt in dem gemeinsamen Gebrauch der handlungsleitenden Vernunft, die den menschlichen Individuen eigen ist. Daher erklärt sich die große Bedeutung, die Volker Gerhardt auch im anthropologischem Kontext der Öffentlichkeit zuspricht: Der Mensch ist dasjenige Wesen, das anderen wie auch sich selbst gegenüber Gründe angeben kann und das seine Fähigkeiten in dem Wissen um den Blick der anderen aktiviert. Erst in der öffentlichen Sphäre kommt der Mensch zu sich selbst, er ist daher homo publicus (Gerhardt 2008, bes. 102). In seiner philosophischen Analyse der kulturellen Leistungen des Menschen betont Gerhardt die Bedeutung der Technik. Ausgehend von einem umfassend verstandenen Begriff der Technik, der letztlich schon alle organismischen Vorgänge umfasst, die das Leben möglich machen, entwickelt Gerhardt ein Verständnis von besonderen ZweckMittel-Relationen, die einerseits alle lebendigen Prozesse auszeichnen (Gerhardt 1999, Kap. 4) und andererseits in einer besonderen Qualität beim Menschen vorliegen (Gerhardt 2008). Damit lassen sich die menschlichen Kulturleistungen - Werkzeuggebrauch, Sprache und Kommunikation, Wissen, gesellschaftliche Institutionen, aber auch die Kunst - in einer „technischen" Kontinuität zu den basalen Vorgängen des Lebendigen verstehen. Die Individuen und ihre Handlungen stehen immer in einem umfassenden Zusammenhang, der seinerseits philosophisch in den Blick genommen werden kann. Die Tradition hat verschiedene Termini hervorgebracht, um dieses „Ganze" zu benennen: „Welt", „Natur", aber auch den philosophischen Gottesbegriff. Im philosophischen Mainstream werden diese Begriffe heute zwar häufig als anachronistisch abgelehnt, doch für Volker Gerhardt handelt es sich bei ihnen um unverzichtbare Elemente einer anspruchsvollen Philosophie, die nicht ohne substantielle Verluste aus dem philosophischen Vokabular und dem philosophischen Denken gestrichen werden können. Daher bemüht er sich darum, das „Ganze" aus philosophischer Perspektive näher zu bestimmen und sieht in den Schwierigkeiten einer einfachen Begriffsbestimmung eine besondere Herausforderung für das Nachdenken. Gerhardts systematische Pointe ist dabei, dass ohne den Begriff von etwas Umfassendem - sei es die in sich unterscheidbare, aber umgreifende Natur; das Insgesamt der Tatsachen und Denkmöglichkeiten in der Welt; der angenommene Blick aus dem Jenseits durch einen Gott - jede Bestimmung der Individualität ihren Kontrast und ihren Grund verlöre. Gerhardts Affinität zur Idee des Umfassenden erklärt sich somit aus seiner systematischen Präferenz für das individuell Bestimmte. Dieser knappe Durchgang durch die drei Bereiche der systematischen Arbeiten Volker Gerhardts, die auch diesen Band gliedern (Vernunft und Leben; Moral und Politik; Mensch - Kultur - Welt) soll nicht vergessen lassen, dass Gerhardt seine Positionen häufig anhand von intensiven Auseinandersetzungen mit historischen Positionen entwickelt

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hat. Insbesondere Platon, Kant und Nietzsche haben wichtige Impulse ausgeübt und deutliche Spuren in seinem Werk hinterlassen. Seinem Programm der selbstbestimmten Individualität gemäß sind Volker Gerhardts historische und systematische Arbeiten immer von einem Bezug zur Praxis geprägt, ohne den die Begriffe „Individualität" und „Selbstbestimmung" für ihn ihre Bedeutung verlieren würden. Daher steht Volker Gerhardt exemplarisch für einen handelnden und engagierten Philosophen, der bereit ist, über die wissenschaftliche Sphäre hinausgehend gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, und daher theoretisches Wissen immer auch aufgrund seiner praktischen Bedeutsamkeit anstrebt.

4. Übersicht über die Beiträge Leben und Vernunft In ihrem Beitrag über den Mangel als principium individuationis bei Piaton geht Dorothea Frede der Frage nach Piatons Kriterien für die Unterscheidung menschlicher Individuen nach. Die Unterschiedlichkeit menschlicher Individuen ist nach Fredes Interpretation auf die Verschiedenheit menschlicher Seelen zurückzuführen. Da wir aber ganz unterschiedliche Seelenmodelle in Piatons Werken vorfinden und zudem die platonische Psychologie der mittleren Periode einer „Typisierung" von Seelen und Menschen zu dienen scheint, so dass diese nur als Typen und eben nicht als Individuen zur Geltung kommen, sieht sich die Interpretin vor die Aufgabe gestellt, den Ort einer theoretischen Würdigung des Individuums qua Individuum bei Piaton zu bestimmen. Diesen findet sie in Piatons Theorie des seelischen „Mangels", wie wir sie im Gorgias, im Lysis, dem Symposion sowie in Buch IX der Politela vorfinden. Insbesondere mit Blick auf eine Passage des Symposions (207 d-e) argumentiert Frede, dass die Unterscheidung seelischer Bedürfnisse nicht nur für die Bestimmung von menschlichen Typen, sondern auch zur Unterscheidung von Einzelnen eingesetzt wird. Obwohl die Auseinandersetzung mit dem Individuum und seiner Vervollkommnung in Piatons späteren Dialogen in den Hintergrund trete, gebe es unter diesen Dialogen eine Ausnahme: den Philebos, in dem der Begriff des Mangels eine wichtige Stellung in der Theorie der Lust und der Seele einnehme. Aus der differenzierten Moralpsychologie des Mangels und des Begehrens, die Frede in ihrer Interpretation des Philebos entfaltet, leitet sie allerdings keine prinzipientheoretischen Konsequenzen für die platonische Ethik ab: Aus der Individualität seelischer Mängel ließen sich zwar allgemeine Einsichten ableiten, jedoch keine allgemeinen Prinzipien für die Auswahl eines Lebens, in dem Lust und Wissen im richtigen Mischungsverhältnis vorhanden sind. Auch Jürgen Mittelstraß beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Prinzip der Individuation vor einem psychologischen Hintergrund. Seine Analyse setzt jedoch bei mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Individuationsprinzipien sowie bei einer Unterscheidung zwischen mehreren unterschiedlichen Identitätsbegriffen an. Der Begriff des Selbst bzw. des Ichs und der Begriff der Selbstidentität bzw. der Ich-Identität werden

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dem Begriff des philosophischen Selbst entgegengestellt, der einerseits auf die Formation personaler Identität mittels philosophischer Selbsterkenntnis, andererseits auf einen philosophisch geklärten Begriff des Selbst verweise. Diesen philosophischen Begriff des Selbst grenzt der Autor wiederum vom Begriff der philosophischen Rationalität bzw. der Vernunft ab, der keine einzelne Identität, sondern ein zugrunde liegendes Verständnis der Rationalität beschreibe. Von diesen Unterscheidungen ausgehend, stellt der Autor mehrere Fragen: Bleibt Rationalität selbst identisch, oder kann sie auch nicht-identisch sein und somit zu einer Vielfalt von Rationalitäten fuhren? Wenn ja, was macht die philosophischen Rationalitäten in dieser Pluralität rational und philosophisch? Mittelstraß versucht, diese Fragen mithilfe einer Konzeption der philosophischen Identität zu beantworten, die er in Auseinandersetzung mit den verschiedenen Identitätstheoretikern konkretisiert. Als ersten Theoretiker behandelt Mittelstraß Leibniz und sein Konzept eines vollständigen Begriffs. Vollständig sei ein Begriff, wenn er alle Bedingungen für die Individuierung eines bestimmten Einzelnen erfüllt und somit genau auf dieses Individuum verweist. Ein solcher Begriff wäre ein Subjektbegriff, da er anderen Entitäten nicht als Prädikat zukommen kann. Mit der Konzeption eines solchen vollständigen Begriffs gewinne Leibniz die Grundlage fur die Bestimmung individueller Substanzen, deren Unterscheidbarkeit durch vollständige Begriffe auch im sogenannten Leibniz'sehen Gesetz der UnUnterscheidbarkeit des Identischen Ausdruck finde. Dieses Kriterium für Identität ist, wie Mittelstraß bemerkt, noch nicht hinreichend, um alle Kriterien für die Bestimmung des Selbst zu artikulieren. Das illustriert der Autor in den letzten zwei Abschnitten seines Beitrags, in denen er die Auffassung vertritt, dass die verschiedenen Selbstkonzeptionen bei Kant, Fichte, Hegel und anderen zu unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der am Anfang des Beitrags herausgestellten Konzeption der philosophischen Identität und Rationalität führen. Josef Simon nähert sich in seinem Beitrag „Gegenstand und Selbstbezug" den Problemen der begrifflichen Bedingungen von Individualität und der Konzeption eines personalen Selbst durch die Auseinandersetzung mit Kants Erkenntnistheorie an. Simon bestimmt den Standort von Kants transzendentaler Kritik als einen solchen, der von dem Bereich aller Gegenstandserkenntnis strikt getrennt werden muss. Auf diese Weise nimmt er Kants Vernunftkritik in Schutz gegenüber jenen Kritikern, die sie für inkompatibel mit dem fortgeschrittenen Erkenntnisstand der empirischen Wissenschaften halten. Positiv gewinnt Simon als Gegenstand der transzendentalen Kritik eine vorbegriffliche Form der Erfahrung, die vor Kant (bei Descartes) immanent vorhanden sei, und welche nach ihm (bei Hegel) zum Hauptgegenstand einer spekulativen Arbeit am Erfahrungsbegriff werde. Die im Titel des Beitrags angekündigte individuelle Komponente der Erkenntnis erklärt der Autor im Anschluss an Kant mit der These, dass wir uns bereits auf vorsprachlicher Ebene durch das Wollen unseres Verstands auf mögliche Erfahrungsinhalte festlegten, die jeweils raumzeitlich bestimmt und daher auch individuell bedingt seien. Die durch die Sprache entstehende Übereinstimmung und Intersubjektivität sei keine definitive, sondern eine vom Bewusstsein des Einzelnen immer wieder zu erbringende Leistung, der das vorbegriffliche Verhältnis zwischen Gegenstand und Selbstbezug vorausgehe.

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In diesem Zusammenhang ist die Konzeption der Erfahrung, die sich aus Kants Erkenntniskritik ergibt und die bei Hegel fortentwickelt wird, von grundsätzlicher Bedeutung. Kant zufolge darf Erfahrung bekanntlich nicht als Aufnahme von etwas einfach Gegebenem gedacht werden; sie muss vielmehr als ein durch den individuellen Gegenstandsbezug Erzeugtes und somit aktiv Gestiftetes begriffen werden. Wie Simon in der zweiten Hälfte seines Beitrags argumentiert, hat dieser Erfahrungsbegriff wichtige Konsequenzen für ein Verständnis der Bedingungen der Mitteilbarkeit von Überzeugungen und Erkenntnissen. Hier hebt der Autor mit Verweis auf Kant und Nietzsche insbesondere die subjektiven Bedingungen der Mitteilung hervor und verweist als Beleg für ihre Bedeutung auf das individuelle und subjektbezogene Element in der Mitteilung unserer Urteile, die sie erst zu verständlichen Urteilen macht. Eine daraus abzuleitende Konsequenz für das als gut zu bezeichnende Denken sei, dass dieses nicht als ein Denken von etwas Realem oder gar Transzendentalem gelte, sondern im Anschluss an Kant als ein diszipliniertes „Selbstdenken". In seinem Beitrag über Nietzsches neue Psychologie als „Erste Philosophie" geht Robert Pippin dem Sinn von Nietzsches Anspruch, die Psychologie solle wieder zur Königin der Wissenschaften erhoben werden, mit Blick auf die Frage nach, was wir mit Nietzsche überhaupt unter Psychologie und psychologischer Erklärung verstehen sollen. In diesem Zusammenhang stellt sich eine doppelte Interpretationsaufgabe. Einerseits muss geklärt werden, warum psychologische Phänomene für die Erklärung bestimmter Tatsachen Vorrang vor außerpsychologischen Phänomenen haben sollten. Andererseits muss ein Problem der Selbsterkenntnis, das Nietzsche thematisiert, erläutert werden: Nietzsches These, dass wir unsere eigenen Handlungsmotive vor uns selbst verbergen würden. Da Pippin Nietzsches Äußerungen dahin gehend deutet, dass wir uns selbst täuschen und nicht etwa aufgrund von außerpsychologischen Faktoren zur Selbsttäuschung gezwungen werden - , ist die Auflösung beider Interpretationsaufgaben mit der Explikation der Nietzsche'sehen Theorie der Selbsttäuschung verbunden. Die Form von Selbsttäuschung, die Nietzsche vorrangig interessiere, könne deshalb nicht auf exogene oder außerpsychologische Faktoren zurückgeführt werden, weil sie Täuschung in Bezug auf das sei, was man bereits weiß. Somit sei Nietzsches Modell der Selbsttäuschung dem Freud'schen Begriff des Unbewussten insofern ähnlich, als es psychologisch motivierte Triebe postuliere, die vom Handelnden zwar intentional gelenkt, aber nicht in ihrer wahren Intention erkannt werden. Diese Interpretation zeitigt auch Konsequenzen für die Erlangung von Selbsterkenntnis und die Erklärung von Handlungen, die nach Nietzsche nun nicht durch die „Entdeckung" von „äußeren", kausal bestimmenden Faktoren, sondern mittels eines interpretierenden Umgangs mit den vielfachen möglichen Erklärungen, die für eine Handlung in Frage kommen, zustande kommen. Marcus Willaschek wendet sich in seinem Beitrag einer These zu, die im Denken Volker Gerhardts eine wichtige Rolle spielt: Als vernünftiges Wesen will jeder Mensch seinen eigenen Willen haben. Auf den ersten Blick scheint die Rede vom jeweils „eigenen Willen" tautologisch zu sein, da jeder Mensch immer nur seinen eigenen Willen und

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nicht den eines anderen haben kann. Willaschek will hingegen nachweisen, dass die Unterscheidung zwischen dem eigenen Willen und dem, was man nicht wirklich will, nicht nur berechtigt ist, sondern dass wir sie darüber hinaus benötigen, um menschliche Freiheit angemessen beschreiben und von paternalistischer Manipulation, wie sie in B. F. Skinners Utopie Waiden Two dargestellt wird, unterscheiden zu können. Dabei stützt er sich auf Überlegungen von Immanuel Kant und Harry Frankfurt sowie auf Georg Simmeis Lehre vom individuellen Gesetz, auf die auch Volker Gerhardt häufig zurückgreift. Willaschek vertritt die These, dass die Freiheit von Zwang durch andere Menschen keine hinreichende Bedingung dafür ist, dass man seinen eigenen Willen hat. Vielmehr muss die Person sich auch mit den Motiven und Grundsätzen, die ihr Handeln leiten, identifizieren können. Diese Identifikation oder Aneignung dürfe allerdings nicht - wie bei Frankfurt - nur im Sinne der Herstellung von volitionaler Konsistenz verstanden werden. Vielmehr dürfe ein Wille nur dann als der eigene bezeichnet werden, wenn er dem normativen Selbstverständnis des Handelnden entspreche. Dieses Selbstverständnis entstehe durch einen prinzipiell unabschließbaren Prozess der „Selbstrevision" oder, wie Gerhardt es ausdrückt, der „Selbstverwirklichung". Zum eigenen Willen gehörten daher nur die Motive und Handlungsmaßstäbe, die einer Überprüfung anhand des jeweils eigenen normativen Selbstverständnisses standhielten. Hubert Markl diskutiert die Frage, wie menschliche Willensfreiheit unter der Bedingung der Naturgesetzlichkeit möglich ist. Ausgehend von der Einsicht, dass der Begriff „Freiheit" kein physischer, sondern ein philosophischer Begriff ist, argumentiert er dafür, dass zwar Materie und Empirie kausal bestimmt sein könnten, daraus aber keineswegs die Unmöglichkeit menschlicher Willensfreiheit folge. Markls Ansatz betont die Möglichkeit einer evolutionären Entwicklung spezifischer Fähigkeiten, die ihrerseits zwar von physikalischen Zuständen und Prozessen ermöglicht werden, allerdings nicht mit ihnen identisch sind. Das menschliche Bewusstsein, das menschliche Vermögen, aus Gründen zu handeln, und auch die menschliche Freiheit sind daher als das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung zu begreifen. Die Komplexität des menschlichen Gehirns, das als ganzheitliche Systemstruktur in einen Organismus eingebunden ist, der seinerseits in vielfältigen Interaktionszusammenhängen und Wechselwirkungsverhältnissen mit seiner Umwelt steht, ermöglicht schließlich das Hervorbringen von Gedanken, „die frei sind von dem Zwang physischer Ursachen, die zwischen Neuronen wirken". Mit diesem Ansatz steht Hubert Markl Volker Gerhardts Position in den Debatten zur Willensfreiheit nahe. Beide betrachten das Phänomen der Willensfreiheit aus einem evolutionären Blickwinkel und damit gerade unter der Bedingung der Naturgesetzlichkeit und nicht als einen möglichen Gegensatz zu dieser. Daher ist es Markl wie auch Gerhardt ein Anliegen, die individuelle Freiheit als ein zentrales Konzept der menschlichen Interaktion zu deuten, das nicht allein naturwissenschaftlich zu erklären ist, sondern das auf der wechselseitigen Anerkennung von freien und verantwortlichen Individuen in einem sozialen Zusammenhang basiert.

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Moral und Politik In Richard Schröders Beitrag werden Aristoteles' Äußerungen über den Krieg zum Gegenstand einer „erinnernden Interpretation", die während der Entstehung dieses Beitrags zur Zeit der DDR gleichzeitig der Auseinandersetzung mit marxistisch-leninistischem Ideologiegut diente. Der Autor setzt seine Untersuchung bei Aristoteles' Doppelperspektive von oikos und polis, Haushalt und Stadt, an. Durch den beständigen Wechsel zwischen diesen beiden Perspektiven wird zugleich die weitreichende systematische Frage nach dem Verhältnis zwischen „Menschsein und Bürgersein" verfolgt. In Bezug auf den Haushalts sei der Mensch ein Bedürfniswesen, der „bloße Mensch"; diese Perspektive belegt der Autor, bewusst nichtaristotelisch, mit dem Prinzip der Aneignung. In Bezug auf die Stadt ist der Mensch Bürger und Subjekt der Freiheit, eine Perspektive, die ebenfalls nichtaristotelisch mit dem Prinzip der Anerkennung verbunden wird. Die Belegung der genannten aristotelischen Perspektiven mit nichtaristotelischen Prinzipien bereitet Schröders eigentliche These vor, dass die Perspektive, die den Menschen nur im Lichte seiner Bedürfnisse betrachtet, nicht für ein Verständnis des Menschen (und schon gar nicht des Menschen qua Bürger) adäquat sein kann. Dass Schröder gerade diejenigen Passagen der aristotelischen Politik zur Untermauerung seiner These heranzieht, in denen der Krieg im Dienste der Sklavenjagd erläutert wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Dieses Vorgehen hat aber auch eine klare Pointe fur Schröders These, da das Thema der Sklavenjagd zu einer ausfuhrlichen Erörterung der aristotelischen Analyse der Lebensweisen (bioi) als Modi der Bedürfnisbefriedigung fuhrt - jenem locus also, in dem die sogenannten gesellschaftlichen Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. In Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ausführungen in der Politik über den Erwerb von Lebensmitteln und Eigentum sei es auch vor dem Horizont der aristotelischen politischen Philosophie klar, dass die Analyse der Bedingungen solchen Erwerbs nicht zur Klärung von Fragen nach gerechter Herrschaft dienen könne. - Durch die Erschließung der Frage nach gerechter Herrschaft und insbesondere nach dem gerechten Sklavenerwerb aus der politischen Perspektive wird unter anderem deutlich, dass die Engführung des Politischen auf das Ökonomische zu durchaus problematischen Ergebnissen fuhren kann. Ulrich Steinvorth weist in seinem Beitrag auf Schwierigkeiten hin, die er in Spannungen zwischen unterschiedlichen Konzeptionen von Vernunft und Wille in Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) angelegt sieht: Während Kant in der Idee eine Ordnung in der menschlichen Geschichte selbst annimmt und diese auf eine „Naturabsicht" und sogar die „Anordnung eines weisen Schöpfers" zurückfuhrt, gehe er in der Grundlegung davon aus, dass erst die Vernunft die Ordnung im natürlichen und auch geschichtlichen Geschehen stiftet. Hier liege ein Konflikt in der kantischen Konzeption der Vernunft und der Funktionsweise ihrer Erkenntnisleistung vor. Andererseits gebe es auch einen Konflikt zwischen einer anarchistischen Auffassung der Vernunft und des Willens in der Idee und der Auffassung der Vernunft als eines durch Gesetzte begrenz-

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ten Vermögens für notwendige Urteile in der Grundlegung, welche Kants Vernunftkonzeption in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) antizipiere. Die Relevanz dieser Konflikte zwischen vorkritischen und kritischen Vernunftkonzeptionen für seine Auffassung des Willens wird in drei exegetischen Schritten aufgezeigt. Zunächst wird argumentiert, dass Kants Konzeption technologischer Vernunft in der Idee einen Begriff des freien Willens voraussetzt, nach welchem wir dann einen freien Willen haben, wenn wir Handlungen ausführen. Dieser Begriff des freien Willens wird dann in einem zweiten exegetischen Schritt auf Descartes zurückgeführt, der das Fällen von Urteilen als Willensakt deutet. In diesem Zusammenhang argumentiert Steinvorth, dass Kant von einer solchen Konzeption des Verhältnisses zwischen Vernunft und Willen beeinflusst wird, sie aber zugunsten seiner Konzeption der Vernunft als eines Vermögens für notwendige Urteile schließlich aufgeben muss. Für diese Interpretationsthese argumentiert Steinvorth in einem dritten Schritt, in dem die theoretische Stellung des kategorischen Imperativs in der Grundlegung mit der in der Kritik der praktischen Vernunft verglichen wird. Hier zeige sich, dass die Überbleibsel der cartesianischen Auffassung der Willensfreiheit Spannungen innerhalb der Grundlegung erzeugen, während alle Reste einer solchen Auffassung in der Kritik der praktischen Vernunft bereits getilgt worden seien. Damit habe Kant, so der Autor, einen Begriff des freien Willens preisgegeben, den er für die Erklärung der Geschichte besser beibehalten und mit der neuen, kritischen Konzeption der Vernunft hätte vereinbaren sollen. Repräsentation und Partizipation gehören Volker Gerhardt zufolge zu den konstitutiven Elementen der Politik. Hasso Hofmann geht in seinem Beitrag dem Verhältnis dieser beiden Prinzipien im Werk des bedeutenden Rechtstheoretikers Otto von Gierke (18411921) nach. Gierke, der in Berlin studiert und später als Privatdozent gelehrt hatte, kehrte 1871 kurzzeitig als Außerordentlicher Professor an die Berliner Universität zurück, an der er dann von 1887 bis zu seiner Emeritierung Ordentlicher Professor war. Hofmann ruft die zentralen Begriffe und Gedanken des gierkeschen Genossenschaftsrechts in Erinnerung. Gierke lehnte die zu seiner Zeit u. a. von Laband vertretene Auffassung, dass es sich beim Staat nur um eine fingierte juristische Person handle, scharf ab. Der Staat sei als „sozialer Organismus" zu begreifen, der seinen Platz in einem Stufenbau natürlich gewachsener und institutionell gebildeter Genossenschaften habe. Zwar weise er im Unterschied zu den anderen sozialen Verbänden das nur ihm eigene Merkmal der Souveränität auf; dies unterscheide ihn aber nicht wesensmäßig von anderen Formen der Vergemeinschaftung. Darüber hinaus hingen nach Gierke die Durchsetzungskraft und die Beständigkeit des gesatzten Rechts davon ab, dass das geltende Recht von den Bürgern als Ausdruck einer Rechtsidee begriffen und bejaht werden könne. Deshalb fungiere der Staat nicht nur als „Willensorgan", sondern auch als „Bewusstseinsorgan der Allgemeinheit". Folglich repräsentiere der Staat die Gemeinschaft der Bürger, die seine Glieder bildeten. Auf diese Weise würden in der Rechtstheorie Gierkes die Gedanken der Repräsentation und der Partizipation miteinander verbunden.

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Christian Möckel untersucht in seinem Beitrag die Rolle des Gemeinschaftsgefühls in der politischen Philosophie Ernst Cassirers. Dabei knüpft er an einen 1988 erschienenen Aufsatz von Volker Gerhardt an, in dem dieser - entgegen der damals herrschenden Meinung in der Forschung - nachzuweisen versucht hatte, dass sich bei Cassirer Elemente einer systematischen Philosophie der Politik finden (Gerhardt 1988). Möckel geht von der Feststellung aus, dass nach Cassirer, der auch von der Lebensphilosophie beeinflusst war, das individuelle und kollektive „Lebensgefühl" kennzeichnend für das Eigentümliche einer bestimmten Kultur ist. Allerdings stelle Cassirer im Unterschied zu den Lebensphilosophen das Gefühl nicht dem Verstand als etwas ihm wesentlich Fremdes gegenüber. Vielmehr handle es sich bei dem Lebensgefühl einerseits und der verständigen oder vernünftigen Deutung der Welt andererseits um komplementäre Zugänge zur Welt und zur geteilten Kultur. Wie der Autor zeigt, hat Cassirer diese allgemeine Überlegung auch auf die Politik bezogen. In der Sphäre der Politik komme dem „Gemeinschaftsgefühl" eine einheitstiftende Funktion von existentieller Bedeutung zu. Dies zeigt sich beispielsweise an Cassirers Beurteilung der Weimarer Republik. Für die Erhaltung dieses neuen demokratischen Gemeinwesens genüge die loyale Staatsgesinnung als eine rein theoretische Haltung nicht. Stattdessen müsse das politische Gemeinwesen auch von einem Lebens- und Gemeinschaftsgefühl des Volkes getragen werden, weil nur dieses gewährleisten könne, dass die Bürger sich über alle politischen Meinungsverschiedenheiten hinweg als Teile einer Einheit begriffen. Allerdings gelte das Cassirer zufolge nur für das „echte" Gemeinschaftsgefühl, das er von einem illusionären oder irrationalen Gemeinschaftsgefühl abgrenze. Otfried Höffe kritisiert unter dem programmatischen Titel „Dialog wagen" die These, dass ein idealer Diskurs einen adäquaten Weg zur tatsächlichen Herstellung von Konsens beschreiben könne. Die Idealität dieses Vorgangs lässt sich nämlich nur um den Preis aufrecht erhalten, dass „abstrakte Kommunikatoren" statt wirklicher Individuen in den Dialog eintreten und zu einem Konsens gelangen. In Abgrenzung von den diskursethischen Idealmodellen unterscheidet Höffe vier Grundformen tatsächlicher Dialoge. Anschließend entwickelt er acht Bedingungen und Elemente eines realitätsgerechteren Modells, das auch in den „Niederungen der realen Welt" praktikabel sei. Zu diesen Bedingungen gehörten etwa auf Seiten der Diskussionspartner das Verstehen-Wollen der anderen, Aufrichtigkeit und ein grundlegendes Vertrauen dem anderen gegenüber. Damit knüpft Höffe an die reiche antike Tradition der platonischen Dialoge an, die auch in den Arbeiten von Volker Gerhardt immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Ein realer Diskurs kann allerdings keine ewigen Wahrheiten oder Normen generieren und muss sich daher mit zeitlich und lokal begrenzt gültigen Ergebnissen begnügen. Darüber hinaus betont Höffe, dass reale Verständigung immer auch scheitern kann und den Charakter eines Wagnisses hat. Sobald nämlich eine Seite „strategisch" argumentiert, anstatt sich auf das Wagnis einzulassen, ist die Möglichkeit, Konsens zu erreichen, verstellt. In diesen Fällen bleibt als Mittel zur Vermeidung von Gewalt (als dem Gegenpol eines dialogisch zu gewinnenden Konsenses) statt eines Dialogs lediglich die Verhandlung.

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Volker Gerhardts systematisches Primat der individuellen Selbstbestimmung und der Partizipation von Individuen in Ethik und Politik ergänzt Julian Nida-Rümelin in seinem Beitrag um die Dimension der kollektiven Selbstbestimmung. Er diskutiert dabei kritisch die Reichweite des Rational-choice-Paradigmas. Nida-Rümelin lehnt dieses Paradigma ab, weil kollektive Selbstbestimmung nur in Analogie zur individuellen Selbstbestimmung durch Gründe, die durch rational choice nicht hinreichend bestimmt sind, erfasst werden könne. Im ersten Abschnitt weist Nida-Rümelin nach, dass der homo oeconomicus grundsätzlich nicht demokratiefähig ist. Das punktuelle Optimieren im eigenen Interesse macht kollektive Entscheidungsprozesse strategieanfällig (Individuen geben beliebige Gründe an, um strategisch ihr Ziel zu verwirklichen) und damit instabil. Nida-Rümelin vertritt dagegen die These, dass Individuen sich de facto bei kollektiven Entscheidungen nicht als „optimierende Monaden" verhalten, sondern einen Austausch von tatsächlichen Gründen beginnen, der auf der Grundlage ihrer Zugehörigkeit zu einer normativ verfassten Sprachgemeinschaft basiert. Mit der Kommunikation innerhalb dieser Sprachgemeinschaft besteht bereits eine basale Verpflichtung auf sprachliche Regeln und Normativität, die die individuelle und punktuelle Optimierung restringiert. Im zweiten Teil des Beitrags wird komplementär zum ersten Abschnitt gezeigt, dass deontologische Komponenten in einem liberalen, demokratischen Kontext unverzichtbar sind, um den Konflikt zwischen individueller Freiheit auf der einen und kollektiver Rationalität (kollektiven Präferenzen) auf der anderen Seite zu lösen. Kollektive Selbstbestimmung, die allein auf die Optimierung ökonomischer Vorteile zielt, läuft Gefahr, die individuelle Autonomie unterzuordnen. Daher ist ein vorausgehender deontologischer Konsens unverzichtbar, um zu vermeiden, dass die Akteure „im Wahlakt zur optimierenden Monade der marktradikalen Utopie" werden. Wolfgang Kersting befasst sich in seinem Beitrag „Semantischer Retributivismus" mit der Frage, wie sich im liberalen Rechtsstaat staatliche Strafen rechtfertigen lassen. Kersting zufolge werden weder die negative noch die positive Variante der präventionistischen Straftheorie dem geläufigen moralischen Verständnis des Strafens gerecht. Da beide auf einem inadäquaten, rein instrumentalistischen Rationalitätsbegriff beruhten, könnten sie auch staatliche Strafe nur als ein - je nach Situation mehr oder weniger geeignetes - Mittel zur Erreichung strafexterner Zwecke begreifen. Darüber hinaus scheiterten sie an dem Problem, dass sie zwar die Geltung der Rechtsnormen ex ante rechtfertigen können, dass aber nach dem Verbrechen die Strafe für den Täter nicht mehr rational zustimmungswürdig ist. Der moralischen Auffassung der Strafe werde der Präventionismus nicht gerecht, weil sein Begriff der Strafe nicht moralkompatibel sei, sondern das Strafen nur unter dem ökonomischen Gesichtspunkt des Nutzens erfasse. Als überzeugendere Alternative schlägt Kersting im Anschluss an Kant und Hegel eine retributivistische Straftheorie vor. Die Vergeltungstheorie der Strafe nehme den straffällig gewordenen Bürger als moralisch verantwortliche Person und Rechtspersönlichkeit ernst. Sie betrachte ihn nicht nur, wie es Kersting zufolge der Präventionismus tut, auf paternalistische oder sozialtechnologische Weise als einen zu berücksichtigenden Faktor im Rahmen der gesellschaftlichen Nutzenmaximierung. Indem sie dafür plädiert,

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die Täter für ihre Straftaten zur Verantwortung zu ziehen, betrachte sie diese als zurechnungsfähige moralische Subjekte. Kerstings Retributivismus zufolge dient die Strafe nicht der Wiederherstellung der verletzten Rechtsordnung; vielmehr ist sie selbst diese Wiederherstellung. Die Strafe wird nicht verhängt, damit künftig keine oder weniger Straftaten begangen werden (ne peccetur), sondern weil eine Straftat begangen wurde (quia peccatur). Volker Gerhardt war Mitglied des Nationalen Ethikrats, und er gehört auch dessen Nachfolger, dem Deutschen Ethikrat, an. In dem Beitrag von Carl-Friedrich Gethmann geht es um die Frage, welche politische Aufgabe Ethikräte haben sollten und auf welche Weise sie diese Aufgabe erfüllen können. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Annahme, dass es ethische Fachkompetenz - „Expertise" - gibt. Dafür spreche folgender Gedankengang: Ungeachtet der unleugbaren Pluralität der Moralen sind moralische Urteile mit dem Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit verbunden. Diesem Anspruch werden sie aber häufig nicht gerecht. Die wichtigste Aufgabe der normativen Ethik bestehe darin, moralische Normen darauf hin zu prüfen, ob sie tatsächlich widerspruchsfrei universalisierbar sind. Da verallgemeinerbare Normen die gewaltfreie Lösung normativer Konflikte erlaubten, sei die Ethik die Disziplin, die darauf spezialisiert sei, Möglichkeiten der diskursiven Bewältigung moralischer Konflikte zu rekonstruieren. Wenn man diesen Begriff der Ethik zugrunde legt, dann ist zu erwarten, dass in Ethikräten diejenigen Spezialisten versammelt werden, die aufgrund ihrer professionellen Schulung und Erfahrung imstande sind, widerspruchsfrei verallgemeinerbare Normen für die Regelung gesellschaftlich bedeutsamer Angelegenheiten auszuarbeiten. Tatsächlich sind Ethikräte jedoch häufig keine Sachverständigenräte, sondern Gremien, in denen verschiedene moralische und politische Meinungen so repräsentiert werden, dass die moralischen Kräfteverhältnisse festgestellt werden können, also Stellvertreterräte. Daneben finden sich Mischformen, die sowohl Merkmale eines Sachverständigenrats als auch eines Stellvertreterrats aufweisen. Gethmann argumentiert für die Auffassung, dass Ethikräte, wenn sie ihrem Namen und ihrer Aufgabe gerecht werden sollen, aus Spezialisten bestehende Gremien sein müssen, die auf professionelle Weise ethische Empfehlungen für die gewaltfreie Lösung gesellschaftlicher Konflikte geben. Die Bürgermoral allein qualifiziere nicht für die Mitgliedschaft in einem Ethikrat. Partizipation und Repräsentation seien zwar grundlegende politische Prinzipien der Demokratie, in einem Ethikrat seien sie jedoch fehl am Platz. In den vergangen Jahren hat Volker Gerhardt in mehreren Publikationen eine individualistische Ethik vorgelegt. Darauf Bezug nehmend, skizziert Dieter Sturma unter dem Titel „Individualität und Menschenrechte" eine egalitaristische Ethik der Individualität, in deren Zentrum der Begriff der Menschenrechte steht. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die Debatte, die von Liberalisten und Kommunitaristen geführt wurde. Uneinigkeit bestand zwischen den beiden Lagern u. a. darüber, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft sowohl explikativ als auch normativ zu bestimmen sei. Im Anschluss an Charles Taylor plädiert Sturma dafür, den Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung nicht mit dem modernen Individualismus im pejo-

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rativen Sinne zu verwechseln. Der Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung gehöre zur Ontologie vernünftiger Individuen; daher seien die kulturrelativistischen Versuche, einen grundsätzlichen normativen Vorrang der Gemeinschaft vor den Individuen zu begründen, zum Scheitern verurteilt. Allerdings präjudiziere die These der „ontologischen Vereinzelung" von Personen nicht, wie menschliche Gemeinschaften im Einzelnen beschaffen sein sollten. Verschiedene politische Gemeinschaften könnten die einzelnen individuellen Menschenrechte unterschiedlich gewichten. Daraus folge aber nicht, dass es keine universalistische Grundlage der Menschenrechte gibt. Sturma argumentiert hier anthropologisch: Der Rekurs auf universelle menschliche Grundbedürfnisse sei geeignet, ungeachtet der unleugbaren kulturellen Unterschiede zwischen den Völkern und Staaten zu einem Konsens über unbestreitbare Menschenrechte zu gelangen, die u. a. den Anspruch auf die Herausbildung einer personalen Identität und Bildung einschlössen. Die von Sturma entworfene Ethik der Individualität ist strikt egalitaristisch. Sie zielt auf die bedingungslose ethische und rechtliche Gleichstellung aller Personen ab. Was bedeuten „Liberalität" und „Demokratie" in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft? Dieser Frage wendet sich Thomas Meyer zu und diagnostiziert in der gegenwärtigen Gesellschaft eine „Kulturkampfmentalität", die Frontstellungen und Gegensätze zwischen kulturellen Gruppierungen betont - besonders mit Blick auf den Islam - und damit Spannungen verschärft. Meyer stellt eine Typologie der Akteure der aktuellen „Kultur-Kampf-Industrie" vor und empfiehlt liberale demokratische Normen der politischen Kultur als Gegenmittel. Ein solider minimaler Konsens auf der Ebene der politischen Grundwerte erlaubt den Individuen hinsichtlich kultureller und religiöser Präferenzen maximale Freiheit. Zur Überwindung der Kulturkampfmentalität plädiert Meyer somit für eine Politik der Anerkennung, die auf der Akzeptanz der Andersartigkeit der Anderen beruht, solange eine gemeinsame Verständigung auf die politische Kultur besteht. Dafür ist eine Differenzierung zwischen Religionen und Kulturen auf der einen Seite und ihrer problematischen Instrumentalisierung für den Kulturkampf andererseits nötig. Überzeugend und glaubwürdig kann jedoch nach Meyer für eine gemeinsame politische Kultur nur dann plädiert werden, wenn daraus Maßnahmen folgen, die allen Gruppierungen eine faire Chance auf Teilhabe an materialen und sozialen Ressourcen der kulturell pluralistischen Welt ermöglichen. Henning Ottmann widmet sich in seinem Beitrag dem Begriff der politischen Erfahrung, der im politischen Denken zu Unrecht vernachlässigt werde. Politische Erfahrung könne einerseits alltäglich und lebensweltlich gemacht werden, andererseits auf reflektierter wissenschaftlicher Auseinandersetzung beruhen. Wie aber kann ihr im politischen Denken ein angemessener Platz eingeräumt werden? Ottmann schlägt zwei Wege vor: Zunächst eine substantielle Kritik an politischen Theorien, in denen die Erfahrung keine Rolle spielt. Theoriedominierte, geradezu naturwissenschaftlich verfahrende, subjektvergessene, expertokratische und ideologische Modelle schalten die lebensweltliche politische Erfahrung von Individuen aus. Dem stellt Ottmann den Hinweis auf die Tatsache gegenüber, dass jedes Individuum politische Erfahrung macht. Daher kann

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prinzipiell jeder Bürger und jede wissenschaftliche Disziplin, die sich mit dem gemeinschaftlichen Leben auseinandersetzt, zu einer Deutung politischer Erfahrung beitragen, die ihrerseits eng mit der politischen Praxis verbunden ist und nicht als eine bloß theoretische gewonnen werden kann. Anschaulich skizziert Ottmann Grundzüge einer „Phänomenologie leiblicher Politikerfahrung", die untersucht, wie Individuen in jeder Generation selbst und wieder neu Politik „am eigenen Leibe" erfahren. Damit betont er, wie Volker Gerhardt auch, das Primat der Individualität.

Mensch - Kultur - Welt Mit dem komplexen und zuweilen undurchdringlichen Beziehungsgeflecht zwischen Moderne und Antike hat sich Volker Gerhardt immer wieder beschäftigt, zum Beispiel in seinen Forschungen zu Friedrich Nietzsche und dessen Antike-Rezeption (vgl. Gerhardt 2001b). In ihrem Beitrag über den „Bürger Apollon" geht Renate Reschke einem besonderen Phänomen in der modernen politischen und geistesgeschichtlichen Rezeption der Antike nach: der „Einbürgerung" Apollons als Referenzfigur in Hegels geistesgeschichtlicher Verortung des modernen Bürgers und Subjekts. Reschke vertritt die Auffassung, dass Hegel - trotz seiner teleologisch angelegten Historiographie - gerade die Antike und insbesondere die griechischen Götter als Vorbild fur die bürgerliche Subjektwerdung in Anspruch nehmen konnte. Als ästhetische Vorbereitung dieser politischen Bezugnahme analysiert Reschke die Deutung antiker Apollondarstellungen bei Winckelmann und insbesondere deren normative Vorannahmen. Was Winckelmanns ästhetische Beurteilung Apollons als einer antifeudalen und antibarocken Instanz mit Hegels theoretischer Verfrachtung der antiken Polis gemein habe, seien u. a. die spezifischen politischen und kulturellen Bedürfnisse ihrer Zeit, die die Antike als geeignete Projektionsfläche zur Verständigung über die eigenen Werte habe nutzen können. Nach den Enttäuschungen bürgerlicher Bestrebungen, die historisch etwa zeitgleich mit dem Untergang hegelscher Philosopheme einherging, sei zumindest diese Funktion für die Antikerezeption entfallen. Der politische Bezug der europäischen Moderne zur Antike erfolgt nicht zuletzt auch über die Vermittlung der Religionen und insbesondere der Theologie der jüdisch-christlichen Tradition. In diesem Zusammenhang geht Christof Gestrick auf biblische und antike Quellen zurück und untersucht die dort vorliegenden Freiheitskonzeptionen, um sie mit Argumenten und Theorieentwürfen moderner Freiheitstheoretiker in Berührung zu bringen. Dieser begriffs- und theoriegeschichtliche Ansatz wird durch eine spezifisch moderne Problematik motiviert: In welchem Verhältnis stehen Kirche und Staat in einer modernen liberalen Demokratie, und was können sie dazu beitragen, insbesondere die Freiheit liberaler politischer Ordnungen zu gewährleisten? In seiner Antwort auf diese Frage geht Gestrich davon aus, dass die christliche Kirche eine aktive Rolle in der Bewahrung politischer Freiheit zu spielen hat. Und in seinen systematisch-theologischen Ausführungen geht es darum zu zeigen, dass die Kirche auf ein reifes Freiheitsverständnis schon auf der Grundlage der Evangelien zurückgreifen kann. Ein Problem

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für die Entfaltung eines theologisch fundierten Freiheitsbegriffs sei allerdings, dass dieser im Kontext einer säkularisierten Verständigung über den Wert der Freiheit in der Philosophie nicht ohne Weiteres Anerkennung finde. Nachdem Gestrich diese besondere Herausforderung eines theologischen Zugangs zu seinem Thema benannt hat, nimmt er diese Herausforderung im zweiten Teil seines Beitrags auch an. Hier entwickelt er in Auseinandersetzung mit verschiedensten philosophischen Freiheitsauffassungen die Skizze einer zeitgemäßen theologischen Position, aus der heraus das moralische Konzept einer Verantwortung für die Freiheit gewonnen werden kann, das den Anforderungen moderner demokratischer Ordnungen entspricht. Volker Gerhardt hat den Begriff der individuellen Selbstbestimmung zu einem Zentralbegriff seiner Philosophie gemacht. Beatrix Himmelmann geht in ihrem Beitrag den möglichen Grenzen der Selbstbestimmung nach. Dabei diskutiert sie insbesondere die Frage, wie weit die kontingenten Folgen unserer selbstbestimmten Handlungen in unserer Verantwortung liegen und nachträglich für die positive oder negative Bewertung einer Handlung ausschlaggebend sind. Damit greift sie die Debatte über „moral luck" auf, die von Bernard Williams angestoßen wurde. Dieser hatte argumentiert, dass letztlich erst der Ausgang einer Handlung über deren moralische Rechtfertigung entscheide. Himmelmanns Entgegnung auf diese Herausforderung basiert auf einem kantischen Autonomie-Verständnis. Da wir nicht sämtliche Folgen unserer Handlungen vorhersagen und abwägen könnten, könne in ihnen gar nicht der adäquate moralische Bewertungsmaßstab liegen. Es wird zugestanden, dass „Praxis jederzeit ein Wagnis" darstellt, doch haben wir zumindest Zugriff und Einfluss auf unser eigenes Wollen. Auch wenn die Folgen selbstbestimmten Wollens nicht vollständig in unserer Verantwortung liegen können, ist die Selbstbestimmung der Grund für menschliche Handlungsurheberschaft und Verantwortung und damit - trotz ihrer Grenzen - Gegenstand der moralischen Beurteilung. Im Mittelpunkt des Aufsatzes von Annemarie Gethmann-Siefert steht die Frage nach der Möglichkeit und der Beschaffenheit einer „existenzialen Anthropologie". Dieser Begriff bezeichnet diejenige Richtung innerhalb der Philosophischen Anthropologie, die von Heideggers These ausgeht, dass das Wesen des Menschen in seiner Existenz besteht. Die Autorin untersucht zunächst das Verhältnis der heideggerschen Daseinsanalytik zur Philosophischen Anthropologie. Dabei gelangt sie zu zwei wichtigen Ergebnissen: Erstens habe sich Heidegger von der „traditionellen Anthropologie" abgegrenzt, welche den Fehler begangen habe, den Menschen nur in seiner Vorhandenheit erfassen zu wollen. Zweitens habe Heidegger seine Daseinsanalytik weder als Ersatz für die Philosophische Anthropologie noch als deren Konkurrentin verstanden. Zwar zielten Heideggers Analysen des menschlichen Daseins in Sein und Zeit nicht auf eine Philosophische Anthropologie ab; sie könnten aber als Grundlage einer existenzialen Anthropologie dienen. Wie eine solche existenziale Anthropologie beschaffen sein könnte, wird von Gethmann-Siefert exemplarisch anhand des Werkes von Oskar Becker (1889-1964) und mit

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Bezug auf Wilhelm Kamlahs (1905-1976) erstmals 1972 erschienene Philosophische Anthropologie dargelegt. Gemeinsam sei beiden Autoren, dass sie sich im Anschluss an Heidegger von der bewusstseinsphilosophischen Herangehensweise distanzierten, um stattdessen den Menschen aus dem Vollzug seiner geschichtlichen Existenz heraus zu begreifen. Die Autorin stellt beide Entwürfe mit erkennbarer Sympathie dar und weist gleichzeitig auf Probleme und Desiderate in diesen beiden Varianten der existenzialen Anthropologie hin. In seinem Beitrag über die Ursprünge des Phänomens der Abbildung untersucht John Michael Krois insbesondere die leiblichen Bedingungen der Wahrnehmung. Dabei vertritt er die These, dass die verkörperten, raum-zeitlich bedingten Wahrnehmungsvermögen eine notwendige Bedingung auch für das Erkennen von Abbildungen seien. Krois geht davon aus, dass ikonische Formen die (bewusst oder unbewusst) gewonnenen Erträge unserer Sinneswahrnehmungen sind, die das Erkennen des Abgebildeten ermöglichen. Als Indiz für die notwendige Verkörperung und das „enactment" unserer Wahrnehmung fuhrt Krois einerseits die Schwierigkeiten bei der Entwicklungen von Software-Programmen für Bilderkennung an, andererseits weist er auf den Umstand hin, dass auch von Geburt an blinde Menschen in der Lage sind, taktil lesbare Zeichnungen zu verstehen. Der theoretische Ertrag, den Krois diesen Sachverhalten abgewinnt, besteht vor allem in der Bildung des Begriffs eines propriozeptiven Selbst. Das propriozeptive Selbst sei - im Gegensatz zum rein kognitiv bestimmten Subjekt der Apperzeption - durch den „peripersonalen" Raum bestimmt, den der Körper und dessen motorische Empfindungsfähigkeit ausfüllten. Die Fähigkeit des propriozeptiven Selbst, mittels dieser spezifischen Raumempfindung den Gebrauch symbolischer Formen zu verstehen, fasst der Autor mit dem Begriff eines Körper-Schemas, das eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung auch dafür sei, symbolische Formen zu erzeugen. Reinhard Mehring ruft schließlich in seinem Aufsatz einen heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Denker in Erinnerung, der vor allem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein repräsentativer Vertreter der Berliner Philosophie war: Eduard Spranger (1882-1963). Spranger war zu seinen Lebzeiten einer der einflussreichsten und bekanntesten Berliner Philosophieprofessoren. Er verkörperte in typischer Weise den Berliner Ordinarius, der seine Aufgabe nicht nur darin sah, zu forschen und zu lehren, sondern darüber hinaus öffentlich und politisch wirksam sein wollte. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass er die Pädagogik, zu der er stark rezipierte Beiträge lieferte, nicht nur als theoretische Disziplin betrieb. Vielmehr setzte er sich auch für die Umsetzung seiner pädagogischen Auffassungen im Rahmen einer Reform des preußischen Schulwesens ein. Mehring skizziert den Lebensweg Sprangers, der stark durch die politischen Ereignisse geprägt wurde, und er fasst wesentliche Gedanken aus den Werken Sprangers zusammen. Dabei geht er insbesondere auf Sprangers „Ethik der Persönlichkeit" ein, die in ihrer individualistischen Ausrichtung eine gewisse Ähnlichkeit mit der von Volker Gerhardt vertretenen exemplarischen Ethik aufweist. Am Ende seines Beitrags stellt

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der Autor die Aktualität Sprangers heraus, den er als Erben und - im positiven Sinne als Epigonen in die bedeutende Tradition der Berliner Philosophie einordnet. Dies zeige sich u. a. in Sprangers Aufnahme des humboldtschen Bildungsbegriffs. Sprangers Idee der Persönlichkeitsbildung hat Mehring zufolge mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihr vonseiten der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft entgegengebracht wird.

Bibliographie Borsche, Tilman (1976): Individuum, Individualität. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4. Basel: Schwabe, 310-323. Gerhardt, Volker (1974): Vernunft und Interesse. Vorbereitung auf eine Inteipretation Kants. InauguralDissertation an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster. Gerhardt, Volker (1988): Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik. In: Hans-Jürg Braun/Helmut Holzhey/Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 220-246. Gerhardt, Volker (1995): Selbstbestimmung. In: Joachim Ritter/Karlfned Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 9. Basel: Schwabe, 335-346. Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam. Gerhardt, Volker (2000): Individualität. Das Element der Welt. München: C.H. Beck. Gerhardt, Volker (2001a): Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität. München: C.H. Beck. Gerhardt, Volker (2001b): Nietzsches Alter-Ego. Über die Wiederkehr des Sokrates. In: Renate Reschke/ Volker Gerhardt (Hg.), Jahrbuch der Nietzscheforschung. Band 8. Berlin: Akademie-Verlag, 315-332. Gerhardt, Volker (2002): Immanuel Kant. Vernunft und Leben. Stuttgart: Reclam. Gerhardt, Volker (2007a): Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: C.H. Beck. Gerhardt, Volker (2007b): Leben ist das größere Problem. In: Jan-Christoph Heilinger (Hg.): Naturgeschichte der Freiheit. Berlin/New York: de Gruyter 2007, 457-479. Gerhardt, Volker (2008): Homo publicus. In: Detlev Ganten et al. (Hg.): Was ist der Mensch? Berlin/ New York: de Gruyter, 97-102.

Leben und Vernunft

DOROTHEA FREDE

Der Mangel als principium individuationis bei Piaton

Vorwort: Universales und Einzelnes Die Frage nach der Auszeichnung des Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen bei Piaton stellt auch Experten vor eine erhebliche Verlegenheit. Denn die in Einführungswerken gern angeführte Erklärung, es handle sich um mehr oder weniger gelungene Abbilder von Ideen, ist bei Licht besehen wenig informativ. Zum einen wäre zu klären, wie die diesseitigen Teilhaber überhaupt in ein Verhältnis zu den transzendenten Ideen treten können, zum anderen, wie es dabei zu Unterschieden kommt. Da sich Piaton gerade über diese Fragen ausschweigt, ist man darauf angewiesen, sich aus verstreuten Bemerkungen über die Unterschiedlichkeit und Veränderlichkeit der Bedingungen der körperlichen Welt selbst seinen Reim zu machen. 1 Verweise auf die Unzulänglichkeit der Dinge, die der sinnlichen Welt angehören, sind jedoch zahlreich genug, um zu erklären, warum Piaton sich über die Erklärung der Vielfalt der Phänomene in der natürlichen Welt im Allgemeinen keine grauen Haare hat wachsen lassen: Die Verhältnisse im Bereich des Körperlich-Sinnlichen sind so unzuverlässig und unbeständig, dass mit Regelmäßigkeit gar nicht zu rechnen ist. Problematisch ist für Piaton daher nicht, was die Einzeldinge voneinander unterscheidet, sondern was sie eint. Eben dieses Problem sucht er mit Hilfe der ,Ideenlehre' zu lösen. Als Antwort auf die Frage, welche Unterschiede zwischen einzelnen Menschen bestehen und auf welchen Ursachen sie beruhen, scheint diese ,Unbeständigkeitshypothese' aber nicht nur wenig plausibel, sondern sie wird von Piaton auch gar nicht bemüht. So sagt er nirgends, der Unterschied zwischen einzelnen Menschen bestehe darin, dass sie mehr oder weniger gelungene Abbilder der Idee ,Mensch' sind. Das liegt nicht nur daran, dass von der Idee des Menschen bei Piaton nur am Rande die Rede ist.2 Es liegt vielmehr daran, dass Piaton auf menschliche Individuen und ihre Besonderheiten in den verschiedenen Phasen seines Werkes in ganz unterschiedlicher Weise eingeht.

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Dazu sei nur auf das , Streben' der Sinnendinge nach Vollkommenheit in Phaidon 74c-75a und ihr ,Herumkugeln' zwischen Sein und Nichtsein in Politela V 479c-480a verwiesen. Im Parmenides (130c) zeigt sich der junge Sokrates unschlüssig, ob es neben Ideen für Eigenschaften wie der des Guten, Gerechten und Schönen auch Ideen von Dingen wie Menschen, Wasser und Feuer geben soll; im Philebos (15a) dagegen zählt Sokrates den Menschen umstandslos zu den Beispielen von Einheiten, deren Vielheit erklärungsbedürftig ist. Schon das dabei verwendete Vokabular macht deutlich, dass es sich bei den Einheiten um Ideen handelt. Vgl. dazu Frede (1997 a), 119-130.

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1. Das Individuum beim somatischen Piaton Wenn die Rede von einem ,somatischen Piaton' ihre Berechtigung hat, so beruht dies vor allem darauf, dass er in seinen frühen Dialogen die Sorge um die eigene Seele als die vordringlichste Aufgabe jedes Menschen darstellt.3 Das eindrucksvollste Zeugnis für diese ,Seel-Sorge' ist zweifellos Sokrates' Rechtfertigung seiner Rolle als Stechfliege' in der Apologie: Ein ungeprüftes Leben ist nicht wert, gelebt zu werden (Ap. 38a). Dass der junge Piaton in der Selbstprüfung ein vordringliches Anliegen sieht, bestätigen auch die vielen aporetischen Dialoge, die Sokrates' Partnern (wie auch Piatons Lesern) vor Augen stellen, dass es mit den gewöhnlichen menschlichen Einsichten nicht weit her ist, so dass die Erkenntnis der eigenen Unwissenheit die conditio sine qua non für ein gutes menschliches Leben ist. Dass die ,Opfer' der sokratischen Widerlegungskunst jeweils deutlich individuelle Züge tragen, macht den besonderen Reiz dieser Dispute aus; denn sie sind keine schablonenhaften Wiederholungen einer im Grunde immer gleichen reductio ad ignorantiam. Vielmehr sind die Befragungen auf die Person, ihren Charakter und die Art ihres vermeintlichen Wissens zugeschnittene Kreuzverhöre. Wie es zu den Unterschieden zwischen menschlichen Individuen kommt, wird freilich nicht weiter untersucht. Es liegt vielmehr auf der Hand, dass es für Sokrates/Platon die jeweiligen Lebensumstände sind, zu denen die Einflüsse der Umwelt wie auch die eigenen Anlagen gehören, die einen jeden anders formen und entsprechende Ansichten vertreten lassen.4 Dieser Tatsache wird jedoch nur begrenzt Gewicht beigemessen. Piaton ist offensichtlich an psychologischen Untersuchungen im heutigen Sinn nicht gelegen: Nicht die persönlichen Motive, Zielsetzungen oder gar das Verhältnis zu bestimmen anderen Menschen stehen jeweils im Zentrum der Untersuchung, sondern Wissen und Unwissen der betreffenden Person. Dies dokumentiert z. B. die Behandlung von Kritias' Definition der Besonnenheit als Selbsterkenntnis im Charmides, zu der er die berühmte delphische Maxime: ,Erkenne dich selbst' anführt (164d-165b). Dieser Begriff erfährt in den Händen des Sokrates nämlich eine entscheidende Umformulierung: Aus dem ,Wissen von sich selbst' wird das ,Wissen des Wissens' (epistêmê heautou - epistêmê heautês, 165d-166c). Weder Sokrates noch sein Partner sehen in dieser Wendung jedoch ein Abweichen vom Thema. Das Scheitern des Dialogs beruht auch nicht etwa auf dieser Abänderung, sondern darauf, dass das Wissen des Wissens nicht dasselbe ist wie das Wissen von Gut und Schlecht (174b-175b). Biographisches Wissen über die Dialogpartner wirft manchmal zwar ein gewisses Licht auf den Duktus des Gesprächs. Dass z.B. Kritias identisch mit dem Anführer der blutrünstigen 30 Tyrannen ist, wusste jeder zeitgenössische Leser Piatons, und daher dürften dessen vergebliche Bemühungen um eine Definition der Besonnenheit einer gewissen Ironie nicht entbehren. Entsprechendes sollte auch für das so harmlos klingende 3

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Die Frage, ob Piatons frühe Dialoge Gespräche des historischen Sokrates widerspiegeln oder ein bereits verbreitetes Genre repräsentieren, wird seit Kahn (1996) intensiv diskutiert. Sie ist für das hier anstehende Problem jedoch irrelevant, da es um den Umgang des platonischen Sokrates mit Individuen geht. Zur exemplarischen Bedeutung der Individualität vgl. Gerhardt (1997).

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Gespräch zwischen Sokrates und Menon über die Tugend gelten, wenn man es vor dem Hintergrund des vernichtenden Portraits liest, das Xenophon von Menon zeichnet (.Anabasis II 6 21-29). Auf die Beurteilung des Verlaufs der Diskussion und der Ergebnisse haben solche Kenntnisse jedoch keinen erkennbaren Einfluss. Das Urteil ,gewogen und zu leicht befunden' gilt den Argumenten, nicht den Personen und deren Biographie. Vielmehr werden die Mitunterredner als Vertreter bestimmter Auffassungen vorgestellt und letzteren gelten die Widerlegungen. Da die sokratischen Befragungen meist ethisch grundlegende Begriffe zum Thema haben, ist es nicht verwunderlich, wenn die Betroffenen manchmal erklären, sie selbst und ihr ganzes Leben sähen sich bei Sokrates auf den Prüfstand gestellt, wie das etwa Nikias im Laches tut {La. 187e188c). Auch bei ihm geht es jedoch um eine Rechtfertigung seiner Konzeption der Tapferkeit, nicht (oder nur indirekt) um seine Person oder um die Rolle, die er in der Öffentlichkeit in Athen gespielt hat. Dass die betroffenen Personen aus der sokratischen Befragung auch Konsequenzen ziehen oder ziehen könnten, die über die rein intellektuelle Belehrung hinausgeht, deutet Piaton allerdings gelegentlich an. Man erinnere sich nur an die Bekenntnisse des Alkibiades in seiner Lobrede auf Sokrates im Symposion: Sokrates ist der einzige Mensch, vor dem er sich schämt, weil Sokrates ihm vor Augen fuhrt, dass sein Leben und seine Erfolge nichts wert sind, so dass er sich ebenso außerstande sieht mit wie ohne Sokrates zu leben (Smp. 215d-216c). 5 In der Rechtfertigung seiner ,Hebammenkunst' im Theaitet schließlich gibt Sokrates eine eingehende Erklärung für die unterschiedliche Auswirkung seiner Bemühungen um einzelne Patienten {Tht. 150d-151b). 6 Gleichwohl macht er auch hier deutlich, dass die geistigen Kinder, bei deren Geburt er nicht nur assistiert, sondern die er auf ihre ,Lebenstauglichkeit' hin untersucht, philosophische Einsichten sind. Nun würde man Biographisches im eigentlichen Sinn ohnehin in einer philosophischen Erörterung nicht erwarten. 7 Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, worin sich für Piaton Individuen voneinander unterscheiden und ob er diesen Unterschied lediglich in mehr oder weniger großen Abweichungen von einem Idealzustand des Menschen sieht, vor allem was das Wissen angeht. Aufschluss über diese Frage sollte insbesondere Piatons Konzeption der menschlichen Seele vermitteln, denn im Griechischen wird das, was wir heute unter der Persönlichkeit verstehen, wenn irgendwo, dann unter dem Stichwort,Seele' behandelt.

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Zur Person des Alkibiades und der katastrophalen Karriere dieses hochbegabten, aber überaus ehrgeizigen und gänzlich skrupellosen Menschen, vgl. s. v. Alkibiades in: Der Neue Pauly 1 Stuttgart 1996, 500-502.

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Vgl. dazu Burnyeat( 1977). Selbst wenn Sokrates, wie im Phaidros, dramatische Fragestellungen ,an sich selbst' stellt: „[...] ob ich etwa ein Ungeheuer bin, noch verschlungener gebildet und ungetümer als Typhon, oder ein milderes einfacheres Wesen, das sich eines göttlichen und edlen Teils von Natur erfreut" (230a), so gilt die Frage der Menschennatur als solcher und nicht Sokrates' persönlicher Verfasstheit.

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2. Die Verschiedenheit der Seelen Auf die Frage, wodurch sich die Seelen der Individuen voneinander unterscheiden, gibt es nun schon allein deswegen keine einfache Antwort, weil Piaton keine einheitliche Auffassung von der Natur der Seele vertritt. Denn während die Seele im Phaidon als etwas ,Einartiges' (Phd. 80b: monoeides) bezeichnet wird, führt Piaton in der Politeia drei verschiedene Seelenteile ein: Vernunft, Mut/Entschlusskraft und Begierden (R. IV 434d-441c). Eben diese Lehre von den drei Seelenteilen illustriert der Phaidros mit dem einprägsamen Bild eines ,Seelenwagens', in dem die Vernunft als Lenker, Mut und Begierde als zwei geflügelte Rosse mit ganz unterschiedlichen Temperamenten fungieren (Phdr. 246a-e). Der Timaios schließlich trennt Lenker und Rosse. Nur die Vernunft ist unsterblich und im Kopf angesiedelt, während Mut und Begierden dem Herzen und den unteren Organen zugeordnet werden und mit diesen der Sterblichkeit unterliegen (Ti. 69c-71e). Wieder andere Dialoge nehmen von der Dreiteilung der Seele keine Notiz; das gilt nicht nur für das Symposion, welches viele Interpreten aus diesem Grund für einen frühen Dialog halten, sondern ebenso auch für die späten Werke Philebos und die Nomoi. Natürlich unterscheidet Piaton auch dort zwischen rationalen und affektiven Fähigkeiten und Zuständen, eine Trennung von Seelenteilen erwähnt er jedoch nicht. 8 All das ist natürlich nichts Neues. Dass Piaton die Seele als ein Gebilde von unterschiedlicher Komplexität darstellt, ist sattsam bekannt. Und daher scheint es zunächst, als müsse es auf die Frage, wodurch Individuen sich voneinander unterscheiden, ganz unterschiedliche Antworten geben, je nachdem, ob Piaton die Seele als einfach oder als dreigeteilt darstellt. Denn wenn, wie etwa im Phaidon, Körper und Seele von ganz verschiedener Natur sind und verschiedenen ,Welten' angehören, liegt die Vorstellung nahe, dass Piaton von einer ,Idealseele' ausgeht, die sich nur deswegen in jedem Individuum unterschiedlich verwirklicht, weil sie je nach dem Grad ihrer Verbundenheit mit dem Körper den Verlockungen der Sinnlichkeit mehr oder weniger unterliegt. In anderen Dialogen scheint die individuelle Persönlichkeit hingegen nicht durch das Verhältnis von Leib und Seele, sondern durch das der Seelenteile zueinander geprägt zu sein. So unterscheidet die Politeia die gesunde, wohlgeordnete Seele wie folgt von der kranken, in Aufruhr befindlichen: Führt die Vernunft das Regiment und fügen sich die beiden anderen Teile willig ihren Anordnungen, so herrschen Harmonie und Ordnung, ganz so wie in dem von den Philosophenkönigen geführten Staat. 9 Löst sich diese Hierarchie auf, so geraten Seele und Staat zunehmend in Unordnung bis hin zur Tyrannis der niedrigsten Triebe, wie sie Piaton in seiner Geschichte vom Verfall von Staat und Staatsbürger in den Büchern VIII und IX der Politeia eindrucksvoll beschreibt. 10

8 In den Nomoi ist trotz gewisser Differenzierungen stets nur von ,der Seele' die Rede. Im Philebos wird zwar zwischen Erfahrungen unterschieden, welchen die Seele mit und ohne den Körper unterliegt (Phlb. 32a-36c; 49b-50e), und die Vernunft spielt eine herausragende Rolle, von einer Trennung ist hier jedoch ebenso wenig die Rede wie in den Nomoi. 9 Vgl. Irwin (1997), 119-140. 10 Vgl. Frede (1997 b).

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Nicht weniger dramatisch ist die Schilderung im Phaidros, wie dem Wagenlenker die Kontrolle über die beiden Rosse entgleitet, so dass schließlich das unlenksame schwarze Pferd der Begierden die Richtung bestimmt (253d-256e). So unterschiedlich die Konzeptionen der Seele ausfallen, so unterschiedlich fallen auch die Erklärungen für die Seelenteile, ihre Motivationen und Ziele aus, zumal Piaton, je nach Diskussionszusammenhang, auf diese Teile gar nicht rekurriert und dies, wie gesagt, auch in manchen seiner Spätdialoge unterlässt, sondern sich mit dem Gegensatz von Leib und Seele begnügt. Es ist aber nicht nur die Unterschiedlichkeit der Konzeption der Seele in Piatons verschiedenen Werken, welche einer klaren Antwort auf die Frage nach einem principium individuationis im Weg steht. Hinzu kommt noch, dass es ihm gerade in den Hauptwerken seiner mittleren Jahre um eine Typisierung verschiedener Arten von Seelen und ihrer Motivationskräfte zu tun ist, so dass Individuen nur als ,Fälle' der unterschiedlichen Typen auftreten, wenn von ihnen überhaupt die Rede ist.11 Dies ist leicht zu belegen. Der Phaidon geht von einer Zweiteilung von Menschentypen aus: Nur die Philosophen sind überhaupt in der Lage, sich in der Weise vom Einfluss des Körpers freizumachen, dass sie zu wahrer Tugend fähig sind. Daher erreichen auch nur sie den Zustand der eudaimonia, des Glücks, durch das sich der Mensch als Mensch auszeichnet. Bei Menschen ohne entsprechende Einsichten kann bestenfalls von ,demotischen Tugenden' die Rede sein, die auf Gewohnheit beruhen. Solche Menschen werden daher nicht als Menschen, sondern als harmlose gesellige Tiere wie Bienen, Wespen oder Ameisen wiedergeboren (Phd. 82a-c). Mit anderen Worten, nur Philosophen sind Menschen im eigentlichen Sinn; alle anderen sind quasi nur als Tiere in Menschengestalt anzusehen. Aus dieser Zweiteilung der Menschen- und Seelentypen wird, wie gesagt, in der Politeia und im Phaidros eine Dreiteilung. Zwar haben alle Menschen dreigeteilte Seelen, d. h. alle haben einen vernünftigen, einen ,muthaften' und einen begehrenden Seelenteil. Nur bei den Philosophen beherrscht jedoch die Vernunft die beiden anderen Seelenteile. Dieser Dreiteilung entsprechen auch die Motivationskräfte, die Piaton in der Politeia den drei Klassen von Menschen zuschreibt. Die Philosophenkönige zeichnen sich durch Wahrheitsliebe bzw. Lernbegierde, die Wächter durch Ehrliebe, und alle anderen durch Geldliebe aus, wobei Piaton das Geld als das Mittel zur Befriedigung ihrer Begierden verstehen will.12 Daher beurteilt Piaton auch die drei übrigen Tugenden, solange sie nicht mit der Weisheit einhergehen, als bloße Quasi-Tugenden, die dem

11 Dass Piatons Drei-Klassen-Einteilung die Differenzierung zwischen Menschen nicht erschöpft, manifestiert sich in seiner Befürwortung der Arbeitsteilung, die jedem Menschen diejenige Arbeit zuweist, die seinen natürlichen Fähigkeiten entspricht. Zur grundsätzlichen Bedeutung der Arbeitsteiligkeit für Piatons politische Konzeption und die Frage der Mit- und Selbstbestimmung des Einzelnen vgl. Gerhardt (1997 b). 12 R. IV 436e; VI 485b-486b. In seinem abschließenden Vergleich der Lebensformen geht Sokrates von drei Arten von Lust aus, die jeweils bestimmend sind (IX 580d-582a). Dort erklärt er auch, dass die Bezeichnung ,Geldliebe' summarisch alle niedrigen Arten von Begierde umfasst, weil das Geld das dafür erforderliche Mittel ist (580e-581a).

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Körperlichen verwandt sind (518d-e). Man sieht: In Piatons Idealstaat stellen die Philosophen gewissermaßen den Geist, alle anderen den Körper dar. Von ,mündigen Bürgern' im politischen und ethisch-moralischen Sinn kann daher nur im Fall der Philosophen die Rede sein und damit rechtfertigt Piaton auch den Ausschluss aller anderen von jeder politischen Mitsprache.13 Im Phaidros kommt diese Typisierung und Privilegierung zwar weniger deutlich zum Ausdruck, weil die Beschreibung der ,Himmelsreise', deren die Seelen fáhig sind, vor allem dem Menschentypus gilt, der dazu überhaupt in der Lage ist und nicht von vornherein zur Erde herabstürzt, weil seine Seele ihre Flügel nicht entfalten kann oder diese verletzt. Wenn Piaton davon spricht, dass die geflügelten' Seelen unterschiedlichen Göttern folgen, so geht es auch hier um eine Typisierung: Königliche Seelen folgen Zeus, andere wieder anderen Göttern, und je nachdem, welcher Gottheit sie folgen, fallt auch ihre Liebe zum Schönen unterschiedlich aus (Phdr. 252c-253c). Auf individuelle Schicksale geht Piaton in diesen Werken nur in den Mythen näher ein. Besonders einprägsam ist seine Beschreibung der ,Lebenswahr im Mythos von Er am Ende der Politeia. Sie besagt nicht nur, dass jeder einzelne die Verantwortung für sein Leben trägt, sondern schildert auch, auf welch unterschiedlichen Motiven die jeweiligen Entscheidungen beruhen. Lassen sich manche von Macht und Reichtum blenden, sind andere aus Erfahrung und Leid klug geworden und begnügen sich mit bescheideneren Lebensformen (R. 619b-620d). Von individueller Beurteilung, Bestrafung und Belohnung zeugen auch die Schlussmythen im Gorgias und im Phaidon, jeweils in derjenigen Nuancierung, die dem Duktus der Dialoge entspricht. Geht es im Gorgias fast ausschließlich um die Beurteilung, Bestrafung oder Belohnung der Seelen, so tritt im Phaidon diese Beurteilung in den Hintergrund. 14 Das Hauptaugenmerk gilt hier der Schilderung der Unter- und der Oberwelt als den für das Fortleben der guten und schlechten Seelen angemessenen Orten. Wenn nun auch in den Mythen von einer jedem Individuum gebührenden Strafzumessung und Belohnung die Rede ist, so gilt dies doch wiederum dem Exemplarischen. Von individuellen Schicksalen im eigentlichen Sinn ist hier nicht die Rede. 15

3. Die individuelle Seele und der Mangel Wenn es also so scheinen mag, als sei der Piaton der mittleren Werke an Individuen nur insofern interessiert, als er in ihnen die Vertreter bestimmter Typen sieht, so sollte man doch nicht übersehen, dass diese Konzentration sich auf bestimmte Werke beschränkt. Diese sind deswegen auf allgemeine Kennzeichnungen der menschlichen Seele und ihrer Motivation hin angelegt, weil es um die Ausarbeitung der allgemeinen Prinzipien von Piatons politischen, ethischen und psychologischen Vorstellungen geht. Dass Piaton darüber den Einzelnen nicht aus den Augen verloren hat, zeigen verschiedene seiner

13 Vgl. dazu Bobonich (2002), Kapitel 1. 14 Grg. 523a-527a;PM 107c-114c. 15 Zu Piatons Mythen vgl. Janka/Schäfer (2002).

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Dialoge, die der gleichen Schaffensperiode entstammen müssen wie die oben kurz skizzierten , Hauptwerke'. 16 Neben der Makroanalyse, welche die Menschheit in drei Klassen einteilt, die sich durch Wahrheitsliebe, Ehrliebe und Lustliebe auszeichnen, finden sich nämlich auch Mikroanalysen der Motive, die einzelnen Menschen als Anreiz dienen. Eine solche Analyse findet sich im Gorgias in Sokrates' Widerlegung der hedonistischen These des Kallikles, das Glück des ,großen Menschen' bestehe darin, nicht nur alle seine Bedürfnisse zu erfüllen, sondern diese möglichst zahlreich und intensiv sein zu lassen (Grg. 491e-492c). Diese Widerlegung verdient besondere Aufmerksamkeit, weil Sokrates ihr eine kausale Analyse des Begehrens zugrunde legt: Begehren setzt immer einen Mangel voraus. Dies mag zunächst wie eine Binsenweisheit klingen, denn jedes Begehren ist stets auf etwas Bestimmtes ausgerichtet, was man nicht oder nicht in genügendem Ausmaß hat. Aber auch Binsenweisheiten bedürfen der Vergegenwärtigung, und Piaton sah offensichtlich in der Klärung dieses Punktes einen wesentlichen Schritt in der Widerlegung des kallikleischen Standpunktes. Daher lässt er Sokrates einiges an argumentativer Raffinesse aufbieten, um Kallikles davon zu überzeugen, dass Begierden nicht als ,Überfließen' einer besonders reichen und mächtigen Persönlichkeit zu verstehen sind, sondern als ein Anzeichen für Mängel aller Art. Ein Leben der Erfüllung solcher Mängel käme einer Sisyphus-Arbeit gleich; es ist als wolle man ein löchriges Fass mit einem Sieb füllen (Grg. 492d-494b). Wie sich im weiteren Fortgang zeigt, ist dies kein bloßes dialektisches Argument, das Kallikles zu Fall bringen soll, sondern entspricht Sokrates' grundsätzlicher Einschätzung der menschlichen Verfassung. Dass Sokrates von einer ständigen Mangelhaftigkeit' des Menschen ausgeht, wird zunächst durch seine Behauptung verdeckt, am besten sei es, seine ,Fässer' durch eine möglichst bedürfnislose Lebensführung wohlgefüllt zu halten (493d-494a). Seine anschließende Auseinandersetzung mit Kallikles lässt jedoch erkennen, dass auch er ein Leben ohne Bedürfhisse für ein Ding der Unmöglichkeit hält. Obwohl die Lust, als ein Prozess der Erfüllung eines Bedarfs, sich als ein gemischtes Vergnügen erweist, weil sie stets einen schmerzhaften Mangel voraussetzt, behauptet Sokrates nicht, dass dieser vermeidbar wäre. Vielmehr unterscheidet er zwischen besseren und schlechteren Arten von Lust und ringt Kallikles schließlich das Zugeständnis ab, dass die Tugend in der Fähigkeit besteht, diesbezüglich die richtigen Unterscheidungen zu treffen, da diese entscheidend für die Gesundheit an Leib und Seele und damit für das gute Leben überhaupt sind (503c-505b). Die Bedeutung der Annahme einer grundsätzlichen Mangelhaftigkeit des Menschen im Gorgias wird leicht übersehen, weil sich Kallikles nach dem Eingeständnis seiner Niederlage auf einsilbige Repliken beschränkt und Sokrates der Frage nicht weiter nachgeht, welche Arten des Mangels der Erfüllung bedürfen und welche nicht. Stattdessen konzentriert er sich auf die Frage nach

16 Die Chronologie der platonischen Werke ist bis heute eine höchst umstrittene Frage. Da Piaton aber sein langes Philosophenleben hindurch schriftstellerisch tätig gewesen sein muss, ist bei aller Uneinigkeit die Einteilung in frühe, mittlere und späte Schriften weitgehend anerkannt, wenngleich sich eine genaue chronologische Reihenfolge weder durch sachliche Begründungen noch durch Sprachstatistiken rechtfertigen lässt.

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der harmonischen Ordnung der Seele und nach der Lebensführung, die das Glück in diesem Leben wie auch im Jenseits garantiert (506c ff.)· Der Vorteil einer kausalen Erklärung des Begehrens als Streben nach Kompensation für einen Mangel dürfte auf der Hand liegen. Sie erklärt nämlich, dass Piaton die Begierden nicht für frei schwebende Phänomene hält, welche die Menschen ,befallen', sondern dass sie ein fundamentum in re haben, auf Grund dessen sie sich einer differenzierten Beurteilung unterziehen lassen. Zu bewerten sind nicht allein die intendierten Gegenstände, d. h. worauf die Begierden ausgerichtet sind, sondern auch ihr Ursprung, der Mangel. 17 Diese Beurteilung ist vergleichbar mit der Diagnose einer Krankheit. Liegt ein tatsächlicher Mangel vor, so sorgt die entsprechende Therapie für Ausgleich. Stellt sich heraus, dass ein echter Mangel gar nicht besteht, sondern nur eine Irritation, so verzichtet man besser auf eine Behandlung. Kurz gesagt: Es ist zu unterscheiden zwischen notwendigen, natürlichen Bedürfnissen und künstlich erzeugten, die dem Menschen nur Schaden bringen. Der Gorgias ist nicht der einzige relativ frühe Dialog, in dem Piaton auf die Mangelhaftigkeit der menschlichen Natur eingeht. Vielmehr spielt sie auch eine wichtige Rolle im Lysis. Dort vertritt Sokrates den Standpunkt, dass es keine Freundschaft zwischen Menschen geben kann, die sich selbst genug sind, so dass sie keinerlei Bedarf haben (215a: ho hikanos, ho ge mê deomenos).18 Aus diesem Grund, so legt Sokrates eindringlich dar, können auch Gleiche nicht Freunde von Gleichen sein, da sie einander keinen Nutzen bringen. Dies gilt für die Guten ebenso wie für die Schlechten, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Während Gute vollkommen sind und nichts brauchen, können Schlechte einander nichts nützen, weil sie weder in der Lage sind, ihre Mangelhaftigkeit zu erkennen noch auch für Abhilfe zu sorgen. Sokrates' Ausweg, dass die ,weder Guten noch Schlechten' Freunde der Guten sind (217a), hat die unwillkommene Konsequenz, dass Freundschaft keine symmetrische Beziehung sein kann, da die Guten angesichts ihrer Vollkommenheit gar nichts davon haben. Dass Sokrates hier nicht nur ein mutwilliges Spiel treibt, erhellt aus seiner Bemerkung, dass zu den Bedürftigen auch die Philosophen, die Liebhaber der Weisheit zu rechnen sind (218a). Eine Lösung des Problems, wie es zu gegenseitiger Freundschaft unter den Menschen kommen kann, bietet der Dialog nicht. Stattdessen wird die Basis des Problems klar herausgestellt: Begehren und Liebe beruhen immer auf einem Mangel oder einem Bedarf, der erfüllt werden muss {Lys. 221d-e). Sokrates vermittelt seinen beiden jugendlichen Gesprächspartnern aber weder die explizite Einsicht, dass unvollkommene Personen einander wechselseitig bei der Bemühung um den Ausgleich ihrer Mängel behilflich sein können, noch auch, welche Mängel überhaupt einen Ausgleich verdienen. Eine derartige Lösung deutet sich allenfalls in Sokrates' abschließender Bekräftigung der Freundschaft zwischen ihm und den beiden Jungen an: Weist ihnen das Gespräch mit Sokrates den richtigen Weg, so gereichen ihnen die Schmeicheleien ihrer Liebhaber nur zum Schaden.

17 Dieser Faktor erfahrt oft in den Analysen des Begehrens als Motivationskraft keine angemessene Beachtung, vgl. etwa Cooper (1984); Kahn (1987); Lorenz (2006), Part 1. 18 Zu Piatons Lysis vgl. Bordt (1998), bes. 172-174; 216-226; Penner/Rowe (2005), bes. 85-88; 107-111; 158-160 et passim.

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Was der Lysis nur erahnen lässt, spricht das Symposion unmittelbar an. Denn im zentralen Teil des Dialogs, in Sokrates' Bericht über die Lektion, die ihm Diotima über die Natur der Liebe erteilt hat, wird deutlich, dass der Mangel als Ursache jeder Art menschlicher Tätigkeit zu gelten hat. Dieser Gedanke liegt Sokrates' Widerlegung von Agathons Vorstellung zugrunde, Eros sei der jüngste und schönste aller Götter (Smp. 199c-201c). Agathon muss zugeben, dass der Eros als eine Art von Begehren nicht den Dingen gilt, die man bereits hat, sondern vielmehr denjenigen, die einem abgehen. 19 Die Sorgfalt, mit der Piaton dieses Argument entfaltet, zeugt davon, dass er seine Erklärung der Liebe als Begehren nach Erfüllung eines Mangels weder für trivial noch für offensichtlich hält.20 So führt er die Lektion der Diotima mit dem berühmten Mythos von Eros als dem Sohn von Überfluss (Poros) und Armut (Penia) ein: Eros ist weder schön noch ein Gott, sondern ein Zwischenwesen zwischen Sterblichem und Unsterblichem, ein mächtiger Dämon und Jäger nach dem, woran es ihm mangelt: nach der Schönheit. Diese Metapher wird auf die menschliche Verfassung im Allgemeinen übertragen, einschließlich der des Philosophen. Auch die Liebe zur Weisheit ist ein Zustand zwischen Wissen und Unwissenheit und kein fester Besitz des Wissens. Allein die Götter sind vollkommene Wesen, denen es an nichts mangelt. Da sie weise (sophoi) sind, sind sie auch keine Philosophen (philo-sophoi) (203b-204a). Für die Menschen bedeutet diese Zwischenstellung, dass im Prinzip alle das Gute und Schöne lieben, weil ihr Besitz fur sie das Glück (eudaimonia) ausmacht. Sie unterscheiden sich voneinander jedoch durch die Arten von Dingen, auf die sie aus sind: Suchen manche das Glück im Erwerb von Reichtum, so suchen andere es in körperlicher Tätigkeit, wieder andere in der Philosophie. Von entscheidender Bedeutung ist hier der kleine Zusatz, dass nicht der Besitz der Güter als solcher erstrebt wird, sondern die ,Kreativität im Schönen' (206b-207a). Die Antwort auf die Frage, warum der Besitz des Schönen/Guten durch kreatives Schaffen ersetzt wird, folgt auf dem Fuß: Sie verweist auf die Notwendigkeit der Selbstvervollkommnung und das Bestreben, das Erreichte über die Grenzen der eigenen fragilen Existenz hinaus zu sichern. Alle Menschen streben nämlich nach derjenigen Art von Unsterblichkeit, deren sie fähig sind. Da diese Fähigkeiten verschieden sind, suchen die Einzelnen nach Unsterblichkeit unterschiedlicher Art. Wer auf körperliche Unsterblichkeit aus ist, strebt danach, Kinder zu hinterlassen; an ewigem Ruhm liegt, wem es um den Fortbestand seiner hervorragenden Taten geht; wohlgeordnete Städte gründen diejenigen, die nach wahrhaft großer Nachkommenschaft streben. Dieses ,Programm zur menschlichen Selbstvervollkommnung' fasst Diotima in der berühmten , scala amoris ' zusammen: Die Liebe zum Schönen führt von der Liebe zu einem bestimmten schönen Körper zur Liebe aller körperlicher Schönheit;

19 Die Liebe zu Dingen, die man besitzt, beruht auf dem Wunsch, sie auch in Zukunft zu besitzen oder auf der Furcht, sie zu verlieren {Smp. 199c-201c). Implizit wird die Mangel-Hypothese bereits in Aristophanes' Erklärung des Eros als Sehnsucht nach der verlorenen anderen Hälfte vorweggenommen ( 189b-193d). 20 Ein Symptom dafür ist die Häufigkeit der Verwendung von endeia (= Mangel, Bedürftigkeit) und endees (= mangelhaft, bedürftig) in diesem Teil des Symposions. Zum Mangel als Ursache der Liebe vgl. auch Gerhardt (1997 c).

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als nächste Stufe folgt die Bewunderung der Schönheit der Seele; danach die Anerkennung der Schönheit von Gesetzen und politischen Einrichtungen und schließlich die der Schönheit philosophischer Erkenntnisse. Den höchsten und letzten Schritt stellt die mysteriöse Vision des Schönen selbst dar (21 la-212b). All dies ist deswegen bedenkenswert, weil Piaton diese Stufenleiter einer eingehenden Begründung dafür folgen lässt, dass das Bemühen um Selbstvervollkommnung der menschlichen Instabilität wegen ein Prozess ist, der nie zu einem Ende kommt, selbst wenn uns das gar nicht bewusst sein mag: „Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, dass es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist; er heißt doch immer derselbe, ungeachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und Altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe; und nicht nur an dem Leibe allein, sondern auch an der Seele. Die Gewohnheiten, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust, Furcht - hiervor behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eins entsteht und das andere vergeht. Und viel wunderlicher noch als dieses ist, dass auch die Erkenntnisse nicht nur teils entstehen, teils vergehen, und wir nie dieselben sind in Bezug auf die Erkenntnisse, sondern dass auch jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet. Denn was man Nachsinnen nennt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis, Nachdenken ersetzt sie durch eine Erinnerung und erhält sie so, dass sie dieselbe zu sein scheint. [...] Auf diese Weise hat alles Sterbliche an der Unsterblichkeit teil, nicht wie das Göttliche, indem es sich stets gleich bleibt [...]" (Smp. 207d-e). 21 Da diese an die herakliteische Flusslehre erinnernde Erklärung ausdrücklich auch die Philosophen einschließt, ist offensichtlich, dass nicht nur verschiedene Menschentypen sich durch unterschiedliche Arten von Mängeln oder Bedürfnissen unterscheiden, sondern dass dies auch für jedes Individuum gilt. Wir alle sind folglich einem ständigen Auf und Ab ausgesetzt, derart, dass wir uns um den erforderlichen Ausgleich zu bemühen haben. Es gilt also die Devise: Sage mir, was dir fehlt, und ich sage dir, wer du bist. Während Piaton im .psychologischen Teil' der Politeia auf den Mangel nicht weiter eingeht, sondern sich, wie oben bereits vermerkt, auf die Einteilung in drei Seelenteile und das für sie charakteristische Begehren beschränkt, greift er im IX. Buch den Gesichtspunkt der Bedarfserfüllung in seiner Beweisführung auf, um zu begründen, warum das Leben des vollkommen Gerechten/Philosophen auch das lustvollste ist. Dort spricht Sokrates zwar nicht von Mängeln, wohl aber verwendet er die Metaphern des ,Füllens' und ,Leerens' in seiner Charakteristik der verschiedenen Lebensformen und der für sie charakteristischen Lust (583b-587a). Während die körperlichen Arten der Lust im Ausgleich für einen schmerzvollen Zustand der Leere bestehen und mit einem Zustand der Schmerzfreiheit ihr Ende finden, der nur im Vergleich zum Ausgangszustand als angenehm erscheint, gehen die Freuden des Geistes von einem schmerzfreien Zustand aus 21 Übers, nach Schleiermacher. Das Symposion geht nur von einer diesseitigen Unsterblichkeit aus. Das schließt auch denjenigen ein, der die höchste Form des Schönen erkannt hat: „[...] und wenn ein menschliches Wesen unsterblich werden könnte, so wäre es dieser (212a)." Zum Symposion vgl. Sheffield (2006); Lesher/Nails/Sheffield (2007).

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und führen zu einer ,Füllung' mit wahrhaft Seiendem. Sie sind daher nicht nur unvermischt mit Schmerz, sondern wahr und rein, da sie wahrhaft und reines Sein zum Gegenstand haben, während die Objekte körperlicher Lust wie die an Essen und Trinken nur notwendige Supplemente sind (vgl. bes. 585b-e). Diese Beschreibung erinnert deutlich an das Füllen der löcherigen Fässer in Gorgias: Bestimmte Arten von Begierden sind unstillbar „[...] weil sie nicht dasjenige in sich haben, was wirklich seiend ist, und dasjenige mit wahrhaft Seiendem füllen, was Aufgenommenes festhalten kann" (586b). Was für die Lüste des Körpers gilt, soll mutatis mutandis auch für die ungezügelten Begierden der Ehrsüchtigen gelten. Ehrsucht erfüllt die Betreffenden mit Neid, ihre Begierde nach Sieg macht sie gewalttätig, folglich kann auch hier nicht von wahrer Lust die Rede sein. Allerdings bleibt festzuhalten, dass Sokrates nicht bestreitet, dass bestimmte, auch niedrige Arten von Bedürfnissen erfüllt werden müssen. Er besteht lediglich darauf, dass es Aufgabe der Vernunft ist, ihnen die richtige Form zu geben; die wohlgeordnete philosophische Seele sorgt dafür, dass all ihre Teile das erhalten, was sie brauchen (586d-e).

4. Das Individuum beim späteren Piaton In Piatons Spätwerk tritt die Frage nach dem Individuum und seiner Vollkommenheit in den Hintergrund. Eine Ausnahme stellt allerdings der Dialog Philebus dar und es dürfte kein Zufall sein, dass Sokrates gerade in diesem Dialog noch einmal als Gesprächsführer auftritt, obwohl er diese Rolle in anderen Spätdialogen (Sophistes, Politikos, Timaios und Kritias) an andere abgegeben hat. Denn im Philebos steht die Frage im Zentrum, ob Lust oder Wissen diejenige Verfassung der Seele ist, die allen Menschen zu einem glücklichen Leben verhelfen kann {Phlb. lld). Mit dieser Thematik will Piaton offensichtlich keinen anderen als Sokrates betrauen. In der Tat ist auch der Charakter der Unterredung in gewisser Weise sokratisch, denn statt eines Lehrgesprächs, zu dem der Partner nur ein höfliches ,ja', ,nein', oder ,wieso?' beiträgt, geht es um die Widerlegung des hedonistischen Standpunktes des Mitunterredners und dessen Bekehrung zu der Auffassung, dass das Wissen ein höheres Gut ist als die Lust. 22 Was wie ein typisch sokratisches Streitgespräch beginnt, nimmt dann freilich einen ganz anderen Verlauf, der hier nicht nachzuzeichnen ist. Jedenfalls einigen sich die Partner zunächst darauf, dass einem Leben der Vorzug zu geben ist, das in einer Mischung aus Lust und Wissen besteht (20b-23b). Fortan geht es nur mehr um die Frage, welches dieser beiden Ingredienzien des gut gemischten Lebens das bessere ist. In diesem Wettstreit greift Sokrates zur näheren Bestimmung der Lust auf ein wesentliches Moment zurück, das bereits in früheren Dialogen zur Sprache gekommen ist: dass Lust in der Erfüllung eines Bedarfs oder eines Mangels besteht. Was im Philebos neu hinzukommt, ist die Defini-

22 Der Partner ist hier nicht etwa die Titelfigur Philebos, da dieser als kompromissloser Hedonist gleich zu Anfang ausscheidet und die Verteidigung des Hedonismus seinem Stellvertreter Protarchos überlässt {Phlb. lla-12b). Dieser versucht nach Kräften, die hedonistische Position zu verteidigen. Zum Charakter der Personen und dem Verlauf des Dialogs vgl. Frede (1997 a), 93-111.

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tion der Lust als Ausgleich einer Störung des harmonischen Gleichgewichtes an Leib und/oder Seele. „Ich behaupte nun, dass bei der Auflösung des harmonischen Zustandes in den Lebewesen zusammen mit dieser Zerstörung ihrer Natur zugleich auch der Schmerz entsteht. [...]. Wenn sich dagegen ihr natürlicher harmonischer Zustand wieder herstellt, so entsteht Lust" (31d). Die Lust ist daher kein Gut im uneingeschränkten Sinn, sondern eine Art,Reparationsgut'; denn ein Zustand ungetrübter Harmonie wäre natürlich vorzuziehen. Aus diesem Grund füllt die Kritik an den verschiedenen Arten von Lust, die möglicherweise weder wahre Wiederherstellungen noch unvermischt mit Schmerz sind, einen beträchtlichen Teil des Dialogs (31b-50e). Auch die wenigen Arten der Lust, die Sokrates schließlich als rein und wahr anerkennt (50e-53b), sind Formen der Erfüllung eines Mangels, der freilich ,nicht wahrnehmbar und schmerzlos' ist. 23 Zudem ist Sokrates sehr restriktiv, was die reinen Lüste angeht. Außer der Lust an reinen Farben und Tönen erwähnt er nur noch die Lust am Lernen. Von den übergroßen Freuden des Philosophen aus der Politela, dessen Leben 729 mal lustvoller sein soll als das des Tyrannen (IX 587d-e), ist hier nicht die Rede. Es fragt sich daher, warum Piaton seinen Sokrates überhaupt die These, das aus Wissen und Lust gemischte Leben sei das beste, ins Spiel bringen und auch am Ende des Dialogs als Resultat bestätigen lässt (61d-64b). Diese Frage stellt sich umso mehr, als hier verschiedentlich die Möglichkeit eines ungestörten Lebens angesprochen wird und Sokrates es sogar als das ,gottähnlichste' von allen bezeichnet (Phlb. 33a-c). Will man sich nicht auf die doch recht unplausible Erklärung zurückziehen, dass Sokrates' Kompromiss nur der Bekehrung von sonst unbelehrbaren Hedonisten dient, so liegt zunächst die realistisch-pessimistische Deutung nahe, dass Piaton der Auffassung ist, dass der Menschheit nun einmal nicht zu helfen ist: Ein schmerz- und lustfreies Leben gibt es nur für die Götter. Menschen dagegen unterliegen zwangsläufig Störungen und Zerstörungen, deren Wiederherstellungen als lustvoll empfunden werden. An dieser Deutung ist sicher etwas dran, denn sie stimmt mit Piatons Überzeugung von der Unbeständigkeit der körperlichen Welt überein, eine Überzeugung, die, wie bereits erwähnt, ihre nachdrücklichste Bestätigung in Diotimas Diagnose findet, dass der Mensch an Leib und Seele einem ständigen Wandel unterliegt. 24 Bei dieser negativen Bewertung sollte man es aber auch für den Philebos nicht belassen. Denn am Ende des Dialogs vermittelt die Beschreibung der Mischung aus Lust und Wissen, die das gute Leben ausmachen soll, keineswegs den Eindruck, als seien die verschiedenen Arten von Lust nur notwendige Übel. Vielmehr sprechen sich die Arten von Wissen ausdrücklich für eine Koexistenz mit den wahren und reinen Lüsten aus: „Die Arten von Lust dagegen, die du wahr und rein nennst, die betrachte als uns verwandt. Nimm auch diejenigen in die Mischung

23 51b: tas endeias anaisthêtous echonta kai alypous. Auch für die wahren und reinen Arten von Lust hält Piaton also an der Mangel-Erklärung fest, vgl. Frede (1997 a), 295-305. 24 So auch Phlb. 42d-43d. Aristoteles' Bemerkung in Metaph. A 6 (987a31-34), Piaton sei seit seiner Jugend mit der herakliteischen Lehre vom ständigen Fluss aller Sinnendinge vertraut gewesen und habe daran auch später festgehalten, findet hier also ihre Bestätigung.

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mit auf, die mit Gesundheit und Besonnenheit einhergehen, und überhaupt alle, die mit jeder Tugend überallhin folgen wie Gefolgsleute einem Gott" (63e).25 Man hat nun diese Stelle manchmal so gedeutet, als habe Piaton hier plötzlich die aristotelische Lustkonzeption als , energeia d. h. als vollkommener Tätigkeit, vorweggenommen und seine Definition der Lust als eines Werdeprozesses (53c-55a) entweder aufgegeben oder entscheidend modifiziert. 26 Eine derartige unangekündigte Kehrtwendung muss man Piaton jedoch nicht unterstellen. Vielmehr ist daran zu erinnern, dass die Erfüllung eines Bedarfes oder Mangels im Leben eines Menschen durchaus eine positive Rolle spielen kann. Sie dient als Ansporn zur Selbstverbesserung und Selbstvervollkommnung und ist daher, je nach Art des Mangels, als eine kreative Kraft zu verstehen. Dies kommt im Philebos zwar weit weniger deutlich zum Ausdruck als im Symposion oder auch im Phaidros, den beiden Dialogen, welche die Liebe zum Schönen als wesentlichen Anreiz des Menschen zu Höherem und Besserem darstellen. Bemerkt man nämlich, dass die Rede von ,Gefolgsleuten des Gottes' im Philebos eine Art Zitat aus dem Phaidros (249c; vgl. auch 266a) ist, so liegt der Gedanke nahe, dass es eben diese Funktion der wahren und reinen Lust ist, die Sokrates dazu veranlasst, ihr einen Platz auf seiner Liste der Güter zu geben (Phlb. 66c). Zwar erinnert nur wenig in der teils scherzhaften, teils nüchternen, teils philosophisch-terminologisch anspruchsvollen Unterredung des Philebos an die göttliche Inspiration durch das Schöne, die im Phaidros zu einer Himmelsreise und im Symposion zur ,Erschaffung im Schönen' inspiriert. Es ist aber kaum zu bezweifeln, dass auch der Philebos die Botschaft enthält, dass die Lust als ein Ansporn zu Selbstverbesserung und Selbstvervollkommnung sein kann und daher ein integraler Bestandteil des gut gemischten Lebens ist. Dieser positive Aspekt ist im Philebos angesichts der überwiegend kritischen Behandlung der verschiedenen Arten von Lust und der Kargheit der letztlich zugelassenen ,wahren und reinen' Lüste leicht zu übersehen. Dabei sollte man jedoch einen Punkt nicht außer Acht lassen, der bei Piaton nicht nur neu, sondern zudem aus moralpsychologischen Gründen höchst bedeutsam ist. Er besteht darin, dass Emotionen als aus Lust und Schmerz gemischte Phänomene mit ,propositionalem Gehalt' behandelt werden und somit der moralischen Beurteilung unterliegen (47e-50e). Sokrates illustriert dies durch das Beispiel der Lust am Lächerlichen in der Komödie, das zeigt, inwiefern die Schadenfreude keineswegs die reinste Freude ist, sondern als Vergnügen am Missgeschick zugleich ein Übelwollen (und damit eine Art Schmerz oder Unlust) anderen gegenüber enthält. In dieser Diagnose, die Sokrates auch auf „Zorn, Furcht, Trauer, Liebe, Eifersucht, Missgunst und alles, was von dieser Art ist" (47e) ausweitet, liegt zugleich die Aufforderung zur Selbstprüfung, d. h. zur Prüfung des Mangels, der jeweils den eigenen Bestrebungen zugrunde liegt. Was einen erfreut oder abstößt und warum es das tut, dies sind Fragen, die einer Prüfung deswegen wert sind, weil Lust und Schmerz die eigene Lebensführung ganz unmittelbar und oft völlig unreflektiert bestimmen. Piaton lässt seinen Sokrates weder empfehlen, solche Gefühle ganz auszumerzen, noch auch behaupten, dass ein Philosoph darüber erhaben ist. Im Gegenteil: Sokrates 25 Vgl. dazu Frede (1999). 26 Gadamer (1931); Hackforth (1945), 107; Carone (2000).

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spricht an dieser Stelle auffällig oft in der , Wir'-Form, als handle es sich um allen Menschen gemeinsame Verfassungen. Aufklärung über die eigenen Motive ist jedoch unerlässlich für das gut zusammengemischte Leben. Von einer endgültigen Überwindung menschlicher Unvollkommenheit ist dabei nicht die Rede. Dies erklärt wohl auch die Großzügigkeit, mit der Sokrates sämtliche Arten von Wissen und wahren Meinungen in das gute Leben aufnimmt, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass auch die ungenauen Formen von Wissen für die Belange des Lebens notwendig sind, ja sogar, dass man mit idealen Kreisen und Maßstäben keine Häuser bauen kann (62a-d). Der Grund dürfte kaum allein in einem gegenüber manchen puristischen Äußerungen in Piatons früheren Dialogen altersmilden Realismus zu suchen sein. Vielmehr will Piaton zum Ausdruck bringen, dass das Bemühen um Selbstverbesserung und Selbstvervollkommnung eine ständige Aufgabe ist, der alle Menschen sich immer wieder zu stellen haben. Und diese Aufgabe ist für jedes Individuum eine andere, denn die ,gefühlten' wie auch die a n g e fühlten' Mängel sind von Person zu Person verschieden, so dass jeder sich stets einer kritischen Prüfung der eigenen Bestrebungen zu unterziehen hat, ob diese zu einer harmonischen Mischung fuhren oder nicht. Die Diskussion von Piatons Vorstellungen über die menschliche Natur und ihre Mangelhaftigkeit, ob allgemein-typisierend oder individuell, wäre unvollständig, wollte man nicht zur Kenntnis nehmen, dass Piaton in seinem Spätwerk von der Privilegierung der Philosophen Abstand genommen hat. Dies kommt in gewisser Weise bereits in der Erörterung des Philebos zum Ausdruck, denn es ist keine Rede davon, dass die harmonisch geordnete Seele einer geistigen Elite vorbehalten wäre. Zwar ist Vernunft gefordert, wenn es um die Erkenntnis des nichtigen Maßes' für harmonische Mischungen geht. Ferner wird die Dialektik als höchste und genaueste Form des Wissens allen anderen Wissenschaften vorangestellt und dient ihnen als Leitbild (57e-58e). Eine dominante Rolle spielt diese Wissenschaft bei der Lebensführung als solcher jedoch nicht. Vielmehr scheinen all diejenigen Menschen fähig, ein aus Lust und Wissen angemessen gemischten Lebens zu fuhren, die sich den dafür erforderlichen Einsichten nicht von vornherein verschließen, wie die Titelfigur des Dialogs, Philebos, dies tut. Entsprechendes für den politischen Vorspann des Timaios und für den ,zweitbesten Staat' der Nomoi nachzuweisen ist hier nicht der Ort. 27 Stattdessen ist hier noch kurz die Frage aufzugreifen, inwiefern sich auch in diesen Werken Spuren der ,Mängellehre' finden. Weder im Timaios noch in den Nomoi steht der individuelle Mensch im Zentrum und auch von einer ,Mängellehre' ist nicht die Rede. Das liegt in erster Linie an der universalistischen Ausrichtung beider Werke. Geht es im Timaios um den Nachweis einer vernunftgerechten Kosmologie, welche die menschliche Physiologie und Psychologie mit einschließt, so geht es in den Nomoi um den Gesetzesstaat. Für Individuelles als solches ist daher wenig Raum. Der Timaios geht aber innerhalb seiner naturwissenschaftlichen Grenzen Lust und Schmerz betreffend insofern von den gleichen Grund27 Obwohl Sokrates' Skizze des Idealstaats im Vorspann des Timaios mit Verzicht auf Familie und Privatbesitz so genau den Verhältnissen in der Politela entspricht, dass man den Timaios oft als deren Folgewerk angesehen hat, bleibt doch die politische Elite ausgespart; entsprechendes gilt für die Struktur des Idealstaates in den Nomoi (V 739c-e).

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Voraussetzungen aus wie der Philebos, als Piaton auch dort den Schmerz als intensive und spürbare Störung oder Zerstörung des natürlichen Zustandes und die Lust als dessen Wiederherstellung definiert (Ti. 64a-65b). Dieses Modell ist zunächst auf die Wahrnehmungen zugeschnitten, wird dann aber auch auf andere Affekte ausgedehnt (69c-d). Da Tugend und Laster ganz allgemein auf ein natürliches Gleichgewicht bzw. widernatürliches Ungleichgewicht zurückgeführt werden, empfiehlt Timaios die Erhaltung des richtigen Gleichgewichtes zwischen Körper und Seele mit Hilfe von ständiger Bewegung und ,Erschütterungen' (88c-89a: kinêseis, seismoi), in Nachahmung der kosmischen Prozesse. Der Timaios setzt also auf ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Erhaltung und Zerstörung. In den Nomoi ist nun, Lust und Schmerz betreffend, von Störung und Wiederherstellung nicht die Rede. Vielmehr scheint das ,Marionettengleichnis', das die Menschen als von den Göttern hergestelltes Spielzeug darstellt, in eine ganz andere Richtung zu weisen (Lg. I 644d-645c). 28 Denn der Vergleich geht davon aus, dass die Seele durch Lust und Schmerz wie durch eiserne Drähten in verschiedene Richtungen gelenkt wird und dass dieses Hin- und Her zu tugend- und lasterhaften Handlungen Anlass gibt. Dieser Mechanismus bedarf grundsätzlich der Steuerung durch das goldene Leitseil der Vernunft und als ein solches Leitseil funktioniert im Staat als Ganzem das Gesetz. Recht besehen dient daher das so umfang- und detailreiche Gesetzeswerk der Nomoi dem Zweck, das goldene und heilige, aber sanfte Leitseil der Vernunft zu stärken. Die Präambeln sollen dafür sorgen, dass die Bürger die Gesetze nicht nur einhalten, sondern auch deren Vernünftigkeit einsehen, die Gesetze selbst garantieren die harmonische Ordnung des Ganzen. Basis des Systems ist die Erziehung der Bürger, die ihnen nicht nur die erforderlichen Einsichten vermittelt, sondern als erstes die ,eisernen Drähte' durch Schulung von Lust und Schmerz angemessen konditioniert. In diesem Modell scheint nun für den ,Mangel' als Antriebskraft zum Handeln kein Platz zu sein, es sei denn den Zustand betreffend, bevor die eisernen Drähte von Zuneigung und Abneigung die erforderliche Konditionierung durch die richtige Erziehung erfahren haben. Aber wie so oft trügt der erste Anschein. Zwar ist von Mangel (endeia) in dem bisher spezifizierten Sinn in den Nomoi in der Tat nicht die Rede. Wohl aber geht Piaton auch hier von der prinzipiellen Anfälligkeit und Korrumpierbarkeit der menschlichen Natur aus. Dieses Element kommt zwar nur kurz, dafür aber an einer entscheidenden Stelle zum Vorschein. Denn dieser Anfälligkeit soll diejenige Einrichtung Rechnung tragen, die wohl jedem Leser ins Auge fallen muss, weil sie nicht nur als solche merkwürdig ist, sondern von Piaton mit großer Ausführlichkeit behandelt wird: die Organisation der Bürger in drei ,Chöre', welche zur Erholung religiöse Festlichkeiten mit Musik und Tanz abhalten. Der Chor der Jugendlichen bis 18 Jahren steht dabei unter der Anleitung der Musen, der Chor der bis zu 30-Jährigen unter der des Gottes Apollon, der der bis zu 60-Jährigen unter der des Dionysos. Angesichts der Ver-

28 Die Übersetzung von thauma durch ,Marionette' ist insofern irreführend, als sie suggeriert, dass die Menschen von den Göttern gelenkt werden. Die Götter sind aber nur die Hersteller, nicht die Puppenspieler. Vielmehr geht es um den inneren Mechanismus der menschlichen Seele, also eher um Aufziehpuppen.

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suchung, über diese Merkwürdigkeit schnell hinweg zu lesen, entgeht einem leicht die entscheidende Erklärung des Zwecks dieser Übungen: „Die in der richtigen Gestaltung dieser Lust- und Schmerzgefühle bestehende Erziehung lässt nun bei den Menschen oft in ihrer Wirkung nach und schwindet zumeist im Laufe des Lebens; die Götter aber, die Mitleid mit dem zur Mühsal geborenen Menschen empfanden, haben zu ihrer Erholung als Gegengabe die Feste zu Ehren der Götter angeordnet [...], damit sie die Erziehung an den Festen mit Hilfe der Götter wieder erneuern" {Lg. II 653c-645d). 2 9 Über der ,Erholung' gerät die Notwendigkeit der Erneuerung leicht ins Hintertreffen. Es geht Piaton aber offensichtlich nicht darum, den Menschen Entspannung und Erholung zu verschaffen, sondern wirksame Mittel zur moralischen Nachbesserung. Dies erklärt nicht nur die paramilitärische' Organisation des Ganzen und die Tatsache, dass diese Thematik ein ganzes Buch der Nomoi füllt, sondern auch, dass das Element des organisierten Weintrinkens, anders als zunächst angekündigt (652a), eine ganz untergeordnete Rolle spielt. 30 Zu dieser Überzeugung von der grundsätzlichen Anfälligkeit der menschlichen Natur passt natürlich auch die Ausführlichkeit, die Piaton der Gesetzgebung widmet. Denn sie bringt zum Ausdruck, dass er nicht davon ausgeht, dass alle richtig erzogenen Bürger die richtigen Standards von selbst finden und einhalten werden. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Das Leben des Kleinstaates Magnesia mag daher in unseren Augen sogar hoffnungslos überreglementiert wirken. Wenn uns etwas gleichwohl für diesen Gesetzesstaat einnehmen kann, so ist es die Tatsache, dass Piatons Erwartungen an den Einzelnen weder von Über- noch von Unterschätzung geprägt sind. Jeder Einzelne ist in der Lage, Sinn und Zweck der guten Ordnung zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. In diesem Sinne ist die Redewendung vom ,sanften Leitseil' der Vernunft zu verstehen.

Nachwort Es wäre sicher eine unverzeihliche Einseitigkeit, Piaton unterstellen zu wollen, die Mangelhaftigkeit des Menschen sei das entscheidende oder gar das einzige principium individuationis. Weit stärker als durch das, was ihnen fehlt, sollten die Menschen sich doch durch ihre Wertschätzung des Guten und Schönen voneinander unterscheiden, und dies nicht nur in dem Sinn, dass diese Wertschätzung eine ,sublimierte Mangelerscheinung' manifestiert. Diese Frage ist hier deswegen nicht weiter zu verfolgen, als sie der Tragweite von Piatons Dichotomie zwischen göttlicher Vollkommenheit und Unbedürftigkeit und menschlicher Unvollkommenheit und Bedürftigkeit gelten müsste. Das wäre jedoch ein sehr weites Feld. Wenn hier die Bedeutung des Mangel-Prinzips hervorgehoben wurde, so weil dieser Faktor innerhalb von Piatons Moralpsychologie bisher nur 29 Übersetzung nach Schöpsdau (1994), zur Interpretation vgl. den Kommentar ad loc. 30 Jugendliche dürfen gar keinen, die Erwachsenen nur in sehr mäßigem Umfang Wein trinken; nur die Älteren stehen unter der Ägide des Dionysos - als Gegenmittel gegen die zunehmende unmusische Steifigkeit des Alterns (665e-666c).

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wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Dass der Mensch sich laut Piaton von mehr oder weniger vernünftigem Begehren leiten lässt, ist natürlich altbekannt. Angesichts der Bedeutung der Ziele und Auswirkungen dieser Begehrlichkeiten hat man jedoch ihre Ursache, soweit sie in der Natur jedes Einzelnen liegt, kaum berücksichtigt. Die Feststellung, dass jedes Begehren auf einer Art Mangel beruht und dass nicht jeder Mangel des Ausgleichs würdig ist, gibt jedenfalls zur Frage nach den Kriterien für die Entscheidung Anlass, welche Mängel der Erfüllung würdig und welche dies nicht sind. Die Antwort, dass erstere von der Art sind, dass ihre Erfüllung eine wohlausgewogene, harmonische Persönlichkeit auszeichnet, während letztere zu der bereits genannten Sisyphus-Verfassung gehören, trifft sich zwar sicherlich mit Piatons Intentionen, wie er sie nicht nur bereits im Gorgias, sondern auch noch in dem gut gemischten Leben im Philebos zum Ausdruck bringt. Es sind aber Zweifel angebracht, dass sich dafür allgemeine Auswahlprinzipien festlegen lassen. Hier ist vielmehr Jede und Jeder zur Selbstprüfimg aufgerufen. Vielleicht ist eben dies einer der Gründe für Piatons Verzicht auf die Privilegierung der Philosophen in seinem Spätwerk: Sie können zwar allgemeine Einsichten und die allgemeine Richtung vorgeben, nicht aber das Leben des Einzelnen so regeln, dass sie ein harmonisches Ganzes garantieren, das auch den Einzelnen erfreut, weil es sich lohnt, entsprechend zu leben.

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The Philosophical Self and the Identity of Philosophical Rationality1

The concept of the self (or the ego) and the concept of self-identity (or ego-identity) are among the central concepts of philosophy in its European tradition. The same holds true of the concept of rationality (or reason), the expressions of which are philosophy itself and the sciences. By the philosophical self, we mean on the one hand the formation of a personal identity through philosophical self-understanding, on the other hand a philosophically clarified concept of the self. This concept describes personal identity with regard to its phenomenal diversity, something - as we will see - set off against the concept of the ego which confines identity to its more abstract aspects. Termed self-identity or ego-identity, the concept of identity signifies the constitution of the individual - in the philosophical tradition treated under the concept of individuation. In contrast to the concept of the philosophical self, the concept of philosophical rationality (or reason) does not describe individual identity but the identity of philosophical reflection or rather of the underlying understanding of rationality (or reason). The question here is whether rationality is always the same, expressed by identity with itself, or whether it is subject to change in the sense that philosophical rationality (or reason) can be different, i. e., that different philosophical rationalities exist. Even then, the question arises as to what it is that establishes these different rationalities as rational and philosophical. In what follows, I will investigate these epistemological questions - starting from some historical reflections - and try to connect them: by the concept of philosophical identity.

1. There are many attempts in European philosophy to specify what it means to be an individual, or to define it. In order to answer the question as to what constitutes the individuality of an individual, principles of individuation have been formulated, e. g. form and matter (see Lorenz 1984b). For Aristotle and Thomas Aquinas, matter is the cause of the individuation of form. For Bonaventura, both matter and form constitute a principle of individuation (individuatio est ex communicatione materiae cum forma, Sent. Ill, d. 10, a 1, qu. 3, conci.). In contrast, according to Duns Scotus, a specific haecceitas („this-ness") functions as principle of individuation, by which a differentia individualis is expressed. Haecceitas defines directly the reality of individual entities (ultima realitas

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First published in a French version as „Le soi philosophique et l'identité de la rationalité philosophique" in: Edgardo D. Carosella et al. 2008, 203-212.

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entis and ultima actualitas formae; Quaest., lib. II, qu. 6, n. 15), it surmounts the logical difference between the merely conceptual infima species (i. e. the lowest species which therefore remains just a conceptual one) and the real individual. For example, the concept of humanitas, applied to Socrates, i. e. to the description of the essence or the form, is joined not by a more specific definition of matter as the individuating element, but the haecceitas Socratitas which is not further divisible conceptually. In this, as epistemology conceives it, individual entities in their specific singularity cannot be defined unequivocally by stating an entitas quidditativa, and therefore cannot be understood as conceptually constituted entities. This idea of individuation, given by the concept of haecceitas, already includes elements of the modern concept of individuality, or rather subjectivity.

2. This is also true for Leibniz whose theory of monads, in this respect, can be taken as perhaps the most sophisticated attempt to combine ontological and logical determinations. In his attempt to define individual substances, later (1686) termed monads, Leibniz uses the concept „that I have of myself (Leibniz 1686b, PS II, 52). He also refers to his theory of concepts which functions as the basis of his „analytical" theory of judgement: „No matter how often a predicate is truly affirmed of a subject, there must be some real connection between subject and predicate, such that in every proposition whatever, such as A is Β (or Β is truly predicated of A), it is true that Β is contained in A, or its concept is in some way contained in the concept of A itself' (Leibniz, PS VII, 300).2 The inesse relation between subject-concept and predicate-concept formulated here, which presents in syllogistic form the converse a-relation between concepts (Leibniz 1666, SSB 6/1, 183), is used in order to define the concept of substance: „This being so, we are able to say that this is the nature of an individual substance or of a complete being, namely, to afford a conception so complete that the concept shall be sufficient for the understanding of it and for the deduction of all the predicates of which the substance is or may become the subject" (Leibniz 1686c, § 8; PS VII, 433). Concepts of this kind are called complete concepts. Their function is to designate an individual substance. In accordance with the Aristotelian definition of individual substances by subject-concepts which themselves cannot occur as predicate-concepts, concepts which fulfil these designatory conditions are construed as individual concepts (notions individuelles) or as complete concepts (Leibniz 1686c, § 8; PS VII, 433), i. e., as concepts equivalent to the indefinite conjunction of predicates (attributes) appertaining to the individual they are attributed to. A complete concept is, therefore, a complex predicate which fulfils the conditions of a (complete) denotation: it is not empty, and there is only one individual to which it can be applied. Ambiguity is avoided precisely by the property of completeness (according to Leibniz's principle of the identity of indiscernibles there can be no two individuals which correspond in all their properties (see Lorenz 1969)), whereas for the fulfilment of the first condition an existential proof

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For a more detailed analysis, see Mittelstrass 1981.

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for a „possible" concept, i. e., for a concept which does not imply logical contradiction, is necessary. Difficulties arise in regard to the function of complete concepts as designators of (individual) substances from the fact that a complete concept is not, in fact, analysable. Its elements, including for example predicates for the spatial and temporal relations between the substance designated by its complete concept and other substances, are infinite (see Leibniz 1706, PS II, 300). As Leibniz says, individuality includes infinity (Leibniz 1705, III 3, § 6; SSB 6/6, 289). Complete concepts for abstract objects, for example animal rationale as a complete concept for homo, are an exception, because here the determination of an object is concluded by a definition. In this case, in which the concept is complete but the accompanying denotation is not infinite, Leibniz speaks of a notio plena instead of a notio completa (see Leibniz 1686b, PS II, 49). Furthermore, Leibniz occasionally restricts the meaning of a complete concept expressly to concrete individual substances (as opposed to abstract objects (sola [...] substantia singularis completum habet conceptum; Leibniz ca. 1695, 479 = Ph. VII Β IV, 13-14). Now, in the cases envisaged by Leibniz, an „infinitesimal" approximation to a complete concept, i. e., a formulation, with an arbitrary degree of precision, of a complex predicate of an individual substance is possible (see Leibniz 1686a, § 74; Opuscules, 376f.). What is meant is the following: If S is the complete concept of an individual substance or individual s, and Ρ is a conjunctive part of S, then the statement P(s) to a certain degree divides S into two parts, a known part Ρ and an unknown remainder S0 : P((SoP)s). In this case, too, the analysis of S is an infinite task when s is a concrete object or a concrete event (resolutio procedit in infinitum·, Leibniz 1688, PS VII, 309), but such a division can be made repeatedly, any number of times, resulting in an increasingly precise knowledge of S. In the context of Leibniz's „analytical" theory of judgement, this also means an increasingly complete reduction of contingent propositions to identical propositions (propositions in the form A est A or, after substitution of A by AB in the „virtually identical" case A est B, AB est B\ see Leibniz 1685, Opuscules, 513 and Leibniz 1689, Opuscules, 519) and thus to necessary propositions. The definition of an individual, i. e. of a substance individuelle, by the notion of a complete concept, is seconded by the so-called Leibniz's law which, typically, is given in two versions, a metaphysical (or ontological) one and a logical one. The metaphysical (or ontological) one runs: „il n'y a jamais dans la nature deux Etres, qui soyent parfaitement l'un comme I 'autre, et où il ne soit possible de trouver une difference interne, ou fondée sur une denomination intrinsèque" (Leibniz 1714, § 9; PS VI, 608); the logical one: „eadem sunt quorum unum in alterius locum substituí potest, salva ventate" (Leibniz 1679, PS VII, 219). Both versions are equivalent (see Lorenz 1969). However, the question about ego-identity or self-identity in its modern meaning, e.g. discussed in an anthropological and psychological context, that is, the question about the identity of a person with itself, remains open. This question is not yet answered by the (clarification of the) concept of identity as a logical relation that refers to well defined regions divided into individual entities (see Lorenz 1984a). To answer this question, the concepts of the ego and the self have to be further developed.

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3. The philosophical tradition takes up this issue by asking how the concept of the ego implies the existence of substances, i. e., a basis for all actions and ideas including that of self-consciousness. For Descartes and Leibniz, this was clear. According to Descartes, the cogito ergo sum marks the beginning of all knowledge, also self-knowledge or self-consciousness. According to Leibniz, the ego, in the form of the reflecting monad, is itself the condition that the concept of substance and, together with this concept, knowledge about the world (again perceived as the world of monads) can be established at all. While Kant's concept of a transcendental ego follows the classical concept of the ego in Descartes and Leibniz - without the assumption of an ego, knowledge about the world and about ourselves would be impossible - , Kant no longer understands the ego as substance. In reference to itself, the ego perceives itself as appearance (in Kant's terminology), not as substance, and it is empirically given only in this sense. With the concept of the transcendental subject, this idea gains epistemological significance as the principle of unity of knowledge and things: „For inner experience in general and its possibility, or perception in general and its relation to another perception, without any particular distinction or empirical determination being given in it, cannot be regarded as empirical cognition, but must be regarded as cognition of the empirical in general, and belongs to the investigation of the possibility of every experience, which is of course transcendental" (Kant 1781, Β 401). Self-consciousness, in this sense, means the ability of the subject to refer, with the intention of knowing, to its own object-related knowing. This, by the way, had already been expressed by Aristotle in the phrase „thought of thought" (νόησις νοήσεως) (Met. A9.1074b34). Kant uses the well-known formula „The I think must be able to accompany all my representations", followed by the explanation: „for otherwise something would be represented in me that could not be thought at all, which is as much as to say that the representation would either be impossible or else at least would be nothing for me" (Kant 1781, Β 132f.). From here the further development leads on the one hand, against the idealistic theory of the ego and self-consciousness, to a philosophy of concrete subjectivity - e. g. existentialist philosophy - , to a phenomenology of ego-perceptions (Husserl) and to psychological theories as well as analytical approaches on the other. In this development, the concept of the self is either identical with the concept of the ego or, in contrast to this concept, emphasizes the more phenomenological aspects of individual forms of existence and self-understanding. For Leibniz, it was self-reflection that makes it possible to say „/". Kant distinguishes between a determining self (thought) and a determinable self (the thinking subject) without associating this distinction with any distinctions between ego and self. In contrast to the identity of the ego by which more abstract aspects are emphasized - these aspects still influenced Husserl's concept of the transcendental ego - , the concept of the self, for instance in Heidegger, aims at the phenomenal variety of personal identity (the „authentically existing s e l f (Heidegger 1927, 130), „Dasein" [existence] as „being-within-the-world"). Closely related to the concepts of the ego and the self or rather the concepts of egoidentity and self-identity is the concept of reflection. This concept stands for the selfascertainment of the ego or the self, in epistemological terms for the „I think" which,

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according to Kant, accompanies all judgements and all activities of the understanding. Thought, in this respect, is self-reflexive by nature and, correspondingly, so is the cogitating ego and the cogitating self. A further step is made by Fichte when he says that in thinking the ego creates itself. Here, the ego is perceived as absolute ego, as pure self-performance that even constitutes in itself the difference between ego and non-ego, i. e. nature. With this, a logical level is reached where it is no longer the constitution of the individual that is at stake (according to the concepts of ego-identity and self-identity) but, as in Kant in an epistemologica! framework, the constitution of a philosophical ego or philosophical self - in Kant's terminology: the constitution of a transcendental subject. The identity of this subject consists in the fact that it is neither the particular (empirical) subject nor the universal (theoretical) subject, but the condition of both. In this sense, Wittgenstein writes: „The subject does not belong to the world, but it is a limit of the world" (Wittgenstein 1922, Tractatus 5.632). Wittgenstein here refers to the individual subject, but his statement is also precisely true in view of the fact that the acting ego (Kant: the determining ego), in its performances, cannot be grasped theoretically (see Lorenz 1995). This is precisely what is expressed in the concepts of reflectivity and the transcendental. In a different but also familiar terminology, the question about the identity of philosophical reflection can also be raised as the question about the identity of philosophical rationality or philosophical reason.

4. When we speak here about rationality, we do so not in the sense of a means-endsrationality, but as a concept of reason that includes the notion of foundation and justification (of ends and means) and represents itself as a life form or as the basis of a life form. Connected with this is the notion of universality, i. e. the notion of the unity of rationality or reason which already guides the Greek enlightenment (Socrates, Plato and others) and finds its systematic expression in Kant's philosophy. In contrast to this concept, we find the thesis of a plurality of rationalities - as a kind of protection against totalitarian claims and (the argument goes) for the defence of humanity (see Lyotard 1979 and Lyotard 1983). Humanity here is supposed to be threatened by a universal concept of rationality. However, even within the criticism of a universal concept of rationality, in order to identify rationalities as being real rationalities, the idea of rationality or of reason manifests itself, i. e. a rationality that cannot be divided and that can be understood as an indication of a deeper-seated unity of reason. This unity comprises (in Kant's terminology) the unity of theoretical reason (being the source of universalizable principles of knowing) and practical reason (being the source of universalizable principles of action). Theoretical reason determines knowledge, practical reason determines the will. Together they constitute the identity of reason. To put it differently: the notion of the identity of philosophical reflection becomes the notion of the identity of philosophical reason (or philosophical rationality). The identity of philosophical reason (or philosophical rationality) unfolds as a set of principles which again themselves form a unity. Thus, reason is simultaneously a prin-

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ciple of universality (against claims of validity on the basis of origin, social class, gender, race, etc. and against a pluralistic understanding of reason - and rationality), a principle of transsubjectivity (reason transcending pure subjectivity), and a principle of legitimation (referring to claims of validity that cannot be relativized). In these aspects, reason (or philosophical rationality) is not only a principle of philosophy, but also a principle of the formation of knowledge and the will in general. From a historical perspective, the idea of the identity (or unity) of philosophical reason or of the identity (or unity) of philosophical rationality expresses itself, for example, through the concept of spirit in German idealism. Here, it is no longer ego-identity or self-identity that constitutes the identity of the individual, but a kind of trans-individuality that nevertheless is meant to remain describable in terms of self-consciousness. In this sense, Schelling speaks of an „original union of infinity and finiteness" in the concept of spirit (Schelling 1796, 367), Hegel of an absolute spirit in which spirit comprehends itself - after, first of all, having perceived, as subjective spirit, its abilities, and after having created, as objective spirit, the moral world (with its institutions like the state and the law) (Hegel 1817/1830). What is described here as self-comprehension of the spirit, is nothing else than the attempt to express, in a rather speculative form (and in speculative terminology) the self-constitution of reason (or philosophical rationality) and its identity. The philosophical self, described earlier, is where this constitution takes place and where the unity or identity of reason (or philosophical rationality) discloses its identity - its identity as the reason or rationality to which, as a Utopian horizon, all forms of knowledge formation and setting of objectives remain directed.

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Gegenstand und Selbstbezug Zur individuellen Komponente der Erkenntnis im Anschluss an Kant

Dass es vom Individuellen keine Wissenschaft geben kann, ist unbestreitbar, da sie, als Wissenschaft, das Allgemeine zum Gegenstand hat. Ohne Widerspruch dazu kann man aber auch sagen, jede Wissenschaft sei, in ihrem konkreten Bezug auf Allgemeines, individuell, da sie von Individuen ausgeübt und gestaltet wird. Volker Gerhardt hat darauf aufmerksam gemacht, dass man im Gebrauch der Begriffe immer auch sich selbst, d. h. seine eigene Individualität zur Sprache bringt (Gerhardt 1999, 150). Wörter haben nur Bedeutung, wenn sie als Begriffe „gebraucht" werden, und dieser Gebrauch ist wesentlich eine Handlung des Subjekts bzw. der Subjekte, die sie in ihrer besonderen Weise für ihre Zwecke auf Objekte beziehen (vgl. KrV Β 300). - Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die innere Einheit von Gegenstandskonstitution und Selbstbezug für die Kantische Kritik des Erkenntnisvermögens grundlegend ist. Sie bestimmt auch das gegenwärtige Verständnis des Erkenntnisprozesses.

I Mit den Fortschritten der modernen Naturwissenschaften als besonderen, durch ihre eigenen Methoden gekennzeichneten Erkenntnisprozessen ist die umfassendere philosophische Frage nach allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit von „Erkenntnis überhaupt" zurückgetreten. Kants Name steht dagegen für die „transzendentale" Reflexion auf Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis „überhaupt". Damit ergibt sich die Frage, ob und inwiefern die transzendentale Erörterung des Erkenntnisvermögens selbst schon als Erkenntnis beansprucht werden kann. Wenn es zu den Bedingungen der Möglichkeit von „Erkenntnis überhaupt" gehören soll, dass sie von räumlichen und zeitlichen Anschauungen im Raum und in der Zeit ausgeht - d. h. für „ uns Menschen wenigstens " von sinnlich (und nicht intellektuell) Angeschautem - und dasjenige, „worauf alles Denken als Mittel abzweckt", ebenfalls „die Anschauung" sein soll, kann die Antwort auf die transzendentale Frage nach Bedingungen von Erkenntnis „überhaupt" selbst noch keine Erkenntnis sein (KrV Β 33). Sie geht nicht von Anschauungen aus, sondern von der „transzendentalen" Fragestellung, wie Erkenntnis „überhaupt" als möglich gedacht werden könne. Ausdrücklich unterscheidet Kant, wenn in dieser Deutlichkeit auch erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, zwischen „Anschauung überhaupt" und „unserer" sinnlichen Anschauung. Eine sinnliche Anschauung ist eine Anschauung, in der „uns Menschen" etwas „sinnlich ", d. h. in demselben Raum und der derselben Zeit gegeben ist, „darinnen" wir uns selbst befinden (KrV Β 38). Unsere sinnliche Anschau-

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ung ist in dem Kontext der transzendentalen Erörterung, in dem es um das Denken der Möglichkeit von Erkenntnis „überhaupt" geht, als die Anschauung eines Subjekts gedacht, das sich selbst in dem Raum und in der Zeit befindet, „darin" es anschaut. Das sind also nicht der Raum und die Zeit, die in metaphysischen Erörterungen der Begriffe des Raumes und der Zeit aus dieser Befindlichkeit heraus vorgestellt werden (KrV Β 39). Insofern unterscheidet das Subjekt sich nicht nur begrifflich, sondern ästhetisch, d. h. individuell und damit unterhalb jedes möglichen Begriffs durch seinen Standpunkt in Raum und Zeit a priori von anderen Subjekten. Die „Vorstellung", dass ich, wenn ich denke, unvermeidlich von meinem eigenen Standpunkt im Raum und in der Zeit aus denke, muss - wie es dann in der Kantischen Deduktion der reinen VerstandesbegrifFe heißt - „alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht", d. h. von mir nicht auf Begriffe gebracht werden könnte, und das hieße, dass die betreffenden Vorstellungen „entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts" seien. Alles „Mannigfaltige der Anschauung" hat, ohne selbst schon in einen bestimmten Gedanken gefasst zu sein, eine notwendige Beziehung auf das „ich" denke in seiner begriffslosen und insofern ästhetischen Selbstunterscheidung von anderem „ich". Diese selbstbezügliche Einheit besteht „in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird" (KrV B132f.). Man kann nur seine eigenen Vorstellungen haben. Von den Vorstellungen der anderen kann man prinzipiell nur versuchen, sich von sich aus ein Bild zu machen. Aber auch diese Vorstellungen von den Vorstellungen der anderen sind meine Vorstellungen. Das alle meine Vorstellungen begleitende „Ich" ist ein Akt meiner eigenen, selbstbewussten Spontaneität. Als freier Akt kann er jedoch, wenngleich er standpunktbedingt ist, „nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden" (KrV Β 132). Damit ist die gemeinschaftliche Wurzel von Anschauung und Denken erreicht und eigentlich auch schon der Grund für den Freiheitsbegriff gelegt.1 Darum geht es Kant aber hier noch nicht explizit. Kant nennt diese selbstbezügliche, begrifflich aber nicht zu fassende Vorstellung, um sie von der empirischen Apperzeption des Bewusstseins zu unterscheiden, auch die „reine" oder „ursprüngliche" Apperzeption. Er kann sie im Zusammenhang mit der Deduktion der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe so nennen, weil sie in diesem Zusammenhang als dasjenige Selbstbewusstsein gedacht ist, das die Vorstellung „ich denke", die alle anderen, auf Objekte bezogenen Vorstellungen begleiten können muss, „aus sich heraus" und insofern begriffslos „hervorbringt". Insofern ist sie in allem Bewusstsein „ein und dasselbe" und kann „von keiner [anderen] weiter begleitet", d. h. nicht unter einen (allgemeinen, spezifizierenden) Begriff gefasst werden (vgl. KrV Β 132). Das ist der entscheidende Gesichtspunkt der transzendentalen Überlegung. Die begriffslose Unterscheidung meiner Vorstellungen von denen der anderen ist grundlegend für die transzendentale Erörterung der Frage, wie synthetische Urteile als möglich und 1

Vgl. KrV A 15: „Nur so viel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden."

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die allgemeinen Formen unserer Urteilsbildung als objektiv gültig gedacht werden können. Es muss also festgehalten werden, dass es sich bei dieser Erörterung nicht um empirische, etwa psychologische oder anthropologische Befunde handelt, sondern um transzendentale Erörterungen, in denen es sich gerade nicht um eine positiv-inhaltliche Erkenntnis - ζ. B. des Raumes und der Zeit, des menschlichen Denkens usw. - handeln soll und auch nicht handeln kann. Somit kann es auch nicht um die Frage der Verträglichkeit der Kantischen Begriffe von Raum und Zeit mit mathematischen Räumen und mit naturwissenschaftlichen Strukturen zu tun sein. Es trifft - wie Kant dann später in der Metaphysik der Sitten schreibt - auch hier schon zu, dass es „Unfug" sei, Begriffe, die „in der Kritik d. r. V. selbst nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind, [...] auch außerhalb derselben zum öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen" (Kant 1797, 208). Die Kritik der reinen Vernunft bezieht sich nicht auf einen „öffentlichen Gedankenverkehr", sondern auf den besonderen Zweck, die Möglichkeit objektiver Erkenntnis als denkbar aufzuweisen, und damit bezieht sie sich auf ein vernünftiges Bedürfnis. Sie erfüllt diesen besonderen Zweck, und zugleich führt sie, als Kritik der reinen Vernunft, zu der Einsicht, „alles unser Begreifen" sei „nur relativ, d. h. zu einer gewissen Absicht hinreichend", aber schlechthin" begriffen wir „gar nichts" (Kant 1800, 65). „Ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit" ist schon rein logisch „nicht möglich; es ist sogar in sich selbst widersprechend" (Kant 1800, 50). Was hier zu den Begriffen des Raumes und der Zeit gesagt wird, gilt demnach auch für die Mathematik und fur deren Anwendung in der Naturwissenschaft. Schon in der frühen Schrift „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" schreibt Kant, „nichts" sei für die Philosophie „schädlicher gewesen" „als die Mathematik, nämlich die Nachahmung derselben in der Methode zu denken, wo sie unmöglich kann gebraucht werden" (Kant 1764, 283). So kann z. B. nicht davon ausgegangen werden, dass ein bestimmter Begriff des Raumes, so wie er in der Mathematik und in deren Anwendung in den empirischen Wissenschaften sinnvoll sein kann, auch in einer transzendentalen Erörterung gelte. Die transzendentalen Begriffe des Raumes und der Zeit sollen die Möglichkeit der Mathematik als einer synthetischen, auf Objekte bezogenen Erkenntnis a priori erklären. Deshalb ist nach Kant in den empirischen Wissenschaften auch „nur soviel eigentliche ", vom subjektiven Standpunkt abgelöste Wissenschaft, „als darin Mathematik anzutreffen ist" (Kant 1786, 470). Die Mathematik verleiht den empirischen Wissenschaften erst ihre formale Struktur. Damit wird deutlich, dass die „transzendentale Elementarlehre" - also der weitaus umfangreichere Teil der Kritik der reinen Vernunft - ihr systematisches Ziel in der „transzendentalen Methodenlehre" hat, in der von der „Disziplin" der reinen Vernunft (vgl. KrV Β 736ff.), nämlich von dem „letzten Zweck" ihres Gebrauchs und unter diesem Titel dann auch von den verschiedenen Modi des (subjektiven) Fürwahrhaltens die Rede ist.2 Man hält in seiner Urteilsbildung „etwas" nicht schlicht für wahr oder falsch, 2

Vgl. KrV Β 108f.: „Der Definitionen dieser Kategorien überhebe ich mich in dieser Abhandlung geflissentlich, ob ich gleich im Besitz derselben sein möchte. Ich werde diese Begriffe in der Folge bis auf den Grad zergliedern, welcher in Beziehung auf die Methodenlehre, die ich bearbeite, hinreichend ist."

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sondern differenzierter für möglich, für wirklich oder für notwendig. Dabei nennt Kant das Fürmöglichhalten „Meinung", das Fürwirklichhalten „Glauben" und das Fürnotwendighalten „Wissen" (vgl. KrV Β 848ÍF.). Auf die genaueren Bestimmungen dieser Unterscheidungen, die für Kants Erkenntnisbegriff grundlegend sind, wird weiter unten eingegangen. Im Rahmen der Kritik haben sie ihren Ort in der transzendentalen Methodenlehre, auf die die Elementarlehre ausgerichtet ist und ihren Sinn erhält. Ein Urteil ohne Angabe der Modalität als der besonderen Art seiner Beziehung auf Objekte (vgl. KrV Β 300) ist unter kritischem Aspekt allein schon seiner Form nach unvollständig.3 Unter diesem transzendentalen Gesichtspunkt der (subjektiven, wesentlich standpunktbedingten) Urteilsbildung haben selbst die Kategorien des reinen Verstandes keine definitiv angebbare Bedeutung. Auch sie werden nur „bis auf den Grad" zergliedert, „welcher in Beziehung auf die Methodenlehre" der reinen Vernunft „hinreichend ist" (KrV Β 108f.), d. h. in dem es dem urteilsbildenden Subjekt aus seiner Sicht und für seinen Zweck als hinreichend erscheint. Hier kann es also nicht mehr darum gehen, ob etwas „an sich" möglich, wirklich, oder notwendig sei, sondern nur noch darum, ob es als möglich, als wirklich oder als notwendig zu halten bzw. zu denken sei. Dabei spielt das Benennen eine wichtige Rolle. Es steht für subjektive Zusammenfassungen und Unterscheidungen, die selbst keine objektive Begründung beanspruchen können, aber für die Erörterung der transzendentalen Frage nach der Denkmöglichkeit synthetischer Urteile a priori benötigt werden. Empirisch lässt sich diese Frage nicht beantworten. Sie betrifft die Modi des subjektiven Fürwahrhaltens, so wie sie in den Urteilen formuliert werden. Was einer für möglich hält, mag ein anderer für wirklich und wieder ein anderer von seinem Standpunkt aus für notwendig halten. Kant unterscheidet in diesem transzendentalen Kontext das Meinen, das Glauben und das Wissen als drei Stufen des insgesamt subjektiven Fürwahrhaltens. Auch das Wissen ist demnach immer noch subjektiv bedingt. Es unterscheidet sich, gemäß den Voraussetzungen, unter denen es sein Urteil für notwendig hält, von anderem Wissen als einem Fürnotwendighalten von einem anderen (räumlich-zeitlichen) Standpunkt aus. Kant kann deshalb auch sagen, es sei „eine und dieselbe Spontaneität, welche dort unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung" bringe (KrV Β 162, Anm. Hervorhebung v. Vf.). Wir verwenden anstelle hinreichend bestimmter Begriffe, die wir zu keiner Zeit definitiv „haben", eigentlich immer nur Namen, die sich im konkreten Sprachgebrauch angesichts „fremder Vernunft" (vgl. KrV Β 849) erst noch als Begriffe erweisen müssen. - Dem entspricht der Hegelsche Satz, es sei „in Namen" (und nicht in Begriffen) „daß wir denken" (Hegel 1830, § 462). Kant spricht auch von Dichtungen der Einbildungskraft, die jedoch unter der „strengen Aufsicht der Vernunft" stehen sollen (KrV Β 798). Sie soll nicht mehr an Dichtungen zulassen, als für eine hinreichende Erklärung der Möglichkeit von Erkenntnis erforderlich ist. Unter diesem Aspekt gibt es keine definitiven Begriffsbestimmungen empirischer, d. h. Gegenstände benennender Begriffe. Die Bedeutungen empirischer Be3

Nach Hegel ist dann „die Form des Satzes oder bestimmter des Urteils" als solche schon „ungeschickt, das Konkrete - und das Wahre ist konkret - [...] auszudrücken; das Urteil ist durch seine Form einseitig und insofern falsch" (Hegel 1830, § 31).

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griffe, die in den Wissenschaften wie im Leben zum gemeinsamen Handeln benötigt werden, sind als „intersubjektiv" gemeinsame Begriffe (conceptus communis) vorauszusetzen, und es muss sich jeweils im Gebrauch zeigen, ob und inwieweit sich diese Voraussetzung erfüllt. Die Zwecke des einen sind nicht notwendig auch die eines anderen, und das Verständnis des einen muss deshalb auch nicht notwendig mit dem eines anderen übereinstimmen. Ob das der Fall ist, muss sich jeweils erst zeigen. „Menschen, die der Sprache nach einig sind", können auch nach Kant „in Begriffen himmelweit von einander abstehen", und das wird nur „zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar" (Kant 1798, 193). „Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bewußtseins, in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht notwendig und allgemein geltend" (KrV Β 140). Die definitive Verbindlichkeit inhaltlicher Begriffe bleibt gerade in dem Interesse, im Gebrauch der Sprache gemeinsame Begriffe zu finden, in Frage gestellt. Kant setzt in seinen transzendentalen Überlegungen deshalb auch nicht anthropologisch bei einem „Wesen" des Menschen an, sondern bei dem „ich denke", das „alle meine Vorstellungen muß begleiten können", ohne von einer anderen Vorstellung „weiter begleitet werden" zu können (KrV Β 13If.). Damit löst er schon in dem Versuch, die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zu denken, den rein theoretisch verstandenen Erkenntnisbegriff durch einen pragmatischen ab. Er verdeutlicht das statt in Begriffen an einem einfachen Beispiel: Ein Arzt „muß bei einem Kranken, der in Gefahr ist, etwas tun, kennt aber die Krankheit nicht. Er sieht auf die Erscheinungen und urteilt, weil er nichts Besseres weiß, es sei die Schwindsucht. Sein Glaube ist selbst in seinem eigenen Urteile bloß zufällig, ein anderer möchte es vielleicht besser treffen." - Kant nennt solch einen „zufälligen Glauben, der aber dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewissen Handlungen zum Grunde liegt, den pragmatischen Glauben" (KrV Β 852). Der theoretische Glaube ist ein subjektives Fürwahrhalten ohne praktische Bedeutung. In dem angeführten Beispiel ist vorausgesetzt, dass einer etwas besser treffen könnte als ein anderer und dass einer eher als ein anderer bereit ist, sich auf sein Urteil zu verlassen, je nachdem, was für den einen oder den anderen „dabei im Spiele ist" (KrV Β 853). Das allgemeine Diktum, dass „der Verstand die Erfahrung nicht überfliegen dürfe" bzw. dass „wir" „Dinge an sich" nicht erkennen könnten, abstrahiert von solchen individuellen Besonderheiten und Modifizierungen der individuellen Urteilsbildung. Das ist aber, wie auch Hegel es versteht, eine „exoterische" Lehre der Kantischen Philosophie" (Hegel 1812, I, 3). Nach ihrem esoterischen Verständnis - und d. h. hier: nach ihrem Verständnis im Zusammenhang transzendentaler Erörterungen - lassen sich Verstand und Erfahrung nicht trennen. Nach Kant soll man sich ein Urteil nur dann bilden, wenn es dem Urteilenden aus seiner individuellen Sicht als praktisch geboten erscheint. „Ohne noth" soll man nicht urteilen, sondern sein Urteil ,in suspenso' lassen (Kant, Nachlaßreflexion 2588).4 Aber wenn man „aus moralischen Gründen" ein Urteil fällen 4

Vgl. auch Kant (1800, 54): „Die Natur hat uns zwar viele Kenntnisse versagt", „aber den Irrthum verursacht sie doch nicht. Zu diesem verleitet uns unser eigener Hang zu urteilen und zu entscheiden".

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muss und es „nicht in suspenso bleiben darf: so ist dieses Urtheil nothwendig" (Kant, Nachlaßreflexion 2446). Im moralischen Gebot der praktischen Vernunft liegt im kritischen Sinn die eigentliche Notwendigkeit. Damit ergibt sich ein neuer Begriff von Notwendigkeit, der sich bis in die Kritik der Gottesbeweise hin durchhält. Ein Urteil über einen transzendenten Gegenstand kann demnach nicht gebildet werden. „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann" (KrV Β 332f.). Nicht der Begriff, unter den ein Gegenstand gefasst ist, sondern die räumliche Anschauung bewirkt, dass wir uns das Beurteilte als etwas „im Räume" und damit als etwas „außer uns" vorstellen (KrV Β 37). Wenn ich von der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit und damit auch davon, dass ich mich selbst im Raum und in der Zeit befinde, wenn ich urteile, abstrahiere, hat die Synthesis der Begriffe zu Urteilen „ihren Sitz" rein im Verstände. Dass dies so sei, kann unter kritischem Aspekt immer nur pragmatische Gründe haben. Sonst halten nur verschiedene Namen auseinander, was in der transzendentalen Überlegung um der Denkmöglichkeit synthetischer Urteile a priori willen und damit um der Denkmöglichkeit der Objektivität schon der allgemeinen Formen oder Kategorien unserer Urteilsbildung willen als dasselbe verstanden wird, ζ. B. wenn wir „sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori" (KrV Β 197). Wir können das sagen, weil wir uns hier innerhalb einer transzendentalen Überlegung befinden, in der ihrem Begriff nach nichts darüber gesagt werden kann, was der Raum und die Zeit, ζ. B. als Gegenstände einer Naturwissenschaft, definitiv seien.

II Was einer Person ihrer Erfahrung nach als deutlich genug erscheint, um in Handlungszusammenhängen, je nachdem, was „dabei im Spiele ist", für wahr oder falsch gehalten werden zu können, kann einer anderen dafür immer noch als zu undeutlich erscheinen. Das Bewusstsein der kommunikativen Differenz der Personen ist konstitutiv fur das Personsein der Subjekte. Jeder Erfahrung liegt eine frühere Erfahrung voraus, die man entweder selbst schon „gemacht" hat oder die einem durch andere vermittelt worden ist. Demnach kann es in der Erfahrung nicht um definitive, sondern immer nur um standpunktbedingte, vorläufige „Wahrheiten" zu tun sein, also um die Verdeutlichung vorgegebener empirischer Begriffe, nicht „ad esse", sondern „ad melius esse" (KrV Β 759 Anm.). Die persönliche Differenz - die der eigenen Person im Verlauf der Zeit wie die zwischen verschiedenen Personen - ist „im Prinzip" unaufhebbar. Nur ein disziplinierter, methodischer, gemeinschaftlicher Gebrauch bestimmter „Grundbegriffe", deren Definition ζ. B. in einzelnen Wissenschaften vorausgesetzt ist, kann eine Übereinstimmung gewährleisten, aber auch hier nur solange, wie solche Voraussetzungen als „Disziplin" 5 gelten.

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Zum Begriff der Disziplin vgl. KrV, Transzendentale Methodenlehre, 1. Hauptstück.

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Hegel hat dann mit seiner Phänomenologie des Geistes der Differenz der Personen ein ganzes Buch gewidmet, das zunächst als eine Einleitung in seine „Logik" gedacht war. Im Verlauf dieser „Phänomenologie" als der Bewusstwerdung besonderer historischer Erscheinungsweisen des Geistes erfahrt das Bewusstsein, dass es sich nicht unmittelbar oder voraussetzungslos auf Gegenstände beziehen kann. Eine Unmittelbarkeit als das bloße „Jetzt" und „Hier" der Anschauung lässt sich nicht halten. Mit dem Wechsel der Perspektiven verändert sich vielmehr auch der Gegenstand, und der ihn in begrifflichen Bestimmungen festhaltende Verstand erfährt sich als individuelle „Kraft" des Fürwahrhaltens. 6 Er erfährt die andere Anschauung anderer Subjekte. Das verändert den Erfahrungsbegriff. Grundlegend ist dabei - für Hegel wie eigentlich auch schon für Kant - also nicht die Erfahrung von Gegenständen, sondern die Erfahrung verschiedener subjektiver Gesichtspunkte bei der Erfahrung von Gegenständen. Unter diesem Aspekt kann Hegel dann auch - als Grundlegung seiner dialektischen Logik - von einem Begriff sprechen, den das Bewusstsein nicht „hat", sondern der es „ist ". Der Begriff ist, nach diesem Begriff vom Begriff, „individuelle Persönlichkeit" (Hegel 1812, II, 220). Indem es andere sich gegenüber als „fremde Vernunft" erfahrt, erfährt es auch sich selbst als fremde für andere. Bei Hegel führt diese Erfahrung zum „Wort der Versöhnung" der als unaufhebbar erfahrenen Differenzen und damit zum Begriff des absoluten Geistes. „Das Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, - ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist" (Hegel 1806,471).

III Diese Erfahrung findet aber nicht erst bei Kant ihre philosophische Beachtung. Sie wurde zu einem grundlegenden Thema der Philosophie, als die theologisch verstandene Vermittlung der Einheit im Verstehen nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden konnte. Schon für Descartes, mit dem man gewöhnlich die neuere Philosophie beginnen lässt, war es z. B. nur noch eine rhetorische Frage, wer denn wirklich nicht wisse, was Bewegung sei (quis ignorât quid sit motus?), d. h. wer bei solchen grundlegenden Begriffen noch nach deren Bedeutung frage (Descartes 1684, XII, 23). Alle vermeintlich rein theoretische Erkenntnis (des Wesens) von etwas geht also auch hier bereits von einem allgemein vorauszusetzenden Vorverständnis aus, das im traditionellen metaphysischen Sinn aber eigentlich kein Wissen mehr ist. Es ist hier schon bedacht, dass es nicht möglich ist, zur Vermeidung von Vor-Urteilen zu objektiven „Anfängen" vor aller Erfahrung zurückzugehen. Wenn man, wie Kant, davon ausgeht, dass rein objektiv begründbare Definitionen der Begriffe nur innerhalb der Mathematik möglich sind, insofern in ihr ihre Definitionen zugleich als Konstruktionsanweisungen gedacht sind, folgt daraus, wie bereits erwähnt, dass in den empirischen Naturwissenschaften nur „so

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Vgl. Hegel ( 1806), Kraft und Verstand.

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viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden" kann, „als darin Mathematik anzutreffen" ist. Die die einzelnen Wissenschaften spezifizierenden Grundbegriffe nennt Kant „abgesonderte, obzwar an sich empirische Begriffe" (Kant 1786, 470 und 472). Descartes fand ein absolut sicheres Fundament aller Erkenntnis nur noch im cogito sum, und von da aus im Gedanken eines vollkommenen Wesens, das uns in seiner Vollkommenheit nicht täuschen will. Gewiss ist dieses „ich bin" für ihn aber nur, „solange ich denke" (quandiu cogito), und ungewiss bleibt dabei immer noch, was ich denn (meinem wahren Wesen nach) sei. Descartes fragt deshalb zunächst einmal, was er denn „vordem" zu sein geglaubt habe, und wenn er dann antwortet, „doch wohl ein Mensch", könnte man immer noch weiterfragen, was denn „ein Mensch" sei bzw. was dieses Wort bedeute und wann oder womit das Menschsein anfange oder aufhöre. Soll man dann sagen, als Mensch sei man „ein vernünftiges, lebendes Wesen?" Dann könnte man ja immer noch fragen, was ein „lebendes Wesen" und was „vernünftig"' sei bzw. was diese Wörter bedeuteten. Statt an ein „definitives" Ende zu kommen, geriete man „aus einer Frage in mehrere und noch schwierigere". Bezeichnenderweise bezieht Descartes sich hier auf die Zeit, wenn er sagt, er hätte „nicht soviel Zeit" oder Muße (tantum otii), dass er sie mit derartigen Spitzfindigkeiten vergeuden möchte (Descartes 1641, II, 6 und 5). Jede dieser Definitionsstufen könnte man aus der räumlich-zeitlichen Befindlichkeit, aus der sich die Fragen ergeben haben, als die letzte, hier und jetzt hinreichend deutliche Bestimmung gelten lassen, ohne jemals eine definitiv letzte zu finden. Der Zweck der Frage und die für die Antwort verfügbare Zeit bestimmen, ebenso wie in dem angeführten Arztbeispiel Kants, zusammen mit der Überlegung, was „dabei im Spiele" sei, die Analyse des Begriffs, der gemäß man glaubt, etwas ohne weitere Fragen nach der Bedeutung der Begriffe zumindest vorläufig für wahr halten zu können. Das absolute Festhalten an einem bestimmten Fürwahrhalten wäre dogmatisch. Es setzte einen extramundanen Standpunkt voraus, der dann per definitionem kein Standpunkt mehr wäre.

IV Kant nennt die Einheit, unter die „alle meine Vorstellungen" dadurch gefasst sind, dass es meine (und nicht die der anderen) sind, „die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins", „um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen", und damit nennt er statt einer weiteren Verdeutlichung der verwendeten empirischen Begriffe den transzendentalen Zweck. Die Bewegung des Begriffs vom Angeschauten als dem, was in einer konkreten „Befindlichkeit" zum besseren Bestimmen gegeben ist, zu einem Begriff, der hier und jetzt als hinreichend deutlich angesehen werden kann, erfolgt „in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird" (KrV Β 132). Das Subjekt bleibt in all seinem Denken auf seine Anschauungen und damit auf sich selbst als ein anschauendes, in Raum und Zeit befindliches Subjekt zurückbezogen. Dadurch, dass es seine Urteile in suspenso halten kann und, soweit sie nicht moralisch gefordert sind, in suspenso halten soll, bleibt es im Denken frei, und dass es sie, wenn es will, in suspenso halten kann, macht seine Freiheit als urteilendes Wesen aus. Es entscheidet in

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eigener Verantwortung, ob und wie es seine Erfahrungen gegenüber anderen äußert oder doch „besser" in suspenso hält. Da es darin frei ist, kann das nicht Gegenstand einer Anschauung sein, und darauf kann dann auch keine Kategorie des Verstandes angewandt werden. 7 Wer in seinem Fürwahrhalten von anderen überredet worden ist, hält sich selbst für überzeugt, sonst wäre er nicht überredet. Der allgemeine „Probierstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist also, äußerlich, die Möglichkeit, dasselbe mitzuteilen, und das [eigene] Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden; denn alsdann ist wenigstens eine Vermutung, der Grund der Einstimmung aller Urteile, ungeachtet der Verschiedenheit der Subjekte untereinander, werde auf dem gemeinschaftlichen Grunde, nämlich dem Objekte, beruhen, mit welchem sie daher alle zusammenstimmen und dadurch die Wahrheit des Urteils beweisen werden." „Überredung" kann „von der Überzeugung subjektiv zwar nicht unterschieden werden, wenn das Subjekt das Fürwahrhalten bloß als Erscheinung seines eigenen Gemüts vor Augen hat; der Versuch aber, den man mit den Gründen desselben, die für uns gültig sind, an anderer Verstand macht, ob sie auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung tun, als auf die unsrige, ist doch ein, obzwar nur subjektives, Mittel, zwar nicht Überzeugung zu bewirken, aber doch die bloße Privatgültigkeit des Urteils, d. i. etwas in ihm, was bloße Überredung ist, zu entdecken" (KrV Β 848f.).

V Nach Wilhelm von Humboldt gehört die Sprache dann „nothwendig zweien" an, die sich nicht in die Vorstellung nur eines Subjekts zusammenfassen lassen. Wenn zwei Personen übereinzustimmen scheinen, könnte immer noch ein „dritter Mensch" dazukommen, der das Gesagte anders oder für sich noch nicht hinreichend verstanden hat, um es als wahr oder falsch beurteilen zu können. „Erst im Individuum erhält die Sprache" dem Kantianer Humboldt gemäß „ihre letzte Bestimmtheit" (Humboldt 1836, 63 und 65). Eine definitive Übereinstimmung verschiedener Subjekte im Selben kann es außerhalb der Mathematik und des Bereiches verbindlicher definitorischer Setzungen und Voraussetzungen (so wie in den Wissenschaften) nicht geben. Nietzsche notiert dann im Nachlass, es sei „wesentlich", die „Rolle des ,Bewußtseins' " nicht falsch zu verstehen. Es sei „unsere Relation mit der Außenwelt, welche es entwickelt" habe, als

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Vgl. KrV Β 149: „Allein das ist doch kein eigentliches Erkenntnis, wenn ich bloß anzeige, wie die Anschauung des Objekts nicht sei, ohne sagen zu können, was in ihr denn enthalten sei; denn alsdann habe ich gar nicht die Möglichkeit eines Objekts zu meinem reinen Verstandesbegriff vorgestellt, weil ich keine Anschauung habe geben können, die ihm korrespondierte, sondern nur sagen konnte, daß die unsrige nicht für ihn gelte. Aber das Vornehmste ist hier, daß auf ein solches Etwas auch nicht einmal eine einzige Kategorie angewandt werden könnte; ζ. B. der Begriff einer Substanz, d. i. von Etwas, das als Subjekt, niemals aber als bloßes Prädikat existieren könne, wovon ich gar nicht weiß, ob es irgend ein Ding geben könne, das dieser Gedankenbestimmung korrespondierte, wenn nicht empirische Anschauung mir den Fall der Anwendung gäbe."

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ein „Mittel der Mittheilbarkeit „in Hinsicht auf Verkehrs-Interessen". Unterhalb des Bewusstseins wirke „eine Art leitendes Comité, wo die verschiedenen Hauptbegierden ihre Stimme und Macht geltend machen". „Lust" und „Unlust" wie auch der „ Willensakt" und „die Ideen" seien „Winke aus dieser Sphäre" (Nietzsche, KSA 13, 67f.). Damit zeigt sich auch bei Nietzsche gegenüber jeder begrifflichen Synthesis eine nicht in Begriffe zu fassende, ästhetische Differenz unterhalb des untersten Begriffs. Auch hier bleibt die Reflexion, ob man mit bestimmten anderen, so wie man selbst sie versteht, überhaupt übereinstimmen oder seine Erfahrungen doch besser „in suspenso halten" will. Nietzsche nennt unter diesem Aspekt das Individuum „etwas Absolutes" (Nietzsche, KSA 10, 663). Auch philosophische Texte finden demnach ihre letzte Begründung in einzelnen Personen. Niemand muss ein Interesse an der Frage haben, wie synthetische Urteile a priori als möglich gedacht werden können, und was Interessierte als Antwort auf diese Frage gelten lassen, richtet sich nach deren jeweiligen Orientierungsbedürfhissen. Man muss die Einheit der Vorstellung „Ich denke" nicht die „transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins" nennen, um „die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen" (KrV Β 132). Kant gesteht „frei", dass die Erinnerung an David Hume seinen „dogmatischen Schlummer unterbrach" und seinen „Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab" (Kant 1803, 260). Die Kantische „Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena" (KrV Β 294ff.) hat ihren „Grund" allein in der transzendentalen Überlegung, wie, d. h. unter welchen Voraussetzungen gedacht werden könne, dass Erkenntnis überhaupt (für uns Menschen) möglich sei. Nur in diesem besonderen Zusammenhang - und nicht etwa im „täglichen Leben" - hat es einen Sinn, diesen Unterschied zu machen, und nur um dieser Unterscheidung willen müssen wir über „Noumena" reden, ohne sie als etwas Seiendes voraussetzen zu können. Diese Notwendigkeit ergibt sich nicht erst im Kontext der praktischen Philosophie. Sie ist bereits in der Kritik der theoretischen Vernunft angelegt. In dieser Kritik heißt es in einer Anmerkung, die „eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld)", „selbst die unseres eigenen Verhaltens", bleibe uns „gänzlich verborgen". Wir können davon keine Anschauung haben, die sich, so wie Kant sie versteht, auf etwas bezieht, das uns in Raum und Zeit „gegeben" ist, und deshalb könne „niemand ergründen", „wie viel" von unseren Handlungen Wirkung der Freiheit und „wie viel" der Wirkung „der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei". Deshalb könne auch niemand „nach völliger Gerechtigkeit richten" (KrV Β 579 Anm.). Die persönliche Zurechnung von etwas als Verdienst oder Schuld oder dessen Beurteilung als Naturgeschehen bleibt diesem kritisch-philosophischen Kontext gemäß Sache verantwortlicher Personen in ihrem Verhältnis zueinander. Unter kritischem Aspekt geht es nicht mehr darum, ob der Mensch substantiell frei ist, sondern darum, als wie frei und als wie determiniert einer sich selbst oder andere in bestimmten Fällen glaubt beurteilen zu sollen. Im Umgang miteinander sollen wir die Unterscheidung zwischen Freiheit und Naturbedingtheit machen, um „Raum" oder „Platz" zu schaffen für anderes Denken, das sich von anderen Standpunkten aus orientiert und „seine" Gegenstände bestimmt. Mit der

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Kennzeichnung der Art unseres Fürwahrhaltens modifizieren wir den Wahrheitsanspruch unserer Urteile, um sie auch fur andere Personen kommunikabel zu machen. Die vorkritisch-metaphysisch als Modi des Seienden verstandenen Modalitäten sind, unter kritischem Aspekt, Modi des Fürwahrhaltens bzw. Stufen der Einschränkung des Urteils gegenüber anderen Personen. Dass man sein Urteil möglichst in suspenso halten soll, führt dann auch zu der Unterscheidung der abgestuften Modi des Fürwahrhaltens als Meinung, Glauben und Wissen, so wie sie sich in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft und in der Kantischen Logik findet (KrV Β 848ff.; Kant 1800, 65ff.). „Meinung" nennt Kant ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Man hält etwas für möglich. Wenn es nur für subjektiv zureichend, aber fur objektiv unzureichend gehalten wird, bezeichnet er es als einen „Glauben". Man hält dann etwas für wirklich und ist bereit, selbst daraufhin zu handeln, ohne dies unbedingt auch anderen zuzumuten. Nur das sowohl subjektiv als auch objektiv zureichende Fürwahrhalten heißt nun noch „ Wissen ". Auf Grund von Erkenntnissen, von denen man sich persönlich nicht denken kann, dass sie widerlegbar seien, hält man etwas für notwendig. Kant sah sich genötigt, das Wissen im rein objektiven Sinn „aufzuheben", um „zum Glauben", aber auch um für die (freie) Meinung „Platz zu bekommen" (KrV Β XXX). 8

VI Für Kants Philosophie ist grundlegend, dass er sein „ganzes kritisches Geschäft" mit der Kritik der Urteilskraft als beendet ansieht, um von dort aus „ungesäumt zum doktrinalen [zu] schreiten" (Kant 1790, Vorrede, X). Das doktrinale Geschäft bzw. die Metaphysik, von der Kant zuvor gesagt hatte, er habe das „Schicksal", in sie „verliebt zu sein" (Kant 1766, 367), steht nunmehr auf dem Boden der Kritik. Somit bedarf das Erkenntnisvermögen „zu seiner eigenen Beförderung selbst im theoretischen Erkenntnisse doch der Vernunft". Sie gibt die Regel, „nach welcher es allein befördert werden kann", wenn man es denn im konkreten Fall in der Beziehung auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung für notwendig hält. Unter dieser Voraussetzung kann man den Anspruch, den die Vernunft an das Erkenntnisvermögen stellt, „in die drei Fragen zusammenfassen": „Was will ich? (frägt der Verstand) Worauf kommts an? (frägt die Urteilskraft) Was kommt heraus? (frägt die Vernunft.)" Es erscheint nun nicht mehr als ungewöhnlich, dass der Verstand hier als Organ des Willens bezeichnet wird. Er kann nicht alles erkennen wollen, sondern immer nur das, auf dessen bessere Bestimmung es der Urteilskraft ankommt, unter Beachtung der mo8

„Bedeutung" ist deshalb auch nicht, wie dann wieder bei Frege, der Gegenstand bzw. das Objekt, sondern die Beziehung aufs Objekt" (KrV Β 300, Hervorhebung durch J. S.).

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raiischen Frage, was dabei herauskomme, und nicht der metaphysischen Frage, was es sei, denn unter kritischem Aspekt kann keine empirische Erkenntnis rein objektiv zu Ende gebracht werden. Unter diesem Aspekt ist der Verstand auch schon Urteils-Kraft, und es muss sich zeigen, ob sie stark genug ist, sich auch die dritte Frage zu stellen. Die verschiedenen „Köpfe", die einzelnen Personen, seien jedoch „in der Fähigkeit der Beantwortung aller dieser drei Fragen sehr verschieden". Die erste Frage erfordere „nur einen klaren Kopf, sich selbst" (seinen Willen) „zu verstehen; und diese Naturgabe" sei „bei einiger Cultur ziemlich gemein; vornehmlich wenn man darauf aufmerksam" mache. Die zweite Frage „treffend zu beantworten" sei schon „weit seltener", denn es böten sich auch in derselben Kultur „vielerlei Arten der Bestimmung des vorliegenden Begriffs und der scheinbaren Auflösung der Aufgabe dar". Der entscheidende Gesichtspunkt sei jedoch die Antwort auf die dritte Frage: der allgemeinvernünftige Gesichtspunkt, was dabei herauskomme. Den Willen in der ersten Frage will Kant hier noch nicht als moralisches Wollen, sondern bloß „im theoretischen Sinn" verstanden wissen, als die Frage, „was will ich als wahr behaupten?" (Kant 1798, 227 und Anm.). Die Urteilskraft ist, wenn sie fragt, worauf es ankomme, die Kraft des Fürwahrhaltens unter dem kritischen Aspekt, dass Denken und damit auch Urteilen „ohne Beschränkung des Subjects" nicht möglich sei (Kant 1796, 400, Anm.), so dass schon im Objektbereich eine Auswahl getroffen werden muss. Wer denkt, denkt wesentlich von seinem raumzeitlich bestimmten Standpunkt aus und hat von daher ein spezifisches Erkenntnisinteresse. Kant nennt schon in der Kritik der reinen Vernunft die Urteilskraft ein „Talent", „welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will". Der „Mangel an Urteilskraft" sei „eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen" sei „gar nicht abzuhelfen" (KrV Β 172 und Anm.). Auf dem Hintergrund der drei kritischen Werke kann nun gesagt werden, dass für „die Klasse der Denker" - also auch hier nicht gleichermaßen für alle - „folgende Maximen" „zu unwandelbaren Geboten gemacht werden: 1) Selbst denken. 2) Sich (in der Mittheilung mit Menschen) in die Stelle jedes Anderen zu denken. 3) Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken. Das erste Princip ist negativ (nullius addictus iurare in verba Magistri), das der zwangsfreien Denkungsart. Es ist auch das Motto der Aufklärung. Das „zweite ist positiv, der liberalen, sich den Begriffen Anderer bequemenden" Denkungsart, das dritte ist das „der consequenten (folgerechten) Denkungsart" (Kant 1798, 228f.). Unter den Bedingungen kritischen Denkens kann es diesen drei Prinzipien zufolge nicht mehr um eine „Übereinstimmung" mit einem außersprachlichen Gegenstand gehen und auch nicht um eine „Annäherung" des Denkens an solch einen „transzendenten" Gegenstand. Es geht vielmehr um eine Disziplin der Vernunft, in der sie ihre eigenen Grenzen bedenkt und berücksichtigt. - „Selbstdenken" ist das wirklich Allgemeine im Denken. Es denkt sich in der Gewissheit seiner selbst und nicht in der einer anderen Person, von der man sagen könnte, dass sie „dasselbe" denke wie man selbst.

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S i c h an d i e S t e l l e j e d e s a n d e r e n z u d e n k e n b e d e u t e t , d a s s d a s D e n k e n j e d e m a n d e r e n D e n k e n „ S e l b s t d e n k e n " n i c h t nur z u g e s t e h t , s o n d e r n e b e n s o w i e v o n s i c h s e l b s t verlangt. N i c h t in p o s i t i v e r Ü b e r e i n s t i m m u n g , s o n d e r n i m B e w u s s t s e i n s e i n e r Differenz

sinnlichen

z u a n d e r e m D e n k e n ist d a s D e n k e n m i t s i c h s e l b s t „ e i n s t i m m i g " . „ S i n n l i c h "

heißt n a c h K a n t „in u n s e r e r E r k e n n t n i s alles, w a s b l o s s u b i e c t i v gilt" (Kant, N a c h l a ß r e f l e x i o n 2 1 6 1 ) . N u r die reinen Formen

der A n s c h a u u n g l a s s e n s i c h bei allen als d a s -

s e l b e d e n k e n , u n d a l s s o l c h e m ü s s e n s i e i m Interesse e i n e s k r i t i s c h e n D e n k e n s v o r a u s g e s e t z t w e r d e n . V o n d e n Inhalten

der A n s c h a u u n g , d. h. v o n d e n V o r s t e l l u n g e n anderer

hat m a n nur s e i n e e i g e n e n V o r s t e l l u n g e n . D i e s e kritische E i n s i c h t hat u n m i t t e l b a r prakt i s c h e K o n s e q u e n z e n . S i e b e s t i m m t die S o r g f a l t i m D e n k e n und d i e V e r a n t w o r t l i c h k e i t im Urteilen.

Bibliographie Descartes, René (1641): Meditationes de prima philosophia. Leipzig 1913: Felix Meiner. Descartes, René (1684): Regulae ad directionem ingenii. La Haye 1966: Nijhoff. Gerhardt, Volker (1999): Individualität. Das Element der Welt. In: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Band 8. Berlin: Akademie Verlag, 141-162. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1806): Die Phänomenologie des Geistes, hg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1955: Felix Meiner. Sechste Auflage. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1812): Die Wissenschaft der Logik. In: Sämtliche Werke, hg. v. Georg Lasson. Bände III-IV. Leipzig 1923: Felix Meiner. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1830): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). In: Gesammelte Werke, hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 20, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas. Hamburg 1992: Felix Meiner. Humboldt, Wilhelm von (1836): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, im Auftrag der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Albert Leitzmann. Band VII, 1. Berlin 1907: Behr Verlag. Kant, Immanuel (1764): Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. In: Kants gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [AA]. Erste Abtheilung, Band II. Berlin 1905: Verlag Georg Reimer. Kant, Immanuel (1766): Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. In: AA. Erste Abtheilung, Band II. Berlin 1905: Verlag Georg Reimer. Kant, Immanuel (1781): Kritik der reinen Vernunft, Erste Auflage. In: AA. Erste Abtheilung, Band IV. Berlin 1911: Verlag Georg Reimer. Kant, Immanuel (1786): Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. In: AA. Erste Abtheilung, Band IV. Berlin 1911 : Verlag Georg Reimer. Kant, Immanuel (1787): Kritik der reinen Vernunft, Zweite Auflage. In: AA. Erste Abtheilung, Band III. Berlin 1904: Verlag Georg Reimer. Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilskraft. In: AA. Erste Abtheilung, Band V. Berlin 1913: Verlag Georg Reimer. Kant, Immanuel (1796): Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. In: AA. Erste Abtheilung, Band VIII. Berlin und Leipzig 1923: Walter de Gruyter & Co.

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ROBERT Β . PIPPIN

Nietzsches neue Psychologie als „Erste Philosophie" Das Problem der Selbsttäuschung1

I Der Titel meines Beitrags weist bereits daraufhin, dass dieser Text Teil eines Projekts ist, in dem der Versuch unternommen wird, Nietzsches Aussage zu verstehen, man solle der Psychologie nicht nur als einem wichtigen Forschungsbereich Aufmerksamkeit schenken, sondern sie solle als „Herrin der Wissenschaften" anerkannt werden und „wieder der Weg zu den Grundproblemen" sein (JGB, KSA V 38-39). Er geht sogar so weit zu sagen, „die übrigen Wissenschaften" seien zum „Dienste" und zur „Vorbereitung der Psychologie" da (ibid.). Damit behauptet er letztlich, dass die Psychologie und nicht die Metaphysik oder die Epistemologie , jetzt" „wieder" als die erste Philosophie im Sinne Aristoteles' verstanden werden sollte. Eine derartige Untersuchung verlangt offenkundig zweierlei. Erstens brauchen wir eine gewisse Vorstellung von dem, was Nietzsche unter Psychologie und insbesondere unter einer psychologischen Erklärung versteht. Zweitens müssen wir verstehen, warum seiner Meinung nach die Antworten auf Fragen dieser Art in einem logischen Sinn den Wahrheitsaussagen über die Natur oder philosophischen Aussagen über das Sein als Sein usw. vorangehen. Schon die erste Frage ist schwierig genug und erstreckt sich in vielerlei Richtungen. Ich möchte mich hier bloß auf eine Dimension konzentrieren, die allerdings für alles, was Nietzsche über die Motivation und eine psychologische Erklärung sagen will, von wesentlicher Bedeutung ist.2

II

Nietzsche stellt häufig das von ihm so genannte „Bewußtsein" den von ihm so genannten „Instinkten" gegenüber. Eine typische These dazu kann man in der Vorrede zur zweiten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft und im ersten Buch desselben Textes finden. Hier ein Zitat aus der Vorrede: „Die unbewußte Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen, geht bis zum Erschrecken weit ... Hinter den höchsten Werturtheilen, von denen bisher die Geschichte des Gedankens 1 2

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Wiebke Meier. Eine ausführlichere Diskussion des ersten Punkts kann in Pippin (2006) gefunden werden.

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geleitet wurde, liegen Mißverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen ..." (FW, KSA III 348). Und im elften Aphorismus des Ersten Buches heißt es: „Die Bewußtheit ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran ... Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! ... Diese lächerliche Überschätzung und Verkennung des Bewußtseins hat die große Nützlichkeit zur Folge, daß damit eine allzuschnelle Ausbildung desselben verhindert worden ist ... Es ist immer noch eine ganz neue ... Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinktiv zu machen ..." (FW, KSA III 382-383). Oder im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft: „Dein Urtheil ,so ist es recht' hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und NichtErfahrungen" (FW, KSA III 561). Thesen dieser Art über die doppelte Natur der menschlichen Psychologie stehen hinter vielen von Nietzsches bekanntesten Thesen; dass die Philosophie in Wirklichkeit das persönliche psychologische Bekenntnis des Autors sei oder, wohl am berühmtesten, dass ursprünglich und vielleicht auch jetzt der Grund für die Bindung an die christliche Religion kein echter Glaube an die Offenbarung ist und auch nicht bewusste Rechtfertigungen und Motive oder religiöse Erfahrungen sind, selbst wenn der Fromme selbst ernsthaft daran glaubt. Vielmehr wurde die christliche Bewegung ursprünglich von Juden getragen, die als psychologischer Typus eher schwach und unterwürfig waren, unter der Autorität der römischen Herren litten, aber trotzdem „kreativ" genug waren, um einen Weg zur Rebellion zu finden. Das Motiv der Rebellion war jedoch nicht das, was sie sich selbst bewusst zuschrieben, sondern befand sich gewissermaßen unterhalb des Gewussten, im Ressentiment und im Haß auf ihre Herren. (So ist in Nietzsches paradoxer Sichtweise die Tatsache, dass der doktrinale Gehalt der neuen Religion „die Liebe zum Feind" erforderte, eine reagierende Strategie, die durch den bitteren Hass auf die Feinde motiviert ist, durch das Ressentiment.) Auf diese Weise konnten die Juden ihre Schwäche und ihre Feigheit als Frömmigkeit und Demut deuten und das Selbstvertrauen und die Unabhängigkeit ihrer Herren als sündige Eitelkeit und Egoismus verurteilen. Viele Interpreten Nietzsches sehen diese Darstellung als ein Beispiel unter vielen fur eine allgemeine These und für einen allgemeinen, psychologisch reduktionistischen Ansatz. Dieser Ansicht zufolge meint Nietzsche, dass das menschliche Verhalten immer und überall am besten mit Bezug auf die fundamentalen menschlichen Triebe zu erklären sei, die das Verhalten unabhängig von bewussten Einschätzungen und Motiven determinierten. Ja, das Verhalten sei durch einen Hauptinstinkt determiniert, den „Willen zur Macht", eine Art stets präsenten, aber unbewussten Trieb oder Conatus zur Macht, im weitesten, auf den Menschen bezogenen Sinn verstanden als der Wille, nicht dem Willen anderer unterworfen, aber in der Lage zu sein, andere dem eigenen Willen zu unterwerfen. (Für Kommentatoren, die diesen Standpunkt vertreten, ist nicht leicht zu erklären, was bei Nietzsche „determinieren" genau heißen könnte, wenn man davon

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ausgeht, dass er kausalen Erklärungen sehr skeptisch gegenübersteht und seine These von allen anderen Doktrinen über einen freien oder unfreien Willen abgehoben wissen will.) Es gibt viele Möglichkeiten, diesen Punkt darzustellen, aber nach allgemeiner Auffassung stellt das Bild des grausamen Triebes, dem alle anderen untergeordnet oder auf den sie gar zurückzufuhren sind, den Kern der Nietzsche'schen These von einem omnipräsenten, unbarmherzigen, mitleidlosen, rohen Trieb zu herrschen dar, der überall sichtbar ist, besonders in Handlungen und Praktiken, die scheinbar durch genau entgegengesetzte Motive begründet sind. Manche Kommentatoren gehen, inspiriert durch die Fragmente eines von Nietzsche ihrer Meinung nach geplanten Opus magnum, Der Wille zur Macht, noch weiter und halten eine derartige „Kraft" in der gesamten organischen Welt, nicht nur im Menschen, sondern auch in Tieren, Pflanzen, Zellen usw. für universal präsent.

III Doch bei diesen und ähnlichen Bemerkungen sollten wir vor allem darauf achten, dass Nietzsche sich häufig sehr bemüht, deutlich zu machen, dass er nicht einfach zwei Positionen einander gegenüberstellt: einerseits den Anspruch des bewussten Geistes, er könne das, was ein Handelnder tut, wenn er sich auf bewusst angeführte Gründe bezieht, mit dem erklären, was andererseits als wirkliches Explikans einer solchen Handlung gelten sollte, nämlich die fundamentalen somatischen instinktiven Antriebe, die uns auf einen bestimmten Handlungsverlauf so hinlenken, dass dieser unwiderstehlich erscheint, und dass er dabei nicht über etwas so Unkompliziertes und Gewöhnliches wie die Heuchelei spricht. Er sagt auch, dass diese Triebe oder Instinkte oder unter- bzw. vorbewussten Motive auf eine Art und Weise funktionieren, die ganz entschieden nicht zugegeben wird; sie sind verborgen, nicht bloß unbemerkt oder jenseits bewusster Kontrolle. Die These ist merkwürdig. Wenn ich hungrig oder durstig oder ärgerlich auf meine Vorgesetzten oder von romantischer Leidenschaft gepackt bin, dann ereignet sich das alles kaum hinter dem Rücken meines Bewusstseins; mir ist sehr deutlich bewusst, dass ich hungrig oder ärgerlich oder erregt bin. Und wenn ich genetisch auf Süßigkeiten determiniert bin, scheint das kaum ein Umstand zu sein, von dem man sagen sollte, er sei verborgen, weil er unbewusst ist. (Eine solche Wahrheit kann ich mit der Zeit erkennen, und ich kann versuchen, sie, die Wahrheit, zu verbergen, das führt aber, wie wir sehr bald sehen werden, zu vielen neuen Paradoxen.) Die Lage ist sogar noch komplizierter, denn Nietzsche lässt seine Ansicht, wir seien diejenigen, die die Wahrheit verbergen, ebenfalls klar erkennen. Wenn ich zudem innerhalb eines komplexen Feldes von Handlungen, die von Trieben, deren ich mir nicht bewusst bin, determiniert oder verursacht werden, dazu veranlasst werde, Worte auszusprechen, körperliche Aktionen durchzuführen, loyal gegenüber Freunden zu sein usw., wenn ich also eigentlich rebelliere und nicht weiß, dass ich rebelliere, ist schwerlich zu erkennen, wie mir aus der Rebellion eine psychologische Befriedigung erwachsen könnte. Triebe haben, mit anderen Worten, einen intentionalen Gehalt, und das heißt, sie können das Psychologische nicht von „außerhalb des Psychologischen" determinieren, als außerpsychologisches Phänomen,

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wenn sie ein Verhalten erklären sollen. Und dieser letzte Punkt (den ich gleich näher erläutern werde) steht in einer gewissen Spannung zu der vorher zusammengefassten konventionellen Auffassung. Das heißt, während solche Thesen zu den gängigen Bestandteilen jeder zusammenfassenden Darstellung Nietzsches gehören, ist die logische oder psychologische Dynamik, von der er ausgeht, eindeutig sehr ungewöhnlich. Die wirklichen Motive sind Nietzsche zufolge häufig genau das Gegenteil von dem, was man offen bekennt, auch wenn es ganz ehrlich gemeint ist, und was am problematischsten ist, die wirklichen Motive sind deswegen verborgen, weil der Handelnde sie verbirgt. So ist der „Entsagende" eigentlich kein reiner Asket, er ist auch ein „Bejahender" (FW, KSA III 400). Ein Mensch, der bescheiden sein will, der von sich selbst meint, er handle bescheiden, versucht in Wirklichkeit, seine Ansicht von sich selbst als einem Überlegenen zu manifestieren und täuscht sich darüber hinweg, warum er so handelt, wie er handelt. Ein Mensch, der von sich selbst sagt, er sei von Großzügigkeit motiviert, weil es recht sei, so zu handeln, und großzügig handelt, ist in Wirklichkeit durch das Begehren motiviert, andere von sich abhängig zu machen (FW, KSA III 476). Christliche Nächstenliebe ist eine Form von Hass (ZGM, KSA V 268-269). Der Großmütige ist „ein Mensch des äussersten Rachdurstes" (FW, KSA III 415). Freundlichkeit und Mitleid können oft Akte der Verachtung sein, eine Möglichkeit, die Objekte der eigenen Aufmerksamkeit kleiner und geringer erscheinen zu lassen; tatsächlich ist die Bindung an unbedingte Pflichten, als Autonomie verstanden, eine Form „feinerer Servilität" (FW, KSA III 377). Das allgemeine Prinzip wird in der Fröhlichen Wissenschaft deutlich formuliert. „Unbewußte Tugenden. - Alle Eigenschaften eines Menschen, deren er sich bewusst ist - und namentlich, wenn er deren Sichtbarkeit und Evidenz auch für seine Umgebung voraussetzt - , stehen unter ganz anderen Gesetzen der Entwickelung als jene Eigenschaften, welche ihm unbekannt oder schlecht bekannt sind und die sich auch vor dem Auge des feineren Beobachters durch ihre Feinheit verbergen und wie hinter das Nichts zu verstecken wissen" (FW, KSA III 380). Die Formulierung: „wie hinter das Nichts zu verstecken wissen" macht die Schwierigkeiten, auf die Nietzsche sein Hauptaugenmerk richten und die er untersuchen will, ganz deutlich. Denn es hat den Anschein, dass die psychologischen Phänomene, die Nietzsche interessieren (und die viele seiner französischen Vorbilder in der Psychologie interessierten), nicht akkurat klassifiziert werden können, weder als Determination des bewussten Denkens und der Wahl durch nicht-bewusste physische Triebe noch als Werk unbewusster Begehren und Impulse, zumindest nicht mit Hilfe einer Interpretation der primären Prozesse Freuds. (Dazu gleich mehr.) Besonders deutlich wird das, wenn Nietzsches Rhetorik zu einer Verurteilung der Unredlichkeit und Feigheit derjenigen wird, die ihre Bindung an christliche und säkularisierte christliche oder humanistische Werte bekennen, da die fraglichen Subjekte in einem bestimmten Sinn wissen müssen, was sie tun - selbst wenn sie es vor sich selbst verbergen - , um überhaupt einer Kritik ihrer Redlichkeit unterworfen werden zu können. Nur dadurch wird es möglich, sie zu beschämen, und nur deshalb gibt es auch eine Hoffnung auf eine „Umwertung".

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Mit anderen Worten sagt Nietzsche häufig explizit, dass die Phänomene, an denen er interessiert ist, die Phänomene der Selbsttäuschung sind. (Wenn er über den Sklavenaufstand spricht, erwähnt er ein ähnliches Phänomen, das genauso verblüffend und paradox wie die Selbsttäuschung ist: dass der Aufstand gegen die Herren gerichtet war, doch die Sklaven sie „natürlich in effigie" angriffen (ZGM, KSA V 264). Ähnlich verblüffend ist hier, wie ein Angriff in effigie überhaupt befriedigend sein kann. Wir stellen uns auch nicht in einem Anfall von Irrsinn vor, dass die verbrannte Atrappe wirklich der Fußballtrainer ist) Ein Beispiel dafür findet sich in seiner Erörterung der Eleaten und ihres Versuchs, ihre Philosophie einer höchst rationalen Ordnung zu einer Philosophie des Lebens zu machen: „Um diess Alles aber behaupten zu können, mussten sie sich über ihren eigenen Zustand täuschen ... sie hielten sich die Augen dafür zu, dass auch sie im Widersprechen gegen das Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren" (FW, KSA III 470). Von Bedeutung ist hier die Formulierung „sie hielten sich die Augen zu". Und in der Diskussion der französischen Debatte des 17. Jahrhunderts über das Drama und die Aristotelischen Einheiten erfindet er einen künstlichen Begriff, um zu erklären, was er in diesem Phänomen als psychologisch besonders wichtig hervorheben will: die „Hinzulügner". „... man log sich Gründe vor, um derenthalben jene Gesetze bestehen sollten, blos um sich nicht einzugestehen, dass man sich an die Herrschaft dieser Gesetze gewöhnt habe und es nicht mehr anders haben wolle ... es sind die Hinzu-Lügner" (FW, KSA III 401). In allen Büchern aus Nietzsches reifer Schaffensperiode, in Also sprach Zarathustra, Zur Genealogie der Moral und besonders in Jenseits von Gut und Böse, steht dieses psychologische Phänomen im Zentrum seines Interesses und ist auch sein wichtigster Bezugspunkt, wenn er darauf insistiert, dass die traditionellen interpretierenden Begriffe des Manifesten und des Verborgenen, oder des Augenscheins und des Wesens ungeeignet seien, um das Phänomen zu erfassen. Ich würde argumentieren, dass Nietzsche den Fehler, diesem Phänomen einen strikten Dualismus zuzuordnen, mit dem Fehler gleichsetzt zu glauben, dass das, was in einem literarischen Text verborgen ist, einfach „extrahiert" und in literarischer Form sichtbar gemacht werden kann, so als sei das Ziel der Kritik die Paraphrase. Im Beispiel von den jungen ägyptischen Grabräubern sagt er: „Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht" (FW^ KSA III 352). Auch in einem psychologischen Fall bedeutet Interpretation nicht einfach herauszufinden, was verborgen daliegt, als suche man nach der Ursache eines Symptoms. Wichtig ist, dass das bewusste Selbstverständnis ein versuchtes Ausweichen vor einem anderen und wahreren Selbstverständnis ist, und ebenso wichtig ist, dass dieses Letztere verborgen ist. Um die Abläufe zu verstehen, müssen wir beide Aspekte beachten. Es ist also wichtig für die strittige psychologische Bedeutung,

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und die Rolle einer solchen Selbstzuschreibung kann aus der Ökonomie des Handelns nicht ausgeschieden werden. Um nun also die Komplexität des von Nietzsche gezeichneten Bildes noch zu vergrößern: Zur angemessenen Erklärung und Bewertung des Handelns ist nicht nur das wichtig, was verborgen ist, sondern wir haben auch zu berücksichtigen, wie das verborgen ist, was verborgen ist. Auch das teilt uns sehr viel darüber mit, was ein Handelnder unternimmt. So heißt es in § 44 der Fröhlichen Wissenschaff. So wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der Glaube an diese oder jene Motive, also das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres Tuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch Wesentlicheres fur den Erkennenden. Das innere Glück und Elend der Menschen ist ihnen nämlich je nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zu Theil geworden - nicht aber durch Das, was wirklich Motiv war (FW, KSA III 410-11).

IV

Wir wollen nun zu der Frage zurückkehren, warum Nietzsches Behauptung nicht so zu verstehen ist, als gebe es eine kausale Determination durch somatische Kräfte „außerhalb" des Psychologischen. Man denke sich einen Fall, wo es ganz plausibel wäre, das Psychologische mit Hilfe eines Bezugs auf das Nicht-Psychologische zu erklären. Man stelle sich folgenden psychologischen Versuch vor. Einer Gruppe von College-Studenten wird mitgeteilt, dass sie an einer Untersuchung zu moralischen Bewertungen teilnehmen werden. Sie schauen Videos an, in denen Schauspieler moralische Verstöße darstellen, diese reichen von geringfügigen (Notlügen) über ernstere (Stehlen eines Laptops) bis hin zu krassen Verstößen (Gewaltverbrechen). Sie erhalten einen Maßstab und sollen die Bedeutung des Verstoßes einordnen. Man stelle sich nun vor, dass eine Gruppe von Studenten in einen Vorführraum gebracht wird, der unglaublich unsauber ist: Alte Lebensmittelverpackungen und Pizzakartons sind überall verstreut, Papiere und Notizzettel fliegen herum, der Boden klebt von vergossener Cola usw. Die andere Gruppe bringt man in einen Raum von jungfräulicher Reinheit, strahlend vor Sauberkeit und vollkommen aufgeräumt. Das Experiment ergibt, dass die Studenten in dem unordentlichen Raum in ihren Beurteilungen viel milder sind als die andere Gruppe oder verschiedene Kontrollgruppen in anderen Räumen, die sich hinreichend deutlich unterscheiden, so dass man sicher sein kann, dass die Unordnung der beeinflussende Faktor ist. Ich bezweifle, dass wir sagen würden, die nachsichtigen Studenten „wollten" unbewusst ihre Urteile mit der Unordnung der Umgebung in Einklang bringen oder wollten unbewusst dem entsprechen, was sie über die Absichten der Organisatoren des Raums vermuteten oder etwas dergleichen. Wollen, Beabsichtigen oder Versuchen, egal auf welcher Bewusstseinsebene, gehören nicht zum Bild. Sowohl bewusst angewandte Bewertungsmaßstäbe als auch unbewusste Gründe oder Motive für die Einhaltung solcher Maßstäbe, in diesem Fall der ganze Bereich psychologischer Kandidaten für Erklärungen, scheinen nicht relevant zu sein. Sie tun nichts und versuchen nicht, etwas zu tun. Ihnen widerfährt etwas, was das beeinflusst, was sie für eine Entscheidung halten, und

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dieses Etwas beeinflusst den Prozess, wie ich sage, von „außen". Irgendein Stichwort verändert sich oder, man könnte sagen, unterbricht und lenkt den Entscheidungsprozess exogen, so wie wir das von einer Droge sagen könnten, wenn wir herausfinden, dass sie die Menschen viel weniger moralisch urteilen lässt. Ich denke, dass die bereits vorgelegten Textstellen deutlich gemacht haben, dass Nietzsche keine „außerpsychologische" Triebtheorie annimmt; er will aber als jemand angesehen werden, der eine komplexere psychologische Erklärung vorlegt, komplexer als das, was der Handelnde bewusst bekennen würde, die aber noch, um im Bild zu bleiben, „innerhalb" des psychologisch Erklärbaren liegt. (Man kann sich selbst nicht beliigen, wie in der Hinzu-Lügner-Stelle, ohne die Wahrheit irgendwie zu kennen, wie man die Augen vor etwas verschließt, was man gesehen hat und sehen kann, oder wie man sich selbst betrügt.) Und das fuhrt uns zu einem anderen möglichen Modell für eine derartig komplexe Psychologie - dem Freudschen Begriff des Unbewussten. Und hier scheint es offensichtlich viele Ähnlichkeiten zu geben, bei Fragen wie der „Verinnerlichung", dem Schmerz und den nicht vorhersagbaren Konsequenzen von Unterdrückung und der Sublimation, viele davon sind schon häufig genannt worden. Und es gibt zahlreiche Textstellen wie die, mit der wir begonnen haben, wo Nietzsche von solchen Dingen als einer „unbewussten Verkleidung" spricht. Das Ausmaß der Ähnlichkeiten hängt jedoch davon ab, wie man Freud interpretiert. Ganz einfach formuliert heißt das: Es gibt, parallel zu der eben erörterten Frage, auch zwei Möglichkeiten, den Freudschen Begriff des Unbewussten zu skizzieren. Zum einen ist eine Berufung auf das Unbewusste zur Erklärung einer menschlichen Aktion eine dramatische Ausdehnung des Bereichs des Psychologischen. Gewiß können verschiedene pathologische Symptome jemanden aussehen lassen, als sei er krank, so wie das Atmen durch eine Infektion oder die Fahrtüchtigkeit durch Alkohol beeinträchtigt werden kann. Aber Freuds Genialität in diesem Punkt bestand darin, dass er zeigen konnte, dass die Symptome, unter denen man leidet, als psychologisch motivierte Taten verstanden werden konnten, die man ausführen wollte; sie konnten als Handlungen verstanden werden und nicht bloß als natürliche Ereignisse oder als Erleiden. Wenn ich aus unvernünftiger Furcht vor Katzen zurückschrecke und ständig von dem Gedanken gequält werde, überall könnte eine auf mich lauern, und ich keine überzeugende Erklärung für eine derartige Phobie habe, kann man von mir sagen, ich hätte einen Grund für ein solches Vermeidungsverhalten, aber einen Grund, der mir nicht zugänglich ist. (Vielleicht „versuche" ich „zu beweisen", dass ich nicht das seltsame Bedürfnis habe, mich mit Katzen zu paaren, oder ich versuche dadurch, verschiedenen Begehren nach meiner Mutter auszuweichen, die ich immer mit Katzen assoziiere, was auch immer). Unbewusst habe ich einen Grund oder ein Motiv. Mein Handeln bleibt psychologisch erklärbar, doch das Psychologische ist nun ausgeweitet worden und schließt unbewusste Motive und Ziele und Begehren ein. Andererseits kann man das Unbewusste, den Ort des primären Prozesses, als eine Art radikal unabhängigen, zweiten Geist denken, nur dass in diesem Fall die Triebe, die für einen solchen materiellen Geist typisch sind, mehr einer wilden, nicht intentionalen Kraft gleichen, die in den bewussten Geist eindringt und ihn beeinflußt. Nach diesem Modell muss man davon sprechen, dass ich von einer materiellen Kraft ergriffen wor-

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den bin, etwas hat von mir Besitz ergriffen. Ich kann von mir nicht sagen, etwas zu versuchen, denn es gibt keine begründete Irrationalität. Werde ich beharrlich von zudringlichen Gedanken heimgesucht, dann versuche ich nichts, wenn ich meine Aufmerksamkeit obsessiv auf den entsprechenden Inhalt richte; in meinem geistigen Schaltkreis ist etwas durcheinander geraten, etwas geschieht mir. Was auch immer in unserem Experiment fur die Änderung und Lenkung des bewussten moralischen Urteils verantwortlich ist, muss man mit diesem zweiten materiellen Geist, der das Psychologische von „außen" beeinflusst und lenkt, vergleichen. Wieder bin ich der Meinung, dass die zitierten Textstellen und viele andere, die man noch zitieren könnte, zeigen, dass Nietzsches Darstellung als freudianisch bezeichnet werden kann, aber nur dann, wenn wir behaupten, dass seine Rede von Instinkten und Trieben und unbewussten Motiven dem frühen, psychologisch expansiven Freud viel näher steht als dem Freud des zweifachen Geistes, der „unter materiellen Kräften leidet". Doch wenn das der Fall ist, müssen wir, ehe wir fortfahren, uns mit einem offenkundigen, vielleicht entscheidenden Einwand gegenüber einem derartigen Modell des Geistes auseinandersetzen.

V Rüdiger Bittner formuliert diesen Einwand mit der fur ihn charakteristischen Schonungslosigkeit in einem Artikel über „Ressentiment". Er stellt eine einfache Frage zum kanonischen Verständnis des Sklavenaufstands in der Moral. „Man versteht schwerlich, warum Menschen unter solchen Umständen eine derartig falsche Geschichte erfinden sollten. Sie wissen, daß es bloß eine Geschichte ist. Denn schließlich haben sie selbst sie erfunden" (Bittner 1994, 130). Bittner räumt ein, dass man das Phänomen, das Darstellungen wie die Nietzsches voraussetzen, für weit verbreitet hält, wie in La Fontaines berühmter Fabel vom Fuchs, der nicht hoch genug springen kann, um an die Trauben zu gelangen, und sich dann irgendwie einredet, sie seien ohnehin sauer. Wie könnte das ein Trost sein, fragt Bittner, angesichts dessen, dass der Fuchs doch wissen muss, dass er eine solche Geschichte nur als Kompensation dafür erfindet, nicht hoch genug springen zu können? Erwidert man darauf, dieses Phänomen sei zwar schwer zu erklären, aber bei „normalen Menschen" so weit verbreitet, dass es existieren muss, schluckt Bittner die bittere Pille und bemerkt, in diesem Fall würden „selbst normale Menschen allmählich einen ziemlich verrückten Eindruck machen" (Bittner 1994, 131). Seiner Meinung nach müssen wir die Vorstellung aufgeben, dass es irgend etwas wie Selbsttäuschung oder mauvais foi gibt, also müssen wir einfach die zahlreichen Textstellen, wo Nietzsche sich auf das Modell einer Beziehung zwischen dem äußeren Anschein und dem Wesen, dem Bewussten und dem Unbewussten stützt, verwerfen. Stattdessen fordert Bittner uns auf, eine Art nichtpsychologisches Explikans anzunehmen, wie es in unserem Versuchsbeispiel und beim materiell gesinnten Freud prominent war.

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„Beim revidierten Bericht [des Sklavenaufstands] geht es um dasselbe - abgesehen davon, daß die Sklaven es nicht taten. Und auch sonst niemand. Die Verrücktheit erwuchs einfach aus dem Leiden, und da sie neues Leiden mit sich bringt, breitet sich das Leiden einfach weiter aus. Metaphysische und moralische Vorstellungen erniedrigten die Menschheit, vielleicht ruinös. Aber es handelt sich dabei um eine Krankheit, nicht um ein Gift" (Bittner 1994, 134). Bittner gibt zu, dass „Nietzsche die vorgeschlagene Revision eindeutig ablehnt" (134), aber das ist, so argumentiert er, für Nietzsche noch schlimmer. Er hätte sich mehr auf sein nicht-intentionales Modell, seinen Naturalismus, stützen sollen, der an solchen Äußerungen wie der folgenden aus Jenseits von Gut und Böse erkennbar wird: „Ein Gedanke kommt, wenn ,er' will, und nicht wenn ,ich' will" (JGB, KSA V 31). Doch das erscheint alles sehr übereilt. Bittner operiert eindeutig mit einer strikten und etwas oberflächlichen Disjunktion zwischen der schlichten Kenntnis des eigenen Geistes (vollständig und scheinbar unproblematisch) und der Unkenntnis des Geistes. Kennt man seinen Geist, kennt man ihn anscheinend vollkommen; kennt man ihn nicht, dann kennt man ihn schlicht ganz und gar nicht. Angesichts solcher Annahmen ist es nicht überraschend, dass die Selbsttäuschung oder das Wunschdenken oder die sauren Trauben vollkommen unintelligibel sind. Gewiss lautet seine These, dass bei jeder Version der Selbsterkenntnis das Paradox des Etwas-vor-sich-Verbergens wieder auftreten wird, aber bevor wir das meiste, was Nietzsche zu dem Thema zu sagen hat, verwerfen, sollten wir berücksichtigen, welche Annahmen zur Selbsterkenntnis hinter seiner Darstellung von Phänomenen wie dem Sklavenaufstand in der Moral stehen. Damit will ich mich nun näher befassen.

VI Die Frage ist, was Nietzsche mit solchen Bemerkungen wie: „Jeder ist sich selber der Fernste" (FW, KSA III 560) meint. Meint er vielleicht, dass wir den vorspychologischen Mechanismus, der das Verhalten steuert und lenkt, immer noch nicht verstanden haben, ein Verhalten, von dem wir in unserer Unwissenheit vorgeben, wir lenkten es durch bewusste Reflexion und Entscheidungen? Nach dieser Ansicht würde er einfach auf unsere Unwissenheit hinweisen, die jetzt allmählich zu Ende geht. Aber in der Genealogie geht er weiter, und wird dort deutlich, dass er der Meinung ist, wir seien nicht nur unwissend, sondern „wir sind uns unbekannt", und das habe „einen guten Grund ... Wir haben nie nach uns gesucht" (ZGM, KSA V 247). Diese These enthält einen Hinweis darauf, was er an vielen anderen Stellen deutlicher macht; dass wir es nämlich nicht zufällig unterlassen haben, uns selbst zu suchen. Wir furchten uns davor, ja man könnte sagen, wir fliehen vor uns. Wir stehen uns „fern", weil wir im Wichtigsten davon gelaufen sind. Aber selbst auf dieser Ebene bleibt noch manches offen. Er könnte behaupten, wir seien nicht bereit anzuerkennen, wie wenig Kontrolle wir über das haben, was wir naiv als Handlungen bezeichnen. Oder will er eine Frage zu unserer, wie man es vielleicht nennen könnte, „schuldhaften" Unwissenheit stellen, wo wir etwas über

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uns vermuten, dem wir aber nicht weiter nachgehen, wo wir etwas Entscheidendes über uns wissen könnten, davor aber zurückscheuen, weil wir zu feige oder zu faul sind zu fragen? Oder meint er, dass wir Mittel und Wege finden, um das, was wir über uns wissen, unberücksichtigt zu lassen oder gar zu verbergen? Im Zusammenhang mit allen zuletzt genannten Fragen: Sobald wir einräumen, dass es ein gewisses Maß an „Verbergen vor uns selbst" gibt, erhält Bittners Skepsis neue Relevanz. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass Nietzsche in einem Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft (§ 335) eine Bestätigung aller genannten möglichen Interpretationen andeutet. Wenn er die Frage erörtert, ob man auf sein Gewissen hören soll, fragt er: „Was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?" (FW, KS A III 561), als bestimme etwas Außerpsychologisches das Verhalten. In einer Weise, die die These aus der Genealogie ankündigt, deutet er darauf hin, dass eine gewisse Unwissenheit über einen selbst der Tatsache geschuldet ist, dass „du nie über dich nachgedacht hast" (ZGM, KSA V 561). Und häufig weist er darauf hin, dass ich andere, verborgene psychologische Motive für das habe, was ich falschlich als meine Motivation beschreibe. (Die „moralische Kraft" könnte ihre „Quelle in deinem Eigensinn" haben, die Bindung an den kategorischen Imperativ ist in Wirklichkeit eine Form der „Selbstsucht", usw.) Trotz der Tatsache, dass wir so an die Vorstellung gewöhnt sind, dass Nietzsche eine Art „Trieb"-theorie hat, oder dass er eine „naturalistische" Rechtfertigung des menschlichen Verhaltens liefert, die auf die These eines Triebs gegründet ist, besonders über andere Menschen Macht zu gewinnen und zu erhalten, können wir nach einer Untersuchung von Textstellen in größerem Umfang zumindest erkennen, wie weit er von einem solchen Modell psychischer Dynamik entfernt ist. Zum einen weist er häufig daraufhin, dass es in einer Situation sehr unklar sein kann, was als errungene Macht gilt, und das wird in „Willen-zur-Macht-Trieb-Theorien" sonst nicht besonders häufig betont. Im Gegensatz zu den sadistischen, machtbesessenen Nietzsche-Interpretationen finden wir Folgendes: „Gewiss ist der Zustand, wo wir wehe thun, selten so angenehm, so ungemischtangenehm, wie der, in welchem wir wohl thun - es [dass wir weh tun] ist ein Zeichen, dass uns noch Macht fehlt, oder verräht den Verdruss über diese Armuth ... Nur fur die reizbarsten und begehrlichsten Menschen des Machtgefuhls mag es lustvoller sein, dem Widerstrebenden das Siegel der Macht aufzudrücken; für solche, denen der Anblick des bereits Unterworfenen (als welcher der Gegenstand des Wohlwollens ist) Last und Langweile macht" (FW, KSA III 385). Er erinnert uns daran, dass „stark" und „schwach" „relative Begriffe" sind, und häufig genug weist er auch daraufhin, dass der wahrhaft Mächtige der ist, der an der Macht im gewöhnlichen Sinn kein Interesse mehr hat, weil er mächtig genug ist, um gegenüber der Frage der Macht gleichgültig zu sein. In vielen gleichlautenden Bemerkungen betrifft die zentrale Frage die Kompliziertheit der Interpretation, die Interpretation der Motive, die man sich selbst und anderen zuschreibt, und die Bedeutung der Tat an sich. Wie viele frühere (Hegel) und spätere (Sartre, Wittgenstein, Heidegger) Anticartesianer glaubt Nietzsche nicht, dass die Selbst-

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erkenntnis jemals unmittelbar beobachtend oder introspektiv sei, und das macht jede Annahme einer solchen Erkenntnis notwendigerweise vorläufig und anfechtbar. Die Bedingung für jede Darstellung von Selbsterkenntnis - dass sie das Ergebnis von Interpretation und nicht von Prüfung ist - fuhrt dazu, dass das Selbsttäuschungsproblem viel leichter handhabbar ist. Gewiss ist richtig, dass Nietzsche häufig an die „Instinkte" oder „Triebe" so appelliert, als appellierte er an wilde natürliche Kräfte. Doch es ist auch ungewöhnlich, wie weit er bei seiner Leugnung der Unmittelbarkeit von fast jeder vermeintlich unmittelbaren, inneren Erfahrung geht. Er sagt sogar: „... dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden werde, das ist die Sache des interpretierenden Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet; und ein und derselbe Reiz kann als Lust oder Unlust interpretiert werden (FW, KSA III 483). Oder, wenn er über den Ursprung der Religion spricht: „Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer ,anderen Welt' überhaupt führte, war nicht ein Trieb und Bedürfhiss, sondern ein Irrthum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellects" (FW, KSA III 495). Desgleichen denkt Nietzsche, wenn er einen Großteil der Philosophie als Krankheit beschreibt, an die Philosophie nicht einfach als an die Manifestation eines kranken Körpers, sondern an etwas viel Komplizierteres. „... Philosophie [ist] bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständiss des Leibes gewesen ... Hinter den höchsten Werturtheilen, von denen bisher die Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen ..." (FW, KSA III 348).

VII Also setzt das Paradox der Selbsttäuschung etwas voraus, was Nietzsche mit Skepsis betrachtet: Es setzt voraus, dass es einerseits zu untersuchende, wirkliche, determinierte und kausal wirkende Motive und Intentionen gibt, die wirklich körperliche Handlungen erzeugen, und andererseits gibt es kausal nutzlose, fiktionale Motive, die von einem Subjekt erfunden werden, das entgegen den Tatsachen vorgibt, diese fiktionalen Motive seien die kausal wirksamen Motive. Da man davon ausgeht, dass die tatsächlichen Motive psychologische Phänomene sind, die nur „innerhalb" des Bewusstseins befriedigt werden können, müssen sie sich „innerhalb" des Bewusstseins befinden oder von dem Subjekt als solche gewusst werden. Doch wie könnte das Subjekt in diesem Fall noch vorgeben, es sei durch etwas anderes motiviert? Nietzsche lehnt das Modell insgesamt ab: die Darstellung der Gesinntheit, die Selbsterkenntnis und die Handlungserklärung, die es beinhaltet. In Stenogrammform heißt das: Selbsterkenntnis ist nicht beobachtend,

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sondern interpretierend, so komplex interpretierend wie die interpretierende Frage nach dem, was das ist, was getan wird; die Handlungserklärung ist nicht kausal und die Motive können nicht als festgelegte, datierbare mentale Einheiten bestimmt werden, sondern die eigene Beschreibung eines Motivs entspricht eher dem vorläufigen Erproben einer Interpretation. Bei einer solchen Schilderung ist die Annahme nicht so paradox, dass der Gehalt eines Bekenntnisses und die richtige Handlungsbeschreibung so voller plausibler Möglichkeiten stecken, dass die Erwartung einer dem eigenen Selbst dienenden und selbsterhöhenden Interpretation vielleicht nicht ganz abwegig ist. Wenn man sich einer, für einen selbst unerfreulichen Interpretationsmöglichkeit bewusst ist und unter dem Druck ihrer Unerfreulichkeit eine andere, annähernd plausible Interpretation herstellt, dann ist das nicht dasselbe, wie von einem kausal wirksamen, determinierten Motiv abzusehen, das trotzdem paradoxerweise, vor dem geistigen Auge, „da" ist. Damit stellt sich offenkundig die Frage danach, was Nietzsche als korrekte oder redliche und nicht als eigennützige Interpretation ansieht. Wir können diese Frage nicht beantworten, ohne dem, was Nietzsche als praktische Selbsterkenntnis betrachtet, sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Viele wichtige Elemente der betreffenden Darstellung haben wir aber bereits kennengelernt. Es zeigt sich, dass man zu der Erkenntnis, eine eigennützige Interpretation sei nicht wahr, nicht gelangt, indem man irgendwie tiefer und genauer in die Seele eines Menschen blickt. Wenn wir uns Motive als etwas vorstellen, was einer vorläufigen Verbindlichkeit zu handeln gleicht, die auf verschiedenen, höchst vorläufigen und ungewissen Interpretationen der Geschichte einer Person, vergangenen und gegenwärtigen Motiven und einem bestimmten Zusammenhang beruht, dann ist die Ungenauigkeit einer Selbstbeschreibung kein großes Paradox und kann durch zukünftige Ereignisse bestätigt werden (wenn sie bestätigt werden können), und wird manifest in dem, was der Handelnde im Lauf der Zeit tut und nicht tut (wobei man im Hinblick auf zukünftige Handlungen dieselbe interpretierende Komplexität voraussetzt). Mit anderen Worten, die Annahme, die das Bittner beunruhigende Problem erzeugt, ist die Annahme einer momentanen oder punktuellen inneren Beobachtung, die ein Subjekt danach zu verbergen, oder der es danach auszuweichen sucht. Um zu seinem Beispiel zurückzukehren, es ist also viel zu krude, einfach zu sagen, dass die aufständischen Sklaven „wussten, daß sie eine unwahre Geschichte erfanden". Was sie zum Handeln veranlasste, ist für interpretierende Finesse viel offener und ist viel flexibler und zeitlich ausgedehnter als die Beschreibung: „sie wussten, dass sie die Geschichte erfunden haben" zulassen kann. In Henry James' Roman Washington Square verbietet ein Vater, ein Witwer, seiner schüchternen und gesellschaftlich wenig erfolgreichen Tochter den weiteren Kontakt mit einem jungen Mann, der um sie wirbt, und James konfrontiert uns mit einer ganzen Reihe von Interpretationsmöglichkeiten. Schützt er seine Tochter vor einem Mitgiftjäger? Oder steht für ihn etwas Wichtiges auf dem Spiel, um seine Tochter weiterhin auf einer Stufe der Infantilität zu halten? Ist er schwärmerisch eifersüchtig auf den Freier und offenbart damit, dass seine Tochter zu einer Art Ersatz-Frau geworden ist? Ist es vielleicht einfach nur die Angst vor der Einsamkeit, weshalb er zögert, seine Gefahrtin aufzugeben? Ist er einfach ein Tyrann, unfähig, eine Kritik an seiner Autorität und an seiner Herrschaft über die Familie zu ertragen? Er ist in der Tat ein Tyrann, und die

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Lage im Roman ist so kompliziert, weil alle genannten Möglichkeiten plausible Erklärungen darstellen und alle wahr sein könnten. Ganz unwahrscheinlich erscheint aber, dass sein erklärtes Bekenntnis, seine Tochter einfach zu schützen, wahr ist, und es ist durchaus möglich, dass er spürt, eine der anderen Möglichkeiten könnte vielleicht genauer beschreiben, was er will. Es wäre aber nicht richtig, einfach zu sagen, er „weiß", dass er von etwas anderem als seinen erklärten Verpflichtungen motiviert ist, und dass er das vor sich selbst versteckt. Die Situation ist viel zu labil und viel zu komplex und erlaubt viel zu viele verschiedene Interpretationen, als dass man das mit Recht sagen könnte. Wir und, was interessanter ist, der Vater, wissen nicht, auf welche Sicht wir uns festlegen sollen, bis wir (und er) erfahren, was er in vielen anderen Situationen sonst tut. Diese Art der Darstellung stimmt mit vielen anderen Dingen überein, die Nietzsche über die menschliche Gesinnung sagen will. Zum Beispiel insistiert er in der Genealogie darauf, dass eine ziemlich komplexe und schwierige gesellschaftliche und historische Leistung notwendig sei, bevor es auch nur annähernd sinnvoll sein könnte, uns selbst und andere mit Hilfe der Begriffe „absichtlich", „fahrlässig", „zufällig", „zurechnungsfähig" und ihren Gegensätzen einzuschätzen (ZGM, KSA V 297-298). Ein solches Selbstverständnis ist nicht als Behauptung einer metaphysischen Wahrheit zu verstehen, sondern ist eine in einem Gemeinwesen zu einer bestimmten Zeit erreichte Interpretation dessen, was man auf viele verschiedene Arten interpretieren könnte und auch interpretiert worden ist. Und damit erklärt sich deutlicher, warum er bei seiner Erörterung des Willens zur Macht derartige Aussagen macht: „...dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Intepretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ,Sinn' und ,Zweck' notwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss" (ZGM, KSA V 313-314). Wenn die Formulierung nicht bereits von Stanley Rosen verwendet worden wäre, würde ich sagen, Nietzsche schlägt eine „Hermeneutik" als „Politik" vor (vgl. Rosen 2003). Wenn wir folglich bei Nietzsche immer wieder Bemerkungen lesen, die eine mentale Verursachung leugnen oder gegen den Irrsinn des freien Willens wettern, haben wir alle Mittel beieinander, um eine Interpretation vorzulegen, die nicht verneint, dass es überhaupt menschliches Handeln gibt, als gäbe es nur das Resultat einer Verursachung durch den Instinkt, oder als wüsste man, dass man nach anderen als den von einem selbst offen bekannten Motiven handelt, könnte aber dieses Wissen irgendwie vor sich verbergen. Nietzsche könnte eher insistieren, dass das Phänomen der eigennützigen Interpretation und der aufgeblähten Übertreibung der einem selbst bekannten Verbindungen überaus weit verbreitet ist. Die These sollte Folgendes beinhalten: Die von einem selbst bekundeten Interpretationen sind immer (oder fast immer) schief, sie sind verzerrt, weil sie die vielen möglichen Interpretationen für menschliches Handeln ausnutzen, und zwar alle zum Zweck der Selbstüberhöhung. Man findet einen Weg, um Gegenbeweise (für weniger edle Motive zum Beispiel) unberücksichtigt zu lassen, genauso wie man Beweise im Text, die einer vorgelegten Interpretation widersprechen, immer in der einen oder anderen Weise unberücksichtigt lassen kann. Das kann nicht rein zufällig geschehen.

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Ich bin es, der die Beweise nicht berücksichtigt, und ich muss wissen, dass ich derjenige bin, der sie nicht berücksichtigt. Aber wie bei einer literarischen Interpretation gilt auch: „selbst der Teufel kann die Schrift zitieren", und das ist nicht unmittelbar problematisch und paradox. (Erst unter dem Druck von Handlungen, die mit den eigenen Bekenntnissen nicht übereinstimmen, oder wenn man sich Implikationen gegenübersieht, die mit anderen Bekenntnissen nicht übereinstimmen, usw., wird es dazu.) In der praktischen Erkenntnis richtet sich also das, was trägt und damit eine Selbstinterpretation bestärkt, auf Probleme, wie die Übereinstimmung zwischen dem, was man tatsächlich tut, und wie man die eigenen und die Motive anderer sonst interpretiert. Selbstverständlich ist auch das alles der Interpretation unterworfen, und so scheinen wir bei konkurrierenden Behauptungen auf Unentscheidbarkeit und Unbestimmtheit hinzusteuern, auf das beständige Verschieben einer Lösung, das heißt, auf einen postmodernen Nietzsche. Das würde zu einer anderen und viel längeren Diskussion fuhren. Aber wir können hier schließen, indem wir festhalten, dass bei Nietzsche eine gewisse Hoffnung auf eine Art Lösung für die Frage der praktischen Erkenntnis besteht. In Nietzsches berühmter Formulierung, in der er die Kluft zwischen Bekenntnis und eigentlicher Tat, zwischen der Interpretation und ihren Implikationen für die Handlung beseitigt, ist die Leistung der praktischen Erkenntnis die erfolgreiche Erfüllung des höchsten Nietzscheschen Imperativs: „Du sollst der werden, der du bist" (FW, KS A III 270).

Bibliographie Bittner, Rüdiger (1994): Ressentiment. In: Nietzsche, Genealogy, Morality, hg. ν. Richard Schacht. Berkeley: University of California Press, 127-138. Nietzsche, Friedrich (1882): Die fröhliche Wissenschaft [FW], In: Sämtliche Werke: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 3. 2. Aufl. Berlin 1988: Walter de Gruyter. Nietzsche, Friedrich (1886): Jenseits von Gut und Böse [JGB], In: KSA, Band 5. Nietzsche, Friedrich (1887): Zur Geneaologie der Moral - eine Streitschrift [ZGM], In: KSA, Band 5. Pippin, Robert (2006): Nietzsche: moraliste français. La conception nietzschéenne d'une psychologie philosophique. Paris: Éditions Odile Jacob. Rosen, Stanley (1987): Hermeneutics as Politics. New Haven 2003: Yale University Press.

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Der eigene Wille Zum Zusammenhang zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und praktischer Identität

1. Einleitung „Wir wollen uns nun einmal nicht zwingen oder nötigen lassen. Wir wollen unseren eigenen Willen haben" (Gerhardt 1999, 82). Die emphatische Betonung des jeweils eigenen Willens ist ein zentrales Motiv der Ethik und Handlungstheorie Volker Gerhardts, in dem sich kantische und nietzscheanische Elemente in einer charakteristischen Weise zu etwas Neuem verbinden. Ausgangspunkt der praktischen Philosophie Gerhardts ist die Idee der individuellen Selbstbestimmung - die Idee, dass trotz aller konstitutiven Eingebundenheit des Menschen in die Natur und in eine Gesellschaft es letztlich doch immer der einzelne Mensch ist, der sein Leben nach seiner eigenen Einsicht fuhren muss. Selbstbestimmung besteht nach Gerhardt genau darin, nach „dem eigenen Willen", nach „eigener Einsicht" (ζ. B. Gerhardt 1999, 83; 2002, 37) oder „von selbst" (Gerhardt 1999, 84) zu handeln. Darin sieht Gerhardt zugleich den Kern menschlicher Freiheit: „Wann immer jemand etwas von sich aus tut, ist er frei" (Gerhardt 2002, 37; vgl. 1999, 84). Eine Ausübung menschlicher Freiheit ist diese Selbstbestimmung Gerhardt zufolge genau dann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Die Person hat ein Bewusstsein von Handlungsspielräumen, von Alternativen oder Optionen; und sie ist keinem Zwang durch andere Personen ausgesetzt. Bei diesen Bedingungen handelt es sich allerdings nicht um zusätzliche Merkmale, die zur Selbstbestimmung hinzukommen müssten, sondern, wie Gerhardt betont, um „Momente" selbstbestimmter Willensbildung, „die für das Selbstverständnis einer freien Handlung ausschlaggebend sind" (Gerhardt 1999, 245). Wer zu dem, was er tut, nicht gezwungen wird, weiß um mögliche Alternativen. Er handelt dann von sich aus und somit aus eigenem und freien Willen. Doch die Rede vom „eigenen Willen" erweist sich bei näherem Hinsehen als problematisch. Welchen Willen, so möchte man fragen, sollten wir denn sonst haben, wenn nicht den eigenen? Vielleicht den eines anderen? Aber wenn ich diesen Willen oder diese Einsicht hätte, dann wäre es doch mein Wille und meine Einsicht (und eben nicht die eines anderen). Es scheint, als sei die Idee, man könnte nicht seinen eigenen Willen haben, sinnlos. Auch die Möglichkeit von Zwang, mit der Gerhardt in den eingangs zitierten Sätzen den „eigenen Willen" kontrastiert, scheint hier nicht weiterzuhelfen. Denn wie bereits Aristoteles gesehen hat, handelt auch der Gezwungene insofern freiwillig und aus eigenem Willen, als er es vorzieht, dem Zwang nachzukommen, statt sich zu widersetzen (vgl. Aristoteles 2001, NE 1110a4-19). Der Seemann, der im Sturm die Ladung über Bord wirft, so das berühmte Beispiel, tut dies zwar nicht gerne, aber doch immerhin lieber, als einen Schiffbruch zu riskieren. Und wenn mich jemand mit vor-

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gehaltener Pistole zwingt, meine Brieftasche herauszugeben, dann ist es immer noch mein eigener Wille (und nicht der des Räubers), der mich dazu bewegt, mich nicht erschießen zu lassen. Die einzige Ausnahme wäre eine Form von Zwang, die mir gar keine Alternative, und sei sie noch so unattraktiv, ließe, indem sie eine bestimmte Handlung physisch notwendig macht. Die Handlung, wenn man sie denn noch so nennen will, wäre dann nicht Ausdruck meines eigenen Willens, sondern des Willens desjenigen, der mich zu ihr zwingt. Doch auch in diesem Fall hätte ich natürlich weiterhin meinen eigenen Willen - ich könnte ihn nur nicht verwirklichen. Das ist auch in weniger spektakulären Fällen des Scheiterns nichts anderes, ohne dass dies in Frage stellen würde, dass mein Wille mein eigener ist (etwa wenn ich meinen Kopf wenden möchte, es aber wegen einer Verletzung nicht tun kann). Wie es scheint, können Faktoren wie Zwang nur meine Handlungsmöglichkeiten einschränken, nicht aber meinen Willen betreffen. Der Wille, so können wir mit Descartes sagen, kann nicht gezwungen werden (Descartes 1641/ 1973, 58). Wenn man also nicht den Willen eines anderen haben kann und der eigene Wille nicht gezwungen werden kann, so stellt sich die Frage, was es heißen kann, dass wir unseren eigenen Willen haben (und haben wollen). Dass eine solche Redeweise, entgegen dem gerade geäußerten Verdacht, nicht einfach sinnlos ist, belegen zahlreiche Fälle, die die paradoxe Beschreibung zu erfordern scheinen, dass jemand etwas zwar will (und auch dementsprechend handelt), dieses Wollen für ihn jedoch etwas Fremdes, gleichsam von außen Kommendes ist. Man sagt dann manchmal, dass die Person dies nicht wirklich will, oder eben, es sei nicht ihr eigener Wille. Ein Beispiel dafür könnten die von Gerhardt in unserem Zusammenhang ebenfalls erwähnten „Zwangshandlungen" sein, bei denen der „Zwang" nicht von einer anderen Person, sondern gleichsam vom Handelnden selbst auszugehen scheint: Jemand, der unter einem Waschzwang leidet, will sich die Hände waschen. Doch dieses Wollen ist gleichzeitig etwas Fremdes - es ist nicht das, was er selbst und von sich aus will. Man kann dann sagen, dass er es zwar will, dass es aber nicht sein eigener Wille ist. Ähnliches gilt zum Beispiel für die Handlungen von Süchtigen oder von Opfern extremer Manipulation. Doch damit haben wir zwar einige mögliche Anwendungsfälle für eine Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden im Willen einer Person identifiziert, worin diese Unterscheidung besteht, wissen wir aber noch nicht. Man könnte vielleicht versuchen, sie verständlich zu machen, indem man das, was zum eigenen Willen gehört (das, was man „wirklich" will), an bestimmte objektive Kriterien bindet. So vertritt Sokrates im Gorgias die These, dass der Wille stets auf das Gute ausgerichtet ist; wenn man also, wie die Tyrannen, etwas in Wahrheit Schlechtes anstrebt, weil man es irrtümlich für gut hält, dann will man es nicht wirklich, sondern glaubt es nur zu wollen (Piaton 1993, 466d ff.). Oder man könnte auf die Idee kommen, den „eigenen" Willen mit bestimmten Vorgängen im Gehirn, etwa im präfrontalen Kortex, zu identifizieren, die unser Verhalten kausal steuern. Wie sich im Folgenden, wenn auch nur auf indirektem Wege, zeigen soll, gehen solche Ansätze grundsätzlich in die Irre. Zudem sind sie unvereinbar mit der zentralen These Gerhardts von der individuellen Selbstbestimmung, die erfordert, dass es bei mir liegt, was ich will: Noch die Unterscheidung zwischen dem moralisch Guten und Bösen muss sich nach Gerhardt, der in diesem Punkt Kant

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folgt, als Ausdruck unserer Selbstbestimmung verstehen lassen (Gerhardt 2000, 191-192). Auch wenn niemand etwas wollen kann, ohne dass bestimmte Hirnregionen in charakteristischer Weise aktiviert sind, kann mein Gehirn doch weder die Frage beantworten, was ich tun soll, noch die Frage, was ich tun will. (Gehirne können sich in neuronalen Erregungszuständen befinden, aber, im wörtlichen Sinn, keine Fragen beantworten.) Diese Fragen, so Gerhardt, muss jeder Mensch für sich selbst beantworten (wozu er außer einem funktionierenden Gehirn auch die ihm mit allen Menschen gemeinsame Vernunft braucht). Es ist die Antwort auf diese Fragen, so Gerhardt, durch die ich selbst bestimme, was ich will. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Unterscheidung zwischen dem eigenen Willen und dem fremden Wollen nicht nur sinnvoll und einer klärenden Explikation zugänglich ist, sondern auch eine zentrale Rolle für ein Verständnis des Begriffs der Willensfreiheit spielt. Dazu werde ich zunächst die Herausforderung unseres alltäglichen Freiheitsverständnisses schildern, die von B. F. Skinners Buch Waiden Two ausgeht. Den von Skinner beschriebenen Menschen fehlt nämlich, wie Robert Kane bemerkt, gerade ein „eigener Wille" (Kane 1996, 65). Wie sich zeigen wird, sind die beiden von Gerhardt betonten „Momente" (Bewusstsein von Handlungsalternativen und Abwesenheit von Zwang) jedoch nicht hinreichend, um Formen von Unfreiheit auszuschließen, wie sie durch Waiden Two veranschaulicht werden. In einem zweiten Schritt werde ich Skinners und Kants Ausführungen zum Umgang mit einem bestimmten Motiv vergleichen, nämlich dem Neid, um an diesem Beispiel herauszuarbeiten, worin ein selbstbestimmter Umgang mit den eigenen Motiven und Antrieben besteht. Abschließend werde ich im Anschluss an Volker Gerhardt eine Antwort auf die Herausforderung durch Waiden Two formulieren, deren Kern in einer Explikation der Unterscheidung zwischen eigenem und nicht-eigenem Willen besteht.

2. Waiden Two als Herausforderung für eine kompatibilistische Konzeption der Willensfreiheit In seiner 1948 veröffentlichten Sozialutopie Waiden Two entwirft der behavioristische Psychologe B. F. Skinner das Bild einer postindustriellen Gesellschaft, in der die Menschen nicht nach materiellem Wohlstand und Statussymbolen streben, sondern ihr Glück in gemeinschaftlicher Arbeit und künstlerischer Betätigung finden. Vorgestellt wird diese Vision anhand einer fiktiven Großkommune namens „Waiden Two", in der ungefähr 1000 Menschen leben sollen. Wie zahlreiche frühere Sozialutopien kommt auch diejenige Skinners nicht mit den Menschen aus, wie sie bisher waren, sondern erfordert einen „neuen Menschen", den Skinner meint, mithilfe der von ihm so genannten „Verhaltenstechnologie" (behavioral engineering) verwirklichen zu können. Skinners „Verhaltenstechnologie" ist angewandter Behaviorismus: Durch Konditionierung und positive Verstärkung, deren Einsatz idealerweise unmittelbar nach der Geburt beginnt, werden gemeinschaftsschädigende Impulse wie Neid und Missgunst effektiv ausgemerzt, als positiv eingestufte Merkmale wie Verantwortungsbewusstsein, Wissensdurst und Kreativität hingegen gefördert und verstärkt. Das Ergebnis ist laut Skinner eine vollkommen

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freie Gesellschaft - frei nämlich von jedem inneren und äußeren Zwang. Die völlige Zwangsfreiheit ergibt sich daraus, dass Zwang zur Durchsetzung gesellschaftlicher Normen und Ziele nicht erforderlich ist, denn der geschickte Einsatz von Verhaltenstechnologie gewährleistet, dass die Wünsche des einzelnen Menschen von vornherein mit dem gesellschaftlich Erwünschten übereinstimmen: „We can achieve a sort of control under which the controlled [...] nevertheless feel free. They are doing what they want to do, not what they are forced to do. [...] there's no restraint and no revolt. By a careful cultural design, we control not the final behavior, but the inclination to behave - the motives, the desires, the wishes" (Skinner 1948/2005, 246-247). Waiden Two sei daher „the freest place on earth. And it is free precisely because we make no use of force or the threat of force" (ebd., 247). Skinner war sich natürlich der Tatsache bewusst, dass die verhaltenstechnologisch garantierte Freiheit von Unterdrückung und Zwang vielen Kritikern als eine besonders raffinierte Weise der Freiheitsberaubung und totalen Entmündigung des Menschen erscheinen würde. Innerhalb der in Waiden Two erzählten Geschichte wird diese kritische Perspektive durch einen Philosophen mit dem sprechenden Namen Augustin Castle vertreten. Castle besucht mit einer Gruppe von anderen Gästen die Kommune Waiden Two und führt mit deren Gründer, Skinners alter ego Frazier, lange Debatten über Erziehung, die Würde des Menschen, Freiheit und Demokratie. Castles Einwand, die Walden-TwoGesellschaft beraube ihre Mitglieder der Freiheit, beruht Frazier zufolge auf einem falschen, weil empirisch unhaltbaren FreiheitsbegrifF, wonach menschliche Handlungen nur dann frei seien, wenn sie nicht durch externe Ursachen festgelegt sind. Tatsächlich, so Frazier, habe jedes menschliche Verhalten externe Ursachen; es könne also nur darum gehen, diese Ursachen im Lichte einer wissenschaftlichen Theorie menschlichen Verhaltens möglichst effektiv zum Wohle der Menschen einzusetzen. Die Verhaltenstechnologie perfektioniere nur, was man seit jeher, wenn auch ohne wissenschaftliche Grundlage und daher unzureichend, in Erziehung und Strafrecht praktiziert habe. Es ist diese These von der prinzipiellen Gleichartigkeit von Verhaltenstechnologie und Erziehung, die Waiden Two zu einem Referenzwerk der neueren Diskussion um die Willensfreiheit gemacht hat. Dabei kommt es nicht darauf an, ob wir Skinners Programm für realisierbar halten oder nicht - es gilt heute zu Recht als völlig gescheitert. Allein die Denkmöglichkeit einer verhaltenstechnologisch optimierten Sozialisation reicht nämlich aus, um die Frage aufzuwerfen, in welchem denkbaren Sinn von Freiheit wir über Freiheit und einen eigenen Willen verfugen oder auch nur verfugen könnten, die den Menschen in Waiden Two fehlt. Auf diese Frage gibt es zwei extreme und eine vermittelnde Antwort (vgl. dazu Kane 1996, 64 ff.). Die erste extreme Antwort ist diejenige Skinners und seiner Figur Frazier: Die Menschen in Waiden Two sind frei in jeder verständlichen Bedeutung dieses Wortes. Freiheit erfordert nicht mehr als die Abwesenheit von innerem und äußerem Zwang; und da die Menschen in Waiden Two alles, was sie tun, freiwillig tun, ohne dass sie dazu gezwungen werden müssten, sind sie in diesem Sinn frei. Das Unbehagen, das einen

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bei der Vorstellung einer verhaltenstechnologisch optimierten Sozialisation beschleichen mag, beruht demnach auf irrationalen Vorurteilen, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. Doch eine solche Extremposition ist kaum plausibel angesichts der Tatsache, dass die Bewohner von Waiden Two Opfer einer raffinierten Manipulation sind und jemand anderes, nämlich Frazier, für sie bestimmt, welche Wünsche und Vorlieben sie haben und welche nicht. Die andere extreme Antwort geben Philosophen wie Robert Kane. Kane ist Inkompatibilist, das heißt, er hält Willensfreiheit und kausale Determination für unvereinbar. Dass die Menschen in Waiden Two vollständig durch ihre verhaltenstechnologische Prägung determiniert sind, bedeutet daher für Kane, dass ihnen ein wichtiger Aspekt von Freiheit fehlt, über den wir seiner Meinung nach verfügen, nämlich die indeterministisch verstandene Freiheit des Willens. Das Unbehagen an der Vorstellung einer behavioristischen Verhaltenskontrolle erwiese sich damit als berechtigt, denn sie würde, wenn sie denn funktionierte, unser Verhalten determinieren und uns somit der Willensfreiheit berauben. Doch diese zunächst plausible Reaktion setzt voraus, dass ein indeterministischer Begriff von Willensfreiheit überhaupt verständlich ist. Das aber scheint bei genauer Betrachtung nicht der Fall zu sein. Bloße Indétermination ist noch keine Freiheit, sondern zunächst einmal nichts anderes als Zufall (vgl. Gerhardt 2002, 33). Vielleicht lassen sich Bedingungen formulieren, unter denen indeterminierte Entscheidungen tatsächlich als frei gelten können, doch sind es dann diese Bedingungen (die möglicherweise auch unter deterministischen Vorzeichen erfüllt sein können), die die Freiheit ausmachen, und nicht der Indeterminismus. Es bleibt die dritte, vermittelnde Antwort. Sie hält gegen Skinner daran fest, dass den Menschen in Waiden Two eine wichtige Form von Freiheit fehlt, über die wir verfügen, ohne wie Kane zu bestreiten, dass menschliche Handlungen auch dann frei sein können, wenn sie durch natürliche oder soziale Faktoren determiniert sind. Auch Volker Gerhardt vertritt eine solche „kompatibilistische" Position: „Nur wo die Notwendigkeit der Naturgesetze herrscht, ist Freiheit möglich - wenn es denn überhaupt einen Sinn haben sollte, von ihr zu sprechen." (Gerhardt 2002, 33; vgl. 1999, 242) Dieser Zusammenhang zwischen Freiheit und Natur, zwischen Selbst- und Naturbestimmung, sei sogar „derart evident, dass es abwegig ist, ihre Vereinbarkeit unter dem Titel eines metaphysischen oder methodologischen ,Kompatibilismus' zu beweisen" (Gerhardt 2007, 70). Doch auch diese Antwort fuhrt in eine grundsätzliche Schwierigkeit. Sie besteht darin, verständlich zu machen, warum sich traditionelle Formen der Erziehung im Fall des Gelingens freiheitsermöglichend auswirken, während Verhaltenstechnologie Freiheit ausschließt, obwohl beide, Verhaltenstechnologie und Erziehung, gleichermaßen externe Verhaltensdeterminanten darstellen, die der Einflußnahme und dem Willen der betroffenen Person entzogen sind. Um dieses Problem zu lösen, müsste man einen Freiheitsbegriff entwickeln, der es zulässt, dass freie menschliche Handlungen durch externe Faktoren determiniert sein mögen, der es aber zugleich erlaubt, an einem freiheitsrelevanten Unterschied zwischen Erziehung und Verhaltenstechnologie festzuhalten. Ohne eine solche Erklärung wäre der Kompatibilist tatsächlich auf die wenig attraktive Extremposition Skinners festgelegt, wonach es den Menschen in Waiden Two an keiner denkbaren Form von Freiheit fehlt.

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Dieser Einwand trifft die Position Volker Gerhardts in besonderem Maße. Wie bereits erwähnt, ist Gerhardt zufolge die menschliche Freiheit durch zwei Momente charakterisiert: „Da ist zum einen das nicht leicht auf Begriffe zu bringende Bewusstsein, dass da überhaupt ein Spielraum für die eigene Tätigkeit ist. [...] Der Handelnde muss mindestens eine Option haben, etwas zu tun oder zu unterlassen" (Gerhardt 1999, 245). Das könnte wie ein Plädoyer für den Inkompatibilismus klingen, doch so ist es nicht gemeint: „Entscheidend ist, dass er [der Mensch] sich selbst die Regel seines Handelns gibt. [...] Alles hängt von seiner eigenen Einstellung ab, nicht aber von einer - wie auch immer verstandenen - Abgrenzung gegenüber der ,Notwendigkeit' der Natur" (ebd., 248). Unsere Einstellung aber (von der es abhängt, ob wir frei handeln oder nicht), „hängt an nichts anderem als daran, dass wir selbst eben das wollen, was wir tun" (ebd., 249). Dazu ist kein Indeterminismus erforderlich, sondern nur das Bewusstsein einer Option, die wir selbst, aus eigenem Willen, ergreifen. Was dies bedeutet, erläutert Gerhardt näher unter Hinweis auf das zweite Moment der Freiheit, das „in der Abwesenheit eines Zwangs [liegt], der unmittelbar vom Willen eines anderen ausgeht. Danach handelt jemand dann von selbst, wenn ihn kein anderer dazu zwingt" (ebd.). Doch wie es scheint, sind beide „Momente der Freiheit" in Waiden Two gegeben: Die Bewohner haben zweifellos das Bewusstsein verschiedener Handlungsoptionen, etwa derjenigen, Waiden Two verlassen zu können, wenn sie dies wollten. Sie wollen es nur eben nicht. Wenn sie dort bleiben, dann ganz „von selbst", sofern dies nicht mehr erfordert, als dass niemand sie dazu zwingt. Wie bereits zitiert, behauptet Frazier, dass die Bewohner „tun, was sie tun wollen und nicht, wozu sie gezwungen werden". Es scheint, als könne Gerhardt sich gegen eine Vereinnahmung seines Freiheitsbegriffs durch Skinner nicht wehren, denn beide Momente der Freiheit liegen hier vor: Die Bewohner (i) „wollen selbst, was sie tun" (Gerhardt), sie „tun, was sie tun wollen" (Skinner), und (ii) „kein anderer zwingt sie dazu" (Gerhardt), sie tun nichts, „wozu sie gezwungen werden" (Skinner). Vielleicht könnte man einwenden, dass es sich in Waiden Two sehr wohl um Zwang handle, wenn auch um eine äußerst subtile Spielart, die nicht beim Handeln, sondern beim Willen und seinen Motiven ansetzt. Doch diese Ausflucht widerspricht erstens der üblichen Bedeutung des Wortes „Zwang", das stets ein Moment von Widerwilligkeit beinhaltet. Und zweitens steht ihr die cartesische Einsicht entgegen, der sich auch Gerhardt anzuschließen scheint, dass der Wille nicht gezwungen werden kann. Sofern ein Szenario wie das in Waiden Two überhaupt denkbar ist, wird man zugestehen müssen, dass seine Bewohner wollen, was sie tun, und nicht dazu gezwungen werden. Dennoch wird man kaum bestreiten können, dass in Waiden Two aufgewachsene Menschen nicht in dem Sinne über einen freien Willen verfügen, wie es bei „normal" aufgewachsenen Menschen der Fall ist. Allerdings erläutert Gerhardt die beiden „Momente der Freiheit" im weiteren Verlauf seiner Überlegungen in einer Weise, die eine Vereinnahmung durch Skinner vielleicht doch noch verhindern könnte: „Das Von-selbst-Anfangen ist nicht allein durch den physiologisch vermittelten Impuls zur eigenen Bewegung charakterisiert, sondern es hat ein ergänzendes Kriterium in der Abgrenzung gegenüber jedem Anderen seiner selbst. Wer etwas

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ausdrücklich von sich aus tut, schließt damit aus, dass er nur das Werkzeug eines anderen ist. [...] Folglich liegt das vollständige Kriterium der Freiheit darin, dass die Tat ihm allein - und nicht dem Willen eines anderen - entspringt." (Gerhardt 1999, 258) Doch es ist nicht klar, ob das ausreicht, um einen Zustand à la Waiden Two als unfrei zu charakterisieren. Schließlich sind die Bewohner nicht nur das Werkzeug eines anderen, denn sie wollen ja tun, was sie tun. Zwar entspringen ihre Taten streng genommen nicht „ihnen allein", sondern (auch) dem Willen Fraziers, doch gilt Entsprechendes wohl auch für sehr viele Taten, die wir ohne Zögern als frei ansehen würden: Wenn jemand mir vorschlägt, doch einmal ein bestimmtes Buch zu lesen, und ich dies tue, weil mich der Vorschlag überzeugt, dann entspringt die Tat streng genommen nicht mir allein, sondern (auch) dem Willen eines anderen; doch wird man darin wohl keinen Grund sehen, die Tat als unfrei zu betrachten. Der Unterschied liegt offenbar darin, dass ich in diesem Fall, anders als die Bewohner von Waiden Two, aus „eigener Einsicht" handle ein von Gerhardt immer wieder betontes Merkmal der Selbstbestimmung. Genau diese „eigene Einsicht" scheint den Menschen in Waiden Two zu fehlen. Aus demselben Grund hat Robert Kane, wie bereits erwähnt, gegen die Auffassung Skinners eingewandt, dass der Wille dieser Menschen in einer wichtigen Hinsicht nicht ihr „eigener" Wille sei (Kane 1996, 65). Doch diese Antwort, so plausibel sie auch ist, führt uns nur zu unserer Ausgangsfrage zurück: Was macht denn nun die eigene Einsicht und den eigenen Willen aus (im Gegensatz zu einer Einsicht oder einem Willen, die zwar auch Einsicht und Wille der betreffenden Person, aber irgendwie fremdbestimmt sind)? Solange diese Frage nicht beantwortet ist, wissen wir auch nicht, was genau einen im Sinne Gerhardts (und des Kompatibilismus) freien Menschen von den Bewohnern von Waiden Two unterscheidet. Schließlich ist auch unser Wille durch externe Faktoren wie unsere Erziehung und das soziale Umfeld geprägt. Darin liegt die kritische Spitze des kaneschen Einwandes gegen den Kompatibilismus: Was ist es, wenn nicht der Indeterminismus, das meinen Willen zu meinem eigenen macht, aber dem Willen der Menschen in Waiden Two fehlt? Eine in der neueren philosophischen Literatur viel diskutierte Antwort auf die Frage nach dem „eigenen" Willen ist diejenige Harry Frankfurts: Demnach gehören diejenigen Wünsche und Motive zu meinem eigenen Willen, mit denen ich mich vorbehaltlos („wholeheartedly") identifiziere; dies tue ich, indem ich will, dass sie mein Handeln leiten. Die Freiheit des Willens besteht dann darin, wollen zu können, was man will, d. h. nur diejenigen Wünsche handlungsleitend werden zu lassen, mit denen man sich identifizieren kann (vgl. Frankfurt 1971; Frankfurt 1987). Doch diese Antwort reicht offenbar nicht aus, um den Unterschied zwischen den Bewohnern von Waiden Two und uns zu erklären, denn auch die Bewohner von Waiden Two identifizieren sich vorbehaltlos mit ihren handlungsleitenden Wünschen. Alle Motive, die eine solche Identifikation stören könnten, sind ihnen ja ausgetrieben worden. Wie Kane zu Recht betont, können Konzeptionen von Willensfreiheit, die wie diejenige Frankfurts allein auf die interne Kohärenz des Willens abheben, den Unterscheid zwischen den Bewohnern von Waiden Two und uns nicht verständlich machen (vgl. Kane 1996, 64 f f ) .

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Dennoch scheinen mir bei aller berechtigten Kritik zumindest drei Punkte an Frankfurts Konzeption plausibel zu sein: Erstens kann man etwas wollen, ohne dass es dem im emphatischen Sinn eigenen Willen entspricht. Es gibt demnach einen Unterschied zwischen dem, was man wirklich will, und dem, was man zwar will, aber auf eine Weise, die uns vom eigenen Wollen entfremdet oder distanziert. Beispiele für eine solche Distanzierung sind Fälle von Willensschwäche, widerwilligem Suchtverhalten und bestimmte Formen von Selbstbetrug. Zweitens ist diese Unterscheidung keine, die uns einfach vorgegeben wäre, sondern sie hängt davon ab, wie wir uns willentlich zu unserem eigenen Wollen verhalten. Was wir wirklich wollen, was unserer eigener Wille ist, muss in einem bestimmten Sinn bei uns liegen, wenn wir denn für die daraus entspringenden Handlungen verantwortlich sein sollen. Und drittens erfolgt die Entscheidung darüber, was unser eigener Wille ist, in einem Akt der Aneignung von Motiven, deren bloßes Vorhandensein zumeist nicht bei uns liegt, sondern uns vorgegeben ist. Sicherlich ist es gelegentlich möglich, ein Motiv aufgrund meiner eigenen Entscheidung überhaupt erst hervorzubringen, etwa wenn ich mich aus Pietätsgründen entscheide, ein ererbtes, aber wenig geliebtes Haustier zu behalten und mich nun erfolgreich bemühe, den Umgang mit dem Tier nicht bloß als lästige Pflicht zu empfinden. Doch normalerweise finden wir uns zu jedem gegebenen Moment mit bestimmten Motiven vor und bilden einen eigenen Willen aus, indem wir uns diese Motive aneignen oder eben nicht aneignen, uns mit ihnen identifizieren oder nicht. Der Akt der Aneignung oder Identifikation liegt bei uns, die Motive, auf die er sich richtet, normalerweise nicht. Bei Frankfurt ergibt sich daraus ein dezisionistisches Moment in seiner Konzeption von Willensfreiheit, da die Aneignung eines Wunsches an nichts anderes gebunden ist als den faktischen Willen der jeweiligen Person. Gerade das macht es Frankfurt unmöglich, Skinners These zurückzuweisen, die Menschen in Waiden Two seien frei, denn es ist durchaus denkbar, dass diese Menschen so konditioniert sind, dass sie sich vorbehaltlos mit ihren eigenen Wünschen identifizieren. Wenn wir also verständlich machen wollen, was es heißen könnte, dass der Wille dieser Menschen dennoch nicht ihr eigener ist, dann liegt es nahe, an dieser Stelle über Frankfurt hinauszugehen und an die Identifikation mit den eigenen Wünschen strengere Anforderungen zu stellen als das inhaltsleere Kriterium, dass sie vorbehaltlos erfolgen muss. Eine Reihe von Autoren hat solche strengeren Anforderungen vorgeschlagen; die zentrale Idee ist stets, die Identifikation mit den eigenen Wünschen an normative Kriterien zu binden, seien dies die Werte der jeweiligen Person (Watson 1975), moralische Normen (Wallace 1994) oder einfach das Wahre und Gute (Wolf 1990). Auch der im Folgenden präsentierte Lösungsvorschlag wird in diese Richtung gehen. Allerdings möchte ich mich ihm über einen kleinen Umweg nähern, indem ich den Umgang mit destruktiven Affekten wie Neid und Eifersucht betrachte und die verhaltenstechnologischen Methoden in Waiden Two mit der Haltung einer moralisch reifen Persönlichkeit vergleiche, wie Kant sie in seiner Metaphysik der Sitten entwirft. Auf diese Weise soll sowohl deutlich werden, was es heißen kann, einen eigenen Willen zu haben, als auch, warum die Bewohner von Waiden Two ihn nicht haben.

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3. Skinner und Kant über den Neid Neid ist kein schönes Gefühl. Ovid veranschaulicht es als natternfressendes Weib mit bleichem Gesicht und dürrem Leib: „gelb sind vom Roste die Zähne, grün von Galle die Brust, voll giftigen Geifers die Zunge" (Metam. II, 776-7). Auch wenn der Neid manche Verteidiger gefunden hat, die in ihm mit Mandeville und Adam Smith einen wichtigen Motor wirtschaftlicher Entwicklung sehen, ist er kein Gefühl, das man gerne hat. Neid ist nicht nur schmerzlich für den, der ihn hat, sondern auch moralisch verwerflich, denn wer Neid empfindet, ärgert sich über etwas, das eigentlich Freude hervorrufen sollte, nämlich das Wohlergehen anderer. Wie Schadenfreude ist auch Neid ein Gefühl, das eine emotionale Bewertung enthält, die unserem moralischen Urteil zuwiderläuft. Indem der Neid sich auf das richtet, was andere haben oder können, man selbst aber entbehrt, verstärkt er außerdem das Bewusstsein eben jenes Mangels und das der eigenen Unterlegenheit. Nie fühlt man sich so erfolglos wie im Neid auf die Erfolge anderer. Die damit verbundene Frustration kann leicht in Aggression umschlagen, so dass die jüdischchristliche Tradition auf den Zusammenhang zwischen Neid und Gewalt den paradigmatischen Fall eines Verbrechens gründet, nämlich den Brudermord Kains. Wie die Scham gehört der Neid dieser Tradition zufolge jedoch nicht zur gottgeschaffenen Natur des Menschen, sondern ist eine Folge des Sündenfalls. Adam und Eva im Paradies kannten noch keinen Neid. Skinner verspricht uns nun, den paradiesischen Zustand einer neidfreien Gesellschaft verhaltenstechnologisch herbeizufuhren. Neid ist ein wichtiges Problem für den Entwurf einer zwangs- und konkurrenzfreien Gesellschaft, denn wenn destruktive Gefühle wie Neid erst einmal aufkommen, dürften sich schädliche Folgen kaum ohne inneren oder äußeren Zwang unterbinden lassen. Skinner widmet der Überwindung des Neides daher eine ausführliche Schilderung, die damit beginnt, dass die Gruppe der Besucher in das Wohnheim der ein- bis dreijährigen Kinder geführt wird. Einige der Kinder machen sich mit ihrer Betreuerin Mrs. Nash gerade auf den Weg zu einem Picknick, während die übrigen im Haus bleiben müssen: ,„What about the children who can't go?' said Castle. ,What do you do about the green-eyed monster?' Mrs. Nash was puzzled. Jealousy. Envy.' Castle elaborated. ,Don't the children who stay home ever feel unhappy about it?' - ,1 don't understand', said Mrs. Nash" (Skinner 1948/2005, 91). Nachdem die Gäste das Wohnheim verlassen haben, erläutert Frazier: „,I think Mrs. Nash's puzzlement [...] is proof enough that our children are seldom envious or jealous. Mrs. Nash was twelve years old when Waiden Two was founded. [...] She's a good example of the Waiden Two product. She could probably recall the experience ofjealousy, but it's not part of her present life" (ebd., 92). Eifersucht und Neid, so Frazier weiter, hatten ihren Sinn in konkurrenzbestimmten Gesellschaften, nicht aber in Waiden Two:

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„,But when a particular emotion is no longer a useful part of a behavioral repertoire, we proceed to eliminate it.' - ,Yes, but how?' - ,It's simply a matter of behavioral engineering. [...] The techniques have been available for centuries. We use them in education and in the psychological management of the community" (ebd., 93). Hier haben wir die beiden für unseren Zusammenhang zentralen Thesen: Erstens lassen sich destruktive Emotionen durch Verhaltenstechnologie vollständig abschaffen; und zweitens bedient man sich dabei im Grunde derselben Methoden, die in der Erziehung seit jeher zur Anwendung gekommen sind, wenn auch in wissenschaftlich optimierter Form. Dass die erste These nicht sehr plausibel ist, wird unter anderem an einem Beispiel deutlich, anhand dessen Frazier seinen Gästen die Funktionsweise der Verhaltenstechnologie erläutert: „,[...] we get our ethical training in early. Take this case. A group of children arrive home after a long walk tired and hungry. They're expecting supper; they find, instead, that it's time for a lesson in self-control: they must stand for five minutes in front of steaming bowls of soup. [...] We regard it as a fairly elementary test [...]. [A] more advanced stage [...] brings me to my point. When it's time to sit down to the soup, the children count off, heads and tails. Then a coin is tossed and if it comes up heads, then the ,heads' sit down and eat. The ,tails' remain standing for another five minutes' " (Skinner 1948/2005, 99-100). Auf diese Weise, so Frazier, lernen die Kinder schließlich, Emotionen wie Neid und Eifersucht ganz abzulegen. Dass die Methoden der skinnerschen Verhaltenstechnologie grausam und menschenverachtend sind, muss wohl nicht eigens betont werden. Dass sie zum gewünschten Erfolg führen, ist höchst unwahrscheinlich. Doch selbst wenn wir diese gravierenden Bedenken bei Seite setzten, bleibt die weitere Frage, ob die Verhaltenstechnologie nur eine Optimierung derjenigen Methoden darstellt, die Menschen seit jeher in der Erziehung ihrer Kinder befolgt haben. Dabei geht es mir hier nicht um eine historische Fragestellung; sicherlich waren Kinder in der Vergangenheit häufig weitaus brutaleren Erziehungsmethoden ausgesetzt als in Waiden Two. Ich möchte vielmehr fragen, was als ein vernünftiger und reifer Umgang mit Gefühlen wie Neid und Eifersucht gelten kann und ob eine Erziehung, die zu einem solchen Umgang befähigen will, als vorwissenschaftliche Form der Verhaltenstechnologie verstanden werden kann. Eine bemerkenswerte Antwort auf diese Frage können wir einem Autor entnehmen, der gemeinhin nicht gerade als großer Kenner der emotionalen Seite der menschlichen Seele gilt, nämlich Immanuel Kant. In der Metaphysik der Sitten schreibt Kant: „Der Neid (livor), als Hang das Wohl Anderer mit Schmerz wahrzunehmen, obzwar dem seinigen dadurch kein Abbruch geschieht, der, wenn er zur That (jenes Wohl zu schmälern) ausschlägt, qualificirter Neid, sonst aber nur Mißgunst (invidentia) heißt, ist doch nur eine indirect-bösartige Gesinnung, nämlich ein

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Unwille, unser eigen Wohl durch das Wohl Anderer in Schatten gestellt zu sehen, weil wir den Maßstab desselben nicht in dessen innerem Werth, sondern nur in der Vergleichung mit dem Wohl Anderer zu schätzen und diese Schätzung zu versinnlichen wissen" (Kant 1797, 458f.). Anders als Skinner fragt Kant hier nach den Ursachen des Neides und lokalisiert sie, psychologisch höchst plausibel, in einem mangelnden Selbstwertgefühl des Neiders, der den Maßstab seines eigenen Wohls nicht in sich selbst findet, sondern nur „in Vergleichung mit dem Wohl Anderer". Eine Erziehung, die darauf aus ist, Gefühle wie Neid erst gar nicht aufkommen zu lassen, muss daher das Selbstwertgefühl und die Urteilsfähigkeit der Kinder stärken, so dass sie, wie Kant es ausdrückt, ihr eigenes Wohl nach dessen innerem Wert beurteilen können, ohne sich dabei mit anderen vergleichen zu müssen. In seiner Pädagogik-Vorlesung führt Kant diesen Punkt näher aus: „Der Neid wird erregt, wenn man ein Kind aufmerksam darauf macht, sich nach dem Werthe Anderer zu schätzen. Es soll sich vielmehr nach den Begriffen seiner Vernunft schätzen. Daher ist die Demuth eigentlich nichts anders, als eine Vergleichung seines Werthes mit der moralischen Vollkommenheit. [...] Wenn der Mensch seinen Werth nach Andern schätzt, so sucht er entweder sich über den Andern zu erheben, oder den Werth des Andern zu verringern. Dieses letztere aber ist Neid" (Kant 1803,491). Vielleicht kann man gegen Kant einwenden, dass die Gleichsetzung von innerem Maßstab und moralischer Vollkommenheit zu kurz greift. Schließlich kann man den eigenen Wert auch nach anderen als im engeren Sinn moralischen Gesichtspunkten beurteilen, ohne sich dabei mit anderen Menschen zu vergleichen. Darauf werde ich noch zurückkommen. Doch im zentralen Punkt hat Kant sicherlich Recht: Wer Kinder so erziehen will, dass sie möglichst wenig unter Neid leiden, muss ihnen eigene Bewertungsmaßstäbe vermitteln - Kant spricht von „Begriffen der Vernunft" - , die sie von einem Vergleich mit anderen Menschen und deren Urteil unabhängig machen. Kant bringt dies in der Pädagogik-Vorlesung auf die knappe Formel: „Selbstschätzung und innere Würde statt der Meinung der Menschen" (Kant 1803, 493). Das soll natürlich nicht bedeuten, dass man sich um die Meinung anderer Menschen nicht kümmert, sondern nur, dass man über einen von ihrer Meinung unabhängigen Maßstab dafür verfugt, was gut und richtig ist. Nach Kant ist ein solcher Maßstab das Sittengesetz, das im Kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommt. Wer über diesen Maßstab verfügt, mag sich immer noch mit anderen vergleichen, doch das Wohlergehen anderer hat nun keinen direkten Einfluss mehr auf die Selbsteinschätzung, die sich allein nach dem eigenen moralischen Wert richtet. Damit verliert der Neid seine Basis in der emotionalen Ökonomie der Person. Im Idealfall empfindet eine moralisch gefestigte Persönlichkeit keinen Neid, da ihr Selbstwertgefühl nicht davon abhängt, wie es anderen ergeht. Allerdings dürften die allermeisten Menschen hinter diesem Ideal zurückbleiben und gelegentlich so etwas wie Neid empfinden, wenn auch zweifellos in sehr unterschiedlichen Maßen und Graden. Tatsächlich geht Kant nicht davon aus, dass Neidgefuhle sich

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völlig vermeiden lassen, denn die „Regungen des Neides liegen [...] in der Natur des Menschen" (Kant 1797, 459). Eine moralisch reife oder, wie Kant es nennt, eine tugendhafte Persönlichkeit muss daher in der Lage sein, mit diesen Regungen, sollten sie denn auftreten, angemessen umzugehen. Es gilt zu verhindern, dass aus einem mehr oder weniger kurzlebigen Gefühl des Neides „qualifizierter Neid" wird, also eine dauerhafte, das Denken und Handeln der Person prägende Haltung. Kant erläutert dies in der Metaphysik der Sitten am Beispiel von Zorn und Hass folgendermaßen: „Affecten und Leidenschaften sind wesentlich von einander unterschieden [...]. Ein Hang zum Affect (ζ. Β. Zorn) verschwistert sich [...] nicht so sehr mit dem Laster, als die Leidenschaft. Leidenschaft dagegen ist die zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde (ζ. B. der Haß im Gegensatz des Zorns). Die Ruhe, mit der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu und verstattet dem Gemiith sich darüber Grundsätze zu machen und so, wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime aufzunehmen; welches alsdann ein qualificirtes Böse, d. i. ein wahres Laster, ist" (Kant 1797, 407-408). Tugend besteht nach Kant darin, dass der Mensch „alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin Herrschaft über sich selbst" (Kant 1797, 408). Das bedeutet im Fall destruktiver Affekte wie Zorn oder Neid, sie erst gar nicht als möglichen Handlungsgrund zuzulassen, oder, wie Kant es nennt, sie nicht „in seine Maxime aufzunehmen". Unter einer Maxime versteht Kant eine Handlungsregel, in der die Motive der handelnden Person in einer nicht auf Einzelfälle beschränkten, sondern regelhaften und insofern vernünftigen Form zum Ausdruck kommen. Vernünftiges Handeln besteht nach Kant daher darin, nicht einfach seinen gerade drängenden Neigungen und Affekten zu folgen, sondern nach Maximen zu handeln. Eine tugendhafte, d. h. moralisch gefestigte Persönlichkeit wird Kant zufolge nun eventuelle Regungen des Neides anders behandeln als Regungen des Hungers oder des Mitleids. Letztere nimmt sie in ihre Maxime auf, etwa indem sie sich vornimmt, mit Genuss zu essen und Wert auf die Qualität der Nahrungsmittel zu legen oder, im Fall des Mitleids, zum Beispiel einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens an Hilfsorganisationen zu spenden. Die Maxime, schlecht über Menschen zu sprechen, die erfolgreicher sind als sie selbst, wird sich eine moralisch reife Persönlichkeit aber selbst dann nicht zu eigen machen, wenn sie gelegentlich Regungen des Neides verspüren sollte. Das ist gemeint, wenn Kant sagt, dass die tugendhafte Person das Böse (hier also den Neid) nicht in ihre Maxime aufnimmt. - Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Auffassung nicht impliziert, dass uns unser eigener Wille völlig durchsichtig ist. Wie Kant betont, können wir uns über unsere eigenen Maximen täuschen, obwohl die Entscheidung über unsere Maximen ganz bei uns liegt. Auch ist Kant nicht auf ein hyperrationalistisches Bild des Menschen festgelegt, wonach jede unserer Handlungen auf bewussten Entscheidungen beruht. Eine Funktion von Maximen besteht gerade darin, durch den Regelcharakter habituelle und gleichwohl rational kontrollierte Handlungsweisen zu ermöglichen. Auch die Entscheidung darüber, welche Motive wir in unsere Maxime aufnehmen, muss nicht

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bewusst gefällt werden, sondern kann im Grenzfall einfach darin bestehen, sich nicht dazu zu entscheiden, ein bestimmtes Motiv nicht zu berücksichtigen (vgl. Willaschek 1992, 64 ff.). Es ist wichtig sich klarzumachen, dass die Wahl einer Maxime eine Bewertung der eigenen Motive voraussetzt, die sich von einer bloßen Zweck-Mittel-Abwägung grundsätzlich unterscheidet. Für einen zweckrationalen Nutzenmaximierer sind alle Wünsche, Motive und Neigungen prinzipiell gleichwertig. Empfindet er Neid, so ist das ein Motiv neben anderen und muss als solches in der rationalen Nutzenabwägung berücksichtigt werden. Dass es unmoralisch wäre, der beneideten Person zu schaden, spricht aus dieser Sicht genau dann gegen eine entsprechende Handlung, wenn und soweit man den Wunsch hat, moralisch zu sein. Es käme dann darauf an, was größer ist: der Neid oder der Wunsch, moralisch zu sein. Doch diese Perspektive lässt außer Betracht, dass es stets moralisch falsch ist, aus Neid zu handeln, ganz gleich, wie groß der Neid ist und zu welchen Handlungen er uns motiviert. Es ist bereits das Motiv, das moralisch verwerflich ist. Deshalb wird eine moralisch reife Persönlichkeit den Neid nicht in ihre Maxime aufnehmen und ihn damit als möglichen Grund ihres Handelns ausschließen. Anders gesagt: Dass eine bestimmte Handlung einer von ihr beneideten Person schadet, wird eine reife Persönlichkeit noch nicht einmal prima facie als Grund für diese Handlung anerkennen. Kants Konzeption des Umgangs mit destruktiven Gefühlen ist also zweistufig. Erstens muss man sich bemühen, Neid, Eifersucht, Schadenfreude usw. vorzubeugen, indem man Bewertungsmaßstäbe erwirbt bzw. vermittelt, die vom Urteil anderer Menschen und einem Vergleich mit ihnen unabhängig machen. Kant denkt hier vor allem an moralische Grundregeln, die sich aus dem Kategorischen Imperativ ergeben. Zweitens dienen dieselben Maßstäbe dazu, destruktive Gefühle, wenn sie denn auftreten, aus dem Bereich möglicher Handlungsgründe auszuschließen und ihnen so den Einfluss auf das eigene Handeln zu verwehren. Unsere Frage lautete, was Skinners Verhaltenstechnologie von traditionellen Erziehungsmethoden unterscheidet, um so zu verstehen, warum diese im Fall des Gelingens zur Ausbildung eines eigenen Willens fuhrt und jene nicht. Um diese Frage zu beantworten, hatte ich am Beispiel des Neides gefragt, wie eine reife Persönlichkeit (als Ergebnis einer gelungenen Erziehung) mit destruktiven Gefühlen umgeht, um dann feststellen zu können, ob ein reifer Umgang mit Neidgefühlen ein denkbares Produkt einer verhaltenstechnologisch optimierten Sozialisation ist. Wie wir gesehen haben, erfordert ein reifer Umgang mit Regungen des Neides einen über Nutzenmaximierung hinausgehenden normativen Maßstab und die Fähigkeit, Motive im Lichte dieses Maßstabs zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Die Frage lautet daher, ob ein solcher Maßstab und die entsprechende Fähigkeit zur Überprüfung der Motive eine verhaltenstechnologische Vermittlung erlauben. Überraschenderweise scheint dies tatsächlich der Fall zu sein: Nichts spricht dagegen, dass die Bewohner von Waiden Two aufgrund positiver Konditionierung ein Wertesystem so weit verinnerlichen, dass sie auch sich selbst daran messen (und nicht am Wohlergehen anderer). Und warum sollten sie nicht ihre Motive daraufhin überprüfen, ob sie mit diesem Wertesystem übereinstimmen, und ihnen nur in diesem Fall in ihren

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Entscheidungen Gewicht geben? Vielleicht ist es denkbar, dass bei optimalem Einsatz von Verhaltenstechnologie unerwünschte Motive gar nicht mehr vorkommen, doch das bedeutet nicht, dass die Bewohner von Waiden Two nicht in der Lage wären, auf ihre Motive kritisch zu reflektieren, sondern nur, dass das Ergebnis immer positiv ausfiele. Wie Robert Kane betont, fehlt es den Menschen in Waiden Two nicht an der Fähigkeit zur Reflexion (Kane 1996, 66). Hier könnte man vielleicht einwenden, dass sich die kritische Reflexion in Waiden Two nicht auf alle eigenen Motive beziehen kann. Schließlich schlägt sich die Verinnerlichung der in Waiden Two vermittelten Werte und Normen auch in den Motiven der Personen nieder, und zumindest diejenigen Motive, die unmittelbar das herrschende Wertesystem widerspiegeln, müssten von einer kritischen Überprüfung ausgenommen sein. Eine (hier hypothetisch unterstellte) Verhaltenstechnologie, die Regungen wie Neid effektiv ausmerzen kann, kann vermutlich auch eine feste Wertorientierung ankonditionieren, die es erlaubt, andere Motive kritisch zu hinterfragen. Doch sofern sie ankonditioniert ist, kann diese Wertorientierung nicht selbst kritisch hinterfragt und revidiert werden. Das mag richtig sein. Doch ich fürchte, dass es nicht ausreicht, die kantische Konzeption einer tugendhaften Persönlichkeit vor der Denkmöglichkeit ihrer verhaltenstechnologischen Realisierung zu schützen. Der Grund ist, dass der von Kant ins Auge gefasste normative Maßstab, nämlich das Sittengesetz, ebenfalls nicht kritisch hinterfragt und revidiert werden kann. Sein Inhalt ist der menschlichen Vernunft fest eingeschrieben; man kann es anerkennen, man kann es befolgen oder auch nicht befolgen, aber weder kann man vernünftigerweise seine normative Verbindlichkeit anzweifeln noch kann man es inhaltlich verändern. Eine kritische Überprüfung erübrigt sich damit. Man kann sich Kant zufolge die eigenen Motive aneigenen, indem man sie am Maßstab des Sittengesetzes misst und gegebenenfalls in die eigene Maxime aufnimmt. Das Sittengesetz jedoch kann man sich nicht in diesem Sinn zu eigen machen, weil es vernünftigerweise nicht zur Disposition steht. Woran sollte man Kant zufolge die Richtigkeit des Sittengesetzes auch messen? Zwar bezeichnet Kant das Sittengesetz als Ausdruck unserer Autonomie und Ergebnis der Selbstgesetzgebung der Vernunft, doch ist diese Vernunft nicht meine oder deine, sondern es ist die allen Menschen gemeinsame Vernunft. Für jeden einzelnen Menschen ist das kantische Sittengesetz etwas Vorgegebenes, das einer kritischen Überprüfung entzogen ist.

4. Selbstrevision und eigener Wille Es könnte scheinen, als seien wir mit Kant nicht wirklich über den Vorschlag Frankfurts hinausgekommen. Es hätte sich dann nur gezeigt, dass die Frankfurtsche Idee, den eigenen Willen als den angeeigneten Willen zu verstehen, bereits eine kantische Idee ist. Man eignet sich seine Motive an, indem man sich mit ihnen identifiziert oder, kantisch gesprochen, indem man sie in seine Maxime aufnimmt. Doch tatsächlich hat uns Kants Auffassung einer befriedigenden Konzeption des eigenen Willens einen wichtigen Schritt näher gebracht. Anders als bei Frankfurt wird bei Kant nämlich deutlich, dass die An-

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eignung der eigenen Motive nicht als Ergebnis einer Nutzenmaximierung verstanden werden kann, denn es geht nicht darum, die gegebenen Motive möglichst effektiv zu verwirklichen, sondern die Motive selbst einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Dazu ist ein normativer Maßstab notwendig, der über bloße Nutzenmaximierung hinausgeht. Wie wir soeben gesehen haben, stellt sich für diesen Maßstab allerdings erneut die Frage, was ihn zu meinem eigenen macht. Ist der Maßstab mir einfach vorgegeben, sei es durch Verhaltenstechnologie oder durch eine überindividuelle und unveränderliche Vernunft, dann bleibt unverständlich, warum Motive, die ich mir in Übereinstimmung mit diesem Maßstab aneigne, im emphatischen Sinn meine eigenen sein sollten. Dass selbst eine tugendhafte Person im Sinne Kants Ergebnis einer verhaltenstechnologischen Programmierung sein könnte, veranschaulicht genau diesen Punkt. Um die Idee der Selbstaneignung des Willens fur eine kompatibilistische Konzeption der Willensfreiheit nutzbar zu machen, müssen wir daher meines Erachtens über Kant hinausgehen und die Gleichsetzung des eigenen normativen Maßstabs mit dem allgemeingültigen Sittengesetz aufgeben. Selbst wenn es ein solches allgemeines Moralprinzip geben sollte, ist es nicht die Instanz, welche die Ausbildung eines eigenen Willens verständlich machen kann. Dazu darf der normative Maßstab, an dem ich meine Motive überprüfe, mir nicht als unabänderlich vorgegeben sein, sondern muss selbst einer kritischen Überprüfung und möglichen Revision zugänglich sein. Andererseits kann die Lösung nicht einfach dieselbe sein wie auf der Ebene der Motive, dass nämlich die eigenen Maßstäbe diejenigen sind, die man sich nach gewissen anderen Maßstäben angeeignet hat, denn das würde in einen potentiell unendlichen Regress führen. Auch eine dezisionistische Lösung, wonach man sich bestimmte Maßstäbe eben einfach aneignet, ohne dazu weiterer Maßstäbe zu bedürfen, kann sicher nicht überzeugen. Ich möchte abschließend eine Lösung für dieses Problem andeuten, die an den ursprünglich auf Georg Simmel zurückgehenden Begriff des „individuellen Gesetzes" anknüpft, den Volker Gerhardt zur Explikation seiner Konzeption von Selbstbestimmung fruchtbar gemacht hat. Zunächst ist dazu festzuhalten, dass auch Gerhardt, wie Kant und Frankfurt, den eigenen Willen als Ergebnis einer Aneignung oder Identifikation versteht, nämlich der Aneignung von kausal wirksamen Motiven als eigenen Gründen: Wir „erkennen [...] nicht nur bestimmte wirksame Motive unseres Handelns [...], sondern wir machen zugleich deutlich, dass wir sie für uns selbst anerkennen. Wir eignen sie uns an [...]. Und diese von uns nicht nur erkannten, sondern anerkannten Motive bezeichnen wir als unsere eigenen Gründe" (Gerhardt 1999, 294). Dabei machen wir die Entscheidung darüber, welche Motive wir anerkennen und welche nicht, Gerhardt zufolge von unserem „Selbstbegriff' abhängig, also davon, als was wir uns jeweils selbst verstehen. Jeder Mensch verfügt demnach über zahlreiche praktisch relevante Elemente seines Selbstverständnisses oder Selbstbegriffe, etwa als Hochschullehrer, Opernfreund, Liebhaber, Staatsbürger usw. Für unseren Zusammenhang ist nun entscheidend, dass diese Selbstbegriffe einerseits (i) normative Implikationen haben, andererseits (ii) aber in konkreten Situationen miteinander konfligieren können (Gerhardt 1999, 373). (i) Die normativen Implikationen unseres Selbstbegriffs ergeben sich Gerhardt zufolge daraus, dass ich zur Ausübung derjenigen Verhaltensdispositionen, die mit einem

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bestimmten Selbstverständnis einhergehen, häufig einen Widerstand überwinden muss: Wenn ich mich als Hochschullehrer begreife und das in der konkreten Situation bedeutet, dass ich morgens um neun Uhr eine Prüfung abnehme, dann will ich normalerweise auch, dass ich zum Prüfungstermin pünktlich erscheine, denn dieses Wollen ist eine Konsequenz daraus, dass ich mich mit meiner Rolle als Hochschullehrer identifiziere. Wenn ich aber um 8.30 Uhr gemütlich beim Frühstück sitze und es draußen regnet, so dass ich gar eine Lust habe, das Haus zu verlassen, dann tritt mir meine Identifikation mit der Rolle als Hochschullehrer als ein Sollen entgegen: Auch wenn ich keine Lust habe, das Haus zu verlassen, soll ich dies doch tun, um rechtzeitig zur Prüfung zur erscheinen. Gerhardt zufolge ergibt sich dieses Sollen daraus, dass eine Handlung, die in der vernünftigen Konsequenz meines Selbstverständnisses liegt, auf einen motivationalen Widerstand stößt (Gerhardt 1999, 386). (ii) Allerdings konfligieren Selbstbegriffe und deren praktische Umsetzung nicht nur mit entgegenstehenden gleichsam naturwüchsigen Motiven, sondern auch mit anderen normativ aufgeladenen Selbstbegriffen und Ansprüchen. Wenn am Morgen der Prüfung mein Kind erkrankt und meine Fürsorge braucht, dann liegt es in der Konsequenz meines Selbstverständnisses als Vater, dass ich mich um mein Kind kümmere. Wenn dem meine Pflichten als Hochschullehrer entgegenstehen, dann haben wir es laut Gerhardt mit einem moralischen Problem zu tun (Gerhardt 1999, 373). Ein solches Problem ergibt sich aus dem Konflikt zwischen Selbstverständnissen, mit denen man sich identifiziert, die aber in der konkreten Situation zu unvereinbaren Handlungsanforderungen führen, so dass sich die Frage „Was soll ich in der gegebenen Situation nun tun?" mit besonderer Dringlichkeit stellt. Dabei können wir uns zwar an allgemeinen moralischen Regeln orientieren, doch die Entscheidung, wie ich mich in der konkreten Situation verhalten soll, lässt sich durch keine allgemeine Regel beantworten: Es „relativieren sich alle Grundsätze wechselseitig je nach den Ansprüchen des Handelnden und den Erfordernissen der Situation. Da gibt es kein hierarchisches System von Regeln, das eine bestimmte Handlung erzwingen könnte" (Gerhardt 1999, 366). Ob ich also bei meinem Kind bleiben oder es, um den Prüfungstermin wahrzunehmen, in der Obhut einer anderen Person lasse, das lässt sich aus keiner allgemeingültigen Regel ableiten, sondern ergibt sich allein daraus, welche „Elemente meines Selbstbegriffs" in der gegebenen Situation für mich „leitend" sind (vgl. Gerhardt 1999, 373). Dieser Selbstbegriff, so Gerhardt, ist ein „Inbegriff von Regeln" (ebd.), auf die ich mich festlege, indem ich mich in einer bestimmten Weise (als Vater, Hochschullehrer, usw.) verstehe. Wenn ich mich dazu entscheide, bei meinem Kind zu bleiben, lege ich mich auf die Regel fest, dass mein Kind in derartigen Situationen vorgeht. Diese Regel ist das, was Kant als eine „Maxime" bezeichnet: Eine Festlegung darauf, wie ich in vergleichbaren Situationen handeln will. Gerhardt versteht sie (in terminologischer Anlehnung an Simmel und in sachlicher Übereinstimmung mit Kant) als ein „individuelles Gesetz" (ebd., 404). Mit Rekurs auf diese Regel kann ich meine Entscheidung in einer Weise begründen, die auch für andere Personen nachvollziehbar ist: Ich musste mich in dieser Situation eben um mein Kind kümmern. Das können prinzipiell auch diejenigen verstehen, die sich in einer vergleichbaren Situation anders entschieden hätten. Die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit der jeweiligen Situation und die Tatsache, dass kein

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universelles Prinzip mir meine Entscheidung abnehmen kann, stehen einer mitteilbaren und insofern allgemeinen und vernünftigen Begründung meines Tuns daher nicht entgegen. Hier ist nicht die Gelegenheit, die normative Angemessenheit dieser individualistischen und partikularistischen Konzeption von Moral zu diskutieren. Mit Blick auf unsere Frage nach dem eigenen Willen können wir aber folgende, von Gerhardts moralphilosophischem Partikularismus unabhängigen Punkte festhalten: Auch die normativen Maßstäbe, nach denen ich beurteile, welche Motive zu meinem eigenen Willen gehören, werden zu meinen Maßstäben dadurch, dass ich sie mir aneigne oder mich mit ihnen identifiziere. Gerhardt zufolge geschieht dies dadurch, dass ich die faktischen Handlungsdispositionen und Rollenverständnisse, mit denen ich mich jeweils vorfinde, ausdrücklich anerkenne und mir zu eigen mache. Besonders moralische Probleme (Konflikte zwischen Elementen meines Selbstverständnisses) zwingen mich dazu, mein Selbstverständnis zu überdenken, eventuell zu revidieren und mich so mit ihm zu identifizieren oder mich von ihm zu distanzieren. Die Maßstäbe zur Bewertung meiner Motive sind genau dann meine eigenen, wenn sie in ihrer jetzigen Form nicht nur das Ergebnis von Genen, Erziehung und sozialer Umwelt sind, sondern auch von Stellungnahmen und Revisionen abhängen, die ich im Lichte meines jeweiligen Selbstverständnisses bisher an ihnen vorgenommen habe und zukünftig vornehmen werde. Dazu ist kein weiteres Set von allgemeinen Regeln und Maßstäben fur das Revidieren von Regeln und Maßstäben erforderlich, denn daraus ergäbe sich ein infiniter Regress. Stattdessen zeigt Gerhardts These, wonach Selbstverständnisse stets komplex und in sich pluralistisch aufgebaut sind, dass ein normativer Maßstab (Gerhardt: ein Selbstbegriff), nach dem ich meine Motive beurteile und mir aneigne, zugleich als Grundlage zur Beurteilung anderer normativer Maßstäbe dienen kann. So könnte jemand, der bisher seine beruflichen Verpflichtungen über alles andere gestellt und ihnen schon manchen Familienurlaub geopfert hat, angesichts der Bitte seines kranken Kindes, heute bei ihm zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen, die Regel in Frage stellen, wonach der Beruf stets vorgeht. Hier wäre eine von der Person akzeptierte Norm (nämlich sich um seine Kinder zu kümmern) Grundlage fur die Revision einer anderen Norm. Dieselbe Norm, die in diesem Fall Grundlage der Revision ist, kann in einer anderen Situation natürlich selbst kritisch hinterfragt und gegebenenfalls revidiert werden. Die Möglichkeit einer solchen Selbstrevision normativer Maßstäbe ist ein wesentliches Merkmal praktischer Rationalität. Gerhardt zufolge ist es denn auch unser Selbstverständnis als rationale Wesen, an dem wir uns in letzter Instanz orientieren müssen: „Wie ist aber eine [...] Entscheidung zwischen zwei konfligierenden Selbstbegriffen überhaupt möglich? Gibt es eine Instanz, die dafür noch Kriterien hat? [...] Über konkurrierende Selbstbegriffe der Person kann nur ein Selbstverständnis entscheiden, das für beide in gleicher Weise zuständig ist. Das aber ist der Selbstbegriff als vernünftiges Wesen" (Gerhardt 1999, 379). Das könnte so klingen, als folge aus diesem allgemeinsten und umfassendsten Selbstbegriff, den ich mit allen anderen vernünftigen Wesen teile, wie ich mich in einem be-

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stimmten Konflikt (etwa zwischen Vaterpflichten und beruflichen Aufgaben) zu entscheiden habe. Aber das kann Gerhardt unmöglich meinen, da er wiederholt betont, dass die Antwort auf die Frage, was ich in einer konkreten Situation tun soll, nicht aus allgemeinen Regeln folgt, sondern meine eigene Entscheidung erfordert. Es ist daher meines Erachtens irreführend, wenn Gerhardt nahe legt, die Vernunft enthalte Kriterien jenseits des jeweiligen Selbstverständnisses der Person, unter Rückgriff auf die sich moralische und andere Konflikte auflösen lassen. Tatsächlich ist „der Selbstbegriff als vernünftiges Wesen" nur insofern grundlegend, als er, wie Gerhardt etwas später ausfuhrt, „genaugenommen hinter jedem Rollenkonzept [steht]. Er bezeichnet keine separate soziologische oder psychologische Funktion [...]; vielmehr fundiert und organisiert der Selbstbegriff des vernünftigen Wesens jedes mögliche Selbstverständnis, sofern es Handlung und Verständigung einschließt" (Gerhardt 1999, 394). Ein vernünftiges Wesen zu sein, so verstehe ich Gerhardt, bedeutet in dieser Hinsicht vor allem, die praktischen Konsequenzen der verschiedenen Elemente des eigenen Selbstverständnisses im Blick zu behalten und ihre Konsistenz mit den Konsequenzen anderer Elemente zu überprüfen. Welchem Selbstbegriff ich aber in einer konkreten Konfliktsituation den Vorrang einräume, kann ich natürlich nicht allein dadurch entscheiden, dass ich mich als vernünftiges Wesen verstehe, sondern nur dadurch, dass ich dies auch in meinen Rollen als Vater und Hochschullehrer tue und meine Entscheidung, wie immer sie ausfallen mag, unter den Anspruch der individuellen Konsequenz und der intersubjektiven Mitteilbarkeit und Nachvollziehbarkeit stelle. (Letzteres erfordert nicht, dass andere meine Entscheidung richtig finden müssten.) Es gibt demnach keinen archimedischen Punkt, von dem aus eine Person entscheiden oder herausfinden kann, wer sie ist und was ihr eigener Wille ist. Vielmehr hängt die Anerkennung von Motiven als eigenen (die „Aufnahme in meine Maxime") von normativen Maßstäben ab, deren Status als meinen eigenen stets unter dem Vorbehalt einer kritischen Revision steht. Diese Revision bemisst sich an anderen Regeln und Maßstäben, die ich als meine eigenen anerkenne, die aber selbst ebenso unter Revisionsvorbehalt stehen (und insofern gerade nicht, wie Frankfurt fordert, vorbehaltlos anerkannt werden). Trotz des präsumtiven Charakters ihrer Geltung sind diese Regeln und Maßstäbe, solange ich sie anerkenne, jedoch in einem sehr soliden Sinn meine eigenen: Ihre Anerkennung, Revision oder komplette Ablehnung hängt von meinen Erfahrungen, meinen Überlegungen und meinen Entscheidungen und nicht von denen irgendeines anderen Menschen ab. Diese Konzeption nimmt insofern eine Mittelposition zwischen den Auffassungen Frankfurts und Kants ein: Anders als Frankfurt bindet sie die Anerkennung von Motiven an normative Maßstäbe und entgeht so dem Vorwurf des Dezisionismus und der bloßen Selbstbejahung des eigenen Willens. Anders als Kant knüpft sie die Anerkennung von Motiven aber nicht an eine allgemeingültige und unveränderliche Norm, die keinen Raum für individuelle Stellungnahmen lässt und daher das jeweils Eigene des eigenen Willens nicht verständlich machen kann. Es mag zunächst so scheinen, als gehe auch Gerhardts Konzeption der individuellen Selbstbestimmung nicht über den Anspruch einer intern kohärenten Willensbildung hinaus, da sie ja vor allem auf die Konsistenz unserer verschiedenen Selbstbegriffe und ihrer praktischen Konsequenzen abhebt. Gerhardt wäre dann letztlich doch demselben

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Einwand ausgesetzt, den Kane gegen Frankfurt richtet, nämlich dass interne Kohärenz nicht ausreicht, um Fälle radikaler Manipulation des Willens wie in Waiden Two auszuschließen. Doch das ist nicht der Fall. Während Frankfurt den Willen gleichsam als ein in sich geschlossenes System betrachtet, in dem die Wünsche niederer Ordnung mit denen höherer Ordnung in Einklang gebracht werden müssen, sieht Gerhardt die Person und ihren Willen im Kontext einer einmaligen und insofern radikal kontingenten Situation, in der meine Entscheidung erforderlich ist. Der Konflikt zwischen verschiedenen Elementen meines Selbstverständnisses ereignet sich nicht innerhalb meines Willens, sondern angesichts einer bestimmten Situation, in der ich handeln muss. Der Problemdruck geht nicht primär von der Person und ihrem Willen aus, sondern von der Welt, in der sie sich handelnd behaupten muss. Damit kommt ein Faktor ins Spiel, der sich nicht vorab und nach allgemeinen Regeln antizipieren lässt (vgl. Blöser/Schöpf/Willaschek in Vorb.). Ein „vernünftiges Wesen" im Sinne Gerhardts ist in der Lage, auf die kontingenten Wechselfalle des Lebens flexibel und doch in Übereinstimmung mit sich selbst zu reagieren. Dazu ist mehr erforderlich als bloße Kohärenz der Willenbildung, denn die ist im Konfliktfall stets auf mehrere Weisen erreichbar: Ganz gleich, ob ich mich in der konkreten Situation für die Vaterrolle oder den Beruf entscheide - solange ich konsequent bei meiner Entscheidung bleibe, habe ich die Kohärenz meines Willens, die durch den Konflikt in Frage gestellt wurde, wiederhergestellt. Hebt man, wie Frankfurt, nur auf diese interne Kohärenz ab, so kann es scheinen, als sei die Entscheidung letztlich völlig willkürlich und die eine Lösung so gut wie die andere. Tatsächlich aber steht meine Entscheidung unter Adäquatheitsbedingungen, die sich aus der Normativität meines Selbstverständnisses ergeben: Ich will eben ein fürsorglicher Vater und ein gewissenhafter Hochschullehrer sein. Wenn diese beiden Ansprüche in einer konkreten Situation konfligieren, so ist meine Entscheidung auch dann, wenn sie durch keine allgemeingültigen und universellen Regeln geleitet ist, doch nicht willkürlich, sondern Ergebnis des Abwägens von Gründen und Gegengründen, von normativen Erwägungen, die schließlich für die eine oder die andere Seite den Ausschlag geben. Die Adäquatheit dieser Entscheidung bemisst sich dann einerseits an meinem normativ aufgeladenen Selbstbegriff, andererseits an den Erfordernissen der jeweiligen Situation: „Somit hat der Selbstbegriff nicht nur eine formale Konsistenz, die wir logisch überprüfen können. Es gibt auch sachliche Gehalte, die einer allgemeinen Debatte zugänglich sind" (Gerhardt 1999, 440). Die Einschätzung, ob eine Entscheidung adäquat ist oder es war, ist daher auch im Lichte neuer Informationen und eines veränderten Selbstverständnisses kritisierbar und insofern reversibel. Dieser Prozess der kritischen Selbstrevision ist, wie auch Gerhardt betont, prinzipiell unabschließbar (vgl. Gerhardt 1999,448 ff.). Vielleicht kann man sich vorstellen, dass auch die Fähigkeit zur kritischen Überprüfung und Revision des eigenen Selbstverständnisses, die wir mit Kant als einen Aspekt der praktischen Vernunft betrachten können, verhaltenstechnologisch vermittelt wird, etwa durch positive Verstärkung kritischen Nachfragens und des Revidierens bisheriger Überzeugungen und Werte im Lichte neuer Informationen. Doch man darf nicht übersehen, dass die positive Verstärkung kritischen Nachfragens eine Eigendynamik entwickelt, die mit dem geduldigen Warten vor dampfenden Suppentöpfen völlig unvereinbar ist. Kritisches Nachfragen zu bestärken muss einschließen, ihm praktische Konsequen-

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zen zuzubilligen. Derjenige, dessen kritische Fragen ohne Wirkung bleiben, hört irgendwann zu fragen auf. Ein Kind, das gelernt hat, Normen und Werte zu hinterfragen, erwartet von seinen Betreuern zum Beispiel eine Antwort auf die Frage, warum es stehen bleiben soll, während andere schon essen. Erhält das Kind keine überzeugende Antwort, wird es sich nicht lange vom Essen fernhalten lassen - es sei denn durch Zwang, der in Waiden Two ja gerade vermieden werden soll. Geben ihm seine Betreuer jedoch eine ernsthafte Antwort, dann haben sie sich bereits auf jenen mühsamen Prozess eingelassen, den wir Erziehung nennen und zu dem nicht nur positive Verstärkung und Konditionierung, sondern eben auch Argumentation, Vorbildverhalten, individuelle Zuwendung und vieles mehr gehören. Damit aber bringen sie das Kind im Fall des Gelingens auf jenen Weg der kritischen Selbstrevision, der schließlich zu eigenen Maßstäben, einem eigenen Selbstverständnis und damit zu einem eigenen Willen führt.

5. Schluss Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die Verhaltenstechnologie in Waiden Two keineswegs eine bloße Optimierung deijenigen Methoden darstellt, die die Menschen seit jeher in der Erziehung ihres Nachwuchses einsetzen. Es ist die Ausbildung eigener Bewertungsmaßstäbe und die dazu erforderliche Fähigkeit zur situationsadäquaten Selbstrevision, die durch bloße Konditionierung nicht zu vermitteln ist. Kanes Einwand gegen Skinner lautete, dass der Wille der Bewohner von Waiden Two nicht ihr eigener sei. Die Herausforderung für einen kompatibilistischen Begriff der Willensfreiheit bestand darin, diese Intuition verständlich zu machen, ohne bestreiten zu müssen, dass auch wir einen „eigenen" Willen haben. Mit Kant habe ich zu zeigen versucht, dass ein eigener Wille genau diejenigen Motive umfaßt, die man sich selbst angeeignet hat (oder doch aneignen könnte), indem man sie an normativen (und zwar nicht bloß instrumenteilen) Maßstäben misst und ihnen in Abhängigkeit vom Ausgang dieser Prüfung in seinen Entscheidungen Gewicht gibt oder nicht. Die erforderlichen normativen Maßstäbe wiederum, so verstehe ich Volker Gerhardts Konzeption der Selbstbestimmung, sind uns nicht einfach vorgegeben und auch nicht unserer Vernunft eingeschrieben, sondern das Ergebnis individueller Entscheidungen, mit denen wir uns auf ein bestimmtes Selbstverständnis und die darin implizierten Handlungsregeln festlegen (vgl. Gerhardt 1999, 409). Diese Regeln - Kant spricht von Maximen, Gerhardt auch von einem „individuellem Gesetz" - sind dann in einem emphatischen Sinn die eigenen, wenn man sie sich in einem offenen, prinzipiell unabschließbaren Prozess der Selbstrevision (oder, wie Gerhardt es auch nennt, der „Selbstverwirklichung"), angeeignet hat. Zu meinem eigenen Willen, so unser Ergebnis, gehören genau diejenigen Motive und Maßstäbe, die einer kritischen Überprüfung im Lichte meines eigenen normativ aufgeladenen Selbstverständnisses einerseits und angesichts praktisch erfahrener Zielkonflikte andererseits standhalten. Es stimmt: Einen so verstandenen eigenen Willen wollen wir haben.

DER EIGENE WILLE

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HUBERT MARKL

Unser entscheidungsfahiges Gehirn Oder: Der freie Geist des unfreien Menschen

Ein 65. Geburtstag ist immer ein besonders schöner Anlass für herzliche Glückwünsche zu einer gelungenen Lebensleistung. Nicht, dass alles vorbei wäre - keineswegs. Aber was gelungen ist, ist klar geworden. Seien wir doch ehrlich: Selbst so lange überlebt zu haben, wäre schon eine große Leistung - man vergleiche damit nur die vielen Eintagsfliegen, die uns umschwirren. Alles das, was einer mit diesen Jahren anfing und in ihnen zu einem guten Ende brachte, das macht die Leistung erst wirklich aus, ob bei einem Philosophen oder bei einem einfachen Menschen. Deshalb ist ein solcher Glückwunsch an Volker Gerhardt mehr als angebracht, man bietet ihn mit Freude und Überzeugung dar und man will damit zugleich sagen: Es ist keineswegs vorüber, es ist keineswegs genug, kaum zwei Drittel des Weges sind abgeschritten, wer weiß, was da alles noch kommen kann! Das Leben muss immer intensiver gelebt werden, je knapper die verbleibende Zeit erscheint! Fünfundsechzig könnte der rechte Zeitpunkt dafür sein, sich dies bewusst zu machen. Eigentlich ist es eine etwas seltsame akademische Sitte, einen solchen Geburtstag eines Gelehrten mit einer Festschrift hervorzuheben. Unter allen sich für eine solche Würdigung empfehlenden Festtagen ist dies vielleicht doch der am wenigsten naheliegende. Lassen wir einmal die 5, 10, 25, 30 oder 40, meist allerdings eher von Ereignissen oder Institutionen als Persönlichkeiten beiseite: politische Daten vielleicht, wie sie Politiker und Medien ebenso zu lieben scheinen, wahrscheinlich um diese auch wirklich noch im Amte zu erleben. Die Erinnerungskultur fangt wohl bei denen am frühesten an, die sich doch manchmal an nichts erinnern wollen. Der 50ste mag da schon eher angehen: Ein halbes Jahrhundert darf schon imponieren! Wer die 50 erreicht, kann die Unsterblichkeit ja fast schon mit Händen greifen. 60 oder 70 sind dann vielleicht dadurch bemerkenswert, dass man noch mit der kritischen Lektüre einer Widmung rechnen kann. Mit 80 hingegen beginnt fast schon die berechtigte Verwunderung darüber; außerdem werden die Würdenträger da schon seltener, da lohnt es besonders, die Verbleibenden hervorzuheben. Mit 90 mag es beinahe schon Aufmerksamkeit erregen, dass die so Gerühmten überhaupt noch am bewussten Leben sind, da würde es dann wohl schon höchste Zeit für die Oral History! Gar nicht von 100 zu reden; da übertreibt keine Übertreibung, und die wenigen, denen dies in Gesundheit gegönnt ist, verdienen es am meisten. Sie erregen eher Ver- als Bewunderung. Aber 65? Nur weil die Gewerkschaften partout nicht davon lassen wollen, jeden dann in Rente zu schicken, wie alt er oder sie sich auch fühlen mag? Denn sie wettern ja nicht über das anscheinend unaufhaltsam ansteigende Lebensalter, nur das Rentenalter soll ehern bei 65 festgelegt sein, nach Gottes Willen wohl, denn schon die 67 scheinen

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ja des Teufels? Nur weil einem einmal - lange ist es her! - mit 65 eine auskömmliche Rente in Aussicht gestellt worden war? Oder vielleicht doch, weil sich zumindest bei einem Gelehrten in den 60ern doch gar kein Alter finden lässt, bei dem sich etwas ändern sollte, nicht mit 60, 65 und auch nicht mit 67? Eben deshalb muss es gerade bei ihm als eine absolut freie, also durch nichts begründete Willkürentscheidung erscheinen, eben doch seinen 65. Geburtstag zu feiern, so als ob man seinen 32, 56 oder 69sten dafür wählte. Solches Handeln wird ja geradezu zum Beweis fur die Unabhängigkeit geistfreier Menschen, sich für ein beliebiges Datum zu einer Würdigung zu entscheiden. Wer könnte sich dafür besser eignen als Volker Gerhardt, also ein Philosoph der Menschlichkeit in ihrer ganzen Eigenständigkeit und individuellen Besonderheit? Er hat seit langer Zeit immer nach dem Menschen gefragt: Versuchen wir ihm also einmal Antwort zu geben (natürlich immer in dem Bewusstsein, dass er sie wahrscheinlich schon längst kennt oder gar besser weiß!). Philosophen scheinen es ja für ein schlagendes Argument zu halten, dass eine Idee schon bei Aristoteles auffindbar ist - freilich: schlagend dafür oder schlagend dagegen! Dass es um den Menschen nicht gut bestellt ist, seit er unter die Wissenschaften geraten ist, sollte wohl unumstritten sein. Zwar ist er - wie darum schon wieder Aristoteles bemerkte - von Grund auf ein Gesellschaftswesen. Aber Psychologen haben seither alles zu verstehen, Juristen alles zu verteidigen, Theologen alles zu beurteilen, Ökonomen alles zu berechnen gelernt. Zusammen mit den Biologen, die alles an ihnen als Anpassung an Selektionsbedingungen der Vergangenheit erklären wollen, haben sie jedoch allesamt die menschliche Gesellschaft nahezu ruiniert, indem sie die eigene Verantwortlichkeit der Person verkümmern ließen oder ganz zerstörten. Am Ende kamen sogar noch die Neurobiologen: Wie sollte man sich da noch für Entscheidungsfreiheit entscheiden, wenn man doch - wissenschaftlich angeblich erwiesen - gar nicht entscheiden kann? Was soll da noch ein lebenslanger Eheschwur bedeuten, wenn man ihn ohnehin nur in vorübergehender Trance gegeben hat; solange dauert eben heute lebenslänglich: 5, 10 oder 15 Jahre. Aber als das Gehirn den vermeintlichen Geist hervorbrachte - diese bewusste Selbstspiegelung der Gedanken, selbst wenn sie alle eine physische Grundlage haben - , brachte es doch auch den Begriff der Freiheit hervor. Nicht ob es Willensfreiheit überhaupt gibt, ist dann das Problem: Freiheit als die Vorstellung von Gründen, über die der eigene Wille verfügt, ist wirklich geworden. Vielmehr wird es zum Problem, ob es beim gesunden Menschen überhaupt eine „Unfreiheit" des bewussten Willens geben kann und wie weit diese aus dem Unbewussten ins Bewusste reicht. Willensfreiheit wird nämlich unvermeidlich, wenn sich der Wille erst einmal seiner selbst bewusst geworden ist. Sie setzt Bewusstsein, Selbstbewusstsein zumal voraus, vielleicht auch die Sprache der Gedanken und jene zwischen Menschen. Sie wird die physischen Ursachen zwar deshalb nicht los. Aber Freiheit ist gar kein physischer Begriff der Entscheidung, sondern ein philosophischer, einer von Beweggründen, die zu vertreten sind, nicht von Materie, die in Bewegung versetzt wird. Freiheit ist auch kein neurobiologisches Konzept, sondern allenfalls ein Kennzeichen menschlichen Verhaltens, vor allem sozialen Verhaltens. Wie soll das experimentell - etwa durch Zeiten von Neuronenaktivität und bewusster Entscheidung - überprüft werden? Zwar wird der Geist oft als unfrei erachtet, weil doch das

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Gehirn unfrei sei, nämlich der Kausalität der realen Welt unterworfen. Aber dies sacrificium intellectus (im zweifachen Sinne, wohlgemerkt!) ist vielleicht gar nicht notwendig. Man muss sich auch nicht aus Verzweiflung über die - scheinbare - Einsicht in die physische Wirklichkeit dieser Welt, der das menschliche Gehirn zweifellos angehört gleich einem metaphysischen Dualismus an den Hals werfen (der semantische ist ja nur eine façon de parier und gar kein Ausweg daraus), damit der Geist Freiheit gewinnen kann (die er doch längst hat!). Materie und Energie sind sicherlich kausal bestimmt, aber die Information, die sie hervorbringen, erweist sich als erstaunlich indeterminiert: weder von Neuronen oder deren Genen, die sie freilich beeinflussen, noch von Lehren, die sie zu erfassen versuchen und die über sie verbreitet werden. Wir sollten nicht fragen, wie der Mensch sich einbilden kann, ein besonderes Tier zu sein, sondern wie er das besondere Tier geworden ist, das Tier mit selbstbewusstem Geist, das er zweifelsohne ist. Deshalb ist es wohl sinnvoll, zuallererst zu verstehen, was dieser Mensch denn eigentlich ist. Die Antwort muss so ausfallen, dass auch ein Philosoph wie Volker Gerhardt dabei herauskommen kann - vielleicht sogar entstehen musste. Freilich wird niemand daran zweifeln, wie eingeschränkt die Entscheidungsfreiheit des Menschen ist, etwa in sozialen Netzwerken, wo sich indoktrinierende Einflüsse wie Viren horizontal von Mensch zu Mensch verbreiten, sprachlich oder mimetisch. Als The Wisdom of Crowds (2005) hat James Surowiecki das benannt - und muss dennoch zugeben, dass diese soziale Macht einen erheblichen Spielraum für individuelles davon Abweichen lässt: eben Entscheidungsfreiheit. Fragen wir also: Was ist denn der Mensch? Fangen wir biologisch (oder anthropologisch) an: Was ist denn ein Mensch? Was unterscheidet ihn von den anderen Lebewesen, aus denen heraus er durch die natürliche Evolution entstanden ist (oder durch Gott geschaffen, der doch wohl auch die Evolution hervorgebracht hat, wie könnte sie daher zu seiner Allmacht in Widerspruch geraten?). Biologisch wird der Mensch als eine einzige Spezies definiert: Homo sapiens, ein Chordat, ein Wirbeltier, ein Säuger, ein Primat, der sich nur untereinander, aber nicht mit Angehörigen anderer Arten vermischt. Schon das Knochengerüst lässt keine Zweifel daran; alle sonstigen körperlichen Merkmale ebenso wenig, ob Kreislauf oder Zähne. Natürlich kann ein solcher morphologischer Vergleich heute etwas altbacken erscheinen, zumal sich Knochen oder Zähne nun wirklich nicht mehr paaren können. Können wir heute nicht Proteine und Gene sequenzieren und nach Ähnlichkeit ordnen? Selbstverständlich können wir das, und dabei stellt sich Homo sapiens noch präziser als ein anthropoider Menschenaffe heraus, Schimpansen und Bonobos am nächsten verwandt, mit an die 98 % gleichen Gensequenzen. Aber täuschen wir uns nicht. Nicht nur, dass es auf die wenigen entscheidenden, vor allem die Zellvermehrung in der Entwicklung regulierenden Gen-Unterschiede ankommt, im Besonderen solche, die die Größe und Funktionsweise des Gehirns bestimmen, und hier vor allem jene, die auf die Sprachfähigkeit Einfluss haben. Zahlenvergleiche der Sequenzen von Genen und Proteinen, die doch auch Haut und Knochen, Leber und Niere betreffen, besagen da nicht viel wohl über Übereinstimmungen, aber weniger über spezifische Unterschiede. Vor allem ist es der altmodische Knochen- und Gebissvergleich, der es uns überhaupt erlaubt, die Gen-Ähnlichkeiten anhand von fossilen Resten der Leichen unserer Tiervorfahren zu identifizieren und zu datieren, also zu kalibrieren.

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Was uns der Genom- und Proteinvergleich jedoch sehr genau und quantitativ zu bestimmen erlaubt, ist etwas, das wir aus Knochenresten nur andeutungsweise erschließen können und das die biologischen Eigenschaften unserer Spezies besonders kennzeichnet: die ungeheure genetische Variabilität der vielen Populationen, die sich nur ganz grob und unzuverlässig in geographische Unterarten („Rassen") gliedern lässt. Sie wird durch sexuelle Mischung und Vermehrung ständig erhalten und gesteigert und macht den wirklichen Reichtum der menschlichen Art aus. Wir sehen es schon den Gesichtern der Individuen an, hören es an ihren lebenslang unverwechselbaren Stimmen, können es von den individuell einzigartigen Fingerrillen-Abdrücken oder Iris-Mustern quantitativ ablesen. Alledem liegt die genetische Vielfalt der Haplotypen - kleinster Mutationen ihrer 20.000 bis 30.000 Gene - zugrunde und macht durch ihre Verschiedenartigkeit der angeborenen Anlagen und Begabungen die Menschheitsbevölkerung in allen ihren Völkern und Kulturen ebenso unverwechselbar einzigartig wie unersetzbar. Das ist nicht eine Aneinanderreihung der immer gleichen Menschen, keine Massenklonierung derselben, sondern sie besteht zu jeder Zeit in allen Gebieten der Erde stets in einer ungeheuren Diversität der Einzigartigkeiten ihrer Individuen, die dennoch insgesamt menschlich, also Angehörige einer einzigen Art bleiben. In ihrer Vielfältigkeit liegt ihr unersetzbarer Wert für das Ganze, in jedem und jeder Einzelnen davon, und ihre individuelle Besonderheit trägt mehr zu ihrer unveräußerlichen Würde als Menschen bei, als dies die Theologen und Juristen in ihren Erwägungen und Lehren jemals erfasst haben mögen. Zugleich ist es wichtig zu betonen, dass erst diese unverwechselbare Einzigartigkeit jedes individuellen Genoms den Menschen biologisch bestimmt, nicht etwa die chemische Nukleotidabfolge eines jeden einzelnen Gens. Es gibt gar keine „menschlichen" Gene, die Gene eines Menschen können durchaus identisch mit denen eines Affen, einer Maus, eines Wurms oder einer einzelligen Alge sein. Erst die Verbindung ihres Zusammenwirkens im vereinigten Genom einer Menschenmutter und eines Menschenvaters macht das Genom eines neuen - biologischen - Zellindividuums aus, als Artangehöriger von Homo sapiens, jedoch noch keineswegs als Mitglied einer Menschengemeinschaft, zu der erst die Annahme der befruchteten Eizelle durch eine Menschenmutter, einer Menschenfamilie eines Menschengemeinwesens führen kann. Damit haben wir aber erst einige wenige Kennzeichen des biologischen Menschen ins Blickfeld gerückt: natürlich hätte man zu ergänzen - Zweibeinigkeit, fast haarloser Körper, Greifhand mit opponierbaren Daumen usw. - , aber das sollte für das Erste genügen. Wenden wir uns lieber dem neurobiologischen - also wohlgemerkt immer noch biologischen! - Bild des Menschen zu, dem L'Homme Neuronal (1983) wie Jean Pierre Changeux ihn nannte, denn er ist ja tatsächlich keine - newtonsche - Maschine, wie vielleicht Julian Offray de La Mettrie 1747 noch meinen mochte. Gewiss, das unendlich rückverflochtene Netzwerk des Gehirns, mit allen Sinnesorganen ständig mit dem ganzen Körper und seiner Außenwelt in Verbindung, auf die es mit Muskeln und anderen Effektoren zurückwirkt, ist schon die „Hardware" dieses Systems, dem der Geist nicht als Programm - wie in einem Computer - entspringt, sondern wie die Musik den Instrumenten eines Orchesters (aber ohne Dirigenten?). Aber das Gehirn denkt und fühlt und will etwas tun - nicht der Geist - : Er ist dieses bewusste Denken, Fühlen und Wollen und das Unbewusste genauso. Der Vergleich der Leistungen

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unseres Gehirns mit dem wohl koordinierten, vielstimmigen Klang eines „Klangkörpers" trägt durchaus weiter. Denn Rhythmik - der Muskelfasern bei jeder Bewegung des ganzen Körpers, im Lauf und im Tanz, in den Lautäußerungen der Sprache, in der musikalischen Begabung jedes Kindes schon selbst - liegt der Aktivität jedes Nervensystems zugrunde, vom Schwimmglockenschlag eines Medusenkörpers angefangen bis zu den Biorhythmen des schlafenden oder wachen Gehirns eines Menschen. Und es ist eben - wie uns die neuesten Verfahren der vielelektrodischen Elektrophysiologie und Magnetenzephalographie bis zum Lokalisationswissen aller verschiedenen bildgebenden Verfahren der modernen Neurologie zeigen - nicht nur der lineare Wirkungszusammenhang von Ursachen und Folgen am Werk, sondern die vielfältig in Regelkreisen zurückgeführte ganzheitliche Systemstruktur, deren geistige Leistungen das Kausalitätsprinzip nur im kleinsten Raum von Membran und Synapsen und vielleicht als große Umhüllende in einer Black-Box-Betrachtung des Ganzen zur Erklärung taugt, während dieses Gehirn, auf sich selbst und seinen Menschenkörper bezogen, durchaus Gedanken hervorzubringen und zu verfolgen vermag, die frei sind von dem Zwang physischer Ursachen, die zwischen Neuronen wirken: allein deshalb schon, weil der Geist nicht in oder zwischen den Nervenzellen und ihren synaptischen Verbindungen sitzt, sondern erst aus deren Verknüpfungen in einem lebendigen Gehirn eines Menschen zustande kommt. Gewiss gibt es geistlose Menschen genug, willenlose aber schon weniger. Und auch den Geistlosesten fehlt es oft nur am wirklichen geistigen Leben! Aber haben nicht Tiere ebenfalls Geist? Und wenn sie ein Gehirn besitzen, das zwar vielleicht etwas einfacher und kleiner als das Unsere ist, aber prinzipiell dennoch dessen Vorgänger, so wie die Brustflosse eines Fisches Vorgänger einer Hand ist, warum sollten sie dann über keinen Geist verfügen (oder er über sie), unterscheidet sich ihr Verhalten dann kategorial von dem eines Menschen? Es war Donald R. Griffin, der diesen Animal Mind 1976 zuerst als eine notwendige Konsequenz der Evolutionsbiologie des Menschen wirklich ganz ernst nahm und die „Kognitive Ethologie" hat es ihm seither nachgetan und hat vor allem mit der Schule Peter Marlers die Spuren der Entstehung der menschlichen Sprache in tierischen Lautäußerungen gesucht. Desgleichen verfolgte die Soziobiologie (auch „Evolutionäre Psychologie") die Entstehung und Entwicklung der Anlagen für Gemeinschaftsverhalten bei Tieren und Menschen und stellte die ethologische Erforschung des Menschenverhaltens damit erst biologisch-evolutionär auf genetisch festen Grund. Dabei meinte man lange, den wirklichen Wesenskern unserer Spezies darin zu finden, dass man alle Erkenntnisse (und Vermutungen) über angeborene Verhaltensformen des Menschen zu ermitteln suchte, um diese dann - gleichsam evolutionsgenetisch - vergleichend bis zu ihren Wurzeln im Tierreich zurückzuverfolgen. Heraus kam dabei aber ein seltsam skelettierter, auf ein angeborenes Gerüst reduzierter Mensch, so als beruhe ein Bauwerk im Wesentlichen aus den tragenden Verstrebungen, sozusagen seinem Moniereisengerüst. Dem Menschen kommt man aber nicht näher, wenn man solchen Verstrebungen folgt, sondern erst, wenn man seine Bestrebungen genauso ernst nimmt. Hier hat sich nämlich bei der - durchaus genetischen - Evolution des Menschen und vor allem der Leistungen seines Gehirns etwas ganz Unerhörtes, niemals zuvor Dagewesenes ereignet. So wie durch autokatalytisch auf seine eigenen Ursachen rückwirkende

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Selbstorganisation unbelebter Materie das lebendige System „Zelle" entstand, so entsprang dem verhaltenskontrollierenden System des tierischen Gehirns mit wachsender Vergrößerung desselben der menschliche Geist als eine völlig neue, andersartige Hervorbringung des Lebendigen. Wo Tiere aus genetischem Antrieb oder aufgrund äußerer Reizeinwirkungen ihr Verhaltens-Programm verwirklichen, befreite die genetische Evolution sich gleichsam selbst von solchen Fesseln und überantwortete sie bis auf wenige Anteile - allerdings die z.B. sehr wichtigen Antriebssysteme, die wir Emotionen nennen von der genetischen Engführung und überließ es dem Lernvermögen, vor allem in der kulturellen Evolution der sozialen Gemeinschaften zunehmend, menschliches Verhalten gegenüber der natürlichen wie der sozialen Umwelt fein abzustimmen. Dadurch machte sie es unendlich flexibler, allerdings von Lernvorgängen zugleich abhängiger. An die Stelle der Programmierung durch angeborene genetische Zwänge traten daher die individuellen Lernnotwendigkeiten, aber auch die kulturellen Zwangsanleitungen durch die Indoktrination, um das Verhalten in der sozialen Gruppe besser vorhersagbar und damit kohärent leistungsfähiger zu machen. Der scheinbaren Verhaltensbefreiung folgte daher so manches Mal die viel wirkungsvollere „Entfreiung" des Menschen durch die Sitten und Normen seines Stammes, dessen identitätsstiftenden, welterklärenden, hoffnungsbescherenden, todesangsthemmenden Glaubens, von dem erst im zweiten, überaus mühsamen Befreiungsvorgang der Aufklärung des Denkens das kreative Potential des Menschengehirns vollends „freigesetzt" wurde. Ein Vorgang, den jeder Einzelne erfahren muss, den wir als soziales System aber noch lange nicht zu Ende durchschritten (durchlitten?) haben! So wurde endlich aus einem Menschenaffen ein Philosoph, möchte man fast sagen. Aber dazu müssen wir die einzelnen Schritte etwas näher betrachten, wobei wir den Rubikon vom sich verhaltenden Tierwesen Homo sapiens zum nachdenkenden Menschenwesen - zugegebenermaßen zum Teil durchaus spekulativ (also uns selbst im Spiegel der Selbsterkenntnis betrachtend!) - zu überschreiten suchen. Aber alle Reflexion muss letzten Endes spekulativ sein, nicht nur, weil sich die Neurowissenschaften neuerdings so liebevoll auf die Spiegelneuronen stützen - die bekanntlich genauso aktiv werden, wenn ein Affe handelt, wie wenn er bei derselben Handlung zusieht - , sondern weil die Spiegelung eigener Gehirnaktivität im eigenen Geist dessen eigentliche Leistung ausmacht: das Nach-Denken, das jedem Voraus-Denken vorangehen muss, denn erst durch deren Be-Denken werden aus Ursachen Gründe. Das Gehirn wirkt sozusagen wie ein Filter, das die Ursachen erst Wirklichkeit werden lässt, nachdem es sie bedacht hat - als bedenklich oder bedenkenswert befunden. Das psychologische Menschenbild gründet vor allem anderen auf dem Bewusstsein seiner/seines Selbst und auf der Sprache, die dessen Inhalte sozial der Sprachgemeinschaft zugänglich machen. Deshalb geht mit jeder Sprachfähigkeit die Zuschreibung geistiger Leistung im Hörer einher. Damit sind wir freilich in elegantem Satz weit über jenen Rubikon hinaus gesprungen. Denn über das Bewusstsein von Tieren wissen wir wenig, wie sollten wir auch, außer dass es sehr wohl existiert, um so gehaltvoller und einflussreicher, je höher das Gehirn entwickelt ist, vor allem je größer, d. h. neuronenund verbindungsreicher es wurde. Noch schlechter steht es mit unserer Kenntnis von einem Selbstbewusstsein bei Tieren, allen Spiegelexperimenten, die doch diese Selbst-

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erkenntnis anzeigen sollen, zum Trotz. Menschenaffen, vielleicht einigen anderen Säugetieren, vielleicht sogar manchen Vögeln könnten wir es wohl ebenso zutrauen wie Menschen, die sprachunfahig sind oder deren Sprache wir nicht verstehen. Umso wichtiger, dass wir von unserer Spezies eines - nämlich durch Selbsterkenntnis ganz sicher wissen: dass wir Selbstbewusstsein besitzen. Vielleicht zu dessen Beweis: dass wir es durch Drogen, Misshandlung, Schlaf zeitweise (und Tod endgültig?) auch verlieren können - also muss es vorher erst einmal dagewesen sein! Und dass wir durch Sprache davon kundtun können - wie immer beides evolutiv entstanden sein mag, was viele beschäftigt, wenigen jedoch zweifelsfrei zu sein scheint. Zur Zeit sehen manche Neuropsychologen keinen Anlass, diesem Organismus, der denkt, der nach- und vorausdenken kann, der die Wahrheit sagen, aber der genauso gut lügen kann, Freiheit von psychischer Kausalität zuzusprechen, zumal im Gehirn bereits viele Sekunden vor einer bewussten Handlung deutliche Anzeichen der neuralen Vorbereitung darauf nachweisbar sind. Zwar gäbe es die einfache Antwort darauf, dass der, der vorbereitet, schließlich auch ICH ist, also immer noch das eigene Gehirn darüber entscheidet, was es tun will und was es tun sollte. Da dies jedoch zumindest teilweise unbewusst geschieht, will mancher ungern von „Willensfreiheit" sprechen, die doch bewusste freie Entscheidung voraussetzen soll - als müsse einer unfrei sein, der unbewusst so und nicht anders entscheidet. Wichtiger schon, dass die Vorbereitung zur Handlung meinetwegen auch unbewusst - oft der Entscheidung vorausgeht, die über die Möglichkeit zu handeln eben nach bewussten Gründen zu entscheiden vermag; zum Beispiel auch, das Vorbereitete zu unterlassen. Gravierender scheint aber vielleicht noch ein anderer Einwand gegen freie Entscheidung, der von sozialpsychologischer Seite vorgebracht wird: seien es doch vor allem die Verhältnisse, die das menschliche Handeln bestimmen - zumal selbst Biologen zugeben müssen, dass die genetischen Anlagen des menschlichen Verhaltens der Kultur, also dem Lernvermögen, einen sehr weiten Spielraum der Verwirklichung lassen (oder ihn überhaupt erst schaffen!). Ob bei Studenten in Stanford oder Soldaten in Abu Ghraib - und, so sollte man hinzufügen, in Auschwitz - : Erst die Gelegenheit und die soziale Verstrickung macht aus guten Menschen bösartige Missetäter, schließt etwa Philip Zimbardo aus seinen Experimenten und aus wirklichen Ereignissen in seinem Lucifer Effect (2007). So wie Sozialwissenschaftler aus strikt vorhersagbaren statistischen Verteilungen von Populationen - etwa ihres Fortpflanzungsverhaltens, den Scheidungsraten oder von Suizid- oder sogar Mordhäufigkeiten - ableiten können, dass der einzelne Mensch mit seinen Bewegungen gerade so viel wie ein Molekül zur Temperatur eines Gases beizutragen vermag - individuell vielleicht variabel, aber ein belangloses Partikel eines Ganzen, das nur als Ganzes zählt. Eine solche „molekulare" Betrachtungsweise des sozialen Gesamtsystems ließe aber gerade die psychologische Sicht des einzelnen Menschenindividuums außer Acht. Genauso wie Joachim Fest dies schon im Titel seiner Lebensgeschichte so unnachahmlich ausdrückte „Ich nicht!". Erst durch die Reflexion der eigenen Gedanken und Beweggründe und jener der anderen, auch wenn diese dabei der großen Menge folgen, entsteht doch aus den verursachenden Umständen, mit denen der Geist sich auseinandersetzt, die persönliche Entscheidung aus eigenen Gründen. Als „Autor" seines Handelns wird der Mensch erst dadurch frei, dass er abwägt, ehe er handelt, dass er zögern kann, selbst wenn es ihn

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bedrängen mag. Es sind schon die Umstände, die einen Menschen verführen können, aber es ist der Mensch, der solche Umstände erst sucht, schafft oder duldet. Freiheit ist kein Begriff, der aus der physischen Welt stammte oder sich auf sie beziehen könnte. Es ist ein philosophischer Begriff des Denkens, das sich mit den eigenen Gründen befasst, gewiss von der Physis begrenzt, so wie der Fähigkeit zum Flug durch die Wirkung der Schwerkraft begrenzt wird, aber als die Herausforderung, den Flug zu versuchen. Im bewussten Denken wird das Gehirn sich seiner Tätigkeit gewahr; ohne Bewusstsein kein Geist, höchstens Gehirnaktivität. Der Geist ist gewiss keine leere Wachstafel, in die erst die Kultur - manchmal sehr schmerzhaft - ihre Botschaft ritzt. Aber schon als Tier hat der Mensch Kultur, wie John T. Bonner in The Evolution of Culture in Animals (1980) so vielfältig darlegte. Deshalb ist der Mensch immer mehr als ein Zellgebilde, nämlich ein Zellgebilde, das über seinen Zustand in Vergangenheit und Zukunft nachdenken und damit - wie gesagt: in Grenzen - verfügen kann. Auch Philip Zimbardo schließt aus seinen in der Tat tief erschreckenden Beobachtungen an „freien" Versuchspersonen nicht, dass alle Menschen immer unfrei seien, sondern dass sie sozial verführbar sind und dass es oft nur wenige sind, die der Versuchung, sich durch die Umstände bestimmen zu lassen, zu widerstehen vermögen. Erst die Gefahr der völligen Unfreiheit, die zum Anlass der eigenen Auflehnung dagegen werden kann, indem sie hervorruft, sich mit ihr auseinanderzusetzen, macht die Freiheit zum Anderssein möglich, geistig und in der Tat. Zugleich erzwingt diese Freiheitsmöglichkeit des Einzelnen die soziale Kontrolle durch Sitten und Normen, die durch Mythen und Weltansichten begründet werden, macht aus Homo sapiens den wertbewussten, normenbedürftigen Menschen. Religionen - nach dem Wort des Apostels Paulus: „den Andersgläubigen ein Ärgernis, den Ungläubigen eine Torheit" - werden so zum Inbegriff sozialen Vor-Urteils, zu einem Urteil über das ganze Leben, das der Existenz jedes Individuums vorausgeht. Sie zur privaten Glaubenssache zu machen - einer Art Westfälischen Friedens innerhalb einer jeden Menschengemeinschaft - setzt den zumindest teilweisen Verzicht auf das doch naturgegebene Vorrecht der Eltern voraus, die eigenen Kinder auf ihr Leben vorzubereiten, indem man sie lehrt - also indoktriniert. Der mühselige Weg des Erwerbs der Unterscheidung von privater Moral und dem gemeinsam für alle geltenden Recht in der Aufklärung, der keineswegs zu Ende gegangen ist, da er in jedem Individuum neu beschritten werden muss, ist wie der Schritt von genetischer Programmierung zur Befreiung durch die Kultur, die sehr leicht wieder in kulturelle Fremdbestimmung zurückfällt. Wodurch der einzelne Mensch zwar nach Maßen frei, aber auch mit seinem Geist alleingelassen worden ist - allerdings durch Sprache und Schrift und Bild und Musik mit dem Geist anderer Mitmenschen, lebenden wie toten gleichermaßen, nach eigenem Begehren verbunden. So erzwingt das psychologische Menschenbild vom selbstverantwortlich entscheidungsfähigen Menschen das juridisch-normative Bild der Menschgemeinschaft, in die er eingebettet lebt. Wer nur Ursachen und Wirkungen sieht, kennt auch nur die Menschenwürde der Täter; deren Opfer sind höchstens jenes Mitleids wert, als wäre eine Regenflut oder ein Vulkanausbruch über sie gekommen. Erst wer Willensfreiheit und Schuld anerkennt, als Ausdruck solcher Menschenwürde der Täter, kann auch das Opfer

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voll in den Blick nehmen und die Verantwortlichkeit der Täter. Die Strafe wird so nicht zum pädagogischen Sozialregulativ, das Gefängnis nicht zur geschlossenen psychiatrischen Anstalt, die für eine Gemeinschaft das Schlimmste verhindern soll, sondern zur ausdrücklichen Anerkennung der Menschenwürde des Täters, der sich zu seiner Tat bekennen muss, weil er deren Folgen bewusst in Kauf nimmt. Sie nimmt den Täter - wie das Opfer, wie das neugeborene Kind - absichtsvoll in den Kreis der Menschengemeinschaft auf und macht ihn damit durch bewusste Entscheidung erst zum Menschen. Wer Schuld und Ursache verwechselt, wer die Sätze „Das schlechte Wetter war schuld" und „Er hat Schuld auf sich geladen" nicht auseinander halten kann, der glaubt auch, dass Willensfreiheit physikalisch widerlegbar ist! Die Zuschreibung des Geistes, wie man die Annahme einer Theory of Mind bezeichnen mag, die eines der herausragenden Kennzeichen von Homo sapiens gegenüber den allermeisten anderen Lebensformen ist, macht aus dem Anderen erst Meinesgleichen und ist der Ausgangspunkt der Menschwerdung, nicht als biogene Spezies wie andere, sondern als ein mit einzigartiger Würde begabtes Wesen. So treibt die Evolution den Menschen weit von den Ufern fort, von denen er - genetisch - einmal ausgegangen ist. Die Individualität, die ihm seine einzigartige GenAusstattung biologisch verliehen hat, wird zur Individualität des viel einzigartigeren Gehirns und Geistes, das sie hervorgetrieben hat, und die sich erst entwickeln muss, in dem sie sich selbst erst erschafft - aus eigenen Erfahrungen, eigenen Gedanken, eigenen Fähigkeiten, eigenen Antrieben. Es gäbe niemals genug Gene in einem Genom, um ein solches Monstergeflecht - im doppelten Sinn der Bedeutung! - aus Neuronen und ihren Verbindungen zu programmieren. Die Gene mussten es loslassen, damit es größer und gewaltiger werden konnte als alles zuvor in der Natur Existierende. Sie haben damit die Bedingungen der Freiheit des Geistes geschaffen, da sie es nicht vermochten, etwas hervorzubringen, dessen Leistungsfähigkeit („Fitness" genannt) jene der Lebewesen übertraf, die sich selber organisieren und daher zurecht als geistig einzigartig ansehen: als einzigartig im Guten wie im Schlechten - aber selbst den Begriff des Guten und Schlechten konnten erst ihre Gedanken ersinnen! Der Widerspruch zwischen dem freien Individuum, dem von allen guten Genen Verlassenen, dem Losgelassenen der Evolution, in seiner Abhängigkeit von der Funktionsfahigkeit des sozialen Systems, dem es angehört und das das Individuum erst zur Reife bringen konnte, indem es ihm eine Ordnung seines Daseins vorgab, wird freilich immer noch bestehen bleiben: als Politik und Religion, als Normen und identitätsbestimmende Werte für das Ganze und als Auflehnung des Einzelnen gegen deren Erstarrung. Damit das Rad des Lebens nicht stehenbleibe.

Bibliographie Bonner, John T. (1980): The Evolution o f Culture in Animals. Princeton: Princeton University Press. Changeux, Jean Pierre (1983): L'homme neuronal. Paris: Fayard. de La Mettrie, Julian Offray (1747): L'homme machine. Hamburg 1990: Felix Meiner.

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Griffin, Donald R. (1976): The Question of Animal Awareness. Evolutionary Continuity of Mental Experience. New York: Rockefeller University Press. Surowiecki, James (2005): The Wisdom of Crowds. New York: Anchor Books. Zimbardo, Philip (2007): The Lucifer Effect. Understanding How Good People Turn Evil. New York: Random House.

Moral und Politik

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Aristoteles über den Krieg

Vorbemerkung Der folgende Text ist in der DDR entstanden. Aristoteles diente mir als Umweg für die Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen trivialisierten Marxismus-Leninismus und namentlich seinem Politikverständnis, das für die Innenpolitik die Formel „vollständige Befriedigung der wachsenden Bedürfnisse" ausgab, die Außenpolitik als internationalen Klassenkampf und die Philosophie als Ideologie der jeweils herrschenden Klasse deutete. Der Umweg über Aristoteles sollte vor allem eine differenziertere Wahrnehmung befördern. Bedrohlicher als die Verweigerung bürgerlicher Freiheiten ist in einer ideologischen Diktatur der schleichende Verlust der geistigen Freiheit, der Fähigkeit, sich im Denken zu orientieren. Diese Freiheit stellt sich mit dem Ende der Diktatur nicht automatisch ein.

Der Krieg ist in der Politik des Aristoteles nur ein beiläufiges Thema. Zudem ist sie auf eine soziale und politische Ordnung bezogen, die nicht die unsrige ist. Trotzdem lohnt sich die Mühe einer erinnernden Interpretation. Einmal nämlich ist die politische Theorie des Aristoteles bis in die Neuzeit hinein maßgebliche Autorität der politischen Wissenschaft geblieben. Andererseits war die griechische Welt, auf die sich diese Theorie bezieht, so bunt, dass Aristoteles aus einer viel breiteren Anschauung politischer Möglichkeiten heraus spricht, als sie uns trotz ausgebreiteter historischer Forschung vertraut ist. Und Aristoteles präsentiert elementare Sachverhalte, die sich in unserer hochkomplizierten Welt, die deshalb zu Vereinfachungen geradezu herausfordert, eher verstecken. Auch mit dem heute so engagiert verhandelten Thema des Krieges geht Aristoteles so unbefangen um, dass sich unerwartete, manchmal auch schockierende Perspektiven eröffnen. Sie stehen oft im Kontrast zu dem uns Selbstverständlichen. Wenn ich sie im Folgenden referiere, empfehle ich sie selbstverständlich nicht unkritisch zur Zustimmung. Es sind genauer zwei Perspektiven, von denen aus Aristoteles den Krieg in den Blick nimmt, vom oikos her und von der polis her, aber so, wie er sie verstand und vorfand und das hat wenig zu tun mit dem, was wir den ökonomischen und politischen Aspekt das Krieges nennen würden. Oikos heißt lateinisch familia, aber nicht Familie, sondern Haushalt im alteuropäischen Sinne. Polis heißt lateinisch res publica, aber weder Staat noch Obrigkeit, sondern

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bürgerliche Gemeinschaft (koinônia politikê, lateinisch societas civilis, neuerdings Zivilgesellschaft). Zwar ist, wie für uns, oikos von polis als der private vom öffentlichen Bereich unterschieden, aber während fur uns das Private die Öffentlichkeit nichts angeht, heißt lateinisch privatus: beraubt, nämlich der Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten; griechisch heißt der Privatmann idiotes, Sonderling, er ist gefesselt ans Eigene, isoliert. Oikos ist im Blick auf die volle Entfaltung menschlicher Möglichkeiten eine Sphäre der Defizienz. Die Dimension von Intimität und Innerlichkeit, die unser Verständnis des Privaten bestimmt, ist den Alten fremd. Andererseits verstehen sie die Sphäre der Öffentlichkeit nicht als das Draußen eines rauhen Menschenlebens, sondern fast umgekehrt als to koinon, das Gemeinsame und insofern Vertraute. Die private Sphäre verstehen wir als Sphäre der Freiheit (freilich zumeist bloß einer Freiheit der Beliebigkeit), die öffentliche als die der gesellschaftlichen Zwänge. Fast umgekehrt ist für Aristoteles der oikos die Sphäre der Unfreiheit und erst in der polis wahre Freiheit möglich. Die Alten kennen noch nicht „die Gesellschaft" als ein Drittes oder Mittleres zwischen Familie und Staat. Der Zwang, dem der Haushalt untersteht, ist die Notwendigkeit der Lebensfristung. Das Notwendige muss um des Überlebens willen beschafft werden und das geschieht im Haushalt durch Arbeit. Ökonomie heißt damals Haushaltskunde und umfasst das notwendige Wissen eines Hausvaters. Die Alten kannten noch keine Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie. Die Freiheit, die allein in der polis möglich ist, ist die Freiheit von diesem Zwang als Freiheit zur Muße und den nur in der Muße gelingenden Tätigkeiten der Künste, der Wissenschaften und der gemeinsamen Wahrnehmung der gemeinsamen Angelegenheiten, wofür die Griechen das Verb politeuesthai haben. In der Perspektive des Haushalts ist der Mensch zunächst als Bedürfniswesen angesprochen, das arbeiten oder arbeiten lassen muss, um sich das Lebensnotwendige aneignen zu können. Hier ist der Mensch bloß Mensch, und das heißt hier: Lebewesen. In der Perspektive der Stadt ist der Mensch als ein der Wahrheit und Freiheit fähiges Wesen angesprochen, das im freien, von Bedürfnisnötigungen freien Blick anerkennen, seinlassen und gelten lassen kann. Nach Aristoteles sind diese Möglichkeiten dem Menschen erst als Bürger erschlossen. Die altorientalischen Sprachen haben kein Äquivalent für Bürger. Wie sich Menschsein und Bürgersein zu einander verhalten, ist eine unserer großen Anfragen an Aristoteles. In nichtaristotelischer Terminologie nenne ich das Prinzip des Haushalts: Aneignung, das Prinzip der Stadt: Anerkennung. Von diesen beiden Perspektiven her nimmt Aristoteles den Krieg in den Blick. Was ich Aneignung nenne, entspricht etwa den unter Verdinglichung oder Objektivierung verhandelten Sachverhalten der sog. Subjekt-Objekt-Beziehung. Anerkennung dagegen schließt ein Seinlassen ein, setzt also eine Subjekt-Subjekt-Beziehung voraus, wie sie besonders evident in der Intersubjektivität erfahren wird. Dass die folgende Studie zwei nichtaristotelische Begriffe zum Leitfaden nimmt, ist in einer Nebenabsicht begründet. Gezeigt werden soll, dass das Begriffspaar BedürfhisBedürfnisbefriedigung/Aneignung kein angemessenes Verständnis des Menschen in seiner Welt eröffnet. Müssen wir doch die Perspektive von Bedürfnis und Aneignung bereits verlassen, um auch nur zu verstehen, was es mit Bedürfnis und Aneignung auf

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sich hat. Wir können aber diese Perspektive auf zweierlei Art verlassen. Entweder nämlich betrachten wir den Menschen als ein Bedürfniswesen, als wären wir selbst keine, also sozusagen von außen. Das ist der zuletzt weltlose Standpunkt der Objektivation, der Wirkungszusammenhänge analysiert, um eingreifen zu können. Selbstverständlich ist diese Perspektive an ihrem Ort berechtigt und unverzichtbar. Oder wir distanzieren uns von unseren Bedürfnissen und Interessen, indem wir die Bedürfnisse und Interessen anderer mitsehen und anerkennen. Das ist der weltengagierte Standpunkt der Intersubjektivität, der die eigene Welt überschreitet, ohne aber aus der Menschen weit selbst herauszutreten. Objektivität und Parteilichkeit sind deshalb ambivalente Begriffe, weil sie jeweils auf zwei dieser drei Perspektiven bezogen werden können. Die Faszination, die vom Bedürfnisbegriff ausgeht, scheint mir darin begründet zu sein, dass er verspricht, die Menschenwelt von einem unanfechtbar eindeutig gegebenen Grundphänomen von Lebendigkeit her zu rekonstruieren, wogegen Begriffe wie Gerechtigkeit, Vertrauen, Seinlassen und Anerkennen, die der Intersubjektivität zugehören, sogleich unter Ideologieverdacht stehen oder doch unter dem Verdacht geschichtlichkultureller Relativität, und das scheint zu heißen: Unverbindlichkeit. Nun ist freilich wahr, dass diese Begriffe geworden sind. Aber dasselbe gilt vom Bedürfnisbegriff, der erst in der Aufklärung Karriere gemacht und die zuvor als Notdurft und Begierde differenzierten Phänomene nivellierend zusammengefaßt hat. Eine Bedürfnisanthropologie überspringt den Sachverhalt, dass Menschen immer ein Verhältnis zu ihren Verhältnissen und auch zu ihren Bedürfnissen haben, ein ausdrückliches oder unausdrückliches Selbstverständnis. Wollten wir diesen Sachverhalt noch einmal als Bedürfnis, etwa als Bedürfnis nach Sinn, interpretieren, so würden wir den Gewinn einer begrifflichen Vereinheitlichung mit einer irreführenden Metapher bezahlen. Während nämlich ein Bedürfnis wie der Hunger als Mangel empfunden und durch Nahrung gestillt wird, bis wieder Hunger eintritt, leben wir immer schon ein Selbstverständnis, das wir weder beschaffen wie Brot noch verbrauchen wie Brot. Sinnverlust kann nicht durch Sinnbeschaffung kompensiert werden. Zuletzt steht wohl hinter dem Interesse am Bedürfnisbegriff das Interesse an Objektivierung: die Menschenwelt auf solche Faktoren zurückzufuhren, die prinzipiell menschlicher Verfugung unterworfen werden können. Aber niemals ist unser Selbstverständnis unserer Verfugung unterworfen. Denn unser Selbstverständnis, unsere Überzeugungen, das sind ja wir selbst, wie wir uns in unserer Welt auskennen. Wollten wir dieses unserer Verfügung unterwerfen, so könnten wir nicht mehr angeben, wer das ist, der sich hier etwas unterwirft. Unser Selbstverständnis können wir nie selbst erzeugen, sondern nur aus neuer Begegnung neu interpretieren. Dies ist dann immer der Versuch, uns mit unseren Überzeugungen besser zu verstehen, als wir uns bisher verstanden haben. Es ist aber immer das Ganze unserer Welt, das wir in unserem Selbstverständnis immer schon irgendwie verstanden haben. Deshalb hat in den sog. Gesellschaftswissenschaften das Verfahren, das die Menschenwelt aus Elementen rekonstruieren will wie das Molekül aus Atomen, immer das Mißliche bei sich, dass wir uns im Resultat nicht voll wiedererkennen können. Es scheint nun, als würde auch Aristoteles in seiner Politik genetisch vorgehen, denn er beginnt mit den notwendigen Elementen jeder menschlichen Gemeinschaft (1252a26). Genauer besehen aber geht er analytisch vor, d. h. er setzt das Ganze menschlicher

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Lebenswirklichkeit voraus (to pan 1252a20), wie er es in der griechischen polis, diese auf ihre besten Möglichkeiten hin und nicht einfach in ihrem faktischen Bestehen betrachtet, kennt, und fragt zurück nach den Teilen dieses Ganzen, ohne jedoch zu vergessen, dass sie Teile sind. Deshalb ist die polis nach Aristoteles „von Natur früher" als der Haushalt oder der einzelne (1253al9). Das soll weder heißen: „Du bist nichts, dein Volk ist alles", noch den einzelnen zum bloßen ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse degradieren, sondern erklärt die allein in der polis mögliche Freiheit zur Bedingung der vollendeten menschlichen Lebensweisen. Und es schließt auch nicht aus, dass es Menschen gibt, denen diese Möglichkeiten fremd und verschlossen waren. Aristoteles setzt voraus, dass die Menschen der Urzeit zerstreut lebten wie die Kyklopen Homers (1252b22). Das von Natur Frühere ist also keineswegs das zeitlich Frühere, sondern die Lebensform, in der sich erst Menschsein vollendet entfalten kann. Diese aber läßt sich nicht genetisch erklären. Deshalb sagt Aristoteles: „die polis entsteht um des Lebens willen, sie besteht aber um des guten Lebens willen" (1252a29). Jenes Entstehen erschließt nicht dieses Bestehen. Qualitativer Sprung und Fulguration sind die Notauskünfte eines genetischen Denkens für die Unableitbarkeit des geschichtlich Neuen, das gleichwohl, wenn es einmal als ein Besseres erschienen ist, ein Unhintergehbares und insofern Apriorisches, von Natur Früheres wird und bleibt - solange es noch erinnert wird. In Wahrheit denkt Aristoteles nicht genetisch, sondern teleologisch. Er versteht die polis nicht als vergrößerten Haushalt, sondern den Haushalt als defiziente polis, die polis ist das Ziel der ersten Gemeinschaften (1252b31). Wer (nicht bloß zufällig) polislos lebt (apolis 1253a3), unterbietet oder überbietet die menschlichen Möglichkeiten; er ist ein Tier oder ein Gott (1253a29) und im ersteren Falle ist er zum Krieg geneigt, weil bindungslos (azyx) wie ein isolierter Stein im Brettspiel (1253a6). Soziale Isolierung befördert Gewalttätigkeit. Darin zeigt sich bereits, dass das Prinzip der polis nach Aristoteles Frieden ermöglicht. Trotzdem gibt er keine Lehre vom ewigen Frieden, sondern erklärt: „Die Übung des Kriegswesens darf man nicht zu dem Zweck pflegen, diejenigen zu knechten, die es nicht verdienen, sondern erstens um nicht selbst von anderen geknechtet zu werden, sodann um die Vorherrschaft (hegemonian) zum Besten der Beherrschten zu erlangen, nicht aber zum Zweck der Herrenherrschaft über alle, drittens aber, um die Herrenherrschaft zu erlangen über die, die es verdienen zu dienen" (1133b38ff.). Auf die Erhaltung der Freiheit Freier, die Vorherrschaft der tüchtigeren Freien über die weniger tüchtigen und die Herrschaft Freier über Unfreie ist also das Kriegswesen in einer wohleingerichteten polis auszurichten. Der Schlüssel zum Verständnis dieser nach Aristoteles gerechtfertigten Kriegsgründe ist in seinem Verständnis von Freiheit und Unfreiheit zu suchen. Unsere Analyse konzentriert sich deshalb auf den dritten Kriegsgrund, der uns besonders irritieren muss: die Sklavenjagd.

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1. Menschliche Bedürfnisse. Die Ökonomie und der Krieg „Ohne das Notwendige ist weder zu leben noch angemessen zu leben möglich" (1253b24f.). Menschen müssen sich ernähren, sich kleiden, wohnen usw. Dieses Muss ist die in der Verfassung jedes Lebewesens begründete Notdurft (chreia, anagkaion). Deshalb lassen sich die einfachsten menschlichen Lebensweisen (bioi) nach der Art unterscheiden, wie das Lebensnotwendige beschafft wird, also nach der Art des Erwerbs. Er kann direkt erfolgen oder durch Tausch (1256a41). Direkt erwerben das Notwendige nach Aristoteles Nomaden, Bauern, Räuber, Fischer und Jäger. Die letzten drei leben von der Jagd, die ersten beiden von der Erde, denn die Nomaden betreiben gewissermaßen einen lebendigen Ackerbau (1256a34ff.). Dieser Unterschied kann präziser interpretiert werden. Der Jäger (wie auch der Sammler) nimmt sich, was er braucht. Was zur Nahrung dient, wird vertilgt, die Ente wird zum Braten, dieser wird gegessen und verdaut. Die Jagd ist sozusagen der erste Schritt zur Verdauung, indem sie die Selbstbewegung des Beutetiers tilgt. Das Beutetier kommt zunächst nur als Gegenstand eines Bedürfnisses in den Blick, und das heißt nicht als es selbst in der Selbständigkeit seines Wesens. Es wird objektiviert zum Objekt eines Bedürfnisses. Solche Objektivierung ist zugleich immer subjektiv, weil das Bedürfnis den Horizont der Wahrnehmung und des Handelns bestimmt. Der noetischen Abblendung des Selbstseins des vorgesehenen Beutetiers folgt die Entwesung durch den Fangschuß, dem sogleich die Verwertung folgt, ehe nämlich die Verwesung einsetzt. Wir können diesen Prozeß der Objektivierung Verdinglichung nennen, weil, was sich soeben noch frei in seinem Element bewegte, nun tot daliegt wie ein Ding. Indessen liegt ein Ding, wie ein Stein, nie tot da, weil er nie lebendig war. Wo er sich von selbst befindet, da befindet er sich zudem aufgrund seiner Geschichte, der er auch seine Gestalt verdankt. Der Stein begegnet zunächst in einem „Geotop" so ähnlich wie ein Lebewesen in seinem Biotop zu Hause ist. Deshalb ist die Metapher vom gewachsenen Fels durchaus gerechtfertigt. Treffender nennen wir diesen Prozeß wohl Entdinglichung oder Entwesung. Die Perspektive, aus der heraus wir Jagd als Entdinglichung beschreiben, ist freilich nicht die der Jagd selbst. Sofern diese als Befriedigung eines Bedürfnisses verstanden und vollzogen wird, ist sie nämlich bloß Nahrungsbeschaffung. Schon die Beschreibung der Aneignung verlangt also einen weiteren Horizont als diese selbst. Genauer besehen kommt aber auch der Jäger selbst mit der Perspektive der Aneignung nicht aus. Mindestens muss er ja die Gewohnheiten seines Beutetiers kennen, um es zu treffen. Und der Revierförster des Kulturwaldes ist schließlich ein Wildhüter, der seine Tiere wohl gar kennt und nach dem Gesichtspunkt der Erhaltung des Wildbestandes jagt. Aber auch Jägervölker zeigen ein eher symbiotisches Verhältnis zu ihren Beutetieren bis hin zu Sühneriten und der Verehrung des Herrn der Tiere. Nachklänge davon finden sich im modernen Jagdritual. Der rechte Jäger kennt auch die Trauer über seinen Erfolg, weil er schließlich auch ein Lebewesen ist und weiß, was Gejagtwerden bedeutet. Jäger fangen ihre Beute, der Räuber raubt sie. Er vollzieht Aneignung durch Enteignung. Was er sich aneignet, hatte sich zuvor schon jemand angeeignet, und zwar jemand,

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der, weil er derselben Gattung zugehört, also auch ein Mensch ist, ungefähr dasselbe braucht oder gebrauchen kann und dergleichen bereits um sich versammelt hat. Der Raub ist deshalb die effektivere Aneignung. Man braucht das Erz nicht erst zu hauen, zu schmelzen, zu gießen, wenn man den fertigen Kessel raubt. Außerdem kann der Räuber sehr viel mehr rauben als er selbst verfertigen könnte und zudem auch solches, das er selbst niemals verfertigen könnte. Auch lässt sich das Produkt viel leichter rauben als das know-how. Denn um in den Besitz des Produkts zu kommen, braucht man den Besitzer nur zu überwältigen. Um aber in den Besitz seiner Künste zu kommen, müsste man ihn mindestens leben lassen. Das ist für die Aneignung ein ineffektiver Umweg. Freilich ist der Raub immer parasitär. Denn die Mühen der Kesselherstellung, den Erwerb dieser Fertigkeit und die Unterhaltung einer Werkstatt kann man sich nur ersparen, wenn andere sie sich nicht ersparen. Die Überlebensstrategie des Raubes ist deshalb auch nicht verallgemeinerungsfähig. Aber warum sollte sie es sein? Von Bedürfnis und Aneignung her kommt das Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit gar nicht in den Blick, sondern genau das Gegenteil: was ich verbrauche, kann ein anderer eben deshalb nicht verbrauchen; was ich gebrauche, kann jedenfalls nicht zugleich ein anderer gebrauchen. Nicht alle Mäntel sind so groß wie der des Heiligen Martin, und außerdem hält doppelt besser warm. Friedrich II. soll gesagt haben: „Maria Theresia und ich wollen genau dasselbe: Schlesien". Konkurrenz ist begründet in Aneignung. Christen und Nichtchristen werden sich leicht entrüsten, dass in der Aufzählung friedlicher Berufe der Räuber erscheint. Aristoteles aber, der so wenig wie wir unter die Räuber fallen wollte, hat doch darin recht, dass es das einfach gab: Völker, die vom Raube lebten, besonders in der Verbindung von Nomaden- und Räuberleben (1265b4f.), aber auch als Seeräuber bis heute oder in der Verbindung von Händler- und Räuberleben wie die Wikinger des frühen Mittelalters. Der Jäger und der Räuber haben zudem tatsächlich dies gemeinsam: sie folgen der Logik der Aneignung. Aneignung aber ist fur jedes Lebewesen notwendig. Deshalb ist Leben immer Leben auf Kosten der Lebensmöglichkeiten anderer Lebewesen, bei Tier und Mensch zudem in dem Sinne, dass sie nur leben können, wenn sie andere Lebewesen vernichten, verzehren und verdauen. Insofern sind Mensch und Tier von Natur parasitär. Freilich gibt es einen elementaren Sachverhalt, der es verwehrt, das Räuberleben so einfachhin zu den menschlichen Möglichkeiten zu zählen. In der Rhetorik bemerkt Aristoteles beiläufig, die Räuber nennen sich selbst gar nicht Räuber, sondern Beschaffer {poristai 1405a25), sie wollen nicht geraubt, sondern bloß organisiert haben. Offenbar kann zwar ein Mensch dem anderen ein Wolf sein, die meisten möchten das dann aber weder sich eingestehen noch anderen sagen. Kein Räuber will sich erwischen lassen. Aber auch vor denen, die ihn gar nicht erwischen können, will er sich nicht als Räuber sehen lassen, denn dann erscheint er als aneleutheros, „ehrlos" übersetzen wir wohl am besten (Nik.Eth.ll22a7) und als ungerecht (1134al9), und das unterscheidet den Räuber vom Jäger. Offenbar sind wir durch die Sprache schon immer in die Perspektive von Anerkennung versetzt. Wir werden, wenn wir uns Räuber nennen oder Räuber genannt werden, genötigt, uns so zu verstehen, wie wir Räuber verstehen, das aber können und wollen wir zumeist nicht. Als Sprachwesen sind wir immer schon in einen Horizont eingelassen, der uns nötigt, uns mit den Augen anderer zu sehen, wir

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haben einen Ruf und ein Verhältnis zu ihm, es sei denn, wir leben beziehungslos wie der isolierte Stein im Brettspiel, aber das ist kein gutes Leben. Was die Jagd unmittelbar vollzieht, vollziehen Bauern und Nomaden mittelbar. Sie leben auch von anderen Lebewesen, aber danach richtet sich ihr Tun nur mittelbar, unmittelbar dagegen geradezu auf das Gegenteil, nämlich auf das Gedeihenlassen von Lebendigem. Es hat den Charakter der Pflege. Sie hüten ihre Schafe und bewässern ihre Pflanzen. Sie tun, was für ihre Tiere und Pflanzen das Beste ist. Die Herrschaft des Menschen über seine Tiere dient nach Aristoteles ihrer Erhaltung, wenn sie angemessen vollzogen wird (1254b 12). Streng genommen kann man nicht einmal sagen, sie vollziehen Anerkennung und Seinlassen als Mittel der Aneignung und Selbsterhaltung. Denn dass sie von ihrer Arbeit leben, ergibt sich für sie. Sie leben symbiotisch. Diesen Unterschied hat Aristoteles nicht hervorgehoben. In der Abfolge Nomaden, Räuber, Fischer, Jäger, Bauern ist ein anderer Maßstab im Blick. Hier nehmen die Nomaden den niedersten Rang ein, weil ihre Erwerbsweise die trägste und müheloseste ist (1265a31), sie unterfordern sich sozusagen. Entsprechend unterscheidet Aristoteles unter den Berufen, die in einer polis möglich sind, die Bauern und Hirten (nicht die Nomaden) von Handarbeitern, Händlern und Tagelöhnern dadurch, dass jene eine besondere Tüchtigkeit, Kompetenz also, besitzen müssen. Ihr Beruf ist besser, weil kunstreicher, in ihm wird vom Menschenmöglichen mehr verwirklicht (1319al9-26; 1258a35ff.). Nach demselben Maßstab rechtfertigt nun Aristoteles eine Ordnung der Aneignung, die von Natur vorgegeben sei. Sie ist die Anerkennung der Aneignung und zugleich deren Begrenzung. Er beschreibt diese Ordnung in der teleologischen Formel, „dass die Pflanzen der Tiere wegen und die anderen Lebewesen des Menschen wegen da sind, die zahmen zur Dienstleistung und Nahrung, die wilden, wenn nicht alle, so doch die meisten, zur Nahrung und zu sonstiger Hilfe, um Kleidung und Gerätschaften von ihnen zu gewinnen", so dass er sagen kann: „die Natur hat sie alle um des Menschen willen gemacht" (1256bl5ff.); sie gewährt den Arten, die sie erzeugt, auch ihre spezifische Nahrung (1250a35) und so auch den Menschen. Diese natürliche Erhaltungsordnung wird vom Jäger anerkannt, nicht aber vom Räuber. Die Unerschöpflichkeit der Natur und die Ewigkeit der Arten waren Aristoteles dabei so evident, dass er keinen Anlaß zu der Erwägung hatte, die für uns freilich unumgänglich geworden ist: die Arten selbst bedürfen des Schutzes, wie sie der Nomade seinen Tieren gewährt, um von ihnen leben zu können; der ganze Planet bedarf der Pflege, wie sie der Bauer seinem Acker gewährt, um ernten zu können. Was Aristoteles vom Gegebenen als Maßstab abliest, ist das Versorgtsein der Arten (nicht unbedingt der Individuen) mit dem Lebensnotwendigen und in diese Ordnung ist der Mensch mitsamt seinen besonderen Weisen der Aneignung eingefügt. Die vorausgesetzte Hierarchie dieser Erhaltungsordnung scheint leicht ad absurdum gefuhrt werden zu können. Pockenbakterien können nicht ohne Menschen leben. Ist dann nicht nach derselben Logik der Mensch der Pocken wegen gemacht? Dieser Einwand übersieht, dass Aristoteles mit seiner Formel nicht nur conditiones sine quibus non formuliert, die die Logik der Aneignung nachzeichnen, sondern eine Hierarchie der Zwecke vorgegeben sieht. Tiere sind „besser" als Pflanzen, Menschen sind „besser" als Tiere, deshalb ist es in der Ordnung der Natur, dass sich jene von diesen ernähren.

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Dieses Bessersein meint die ontologische Verfassung jener Wesen. Was Tiere vermögen, würde es ohne Tiere in der Welt nicht geben. Ebenso würde ohne die Menschen in der Welt das fehlen, was nur Menschen können, nämlich Gesetz und Recht einerseits (1253al4ff.), die Künste und künstlichen Dinge sowie die Wissenschaften andererseits (Met. 980b27). Dabei sieht Aristoteles sofort, dass sich die Auszeichnungen des Menschen ins Gegenteil verkehren können: er ist das beste und zugleich das schrecklichste, ruchloseste und wildeste Lebewesen, wenn er nämlich ohne Gesetz und Recht seine durch keinen Instinkt begrenzten Fähigkeiten gebraucht (1253a31ff.), das heißt: Aneignung ohne Anerkennung vollzieht. Die Nötigung der Notdurft ist nun nach Aristoteles ein unaufhebbares Moment nicht nur im Verhältnis der Menschen zur nichtmenschlichen Natur, sondern auch innerhalb des menschlichen Zusammenlebens. „Es ist notwendig, dass sich zuerst diejenigen verbinden, die ohne einander nicht sein können, also einmal Weibliches und Männliches der Fortpflanzung wegen, und zwar nicht aufgrund von Vorsatz, sondern nach dem auch anderen Lebewesen und Pflanzen innewohnenden Trieb, ein anderes ihnen gleiches Wesen zu hinterlassen, dann zweitens von Natur Herrschendes und Beherrschtes der Erhaltung (sôtêria) wegen" (1252a 26ff.). Man kann auch sagen: jene verbinden sich der Erhaltung der Gattung wegen, und zwar durch natürlichen Trieb, diese verbinden sich der Erhaltung der Individuen wegen, wofür aber offenbar kein beidseitiger natürlicher Trieb sorgt. Während sich Menschen wie von selbst fortpflanzen - man sagt: sie bekommen Kinder - , bereitet es einige Plage, sich und die seinen zu erhalten. Diese Plage begründet nach Aristoteles die Notwendigkeit der Herrenherrschaft, sie bezieht sich auf das Notwendige (1277a33); weil dieses sein muss, muss sie sein. Die Ermöglichung von Herrenherrschaft ist nach Aristoteles einer der gerechten Kriegsgründe. Das deutsche Wort Herrschaft ist von Herr abgeleitet und läßt deshalb sogleich an Knechtschaft und Unfreiheit denken. Diese Herrschafitsweise nennt Aristoteles despotikê archê, Herrenherrschaft. Archê kommt von archein, anfangen, Erster sein und meint jede Art von respektiertem Vorrang. Offensichtlich haben wir kein Äquivalent fur archê. Denn die Übersetzung „Leitung" verweist zu sehr in unpersönlich-bürokratische Organisationsstrukturen. Deshalb bleiben wir bei der Übersetzung Herrschaft und wenden uns der Präzisierung zu, die Aristoteles durch die Unterscheidung dreier Herrschaftsweisen vornimmt. Die Unterscheidung dreier Herrschaftsweisen ist sozusagen die Axiomatik der politischen Theorie des Aristoteles. Diejenigen, die behaupten, dass Herrschaft gleich Herrschaft sei oder dass sich die verschiedenen Herrschaftsweisen nur quantitativ nach der Zahl der Beherrschten unterscheiden, haben Unrecht, sagt er gleich zu Beginn der Politik (1252a7ff.) und immer wieder. Grundsätzlich unterscheidet Aristoteles zwischen Herrschaft im Haushalt und Herrschaft über die Grenzen des Haushalts hinaus. Im Haushalt unterscheidet er zwischen der Herrschaft über Freie (bzw. solche, die freie Bürger werden sollen, die Kinder) und über Unfreie. Die über Freie nennt er die ökonomische Herrschaft (1252a8;1278b 38), weil der Haushalt (oikos) um der Freien willen da sei. Hier unterscheidet er die Herrschaft der Eltern über die Kinder von der des Mannes über die Frau. Diesen Unterschied erläutert Aristoteles durch die analogen Herrschaftsweisen, die einen Haushalt übergreifen. Am

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angemessensten herrscht der Hausvater über die Kinder wie ein König (basilikôs), über seine Frau aber wie ein Bürgermeister (politikôs) (1259bl;1277b8) - jedenfalls bei den Griechen, die zwischen Frau und Sklave unterscheiden (1252a34ff.)· Selbstverständlich ist das ein für uns inakzeptables patriarchales Urteil. Wenn wir genauer hinsehen, zeigt sich aber, dass Aristoteles hier die faktisch durchgehende Unterordnung der (freien) Frau unter den (freien) Mann in Athen kontrafaktisch als nicht notwendig interpretiert, denn zum Bürgermeister kann prinzipiell jeder auf Zeit gewählt werden. Herrenherrschaft über die Grenzen eines Haushalts hinaus und über Freie, das ist schließlich die Tyrannis und der König unterscheidet sich deshalb vom Tyrannen dadurch, dass jener von den Bürgern, dieser vor den Bürgern geschützt wird (1285a25). Es korrespondieren also (1.1.) despotikê, (1.2.) patrikê, (1.3.) gamikê und (2.1.) tyrannikê, (2.2.) basilikê, (2.3.)politikê archê. Herrenherrschaft ist im Haushalt unumgänglich, aber als Tyrannis in der polis unerträglich. Politische Herrschaft ist überhaupt die bestmögliche Herrschaft, aber im Haushalt nicht möglich. Die königliche Herrschaft ist aus der väterlichen hervorgegangen (1252bl9ff.) und dient wie die Herrenherrschaft der Erhaltung der Beherrschten. Die politische Herrschaft ist dagegen ein geschichtlich Neues, sie folgt nicht der Logik der Erhaltung, sondern der Ermöglichung des bestmöglichen Lebens; sie beruht auf der wechselseitigen Anerkennung Freier und Gleicher; „da regieren die einen und gehorchen die anderen abwechselnd, als wären sie andere geworden" (1261b4f.), nämlich nach den Regeln der Verfassung. Die väterliche Herrschaft beruht wie die königliche auf dem Vorzug des Alters und der Liebe zum Gezeugten ( 1259b 11 ; 1252b20) und wird zum Besten der Beherrschten ausgeübt, nur hinzukommenderweise zum Besten des Herrschers, so wie der Steuermann, der das Schiff durch die Gefahr rettet, hinzukommenderweise auch sich selbst gerettet hat (1278b39ff.). Elternliebe, sagt man, ist das einzige natürliche selbstlose Verhalten, aber Aristoteles sieht ganz richtig, dass diese Selbstlosigkeit die Liebe zum Erzeugten und insofern zum Eigenen ist. Herrenherrschaft ist dagegen wie die Tyrannis umgekehrt ausgerichtet auf das Beste des Herrschenden und nur hinzukommenderweise auch zum Besten der Beherrschten, insofern mit deren Ende auch die Herrschaft zu Ende wäre; ein toter Diener dient nicht mehr (1276b32ff.). Sie ist symbiotisch wie die Herrschaft der Menschen über ihre Haustiere. Der Herr lebt mit seinem Sklaven zusammen und zugleich von ihm. Herrenherrschaft beruht weder auf der Liebe zum Beherrschten (wie die ökonomische) noch auf dem Einverständnis der Beherrschten (wie die politische), sondern auf dem Bedarf nach der Leistung des Beherrschten. Herrenherrschaft unterstellt die Leistungen anderer Menschen den Bedürfnissen des Herrn, macht also die Bedürfnisse des Herrn zum Herrn der Bedürfnisse des Knechts. Herrenherrschaft mediatisiert andere Menschen, indem sie eine Mehrzahl unter die eine Absicht eines Herrn zur Einheit des Gehorsams organisiert. Die Beherrschten werden zu Organen, Werkzeugen, Mitteln des Herrn. Die Notwendigkeit der Organisation zur Einheit eines Willens ist besonders dort evident, wo es um das Überleben geht, deshalb geht beim Kriegswesen und beim Seewesen das Befehlen und Gehorchen sozusagen durch alle hindurch (1273bl5f.).

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Nun gibt es zweierlei Werkzeuge. Die technischen Hilfsmittel sind hervorbringende (poiêtika 1254a2). Sie dienen einerseits zu einem Gebrauch, wie das Weberschiffchen zum Weben, ergeben aber noch anderes als den Gebrauch: das Gewebe. Anders steht es mit den Endprodukten der Herstellungsprozesse, wie Bett oder Kleid. Sie sind Hilfsmittel zum Leben {organa pros zôên 1253b30, cf. praktikon 1254a2), man hat von ihnen nur den Gebrauch, nicht daneben noch ein Produkt (1254a4f.). Das Bedürfnis nach der Leistung eines Dienenden entspricht den beiden Werkzeugtypen. Gebraucht werden Dienende einerseits als Fertigungswerkzeuge zur Produktion, andererseits als Lebenswerkzeuge zur Dienstleistung. Als belebte Fertigungswerkzeuge werden Gehilfen (hypêretai) gebraucht, weil jeder Mensch nur zwei Hände hat. Will er mehr bewegen, als zwei Hände bewegen können, braucht er Helfer, deren Hände ihm als ausführende Organe zur Verfugung stehen. Die Hand ist zum Führen vieler Werkzeuge fähig, keine Hand aber kann alle nur möglichen Werkzeuge vollendet fuhren. Die menschenmöglichen Leistungen überschreiten immer das Maß dessen, was dem einzelnen zu erlernen möglich ist. Übung macht den Meister, verbraucht aber zugleich die Zeit für andere Übungen weiterer Meisterschaften. Wer sich eine Fertigkeit vollendet aneignet, kann sich nicht zugleich eine andere ebenso vollendet aneignen. Wer schmieden kann wie kein anderer, ist eben dadurch ans Schmieden gebunden und wird schwerlich zugleich Ballett tanzen wie kein anderer. Als einer, der schmieden kann wie kein anderer, wird er aber gerade gebraucht in den differenzierteren Fertigungsprozessen, die allein die die Fertigkeiten eines einzelnen überfordernden Werke ermöglichen. „Jede ausgebildete Technologie (horismenê technê) braucht notwendig ihre spezifischen Werkzeuge, wenn sie ihr Werk vollenden will", und zwar belebte wie unbelebte (1253b26ff.), sagt Aristoteles. Die Notwendigkeit geht hier vom Bedarf nach Gebrauch zum Produkt und von dort über das unbelebte Werkzeug zum belebten Werkzeug. Der Gehilfe dient dem, der den Fertigungsprozeß leitet (architektôn), indem er das Werkzeug bedient. Er wird also doppelt mediatisiert: durch den Herrn des Fertigungsprozesses und durch den Fertigungsprozeß selbst, der die notwendigen Schritte zum Produkt vorschreibt, die teils kunstvolle, teils handarbeitsmäßige, teils knechtische und teils gemeine Tätigkeiten ergeben (cf. 1258b36). Der Herr des Fertigungsprozesses ist aber selbst auch dessen Organ, weil er sich nach Bedarf und Gebrauch richten und genau das anordnen muss, was der Prozeß verlangt. Als belebte Lebenswerkzeuge werden Diener (duloi) gebraucht, weil jeder Mensch seinen Leib unterhalten muss, also Essen, Kleidung, Wohnung braucht. Wenn er aber für deren Bereitung, Pflege oder Unterhalt alle Zeit verbraucht, so bleibt ihm keine Zeit für die freie Zuwendung zur Schönheit, zur Ehre und zur Wahrheit (bios apolaustikas, politikos, theôrêtikos cf. Nik. Eth. 1095bl7ff.). Also bleibt nur übrig, andere des eigenen Leibes Notdurft besorgen zu lassen, um frei zu sein von der Notwendigkeit für die freien Tätigkeiten. Konsequent muss dann derjenige, der dem Herrn seines Leibes Notdurft deckt, ein beseelter aber getrennter Teil des Leibes des Herrn sein (125 5b 11). Da nun alle Hilfsmittel zur Lebensführung den Besitz ausmachen, kann der Diener auch als belebter Besitz bezeichnet werden (1253b32f.). Dabei ist nicht auf den im römischen Denken beheimateten Unterschied zwischen res und persona abgehoben, sondern darauf, dass Menschen zum Leben anderer Menschen

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Dienstleistungen brauchen. Nur „wenn das Weberschiffchen von selbst webte und der Zitherschlägel von selbst spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und die Herren keine Knechte" (oute tois architektosin hypêretôn ute tois despotais du Jon 1253b37ff.). Aber wer ist schon bereit, sich zum Mittel machen zu lassen? Wie kann also das Verhältnis zwischen Herr und Knecht zustande kommen? Mann und Frau werden durch natürlichen Trieb zusammengeführt, Kinder gehen wie von selbst aus dieser Verbindung hervor, wie aber kommt der Herr zu seinem Knecht? In diesem Zusammenhang kommt Aristoteles auf den Krieg zu sprechen. „Daher wird auch die Kriegskunde in gewissem Sinne von Natur eine Erwerbskunde sein. Denn die Jagdkunde ist ein Teil von ihr und sie kommt teils gegen Tiere, teils gegen solche Menschen zur Anwendung, die von Natur zu dienen bestimmt sind, aber nicht freiwillig dienen wollen, so dass ein solcher Krieg von Natur gerecht ist" (1265b23ff.; cf. 1255b37ff.). Dieser von Natur gerechte Krieg des Sklavenerwerbs ist nicht zu verwechseln mit dem gerechten Krieg, von dem im Anschluß an Cicero und Augustin die scholastischen Theologen handeln, denn deren Lehre beurteilt den Krieg nach dem Kriterium, ob er der Wiederherstellung der Gerechtigkeit und somit des Friedens dient; sie versteht den gerechten Krieg als Fortsetzung der Rechtsprechung mit anderen Mitteln und hat niemals Sklavenerwerb unter die gerechten Kriegsgründe gezählt. Aristoteles dagegen nennt die Sklavenjagd einen von Natur gerechten Krieg, weil sie die Ermöglichung von Aneignung ist. Was heißt „von Natur gerecht"'? Diese Frage fuhrt uns endgültig aus dem Haushalt, d. h. aus dem Zusammenhang von Aneignung und Erhaltung hinaus, denn Gerechtigkeit und Recht sind vollendet nur in der polis zu Hause.

2. Bürgerliche Anerkennung. Die Polis und der Krieg Die polis als die vollendete Form menschlichen Zusammenlebens versteht Aristoteteles als Gemeinschaft von Freien und Gleichen. Sie „will der Natur nach aus Gleichen bestehen" (1259b5). Diese Gleichheit ist nicht Gleichartigkeit, denn „aus gleichen Menschen entsteht keine polis" (1261a24); keine polis kann ausschließlich aus Ärzten bestehen. Vielheit oder Pluralität, nicht Einheit oder gar Einheitlichkeit, macht deshalb die beste polis aus und je mehr sie zur Einheit wird, umso mehr verkommt sie zum Haushalt. Deshalb ist in der polis im Unterschied zur Überlebensgemeinschaft des Haushalts die geringere Einheit der größeren vorzuziehen (1261al6-bl5). Die Gleichheit der Bürger ist vielmehr die Wechselseitigkeit des Gebens und Nehmens, Intersubjektivität. To antipeponthos, das Erfahrenhaben der Wechselseitigkeit, erhält die polis (1261a30). Zwar nicht als sture Vergeltung (Nik.Eth.ll32b21-30), aber doch als eine jeweils entsprechende (analogon) ermöglicht es das Zusammenbleiben der Bürger. Wenn sie nicht Böses mit Bösem vergelten können, erscheint die polis als Sklaverei; wenn nicht Gutes mit Gutem, kommt es nicht zum wechselseitigen Geben und Nehmen (metadosis), aufgrund derer doch die Bürger zusammenbleiben (1132b34ff). Um aber Gutes mit Gutem vergelten zu können, müssen die Partner verschieden sein, d. h. Verschiedenes zu bieten

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haben. Wer möchte sich schon mit seinem eigenen Spiegelbild unterhalten? Um das Verschiedene, das die Bürger einander zu bieten haben, vergleichbar zu machen, ist das Geld entstanden, als Stellvertreter des Bedarfs. Durchs Geld werden verschiedenartige Leistungen meßbar, und dadurch kann es beim Austausch gerecht zugehen, wenn auch nicht schlechthin, so doch ausreichend. Ohne Austausch gäbe es keine Gemeinschaft, ohne Gleichheit keinen Austausch, ohne Messbarkeit keine Gleichheit (1133al9-b28). Diese Gleichheit, die es nicht nur hinsichtlich des Geldes, sondern ebenso hinsichtlich der Ehre und der Erhaltung gibt (1130b2), ist also nicht als Zustand begriffen - ein Zustand der Gleichheit des Besitzes und der Ehre aller ist ja auch nicht einmal vorstellbar - , sondern als anzuerkennender Anspruch der Mitbürger aneinander. Das dieser Gleichheit entsprechende Verhalten ist nichts anderes als die Gerechtigkeit. „Das Gerechte ist Gleichheit" (113lal3), nämlich als proportional verteilende oder als arithmetisch ausgleichende Gerechtigkeit. Sie ist als menschliche Tüchtigkeit (aretê) weder von Natur noch gegen die Natur, sondern wir Menschen sind so beschaffen, dass wir sie bekommen oder erlangen können (pephykosin men hêmin dexasthai autas). Sie festigt sich durch Gewöhnung (ethos) (1103a24ff.). Obwohl Aristoteles mit der Unterscheidung geometrischer und arithmetischer Gerechtigkeit die Gerechtigkeit more geometrico zu behandeln scheint, hat er doch genau gesehen, dass Gerechtigkeit der Anspruch ist, der nur in einer konkreten Gemeinschaft Freier evident ist. Deshalb gibt es für Aristoteles eine natürliche Größe der polis. Sie muss mindestens so groß sein, dass sie sich selbst genügen kann (1261bl3) und sie darf nur so groß sein, dass die Bürger einander noch kennen, denn sonst können sie weder angemessen Recht sprechen noch angemessen Ämter vergeben (1326bl4ff.). Aristoteles kennt deshalb nicht die politischen Organisationsprobleme der Demokratie in einer Großgesellschaft, in der es unausweichlich Volksvertreter geben muss. Wer heute von direkter Demokratie schwärmt, übersieht leicht, dass ihretwegen nach Aristoteles die polis auf etwa 5.000 Bürger beschränkt sein sollte. Wenn Aristoteles die Sklavenjagd einen von Natur gerechten Kriegsgrund nennt, setzt er diese Erfahrung einer Gemeinschaft Freier und Gleicher voraus. Was aber heißt von Natur gerecht? Die ausführlichste, dennoch schwierige und nicht bis zur Evidenz geführte Darlegung findet sich in der Nikomachischen Ethik (1134a25ff.). Hier unterscheidet Aristoteles einerseits zwischen dem einfachhin Gerechten (haplôs dikaiori) und dem politischen Gerechten (1134a25). Sodann unterteilt er das politische Gerechte in das natürliche und das positive (gesetzte, nomikon) Gerechte (bl8). Das natürliche Gerechte ist das, was überall dieselbe Evidenz (dynamin bl9) hat, das positive Gerechte das, was prinzipiell auch anders sein könnte, wie ein bestimmtes Strafmaß. Manche behaupten, ein solches natürliches Gerechtes gebe es gar nicht, da dieses überall auch als dasselbe anzutreffen sein müßte, wie das Feuer seiner Natur nach in Persien genau so brennt wie anderswo. Ganz so freilich verhält es sich nicht mit dem von Natur Gerechten, entgegnet er, aber doch in gewisser Weise so (hôs). Bei den Göttern mag das von Natur Gerechte schlechthin unveränderlich sein, bei uns aber gibt es ein von Natur Gerechtes, obwohl alles in Veränderung begriffen ist. „Wie beschaffen etwas von Natur ist von den Sachverhalten, die so und auch anders sich verhalten können und wie beschaffen nicht von Natur, sondern durch Festsetzung und Vereinbarung, wenn

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doch beide veränderlich sind, ist klar" (1134b30). Für ein von Natur Gegebenes gibt Aristoteles als Beispiel die Rechtshändigkeit. Die rechte Hand ist von Natur stärker, auch wenn durch Training Beidhändigkeit erlangt wird, das von Natur Gegebene also faktisch nicht mehr angetroffen wird. Dass es Linkshändler gibt, hat Aristoteles dabei nicht berücksichtigt. Der natürliche Vorrang der rechten Hand ist nach dieser Deutung bei Beidhändigkeit durch Training nur überformt, nicht durch anderes ersetzt. Und für das auf Vereinbarung Beruhende nennt er als Beispiel die Hohlmaße. Weinund Ölmaße sind überall verschieden, aber Einkäufer verwenden immer größere, Verkäufer kleinere Maße. Ich interpretiere: obwohl es keine natürliche Maßeinheit gibt, die man hier und in Persien gleichermaßen anträfe, liegt es doch in der Natur der Sache, dass Einkäufer größere und Verkäufer kleinere Maßeinheiten verwenden; es gibt jeweils die beste, praktischste Maßeinheit. Ebenso sei „das nicht natürliche, sondern menschliche Gerechte nicht überall dasselbe, da auch nicht die Verfassungen überall dieselben sind, dennoch ist allein eine Verfassung überall der Natur nach die beste" (1135a4). Das soll wohl, nach dem Bisherigen, heißen: es gibt jeweils, unter den gegebenen Randbedingungen, eine beste Verfassung und unter den besten Randbedingungen die eine einzige beste Verfassung. Nun sagt Aristoteles nicht: das Gerechte schlechthin unterteilt sich in das natürliche und das positive Gerechte, sondern das politische Gerechte wird so unterteilt. Das politische Gerechte ist verstanden als das, was unter Freien und Gleichen gilt, die sich zu gemeinsamem Leben mit dem Ziel der Autarkie zusammengeschlossen haben (1134a26). Und für diese ist jeweils klar (dêlon 1134b33), dass es für sie den Unterschied gibt zwischen dem, was unter ihnen von Natur gerecht ist und dem, was bloß aufgrund von Vereinbarung oder Festsetzung, denn man streitet sich ja in einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen auch darüber, ob ein positives Gesetz jetzt noch oder überhaupt gut und gerecht ist. „Grundsätzlich fragen alle nicht nach dem Gewohnten (patrioti), sondern nach dem Guten" (1269a3f.) und beanspruchen dabei einen Maßstab, der nicht das Tatsächliche ist. Für diese Dimension steht hier das von Natur Rechte, ohne dass Aristoteles eine Naturrechtstheorie und ein materiales Naturrecht auch nur intendiert hätte. Das von Natur Gerechte ist also nicht das Gerechte schlechthin, das unabhängig von jeder menschlichen Gemeinschaft überzeitlich gilt und irgendwie (wie?) von der Natur unmittelbar abgelesen werden könnte, sondern die in der Erfahrung konkreter Gemeinschaftsordnung Freier und Gleicher miterschlossene Norm, an der diese ihre Ordnung messen. Diese Norm ist zwar nicht objektivierbar, trotzdem gibt es sie, weil sie unumgänglich beansprucht wird, wo man darüber streitet, was der Gerechtigkeit entspricht. Die Unterscheidung zwischen dem einfachhin Gerechten und dem politischen Gerechten ist demnach nicht eine Unterscheidung von Gattung und Art. Jedenfalls ist das einfachhin Gerechte nicht das von Natur Gerechte im hier beschriebenen, unter Menschen relevanten Sinne. Es meint das undifferenziert „gerecht" Genannte, das auch das nur analog Gerechte einschließt. Denn nach Aristoteles besteht für diejenigen, die nicht in einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen leben, gar nicht das Verhältnis des politisch Gerechten zu einander, sondern „nur ein gewisses Gerechtes und nach Ähnlichkeit" (1134a29). Eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen ist aber nichts andres als eine Gemeinschaft solcher, die sich gegenseitig als Freie und Gleiche anerkennen nach dem

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Grundsatz: wie du mir, so ich dir. Erst aufgrund solcher Anerkennung kann es Unrecht geben und nur wo es Unrecht geben kann, kann es ein Gerechtes geben (cf. 1134a30). Wo dieses Verhältnis der Anerkennung nicht besteht, kann es kein Gerechtes im strikten Sinne geben, sondern nur gewissermaßen ein Gerechtes. Dieses nur gewissermaßen Gerechte liegt vor, wenn man einen Herrn oder einen Vater gerecht nennt (cf. 1134b8). Der Sklave ist ebenso wie das Kind nicht frei und also auch nicht ebenbürtig; „wie du mir, so ich dir" gilt hier nicht. Beide sind eher ein Teil des Herrn bzw. des Vaters. Wie man sich selbst nicht Unrecht tun kann, so auch nicht seinem Sklaven oder seinem Kind. Wohl aber kann man sich selbst, seinem Sklaven, seinem Kinde Schaden zufügen allerdings nicht aus Vorsatz, behauptet Aristoteles (1134bl2). Da nun Unrechttun eine Weise des Schädigens ist, kann man denjenigen, der es bewußt vermeidet, seinem Sklaven oder seinem Kind einen Schaden zuzufügen, in gewisser Weise einen gerechten Herrn bzw. einen gerechten Vater nennen, obwohl die Grundbedingung für Gerechtigkeit, nämlich die Gleichheit des Herrschens und Beherrschtwerdens im Wechsel (1134bl5), in jenen Verhältnissen nicht gegeben ist. Daraus ergibt sich übrigens, dass es nach Aristoteles im Haushalt keine Gerechtigkeit im strikten Sinne geben kann, am allerwenigsten im Verhältnis Herr - Knecht, eher schon im Verhältnis Eltern - Kinder, da diese ja einmal Freie und Gleiche werden, am meisten im Verhältnis Mann - Frau, da beide Freie sind (1134bl5; cf. 1260al2ff. b l 5 ) . Wenn Aristoteles von einem von Natur gerechten Krieg spricht, ist das also nach den Bestimmungen der Nikomachischen Ethik ein Krieg, der in einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen zumeist als gerecht angesehen wird. Die entsprechende Argumentation ließe sich etwa so rekonstruieren. Eine Gemeinschaft Freier und Gleicher muss sich das Lebensnotwendige beschaffen. Verschaffen sie sich das Lebensnotwendige selbst, sind sie nicht frei für die freien Tätigkeiten. Unterwerfen die einen die anderen ihrem Befehl, nehmen sie ihnen die Freiheit und Gleichheit und das wäre ungerecht. Soll die Stadt kein Arbeitshaus sein und dennoch unabhängig, muss sie also in ihren Mauern Unfreie haben, die für das Lebensnotwendige dienen müssen. Es gehört demnach zu dem politisch Gerechten im Sinne des Aristoteles, dass es innerhalb der polis Menschen gibt, die nicht Bürger sind. Und das gehört nicht nur zum festgesetzten Gerechten, sondern ist von Natur gerecht, weil es anders für die Freien nicht die freie Entfaltung der freien Tätigkeiten geben würde, in diesen vollendet sich aber erst das Menschenmögliche. Von Natur gerecht ist also zunächst der Sklavengebrauch, dann als dessen Ermöglichung der Sklavenbesitz und schließlich als dessen Ermöglichung der Sklavenerwerb. „Der Herr erweist sich als ein solcher nicht durch den Sklavenerwerb, sondern durch den Sklavengebrauch. Aber dieses Wissen hat nichts Großes und Ehrwürdiges an sich. Denn was der Sklave zu tun wissen muss, muss der Herr anzuordnen wissen. Wer sich damit nicht selbst plagen muss, überlässt diese Ehre einem Aufseher, um sich selbst der Politik oder der Philosophie zu widmen. Das Wissen vom Sklavenerwerb aber, sofern er gerecht ist, ist von diesen beiden verschieden, es ist nämlich eine Kriegs- oder Jagdkunde" (1255b31). Hier wird also ein gerechter Sklavenerwerb von einem ungerechten unterschieden. Nach den Unterscheidungen der Nikomachischen Ethik könnte ein ungerechter Sklavenerwerb nur ein solcher sein, der Mitbürger schädigt. Demnach könnte beim Sklaven-

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erwerb außerhalb der eigenen polis gar nicht zwischen Menschenjagd und Menschenraub unterschieden werden. Die Politik aber fasst den gerechten Sklavenerwerb enger. Demnach kennt Aristoteles neben dem von Natur Gerechten, das ein Teil des politischen Gerechten ist, auch ein nach Ähnlichkeit von Natur Gerechtes, das zwar nicht in der Anerkennung Freier und Gleicher wurzelt, wohl aber ein Maß hat, nämlich in der Anerkennung der Natur, d. h. des Wesens eines jeden Seienden. Ungerecht ist nach diesem Kriterium, Menschen zum Zwecke des Verzehrs oder des Opfers zu jagen, denn dazu sind die Tiere da (1324b39). Menschen können Menschen zu Besserem dienen als zur Nahrung. Ungerecht ist es aber auch, Menschen zu Sklaven zu machen, die Freie sind oder sein können. Von Natur gerecht ist demnach der Sklavenerwerb nur, wenn er Sklaven von Natur Herren von Natur unterordnet. Sklave von Natur ist nach Aristoteles derjenige, der zwar im Unterschied zum Tier Anteil an der Vernunft hat, aber nur zum passiven Vernunftgebrauch fähig ist, d. h. er kann das Vernünftige nur tun, wenn es ihm angeordnet wird; ihm fehlt der Weitblick eigenständigen Ratschlagens (bouleutikon) (1260a 12), so dass sein Beitrag zu einer Gemeinschaft nur in den notwendigen Tätigkeiten, d. h. körperlicher Arbeit für des Leibes Notdurft, bestehen kann (1260a34;1254b25). Für solche ist es aber nützlich und gerecht, Sklave zu sein (1255a2), weil sie dann mit ihren Körperkräften Vernünftiges tun. Zudem wird ein Herr von Natur seinen Sklaven nicht nur befehlen, sondern sie vernünftig belehren und ihnen zu einer Tüchtigkeit verhelfen, die über die Fertigkeiten der Dienstleistungen hinaus geht (1260b3). Herrenherrschaft ist demnach von Natur gerecht, wenn sie einerseits nach der Natur eines jeden verfahrt, d. h. jeden sein Bestes leisten läßt, andererseits wie die Natur verfährt, d. h. eine Erhaltungsordnung stiftet, die das Beste ermöglicht und dabei und dafür das Niedere mit erhält. Für solche erhaltende Herrschaft nennt Aristoteles Analogien außerhalb der menschlichen Gemeinschaft. „Was aus mehreren Teilen besteht und ein Gemeinsames wird, ... bei all dem begegnet das Herrschende und das Beherrschte. Und dies ist aus der ganzen Natur den Belebten eigen" (1254a28): die Seele herrscht über den Leib im Sinne von Herrenherrschaft, die Vernunft herrscht über die Affekte im Sinne von politischer oder königlicher Herrschaft, der Mensch herrscht über die Tiere, das Männliche über das Weibliche und zwar immer auch zum Nutzen der Beherrschten (1254b3-14). Wir werden Aristoteles nicht widersprechen können, wenn er behauptet, dass es zwischen Menschen erhebliche Unterschiede der Kompetenz und Leistungsfähigkeit gibt (1254b 14). Wir können ihm auch darin zustimmen, dass diese Unterschiede Unterordnungsverhältnisse notwendig machen, namentlich in den differenzierteren Produktionsprozessen. Wir werden ihm auch zugeben müssen, dass Menschen, um angemessen zu leben, die Leistungen anderer Menschen beanspruchen müssen. Wir können ihm aber nicht darin zustimmen, dass sich all dies durch Sklavenjagd angemessen ordnet. Denn Aristoteles begründet die „Gerechtigkeit" der Sklavenjagd allein mit der „Gerechtigkeit" des Sklavengebrauchs, muss aber selbst einräumen, dass Sklavenjagd als solche gar nicht ein gerechtes Herrschaftsverhältnis begründet. Die von Natur gerechte Sklavenjagd soll nämlich nicht gerecht sein nach dem Recht des Stärkeren. Ausdrücklich widerspricht er der Behauptung, es gebe ein Gesetz, wonach das im Krieg Besiegte

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Eigentum des Siegers sein muss (1255a3ff.). Zwar hat der Sieger immer auch irgendeinen Vorzug vor der Besiegten dokumentiert, so dass die Gewalt nicht ohne Tüchtigkeit zu sein scheint. Doch nicht darum gehe es hier, sondern um die Frage nach dem Gerechten (1255al5f.). Der Sieger hat ja durch seinen Sieg nur bewiesen, dass er tüchtig war im Erwerben, im Kämpfen oder auch bloß im Überlisten und Betrügen. Er ist vielleicht bloß Räuber. Nicht hat er damit bereits bewiesen, dass er tüchtig ist im Gebrauchen, im vernünftigen Anordnen und Belehren. Schließlich kann ja jeder durch Zufall gefangen werden und dann wäre es nicht von Natur gerecht, ihn als Sklaven zu verkaufen (1255a25f.). Wenn es von Natur gerecht ist, dass der Tüchtigere, Bessere, Kompetentere herrscht, dann ist der Krieg offensichtlich kein angemessenes Mittel, solch ein Herrschaftsverhältnis zu begründen. Deshalb muss Aristoteles auch zwei grundverschiedene Verhältnisse zwischen Herren und Sklaven unterscheiden. Das Verhältnis zwischen Herren durch Gewalt und Sklaven durch Gewalt verträgt keine Freundschaft und wird, sofern die Herrschaft dann schlecht gefuhrt wird, zu beider Schaden ausschlagen. Dagegen wird dem Verhältnis zwischen Herren von Natur und Sklaven von Natur Freundschaft nützen (1255b9-15). Wie ist dieser Sachverhalt zu deuten, dass die Sklavenjagd gar nicht zu solchen Herrschaftsverhältnissen führt, wie Aristoteles sie für angemessen hält? Heute liegt das Urteil nahe, dass demnach die aristotelische Theorie unter Ideologieverdacht gestellt werden muss. Sie soll wohl nur eine Praxis durch Ausreden rechtfertigen, von der Aristoteles selbst profitiert hat. Doch solche Kritik ist allzu unkritisch gegenüber den eigenen Voraussetzungen. Einmal unterstellt sie sozusagen, Aristoteles hätte die Erklärung der Menschenrechte gelesen haben müssen, zum anderen setzt sie voraus, Anwendbarkeit sei das maßgebliche Kriterium, nach der eine politische Theorie zu beurteilen ist. Eine politische Theorie ist aber nicht erst durch Anwendung auf politische Praxis bezogen, als wäre sie im luftleeren Raum entworfen, um dann im Experiment bestätigt oder falsifiziert zu werden. Politische Theorie bewährt sich zuvor schon in der Weise, wie sie die immer schon bestehende politische Praxis interpretiert, was eben nicht dasselbe sein muss wie bestehende Praxis rechtfertigen. Das Große an der politischen Theorie des Aristoteles ist dies, dass sie hier und da Ansätze zu einer kontrafaktischen Interpretation der bestehenden Praxis liefert, indem sie in dieser Praxis ein Prinzip entdeckt, das zur kritischen Instanz dieser Praxis und sogar der aristotelischen Theorie selbst zu werden vermag. Die auf gegenseitige Anerkennung Gleicher und Freier beruhende Gemeinschaft der Bürger verträgt nämlich nach Aristoteles gar nicht, auf den Krieg ausgerichtet zu werden. Aristoteles kritisiert deshalb diejenigen Verfassungen, die ausschließlich auf Krieg eingestellt sind. Die Ausrichtung der Verfassung auf Machtsteigerung (kratein) muss nämlich die Bürger selbst ermuntern, wenn die Gelegenheit günstig ist, sich zu Herren der Mitbürger aufzuwerfen (1333b32). Eine Verfassung, die nach außen auf die Knechtung der Nachbarn ausgerichtet ist, kann nicht nach innen an der Gerechtigkeit festhalten. „Aber die Menge scheint die Herrenherrschaft fur die politische Herrschaft zu halten und was sie für sich selbst nicht gerecht und zuträglich nennen, dieses schämen sie sich doch nicht, anderen gegenüber zu üben. Für sich selbst verlangen sie gerechte Herrschaft, wo es aber andere betrifft, fragen sie nach keiner Gerechtigkeit" (1324b32ff.).

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Das heißt aber: das in der Erfahrung der Polisgemeinschaft erschlossene Prinzip der Gerechtigkeit läßt sich gar nicht auf die eigene polis begrenzen. Es kann in der polis nur dann gerecht zugehen, wenn sich die polis auch anderen poleis gegenüber gerecht verhält. Aristoteles war sich im klaren darüber, dass dieses Urteil mit einer alten, aber nicht altehrwürdigen Tradition bricht: „Viel Feind, viel Ehr" und: jeder Krieg ist gerade recht für Ruhm und Ehre und Beute. Er referiert mißbilligend solche Bräuche und Gesetze, die dem Bürger erst dann volle Anerkennung gewähren, wenn er einen Feind getötet hat (1324b9ff.). Von hier aus muss das Urteil über die Sklavenjagd als restriktiv verstanden werden: nicht jede Art von Menschenjagd ist gerecht, wie viele meinen und praktizieren, sondern nur diejenige, die einer Erhaltungsordnung zugute kommt. Das Prinzip der Machtsteigerung ist aber nicht nur für den inneren Zustand einer polis gefährlich, sondern fuhrt sich auch selbst ad absurdum, wie man an den Spartanern gesehen hat. Sie erhielten sich gut im Krieg, als sie aber die Oberherrschaft gewonnen hatten, gingen sie zugrunde, weil sie sich nicht auf die Muße verstanden, sondern ganz aufs Kriegführen aus waren (1271b3ff.). Solche Staaten „verlieren, wenn sie Frieden haben, dem Eisen gleich ihre Schneide, und daran ist der Gesetzgeber schuld, der sie nicht zu der Fähigkeit erzogen hat, in Muße zu leben (scholazein)" (1334a6ff.). Scholazein ist unterschieden von ascholia, der Hast, der abgenötigten und deshalb unfreien Tätigkeit. „Man muss zwar arbeiten und Krieg führen können, mehr aber im Frieden leben (eirênên agein) und Muße pflegen können und das Notwendige und Nützliche tun können, aber mehr noch das Schöne (ta kala). Und auf dieses Ziel hin muss man die Kinder erziehen" (17333a41ff.). Eine auf das Tun des Schönen ausgerichtete polis aber könnte auf Kriegseinrichtungen ganz verzichten, wenn sie nämlich keinen Angreifer zu befurchten hätte (1324b41ff.). Die Tätigkeit der Bürger würde dann eine sein, die von Teil zu Teil geht. Das setzt allerdings voraus, das die Bürger nicht zur Einheit organisiert sind, sondern in der Vielzahl ihrer Beziehungen leben (1325b24ff.; cf. 1280b29ff.). Die Autarkie der polis hat deshalb nicht den Sinn einer Unabhängigkeit der splendid isolation, sondern den der Selbstgenügsamkeit im Sinne der Selbstbegrenzung. Die Fähigkeit zu solcher Selbstbegrenzung aus dem Wissen um das gute Leben ist die Tugend. Deshalb ist eine polis, die den Namen verdient, weder nur eine Verteidigungsgemeinschaft, noch nur ein Interessenverband zu gegenseitigem Vorteil (1280a34f.), auch nicht nur des Besitzes wegen (1260a25), sondern dazu da, die Bürger gut und gerecht zu machen (1280b 12), also das Tun des „Schönen" zu befördern. Gefährdet aber wird die Gerechtigkeit keineswegs nur durch Not und Mangel (1267a3) - niemand wird ja Tyrann, um nicht zu frieren (1267al4) - , sondern durch jedes Übermaß (1267al3); die übermäßig Starken sowie die Schwachen, die übermäßig Reichen sowie die übermäßig Armen können am wenigsten der Vernunft folgen und Unrecht vermeiden (1295b6ff.). „Mut und Disziplin (karteria) sind für die Arbeit nötig, Weisheitsliebe aber fur die Muße, Mäßigung und Gerechtigkeit aber für beide Zeiten und am meisten für die, die im Frieden leben und Muße haben" (1334a22ff.). Die auf dem Prinzip bürgerlicher Anerkennung beruhende Gemeinschaft Freier und Gleicher schließt also den Krieg als Ziel der Gemeinschaft aus, weil weder Machterweiterung noch Besitzerweiterung sinnvolle Lebensziele des Einzelnen und der Gemeinschaft sind. Auf Krieg muss eine polis nach Aristoteles nur gerüstet sein, um einerseits

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RICHARD SCHRÖDER

nicht von anderen geknechtet zu werden (1333b40f.), denn wer sich nicht verteidigen kann, ist Sklave eines jeden, der ihn angreift (1334a21f.), und um die Herrenherrschaft über die zu gewinnen, die es verdienen, Sklaven zu sein (1334a2). Diese beiden Kriegsgründe sind für Aristoteles Bedingungen der Freiheit: der Verteidigungskrieg verhindert, Sklave zu werden, die Sklavenjagd ermöglicht Sklaven zu haben. Doch darin zeigt sich besonders kraß das Problem, das im aristotelischen Verständnis des Bürgers steckt. Die Freiheit der Polisbürger ist parasitär, da sie auf Unfreie angewiesen ist, die nicht zur Polisgemeinschaft gehören, aber doch zu den Haushalten gehören müssen, aus denen die polis besteht. Die Sklavenjagd ist der Krieg als präpolitische Ermöglichung der polis. Denn der freie Bürger war dadurch bestimmt, dass er nicht eines anderen ist, er ist niemals Mittel. Als Lebewesen ist er aber nicht autark, sondern auf Aneignung angewiesen und der Notdurft unterworfen und insofern unfrei. Deshalb soll nach Aristoteles die beste polis nur aus solchen Bürgern bestehen, die frei sind von den notwendigen Tätigkeiten (1278al0f.), damit die Bürger sich frei begegnen können und nicht mit der heimlichen Absicht, sich nur gegenseitig auszunutzen. Dies aber ist nach Aristoteles nur möglich, wenn andere Menschen ganz an die notwendige Arbeit gefesselt, d. h. unfrei sind. Die in der menschlichen Bedürfnisnatur wurzelnde Unfreiheit der gebieterischen Notdurft wird also einerseits im Haushalt versteckt, andererseits an die Sklaven delegiert. Zwar möchte Aristoteles den Unterschied von Freien und Unfreien in der Natur begründet sehen, muss aber selbst einräumen, dass die Natur die Leiber der Freien und die der Sklaven zwar ihren verschiedenen Bestimmungen gemäß verschieden machen will, es komme aber oft das Gegenteil vor, so etwa wohlgestaltete Leiber mit Sklavenseelen (1254b27-34; cf. 1255b2ff.). Nun müßte Aristoteles für den besten Staat fordern, dass solche dann auch Sklaven werden müßten. Warum er auf eine solche Forderung verzichtet, ist klar: welche Instanz sollte denn - und nach welchen Kriterien - Freigeborene innerhalb einer Gemeinschaft Freier auf eine gerechte Weise zu Sklaven degradieren können? Und welcher Freie möchte sich und die Seinen auch nur diesem Risiko ausgesetzt sehen? Damit aber offenbart sich, dass der Unterschied zwischen Freien und Unfreien „von Natur" letztlich auf einem ererbten Status beruht: Freie sind die Kinder Freier und bleiben innerhalb der polis Freie, auch wenn sie die Kompetenz zu freier Lebensführung und Lebensverantwortung, also die Tugend, gar nicht erlangen. Zudem steht die Unterscheidung von Freien und Unfreien in Spannung zu einer anderen Linie im aristotelischen Verständnis des Menschen. Der Mensch ist nämlich nach Aristoteles als Mensch das Sprachwesen und als solches in der Lage, das Gute vom Schlechten, das Gerechte vom Ungerechten zu unterscheiden (1253al4f.). Als Menschen haben nach Aristoteles auch die Sklaven an der Vernunft Anteil (1259b27f.); als Menschen sind auch sie zur Freundschaft fähig, denn „es scheint ein Gerechtes zu geben für jeden Menschen zu jedem hin, der an Gesetz und Vereinbarung teilhaben kann" (Nik. Eth. 1161b6ff.). Hier eröffnet sich eine Perspektive, die in Richtung auf die Anerkennung jedes Menschen und nicht nur der (freien) Mitbürger als ebenbürtige weist.

ULRICH STEINVORTH

Reason and Will in the Idea for a Universal History and the Groundwork

In his Idea, Kant ascribes to reason the role of breaking all action rules. This anarchist and radically practical conception differs from the conception of reason as the faculty of giving law to nature and action for which Kant is known. The anarchist conception agrees with the concept of will and judgment that Descartes uses in his Meditations. As it does not fit Kant's concept of reason as an order-establishing faculty, he dropped it. But the anarchist conception is necessary for understanding technology, action and history. When Kant dropped it, he impoverished his philosophy.

1. Kant's divine or natural order of history In his Idea for a Universal History, Kant argues that, appearances notwithstanding, we can detect order not only „in the realm of reasonless nature", but also in „that part of the great stage of supreme wisdom which contains the purpose of all the others - the history of mankind" (Kant 1784/1963, Ninth Thesis). The idea that there is order in history has prevailed in philosophy, because most philosophers believed either in a god who determines the course of history or in a nature that determines the movements of minds no less than of bodies. The difference between belief in a divine order and that in a natural order is small: both are beliefs that however human beings might deliberate on their actions and decide, they cannot but follow the predestination by God or nature. Opposed to the idea of a divine or a natural order in history is that of a moral order. It is produced by our actions if and only if we follow it, even though we are free to reject it. We might expect Kant to conceive of the order of history as a moral order, as he both ascribed free will to humans and asserted a law of morality, the categorical imperative. But the expectation is wrong. Kant's order in history is a natural order that predestines human history no less than a divine order does. This is why Kant claims that by proving that there is order in history, „Providence" (ibid.) and „the ordering of a wise Creator" (ibid., Fourth Thesis) is proved. Morality, according to Kant, is an affair outside of space and time. Hence, it cannot constitute the order of history. Nevertheless, it seems Kant felt strongly what today most people feel as well, that assuming a divine order in history either distorts the historical facts or implies the negation of traditional ideas of divine goodness. In fact, in his writings there are tracks of an attempt at conceiving a moral order in history, as I want to show in this paper.

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However, it was difficult if not impossible to make such an attempt compatible with the basic idea that Kant had committed himself to in his Critique of Pure Reason, the idea that reason imposes order on nature. Kant follows this idea also in his Idea for a Universal History, as he presumes that the order he detects in history is also imposed by reason. Though he does not refer to his Critique of Pure Reason, there is an analogy between the categories of the Critique and the order of the Idea. We can find laws of nature and start the science of physics only if we categorise natural events. Similarly, we can find order in history and can understand it and start a science of historiography only if we approach history with the preconception of an order that is produced by reason. The order is an idea of what constitutes universal history. It is the idea that the essay Idea for a Universal History presents. Now, what is this idea? It is that „all natural capacities of a creature are destined to be completely and appropriately developed" (Kant 1784/1963, First Thesis). 1 This is a teleological idea comparable to the teleological ideas that Kant defends in his Critique of Teleological Judgment as a necessary heuristics in biology. Although for this reason it might be understood as an idea of judgment rather than of reason, Kant calls it a „guiding thread of reason" (ibid.). Hence, it is reason and not judgment that imposes order on history, just as it is reason that imposes order on nature. Yet in distinction from the way he talks of reason in his Critique of Pure Reason, in his Idea Kant describes the „guiding thread of reason" also as a „purpose of nature in this idiotic course of things human", a „plan of nature" (ibid., Introduction), 2 and „Nature's secret plan" („verborgener Plan der Natur") (ibid., Eighth Thesis).That is, reason can be replaced by nature, and nature can even be replaced by „Providence" (ibid., Ninth Thesis) and „the ordering of a wise Creator" (ibid., Fourth Thesis).So we may well conclude that reason that provides us with a guiding thread through the chaos of history is not just our human reason or a heuristic means to bring order to the manifold of data, but divine reason that pursues its superhuman intentions in ways that only seem idiotic to unenlightened people. We might object to this consideration that the Idea is a popular text that Kant did not subject to the standards of his critical philosophy but adapted to popular ways of thinking. According to this objection, we must not believe that Kant himself identified reason with Providence. But if Kant really understood his Idea as a popular text without the ambition of truth that he followed in his critical philosophy then we still have to ask what he implied when he talked of providence and a wise creator. Certainly he did not want to invoke the faith of a particular Christian confession. It also seems that Kant did not want to distinguish between nature and a wise creator. But his identification of nature, a wise creator and divine reason cannot be dissolved as an adaptation to popular ideas. So we cannot avoid concluding that the order Kant ascribes to history is not a moral order, but a divine or natural one.

1

Beck translates „all natural capacities of a creature are destined to evolve completely to their natural end". This is misleading as the development of man's capacities has no „natural end", as Kant goes on explaining in the following thesis.

2

Beck translates „natural purpose" and „natural plan", which deviates from Kant's words.

REASON AND WILL

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Now, although Kant conceives the order of history as a natural or divine one, he also gives a startling description of reason that does not fit this conception. Kant ascribes the faculty of reason to man as „the only rational creature on earth", and burdens it with a double task: to develop all „those natural capacities which are directed to the use of his reason" and to develop them „independently of instinct [...] by his own reason" (ibid., Second and Third Thesis). We find similar ideas in Aristotle and other philosophers. In Kant, the role of reason becomes a little confusing, since we have to distinguish (1) reason as a property that man is to develop; (2) reason as a property by which we develop both other capabilities and reason itself, (3) reason by which we find order in both nature and history and, perhaps, (4) divine reason or Reason as the creator of any kind of order. So there is reason as the object and means of human development, reason as detector of order in history and nature, and perhaps Reason. But note a crucial difference between reason that detects order in history and reason that detects it in nature. Reason as detector or even creator of order in nature provides us with the categories that enable us not only to establish a science of nature but even to experience nature. In contrast, reason as detector of order in history enables us only to establish a science of history but not to experience history, as we can experience history also without the idea, and actually look for an idea to understand it only because we experience it as idiotic. Kant, it seems, either does not take account of this difference or wants to imply that when we experience of history only its idiotic course, it is not history that we experience. Rather, as the perceptions that we get from objects are not yet an experience of nature as long as we do not subject our perceptions to our pure concepts of reason, the perception of history as idiotic would not yet be an experience of history. If this was Kant's view, it is too arbitrary a change of the concept of history to be taken seriously.

2. Kant's technological reason Kant's startling description of reason that does not fit his conception of reason as an order-imposing faculty is this: „Reason in a creature is a faculty of widening the rules and purposes of the use of all its powers far beyond natural instinct; it acknowledges no limits to its projects." (Kant 1784/1963, Second Thesis) Reason that widens the rules and purposes of all our powers and acknowledges no limits does not only burst Aristotelian teleology that presupposes a natural limit. It is also a faculty that shows no affinity to the role that Kant has made reason famous (or suspicious) for, the role of establishing order in phenomena, in particular in prescribing law to nature and action. How can a faculty that widens the use of our powers beyond all limits detect or create order? It seems to be fit for creating disorder rather than order, as it acknowledges no limits to any project.

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Moreover, Kant's reason in the role of a faculty that establishes order is a faculty of knowledge. Even what Kant calls practical reason, the faculty that gives order to our actions, is practical only as it pertains to practice. In fact, it is a faculty of knowledge as it gives us to know what is right and what is wrong. In contrast, a faculty that widens our powers beyond limits is a purely practical faculty. It is a power of widening our action possibilities rather than a power of widening our knowledge. In this respect it is similar to the pre-Kantian conception of free will as a power not of knowledge but of increasing our action possibilities. So if his startling description of reason does so badly fit his ideas of reason that he had just developed in his first Critique, why does Kant introduce it at all? The explanation is that he thought of the cause of historical progress that he will explain some theses later. As this cause he will adduce a mechanism by which the princes' interest in glory combines with the citizens' (or better, the bourgeois') interest in production via technology or the means of raising productivity. The means of raising productivity will meet both the interest in high taxes that the princes need for their wars and the bourgeois interest in production. It will even civilise people sufficiently to become moralised. Therefore, technology as the crucial means of raising production is at the core of the mechanism of historical progress. But technology is a work of reason. It is the work of the very faculty he describes as „the faculty of widening the rules and purposes of the use of all its powers far beyond natural instinct" that „acknowledges no limits to its projects." It is a perfectly wellfitting description, since technology is the process of widening the rules and purposes of all our natural powers, and it widens them far beyond natural instinct and acknowledges no limits to our projects. Moreover, as a description of reason, Kant might have justified it by referring to free will as a property that is implied by reason. In fact, in the thesis that follows on his description of technological reason, he asserts that nature gave „man reason and the freedom of the will which is based on it" (ibid., Third Thesis). 3 That freedom of the will, if it exists, must be based on reason was generally recognised before Kant by both adherents and opponents of the idea that men have free will. For according to the conception of free will before Kant that I'll describe in the next paragraph, it presupposes deliberation, and deliberation presupposes reason. It was understood as the power of free decision after deliberation and thus not a faculty of knowledge but a radically practical faculty that widens our action possibilities. By describing not free will but reason as a faculty of widening our powers, Kant seems to shift the radically practical power of free will back to practical reason in its role of widening the use of our powers. Anyway, however the relation that Kant thinks reason and free will are standing in, a faculty of widening our powers without limit is a faculty of rejecting any given intention and replacing it by alternatives that allow us a wider range of options. Such a faculty presupposes the faculty that has traditionally been defined as freedom of the will

3

Beck translates „[...] and the freedom of the will which depends upon it", but Kant's „darauf sich gründende Freiheit des Willens" expresses a stronger dependence of free will on reason.

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or liberum arbitrium and sometimes been called liberty of indifference.4 We find freedom of the will thus understood both in Locke and Hume 5 who denied it man, and in Descartes who ascribed it to man. Descartes' description of it might have influenced Kant in his „no limits" description of reason.

3. Descartes' conception of judgment and will and its incompatibility with Kant In his fourth Meditation, Descartes calls free will a power that „consists only in this, that we are able to do or not to do the same thing (that is, to affirm or deny, to pursue or shun it)" (1641/1973, Med. IV, 57). Contemporary philosophers say of such ability that it follows the principle of alternative possibilities, which means that we can choose action A as well as non-Α. Surprisingly Descartes, immediately after giving his first description of free will, adds another and apparently inconsistent one, according to which free will consists „in this alone, that in affirming or denying, pursuing or shunning, what is proposed to us by the understanding, we so act that we are not conscious of being determined to a particular action by any external force". This description has been called the liberty of spontaneity or freedom of action rather than freedom of the will.6 The distinction of liberty of spontaneity and liberty of indifference traces back to Aristotle's distinction of voluntary actions that have their origin in the agent, and responsible actions that follow on deliberation and are ,up to the agent to do and not to do'. 7 The capacity to originate movement was understood as freedom of action and spontaneity, and the faculty of deciding after deliberation, as freedom of the will and indifference. Freedom of action and spontaneity are compatible with determinism, as an action originated by an agent can still be determined by prior causes. Freedom of the will and indifference are not. Despite his indecision in the 4 th Meditation, in a later letter Descartes argued that man has also liberty of indifference. He claimed that „we are always capable of revoking a good or a truth we have clearly recognised, if only we judge it to be good for

4

On the use of these terms in the scholastics, cf. Wells 1961. Luis de Molina (1595, quaestio 14, art. 13, disput. 2, S. 8) has given the influential definition of liberum arbitrium as „that which under given conditions is capable of both acting and not acting or of doing something in a way that it might as well do the contrary".

5

Cf. Locke 1690/1979, bk. 2, ch. 21, §8; Hume 1739/2000, bk. 2, pt. 3, sec. 2.

6

Some philosophers have argued that the two definitions are not inconsistent. Kenny (1975) argues that liberty of indifference is a form of that of spontaneity; Crow (2006) that it is the other way around. Cf. also Petrik 1992. Aristotle, Nie. E. III l i l l a 26, distinguishes voluntary actions from such as result from deliberation, voluntary being actions such a have their origin in the agent (1110a 17), deliberated ones such as are „up to (the agent) to do them and not to do them" (1110a 17. Terence Irwin and similarly Rackham translate incorrectly „or" for „and").

7

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proving the freedom of our will." 8 Such revoking is absolutely arbitrary, but it is a judgment, and it can be arbitrary only because it is a judgment. This is why Descartes identifies judgments with acts of will. 9 Hence all judgments, even rational and mathematical ones, include the element of arbitrariness or indifference. There is no judgment that might not have been judged differently. For this reason Descartes argues that God might have decided that 2+2 equals 5 rather than 4. 10 In contrast to Descartes, Kant distinguishes reason, as the faculty for a priori or necessary judgments, i. e. judgments that can only be judged the way they are judged, from judgment, which he considers to be empirical and therefore capable of being judged differently than they are in fact judged. It is the more remarkable that in his Idea for a Universal History, he nonetheless gives a Cartesian view of judgment in his „no limit" description of reason. Locke, Leibniz, 11 Hume and many others have criticised Descartes' assertion that „we are always capable of revoking a good or a truth we have clearly recognised" as presupposing what is controversial, namely, that in a practical and even a theoretical judgment we are always capable of rejecting any evidence or reason. This objection misses the Cartesian condition that we can revoke evidence only for the sake of the liberty of indifference, that is, for the specific reason that we prefer to prove the freedom of our will to following the evidence. 12 When describing reason as a faculty that acknowledges no limits, Kant follows the Cartesian idea of judgment. Whether he thought of Descartes or not, he implies that we are capable of rejecting rules, purposes and projects even if we know that they could not be better; for this would be again a limit. One may even ascribe to him the Cartesian argument that such rejection is possible only for the sake of the liberty of indifference; for he says that it is not for any use that we can reject purposes but in „widening the rules and purposes of the use" of our powers. Although we may widen the rules and purposes of the use of our powers also in order to become more powerful, we may widen

8 René Descartes to Father Mesland, 9 Febr. 1645 (Descartes 1976, 173). 9 Médit. IV: „illos actus voluntatis, sive ilia judicia" (Descartes 1641/1973, 60). Because judgment is never without arbitrariness, Descartes distinguishes it from understanding, intellectus. Understanding does not depend on our will. Cf. my Rethinking the Western Understanding of the Self Cambridge UP 2009. 10 Cf. his letters to Mersenne, April 15, May 6 and May 27, 1630 (Descartes 2000, 28-30). 11 Leibniz's criticism is particularly interesting. Alluding to the Cartesians, he says, „they say people even after knowing and deliberating everything have still the power of not only willing what pleases them most but also willing the contrary, just for proving their liberty. But you have to consider that this spleen or spite or at least this reason that prevents us from following the other reasons is no less a factor in the deliberation that makes us to be pleased with what otherwise we would not be pleased with." (Leibniz 1704/1965, bk. 2, ch. 21, § 25, 168) and: „A spirit that would have the peculiarity of being willing and capable of doing or willing the contrary of what can be predicted about him [...] belongs to the range of beings that are incompatible with the existence of the being that knows everything, i.e., with the harmony of the things and therefore neither have been nor are nor will be." (ibid. 84 f.; my translations). 12 I have been more explicit on this in Steinvorth 2009, chapter 3.

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them for the sake of the liberty of indifference and might even claim that in the end it is only for this sake that we can widen them. Anyway, his Cartesianism had a consequence Kant could not welcome. His Idea for a Universal History is the idea that mankind can, will and should not only develop all its capacities but also develop them in a way that leads to the perfection of mankind and the universe. Yet widening our powers without limit for the sake of the freedom of the will cannot guarantee such a happy ending of history. As is implied by the term liberty of indifference, free will is indifferent also to morality and virtue. Descartes even boldly claimed that rejecting moral reasons is a „greater use" of free will than one that would conform to morality, since it proves the „positive capacity we have of following the bad even though we see the good". 13 This claim takes account of the fact, again and again to be observed in children who learn their rational capacities, that actions that we know to be wrong are particularly attractive just because their wrongness puts a limit to the use of our powers and reason dislikes limits. Hence, Kant's Cartesian description of reason implies the prediction that technology as the sphere of activities by which man widens his powers without limit will be morally indifferent and even be attracted to breaking moral limits. But the historical role that Kant ascribes to technology does not fit with this prediction. Kant expects the rulers of the world, the governors of states, to promote technology for the egoistic reason of making their states as rich and powerful as possible. At the same time, he considers technology a use of reason that leads people from what he calls culture, which is agriculture and other forms of production and commerce, via „civic freedom" to „enlightenment, and with it a certain commitment of heart which the enlightened man cannot fail to make to the good he clearly understands". Such enlightenment and commitment „must step by step ascend the throne and influence the principles of government" (Kant 1784/ 1963, Eighth Thesis). So technology, uniting discipline and rationality, is Kant's mechanism that allures princes, moralises mankind and secures the victory of morality over the seductions of lawlessness. It transforms activities that make history a scene „we turn our eyes from [...] in disgust, doubting that we can ever find a perfectly rational purpose in it" (ibid., Ninth Thesis), into a story with sense and meaning. If we didn't find technology among men, Kant's idea for a universal history, nature's secret plan and guiding thread that allows finding order in history, just as the categories allow finding order in nature, would lack any empirical basis. But „experience" has to detect some empirical evidence for the

13 „Maior enim libertas consistit vel in maiori facilitate se determinandi, vel in maiori usu positivae illius potestatis quam habemus, sequendi deteriora, quamvis meliora videamus." (Descartes 1641/ 1973, 174) Descartes thus alludes to a description of the mythological heroine Medea by Ovid in his Metamorphoses VII 20f where Medea says: „Video meliora proboque Deteriora sequor: I see what is better, approve it, yet follow what is worse". Medea, having eloped with Jason from the Caucasus and betrayed by him, kills her and Jason's children, though she says she knows what would be good and still is „following the bad". Descartes implies that freeing oneself even from the fetters of morality is a greater use of free will than staying in them, and that Medea was capable of it.

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idea that, appearances notwithstanding, there is a „purpose of nature in this idiotic course of things human". Otherwise the idea would be „gushy" or „fantastical" (ibid., Eighth Thesis). 14 Unfortunately, this little empirical evidence dissolves as soon as we become aware of the meanwhile well-known moral ambivalence of technology. Kant tried to prevent the little empirical evidence from dissolving by restricting reason to its role of giving laws and excluding from it the capacity of rejecting moral limits. The first consequence is that freedom of the will can no longer be a freedom of indifference but only a freedom of establishing law in action and nature. The next consequences are that the use of reason in technology will be nothing but the detection of laws in technological action, and the widening of our given capacities by reason will never allow an immoral use of reason in technology. Rather, it will eliminate lawlessness, as this is what the use of reason will imply by definition. Of course, this protection of the little empirical evidence for his idea is a paradigm of theory immunisation. Moreover, the redefinition of reason by narrowing it down to a faculty of order imposition is arbitrary, as it leads to considering any deliberate action by which we do not impose order on something as non-rational. In particular, any immoral action can no longer be rational, and even immoral applications of technology must be considered the work not of reason (nor of Nature) but of our irrational nature. Although this consequence would have been acclaimed by the moral intellectualists Socrates and Plato, it has the unwelcome consequence of excluding immoral actions from the class of responsible actions, since responsibility, according to most philosophers, Kant included, presupposes rationality. Fortunately, Kant, in spite of the incompatibility of his redefined reason with the Cartesian reason that acknowledges no limits, did not delete his „no limit" description of reason. It seems he did not ponder on its incoherence with his entrusting technology the task of moralising mankind and just did not draw consequences from it. In his Groundwork, published only one year later, we still find Cartesian elements, but they too remain without consequences. In the Critique of Practical Reason they are extinguished. But his new conception of free will as a pure will that can only will what is morally good burdens Kant's moral theory with an insoluble problem that devastates his theory.

4. Groundwork and Critique of Practical Reason In the Groundwork, Kant investigates freedom of the will because he wants to prove that creatures gifted with reason cannot but recognise the categorical imperative as the law of their actions. In the first two parts, Kant claims to prove by analysis of our ordinary moral concepts that the categorical imperative, or what he also describes as the autonomy of the will, is the standard by which we judge if an action is morally forbidden or permitted. Only in the final third part does he try to prove that this standard is 14 Beck translates German schwärmerisch by Utopian, which is misleading, and drops Kant's reference to experience. The passage on the „idiotic course" is from the Introduction.

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not only used in our moral judgments but both can and ought to be followed in practice. The task of showing that we can arises from wide-spread doubts in free will. The task of showing that we ought to arises from the distinction between the „merely analytic" derivation of the categorical imperative in the first two parts and its missing proof by a „synthetic" judgment. The empirical fact that our moral concepts are used in the way the first two parts have expounded cannot oblige us to follow this way. Rather, the claim that the categorical imperative is „true and absolutely necessary as an a priori principle", presupposes „a synthetic use of pure practical reason" (Kant 1785/2005, 39) that Kant wants to demonstrate in the last part. When he pursues his double task of showing that we can and ought to follow the categorical imperative in the third part of the Groundwork, Kant, in the first section, argues that the will is free if it „can be effective independent of outside causes acting on it" (ibid., 39). By this assertion he conceives of free will not as the liberty of indifference but of spontaneity; for if the will is effective independent of outside causes, its action has the origin in the agent, but this origin does not exclude prior causes in the agent that act on the present state of the agent. In the Aristotelian tradition, if an action originates in the agent, this is the mark of freedom of action and not freedom of the will; what needs to be added for an action to become responsible and an act of free will, is deliberation. But even if Kant understands his assertion as excluding determinism, he leaves the problem of how an agent can be effective independent of anything preceding the act. Kant was aware of the problem, as he hedges his definition by declaring it to be only a negative one, adding that what is needed is a positive concept of free will. This positive concept is produced, he says, if we recall that an action effected by a natural cause is heteronomous, while autonomy is produced by „the will's property of itself being a law". This property, Kant claims, is not only the one that makes will free; it is also the very property formulated by the categorical imperative for an action to be moral: „Therefore a free will and a will under moral laws are identical." (ibid., 40) This argument seems a kind of prestidigitation. We have learned the „property of itself being a law" only when Kant analysed the concept of a moral will and claimed that its morality consists in its choosing only universalisable maxims, which he identified with law. Now he claims that the property of choosing only universalisable maxims is also the property of free will. But both Descartes and Descartes' critic Leibniz 15 would agree that this is not the property of free will, as in choosing universalisable maxims the will is completely determined by the principle to choose such maxims. Only if we were capable of both following a universalisable maxim and rejecting it despite our understanding of it could we call the property of itself being a law the property of free will. Yet this is precisely what Kant wants to exclude. By detecting that „a free will and a will under moral laws are identical", he states, he has not yet proved that humans have free will, since he has not yet proved that humans can act under moral laws (cf. Kant 1785/2005, 40). This is plainly true; Kant has only asserted that if we can act under

15 Cf. Leibniz 1704/1965, bk. 2, ch. 21, § 25, 84 f. and 168 (my translation).

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moral laws we are free, not that we can. So why does he point out that „a free will and a will under moral laws are identical"? Because he wants to prepare the reader to accept that the free will Kant will ascribe to man does not correspond to the expectation that a free will is free even to reject moral laws. A free will that is identical with a will under moral laws lacks the property of reason praised in the Idea, that it „acknowledges no limits to its projects". A free will that is identical with a will under moral laws acknowledges the limits of morality; it is even constituted by this acknowledgment. It is a will that in ordinary language would be called unfree. Actually, Kant's aim in the Groundwork, after his identification of free will and a will under moral laws, is no longer to prove that men have free will but that we can act under moral laws. He certainly presupposes that to act under moral laws we must be free, but what he aims at is the proof that we can act under moral laws; that we also are free follows from the proof that we can act under moral laws. Nevertheless, in the second section of the third part of the Groundwork, titled by the assertion „Freedom must be supposed as a property of the will of all rational beings", it seems he aims at proving that men have free will. For here he proclaims: „Any being who can't act otherwise than under the idea of freedom is, just for that reason, really free in his conduct." (Kant 1785/2005, 41) 16 This sounds similar to Descartes' argument that we can reject any evidence for a judgment if we prefer acting for the sake of our free will. Descartes' argument presupposes that in any deliberation we cannot but deliberate under the idea of freedom, since we are always free to prefer to decide for proving our independence of any predetermining influence, hence even against the most convincing evidence that something should be done or is the case. Similarly, it seems, Kant asserts: „Now we can't conceive of a reason that would consciously take direction (about how to judge) from outside itself, for then the person whose reason it was would think that what settled how he judged was not his reason but some external impulse. Reason must regard itself as the author of its principles, owing nothing to external influences; so it must - as practical reason, or as the will of a rational being - regard itself as free. That is to say, the will of a rational being can be his will only under the idea of freedom, so that from a practical point of view such a will must be ascribed to all rational beings." (Kant 1785/2005, 41) What Kant says here seems to be very similar to Descartes' argument. Both Descartes and Kant argue that judgments can be considered our judgments only if we judge in a way in which we exclude any predetermining influence. That Kant excludes only external influences is not necessarily a difference form Descartes, since any predetermining factor is external to the judging self: the judging person can regard herself as the

16 Ibid., 41.

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author of her decisions only if she judges in a way in which she acts as if she wanted to prove her free will. This implies that howsoever she judges, she might as well judge differently from how she does judge, just as Descartes stated. However, this seems not to be the way Kant wanted to be understood. Rather, he wants the reader to understand „the idea of freedom" as „the moral law". But he does not say so, because then his argument becomes quite implausible. It is not plausible that „the will of a rational being can be his will" only under the moral law. So the plausibility of his argument depends on a Cartesian reading. Surprisingly, after some other explanations Kant calls his argument a circle: „We take ourselves to be free in the order of effective causes so that we can think of ourselves as subject to moral laws in the order of ends; and then we think of ourselves as subject to these laws because we have ascribed to ourselves freedom of the will." (Kant 1785/2005, 42) True, this is circular, as we cannot prove that we can and ought to act morally by pointing to our free will, if we can ascribe free will to us only because we believe that we can and ought to act morally. But this he has already said in the first section, and in the second section he did not argue this way. There he did not say that we take man to be free only in order to think of man as subject to moral laws. Rather, he said that we are free because we cannot act and in particular cannot judge but under the idea of freedom. Though he probably meant this freedom to be only the freedom to act morally he did not say so. Rather, he relied on the plausibility of his argument if the reader thinks of the Cartesian freedom of acting regardless of any preceding determination, including that of morality, hence of acting both morally and immorally. Whatever Kant's thoughts and afterthoughts in writing his Cartesian-sounding argument of the second section, the argument conforms to the way in which he described, in his Idea, reason as a faculty of widening all our powers without limit. Only when in the third section of the Groundwork he looks back to the second section does he maintain that the idea of freedom under which we cannot but act is a purely moral freedom. Only in the third section does he reject the idea of a freedom that includes the freedom to act immorally, just as in the Idea he implied its rejection in his discussion of technology. In his Critique of Practical Reason, Kant eliminates all tracks of Cartesianism. He declares „that it is morality that first discovers to us the notion of freedom" and that the „concept of a pure will", to which Kant has now reduced free will, „arises out o f ' our knowledge of the „pure practical laws" of morality (Kant 1788/1996, § 6). But it is implausible that we get our idea of freedom of the will from our knowledge of morality. Moreover, since free will has become pure will, pure will is a will that is determined purely by the pure moral law. So immoral actions are by definition caused by nature for which an individual is not responsible. Kant even admits, later in the Metaphysics of Morals, that „experience proves often enough", that „the rational subject is capable of making a choice that contradicts his law-giving reason". Yet he insists at the same time that freedom of the will can „by no means consist in this, that the rational subject is capable of making a choice that con-

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tradicts his law-giving reason' ' (Kant 1797/1954, 30). 17 It cannot, because Kant has to stick to the conception of free will as the origin of good things only.

5. Looking back and forward What conclusions are we to draw from Kant's dropping his Cartesian description of reason as the faculty of widening our powers without limits? True, this un-limiting reason does not fit in with the Kantian system of order-establishing reason. But can there be a better key to understanding history than taking account of our capacity of widening, beyond any limit, the capabilities given us by nature and civilisation? This capacity causes the changes that make up history, changes that on the one hand give direction to history, but on the other hand neither guarantee moral progress (rather increase the dangers that men threaten on each other and the rest of the world) nor allow predictions on the future, since technological inventions are the paradigm of unpredictability. That they are unpredictable is the most convincing argument of the critics of historicism, the idea that social science can follow the model of physics. 18 Technology is the motor of history that allows saying that „in the end we are being driven by history, all the while thinking that we are doing the driving" (Taleb 2007, 211). We cannot avoid regarding the capacity for technology as a capacity of reason, of technological reason, since it is closely connected with what we are used to call judgment and deliberation. It belongs to man's dynamic core that prevents him from having a fix essence. Therefore Kant was right to describe reason in his Cartesian way when he tried to find a key for understanding history. But he shrank back from drawing consequences from it, since this would have shaken the system that he had just started building in his first Critique. He had an additional strong reason for doing so: he was right in insisting that man has the opposite capacity of imposing order on whatever is given. He was only wrong in thinking that therefore he had to abandon the Cartesian description. He should have kept both of them, despite their seeming incompatibility. The right response would be to find out how they are dependent on each other. Hegel, who closely followed Kant's idea of a universal history, responded to the challenge by developing his dialectic as a theory that takes account of both the destructive or negative and the constructive or affirmative side of reason. But he certainly did not exhaust the possibilities of understanding history by looking at the two sides of reason. To give just one example, he stuck to Kant's idea of history's happy ending, declaring the „mind's consciousness of its freedom and by this very fact the reality of its freedom" the „final aim of the world" (Hegel 1837/1970, 32). 19 When we take the development of technology for one important strand of history that combines the order17 Translation mine. 18 Most important among these critics are Karl Popper (cf. Popper 2002) and F. A. Hayek (cf. Hayek 1945). 19 „[...] der Endzweck der Welt das Bewußtsein des Geistes von seiner Freiheit und eben damit die Wirklichkeit seiner Freiheit überhaupt" (my transi.).

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rejecting and order-imposing sides of reason, we shall be less optimistic. Rather, we shall take account of the possibility, actually become real to a considerable extent, that technology is a means of suppression and stultification no less than a means of liberation and enlightenment, and that there is no necessity that it is either.

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HASSO HOFMANN

Repräsentation durch Partizipation

I.

Die Geschichte verfassungsmäßiger legislativer Gestaltung des Gemeinwesens beginnt bekanntlich mit den ersten beiden Sätzen des Artikels 6 der berühmten Déclaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789: La loi est l'expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont le droit de concourir personnellement ou par leur représentants à sa formation. Da die Teilhabe aller an der Gesetzgebung in den Flächenstaaten nicht zu verwirklichen war, blieb es bei der Partizipation am Ganzen durch Repräsentation aller. Den Mittelpunkt der politischen Philosophie Volker Gerhardts bildet sozusagen die Umkehrung dieser Formel: Repräsentation des Ganzen durch Partizipation aller (Gerhardt 2007). Teilhabe aller meint hier freilich nicht eine Konsensdemokratie im Sinne der römischrechtlich-kanonischen Regel quod omnes tangit debet ab omnibus approbari (Hofmann 2003, 200), sondern im Gegenteil die Herausbildung repräsentativer Strukturen des Gemeinwesens durch Interaktionen aller, und d. h. im Rahmen von Gerhardts Philosophie des Individualismus (Gerhardt 1999 und 2000): durch die Beteiligung buchstäblich aller Individuen. Denn letztlich geht es ihm um das Individuum: Politische Partizipation bedeutet für ihn den auf die Gemeinschaft mit anderen bezogenen Akt individueller Selbstbestimmung. Das hat der Jubilar an der Humboldt-Universität nicht nur gelehrt, sondern in schwierigen Jahren der Entwicklung nach 1990 auch hochschulpolitisch vorgelebt. Dabei sind sich der Philosoph und der Jurist begegnet. Da Volker Gerhardt sich zudem intensiv mit der Geistesgeschichte der Berliner Universität beschäftigt hat (Gerhardt 1993), scheint es nicht unangebracht, wenn der Jurist zur Ehrung des Philosophen dadurch beiträgt, dass er an einen der Großen der Berliner Juristischen Fakultät erinnert, dessen Werk die unverzichtbaren rechtshistorischen Grundlagen für die Beschäftigung mit den Gedanken genossenschaftlicher Teilhabe und identitärer politischer Repräsentation 1 enthält. Die Rede ist von Otto (von) Gierke. Aus der Fülle seines (auf ca. 10.000 Druckseiten geschätzten) wissenschaftlichen Erbes (vgl. Wolf 1963, 669ff.) sind damit drei Arbeiten besonders angesprochen: die Darstellung namentlich der mittelalterlichen Korporationslehre im 3. Band seines monumentalen Deutschen Genossenschaftsrechts (Gierke 1881, bes. 186ff.), seine berühmte „Wiederentdeckung" der Staatslehre des Johannes Althusius 1

Zu dem aus der Geschichte des Konziliarismus stammenden Begriff der Identitätsrepräsentation vgl. Hofmann (2003, 214ff.).

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mit dem wichtigen Kapitel über die Geschichte des Repräsentativprinzips (Gierke 1880, 21 Iff.) und schließlich seine profunde Kritik von Paul Labands volksferner Staatstheorie des Bismarckreichs (Gierke 1883, 1097ff.).

II. Otto Gierke, als Sohn eines preußischen Beamten in Stettin geboren und zu seinem 70. Geburtstag am 11. Januar 1911 mit der Verleihung des erblichen Adels ausgezeichnet, wurde 1887 nach Berlin berufen. 2 Damit kehrte er an den Ort zurück, an dem er (nach Heidelberg) studiert, von dem führenden Deutschrechtler und national-liberalen „politischen Professor" der Paulskirche Georg Beseler (dazu Schröder, 1882/83, 399ff.) richtungsweisende Anregungen empfangen hatte und aufgrund einer Dissertation über Lehensschulden promoviert worden war. Hier war er auch habilitiert worden und hatte als Privatdozent Vorlesungen über deutsche Rechtsgeschichte, deutsches Privat- und Lehnsrecht, ferner über Handels-, See- und Wechselrecht, aber auch über allgemeine Staatslehre, Staats- und Kirchenrecht gehalten. Gierkes Berliner Habilitationsschrift bildet den Grundstein seines ganzen wissenschaftlichen Werks. Aus dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 heimgekehrt - Gierke hatte als Leutnant der Landwehrartillerie an der Schlacht bei Königgrätz teilgenommen schrieb er in wenigen Monaten eine etwa 1.100 Seiten umfassende „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft", die 1868 als Band 1 seines Deutschen Genossenschaftsrechts erschien (Neudruck 1954). Darin versucht er nachzuweisen, dass es schon in der Frühzeit ein selbstständiges deutsches Rechtsbewusstsein mit eigenen, vom römischen Recht unabhängigen Ideen und Institutionen gegeben habe. Zentrale Einrichtung dieser Art schien ihm die „Genossenschaft", angeblich Urbild der deutschen Gemeinschaftsordnung. Jedenfalls hatte er damit den Schlüsselbegriff seiner Rechtstheorie gefunden. Nach der Teilnahme am deutsch-französischen Krieg wurde Gierke 1871 in Berlin außerordentlicher, 1872 in Breslau ordentlicher Professor, wo er mit Wilhelm Dilthey, dem Schöpfer der geisteswissenschaftlichen Methode, verkehrte 3 und 1882/83 als Rektor amtierte. In seiner Rektoratsrede fasste er unter dem Titel „Naturrecht und Deutsches Recht" (1883) die Ergebnisse seiner einschlägigen Studien zusammen. Aus ihnen war auch schon die Monographie über Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie hervorgegangen. Diese Wiederentdeckung des bedeutenden calvinistischen Sozialtheoretikers und Staatsdenkers brachte Gierke mit Recht großen Ruhm. 1884 wurde er nach Heidelberg und 1887 - wie erwähnt - nach Berlin berufen. Für Gierke war die korporative Lehre des Althusius von einem sozialen Organismus, der sich „durch die Stufenreihe von Sozietäten von unten nach oben aufbaut", ein Muster-

2

Der folgende Text stützt sich auf eine Abhandlung des Verfassers, die unter dem Titel From Jhering to Radbruch demnächst in dem Gemeinschafts werk A Treatise of Legal Philosophy and General Jurisprudence, hg. v. Pattaro, Bd. 9, Kap. 8, erscheinen wird.

3

Dem ersten Band von Wilhelm Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) hat Gierke in den Preußischen Jahrbüchern (1884, 105ff.) eine ausführliche Besprechung gewidmet.

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beispiel für die spezifisch deutsche Verbindung der eigenen Rechtstradition mit einer allgemeinen naturrechtlichen Gesellschaftslehre, deren Volksnähe sie sowohl von der absolutistischen wie der revolutionären Version der Theorie des Sozial- und Herrschaftsvertrags unterschied. Während all' dieser Jahre führte Gierke seine Arbeit am deutschen Genossenschaftsrecht fort. Der zweite Band (1873) verfolgt den Genossenschaftsgedanken bis zur Rezeption, der dritte (1881) bringt die Geschichte der antiken und mittelalterlichen Korporationslehre. Gierkes Beschäftigung mit den Grundbegriffen des Staatsrechts führte in seiner Besprechung des Reichsstaatsrechts von Paul Laband (Laband 1876-1882) zu einem Höhepunkt: Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft (Gierke 1883). Hauptangriffspunkt von Gierkes Kritik ist Labands Konstruktion des Staats als einer juristischen, d. h. bloß fingierten, abstrakten Person (dazu Hofmann 2003, 132ff.) allein mit den Mitteln des individualistischen Privatrechts. Ihr stellt er seine Idee des realen Wesens einer öffentlich-rechtlichen Gesamtpersönlichkeit entgegen, die nicht nur Herrschaft, sondern auch Genossenschaft ist. Er sieht darin ein „soziales Lebewesen", eine „Persönlichkeit höherer Ordnung", die sich eben nicht aus privaten Individuen, sondern aus „Gliedpersönlichkeiten" zusammensetzt (Gierke 1883, 3Iff.). Danach ist der Staat nicht nur ein Rechtsorganismus, sondern „ein natürlicher und geistig-sittlicher Gesellschaftsorganismus, dessen Daseinsordnung zwar notwendig zugleich Rechtsordnung ist, keineswegs jedoch hierin aufgeht" (ebd., 53). Von anderen in den Staat eingebundenen Korporationen unterscheidet er sich dadurch, dass seine Verbandsgewalt auf seinem Gebiet die höchste ist (ebd., 72). Entschieden betont Gierke in der Diskussion des Bundesstaatscharakters des Deutschen Reichs das Begriffsmerkmal der Souveränität allein des Gesamtstaats. 20 Jahre später hat Gierke in seiner Berliner Rektoratsrede über „Das Wesen der menschlichen Verbände" eine abgerundete und lebendige Zusammenfassung dieser seiner „organischen Theorie" gegeben (Gierke 1902, zit. nach der Ausgabe von 1954). Sein deutsches Genossenschaftsrecht blieb indes unvollendet. Zwar erschien 1913 noch ein vierter Band, der die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit jedoch nur bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und das Naturrecht bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts behandelt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veranlasst den Kriegsteilnehmer von 1866 und 1870/71 zu einigen patriotischen Äußerungen (Gierke 1914, 1915). Eine der letzten Publikationen Gierkes spricht aber noch einmal über die rechtsphilosophische Grundlage seiner wissenschaftlichen Arbeit. Schon in seiner Breslauer Rektoratsrede von 1882 hatte Gierke die Rechtsidee gegen die „Zersetzung" durch die Prinzipien des Nutzens und der Macht, insbesondere gegen den Rechtspositivismus der imperativen Setzung verteidigt (Gierke 1883, 11 f., 32). Das bedeutete freilich kein Plädoyer für ein ideales Naturrecht. Im Gegenteil: Gierke baute gegen radikale und revolutionäre Naturrechtsentwürfe auf das positive Recht, aber nur im Sinne des als Teil des nationalen Kulturprozesses gewachsenen und insofern positiven Rechts (ebd., 9f., 11 f.). Gierkes Rechtsphilosophie ist eine „Philosophie der Rechtsgeschichte".4 Mitten im Krieg bekräftigt Gierke unter dem Titel „Recht und Sittlichkeit", dass das Recht auch in Kriegszeiten auf

4

So Wolf (1963, 690) nach einer Formulierung von Dulckeit.

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die „Rechtsidee" des Rechten ausgerichtet bleiben muss (Gierke 1916/17, 21 Iff., zit. nach der Ausgabe 1963,46f.) Auch wenn sich uns das Urbild der Gerechtigkeit so wenig wie die Urbilder des Guten und Wahren entschleiert, bleibt es doch als „unverlierbarer Menschlichkeitswert" in allen geschichtlichen Wandlungen des Rechts immanentes Maß: „Urbild und Endziel" (ebd. 34, 37, 40).

III. Diese Skizze der Umrisse des Werks sei durch eine nähere Betrachtung der zentralen Vorstellungen ergänzt. Sie heißen: reale Verbandsperson, genossenschaftliche Rechtsbildung und soziales Recht. 1. Erik Wolf hat Gierkes Lehre von der „Realität der Verbandsperson" als das „besondere Ergebnis" von dessen „eigenartigem sozialethischem Historismus" bezeichnet (Wolf 1963, 693). Sie sehe die soziale Welt gebildet durch lebendige Organisationen, natürlichgeschichtliche Verkörperungen des Volksgeistes in einer „höheren Daseinsordnung [...] über (den) Lebensordnungen der Einzelnen", die den „Inhalt des Daseins" in der „Bestimmung für das höhere Gesamtleben" fänden (Gierke 1874, 153ff., 265ff., zit. nach dem Neudruck 1915, 26, 98). Das sei, meint Wolf, der Kern von Gierkes viel kritisierter „Organismustheorie" (Wolf 1963, 694). Man mag darin Verwandtschaft mit dem Idealismus Hegels oder noch mehr mit Schellings Identitätsphilosophie entdecken: das scharfe Profil einer Rechts- und Staatslehre zeigt Gierkes Ansatz nur in der politischen Perspektive des national-liberalen Strebens nach „organischer" Einheit von angestammter Monarchie und historisch verwurzelter Volksfreiheit. Dafür stand Gierkes Lehrer Georg Beseler (vgl. Schröder 1982/83, Kern 1982). Die organische Staatspersönlichkeit sollte Herrschaft und Genossenschaft, Einheit und Freiheit versöhnen (hierzu und zum Folgenden Böckenförde 1995, 147ff., 157ff.; Dilcher 1974/75, 355ff.; Schönberger 1997, 338f., 340ff.). Dazu musste der Gedanke der fingierten juristischen Person, wie sie die Pandektistik konzipiert hatte, aber auch die naturrechtlich-vertragstheoretische Vorstellung eines Kollektivs von Individuen überwunden werden. Den Staat als „sozialen Organismus" begreifen hieß also, ihn sowohl als reale soziale Einheit wie als „ideelle Wesenheit" verstehen. Die besondere Leistung Gierkes besteht darin, das nationalpolitische Ziel eines der eigenen Geschichte verpflichteten Verfassungsstaats mit einer entwicklungsgeschichtlichen und sozialtheoretischen Genossenschaftslehre durchdrungen zu haben, d. h. mit einer allgemeinen Theorie menschlicher Verbandsbildung, die nicht wie die naturrechtliche Vertragslehre individualistisch und mechanisch-assoziativ dachte, sondern dem althusischen Konsoziationsgedanken folgte. Danach resultiert die soziale Ordnung aus einem Stufenbau teils natürlicher, teils willentlich gebildeter Genossenschaften. Deren umfassendste und höchste ist der Staat, von den eingegliederten Verbänden also nur quantitativ und durch die Eigenschaft der Souveränität, aber nicht ge-

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nerisch und wesensmäßig verschieden. Erinnert man sich der Wirkung, die von M a i lands englischer Übersetzung des Genossenschaftsrechts ausging, lässt Gierkes Theorie an Harold Laskis soziologischen Pluralismus denken, auch wenn Gierke, wie angedeutet, aus der staatlichen Souveränität in der Rezension von Labands Staatsrecht später ausdrücklich einen „Artunterschied" folgen sieht. Aber Gierkes Genossenschaftslehre ist keine den Staat von der Sphäre der Gesellschaft her auflösende allgemeine Assoziationstheorie. Gierke denkt nicht in der Antithese von Staat und Gesellschaft, sondern im Ansatz von den vormodernen Kooperationen her, die das Herrschaftliche und das Genossenschaftliche, das Öffentliche und Private noch ungeschieden in sich vereinten. Und er suchte die traditionellen Formen genossenschaftlicher Volksfreiheit, entsprechend transformiert, in einem freiheitlichen, nationalen Verfassungsstaat aufleben zu lassen. Das beginnt mit einer harschen Kritik an Labands abstraktem Begriff der Staatsangehörigkeit als eines staatlichen Gewaltverhältnisses, der „das eigentümliche Wesen der Staatsangehörigkeit als einer Mitgliedschaft im Gemeinwesen" mit den daraus sich ergebenden Folgen bis hin zum „Recht auf einen verfassungsmäßigen Anteil an der staatlichen Willenstätigkeit" nicht zum Ausdruck bringe (dies und das Folgende nach Gierke 1883, 36ff.). Zentrale Bedeutung aber hat Gierkes Rüge, dass Laband mit der Leugnung des Rechtscharakters aller (immerhin in den Verfassungen der Gliedstaaten garantierten) Grundrechte deren prinzipielle staatsrechtliche Wichtigkeit für die Organisation des Gemeinwesens verkenne. Mit ihnen grenze der Staat seine Sphäre nämlich gegen die „Sphären der Individuen (oder auch engerer Verbände)" ab: „Denn die Einzelpersonen bilden den Staatskörper nicht als eine Summe unter sich gleicher Atome, sondern in einer bestimmten staatsrechtlichen Gliederung." Jene im Vergleich zum Staat „engeren Verbände" sind fur Gierke vornehmlich die Gemeinden. Aber auch die Gliedstaaten des Bundesstaats werden unter diesem „genossenschaftlichen" Blickwinkel gesehen (ebd., 75). Weitere genossenschaftliche Organisationen scheinen nicht ausgeschlossen. Es bleibt aber offen, ob und wie sie auf der Freiheit der Individuen beruhend - zwischen ihnen und dem Staat vermitteln können.

2.

Ganz verfehlt muss unter diesen Prämissen Labands Behandlung des Reichstags erscheinen. Denn nach Gierkes Analyse hat Labands System eigentlich keinen Platz für den Reichstag als Staatsorgan und Mitträger der Reichsgewalt neben dem Bundesrat als der angeblichen „Generalversammlung" des Reichs. Für Laband sei der Staat „als aktives Rechtssubjekt" letztlich mit der „Regierung" identisch, „während die Volksvertretung gewissermaßen nur als ein von außen herangezogener Ausschuss der Staatsinteressen erscheine" (dies und das Folgende ebd., 52; dazu Schönberger 1997, 165fif., 347ff.). Die negative Folge dieser theoretischen ,Entstaatlichung' der Funktion des Reichstags und ihrer praktischen Verkürzung auf Vorbereitung oder nachträgliche Prüfung von Staatshandlungen sieht Gierke in der exklusiven Reduktion des eigentlich staatlichen Elements jedes Staatshandelns auf einen gouvernementalen „Befehl", an dem der Reichstag keinen Anteil hat. Das trifft nach Gierke die staatliche Rechtsetzung ins Mark. Denn zwar ist

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HASSO HOFMANN

Recht nur das positive, historisch-konkret vom Gesetzgeber festgesetzte Recht. Aber „Wert", „Kraft" und „Beständigkeit der Herrschaft des Rechts hängen davon ab, inwieweit das positive Recht als der jedes Mal adäquate Ausdruck der Rechtsidee empfunden, gewollt und begriffen wird" (Gierke 1883, 94). Folglich muss der Staat bei der Rechtsetzung nicht nur als „Willensorgan, sondern als Bewusstseinsorgan der Allgemeinheit" fungieren (ebd., 76ff.). Wird dieser Zusammenhang durch Labands formalistische Trennung von Gesetzesinhalt und Gesetzesbefehl jedoch zerrissen, verliert der Gesetzgeber den „edelsten Teil" seiner Aufgabe und das Recht als Gesetz „seinen spezifischen Gehalt und Wert" (ebd., 80). Offenbar sollen diese Verluste durch einen für beide Momente verantwortlichen Gesetzgeber vermieden werden, der sowohl als Organ der herrschaftlichen Staatsanstalt wie nach Kreation, Zusammensetzung und Verfahren als Organ des „natürlichen und geistig-sittlichen Gesellschaftsorganismus" (ebd., 53) gemäß dessen genossenschaftlichem Aufbau fungiert.

3. Darüber hinaus versuchte Gierke den Genossenschaftsgedanken aber auch im Privatrecht zur Geltung zu bringen, indem er dessen soziale Aufgaben betonte. In diesem Sinne griff er wiederholt sehr engagiert in die Diskussionen um den ersten Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für Deutschland von 1888 ein (beginnend mit Gierke 1888/89; dazu Janssen 1974, 59ff.; Hofer 2001, 141ff.). Wie der Hauptvertreter des „Juristensozialismus" Anton Menger (vgl. hierzu Hofmann im Erscheinen, I 3) kritisierte Gierke den sozialpolitisch einseitigen, romanistisch-volksfremden Individualismus in dem geplanten BGB. In einem Vortrag vor der juristischen Gesellschaft zu Wien über „Die soziale Aufgabe des Privatrechts" sagte Gierke 1889: „Eine Privatrechtsordnung, die ihres sozialen Berufs eingedenk ist, wird zugleich auf einen materiellen Schutz der durch die Vertragsfreiheit gefährdeten Gesellschaftsschichten gegen den Druck wirtschaftlicher Übermacht hinarbeiten müssen." (Gierke 1889, 29). Insofern müsse ein „Tropfen sozialistischen Öls" das Privatrecht „durchsickern". Dieses oft (und meist ungenau) zitierte Wort stellt allerdings nur die eine Hälfte von Gierkes rechtspolitischen Reformforderungen dar. Er plädiert nämlich - äußerlich auch hierin Menger ähnlich - gegen die Antithese des absolutistischen öffentlichen und des individualistischen Privatrechts für ein einheitliches öffentliches Recht - zum einen „durchsickert" von jenem Tropfen sozialistischen Öls, zum anderen aber auch „durchweht" von einem „Hauch des naturrechtlichen Freiheitstraums" (ebd., 13). Gierkes Einfluss auf die Gesetzgebungsarbeit blieb jedoch begrenzt. Stärker wirkte er auf Lehre und Rechtsprechung durch seine Einsichten in die Bedeutung der Generalklauseln, des Verbandsrechts und der Dauerschuldverhältnisse, durch die Förderung der sozialen Komponente im Dienstvertrags- und Mietrecht und das Postulat der Sozialbindung des Eigentums. Dies hat dann über Hugo Preuß, der sich als Schüler Gierkes bekannte, Eingang in die Verfassung von Weimar gefunden: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste." (Art. 153 Abs. 3). Und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist dem in Art. 14 Abs. 2 bekanntlich gefolgt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der

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Allgemeinheit dienen." In der Rolle des reformerischen Sozialpolitikers bahnte Gierke den Weg für ein modernes Arbeitsrecht, in dem der „genossenschaftliche" Zusammenschluss der Arbeitnehmer in Gewerkschaften ein Kräftegleichgewicht zum Unternehmer herstellen und so die Basis für ein kollektives Tarifvertragsrecht als autonome Rechtsschöpfung der Arbeitswelt entstehen sollte (dazu kritisch Spindler 1982; siehe jetzt Hofer 2001 115ff., 117ff.). Aber Gierke - wiewohl Mitglied des Vereins für Sozialpolitik und Mitbegründer des evangelisch-sozialen Kongresses, dieses Zentrums des „Sozialprotestantismus" - war kein „Kathedersozialist" und kann nicht ohne Weiteres dem Juristensozialismus zugerechnet werden (dazu Dilcher 1974/75, 323ff., 334fF.). Denn seine Sozialtheorie des Rechts ist nicht einfach nur sozialreformerisch. Sie ist andererseits traditionalistisch, nämlich der national-liberalen Einstellung der Deutschrechtler („Germanisten") verhaftet, und von Schellings romantischer Geschichtsphilosophie und dessen Organismusbegriff beeinflusst (Wieacker 1967, 454). Und letztlich fragt Gierke über alle naturalistischen Sozialtheorien des Rechts hinaus immer nach den ethischen Grundlagen des Rechts. So hat er Mengers Forderung einer Judikatur nach Zweckmäßigkeit im Falle von Gesetzeslücken kurzerhand als „Verleugnung des Rechtsgedankens seitens des Sozialismus" scharf zurückgewiesen (Gierke 1888/89, 122 Anm. 2; Gierke 1916/17, 21 Iff.). Und wenn Gierke wie Menger einen „Volksstaat" forderte und mit ihm die Überwindung der Trennung von privatem und öffentlichem Recht, dann meinte er eben nicht klassenkämpferische Verstaatlichung aller sozialen Bereiche, sondern die Transformation des anstaltlichen Obrigkeitsstaates in ein genossenschaftlich verfasstes Gemeinwesen. Endlich verbieten der außerordentliche Umfang, die Komplexität und der enorme Reichtum an Facetten, das Werk auf eine Formel festzulegen. So ist es nicht von ungefähr in unterschiedliche Perspektiven gerückt und mit gegensätzlichen Prädikaten bedacht worden. Man nennt ihn Vater des modernen deutschen Arbeitsrechts, aber auch Reaktionär, einen Ideologen des Kollektivismus und sogar einen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Ein führender NS-Jurist sah das freilich anders (und in diesem Punkt klarer). Reinhard Höhn, SS-Offizier und Berliner Lehrstuhlinhaber (dazu Lösch 1999, 320ff., 394fif., 426ff.), hielt Gierkes Lehre für unbrauchbar. 5 Hohns Begründung führt zu einem Begriff zurück, von dem wir ausgegangen sind: Es handle sich bloß um eine „Abwandlung des individualistischen Rechtssystems" (Höhn 1936, 150).

Bibliographie Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1995): Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder. 2. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot. Dilcher, Gerd (1974/75): Genossenschaftstheorie und Staatsrecht. Ein „Juristensozialismus" Otto von Gierkes? In: Quaderni Fiorentini, 3/4, 319ff.

5

Höhn (1936, 7): „von unserer Zeit nicht mehr zu brauchen".

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Gerhardt, Volker (1993): Zur philosophischen Tradition der Humboldt-Universität (Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität, Heft 1). Berlin: Humboldt-Universität. Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart: Reclam. Gerhardt, Volker (2000): Individualität. Das Element der Welt. Akademievorlesungen. Berlin: Akademie Verlag. Gerhardt, Volker (2007): Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: C. H. Beck. Gierke, Otto von (1874): Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neueren Staatsrechtstheorien. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 30, 153ff. Neudruck Tübingen 1915: Mohr Siebeck. Gierke, Otto von (1880): Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik. 5. Aufl. Aalen 1968: Scientia-Verlag. Gierke, Otto von (1881): Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 3: Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland. Neudruck 1954. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gierke, Otto von (1883): Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft. In: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 12, 1097ff. Gierke, Otto von (1883): Naturrecht und deutsches Recht. Rede zum Antritt des Rektorats der Universität Breslau am 15. Oktober 1882 gehalten. Frankfurt am Main: Rütten & Loening. Gierke, Otto von (1888/89): Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht. Leipzig: Duncker & Humblot. Gierke, Otto von (1889): Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Neudruck Frankfurt am Main 1946: Vittorio Klostermann. Gierke, Otto von (1902): Das Wesen menschlicher Verbände. Neudruck Darmstadt 1954: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gierke, Otto von (1914): Krieg und Kultur. Rede am 18. September 1914. Berlin: Heymann. Gierke, Otto von (1915): Der deutsche Volksgeist im Kriege. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. Gierke, Otto von (1916/17): Recht und Sittlichkeit. In: Logos, 6, 21 Iff. Sonderausgabe Darmstadt 1963: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Hofer, Sybille (2001): Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert. Tübingen: Mohr Siebeck. Hofmann, Hasso (2003): Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. 4. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot. Hofmann, Hasso (im Erscheinen): From Jhering to Radbruch. In: A Treatise o f Legal Philosophy and General Jurisprudence, hg. v. E. Pattaro, Bd. 9, Kap. 8. Höhn, Reinhard (1936): Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt. Janssen, Albert (1974): Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft. Studien zu den Wegen und Formen seines juristischen Denkens. Göttingen u. a.: Musterschmidt. Kern, Bernd-Rüdiger (1982): Georg Beseler - Leben und Werk. Berlin: Duncker & Humblot. Laband, Paul ( 1 8 7 6 - 1 8 8 2 ) : Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. 4. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck. Lösch, Anna-Maria Gräfin von (1999): Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933. Tübingen: Mohr Siebeck. Schönberger, Christoph (1997): Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs ( 1 8 7 1 - 1 9 1 8 ) . Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Schröder, Jan (1982/83): Zur älteren Genossenschaftstheorie. Die Begründung des modernen Körperschaftsbegriffs durch Georg Beseler. In: Quaderni Fiorenti, 11/12, 399ff. Spindler, Helga (1982): Von der Genossenschaft zur Betriebsgemeinschaft. Kritische Darstellung der Sozialrechtslehre Otto von Gierkes. Frankfurt am Main: Peter Lang.

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CHRISTIAN MÖCKEL

Das „Lebensgefuhl" in der politischen Philosophie Ernst Cassirers am Beispiel des „Gemeinschaftsgefühls"

In Ernst Cassirers philosophischem Werk ist immer wieder die Rede vom Gefühl im Sinne von Lebensgefühl, Gemeinschaftsgefühl, aber auch im Sinne von Stimmung. Dass dieser Wortgebrauch weder zufallig ist noch ein bloßes Zugeständnis an die zeitweise einflussreiche Lebensphilosophie darstellt, wird verständlich, wenn wir den für das frühe cassirersche Werk konzeptionell wichtigen Begriff der epochalen gesellschaftlichen Lebensordnung, ergänzt um die späten Überlegungen zur mythisch-irrationalen und ethischrationalen Ordnungsform sozialen sowie kulturellen Lebens, mit den verschieden formulierten Struktur- bzw. Stufenleiterideen zusammendenken. Dann wird nämlich klar, dass den kollektiven und individuellen Gefühlen der Menschen ein systematisch unverzichtbarer Ort in seiner Philosophie zukommen muss, weil sie die Basis des geistigen und sozialen Lebens ausmachen, über der sich andere Formen wie empirische Anschauungen bzw. Vorstellungen und theoretisches Denken erheben. Indem jegliches kulturelles Sinngefüge, jegliche symbolische Form grundsätzlich im Lebensphänomen verwurzelt bleibt, behält sie einen Lebensfaden zum Gelebt-Erlebt-Gefühlten. Ein Blick auf das umfangreiche Werk Cassirers zeigt, dass das Gefühl, als individuelles und kollektives Lebensgefühl, das das Eigentümliche einer jeden historischen Kultur und der an ihr schaffenden Menschen zum Ausdruck bringt, von Anfang an im Fokus der Aufmerksamkeit steht. So sieht Cassirer im Erkenntnisproblem I (1906) in den astronomischen Lehren der Renaissance „ein modernes Grundgefühl" ausgesprochen, wir hätten es hier mit dem neuen „humanistischen Lebens- und Selbstgefühl" zu tun, das sich u. a. gegen die abstrakte Schulgelehrsamkeit wende, und in der Naturphilosophie dieser Epoche werde die Welt der Objekte als „Äußerung eines immanenten Lebensgefühls" gedeutet. (Cassirer 1906/ECW 2, 80, 102, 294). 1 Auch in der GoetheDarstellung in Freiheit und Form (1916) erhält das „lebendige Gefühl" den Rang einer zentralen philosophischen Kategorie, die es erlaubt, die jeweilige Eigentümlichkeit und Einheit von Lebensform, ästhetischer Form und naturwissenschaftlicher Denkform im

1

Cassirers Werke werden im Folgenden mit wenigen Ausnahmen nach folgenden Siglen zitiert: „ECW" = Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, hg. v. Birgit Recki, Hamburg: Meiner; „ECN" = Ernst, Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Hamburg: Meiner. Dabei bezeichnet die erste Ziffer den Band und die zweite die Seitenzahl, z. B. bedeutet „ECW 2, 273" „Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 273".

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Schaffen Goethes, dem sich das Geistige oft im lebendigen, anschaulichen und unmittelbaren Gefühl offenbart, zu fassen. 2 Die Bedeutung, die Cassirer dem Gefühl zumisst, wird paradigmatisch deutlich an der Art und Weise, wie er 1930 in seinem auf die politische Situation Deutschlands abzielenden Vortrag über „Wandlungen der Staatsgesinnung" (Cassirer 1930a) das echte politische Gemeinschaftsgefühl als einen Grundbestand seiner Überlegungen zur politischen Philosophie bzw. zur praktischen politischen Gesinnung aufgeklärter Staatsbürger in Anspruch nimmt. Diese Tatsache lässt es angebracht erscheinen, zunächst einige knappe Überlegungen zum Thema des Politischen bei Ernst Cassirer anzustellen, nicht zuletzt auch deshalb, weil dieses Thema vor rund zwanzig Jahren von Volker Gerhardt wegweisend in die Cassirerforschung eingeführt wurde (Gerhardt 1988).

1. Das Politische als Gegenstand bei Cassirer Obwohl das Politische in der Philosophie der Kultur keine so prägnant systematische Stellung innehat wie der Mythos, die Sprache und die Wissenschaft, werfen Cassirers Schriften doch die Frage auf, ob nicht auch der Staat oder die Politik als eine symbolische Form der geistigen Sinnordnungen des Menschen und damit als eine Form der Kultur verstanden werden müssen. Volker Gerhardt hat seinerzeit als Erster die Auffassung vertreten, dass „sich Ernst Cassirer auch als politischer Denker nach wie vor im Gedankenkreis seiner Philosophie der symbolischen Formen bewegt" (Gerhardt 1988, 228). Für Cassirer sei Politik „sowohl Ausdruck wie auch Ursprung der Symbole schaffenden Kraft des Menschen" (Gerhardt 1988, 232). Für diese Deutung gibt es in der Tat einige Fingerzeige bei Cassirer selbst; eine explizite und eindeutige Bezeichnung des Politischen als einer symbolischen Form fehlt allerdings. In jedem Fall stellen sich aber in dem Zusammenhang einige klärungsbedürftige Fragen, die sich sowohl auf Cassirers Auffassung vom Politischen selbst (Mehring 2008) als auch auf seinen Rang als symbolische Form beziehen. So ist noch nicht geklärt, was das eigentümliche Strukturgesetz einer symbolischen Form der Politik ausmacht. Bei der Beantwortung dieser Frage wäre u. a. zu beachten, dass nach Cassirer die Philosophie des Politischen das Verhältnis des staatlichen Gesamtwillens zum Willen des Einzelnen aufzuklären hat, aber auch das von Freiheit und Zwang (Cassirer 1916a/ ECW 7, 319-387). Als klärungsbedürftig erweist sich auch, inwieweit das Politische die systematischen Stufen einer symbolischen Form des geistigen Lebens (Gefühl/Ausdruck Vorstellung/sprachlich-darstellende Anschauung - Denken/reiner Sinn) durchläuft. Allerdings scheint Cassirer im politischen Gemeinschaftsgefühl, wie im Anschluss gezeigt wird,

2

„Die Phantasie ist hier keine Vermittlung, durch die das Gefühl hindurchgeht, sondern sie ist selbst das Element, in dem es ursprünglich lebt und webt. Kraft dieser Verschmelzung [...] befaßt das Gefühl die Allheit der Lebenserscheinungen und vermag sie rein aus sich selbst zu entfalten. In drei Grundformen tritt dieses ursprüngliche Verhältnis der schöpferischen Elemente in Goethe nach außen hin hervor: in der Form seines Lebens, in der Form seiner Lyrik und in der Form seiner Naturbetrachtung und seiner objektiven Naturforschung." (Cassirer 1916a/ECW 7, 185)

D A S „LEBENSGEFÜHL" IN DER POLITISCHEN PHILOSOPHIE ERNST CASSIRERS

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eine wichtige praktische und gesinnungsbildende Komponente des politischen Lebens zu sehen. Eine Besonderheit der politischen Form oder Richtung symbolischer Objektivierung besteht zudem darin, dass sie gleichzeitig immer auch die „Welt der Tat", die Sphäre der praktischen Handlungen umgreift (Cassirer 1928a/ECW 17, 291). Der Handlungscharakter des Politischen setzt dieses in eine enge Beziehung zum Ethischen und zur Technik, zwei weiteren Sinngefügen, deren Eignung als eigenständige symbolische Form Gegenstand von Diskussionen ist. Obwohl Cassirer keine systematisierte Politische Philosophie ausgearbeitet hat, auch nicht in seinem letzten Werk vom Mythus des Staates, woran die in ECN 9 (2008) erstmals veröffentlichten Nachlasstexte und Entwürfe ebenfalls nichts zu ändern vermögen, lassen sich doch in den Abhandlungen, die politischen Themen gewidmet sind, einige zentrale Ideen herausheben, die zumindest die Umrisse einer Politischen Philosophie erkennen lassen. Sechs Grundideen bilden meines Erachtens deren Gerüst. 3 Die drei tragenden können als die Idee der rationalen - vernünftigen - Begründung des Politischen, die Idee der unveräußerlichen Rechte des Individuums im bzw. gegenüber dem Staat und die Idee eines Primates der Ethik bzw. des Normativen gegenüber dem Politischen (politischer Wille, politische Macht) umschrieben werden. Außerdem lassen sich als weitere konstitutive Gedanken seiner Staatsphilosophie folgende drei Prinzipien herausarbeiten: Die geistige Grundlage des Staates ist im Vernunftrecht, nicht in positiver Satzung zu suchen, was eine Rechtfertigungspflicht des Staates begründet (Naturrecht); eine Wirklichkeitsforderung im Hegeischen Sinne schließt die Rückkehr zu überlebten Staatsformen (Monarchie) aus; nur ein gemeinsamer „Wille zum Staat" (Staatsgesinnung) vermag einen rechtlichen und politischen Raum für den politischen Tageskampf zu konstituieren, der eine Selbstzerstörung des Staates oder den Rückfall ins staatslose, anarchische Chaos verhindert. Diese Grundideen spiegeln annähernd auch die von Cassirer herausgearbeiteten drei wichtigen Zäsuren in der Entwicklung der politischen Philosophie bzw. Theorie wider, denen jeweils eine bestimmte politische Praxis (Realität) korreliert. Als erste Zäsur gilt ihm die rationale und dabei ethische Begründung des Idealstaates durch Piaton, die das bis dahin vorherrschende mythische Selbstverständnis des Menschen bzw. des politisch organisierten Gemeinwesens außer Kraft setzt. Die zweite Zäsur sieht er im 17. und 18. Jahrhundert mit den neuzeitlichen Naturrechts- und Vertragstheorien (Wolff, Leibniz) eintreten, die mit Hilfe der Vernunft, rationalen Argumenten und Gründen die Menschen- und Bürgerrechte des Individuums im Staat und gegenüber dem Staat formulieren und begründen. Dies schließt die Verständigung über die wahre Aufgabe des Staates - die Wahrung und Beförderung dieser Rechte - ein. Eine dritte Zäsur bildet für ihn der im 20. Jahrhundert in Theorie und Praxis aufkommende totale oder totalitäre Staat, der die beiden ersten Zäsuren und ihre Errungenschaften wieder zunichte macht. Dabei hat die dritte Zäsur ihre Vorgeschichte in der deutschen Romantik und der Staatslehre Hegels, d. h. in der Entwicklung der Staatsphilosophie seit dem Beginn des

3

Siehe dazu Möckel 2005.

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19. Jahrhunderts, ohne dass es sich dabei um eine immanente Zwangsläufigkeit handeln würde (Cassirer 1946, 350ff.). Die Überlegung, die nicht zuletzt aus dem Wissen darum resultiert, dass sich das soziale Zusammenleben und die Ausbildung der symbolischen Formen der Kultur lange Zeit ohne staatliche Ordnung vollzogen haben, dass der Staat bei aller Wichtigkeit „nicht alles" ist und „nicht allen menschlichen Betätigungen Ausdruck geben" kann, sondern nur den politischen und rechtlichen Belangen (Cassirer 1944, 104; 1946, 357-360), wendet Cassirer immer wieder gegen überkommene und zeitgenössische Argumente für den Machtstaat anstelle des Rechtsstaates, die letztlich dem Aufstieg des totalitären Staates und seiner Idee dienen. Die - an Kant geschulte - Überzeugung, dass ein freies, selbstbestimmtes Leben des modernen Menschen außerhalb einer politisch-rechtlichen Staatsordnung nicht vorstellbar ist (Cassirer 1916a/ECW 7, 339f.), da es unerträgliches Chaos, abscheuliche Anarchie und entwürdigende Schutzlosigkeit für die Individuen bereithalten würde, macht ihn zudem immun gegen alle Formen von Staatsverachtung und Staatsüberwindungsglauben. Das Politische, insbesondere wenn es als symbolische Form - der Kultur - aufgefasst wird, bildet nicht bloß einen Gegenstand der [Kultur-]Philosophie, sondern auch den einer empirische Gegebenheiten erforschenden Wissenschaft. Deshalb bezeichnet Cassirer im Mythus des Staates (1946) die „rationale Theorie der Politik" als Problem bzw. Ziel sowohl der Philosophie als auch der Erfahrungswissenschaft (Cassirer 1946, 385f.). Abgesehen davon, dass er politisches Leben und soziale bzw. kulturelle Wirklichkeit nicht immer begrifflich eindeutig unterscheidet, 4 bereitet die Bestimmung der methodischen Eigentümlichkeit dieser empirischen Wissenschaft gewisse Schwierigkeiten. Einerseits lassen sich aus den Argumenten der cassirerschen Wissenschaftslehre einige Gründe für die Erwartung anfuhren, sie müsste die begriffsbildenden Eigenheiten einer Kulturwissenschaft als Formwissenschaft besitzen. Noch in den Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) hatte er „den Staat" bzw. das „staatliche und gesellschaftliche Leben" zur Kultur und ihren Formen gezählt, weshalb es durch soziologische Begriffe allein nicht aufzuklären sei (Cassirer 1942/ECW 24, 407). 5 In seinem letzen Werk hat Cassirer allerdings von der Notwendigkeit einer bis dahin nur unfertig vorliegenden politischen Wissenschaft als exakter [Naturwissenschaft gesprochen, die in gewisser Analogie zur Soziologie zu begründen sei (Cassirer 1946, 386). Zu den exakten Wissenschaften hatte er zuvor im Grunde nur die Mathematik und die mathematischen Naturwissenschaften gerechnet, selbst die Biologie wird seit Ende der 30er Jahre als Kausal- und gleichzeitig Formwissenschaft betrachtet. Cassirer will nun unter politischer Wissenschaft eine täuschungs- und illusionsfreie Aufklärung des sozialen Lebens, seiner objektiven Gesetze und Regeln verstanden wissen, gebe es doch „schließlich eine Logik der sozialen Welt, wie es eine Logik der physischen Welt gibt", und diese umfasse „gewisse Gesetze, die nicht ungestraft verletzt werden können" (Cassirer 1946, 387). In diesem Zusammenhang macht er bekanntlich 4

Es finden sich z. B. mehrfach Formulierungen wie „die Vielheit und Mannigfaltigkeit des kulturellen, sozialen und politischen Lebens des Menschen" (Cassirer 1946, 80).

5

Siehe dazu auch Gerhardt 1988, 232.

D A S „ L E B E N S G E F Ü H L " IN DER POLITISCHEN PHILOSOPHIE E R N S T CASSIRERS

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auf seine Beobachtung aufmerksam, dass in den Krisenzeiten die Würde der Naturwissenschaft und ihrer Gesetze unangetastet bleibt, die der politischen Wissenschaft jedoch nicht. Daraus glaubt er schließen zu können, dass die Politik „noch weit davon entfernt [ist], eine positive Wissenschaft zu sein, geschweige denn eine exakte Wissenschaft" (Cassirer 1946, 386). Problematisch an dieser Aussage ist u. a., dass in ihr zwar von „sozialen Gesetzen" gesprochen wird, nicht aber von politischen Institutionen, Prozeduren, Staatsformen und -typen, unterschiedlichen politischen bzw. sozialen Subjekten (Parteien, Verbänden, etc.), den sich in der Politik artikulierenden Gruppen- und Klasseninteressen. Ob aus der für Cassirer charakteristischen Beachtung realer politischer Vorgänge und Konstellationen vorrangig über die Analyse entsprechender historischer Politiktheorien auf eine gewisse Realitätsferne oder Wirklichkeitsabstinenz geschlossen werden darf, bleibt ebenfalls klärungsbedürftig. Die hier angedeutete inhaltliche Theorieverengung gilt auch für die bei Cassirer überwiegende philosophische Behandlung des Politischen, die sich vor allem als Auslegung historisch auftretender philosophischer Theorien des Staates vollzieht. Nimmt er das Politische in den Blick, z. B. in den Jahren 1916 bis 1918 und 1928 bis 1932, dann interessiert ihn fast ausschließlich der philosophische Staatsbegriff, und hier speziell derjenige, der im Deutschen Idealismus ausgearbeitet und geprägt wurde. Für die Deutschen sieht er in der Staatsphilosophie dieser Epoche, d. h. bei Leibniz, Kant, Fichte und Hegel, aber auch in der deutschen Romantik den Staatsbegriff, der nationalstaatslosen deutschen Praxis entsprechend, paradigmatisch entwickelt. Obwohl Cassirer mehrfach zu verstehen gibt, dass Hermann Cohen diesen idealistischen Staatsbegriff zu neuem Leben erweckt und an die neuen praktischen Zustände im 20. Jahrhundert angepasst und somit weiterentwickelt habe (Cassirer 1916b/ECN 9, 25), spricht er jedoch - im Gegensatz zu seinem alten Lehrer - diese neuen Zustände, d. h. die Errichtung des Nationalstaates 1871 unter preußischer Vormacht, das Auftreten der Arbeiterklasse als aufstrebenden Teils der Gesellschaft, der der Integration in den Staat bedarf, die Tatsache, dass die Integration der jüdischen Bürger rechtlich und politisch immer noch nicht abgeschlossen ist, etc., im Grunde nicht an. Seine philosophischen Erörterungen beziehen sich demgegenüber in der Regel auf allgemeine Themen wie Wesen und Zweck des Staates, Verhältnis von Politik und Ethik, Individuum und Gemeinschaft, Freiheit und Zwang, Selbstgesetzgebung und Unterwerfung. Folglich fehlt auch der philosophischen Arbeit am Staatsbegriff das Eingehen auf die philosophische Dimension staatsrechtlicher Themen, wie der Verfassungsfragen, der Frage nach der Rolle politischer Institutionen und ihrer Abgrenzung oder Fragen des Staatsaufbaus. Es ist zudem nicht ersichtlich, in welchem Maße er die zu diesen Themen in Deutschland geführte rechtsphilosophische Debatte verfolgt (vgl. Mehring 2008, 107f.). Dieses verengte Interesse am philosophischen Staatsbegriff schlägt sich auch in der Art und Weise nieder, wie Cassirer sich 1916 mit einem öffentlichen Vortrag, der als 6. Kapitel in Freiheit und Form eingeht, an der zwischen 1914 und 1918 heftig ausgetragenen Debatte um die grundsätzliche Ausrichtung der zukünftigen deutschen Staatsordnung (vgl. Bründel 2003) beteiligt. Er bleibt bei mehr oder weniger originellen Ausführungen zum „deutschen Idealismus und dem Staatsproblem" (Cassirer 1916b) stehen, zu den anstehenden und viel diskutierten konkreten Reformforderungen wie der überfalligen

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Wahlrechtsreform in Preußen, der Einführung des parlamentarischen Systems, der Minderung der preußischen Übermacht im Staatswesen etc. äußert bzw. positioniert er sich dabei nicht. Cohen, der in Fragen des Politischen keineswegs dieselben Positionen wie Cassirer vertritt, scheut ein solches öffentliches Engagement und Sich-Positionieren 6 demgegenüber nicht. Die Cassirer-Forschung muss diese vordergründige Abstinenz hinsichtlich der konkreten politischen Gegenwartsfragen zur Kenntnis nehmen, 7 was aber nicht bedeutet, dass Cassirer - wie 1916 und 1930 - nicht durch seine philosophischen Erörterungen hintergründig Position bezieht. Zeugt doch die Art und Weise, wie er 1916 Cohen gegen antisemitische Angriffe verteidigt (Cassirer 1916c), von öffentlicher Positionierung und Engagement. Aber kehren wir zum Politischen als Kategorie der Philosophie der symbolischen Formen zurück.

2. Politische Gesinnung und politisches Gemeinschaftsgefühl In der Philosophie der symbolischen Formen wird die kulturelle Wirklichkeit einer jeden Sozialordnung bzw. ihre Erkenntnis in Form eines Stufenbaus mit Emergenzcharakter strukturiert verstanden. Die höheren Stufen setzen die niederen voraus, erheben sich auf ihnen, behalten sie bei und fügen ihnen dabei etwas Neues hinzu. Die Wirklichkeitserfahrung des kulturellen Lebens in sozialen Ordnungen setzt sich zusammen aus den Stufen der unmittelbaren Wahrnehmung (Ausdruck), der empirischen Anschauung (Darstellung) und des theoretisches Denken (reine Bedeutung) bzw. aus den sie exemplarisch realisierenden symbolischen Formen Mythos, Sprache und exakte Wissenschaft. Als soziale Bewusstseins- oder Bestandsformen geistig-lebendiger Wirklichkeit von Kultur, die ihren primären Ort in den Individuen haben, treten dementsprechend die Formen des Gemeinschaftsgefühls, der sprachlich-darstellenden Sozialvorstellungen und des sozialen theoretischen Denkens auf. Das Politische bzw. das Staatsleben bilden aus diesem Blickwinkel eine eigentümliche Richtung, eine konkrete inhaltliche Erfüllung dieser aufeinander aufgebauten Formen kollektiven und individuellen Bewusstseins. Dieser eigentümliche Aufbau von politischem Gemeinschaftsgefühl, Staatsvorstellung und Staatstheorie lässt sich in verschiedenen historischen Epochen, Lebensordnungen von Gesellschaft und Kultur auffinden und herausheben. In den Lebensordnungen prägt zum einen jeweils ein bestimmter Stil, ein bestimmtes ideelles Prinzip (als geistiger Mittelpunkt) die miteinander korrelierenden Formen kulturellen und sozialen Lebens. Zum anderen entspricht jeder Lebensordnung, jeder prägnanten historischen Epoche des kulturellen und sozialen Lebens ein bestimmtes Stimmungsklima in der Gesellschaft, ein bestimmtes Gemeinschaftsgefühl, das wir als ein elementares Lebensgefühl der Men-

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Siehe dazu demnächst Möckel 2010. Selbst im Vortrag von 1930 bringt Cassirer - aus welchen Gründen auch immer - keine kritische Haltung zu den deutschen Kriegszielen und zur deutschen Kriegführung im Weltkrieg zum Ausdruck, wenn er anlässlich des Abzuges der französischen Besatzung in den Rheinlanden mit bewegten Worten den jahrelangen Durchhaltewillen der rheinischen Universitäten würdigt (vgl. Cassirer 1930a/ ECN 9, 85ff.).

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sehen zu verstehen haben. Das macht Cassirer u. a. dann deutlich, wenn er betont, dass die zeitgenössische Lebensphilosophie mit ihrem zentralen Thema, dem Gegensatz von Geist und Leben, das moderne „Lebens- und Kulturgefühl" zum Ausdruck bringt, da ihre philosophischen Motive in der „Grund- und Urschicht des modernen Lebensgefuhls und des spezifisch-modernen Kulturgefühls" wurzeln (Cassirer 1928b/ECN 1, 8 u. 238). Diese keineswegs belanglose Aussage belegt die zentrale Bedeutung, die für ihn der Kategorie des Gefühls im Verständnis des Menschen, der Gesellschaft und der Kultur zukommt; alle diese drei Kreise des Seins ruhen in bestimmten Formen des Gefühls. Folglich schenkt Cassirer dem Tatbestand, dass die elementarste Ebene des Gemeinschafts- und Kulturlebens von Gemeinschaftsgefühlen in den Individuen getragen ist, große Aufmerksamkeit. Finden wir doch im Gefühl so etwas wie das letzte Band aller Vorstellungen und Ideen, die ohne den Gefìihlsboden ein ganzes Stück ihrer Lebendigkeit, Bindungskraft und Orientierungskraft verlieren würden, aber auch das letzte Band sozialer und politischer Zusammengehörigkeit. Diese Aufmerksamkeit für kulturelle, soziale und politische Gemeinschaftsgefühle teilt Cassirer in gewissem Sinne mit vielen Lebensphilosophen, nicht aber deren Entgegensetzung von Gefühl und Verstand. Als eine Lebenssphäre, in der die einheitsstiftende Funktion des Gemeinschaftsgefühls von existentieller Bedeutung ist, erweist sich in seinen Augen die politische Sphäre, die Sphäre des Staatslebens. Dabei kommt der persönlichen Erfahrung, die der Staatsbürger und Philosoph des Politischen in den Jahren nach der Proklamation der Reichsverfassung vom 11. August 1919 persönlich gemacht hat, eine nicht unwesentliche Rolle zu. In dem Vortrag anlässlich der universitären Feierlichkeiten zum Verfassungstag vom Juli 1930 über die „Wandlungen der Staatsgesinnung" bezeichnet der Rektor der Hamburgischen Universität die „heutige Zeit" als eine Zeit mit „ihren Nöten, ihrer Zerrissenheit und ihren Kämpfen" (Cassirer 1930a/ECN 9, 85). An anderer Stelle des Vortrages heißt es, die Deutschen durchlebten „Zeiten der Gefahr und der Not, der inneren Konflikte und Kämpfe" (Cassirer 1930a/ECN 9, 107). In diesem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang spricht er auch den Gedanken der akuten Gefahr an, die aus dem Verlustiggehen des den Einzelnen ins Ganze staatlichen Lebens einbindenden Gemeinschaftsgefühls resultieren kann. Hier ist die Rede von einem für den Bestand des Staates notwendigen Gemeinschaftsgefühl der Bürger, das in einem Zustand des „Streites der Klassen, der Parteien, der Konfessionen" zwar schwerer „zu gewinnen und zu bewahren" ist als in ruhigen Zeiten, doch - so heißt es in einer wieder gestrichen Passage „geht es [das Gemeinschaftsgefühl der Bürger - C.M.] uns verloren, dann löst unser staatliches Leben sich auf, dann kehrt das Chaos wieder" (Cassirer 1930a/ECN 9, 107, Anm. E). Dies meint hier ganz offensichtlich eine Ordnungs- und Gesetzlosigkeit für das politische Handeln der Menschen, für ihr Verhältnis zum Staat und für dessen Haltung zu seinen Bürgern. Cassirer teilt, wie schon angesprochen, mit Kant die Überzeugung, dass ein modernes gesittetes und befriedigendes Leben für die Individuen ohne vernünftige, naturrechtlich eingegrenzte staatliche Ordnung nicht denkbar ist. Jede Weise der Destruktion oder Lähmung des bestehenden Rechtsstaates - wie ihn die Verfassung vom August 1919 konstituiert - kann, so seine Überzeugung, sich nur verheerend auf das individuelle und soziale Leben der Menschen bzw. Bürger auswirken. Dieser Entwick-

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lung gelte es mit allen Mitteln Einhalt zu gebieten. Dabei ist es weitgehend unerheblich, ob diese fatale Entwicklung bzw. die sie befördernde Zersetzung des den Verfassungsstaat tragenden politischen Gemeinschaftsgefühls gezielt herbeigeführt wird durch romantisierend-restaurative Bestrebungen, durch Agitation für den die individuellen Rechte missachtenden Machtstaat oder durch Diskreditierung des Staates als bloßen Klassenstaats der wirtschaftlich Herrschenden. Getragen von dieser Einsicht, legt Cassirer insbesondere in den Jahren 1928 bis 1932 ein theoretisches und praktisches politisches Engagement an den Tag, wie es z. B. von den als Philosophen von ihm geschätzten Edmund Husserl oder Martin Heidegger unbekannt ist, wobei letzterer - Diskussionspartner und Konkurrent Cassirers - als Philosoph und als Rektor der Freiburger Universität bekanntlich die Weimarer Demokratie freudig mit zu Grabe getragen hat (vgl. Gerhardt 2001). In seiner Rektoratszeit 1929/30 muss Cassirer nahezu täglich zur Kenntnis nehmen, dass die demokratisch-republikanische Verfassung des Weimarer Staates von großen Teilen des Volkes, speziell von seinen politischen und akademischen Eliten, nicht als Chance erkannt und akzeptiert, sondern als aufgezwungene und der deutschen Staats- und Rechtstradition fremde Ordnungsform vehement bekämpft wird. Es bleibt ihm auch nicht verborgen, dass in den politischen Kämpfen um die Macht im Staate und für eine Demontage des demokratischen republikanischen Staatswesens die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Belange der Masse des Volkes weitgehend unberücksichtigt bleiben. Allerdings spielt in Cassirers Überlegungen auch da, wo er diese bedrohliche Entwicklung aufmerksam registriert und benennt, die Suche nach den empirischen Gründen für diese abweisende und zerstörerische Haltung vieler Bürger gegenüber der neuen, ihrem Selbstverständnis nach demokratischen Staatsordnung keine nennenswerte Rolle. Soziologisch relevante konkrete Motivationen und Interessenlagen der Individuen und sozialen Gruppen scheinen bei ihm kaum Beachtung zu finden. So stellt sich in Cassirers Überlegungen auch nicht die Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Erwartungen bestimmte privilegierte Teile der Gesellschaft aktiv am emanzipativen Kulturleben in Freiheit partizipieren, es gestalten, während nichtprivilegierte Teile des Volkes es nur mehr oder weniger über sich ergehen lassen müssen, da sie die profane alltägliche Existenzsicherung voll in Anspruch nimmt. In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, dass Cassirer zwar ein ihn alarmierendes Verständnis für die Gefährdungen aufbringt, denen sich die Kultur, die Gesellschaft und der Staat ausgesetzt sehen, diese Gefahren, insbesondere die von der schroffen Ablehnung und beabsichtigten Zerstörung des parlamentarisch-demokratischen Staates ausgehenden, werden von ihm jedoch nahezu ausschließlich in philosophischer Manier formuliert; von einer irgendwie gearteten Gesellschaftskritik, von einem Verständnis der sozialen Krisis der Gesellschaft in den 20er Jahren, ihrer Vorgeschichte, die ja nicht unwesentlich zu den politischen Verwerfungen beigetragen hat, und ihrer Gründe kann bei ihm keine Rede sein. Hier geht er über einzelne, gelegentlich weltfremd erscheinende Äußerungen nicht hinaus. 8 Er scheint zu meinen, dass philosophisch vermittelte Einsichten in rationale 8

So wenn er im Vortrag über „Form und Technik" 1930 erklärt, dass die „Schäden der modernen technischen Kultur" aus „ihrer Verbindung mit einer bestimmten Wirtschaftsform und Wirtschaftsord-

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begriffliche Zusammenhänge den Menschen und Bürger ausreichend praktisch motivieren sollten. Angesichts der vielfältigen und konträren politischen Handlungsziele der Parteien und politisch-sozialen Gruppen ist Cassirer Ende der 20er Jahre ganz offensichtlich um die philosophische Begründung eines politisch-philosophischen Minimalkonsensus bemüht, der es den sich bekämpfenden politischen Lagern faktisch erlauben würde, ihre Auseinandersetzungen zumindest auf dem Boden des - anerkannten, gewollten - Rechtsstaates auszutragen. Dieser Konsens eröffnet den eigentümlichen öffentlichen Raum für die politische Auseinandersetzung, ohne dabei die rechtlich-staatliche Rahmenordnung des Lebens in Frage zu stellen oder gar zu zerstören. Deshalb wirbt Cassirer in seinen Reden und Aufsätzen jener Jahre nicht nur um einen Verfassungspatriotismus der deutschen Akademiker hinsichtlich der Verfassung von 1919, sondern - noch weit elementarer und grundsätzlicher - für einen Staatspatriotismus, für eine affirmative Staatsgesinnung in Bezug auf den konkreten, bestehenden deutschen Staat, der diese Verfassung zu seiner Grundlage hat. Ein wichtiger Aspekt dieses Werbens für den bestehenden Staat ist der immer wieder - mit Bezügen auf Otto von Gierke und Georg Jellinek9 geführte Nachweis, dass die politischen Ideen seiner Verfassung deutschen Geistesquellen entstammen, also keineswegs fremde, ausländische, insbesondere französische Ideen seien. Der in diesem Zusammenhang von Cassirer immer wieder unterstrichene Gedanke, dass der vernünftig gerechtfertigte Staat als Ganzes ein Raum ist, in dem man weltanschauliche und politische Gegensätze austragen oder zumindest ertragen kann, ohne ihn zerstören zu müssen, zieht die Schlussfolgerung und Forderung nach sich, dass die Bürger - und Institutionen wie die „deutschen Hochschulen" (Cassirer 1930a/ECN 9, 85) - sich dafür mit der bestehenden, vorgefundenen rechtlichen und politischen Ordnung, „mit den Aufgaben des deutschen Staates", grundsätzlich identifizieren müssen. Diese auch öffentlich zu bekundende Identifikation muss sich neben einem Bekenntnis auf Grund theoretischer Einsichten (Wissen) und durch praktische Handlungen bzw. Haltungen auch auf emotionaler Ebene, auf der Gefühlsebene vollziehen. Schon Piaton habe festgestellt, dass „die Selbsterhaltung des Staates" nur dann funktioniert, wenn seine Verfassungsgesetze „in den Seelen der Bürger geschrieben" sind, was ihnen erst ihren „moralischen Halt" gibt, ohne den sie kaum respektiert werden (Cassirer 1946, 102). Für den republikanischen Verfassungsstaat fasst Cassirer 1930 zunächst die beiden ersten Weisen der Identifikation der Bürger mit ihrem Staat unter dem Begriff der Staatsgesinnung - und gelegentlich auch des Staatsbewusstseins - zusammen. So sieht er die den Staat tragende, stützende und am Leben erhaltende „sichere Staatsgesinnung", das „einheitliche und kraftvolle staatliche Bewußtsein" bzw. „Staatsbewußtsein" (Cassirer 1930a/ECN 9, 106) aus den beiden Wurzeln „Denken und Tun", d. h. aus dem theoretischen „Wissen und [praktischen - C.M.] Vollbringen" erwachsen. Die Staatsge-

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nung zu verstehen sind", wogegen nur „der Einsatz neuer Willenskräfte wahrhaft Wandel schaffen kann", der sich u. a. als „Ethisierung der Technik" zu vollziehen und der „Erziehung des Arbeitswillens und derechten Arbeitsgesinnung" zu dienen habe (vgl. Cassirer 1930b/ECW 17, 182f.). Insbesondere mit Verweisen auf von Gierke 1902 und Jellinek 1895.

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sinnung setzt also neben dem theoretischen Wissen, das durch Forschung und Lehre an Universitäten und Schulen wachzuhalten ist, die reale Möglichkeit voraus, als Bürger am Leben des Staates politisch mitzuwirken (Cassirer 1930a/ECN 9, 106).10 Allein eine sich ständig erneuernde, bewusst und aktiv gelebte Staatsgesinnung sichere den „Bestand der Staaten". Wenn Cassirer gelegentlich unterscheidend von „Staatstheorie und Staatsgesinnung" (Cassirer 1930a/ECN 9, 112), von „Staatsbegriff und Staatsgesinnung" (Cassirer 1930c/ECN 9, 234) spricht, dann scheint er den Unterschied von rein theoretischem Wissen über den Staat und theoretisch begründeter Haltung zum Staat zu betonen. Die „Staatsgesinnung" erschöpft sich jedoch nicht darin, eine theoretische Haltung (Wissen) zu beinhalten, die sich praktisch in politischer Teilhabe, in Inanspruchnahme der politischen Rechte und im [Mit-]Wirken mit Blick auf den Staat niederschlägt. Cassirer besteht vielmehr noch auf einem ihr entsprechenden, einem sie tragenden „Staatsgefühl" bzw. „Gemeinschaftsgefühl", das in die Staatsgesinnung eingeht oder dieser als beständiger Quell dient (Cassirer 1930a/ECN 9, 94). 11 Sie gründet folglich in einem bestimmten kollektiven, sich individuell realisierendem Lebens- und Gemeinschaftsgefühl des Volkes, soweit dieses eine „Schicksalsgemeinschaft" bildet (Cassirer 1930c/ECN 9, 251). 12 So seien die in Amerika und Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts erklärten prinzipiellen Menschen- und Bürgerrechte nicht zuletzt „ein Ausdruck eines allgemeinen Volksgefühls" gewesen, d. h. sie beruhten keineswegs allein auf den Prinzipien der natürlichen Vernunft (Cassirer 1946, 233). Auch der Durchbruch der aufklärungskritischen romantischen Staatstheorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts (A. Müller) konnte sich auf ein entsprechendes „neues Staatsgefühl" und eine „neue Staatsgesinnung" unter den Bürgern stützen (Cassirer 1930a/ECN 9, 94), die in diesem Gefühl nicht zuletzt Erfahrungen und Erlebnisse im Zusammenhang mit der Französischen Revolution und den nachfolgenden europäischen Kriegen verinnerlicht hatten. Andererseits dürfe man sich nicht täuschen und meinen, das Staats- oder Gemeinschaftsgefühl reiche bereits als Fundament für die „Wirklichkeit des Staatslebens" hin, denn als bewusstes Willensgebilde bedürfe der Staat auch immer des „Gedankens und Wissens". 13 Cassirer betont bezüglich der Konstituierung des Staates also immer beide

10 Im ersten handschriftlichen Entwurf des Vortragstextes heißt es: „Das echte Staatsbewußtsein ist eben dadurch ausgezeichnet, daß sich theoretisches und praktisches Bewusstsein, daß sich Wille und Denken in ihm in eigentümlicher Weise vereinen und durchdringen." (Cassirer 1930c/ECN 9, 250) 11 Im Entwurf heißt es dazu klipp und klar: „Gewiss: alles echte Staatsbewusstsein kann nicht auf blosser Reflexion ruhen, kann nicht erdacht oder ergrübelt sein. / Es muß einem lebendigen Gemeinschaftsgefühl entspringen". (Cassirer 1930c/ECN 9, 250) 12 Den in der romantischen Terminologie häufig anzutreffenden Terminus der „Schicksalsgemeinschaft" will Cassirer ganz offensichtlich auf das Moment, auf die Stufe des politischen Gemeinschaftsgefühls bezogen und beschränkt wissen, den Staat selbst sieht er nicht „in einer historischen Schicksalsgemeinschaft" wurzeln, wie es die romantische Staatslehre tut, sondern in der „Sphäre des Willens", d. h. in der Sphäre des bewussten Tuns der Menschen, in der Ethik und im Naturrecht, in „rechtlichen Satzungen" und „Verträgen" (vgl. Cassirer 1930a/ECN 9, 94). 13 „Aber, meine Damen und Herren, täuschen wir uns nicht - auf das Gefühl allein lässt sich die Wirklichkeit des Staatslebens nicht gründen." Der Staat „ist niemals bloss Gefühl - er ist als be-

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bzw. alle drei Momente: den „Grand einer Schicksalsgemeinschaft und des daraus entspringenden Gemeinschaftswillen" und das Moment des Wissens und der Selbsterkenntnis, die dem Staat als einem „einheitlichen Willen" eignen muss, weil er sich „kraft dieses Wissens" „sein Gesetz gibt" (Cassirer 1930c/ECN 9, 251), wozu noch das Moment der praktischen Teilhabe und Mitgestaltung kommt. Ein solches „echtes" politisches Gemeinschaftsgefühl, „das uns heute so selten zu Teil wird" (Cassirer 1930a/ECN 9, 106), meinte Cassirer im Sommer 1930 in den von der französischen Besatzung soeben erst, d. h. zwölf Jahre nach dem verlorenen Weltkrieg geräumten Rheinlanden „wieder einmal in seiner vollen Stärke" vorzufinden. Von diesem Gefühl, von dieser „seelisch-geistigen Atmosphäre" wird jeder, der sich zu dieser Zeit in den Rheinlanden aufhält, „ergriffen", „beseelt" (Cassirer 1930a/ECN 9, 106). Das Entscheidende für ihn ist die Erwartung, dass in diesem „allumfassenden Gefühl" die „Gegensätze, die sonst unser politischen Leben erfüllen und die es oft verhärten und verbittern", sich „lösen" (Cassirer 1930a/ECN 9, 107), zumindest in der Zeitspanne, in der das Gemeinschaftsgefühl anhält. Aller Streit tritt in diesen Momenten zurück, „alles atmet wieder dieselbe Lebensluft". Interessant und nicht unwichtig ist aber auch die feine Unterscheidung, die Cassirer hier mit dem Prädikat „echtes" Gemeinschaftsgefühl vornimmt. Bietet ihm diese Differenzierung doch die Möglichkeit, ein positives Gemeinschaftsgefühl abzugrenzen von einem negativen, illusionären, erschlichen-erzwungenen oder von irrationalen Emotionen getragenen Lebensgefühl, wie es die modernen politischen Mythen, durch eine raffinierte Technik der Mythenbildung erzeugt, hervorbringen. Nicht jedes empirisch vorhandene Gemeinschaftsgefühl vermag eine emanzipatorische symbolische Kulturwirklichkeit und eine das Individuum in seinen natürlichen Rechten anerkennende Staatsgesinnung zu tragen, zu vermitteln. Das „echte Gemeinschaftsgefühl" - und ebenso die in ihm ruhende „echte" Staatsgesinnung der Bürger - hat dabei aber keinesfalls den Charakter von etwas Sicherem, Anhaltendem, Naturgegebenem. Zudem kann es - als echtes Gefühl - nicht aus dem Nichts heraus mit Hilfe einer bestimmten Technik (z. B. des Mythus) geschaffen werden. Ebenso ist es als solches „nicht zu erdenken", sondern muss schlicht „erfahren und erlebt sein" (Cassirer 1930c/ECN 9, 250). Mit anderen Worten, es müsse vielmehr „aus einem tiefen und unmittelbaren Lebensgrunde erwachsen und sich aus ihm ständig erneuern" (Cassirer 1930a/ECN 9, 106). Das echte politische Gemeinschaftsgefühl entsteht, davon gibt sich Cassirer überzeugt, an großen gesellschaftlichen Höhe- und Wendepunkten wie eben dem Abzug einer jahrelang als bedrückend empfundenen Fremdherrschaft 14 wesentlich leichter als „im politischen Alltag und im politischen Tageskampf' (Cassirer 1930a/ECN 9, 107). In diesem ist es aber umso notwendiger, ein „echtes" Gemeinschaftsgefühl entstehen zu lassen und zu bewahren, insbesondere wenn die Zeiten so bedrohlich sind. Cassirer sieht die Deutschen 1930 aufgerufen zur Ausbildung und Aufrechterhaltung eines klaren „Bewußtseins der gemeinsamen Verpflichtung und wusster Staat Gedanke und Wissen! / denn er ist ein Gebilde des Willens - und der Wille wird zum Willen erst durch die Kraft und Klarheit, in der er sich selbst weiss." (Cassirer 1930c/ECN 9, 250) 14 „Solch ein Gefühl ist es, das uns heute bewegt." (Cassirer 1930c/ECN 9, 250)

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der gemeinsamen Verantwortung" (Cassirer 1930a/ECN 9, 107) für den Staat, dessen Verfassung sie sich nach dem verlorenen Weltkrieg in freiem Entschluss gegeben haben. Ist es doch dieser Staat, der den realen Nationalstaat der Deutschen ein entscheidendes Stück mit dem philosophischen Staatsbegriff des Deutschen Idealismus versöhnt und dabei die im 19. Jahrhundert neu ins praktische Staatsleben getretenen Aufgaben und Herausforderungen, wie sie u. a. von Cohen formuliert worden waren, 15 angenommen hat. Es geht Cassirer also bei Weitem nicht nur um die Bewahrung des realen Staates als eines notwendigen Ordnungsgefüges des Lebens, sondern immer auch um die Verteidigung der deutschen Republik in der Gestalt, die ihr die Verfassung von 1919 gegeben hat. Nur ein Gemeinschaftsgefühl, das die politischen Gegensätze und Kämpfe der Parteien, Klassen und Konfessionen durch eine gemeinsame Gesinnung umgreift, ermöglicht es allen Bürgern und Politikern, „fest im Mittelpunkt [des] staatlichen Seins" - im Allgemeinen - und des durch die Verfassung von 1919 geordneten staatlichen Seins im Besonderen - zu stehen, um nach verschiedenen Richtungen hin zu arbeiten und zu vollbringen. Ein solcher Mittelpunkt hat mit dem „gemeinsamen Endzweck" des modernen zivilisierten Staates in Beziehung zu stehen, was die echte Staatsgesinnung jedem Einzelnen immer wieder bewusst macht: Bei allem Kampf, bei aller Not und allem Wirrsal des Streites darf der Endzweck des rational begründeten Staates niemals außer Acht gelassen werden (Cassirer 1930a/ECN 9, 108). Bemerkenswert ist die Beteuerung, die Cassirer fur notwendig hält: Niemand ist oder wird gezwungen, seine „individuellen Überzeugungen" diesem Endzweck bzw. dem politisch-gesellschaftlichen Konsens zu opfern (Cassirer 1930a/ECN 9, 109, Anm. A). Die Tatsache, dass sich in der Verfassung des deutschen Staates von 1919 eine republikanische Staatsgesinnung und das ihr korrelierende Gemeinschaftsgefühl niedergeschlagen haben, schließe „sehr verschiedene, ja gegensätzliche Wege" des Ringens um eine angemessene Staatstheorie und praktische Staatsgesinnung nicht aus, vielmehr schließt sie sehr verschiedene, ja gegensätzliche Ziele der praktischen Politik ausdrücklich ein. Cassirer betont hier folglich mit Nachdruck, dass - seinem Verständnis nach - weder die deutsche Staatsphilosophie 16 noch die Verfassung von den Bürgern eine „Übereinstimmung der politischen Anschauungen" und der „politischen Ziele" fordern, sondern allein den benannten Grundkonsens: die Anerkennung „einer für alle verbindlichen gemeinsamen Rechtsnorm und einer gemeinsamen staatlichen und sozialen Aufgabe" (Cassirer 1930a/ECN9, 109, Anm. A). Die mit diesem Grundkonsens ausgesprochene Anerkennung des „gemeinsamen Endzweckes" des Staates müsse sich im praktischen

15 Siehe dazu u. a. Cohen 1915, 529ff.; Cohen 1914,280 u. 282. 16 Wenn Cassirer im Vortrag daraufhinweist, dass die „deutsche Philosophie der neuren Zeit [...] uns auf die Frage nach dem Wesen des Staates keine eindeutige Antwort [gibt]", sondern in ihrem Staatsdenken von „demselben Widerstreit" gezeichnet ist, von dem „das geschichtliche Leben Deutschlands erfüllt und bewegt war", dann ist ihm bei dieser Gelegenheit die Aussage wichtig, dass es für ein praktisches Bekenntnis zum bestehenden Staatswesen nicht Voraussetzung ist, dass alle geistig und politisch Tätigen einer einzigen, von allen geteilten Staatstheorie anhängen (vgl. Cassirer 1930a/ ECN 9, 89).

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„Willen zum Staat als solchem" - als einem Willen zum Ganzen - niederschlagen. Gleichzeitig darf man hier wohl von einem Willen zu einem politischen Grundkonsensus sprechen, der sich an der faktischen Verfassung orientiert. Das heißt, der Wille zum Rechtsstaat schließt für den politischen Menschen Cassirer die Bereitschaft aller Handelnden ein, einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen als solchen und den faktisch vorgegebenen rechtlichen Rahmen als einen solchen anzuerkennen, der es erlaubt, die politischen Kontrahenten als Rechts- und Staatsgenossen, und nicht als zu vernichtende Feinde, anzusehen, zu respektieren und zu behandeln. Entscheidend ist dabei der Gedanke, dass das von der Verfassung zugestandene und geforderte „tätige Mitwirken, Mitarbeiten und Mitleben" aller Bürger an den Staatsangelegenheiten (Cassirer 1930a/ ECN 9, 108) diese Orientierung am „gemeinsamen Endzweck" des Staates voraussetzt, da sonst der ungebremste Streit, der unbeschränkte Kampf die verfassungsgemäße Staatsund Rechtsordnung zerstört. In diesen Grundkonsens, den Cassirer mit der Staatsgesinnung und dem sie tragenden lebendigen Gemeinschaftsgefühl verbindet, gehört für ihn auch die tätige Erkenntnis, dass die deutschen Universitäten keine „politischen Organisationen" sind und niemals sein dürfen (Cassirer 1930a/ECN 9, 110). Heidegger wird als Freiburger Rektor bekanntlich wenig später eine andere Bestimmung des Selbstverständnisses der deutschen Universitäten vertreten und einfordern (Heidegger 1933, 15ff.). Um ihrer unbestreitbaren Verantwortung gegenüber der „staatlichen Gemeinschaft" gerecht zu werden, hat die Universität für Cassirer allerdings die Aufgabe, zu versuchen, die politischen Kämpfe im und um den Staat zu verstehen. Die Universität als Ort des Wissens soll auf diese Weise „von den im [politischen - C.M.] Streite Begriffenen und im Streite Verstrickten die Blindheit nehmen, die eine unmittelbare und schwere Gefahr bedeutet, sie soll sie nötigen, sich selber und den [politischen - C.M.] Gegner, gegen den sie streiten, zu sehen" (Cassirer 1930a//ECN 9, 111) - als Mitmenschen, Mitbürger im gemeinsamen Staat. Nur eine „solche Klarheit des Sehens", da ist sich Cassirer sicher, „wird verhüten, daß [der politische Streit - C.M.] in jene Gehässigkeit und Verbitterung ausartet, die zuletzt alle Bande gemeinsamen Wirkens zerschneidet" (Cassirer 1930a//ECN 9, 111). Ein ungebändigter politischer Streit und Kampf kennt in Bezug auf den Gegner und Konkurrenten in der letzten Konsequenz keine Grenzen, kein Recht und kein Pardon - nur die Ausschaltung und Vernichtung. Politiker und Bürger, die sich während der 20er und 30er Jahre in Theorie und Praxis der Idee des totalen Staates verschreiben, hatten in Cassirers Augen die 1930 geforderte „echte" Staatsgesinnung samt „echtem" Gemeinschaftsgefühl verloren und den von diesem begründeten politischen Grundkonsensus bereits verlassen. Angesichts der faktischen Aufkündigung diesen Konsenses durch einen Teil der politischen Klasse und der Staatsbürger gibt es in seiner politischen Theorie allerdings außer anhaltenden Versuchen von Überzeugung und Belehrung keine weiterführenden Lösungsvorschläge, keine konkreten Verfahrensregeln, wie der Staat und die ihn tragenden, ihn wollenden Bürger dagegen vorgehen sollen. Ein Rechts- und Verfassungsstaat, in dem die führenden Politiker sich vom neuzeitlichen Staats- und Menschenverständnis verabschiedet haben - das gilt für die rechtskonservative Bewegung hin zum korporativen Staat ebenso wie für die linksradikale Bewegung hin zum Rätestaat - , muss als solcher zunächst zu-

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gründe gehen. Cassirer will dies aber nicht als letztes Wort der Geschichte verstanden wissen. Hinter diesen Aussagen und Argumenten scheinen, wie bereits zum Ausdruck gebracht, ein gutes Stück die Staatsauffassung des deutschen Idealismus und ihre Weiterentwicklung bei Cohen auf, beides hält Cassirer als die für das neue 20. Jahrhundert angemessene Staatsphilosophie. Dem - 1806 endgültig verlorengegangenen, 1871 wiedererlangten - Nationalstaat wird eine Erziehungs- und eine Sozialaufgabe an den Bürgern zugewiesen, die sich autonom, selbstgesetzgebend dem positiven Staatsrecht unterstellen, das sich aber wiederum am natürlichen Vernunftrecht messen lassen muss und das die aus Letzterem abgeleiteten unveräußerlichen Rechte des Individuums zu achten, in Rechtswirklichkeit umzusetzen hat. Dabei hat der vernünftige Staat alle Formen von Diskriminierung und Rechtsprivilegien abzubauen, er hat alle Klassen, Stände und Schichten der Gesellschaft gleichsam als Staatsbürger zu behandeln und sie am politischen und kulturellen Leben partizipieren zu lassen. Dieses sich in Cassirers politischen Texten vor und nach 1919 zu findende philosophische Grundverständnis des deutschen Staates erklärt allerdings noch nicht hinreichend, inwieweit die Faktizität der darüber weit hinausweisenden demokratischen Verfassung vom August 1919 sich inhaltlich auf sein Staatsverständnis und seine politische Philosophie ausgewirkt hat. Dies zu klären bildet eine der noch offenen Aufgaben der Cassirerforschung.

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OTFRIED HÖFFE

Dialog wagen. Bausteine fur eine Theorie des realen Diskurses

Der Philosophie ist der Dialog bekannt: seit Sokrates als Muster für die allmähliche Einsicht in das eigene Nichtwissen und seit Piaton als ein bis heute bewundertes Vorbild argumentativer Lernprozesse. Zugleich sind Dialoge so meisterhafte ArgumentationsDramen, dass man beispielsweise beim Kriton, der Apologie, dem Symposion oder dem Phaidon kein Philosoph sein muss, um einer Bühnenfassung atemlos zu folgen. In Platonischen Dialogen wird aber nicht bloß der Dialog, sondern auch dessen Grenze praktiziert, sichtbar an der Szenerie, die beschrieben wird, an eingestreuten Lehrvorträgen und Gleichnissen (Mythen), nicht zuletzt an den Hinweisen, dass die „allergrößte Einsicht" dem mündlichen Unterricht, der sogenannten ungeschriebenen Lehre, vorbehalten werde. Schließlich werden in Piatons Dialogen deren Chancen und Grenzen nicht bloß praktiziert, sondern auch reflektiert. Diese überlegene Einstellung zum Dialog ist dem heutigen, nicht selten überschwänglichen Umgang mit dem Dialog fremd. Im Folgenden stelle ich einige Bausteine fur eine nüchterne Theorie des Dialogs vor. Ich skizziere fur das tatsächlich auf Verständigung orientierte Gespräch als erstes sein Wesen (Abschnitt 1) und sodann fünf Grundformen (Abschnitt 2); als nächstes unterziehe ich den idealen Diskurs einer kritischen Prüfung (Abschnitt 3) und nach dem Entwurf eines realitätsgerechteren Modells (Abschnitt 4) schließe ich mit einer zweiteiligen Bilanz (Abschnitt 5).

1. Was ist ein Dialog? Der Dialog ist eine Form der Menschen, auf menschliche Weise miteinander umzugehen. Im Dia-log wird nämlich die Logos-, die Sprach- und Vernunftbegabung des Menschen zum sozialen Bestimmungselement. Ein nüchternes Verständnis von Dialog ist aber nicht so töricht, ein Miteinander in „eitel Liebe und Freundschaft" zu verlangen. Es fordert, auch strittige, selbst existentiell „brennende" Fragen aus dem Gegensatz zur Gewalt heraus zu schlichten, aus jenem rein sachbezogenen Wort, das im Fall eines begründenden Wortes „Argument", im Griechischen wieder logos heißt. Mit dem Ausdruck „Dialog" ist der der „Kommunikation" eng verwandt. Gemeint sind verschiedenste Arten von sprachlicher, aber auch außersprachlicher Verständigung. Sie reichen von einer belanglosen Plauderei über das ernsthaftere Tisch-, Wirtshausoder Salongespräch, über die Debatte in den Medien und den Parlamenten bis zum wissenschaftlichen, in anderer Weise dem religiösen Disput. Im engeren Sinn bedeutet Kommunikation das Miteinanderreden, das auf eine Einigung, einen Konsens, zielt.

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Ob „Dialog" oder „Kommunikation" genannt - wie alles Menschliche so ist auch die menschliche Weise, miteinander umzugehen, von Menschlichkeit, also von Höhen und Tiefen, bestimmt. Mit Vorbehalten, die noch zu nennen sind, lassen sich die philosophische und die wissenschaftliche Kommunikation als idealer Diskurs bestimmen. Ihr Grundlagendiskurs richtet sich im Theoretischen auf die Wahrheit, im Praktischen, also für das soziale und politische Leben, dagegen auf dessen Grund- und Rahmenbedingungen und rechtfertigt dann vor allem Prinzipien der Gerechtigkeit wie die Menschenrechte und die liberale Demokratie. Etwas anderes ist die Kommunikation innerhalb dieser Rahmenbedingungen, der soziale und politische Diskurs. Im Unterschied zum idealen Diskurs findet der reale Diskurs notgedrungen in den Niederungen der realen Welt statt; zumindest wird er von diesen Niederungen beeinträchtigt und zugleich gefährdet. Weder die Gespräche im Familienkreis noch die in der Schule und Hochschule oder die der Politik können sich von diesen Niederungen ganz freimachen. Dasselbe trifft auf den Dialog zwischen den Konfessionen und zwischen den Religionen, ohnehin den zwischen den Kulturen zu. Und zweifellos nicht davon frei ist Kommunikation von Unternehmen mit ihrer sozialen Umwelt, beispielsweise der Dialog mit Vertretern der Bürgergesellschaft, mit Nichtregierungsorganisationen. Wer auch diese Dialoge nach dem Modell des idealen Diskurses entwirft, verkennt seinen Gegenstand so grundlegend, dass seine Theorie für die reale Welt im wörtlichen Sinn utopisch ist: Sie degeneriert zur Theorie eines Nirgendwo. Man kann auch von einem „idealistischen Fehlschluss" sprechen. Dieses ist richtig: Solange Menschen miteinander „im Dialog stehen", bekriegen sie sich nicht. Im Fall eines echten Dialogs sind sie sogar aufeinander neugierig und die Neugier ergänzen sie um Sensibilität und Empathie: Statt abwechselnd zu monologisieren, hören Dialogpartner einander zu; statt lediglich vorgefasste Meinungen auszutauschen, wollen sie voneinander lernen; statt nur sich selbst durchzusetzen, fühlen sie sich in die Person des anderen ein und respektieren dessen Argumente und dessen Interessen. Dank der entsprechenden Fähigkeit und Bereitschaft erfreuen sich die Dialogpartner eines dreifachen Nutzens: Weil sie voneinander lernen, verstehen sie den anderen in seiner Andersartigkeit; darüber hinaus verstehen sie den anderen und sich selbst in ihrer Gemeinsamkeit; mittels Verschiedenheit und Übereinstimmung verstehen sie sich schließlich selber besser. Wer sich auf diese Weise für andere und anderes öffnet, überwindet eine durchaus natürliche Egozentrik. Von der Kirchturmsperspektive, in der er bislang gefangen war, wird er ein gutes Stück frei: Ein echter Dialog hat wahrhaft emanzipatorische Bedeutung. Nicht bloß jeder Gewalt versperrt sich der Dialog. Er setzt sich auch gegen das Zwischenphänomen zwischen Dialog und Gewalt, die Verhandlung, ab. „Verhandeln", auf Englisch negotiate, kommt vom Lateinischen nec-otium: dem Geschäft, vor allem Handelsgeschäft, und bezeichnet den Gegensatz zur Muße (otium). Wie ein Dialog, so sucht auch die Verhandlung eine Übereinstimmung; diese ergibt sich aber nur teilweise aus der Kraft der Argumente. Ebenso wichtig ist das Verhandlungsgeschick und oft sind noch wichtiger die offenen oder versteckten Macht- und Drohpotentiale auf der positiven und die ebenso offenen oder versteckten Verletzbarkeiten auf der negativen Seite. Ihretwegen gibt der per saldo Schwächere nach.

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In einer Welt, in der das Geld regiert, glaubt man gern, der finanziell Stärkere befinde sich auch in der stärkeren Verhandlungsposition. Die Wahrheit sieht allzu häufig anders aus. Sobald die Öffentlichkeit eine Rolle spielt, tatsächlich oder angedroht, taucht das David-Goliath-Phänomen auf: Die Öffentlichkeit liebt die Kleineren. Jedenfalls ist das Verhandeln keine wahrhaft kommunikative, vielmehr eine strategische Angelegenheit, gewürzt mit Versteckspielen statt Transparenz, mit Winkelzügen und Finten sowie weiteren taktischen Finessen, bis zu jener machiavellistischen Klugheit, deren drei Grundmaximen Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden so prägnant erläutert: Fac et excusa (Ergreife die Gelegenheit zur eigenmächtigen Besitznahme, die Rechtfertigung wird sich nachher schon finden), Sifecisti nega (Was Du verschuldet hast, laste anderen auf) und Divìde et impera (Entzweie Deine Gegner, und Du kannst sie leichter beherrschen). Für das strategische Denken bedeutet nun der echte Dialog eine Gefahr, die erklärt, warum reale Kommunikation oft scheitert: Wer durch großes Verständnis für den anderen zu offen wird, gibt auf, was doch die eigene Seite erwartet; er verliert an Biss. Wechselseitiges Verständnis schwächt die eigene Position, einseitige Offenheit entpuppt sich ärgerlicherweise als strategischer Nachteil. Ob Unternehmen, Bürgerorganisationen oder politische Medien - im Versuch, den drohenden Nachteil zu vermeiden, verkürzt man lieber seine Lernbereitschaft; ob mit oder ohne Amt - man degeneriert zum Funktionär. Echte Kommunikation dagegen orientiert sich nicht am eigenen Vorteil. Auf Verständigung verpflichtet, zielt sie im Bereich der Wissenschaft auf Wahrheit, im Bereich des Sozialen auf Gerechtigkeit. Greifen wir exemplarisch die Wahrheit heraus, so gilt, dass sie selten offen zutage liegt. In einer Komödie von Oscar Wilde, The Importance of Being Earnest, sagt eine Hauptperson zum Freund: „Das, mein lieber Algy, ist die simple und reine Wahrheit." Darauf antwortet der Freund: „Die Wahrheit ist selten rein und niemals simpel." Die Wahrheit muss man jedenfalls suchen, wofür es Argumente braucht, mit deren Hilfe man sich der Wahrheit vergewissert. In der einschlägigen argumentativen Kommunikation, der wahrheitsverpflichteten Debatte, pflegen allerdings die Argumente „in Hülle und Fülle" aufzutauchen. Um dann die echten von den scheinbaren Argumenten zu trennen, braucht es ein Kriterium für Argumente. Dafür gibt es bekanntlich drei prominente Kandidaten: die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, die Korrespondenz; die innere Stimmigkeit von Aussagebündeln, die Kohärenz; und die schließliche Übereinstimmung der miteinander Debattierenden, den Konsens. Nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit ist eine Behauptung wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt: Die Wirklichkeit muss sich genau so und nicht anders verhalten. Nach der Kohärenztheorie entscheidet sich die Wahrheit nicht an einzelnen Aussagen, sondern an strukturierten Aussagenbündeln, an Aussagesystemen. Ihr Test der Wahrheit ist die innere Stimmigkeit, die Kohärenz: Eine Aussage ist wahr, wenn sie sich in ein Netz von Aussagen widerspruchslos fügt. Die Kommunikationsbzw. Konsenstheorie schließlich scheint sich am Vorbild Piatons auszurichten, tatsächlich verkürzt sie dessen strukturell komplexeres Dialogverständnis. Weder nach Sokrates noch Piaton, wohl aber nach den neueren Konsenstheoretikern entscheidet sich die Wahrheit am Ergebnis einer argumentativen Kommunikation, an der schließlichen Übereinstimmung, eben dem Konsens.

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Von Argumenten erwartet man eine Unparteilichkeit, die an Leidenschaftslosigkeit gemahnt. Wo es für den Menschen wichtig, vielleicht sogar lebenswichtig wird, pflegen Argumente aber von elementaren Interessen und starken Leidenschaften beflügelt zu sein. Ob persönliche, gesellschaftliche oder politische Debatten oder auch die Kommunikation zwischen Unternehmen und Bürgergesellschaft - ein existentiell ernster Dialog hat Schwierigkeiten, dem römischen Historiker Tacitus zu folgen und Argumente sine ira et studio, ohne Zorn und Eifer, zu erörtern. Selbst wenn wissenschaftliche Dispute von persönlicher Eitelkeit abzusehen vermögen, kann in ihnen bitterernst gestritten werden, denn eventuell stehen die Grundlagen einer Weltsicht auf dem Spiel. Das Argument als Argument sieht davon ab. In der wahrheitsverpflichteten Kommunikation wird daher eine paradoxe Leidenschaft verlangt, jene leidenschaftslose Leidenschaft, die Tacitus vermutlich meint: dass man die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sucht, unbeirrt von persönlichen Interessen, gesellschaftlichen Vorurteilen und politischem Druck, auch unabhängig von einer Strafe, die droht, oder einem Lohn, der winkt.

2. Fünf Grundformen des Dialogs Wegen des existentiellen Ernstes findet die argumentative Kommunikation in der Wirklichkeit nicht in der Idealform des Diskurses, sondern eher in vier weiteren Grundformen statt. Diese können sich ergänzen, überschneiden und ineinandergreifen. Ich stelle sie in aufsteigender Linie vor: mit zunehmender Verpflichtung auf die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. In der ersten Gestalt ist der Dialog ein Marktplatz, ein Forum oder eine Agora: Unterschiedliche Anbieter breiten voreinander und vor dem Publikum einen bunten Strauß von Argumenten aus. In der zweiten Gestalt wird der Dialog zu einer Bühne, einem Theater: Argumente und Gegenargumente setzen sich in Szene, möglichst rhetorisch brillant, zuweilen auch selbstverliebt. Der Dialog ist drittens ein Kampfplatz, eine Arena, im Fall von zwei Personen ein Duell: Hier fechten Argumente und Gegenargumente vor dem Publikum um Zustimmung und um die Vorherrschaft bei der Zustimmung. Das Austauschen von Argumenten entartet zum argumentativen Boxkampf, zum Schlagabtausch, der den eigenen Sieg sucht und für den Gegner die möglichst vernichtende Niederlage. Mit der Gefahr, in Rechthaberei zu verfallen, kämpfen die streitenden Parteien für „ihre" Wahrheit, nämlich für das, was sie für wahr halten, oft genug sogar bloß für das, was sie als wahr ausgeben. Denn weil das Ergebnis der Auseinandersetzung, ein etwaiger Konsens, existentiell wichtig sein kann, wird nicht bloß argumentativ gestritten. Die Wahrheit wird häufig auch gedehnt, verkürzt, einseitig dargestellt oder sogar verfälscht. Man bietet Halb- und Dreiviertelüberzeugungen an und selten das, was man selber für die ganze und reinste Wahrheit hält. Bei Verhandlungen dagegen ist es zulässig, oft sogar sinnvoll, der Maxime zu folgen: Alles, was man sagt, ist wahr, aber nicht alles, was wahr ist, sagt man.

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Nur in Klammern: Die dritte Dialoggestalt kennt eine Unterform, die sportliche Übungsdebatte, die seit der Antike, hier „nachlesbar" in Aristoteles' Topik, bis zu den modernen Debattierklubs als intellektueller Wettkampf gepflegt wird. Und die nicht bloß sportliche, sondern oft lebenswichtige Fortexistenz kennen wir aus nordamerikanischen Filmen als Gerichtsprozesse, als Zivil- und Strafprozesse, in denen beide Seiten in erlaubter Parteilichkeit gegeneinander auftreten: Nicht die Wahrheit zählt, sondern allein der Sieg. In der vierten Gestalt, dem realen Diskurs, sucht man, ohne sich vorab auf die eigene, persönliche Wahrheit festzulegen, gemeinsam Argumente. Ebenso gemeinsam prüft man deren Schlüssigkeit und erwartet schließlich einen allseitigen Konsens. Auch wenn der reale Diskurs sich von bewusster Täuschung und von Gewaltandrohung frei hält, auch wenn er auf das strategische „Spiel" mit eigenen Drohpotentialen und fremder Verletzbarkeit verzichtet, bleibt er der Gefahr von Verzerrungen ausgesetzt: der Gefahr von Irrtümern und emotionalen Barrieren, der von Vorurteilen und ideologischer Befangenheit. Wer an das große Vorbild des Dialogs denkt, an das Sokratische Gespräch, müsste sehr bescheiden werden. Denn Sokrates gelingt es zwar, den vorgeblich Wissenden zu überzeugen, dass er einer Illusion des Wissens erlegen ist. Am Ende bleibt aber beiden Seiten nur das Wissen, dass sie nichts wissen. Erst in der fünften und letzten Gestalt, im idealen Diskurs, zählt nur ein Konsens, der allen angedeuteten Verzerrungen enthoben ist. Unter idealen Bedingungen zustande gekommen, herrscht kein anderer Zwang als der des stärkeren Arguments.

3. Kritik des idealen Diskurses Vom US-amerikanischen Pragmatisten Charles S. Peirce über die Gründer der Erlanger Schule, Wilhelm Kamiah und Paul Lorenzen, bis zu den beiden Frankfurtern Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas stimmen die Konsenstheoretiker im Kern überein: Sie definieren die Wahrheit durch ein Verfahren, das von der Gesprächssituation ausgeht und auf die geglückte Übereinstimmung zielt. Unter dieser Übereinstimmung verstehen sie aber nicht ein historisch-faktisches Ereignis, sondern normativ einen wahren Konsens oder die sachgemäße Übereinstimmung, und diese definieren sie als die potenzielle Übereinstimmung aller oder aller, die kompetent sind. Weil für diese Theorien das nackte Argument zählt, sehen sie von all dem ab, was in realen Diskursen eine Rolle spielen kann: Beiseite setzen sie schon den Zufall, ferner die intellektuelle und die rhetorische Begabung, ohnehin Manipulation, Betrug und Selbsttäuschung, nicht zuletzt die Möglichkeit struktureller Gewalt. Auch dürfen weder Zeit- noch jene anderen Ressourcenknappheiten eine Rolle spielen, deretwegen sich stets nur wenige an den einschlägigen Debatten beteiligen. Die tatsächliche Übereinstimmung ist jedoch ein wesentlich historisches Ereignis. Weil dieses erlaubt, was dem idealen Diskurs versperrt ist, weil es für alle nicht-argumentativen Elemente Raum lässt, taucht eine Konkurrenz auf, für die sich Konsenstheorien sensibilisieren müssen, zumal wenn sie ein Vorbild für reale Diskurse abgeben wollen: In dem Maße, wie die Übereinstimmung als solche zählt, wird die Forderung

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nach Argumentation zurückgedrängt. Umgekehrt lässt das Abweisen jeder historischen Zufälligkeit für reine Kommunikations- und Einigungsprozesse wenig Raum. Von den näheren Elementen der Theorien des idealen Diskurses greife ich nur ein Element aus Habermas' Konsenstheorie heraus: die ideale Sprechsituation (Höffe 1995, 351-390). Ihr zufolge herrsche unter allen Sprechern eine strenge Chancensymmetrie. Offensichtlich ist so etwas niemals vollständig zu erreichen. Beispielsweise müssten alle jeweils Betroffenen auch Teilnehmer des Diskurses sein; überdies müssten sie mit der gleichen Fachkompetenz und rhetorischen Begabung auftreten. Nimmt man trotzdem an, die ideale Sprechsituation sei vollständig realisierbar, so fehlt eine Legitimation der Idealitätsbedingungen. Im idealen Diskurs werden nämlich Fundamentalnormen schon als selbstverständlich vorausgesetzt, obwohl der Diskurs jene Instanz sein soll, die die Normen allererst rechtfertigt. In die Methode der Rechtfertigung gehen also Elemente ein, die doch erst ausgewiesen werden sollen: normative Voraussetzungen, die wie der Schutz von Leib und Leben immerhin den Rang von Präjudizien des Diskurses einnehmen. Nach einem weiteren Einwand schafft die ideale Sprechsituation nur die „sozialen" oder „politischen" Rahmenbedingungen dafür, dass überhaupt argumentiert wird. Als Bestimmungsgründe schließt sie bestenfalls Überredung, Täuschung und Manipulation aus. Hat man diese Verzerrungen ausgeräumt, so ist aus zwei Gründen immer noch kein Konsens garantiert: Einerseits darf man über den intersubjektiven Bedingungen die subjektiven nicht vergessen: eine intellektuelle Kompetenz der Diskursteilnehmer sowie das Interesse, diese Kompetenz, wo nötig auch gegen das momentane Selbstinteresse einzusetzen. Andererseits können die Diskursteilnehmer so grundverschiedene Überzeugungen haben, inkompatible Grundannahmen oder Werturteile, dass man auf einen Konsens vergeblich hofft. Selbst ein Kompromiss wird dann unmöglich, bestenfalls einigt man sich auf eine Nichteinigung. Das Ergebnis enttäuscht noch mehr als das des Sokratischen Dialoges: Der Konsens, der bleibt, konstatiert nichts anderes als den Nichtkonsens.

4. Ein realitätsgerechtes Modell Aus all diesen Gründen braucht es eine komplexere Kommunikationstheorie, bestehend aus mindestens acht Bedingungen oder Elementen: Als erstes Element gibt es einen „Sitz im Leben": Ein realer Diskurs findet nicht in einem geschichtlich abstrakten Raum statt. Schon das jeweilige Thema, ferner die Konstellation der Personen oder Gruppen, oft auch deren Vorannahmen, vor allem deren Interessen und die daraus fließenden Argumente haben einen geschichtlich definierten Ort. Er lässt sich als fünfstellige Beziehung bestimmen: a) Wer spricht oder streitet, b) mit wem und c) worüber, d) unter welchen Umständen und e) mit welchem Interesse? Wegen des Sitzes im Leben, der sich streng genommen nie genau wiederholt, gibt auch ein realitätsgerechtes Modell keine Rezepte, schon gar nicht Pauschalrezepte. Nicht mangels Erfahrung, sondern von der Sache her geboten, begnügt es sich mit formalen Strukturelementen.

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Zum „Sitz im Leben" gehört ein Element, das man besser eigens, als zweites anführt: Gemäß dem alten Sprichwort ars longa, vita brevis soll das Ziel des Diskurses, die konsensuelle Streitschlichtung, in nützlicher Frist erreicht werden. Das heißt: bei Zeit- und anderer Ressourcenknappheit, mit den nach Fachkompetenz und Betroffensein angemessenen Diskursteilnehmera sowie mit einer überschaubaren Anzahl; nicht zuletzt in Effizienz und Effektivität. Wegen dieser Bedingungen hat ein etwaiger Konsens keine übergeschichtliche, sondern lediglich eine zeitlich und räumlich begrenzte Gültigkeit. In gelungenen Fällen kann er aber anderen Dialogen als Vorbild dienen. Das dritte Element, die Hauptsache, besteht in der argumentativen Erörterung von strittigen Sachfragen. Viertens: Ob Individuum oder Organisation - für eine argumentative Sachdebatte ist nicht jeder Diskussionspartner geeignet. Es braucht vielmehr eine intellektuelle und vor allem eine moralisch-praktische Diskursfähigkeit. Dort geht es um die Fähigkeit zur Einsicht, hier um zweierlei. Es bedarf der Freimütigkeit beim Vortragen der eigenen Argumente und des Wohlwollens bei der Aufnahme der von den Gesprächspartnern, zu betonen: Partnern und nicht Gegnern, vorgetragenen Argumente. Eine Kommunikation kann nämlich misslingen, weil es an intellektueller Diskussionsfähigkeit fehlt. Beispielsweise missversteht man die Argumente des Kommunikationspartners. Wegen unausgesprochener Prämissen oder eines anderen kulturellen Kontextes oder subkulturellen Umfeldes könnten Missverständnisse sogar fast zwangsläufig sein. Fehlt es dagegen an moralisch-praktischer Diskussionsfähigkeit, fallen noch so raffinierte Argumente auf steinigen Boden. Zusätzlich zum intellektuellen VerstehenKönnen braucht es ein moralisch-praktisches Verstehen- Wollen. Eine echte, kommunikative Kommunikation lässt sich nur mit kommunikationsbereiten Personen fuhren: mit Menschen, die „weder verstockt noch zweifelsüchtig noch übelwollend" sind. Stattdessen zeichnen sie sich durch Sensibilität und Empathie aus und praktizieren, was im Lateinischen sinceritas, im Englischen und Französischen aber sincerity bzw. sincérité heißt: Aufrichtigkeit und Lauterkeit, gepaart mit Ernsthaftigkeit. Zusätzlich zur sozialen Vorbedingung, einer möglichst idealen Sprechsituation, braucht es jedenfalls einen möglichst idealen Sprecher. Dieser muss sich in einem strengen Verzicht, einer „Askese", all das versagen, was vor Publikum, im öffentlichen Gespräch, und in den Medien sich gern in den Vordergrund drängt: Eitelkeit, Rechthabenwollen und ein strategisch vorgenommenes Kritisieren. Andernfalls degeneriert der Diskurs zur zweiten Dialogform, der Bühne, und zur dritten Form, dem Kampfplatz. Glücklicherweise braucht es für die Aufrichtigkeit keine herausragende Begabung. Unglücklicherweise lässt sich die Aufrichtigkeit schwerlich identifizieren; dass die anderen sie üben, sogar dass man sie selbst pflegt, kann man nie sicher wissen. Hier braucht es ein viertes, sehr kostbares Element; etwas, das leicht verspielt und schwer wiedergewonnen werden kann: das Vertrauen. Die Erfahrung gebietet freilich Vorsicht, weshalb viele lieber Misstrauen pflegen, mit ihm aber den Dialog erschweren, oft sogar unmöglich machen. Und wie das Gefangendilemma der Spieltheorie ergänzt, erreicht man bei einem durchaus „vernünftigen" wechselseitigen Misstrauen weniger als bei wechselseitigem Vertrauen. Misstrauen ist also suboptimal.

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In intellektueller Hinsicht kann es dagegen so weit überlegene Partner geben, dass sie monologische Phasen einfließen lassen dürfen. Sechstes Element: der Kenntnisreichere oder Einsichtigere darf gegebenenfalls die anderen belehren, freilich nicht statt des Dialogs, sondern nur innerhalb seines Rahmens. Auch der realitätsgerechte Dialog bleibt ein Bürgerdiskurs: also Rede und Gegenrede unter grundsätzlich Gleichberechtigten. Dort, wo grundlegend neue, wo außergewöhnliche Behauptungen aufgestellt werden, empfiehlt sich, was die großen Philosophen über die Jahrhunderte, von den Vorsokratikern, Piaton und Aristoteles bis zu Kant, Wittgenstein und Rawls pflegen: Man erläutert, siebentes Element, schwierige Sachverhalte durch Bilder, Metaphern oder Gleichnisse. Auch wenn man analog zur idealen Sprechsituation einen idealen Sprecher voraussetzt, ist noch kein Konsens gewährleistet. Selbst wenn jeder mit gleichem Recht, mit gleicher Kompetenz und in aller Aufrichtigkeit seine Meinungen und Interessen artikuliert, kann man sich in einer permanenten Diskussion verlieren. Damit man tatsächlich zu einer Übereinstimmung kommt, braucht es, achtens, ein positives Entscheidungsverfahren. Dafür drängen sich die beiden anderen Kandidaten für eine Wahrheitstheorie auf: die innere Stimmigkeit von Aussagebündeln, ihre Kohärenz, und deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, die Korrespondenz: Nicht weil alle zustimmen, ist etwas wahr oder gerecht, sondern weil etwas wahr oder gerecht ist, kann man die Zustimmung aller erwarten.

5. Bilanz Ich ziehe eine zweiteilige Bilanz. Ihr erster Teil sagt: Ob Wahrheit von Aussagen oder Gerechtigkeitsprinzipien für das Zusammenleben - wer sie in einem Prozess der Verständigung einlösen will, steht einem Dilemma gegenüber: Entweder macht er sein Leitziel, die Wahrheit bzw. die Gerechtigkeit, von historischen Zufälligkeiten abhängig. Dann setzt er sich dem verzerrenden Zugriff von Rhetorik, Suggestion und Manipulation, von Täuschung und Selbsttäuschung aus, sodass der Invarianzanspruch von Wahrheit und Gerechtigkeit verloren geht. Oder er führt normative Bedingungen wie die Idealität des Diskurses ein, dann hebt er das Charakteristische des Konsenses auf. Das Resultat ist nicht mehr das Ergebnis eines geschichtlichen Einigungsprozesses konkreter Personen, sondern lediglich das Ergebnis abstrakter Kommunikatoren. Der zweite Bilanzteil: Das dem Dilemma enthobene Modell, der reale Diskurs erkennt an, worauf das Gefangendilemma auch anspielt: Ein echter Dialog hat WagnisCharakter; wenn eine Seite das Wagnis scheut und ausschließlich strategisch agiert, muss man mit Scheitern rechnen. Damit aber das Scheitern nicht vollkommen ist, kann man den zweitbesten Weg gehen, der in der Politik, einschließlich der Politik von Religionen und Konfessionen, als eine durchaus vernünftige Alternative bleibt. Statt einen Dialog zu führen, gebe man sich mit einer Verhandlung zufrieden. Nur wenn auch hier beide Seiten auf Vertrauen und Partnerschaft, zusätzlich auf Freimütigkeit und Wohlwollen einlassen, ist das Gegenteil von Konfrontation zu erwarten: ob Dialog oder nur verhandeln: ein fairer Konsens.

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Bibliographie Habermas, Jürgen (1983): Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 53-125. Höffe, Otfried (1995): Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns. In: Ders.: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 351-390. Höffe, Otfried (1985): Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Kollektive Selbstbestimmung

Volker Gerhardts philosophisches Oeuvre schöpft aus mehreren Quellen: Platon1, Kant (Gerhardt 1995; 2002) und Nietzsche (Gerhardt 1992; 1996) sind wohl die drei wichtigsten Inspirationsquellen. Selbstbestimmung (Gerhardt 1999; 2000; 2004) und Partizipation (Gerhardt 2007) sind die beiden Zentralbegriffe der praktischen Philosophie Gerhardts. Für Gerhardt ist Partizipation das „Prinzip der Politik" und damit erfüllt sich in der Demokratie die eigentliche Bestimmung des Politischen - Demokratie als kollektive Selbstbestimmung, als vollendete Partizipation. Bei großen Übereinstimmungen im Inhaltlichen - in der humanistischen Grundhaltung (Gerhardt 2003, 47-65 sowie 2007, Kap. 10; Nida-Rümelin 2006a), in der These, dass auch politische Überzeugungen wahrheitsfähig sind (Gerhardt 2007, Kap. 10; Nida-Rümelin 2006b, Kap. 1), in einer säkularen, forschungsfreundlichen Bioethik (Gerhardt 2006, 111-128; Gerhardt 2001), in der Abwehr szientistischer und reduktionistischer Anthropologien, die meinen, sich auf neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse stützen zu können2 - gibt es große Unterschiede zwischen Volker Gerhardts und meinen eigenen philosophischen Arbeiten im Methodischen, in den philosophischen Bezügen, in der Begrifflichkeit, in der Provenienz philosophischer Analyse. Mein Beitrag zu dieser Festschrift setzt an dieser Stelle ein. Ich möchte das Thema der Partizipation und der Demokratie beleuchten und dabei Forschungsergebnisse aus der Entscheidungstheorie, besonders der collective choice, fruchtbar machen. Dabei werde ich vor allem Augenmerk auf das Verhältnis von Deliberation und Dezision richten. Es sind gerade die im Rahmen des rational c/20/ce-Paradigmas stehenden Resultate der Logik kollektiver Entscheidungen,3 welche die Begrenzungen dieses rational choice1 2

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In Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007) verweist Gerhardt auf keinen anderen Autor so häufig wie auf Piaton. Im Rahmen der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Humanprojekt" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, geleitet von Detlev Ganten, Volker Gerhardt und mir, findet nun seit 2006 ein intensiver Gedankenaustausch zu dieser Thematik statt, der in den ersten Bänden der gleichnamigen Buchreihe - Naturgeschichte der Freiheit (2007), Funktionen des Bewusstseins (2008) und Was ist der Mensch? (2008) - dokumentiert ist. Die klassischen Darstellungen sind Arrow (1963) und Sen (1970). Lucían Kem und ich haben diese und andere zentrale Ergebnisse in Logik kollektiver Entscheidungen (Nida-Rümelin/Kern 1994) in einheitlicher Terminologie und Beweisführung präsentiert und mit eigenen Fortentwicklungen verbunden. Wer sich für die formalen Details der Argumentation und weitere Literaturhinweise interessiert, kann auf diese Arbeit zurückgreifen. Eine interessante, neue Perspektive hat Marc Fleurbaey in mehreren Publikationen entwickelt, der im Gegensatz zu Sen (1979) am Or-

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Paradigmas imponierend deutlich machen, in Gestalt der Aporien bekannter Unmöglichkeits-Theoreme. Aporien, die vor die Alternative zu stellen scheinen, Demokratie als vollendete Partizipation, als kollektive Selbstbestimmung aufzugeben oder diese Befunde zu ignorieren. Letzteres ist die dominierende Haltung in der deutschsprachigen praktischen Philosophie und politischen Wissenschaft. Dem korrespondiert in der englischsprachigen politischen Ökonomie und Theorie eine Bagatellisierungstendenz, die stilbildend mit dem berühmten Aufsatz von Gordon Tullock „The General Irrelevance of the General Impossibility Theorem" (Tullock 1967, 256-270) beginnt.4 Ich nehme das Ergebnis vorweg: Kollektive Selbstbestimmung kann in Analogie zu individueller Selbstbestimmung nur über Gründe adäquat erfasst werden. Kriterien kollektiver Selbstbestimmung, kollektiver Rationalität, die lediglich die Dezision, den Übergang von individuellen zu kollektiven Präferenzen über Verfahren der Aggregation im Auge haben, sind unzureichend. Die Anreicherung der Beschreibung über den Austausch von Gründen ermöglicht es, die Aporien kollektiver Entscheidungsfindung zu beheben und weist den Weg zu einem angemessenen Demokratieverständnis.

I Die erste These meines Beitrags lautet: Der reine homo oeconomicus ist nicht demokratiefähig. Dies ist die Schlussfolgerung, die wir aus den von dem Philosophen Allan Gibbard (1973) und dem Ökonomen Mark A. Satterthwaite (1975) bewiesenen Theoremen der Strategie- und Manipulationsanfälligkeit ziehen müssen. Der homo oeconomicus optimiert mit jeder seiner Entscheidungen den Erwartungswert einer Nutzenfunktion, die seine subjektiven Präferenzen repräsentiert (Nida-Rümelin 2005a, Kap. 2 sowie 1997, Kap. 4). Er optimiert daher auch seine politischen Präferenzen, die - sofern kohärent, das heißt die Postulate des Nutzen-Theorems erfüllend - sich als eine reell-wertige quantitative politische Bewertungsfunktion repräsentieren lassen. Das Gibbard-Satterthwaite-Theorem stellt keine quantitativen Betrachtungen an, es bleibt im qualitativen Rahmen. Es beschränkt sich auf die Aggregation individueller Präferenzen und geht nicht über zur Aggregation individueller Nutzenfunktionen. Diese Beschränkung umgeht zwei Komplikationen: Zum einen die interpersonelle Vergleichbarkeit individueller politischer Präferenzen; individuelle politische Bewertungsfunktionen zu aggregieren macht nur Sinn, wenn wir die Intensität der Präferenzen interpersonell vergleichen können. In der politischen Öffentlichkeit der Demokratie scheint aber zunächst nur die jeweilige Präferenz für den einen oder den anderen Kandidaten, das eine oder das andere Programm,

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dinalismus Arrows festhalten will, aber interpersonelle Vergleichbarkeit in die Analyse einführt. Vgl. Fleurbaey (2005) und zuletzt Fleurbaey (2007). Einen Überblick zu den demokratietheoretischen Implikationen der Logik kollektiver Entscheidungen vermittelt das von N. Schofield verfasste Kap. 9 in Arrow/Sen/Suzumura (2002). Eine ausgezeichnete Darstellung unterschiedlicher Einschränkungen der Präferenzensouveränität und ihrer Folgen für die Aggregationsproblematik, insbesondere in das Arrow-Paradox, bieten Gaertner/Salles (1981). Vgl. auch Nida-Rümelin/Kern (1994, Kap. 6).

KOLLEKTIVE SELBSTBESTIMMUNG

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die eine oder die andere Gesetzesinitiative ausschlaggebend zu sein. Diese Präferenzen werden in Gestalt von Wahlen und Abstimmungen ermittelt. Die Demokratie scheint darin zu bestehen, diese so geäußerten puren, nicht gewichteten Präferenzen in einer Weise zu aggregieren, die kollektive Selbstbestimmung garantiert. Diese Sichtweise fuhrt allerdings in eine Aporie. Das Gibbard-Satterthwaite-Theorem macht das in folgender Weise deutlich: Es gibt kein Verfahren kollektiver Entscheidungsfindung, das manipulationsfrei ist, und es gibt kein Verfahren kollektiver Entscheidungsfindung, das strategiefrei ist (Nida-Rümelin/Kern 1994, Kap. 5). Dies bedarf einer kurzen Erläuterung. Zunächst zum Begriff des Aggregationsverfahrens. Unter „Aggregation" sei hier nichts anderes verstanden als die Zusammenfassung individueller politischer Präferenzen zu einer politischen Entscheidung beziehungsweise zu einer politischen Präferenz, die man dann der Gemeinschaft derjenigen zuschreiben kann, die diese Entscheidung auf Grund eines akzeptierten Verfahrens getroffen haben. So ist es die politische Entscheidung des Deutschen Bundestags gewesen, ein Gesetz zu beschließen, das es dem Innenminister im Falle eines Terrorangriffes nach dem Muster von 9/11 erlaubt hätte, ein zur Geisel genommenes Verkehrsflugzeug mit Todesfolge für alle Passagiere abzuschießen. Man kann auch sagen, dass der Deutsche Bundestag damit eine Präferenz für diese Abschussgenehmigung durch Gesetz geäußert hat gegenüber dem Status quo. Zwischen Entscheidungen und Präferenzrelationen besteht ein logischer Zusammenhang, der sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Wann immer ein Verfahren etabliert ist, das auf Grund gegebener individueller Präferenzen eine Entscheidung festlegt - also eine oder mehrere „beste" Alternativen bestimmt - so lässt sich bei einer gegebenen Struktur individueller Präferenzen über die gegebenen Optionen aufgrund dieses Verfahrens eine kollektive Präferenz-Relation ableiten, die minimalen Rationalitäts-Bedingungen genügt. Die logischen Zusammenhänge sind etwas komplexer, als es diese Formulierung suggeriert, aber für unsere Zwecke reicht die Feststellung, dass es kein kohärentes Entscheidungsverfahren geben kann, ohne dass sich eine kohärente Präferenzrelation zuschreiben lässt und vice versa. 5 Dieser logische Zusammenhang verbaut eine nahe liegende und sympathische Problemlösungsstrategie, wonach Kollektive - sei es der Bundestag oder die deutsche Wählerschaft - nicht wie individuelle Personen behandelt werden dürften, man ihnen keine Präferenz-Relation über gegebene Alternativen zuordnen dürfe, auch wenn man von

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Die einschlägigen Theoreme besagen, a) dass eine Präferenzrelation, die die Kohärenzbedingungen der Reflexivität, Vollständigkeit und Quasi-Transitivität erfüllt, eine Auswahlfunktion festlegt, die für beliebige Mengen von Optionen jeweils mindestens eine beste Entscheidung festlegt; b) dass eine Präferenzrelation, die die Kohärenzbedingungen der Reflexivität und Vollständigkeit erfüllt, genau dann eine Auswahlfunktion festlegt, die für beliebige Mengen von Optionen jeweils mindestens eine beste Entscheidung festlegt, wenn sie azyklisch ist; c) dass eine Auswahlfunktion, die von einer hinreichend kohärenten Präferenzrelation erzeugt wird, die plausible Eigenschaft hat, beste Elemente in einer größeren Menge auch als beste Elemente in einer Teilmenge zu bestimmen, wenn dieses Element in beiden Mengen vorkommt. - Weitere Theoreme zum Zusammenhang zwischen Präferenzen und Entscheidungen und ihre Beweise in Nida-Rümelin/Kem (1994, Kap. 1).

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diesen verlangen könne, dass sie Entscheidungen treffen. Das gilt insbesondere für solche Kollektive, die im Hinblick auf ihre Entscheidungsfahigkeit bestehen, die durch eine spezifische Entscheidungsfähigkeit konstituiert sind, wie etwa der Deutsche Bundestag. Ein Gesetzgebungsorgan verliert seinen Status, wenn es zur Gesetzgebung nicht mehr fähig ist. Dieser Ausweg ist jedoch verbaut: Die Zuschreibung ganzer PräferenzRelationen zu Individuen oder Kollektiven wird logisch erzwungen, wenn die Entscheidungen der Individuen wie der Kollektive minimale Konsistenzbedingungen erfüllen. Das Strategie-Theorem besagt nun Folgendes: Wenn ein Individuum die Präferenzen, die es in die Aggregation, in das Entscheidungs-Verfahren eingibt und die es gegebenenfalls durch Handheben äußert, instrumenten rational im Hinblick auf das von diesem Individuum gewünschte Ergebnis der Entscheidungsfindung wählt, dann sind alle Verfahren kollektiver Entscheidungsfindung strategieanfällig, das heißt optimierende Individuen sind (bei bestimmten Präferenzstrukturen) dazu veranlasst, andere Präferenzen anzugeben, als sie tatsächlich 6 haben. Die besondere Dramatik ergibt sich bei dieser Strategieanfälligkeit daraus, dass damit eine umfassende Instabilität kollektiver Entscheidungsfindung heraufbeschworen wird. Die Individuen geben andere Präferenzen ein als sie haben, in der Annahme, dass andere Individuen bestimmte Präferenzen haben; diese wiederum geben in Erwartung solcher Art strategischen Wahlverhaltens andere Präferenzen ein als sie tatsächlich haben. Dabei entsteht ein iterativer Prozess wechselseitiger Bezugnahme, der in der Regel keinen Gleichgewichtspunkt hat. Das heißt, diese wechselseitigen Bezugnahmen je individuell optimierender Wahl- oder Abstimmungsbeteiligungen konvergieren nicht zu einem bestimmten Wahlverhalten, für das gilt, dass keines der beteiligten Individuen das gewünschte kollektive Entscheidungsergebnis am besten erreicht, wenn es bei dieser Präferenz, bei dieser Wahl bleibt. 7 Diese Instabilität ist eine Eigenschaft aller kollektiven Entscheidungsverfahren, auch solcher, die für demokratische Entscheidungen wesentlich sind, wie die einfache Mehrheitsentscheidung. De facto sind Individuen gerade in Situationen kollektiver Entscheidungsfindung keine optimierenden Monaden. Die zentrale Vorkehrung gegen die beschriebene weitreichende Instabilität kollektiver Entscheidungsverfahren ist die Praxis der Deliberation. Individuen bringen Gründe vor und es wird erwartet, dass sie Gründe vorbringen für ihre politischen Präferenzen. Diese Praxis des Gründegebens und Gründenehmens ist mit je punktueller Optimierung unvereinbar, denn sie würde bei je punktueller Optimierung als ganze kollabieren. Man kann sich das klarmachen, indem man die normative

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Dieses „tatsächlich" ist im Rahmen der entscheidungstheoretischen Begrifflichkeit problematisch, da Präferenzen aufgrund manifesten Entscheidungsverhaltens zugeordnet werden; es also für „wahre" und „vorgebliche" Präferenzen kein Unterscheidungskriterium gibt. Dies verweist allerdings auf eine grundlegende philosophische Problematik des uniformen Präferenzbegriffs, mit der ich mich immer wieder auseinandergesetzt habe, vgl. Nida-Rümelin (2005a, Teil I, bes. §§ 9 und 16) sowie Nida-Rümelin/Kern (1994, Kap. 8) und Nida-Rümelin (1997, Kap. 7).

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Vgl. die Ergebnisse in einer Zwei-Personen-Welt mit interpersonell vergleichbaren, quantitativen Bewertungsfunktionen, also unter informationell günstigen Bedingungen: Nida-Rümelin/Schmidt/ Münk (1996).

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Verfasstheit jeder Sprachgemeinschaft herausarbeitet, was wir hier nicht nachzeichnen können. Jedenfalls haben unsere Äußerungen im Rahmen sprachlicher Institutionen Bedeutung; sie werden für andere nur vor dem Hintergrund geteilter Normensysteme verständlich. Dies gilt für die spezifische Bedeutung einzelner sprachlicher Ausdrücke, die durch Sprechakte und die Institutionen, die diese Sprechakte ausmachen (konstituieren), bestimmt sind, und für die Abhängigkeit von Bedeutung generell von Prinzipien, deren Kern die Regeln der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens und der Verlässlichkeit bilden (NidaRümelin 2001, Kap. 6). Kommunikation kann nur stattfinden, wenn die Sprecher wahrhaftig sind, die Adressaten Vertrauen haben und die Äußerungen verlässlich sind. Sprachliche Ausdrücke können eine stabile, allen gemeinsam vertraute Bedeutung nur solange haben, als ihr Gebrauch spezifischen Regeln folgt, der in der Sprechakt-Theorie 8 näher beschrieben wird. Dass bedeutungsvolle Rede ohne Äußerungen mit spezifischer Bedeutung nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Insofern ist diese Trennung zwischen allgemeiner Bedeutungshaftigkeit und spezifischer Bedeutung einer Äußerung künstlich, aber für die philosophische Analyse dennoch sinnvoll. Es ist wichtig zu sehen, dass beides, die konstitutiven normativen Einstellungen, die eine Sprachgemeinschaft erst möglich machen, und die konkrete Redepraxis jeweils normativ verfasst sind. Die Konformität mit den bedeutungsspezifischen Regeln einer sprachlichen Institution, wie etwa der des Versprechens, ergibt sich nicht aus je individueller und punktueller Optimierung der Sprecher. In diesem Punkt hat Jürgen Habermas Recht: Kommunikative Rationalität unterscheidet sich grundlegend von strategischer Rationalität, um dessen Terminologie zu gebrauchen 9 (Habermas 1981). Es war ursprünglich David Lewis, der darauf hingewiesen hat, dass eine Sprachgemeinschaft ohne die Konventionen der Wahrhaftigkeit und des Vertrauens unmöglich, undenkbar sei (Lewis 1983). Interessanterweise aber versucht Lewis diese beiden normativen Prinzipien so zu interpretieren, dass sie als Konventionen in dem von ihm definierten Sinne (Lewis 1969) gelten können und gerade darin liegt ein zentraler Irrtum der von ihm mitrepräsentierten intentionalistischen Semantik. Es ist ein Irrtum zu meinen, dass die jeweilige Regelkonformität je individuell und punktuell im Eigeninteresse sei. Zutreffend ist, dass jeder ein Interesse daran hat, dass diese Regeln von allen befolgt werden, das heißt vorzugsweise von allen anderen außer ihm selbst. Die n-PeTsonen-Prisoner's-Dilemma- Struktur normativer Regeln gilt auch im Falle derjenigen Regeln, die eine Sprachgemeinschaft konstituieren. Es sind keinerlei nachvollziehbare Gründe erkennbar, warum gerade hier ein Ausnahmefall bestehen sollte. Für alle normativen Regeln gilt, dass das jeweilige individuelle Eigeninteresse ein hinreichendes Maß an Abweichungen von dieser Regel rechtfertigen würde, um diese Regel selbst ihrer Geltung, ihrer allgemeinen Verbindlichkeit, ihrer strukturierenden normativen Kraft zu berauben. Wie jede andere kulturelle Gemeinschaft ist auch die Sprachgemeinschaft normativ verfasst.

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Vgl. die im Wortsinne grundlegende Darstellung von Austin ( 1962): How to Do Things with Words. Es gibt eine interessante und bislang wenig beachtete Konvergenz zwischen Habermas'scher Diskurs-Theorie und intentionalistischer Semantik, die in der gemeinsamen Frontstellung gegen den logischen Behaviorismus und in der transzendentalen Rolle normativer Regeln ihren Ausdruck findet.

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Daraus ergibt sich eine wichtige politikphilosophische Konsequenz: Sofern Begründungen in der kollektiven Entscheidungsfindung eine Rolle spielen, sofern also kommunikative Verständigung die Ergebnisse der kollektiven Entscheidungsfindung beeinflusst, kommen normative Regeln ins Spiel, die diese Verständigungspraxis erst ermöglichen. Diese Regeln aber generieren zugleich ein gewisses Maß an Stabilität, sie wirken der je punktuellen Optimierung und ihrer destabilisierenden Rolle entgegen. Mit dem Vorbringen von Gründen legt sich der Sprecher fest. Man könnte soweit gehen und von einer Identifikation sprechen; der Sprecher legt sich als politische Person dadurch fest, dass er Position bezieht und dafür Gründe nennen kann. Dies schließt nicht aus, dass er am Ende unwahrhaftig abstimmt, sofern die Abstimmung geheim bleibt, dass er den von ihm selbst vorgebrachten Gründen nicht folgt und anders entscheidet. Wenn diese Abstimmung jedoch öffentlich ist, wie dies in allen Entscheidungen etwa des Deutschen Bundestags - außer bei Personalentscheidungen - der Fall ist, dann ist dieser Rückfall in die je individuelle und punktuelle Optimierung verbaut. Die vorgebrachten Gründe legen den Sprecher auf ein bestimmtes Abstimmungsverhalten fest, andernfalls würde er sich unglaubwürdig machen. Er würde unverständlich und als Interaktions- und Kooperationspartner in politischen Angelegenheiten ausfallen. Eine Demokratie ohne Deliberation ist in einem fundamentalen, vom Strategietheorem belegten Sinne instabil. Eine deliberative Demokratie garantiert keine Stabilität, aber die konstitutiven Regeln der politischen Verständigung beschränken die je punktuelle Optimierung im Sinne strategischen Wahlverhaltens und reduzieren damit die daraus resultierende Instabilität. Auch der Kantische Akteur, also derjenige, dessen Abstimmungsverhalten sich am Kategorischen Imperativ orientiert, der nur nach solchen Maximen entscheidet, die sich zu einem universellen Gesetz verallgemeinern lassen, von denen er also wünschen kann, dass sie allgemein befolgt werden, ist ein Stabilitätsanker. Es kann mit spieltheoretischen Mitteln gezeigt werden, dass Kooperation nur dann sozial stabil ist, wenn ein Teil der Akteure kantisch agiert, das heißt auch dann kooperiert, wenn sie nicht erwarten können, dass die anderen ebenfalls kooperieren. 10 Der Kantische Akteur verlagert die stabilisierende Rolle der Kommunikation in seine eigene Person, indem er sich nur solche Maximen, nur solche subjektive Handlungsregeln zu eigen macht, die verallgemeinerbar sind. Der Kantische Akteur hat allerdings das Problem der Unterbestimmtheit. Es ist keineswegs gesagt, wie offenbar Immanuel Kant annahm, dass die Auswahl einer verallgemeinerbaren Maxime hinreichend bestimmt ist, um auszuschließen, dass unterschiedliche, je verallgemeinerbare Maximen gefunden werden, die miteinander unvereinbar sind. Der Verallgemeinerungstest ist eine notwendige und keine hinreichende Bedingung stabiler Interaktion. Hier scheint die Kritik am monologischen Charakter der Kantischen Ethik berechtigt zu sein. Der Verallgemeinerungstest von Maximen allein reicht nicht hin; er schließt lediglich solche Maximen aus, die, verallgemeinert logisch unmöglich oder jedenfalls nicht wünschenswert erscheinen."

10 Dies ist ein interessantes und weithin unbeachtet gebliebenes Ergebnis von Kondo (1990). 11 Kant selbst erläutert dieses Kriterium der mangelnden Wünschbarkeit über anthropologische Merkmale, das heißt menschenspezifische und innerhalb der menschlichen Spezies verallgemeinerbare

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Die Habermas'sche Diskursethik ist insofern in der Tat eine Fortentwicklung Kantischer Ethik, als sie die Geltung nicht an individuelle Prüfung, sondern an allgemeine Akzeptabilität bindet. Im Gegensatz zur Hegel'sehen und generell zu kulturalistischen Konzeptionen ist diese Akzeptabilität jedoch nicht das Ergebnis der jeweiligen spezifischen kulturellen Kontexte, sondern rational begründet. Ich sehe nicht den diskursethischen Ansatz als solchen, sondern den Versuch, das Gesamt der Moralität auf diskursethische Normen zu reduzieren, als problematisch an. Der Mensch ist nicht deswegen ein moralisches Tier, weil er zur Kommunikation befähigt ist, und die moralischen Prinzipien ergeben sich nicht aus dieser spezifischen Fähigkeit allein. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Kommunikation, die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft verlangt die Befolgung normativer Regeln und damit ist die individuelle und punktuelle Optimierung überall dort, wo Verständigung stattfindet, wo Gründe ausgetauscht werden, restringiert. Moralität wird in dieser Perspektive in Kantischem Geiste zur Beschränkung pragmatischer Imperative. Aber hier endet die Geschichte nicht, sie beginnt vielmehr. Es ist die ganze Vielfalt sprachlicher Institutionen, die spezifische Normativität generiert, und der Respekt, den wir voreinander als autonome, oder auf Autonomie angelegte Wesen haben, impliziert weitere normative Postulate, die sich nicht auf den homo communicans reduzieren lassen. Wir nehmen Rücksicht darauf, dass Menschen leiden können, dass sie Schmerzen und Kränkungen wahrnehmen und a limine ihre Selbstachtung verlieren können (Nida-Rümelin 2005b, Kap. 5).

II Dies leitet über zur zweiten These meines Beitrags: Liberalität als Grundlage demokratischer Selbstbestimmung verlangt nach deontologischen Akteuren. Wir stützen uns dabei auf ein zweites zentrales Ergebnis der collective choice-Theoñz, das Liberale Paradoxon, das Amartya Sen, der spätere Nobelpreisträger für Ökonomie 1970 publizierte. Dieses Theorem lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt kein kollektives Entscheidungsverfahren, das nicht bei bestimmten Verteilungen individueller Präferenzen zu einem Konflikt zwischen Individualrechten und kollektiver Optimierung fuhrt. Individualrechte werden dabei minimalistisch eingeführt: Jedes Individuum sollte über mindestens eine Entscheidungsalternative frei, das heißt unabhängig davon, welche Präferenzen andere Individuen haben, entscheiden können. Kollektive Optimierung wird über das Pareto-Prinzip definiert, wonach eine Alternative vorzuziehen ist, die alle vorziehen, für die es also eine einstimmige Präferenz gibt. Da das Kriterium kollektiver Rationalität in diesem Falle Einstimmigkeit ist, also alle zustimmen müssen, damit etwas kollektiv vorgezogen wird, scheint ein Konflikt mit Individualrechten, die ebenfalls auf individuellen Präferenzen beruhen, ausgeschlossen zu sein. Tatsächlich ist das, wie Amartya Sen gezeigt hat, nicht der Fall. Und insofern ist dies auch ein schönes Beispiel dafür, dass formale Methoden in der politischen Philosophie Erkenntnisse ermöglichen, Wünsche, wie an seiner ethischen Kritik des traditionalen Suizids, der Bilanz-Selbsttötung, deutlich wird (Kant 1785, 42lf.).

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die ohne diese kaum zu erreichen sind. Nun gibt es Menschen, die auch komplexe logische Zusammenhänge rasch intuitiv erfassen, ohne zu den Mitteln der formalen Sprachen, wie sie in der mathematischen Logik und der Mathematik (auch in der theoretischen Ökonomie oder Physik) entwickelt wurden, zu greifen. Solche intuitiven Einsichten weniger können aber erst dann in den wissenschaftlichen Diskurs einfließen, wenn diese in einer Form bewiesen werden, die auch ohne jene spezifische Begabung einsichtig erscheint. Nun muss man zugeben, dass nur eine kleine Minderheit der Geistes- und Sozialwissenschaftler formale Sprachen hinreichend beherrscht, um die einzelnen Beweise nachvollziehen zu können. Hier gilt also, wie anderswo, das Prinzip Vertrauen. Wenn ein Beweis von Fachleuten der Logik und Mathematik als korrekt anerkannt ist, dann darf das bewiesene Theorem in das disziplinare Allgemeinwissen einfließen. Im Falle des Sen-Theorems ist der Beweis kurz und durchsichtig, während der Beweis des zuvor dargestellten Theorems der universellen Strategieanfälligkeit relativ aufwendig ist. Eine genauere Analyse zeigt, dass diese beiden Unmöglichkeitstheoreme geradezu entgegengesetzte Voraussetzungen haben. Während die Strategieanfalligkeit von jeder Form der Aggregation individueller Präferenzen zu einer kollektiven Entscheidung annimmt, dass Individuen individuell und punktuell optimierend handeln und damit einem Postulat des rational-cho¡ce-Paradigmas entsprochen wird, hat das liberale Paradoxon gerade die entgegengesetzte Voraussetzung. Die besonderen Präferenzen, die nämlich zu einem Konflikt zwischen individuellen Rechten einerseits und kollektiver Rationalität andererseits fuhren, können nicht eigenorientierte, an der Optimierung des eigenen Wohls ausgerichtete Präferenzen sein. Die individuellen Präferenzen, die diesen Konflikt erst heraufbeschwören, kann man - kritisch - als intervenierende bezeichnen, da sie sich auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Interessen anderer Personen beziehen, was manche Interpreten zu der Forderung verleitete, Präferenzen dieser Art aus der Aggregation auszuschließen, sie gewissermaßen als unzulässig zu brandmarken. Wenn diese Präferenzen in der politischen Entscheidungsfindung jedoch keine Rolle spielen dürften, dann wären ethisch oder auch bürgerschaftlich (republikanisch) motivierte Präferenzen ebenfalls auszuschließen. Die Forderung, intervenierende Präferenzen aus der Aggregation herauszunehmen, um das liberale Paradoxon zu umgehen, läuft also auf die Entsittlichung der Republik hinaus, um die Terminologie Jean-Jacques Rousseaus zu gebrauchen, der die Republik als sittliche Körperschaft bezeichnet (Rousseau 1762). Man muss sich hier darüber im Klaren sein, dass auch das Einstimmigkeitsgebot des Rousseau'sehen contrat social das liberale Paradoxon nicht irrelevant machte. Es ist die wechselseitige Rücksichtnahme und der Versuch Ziele zu realisieren, die im angenommenen Interesse anderer Personen sind, die dieses Paradoxon heraufbeschwören. Wechselseitige Bezugnahme ruft Präferenzen hervor, die, sofern sie durch individuelle Freiheitsrechte geschützt sind und insofern sie in die kollektive Entscheidung einfließen sollen, mit kollektiver Rationalität im Sinne des Pareto-Prinzips unvereinbar sind. Aus diesem Befund ergibt sich aber zugleich eine Lösungsstrategie: Die Präferenzen, die auf die Erfüllung der Interessen anderer Personen gerichtet sind, sollten nicht durch Individualrechte geschützt werden. Sie dürfen in die kollektive Entscheidung, also in die Aggregation einfließen. Die Individualrechte schränken den Bereich des kollektiv zu Entscheidenden ein, sie legen fest, was überhaupt in die politische Sphäre gehört und

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was in der Sphäre privater Entscheidungskompetenz bleiben soll. Diese Zweistufigkeit der Aggregation entspricht der zentralen Einsicht des philosophischen und politischen Liberalismus, dass Privates und Öffentliches zu trennen ist. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass eine einzige liberal gesinnte Person ausreicht, um den Konflikt zwischen kollektiver Rationalität und individueller Freiheit, in der Form, wie er vom Sen-Theorem präsentiert wird, zu beheben (Nida-Rümelin/Kern 1994, Kap. 11). Eine liberale Gesellschaft verlangt eine Kultur des Respekts, die sich unter anderem darin äußert, dass die einzelne Person bereit ist, nicht nur auf eigene Vorteile, sondern auch auf kollektive Vorteile zu verzichten, um individuelle Freiheitsspielräume zu wahren. Die Beachtung und Realisierung individueller Rechte ist in vielen Fällen kollektiv irrational, wir müssen nicht intervenierende Präferenzen zurückdrängen, sondern eine Haltung der Rücksichtnahme kultivieren. Das in medienethischen Debatten beliebte Argument, es gebe eben ein öffentliches Interesse am Privatleben eines Prominenten und dieses rechtfertige Nachstellungen und Bloßstellungen, unterhöhlt diese für eine liberale Gesellschaft so wesentliche Kultur des Respekts. Im Rückgriff auf die Logik kollektiver Entscheidungen formuliert: Das hohe Gut ökonomischer Vorteile, allgemeiner das Prinzip der ParetoEffizienz, ist gegenüber der je individuellen Autonomie nachrangig. Die bei den MarktRadikalen so beliebte These, dass individuelle Freiheit zu ökonomischer Effizienz führe, lässt sich bei genauer Analyse nicht aufrechterhalten. Es gibt einen Konflikt zwischen individueller Freiheit und kollektiver Rationalität. Dieser Konflikt lässt sich nur durch Dispositionen und Regeln lösen, die kollektive Rationalität, das kollektiven Entscheidungen anheim Gestellte, zugunsten individueller Freiheit einschränken. Das, wenn man so will, Paradoxe der liberalen Gesellschaft ist, dass sie politische Selbstbestimmung, die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch politische Praxis auf das Prinzip individueller Autonomie gründet, individuelle Freiheitsrechte in das Zentrum der normativen Ordnung des Politischen stellt, und damit das der kollektiven Entscheidung Überlassene durch kollektive Entscheidung, durch Verfassungsprinzipien und Gesetze, aber auch durch die allgemeine tägliche Praxis beschränkt.12 Kollektive Selbstbestimmung kann es nicht in Gestalt einer Aggregationsregel geben - und sei es die der Mehrheitsentscheidung der parlamentarischen Demokratie. Kollektive Selbstbestimmung, dies scheint mir eine zwingende Schlussfolgerung zu sein, hat die Form eines umfassenden normativen Konsenses. Jede legitimierende Entscheidungsregel kann zu einem Bestandteil dieses Konsenses werden. Als solche spielt sie dann für kollektive Selbstbestimmung eine Rolle. Erst dieser grundlegende Konsens verschafft ihr eine normative Kraft. Das oben diskutierte Strategie-Theorem macht allerdings deutlich, dass

12 Diese Problematik lässt sich in ethischer Terminologie als der Konflikt konsequentialistischer und deontologischer Normativität reformulieren. Der utilitaristische Liberalismus von John Stuart Mill oder Adam Smith instrumentalisiert Regeln für das kollektive Gute und ist, ohne dies selbst zu wollen, gegen die totalitäre Logik der umfassenden Instrumentalisierung nicht gefeit. Der deontologische Liberalismus des Kantischen Typs macht das Instrumentalisierungsverbot zum normativen Zentrum und gerät dafür, konsequent zu Ende gedacht, in Konflikt zur liberalen Marktordnung, wie der Kathedersozialismus Kantischer Prägung des 19. Jahrhunderts (Hermann Cohen, Paul Natorp, auch Leonard Nelson) deutlich macht.

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selbst solche Regeln politischer Entscheidungsfindung, die Teil eines normativen Konsenses sind, nur dann politische Stabilität garantieren können, wenn die abstimmenden und wählenden Individuen auch in dieser Rolle, nicht nur als Teil der Konsens stiftenden „sittlichen Körperschaft" Demokratie, sondern auch als engagierte Bürger im Konflikt um politische Projekte und Kandidaten deontologische Akteure bleiben und auch im Wahlakt nicht zur optimierenden Monade der marktradikalen Utopie werden. Selbstbestimmung wird von Volker Gerhardt als die Fähigkeit definiert, aus eigenen Gründen zu handeln (Gerhardt 1999), und Autonomie als die der Selbstlegitimation nach eigener Gesetzgebung. Kollektive Selbstbestimmung ist demnach die Fähigkeit eines Kollektivs, aus eigenen Gründen zu handeln, und kollektive Autonomie, sich selbst die Gesetze des kollektiven Handelns zu geben. Wie wir gesehen haben, lässt sich rationales kollektives Handeln nicht über die bloße Aggregation individueller Präferenzen erreichen. Es bedarf eines deontologischen Konsenses, einer Verständigung auf Regeln, die kollektive Selbstbestimmung erst ermöglichen. „Partizipation als Prinzip der Politik" (Gerhardt 2007), Teilhabe an kollektiven Entscheidungen verlangt nach einem tiefer liegenden Konsens über diejenigen Regeln, nach denen die Legitimität kollektiven Handelns bestimmt wird. Das Akzeptieren dieser Regeln konstituiert die politische Gemeinschaft, die Möglichkeiten der Partizipation und im Erfolgsfall die kollektive Selbstbestimmung.

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Semantischer Retributivismus Eine freiheitsrechtliche Verteidigung des Vergeltungsprinzips

„Dieser oberflächliche Charakter eines Uebels wird in den verschiedenen Theorien über die Strafe, der Verhütungs-, Abschreckungs-, Androhung-, Besserungs- u.s.w. Theorie, als das Erste vorausgesetzt, und was dagegen herauskommen soll, ist ebenso oberflächlich als ein Gutes bestimmt. Es ist aber weder bloß um ein Uebel, noch um dies oder jenes Gute zu tun, sondern es handelt sich bestimmt um Unrecht und um Gerechtigkeit." (Hegel 1821/1995, §99, Zusatz)

Strafphilosophische Begründungsargumente sind nicht von eigener Art. Die Strafethik ist keine Sonderethik mit einem eigenständigen, nur regional gültigen Prinzipienhorizont. Strafethische Argumente sind bereichsspezifische Anwendungen und Variationen von Argumentationsmustern und Rechtfertigungsformaten, die in umfassenderen, allgemeineren und darum systematisch übergeordneten normativen Diskursen entwickelt worden sind. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn in der strafethischen Spezialdiskussion sich dieselben Konfliktlinien zeigen, die auch den grundsätzlichen moralphilosophischen Theorienwettbewerb strukturieren. Derselbe meta-ethische Dualismus, der die moralphilosophischen Bemühungen in deontologisch fundierte und teleologisch ausgerichtete teilt, prägt auch die rechtsphilosophische Auseinandersetzung um Legitimität und Sinn der Strafe. Strafethiken sind entweder deontologischer Natur oder teleologischer Natur, begründen die Legitimität des Strafens entweder in deontologischen Bestimmungen des Rechts und der Moral oder in allgemein vorzugswürdigen Zwecken. Für deontologische Theorien ist Strafe selbst eine rechtlich notwendige, intern normativ verfasste Handlung. Für teleologische Theorien ist Strafe lediglich ein Mittel, ein Instrument. Daher werden diese beiden Konzeptionen auch seit Beginn in rechtsphilosophischen Typologien als absolute und relative Strafrechtstheorien voneinander unterschieden (vgl. Welcker 1813, 197-249). Früher bezeichnete man deontologische Theorien der Strafethik als Theorien der Vergeltung, da sie den Grund der Strafnotwendigkeit in der Rechtsverletzung erblickten. Da der Begriff der Vergeltung jedoch bei vielen die Assoziation moralischer Unzulässigkeit weckt, weil er in ihren Augen den Unterschied zwischen Rache und Strafe, zwischen der ,wilden Gerechtigkeit' 1 und der zivilisierten Gerechtigkeit einzuebnen 1

„Die Rache ist eine Art von wildwachsender Gerichtsbarkeit." (Bacon 1625/1970, 14 [„Über die Rache"]). Zur gegenwärtigen Diskussion über die Rache als eine moralisch legitime Vergeltungshandlung vgl. French 2001.

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droht, darum auch den strafrechtlichen Abolitionisten in die Hände spielt, hat man sich hierzulande den englischen Terminus „retributivism" ausgeborgt und spricht häufig anstelle von Vergeltungstheorien von retributiven Straftheorien und von Retributivismus (vgl. Wolf 1992). Teleologische Straftheorien wollen nicht Vergeltung, sondern dienen der Prävention. Nicht der normativen Antwort auf den Rechtsbruch gilt ihr Interesse, sondern der Verhinderung zukünftiger Rechtsbrüche durch Abschreckung oder Besserung. Soll die Strafe vordringlich den Täter selbst von einer Verbrechenswiederholung abbringen und zur Befolgung der Gesetze veranlassen, dann haben wir es mit einem spezialpräventiven StrafVerständnis zu tun. Wird der Hauptzweck der Strafe hingegen in einer allgemeinen Abschreckung erblickt, dann haben wir es mit einer generalpräventiven Strafkonzeption im negativen Sinne zu tun. Erblickt man die generalpräventiven Strafwirkungen jedoch eher in einer Festigung des Rechtsbewusstseins, einer Bekräftigung des Vertrauens der Bürger in die Fähigkeit des Staates, das Recht durchzusetzen und den gesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen, dann haben wir es mit einer Generalprävention im positiven Sinne zu tun. Es ist evident, dass dieser Wechsel der Strafzweckbestimmung weitreichende Konsequenzen hat. Mit dem Übergang von der negativen zur positiven Prävention ändert sich das anthropologische Fundament der Straftheorie. Der Abschreckungstheoretiker stützt seine Argumentation auf das Menschenbild der Rationalwahl. Die Strafe soll nach seinem Kalkül dafür sorgen, dass der homo oeconomicus den Rechtsbruch vernünftigerweise nicht mehr als Handlungsoption betrachten kann. Der Anhänger der positiven Generalprävention hingegen geht von der empirisch sicherlich richtigen Annahme aus, dass die Gesetzestreue der Bürger sich nicht einer Nutzen-Kosten-Rechnung verdankt, sondern in erworbenen Einstellungen, Üblichkeitsüberzeugungen und Handlungsselbstverständlichkeiten begründet ist, die ihrerseits Erwartungen enthalten, die befriedigt werden müssen, um den Fortbestand des Rechtsbewusstseins und die gesellschaftliche Kohärenz zu sichern.2 Die disjunktive Schroffheit dualistischer Positionen ist stets als Herausforderung betrachtet worden, nach Vermittlungsmöglichkeiten zu suchen. Auch auf dem Gebiet der Straftheorie finden sich Vertreter von Vereinigungstheorien, die die Stärken der beiden Extreme miteinander verknüpfen wollen. In der Tat scheint es eine wenig plausible Annahme zu sein, dass eine so komplexe, unterschiedlichste Wirklichkeitsbereiche verklammernde gesellschaftliche Praxis wie der Strafvollzug einen monistischen Zugang gebietet. Bereits bei der moralischen Beurteilung von Handlungen empfiehlt es sich doch, unterschiedliche Betrachtungsperspektiven miteinander zu kombinieren und durch kluge Urteilskraft auszubalancieren. „Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der andere: die Handlungen aus den Folgen beurtheilen, und sie zum Maaßstabe dessen, was recht und gut sey, zu machen - ist Beides gleich abstrakter Verstand." (Hegel 1821/1995, § 118, Zusatz) Es liegt nahe, im Sinne dieser Einsicht Hegels auch auf dem Feld der Strafrechtsphilosophie die Extreme zu versöhnen und 2

Deswegen betrachtet Welcker auch das Verbrechen als einen „intellectuellen Schaden", der zu einer vertrauenspsychologischen Verstörung fuhrt, die nur durch den Wiederherstellungseffekt der Strafe beruhigt werden kann (Welcker 1813, 251); zur welckerschen Strafkonzeption vgl. Pawlik 2004, 59ff.

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eine „Vereinigungstheorie" zu entwickeln, die alle Strafzwecke als gleichermaßen verfolgenswert behauptet und ihre Harmonisierung und fallbezogene Konkretisierung der Urteilskraft der am Strafvollzug beteiligten Personen überlässt (vgl. Schmidhäuser 1971, 28-29; Jakobs 1998, 29-40). Freilich ist solches Vorgehen problematisch. Wenn man etwa den Kriminalitätsbereich spaltet und etwa wie Wolfgang Naucke ein „eng begrenztes, zweckfreies hartes Vergeltungsstrafrecht" fur den Kernbereich der Schwerkriminalität und „ein relatives, nur auf Zwecke gegründetes und nur aus Zwecken begründbares Strafrecht" fur alle übrigen Straftaten vorsieht (Naucke 1964, 210), gibt man eine einheitliche Strafbegründung preis. In diesem Vorschlag verbinden sich unterschiedliche Intuitionen zu einer falschen begründungsphilosophischen Schlussfolgerung. Es scheint ein vernünftiger Grundsatz der Strafbemessungsgerechtigkeit zu sein, tatproportional zu strafen und daher schwere Straftaten mit härteren Strafen zu belegen. Es scheint auch so zu sein, dass gerade bei schweren Straftaten unser Vergeltungsbedürfnis sich meldet und dass dieses Vergeltungsbedürfnis durch keinerlei utilitaristische Überlegungen zu bestechen ist. Leichtere Straftaten hingegen lösen bei all ihren negativen Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, auf das routinierte Funktionieren der unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsysteme nicht diese moralische Empörung aus. Die unmittelbar Geschädigten verlangen zwar Genugtuung, Entschädigung, Bestrafung der Übeltäter, aber diese Taten führen bei Nicht-Betroffenen nicht zu heftigen moralischen Reaktionen. Hier regt sich in der Regel nicht das Gefühl, dass die moralische Welt aus den Fugen geraten könnte, wenn hier nicht eine strenge Vergeltungsstrafe verhängt wird. Nur hat all das keinerlei Bedeutung fur das Problem der Strafbegründung. Denn diese muss kohärent sein und daher notwendigerweise mit einem semantisch eindeutigen Grundvokabular operieren. Wenn es jedoch bei dem einen Teil der Strafen auf die retributive Wirkung ankommt, bei dem anderen hingegen Präventionszwecke zu verfolgen sind, dann erhalten wir ein äquivokes Grundvokabular, gerät die Gesamttheorie in semantisches Zwielicht. Strafe ist nicht mehr gleich Strafe, Verbrechen nicht mehr gleich Verbrechen, Recht nicht mehr gleich Recht. Denn einmal - in der retributiven Hälfte der Vereinigungstheorie - sind Recht, Verbrechen und Strafe normative Begriffe, die aufeinander verweisen, das andere Mal - in der präventionsorientierten Hälfte der Vereinigungstheorie - verwandelt sich das Recht in ein System anerkannter Koordinationsregeln, wird aus dem Unrecht eine Schädigungshandlung und aus der Strafe ein auf positive Wirkungen hin auszurichtendes Übel. Die Vereinigungstheorie vereinigt nicht; in ihren beiden Teilen wird eine verschiedene Sprache gesprochen. Die Vorstellung, schwere Strafen anders als leichte zu begründen, ist philosophisch also völlig abwegig. Als Begründungstheorie ist die Vereinigungstheorie ein verfehltes Unternehmen. Als Strafgestaltungstheorie hingegen kann man sie akzeptieren. Denn keinesfalls, wir werden das weiter unter sehen, schließt etwa eine retributive Strafrechtsbegründung die Verfolgung präventiver Zwecke aus. Die Philosophen haben stets gewusst, dass mit dem Begründungsargument die Modalitäten der empirischen Strafgestaltung nicht festgelegt sind, dass gerechtfertigtes Strafen auch kluges Strafen sein darf, das die Auswirkungen der Strafe auf den Gesetzesbrecher wie auf die Gemeinschaft der Bürger mit in Betrachtung nimmt. Nur dürfen sich diese instrumentalistischen Erwägungen keinerlei be-

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gründungstheoretische Autorität anmaßen. Strafphilosophische Vereinigungstheorien sind also entweder falsch oder redundant: Falsch sind sie, wenn sie meinen, die beiden einander ausschließenden Begründungsweisen des Retributivismus und des Präventionismus in einer kohärenten Theorien zusammenfügen oder durch eine Teilung des Gegenstandsbereiches - schwere Delikte, leichte Delikte - nebeneinander stellen zu können. Ist das Verbrechen Unrecht, das das Recht außer Geltung setzt, dann ist es unabhängig davon, ob es ein schweres Delikt oder ein leichtes Delikt ist, Unrecht. Und hängt der Grund der Strafe wesentlich damit zusammen, dass das Verbrechen Unrecht und nicht eine Übelszuiugung ist, dann ist ein schweres Delikt aus den gleichen Gründen zu bestrafen wie ein leichtes Delikt. Und redundant sind sie, weil der Retributivismus der Strafbegründung mit kluger Strafgestaltung durchaus vereinbar ist. Mehr noch: Er ist nicht nur mit kluger Strafgestaltung vereinbar, er ist von ihr abhängig, denn aus den Begründungsszenarien des Retributivismus ist keinerlei inhaltlicher Anhaltspunkt für die Strafgestaltung zu gewinnen. Allenfalls lässt sich das Prinzip der Tatproportionalität aus den vergeltungstheoretischen Prämissen gewinnen, aber auch dieses ist formal und begründet lediglich ordinale Korrelationen. Da aber nun aus den Begründungsargumenten keinerlei Kriterien inhaltlicher Strafgestaltung zu entnehmen sind, bedarf es empirisch zustimmungsfahiger und kontrollierbarer Zwecke, an denen sich die Strafgesetzinhalte ausrichten können. Insofern ist jede retributive Strafbegründungstheorie selbst immer schon eine Vereinigungstheorie: Ohne eine rational überprüfbare empirische Strafrechtsgestaltung kann das Verständnis legitimen Strafens nicht rechtliche Wirklichkeit werden. Es ist - das sei noch einmal betont - nur darauf zu achten, dass der Strafpragmatismus nicht grundsätzliche Strafbegründungsaufgaben übernimmt und die Zwecke empirischer Strafgestaltung als Strafgründe ausgibt: Dann würde er den normativen Begründungsrahmen sprengen, und Recht, Verbrechen und Strafe würden ausschließlich aus der reduktionistischen Perspektive sozialtechnologischer Optimierung betrachtet.

I. Zur Kritik rationaler Strafbegründung Präventionstheorien der Strafe werden häufig als utilitaristische Straftheorien bezeichnet. Aber das ist ungenau. Natürlich ist die Straftheorie des Utilitarismus eine Präventionstheorie. Aber die insbesondere von gegenwärtigen Anhängern der Präventionstheorie vorgetragene Rechtfertigungsargumentation ist nicht utilitaristisch, sondern kontraktualistisch (vgl. Baurmann 1987; ders. 1990). Und das kontraktualistische Begründungsmodell stützt keinen Utilitarismus, sondern einen Regelegoismus. Das rationale Selbstinteresse wird in kontraktualistischen und regelegoistischen Begründungskontexten in den Rang eines absoluten Rechtfertigungskriteriums erhoben. Nicht dann ist etwas gerechtfertigt, wenn es insgesamt einen größeren Nutzenertrag für die Allgemeinheit verspricht als jede zur Wahl stehende Alternative, sondern wenn es aus der Perspektive des rationalen Individuums vorzugswürdig ist, wenn sich also rationale Egoisten darauf einigen könnten. Dieser Unterschied zwischen utilitaristischer Begründung und regeleogistischer Begründung ist in vielen Fällen nicht erheblich, im Fall der

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Strafe jedoch ist er von Bedeutung. Es ist einsichtig, dass jeder gleichermaßen einen gesellschaftlichen Zustand mit einer effektiven staatlichen Strafgerichtsbarkeit einem Zustand ohne institutionalisierte Strafe vorzieht. Aber nicht minder einsichtig ist es, dass er die Strafe dann nicht mehr akzeptieren wird - und zwar aus den gleichen Gründen, aus denen er der Institution der Strafe im Allgemeinen zustimmt - , wenn sie ihn selbst zu treffen droht. Wir stoßen hier auf eine interessante Variante des Gyges-Problems oder des Schwarzfahrer-Problems. So wenig aus der allgemeinen Vorteilhaftigkeit eines Zustandes, in dem alle sich an die Regel halten, folgt, dass sich jeder einzelne an die Regeln hält, so wenig folgt aus der allgemeinen Billigung der Institution der Strafe, dass der Verurteilte die gegen ihn regelgerecht verhängte Strafe akzeptiert. Dieselbe Rationalität, die der Institution Legitimation verschafft, wird sich im Einzelfall gegen die Befolgung ihrer Regeln immer dann aussprechen müssen, wenn es für das Individuum kostengünstigere Alternativen gibt. Bevor der Verbrecher gefasst wurde, war für ihn die kostengünstigere Alternative zur Befolgung der allseits akzeptierten Regeln das Verbrechen; nachdem er gefasst und rechtskräftig verurteilt wurde, ist für ihn die kostengünstigere Alternative zur Anwendung der allseits akzeptierten Regeln die Straffreiheit. Wie also soll dem Verbrecher gegenüber die gegen ihn verhängte Strafe philosophisch gerechtfertigt werden können, wenn allein die individualistische Rationalität des homo oeconomicus fur Rechtfertigungszwecke zur Verfugung steht? Wenn ein Regelsystem dann gerechtfertigt ist, wenn es den rationalen Egoisten vorzugswürdig erscheint, dann bereitet die Begründung der im Strafrechtsgewand auftretenden Übelszufügung beträchtliche Schwierigkeiten. Da auch regelegoistische und kontraktualistische Begründungstheorien dem rechtfertigungstheoretischen Universalismus verpflichtet sind, da sie also nur das als begründet betrachten dürfen, was gegenüber jedermann begründet werden kann, ist es nicht möglich, die Regelverletzer fur rechtfertigungstheoretisch unerheblich zu erklären und aus der legitimationsverleihenden Gruppe der Zustimmenden auszuschließen. Ihnen muss ein gleiches Zustimmungsrecht eingeräumt werden, sie können nicht zu Instrumenten der Abschreckung, zu Mitteln der Generalprävention verdinglicht werden, die dem Schutz und der Sicherheit der gesetzestreuen Bürger dienen sollen. Die rationalegoistische Strafbegründung scheitert an dem Selbstanwendungstest. Das von ihr zugrundegelegte Rationalitätskonzept führt zu einer legitimen Zurückweisung der Strafe durch alle, die straffällig geworden und rechtskräftig verurteilt worden sind. Daher kann der Strafe das legitimationstheoretische Gütesiegel der postmetaphysischen Moderne, das Prädikat der Betroffenenzustimmung, nicht verliehen werden. Das Selbstanwendungsproblem ist notwendige Konsequenz der Entscheidung, der individualistischen Rationalität alle Begründungslasten aufzubürden. Wenn die Legitimation von Regel und Regelanwendung abhängig gemacht wird von der Übereinstimmung mit individuellen Präferenzen, dann muss strafrechtliche Regelanwendung dem Verurteilten illegitim erscheinen. Nur dann kann Strafe auch gegenüber verurteilten Straftätern gerechtfertigt werden, wenn wir die Strafe nicht mehr instrumenteil, sondern normativ verstehen, wenn die Strafbegründung nicht einer Argumentation der rationalen Vorzugswürdigkeit überantwortet wird, sondern in einen moralsprachlichen Diskurs eingebettet wird, wenn die Strafe nicht als Mittel im Rahmen eines teils teleologischen, teils wir-

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kungskausalen Kontextes begegnet, als Übelzufugung in einer Sequenz von Übelzufugungen gesehen wird, sondern als intern moralisch verfasste Norm und Handlung, als Geltungswiderherstellung, als Geltungsbekräftigung des Rechts.

II. Ökonomismus, positive Generalprävention und semantischer Retributivismus Retributivistische Straftheorien kennen das Selbstanwendungsproblem nicht, denn retributivistische Straftheorien stützen sich auf Konzepte der universalistischen Rationalität. Diese mögen formal-prozeduralistischer, formal-aprioristischer oder substanzialistischer Art sein. Begründungen der universalistischen Rationalität machen anspruchsvollere anthropologische Voraussetzungen als die Rechtfertigungstheorien des rationalen Egoismus. Ihr Protagonist ist die normativ verfasste Rechtsperson, das zu moralischer Einsicht fähige moralische Subjekt. Und an dieses moralische Subjekt im Verbrecher, an diese Rechtspersönlichkeit, die auch der straffällig gewordene Bürger nicht verliert, wenden sich die retributivistischen Straftheorien mit ihren Begründungsargumenten. Diese sind nicht voluntaristischer, sondern explikatorischer Natur. Sie ersuchen nicht die empirischen Präferenzen um Zustimmung, sondern explizieren nur die moralische Verfassung der allen Menschen eigenen Vernunft, die Pflichten und Rechte der rechtsund moraluniversalistischen normativen Ordnung. Ökonomische Begründungen von Regelsystemen und Institutionen fuhren den Nachweis ihrer allgemeinen rationalen Vorzugswürdigkeit. Allgemeine rationale Vorzugswürdigkeit meint: Jeder muss zugestehen, dass es für ihn vorteilhafter ist, seine Interessen in einem geregelten und institutionell gefestigten gesellschaftlichen Zustand zu verfolgen, als in einem natürlichen Zustand der Gesetzlosigkeit. Regeln und Institutionen sind aus der Perspektive des Adressaten dieser Argumentation Instrumente, die mehr oder weniger tauglich sind, die mehr oder weniger pfleglich behandelt werden. Regeln und Institutionen sind aus der Perspektive des Adressaten aber niemals etwas, das einen normativen Gültigkeitsanspruch erheben kann. Im Gegenteil, diese dem common sense vertraute Eigenschaft muss er ausblenden, denn seine Rechtfertigungstheorie vermag diese Eigenschaft nicht abzubilden. Während die moralischen Subjekte durch die Gesellschaft laufen und auf den Regeln das Schild lesen: Du sollst Regeln aufgrund ihrer inneren Verbindlichkeit befolgen, sieht der Rationalegoist nur ein Schild, auf dem steht: Wenn Du diese Regel brichst, wird dir das Nachteile bringen, die jeden Vorteil, den du dir von ihrer Nichtbeachtung versprichst, überwiegen. Der homo oeconomicus ist ein Retortenwesen; sein Biotop ist das Worst-case-Szenario. Die von ihm rechtfertigungstheoretisch verwendete Orientierung an nutzenmaximierenden Handlungsoptionen würde dem lebensweltlich integrierten Normalmenschen ein Reflexions- und Distanzierungspensum abverlangen, das sein Leben unlebbar machen würde. Daher handeln Menschen in der Wirklichkeit in der Regel nicht so, wie sie in den Modellen der ökonomischen Rationalität handeln. Glücklicherweise: Denn, würden sie wirklich nach den Rationalitätsvorschriften dieses Modells handeln, würden sie die

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soziale Kohärenz beträchtlich destabilisierenden Belastungen aussetzen. Ökonomische Rationalisten sind nicht blind: Sie wissen nicht nur, dass die Bürger ihre Gesetzestreue in der Regeln nicht unter einen Interessenvorbehalt stellen, und sie wissen auch, dass die soziale Kohärenz unerträglichen Belastungen ausgesetzt wäre, würden sie ihre Pflichterfüllungsbereitschaft von der Übereinstimmung der Pflicht mit dem je aktuellen Interesse abhängig machen. Damit gerät die Theorie in ein grundlegendes Dilemma: Sie muss froh darüber sein, dass die Menschen nicht nach ihr handeln, weil anders das von ihr Erstrebte nicht zuverlässig erreicht werden kann. Die offenkundig rationale Vorzugswürdigkeit moralischen Handelns muss innerhalb der Theorie selbst abgebildet werden. Damit muss die Theorie sich erweitern und den Erwerb moralischer Eigenschaften als ein rational erstrebenswertes Programm entwickeln. Es ist für den Menschen vorteilhafter, nicht ausschließlich nach Vorteilsgesichtspunkten zu handeln. Man kann diese Einsicht als Ergebnis der erfahrungsbelehrten Selbstreflexion ökonomischer Rationalität verstehen (vgl. Kersting 2000, 145-153). Auch die rationale Strafethik hat an dieser Einsichtsgewinnung teil. Sie wird dann zu einer Theorie der positiven Generalprävention. 3 Theorien der positiven Generalprävention haben reichhaltigere anthropologische Voraussetzungen, stützen sich auf einen komplexeren Gesellschaftsbegriff als die Abschreckungstheorie. Sie sehen den Menschen als lebensweltlich integriertes moralisches Subjekt, das durch ein anspruchsvolleres Anreizsystem in seinen moralischen Dispositionen gestärkt werden soll. Freilich bleibt die Grundfunktion der Strafe erhalten. Auch hier ist die Strafe Übelszufugung mit Wirkabsicht, nur soll diese Wirkung eben der Stabilisierung einer normativ integrierten Bürgerschaft dienen. Nicht mehr Handlungsoptionen sollen mit dem Sanktionssystem der Strafe beeinflusst werden, sondern der Charakter, die Herausbildung von moralischen Einstellungen und Überzeugungen. Letztlich wird durch diese Umstellung des Anreizsystems die Strafe zu einem Durchsetzungsmittel gesellschaftlicher Moral, zu einem Bekräfitigungsmittel der Rechtschaffenheit. Die soziale Integration wurzelt primär in der Anerkennung der Legitimität der Gesetze; diese Anerkennung bewirkt rechtschaffenes Verhalten, nicht das rationale Motiv der Vermeidung der Strafe. Ist im Fall der negativen Generalprävention die Strafe eine Information, die das Optionen abwägende Individuum zur Entscheidungsfindung heranzieht, so ist im Fall der positiven Generalprävention die Strafe sozial kontextualisiert. Die Gesellschaft ist nicht mehr ein Ensemble von Individuen, sondern eine durch die Anerkennung der Gesetze integrierte Gemeinschaft von moralischen Subjekten. Sicherlich ist es richtig, dass nicht nur aus der Perspektive der Moral eine normativ integrierte, durch ein geteiltes Verbindlichkeitsbewusstsein zusammengehaltene Gesellschaft vorzugswürdig ist, sondern dass eine solche moralisch integrierte Gesellschaft nicht zuletzt wegen der Zuverlässigkeit einer moralisch verwurzelten Gesetzestreue auch aus der Perspektive ökonomischer Rationalität vorzugswürdig ist. Eine solche Gesellschaft dann durch ein geeignetes Strafsystem zu festigen, ist daher nur klug. Freilich - und jetzt stoßen wir auf eine fundamentale Inkonsistenz - werden die recht3

Zur gegenwärtigen juristischen Diskussion über diese Form der Generalprävention vgl. Schünemann/von Hirsch/Jareborg 1998; Kalous 2000.

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schaffenen Bürger, gerade weil sie ihre Gesetzestreue auf moralische Überzeugungen stützen, nur das Strafkonzept anerkennen können, das mit diesen moralischen Überzeugungen kompatibel ist. Nicht nur wird damit die Strafe mit der Forderung der Gerechtigkeit konfrontiert, die innerhalb der Präventionstheorie überhaupt nicht formulierbar ist. Sondern das StrafVerständnis selbst muss mit den anthropologischen, personentheoretischen und sozialtheoretischen Voraussetzungen moralischer Subjektivität kompatibel sein. Eine Strafe, die als System einer ökonomisch funktionalen Festigung moralischer Dispositionen und Rechtschaffenheitsroutinen auftritt, wird von einem moralischen Subjekt nie als legitim angesehen werden können. Nur eine moralitätskompatible, gleichsam eine moralisch einheimische Strafkonzeption kann diese erwünschte Wirkung einer Festigung moralischer Einstellungen erzielen. Und so wird diese Wirkung nur dann erzielen, wenn - paradoxerweise - sie sich gerade nicht auf die Herbeiführung dieser Wirkung kapriziert, sondern von aller Wirkung, von allem Zweckgedanken absieht. Anderenfalls würde die Strafe zweckvereitelnd wirken. Bliebe sie das äußere Zwangsinstrument zur Herbeiführung moralischer Dispositionen, würden diese Dispositionen sich zersetzen und durch kluge Anpassungsanstrengungen ersetzt werden. Der Ökonomismus, der Instrumentalismus der Präventionstheorie ist stilbildend; midasartig macht er alles, was er anfasst, zu einem Kostenfaktor. Die Moral, der er - nicht um ihrer selbst willen, nicht in Anerkennung ihrer Verbindlichkeit - hilfreich zur Seite treten möchte, zerstört er; rationale Indienstnahme der Moral beraubt diese ihrer Identität; zum Schluss ist sie nur noch eine Maske im Spiel der Interessen. 4 Ich möchte die Pointe dieses Arguments noch einmal betonen. Wenn ich von der notwendigen Moralkompatibilität einer dem Zweck der Festigung der normativen gesellschaftlichen Integration dienenden Strafe spreche, meine ich nicht, dass die moralischen Überzeugungen der Bevölkerung in der Strafgestaltung berücksichtigt werden müssen. Dazu ist jeder sich der positiven Generalprävention verschreibende Sozialingenieur in der Lage. Mir geht es um das Problem der Strafbegründung. Die Strafbegründung muss moralitätskompatibel sein, muss mit einem Strafverständnis arbeiten, dass mit den moralischen Grundüberzeugungen und ihren unterschiedlichen Voraussetzungen in Übereinstimmung steht. Das fuhrt letztlich zur intellektuellen Selbstaufgabe des Präventionstheoretiker: Um das mit der Strafe zu erreichen, was er glaubt, mit ihre erreichen zu dürfen, zu können und zu müssen, müsste er seine präventionstheoretischen Basisüberzeugungen geheim halten und sich als Retributivist ausgeben. Der Präventionstheoretiker schlüpft in die Rolle des platonischen Philosophenherrschers, dem in bestimmten Situationen der Griff zur medizinischen Lüge erlaubt ist. Er gleicht der Figur des betrügenden Priesters, die wir aus dem ideologiekritischen Fundus der Aufklärung kennen: Dem Volk erzählt er Geschichten, deren Wahrheit er selbst nicht glaubt. Durch diese Doppelzüngigkeit bringt sich diese Theorie freilich um allen Kredit.

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Der Anhänger positiver Generalprävention ist mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert, die jede Theorie rationaler Moralbegründung belastet: Das Begründungsargument erreicht nicht das semantische Niveau des zu Begründenden; der Nachweis der rationalen Vorzugswürdigkeit der Moral verfehlt seinen Gegenstand, da das Selbstverständnis der Moral sich gerade nicht in der Sprache von Vorteil und Nutzen artikuliert (vgl. Kersting 2005 und 2008)

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Es sollte vielleicht auch noch einmal deutlich gemacht werden, dass dieses Argument mit der Retributivismuskonzeption keinerlei inhaltliche Strafgerechtigkeitsvorstellungen verbindet. Die herrschende gesellschaftliche Moral stützt dann ein vergeltungstheoretisches Verständnis staatlichen Strafens, wenn sie Verbrechen und korrelierende Strafe in einem normativen Kontext deutet, beide grundsätzlich rechtsbegrifflich fasst und nicht ausschließlich als Schädigungshandlungen interpretiert. Und diese Bedingung ist so lange erfüllt, wie sich die reduktionistischen Strategien von Physikalismus und Ökonomismus noch nicht kulturell durchgesetzt haben und die Menschen an der traditionellen moralischen Verfassung ihrer Selbstverständigung festhalten. Der Retributivismus ist nicht Ausdruck eines psychologischen Atavismus, nicht Ausdruck von Rachedurst und Vergeltungsbedürfnis, wie Präventionisten und Abolitionisten gern unterstellen, sondern er ist in der normativen Selbstverständigungssemantik der Gesellschaft begründet, notwendige Folge einer kohärenten normativen Betrachtungsweise des Rechts. Wird das Recht nicht als Ansammlung von klugen Koordinationsregeln verstanden, sondern als ein Gesetzeswerk, das einen selbst in transpositiven Prinzipien wie den menschenrechtlichen Grundregeln begründeten Verbindlichkeitsanspruch erhebt und Gehorsam verlangt, dann wird Strafe unweigerlich ebenfalls nur im Horizont einer normativen Interpretation Sinn und Berechtigung bekommen, als notwendige Antwort auf eine Rechtsverletzung, als explizite Vereitelung der verbrecherischen Geltungsanzweiflung des Rechts. Dann ist die Strafe notwendig eine Quia-peccatum-Strak,5 die ihren legitimierenden Grund eben nicht in äußeren wünschenswerten gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern in der moralischen Autorität des durch den Unrechtsakt verletzten und in seinem Gültigkeitsanspruch geleugneten Rechts besitzt. Damit ereilt auch den Anhänger der positiven Generalprävention am Ende die Kritik, mit denen die Vertreter der Spezialprävention und der negativen Generalprävention von Anfang an konfrontiert sind, wenn sie den Präventionszweck nicht lediglich als empirische Orientierung der Strafgestaltung, sondern als Strafbegründungsargument verwerfen. Während die letzteren den semantischen Retributivismus bereits mit dem ersten Zug ihrer Theorie reduktionistisch unterlaufen, die Sprache rechtlicher Verbindlichkeit durch die Sprache der Güter- und Präfenzenabwägung ersetzen, will der Vertreter der positiven Generalprävention aus Klugheitsgründen das Spiel des semantischen Retributivismus spielen, um sich der Integrationskraft intrinsischer wertgebundener Handlungsmotivation zu versichern. Jedoch gehört es zur Natur der normativen Betrachtungsweise, dass sich Verbindlichkeitszusammenhänge nicht salva ventate in utilitaristische Sequenzen übersetzen lassen. Zwischen der Quia-peccatum-StraÎQ und der Ne-pecceturStrafe liegt ein unüberbrückbarer rationalitätstheoretischer Graben. Spezialprävention und negative Generalprävention siedeln sich von vornherein auf dem Ufer der instrumenteilen Rationalität an, wohingegen der Integrationspräventionist mit der Anreizstrategie der instrumenteilen Vernunft die in Wertüberzeugungen fundierte Integrationskultur

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„Denn, wie Piaton sagt: ,Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde; ungeschehen machen nämlich kann man Vergangenes nicht, Zukünftiges wird verhindert'." (Seneca 1989, 141).

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der Gesellschaft auf der anderen Flussseite pflegen will. Dieser Brückenschlag muss aber misslingen.

III. Wiederkehr des Retributivismus Was geschehen ist, ist geschehen, und nichts kann es rückgängig machen. Daher vermehrt in den Augen der Präventionstheoretiker die nicht durch sozialtechnologische und therapeutische Strategien rationalisierte Strafe, die nicht sozialinterventionistisch nützliche, nur der Vergeltung dienende, auf das Vergangene starrende Strafe das bereits bestehende Übel. Darum ist die retributive Strafe nur zerstörerisch, destruktiv, „eine archaische Barbarei in der zivilisierten Welt" (Kriele 2003, 124), so abwegig, wie „einem Götzen zu opfern oder die Erinnyen mit Blut zu beschwichtigen" (Reemtsma 1999, 13)6. Diese Vorstellung, dass mit der Einführung des Zweckgedankens ins Recht, mit der Indienstnahme der Strafe für Abschreckungs- und Besserungszwecke die Moderne endlich auch im Strafrecht angekommen sei, gehört zum Selbstverständnis aller Strafrechtsreformer. Dort, wo ihre des Atavismus beschuldigten Gegner Paternalismus, Entwürdigung und Verdinglichung des Menschen erblicken, sehen sie einen Fortschritt der Humanität am Werk. „So ist die Herrschaft des Zweckgedankens der sicherste Schutz der individuellen Freiheit gegen jene grausamen Strafen früherer Zeiten, welche es ist gut sich daran zu erinnern - nicht durch die glaubensstarken Idealisten der Vergeltungsstrafe, sondern durch die Vorkämpfer des ,flachen Rationalismus' beseitigt worden sind." (von Liszt 1883, 32) Und jede neue Strafrechtsreform versichert sich erneut ihrer Modernität und Fortschrittlichkeit, indem sie sich mit Empörung vom Vergeltungsgedanken distanziert. „Es ist hohe Zeit, die Straftheorien von Kant und Hegel mit ihren irrationalen gedankenlyrischen Exzessen in all ihrer erkenntnistheoretischen, logischen und moralischen Fragwürdigkeit endgültig zu verabschieden" (Klug 1968, 41), so hatte 1968 der Strafrechtsreformer Ulrich Klug gefordert und mit dieser Formel die strafrechtspolitische Marschroute der Erneuerung des Strafgesetzbuches abgesteckt. Die ins Auge gefasste Humanisierung und Liberalisierung des Strafrechts zielte darauf ab, die Strafe dem Vergeltungsdenken zu entwinden und als sozialinterventionistische, generalpräventive oder spezialpräventive Maßnahme zu rationalisieren. Das Strafrecht sollte aus dem Schatten Kants und Hegels herausgezogen und in das helle Licht eines sozialtechnologischen Saint-Simonismus gestellt werden. Kants rigoroser Retributivismus war ein Dorn im Auge; jemand, der die Strafe in den Rang eines kategorischen Impe-

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„Von unserem historischen Ort aus zeigen die absoluten Straftheorien darüber hinaus ihre magische Herkunft - denn anders als im Vergeltungswunsch des Opfers, der gar nicht aufs Allgemeine zielt, sondern auf persönliche Befriedigung, wollen die absoluten Straftheorien die Restitution einer verletzten Abstraktion. Das abstrakte Recht, das durchs Talionsprinzip restituiert werden muß, ist nur die schein-säkularisierte Version der göttlichen Ordnung, die der Richter wiederherzustellen hat. Absolute Straftheorien zu folgen, wird den meisten von uns - es sei denn, ihren geriete Gerechtigkeits- und Rechtsgefuhl durcheinander - vorkommen, wie einem Götzen zu opfern oder die Erinnyen mit Blut zu beschwichtigten." (Reemtsma 1999, 13)

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rativs erhob, geradezu das moralische Heil der Menschen auf der Erde vom ordnungsgemäßen Vollzug jeder, auch der letzten Strafe abhängig machte, der verlangte, Vergewaltiger zu kastrieren und dem kontraktualistischen Gegner der Todesstrafe Cesare Beccaria ein wirres Argumentieren aus „theilnehmender Empfindelei einer affektirten Humanität" bescheinigt hatte (Kant 1797, 334-335), konnte nicht als philosophischer Kronzeuge der Strafrechtsreform dienen. Mochte man anderenorts mit Kant das unvollendete Projekt der Aufklärung vorantreiben wollen, auf dem Gebiet des Strafrechts stand Kant genau für die Position, die man um der Humanität willen ablehnen musste. Diese Äquivokation des Humanitätsbegriffs ist höchst irritierend. Denn mit der Verabschiedung Kants und Hegels aus der Strafrechtstheorie wird ja auch die grundlegende personenethische Einsicht preisgegeben, dass Personen nicht zu Instrumenten sozialtechnologischer Staatstätigkeit verdinglicht werden dürfen. Die beanspruchte Humanität der präventionistischen Reformer buchstabiert den Menschen nicht mehr nach dem Alphabet der Vernunftautonomie, sondern sie greift gleichsam hinter die Aufklärung zurück und macht sich voraufklärerische Vorstellungen der wohlmeinenden Sorge zu eigen. Die auch in anderen Provinzen gesellschaftlicher Selbstverständigung erfolgte semantische Umstellung von dem klassisch-modernen autonomieethischen Humanitätsverständnis zu einem wohlfahrtsstaatlich-betreuungstechnischen Humanitätsverständnis hat auch Auswirkungen auf die strafrechtstheoretische Diskussion: Der strafrechtliche Präventionalismus ist eine Mischung aus Paternalismus und Sozialtechnologie. Dreißig Jahre nach Klugs anti-metaphysischem Rundumschlag aber denkt die Strafrechtswissenschaft erfreulicherweise wieder anders. „Auf verwerfliches Verhalten von Menschen ohne Tadel, sondern nur durch Abschreckung oder durch eine Veränderung der Umwelt zu reagieren, die Wiederholungen unmöglich machen soll, hieße sie auf dieselbe Stufe wie das Raubtier zu stellen." (Hörnle/von Hirsch 1998, 93) 7 Das ist ein vertrautes Argument, das vor der markigen Sprache der aristoteleischen Politik- und Ethiktradition nicht zurückscheut. Personen bevölkern mit anderen Personen eine Welt der Gründe und der normativen Erwartungen. Beides, einerseits das Verhalten anhand normativer Überzeugungen auszurichten und anhand normativer Erwartungen zu beurteilen, andererseits Rede und Antwort zu stehen, ist Ausdruck der Tatsache, dass sich Personen in einer vernünftigen Ordnung der Freiheit situieren. Inklusionszeichen und Exklusionszeichen regulieren die Positionierung. Inklusionssignale verweisen auf die Sicherung kommunikativer Kontinuität und moralischer Kohärenz. Im Falle ordnungswidrigen Verhaltens nehmen sie die Gestalt von Tadel und Strafe an: Beides signalisiert dem Abweichenden, dass man daran festhält, ihn auch weiterhin als Mitglied der moralischen Gemeinschaft

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Der Aufsatz argumentiert auf der Linie des berühmten strawsonschen „Freedom and Resentment"Essays für die moralische Unerlässlichkeit, Täter als moralische Personen zu behandeln, sie nicht zu sozialtechnologischen Verfügungsobjekten des guten Willens zu degradieren, sondern ihnen die Verwerflichkeit ihres Handelns vor Augen zu fuhren, sie als selbstbestimmte Handelnde in die Strafbegründungsargumentation einzubeziehen. Das setzt aber alles voraus, dass die Strafe als legitime Antwort auf eine als solche höchst zu missbilligende Rechtsverletzung zu betrachten ist. Eine verwandte Argumentationslinie findet man bei den Anhängern einer expressiven Strafkonzeption, die auf Joel Feinberg zurückgeht (vgl. Feinberg 1970; Hampton 1992; Kaiser 1999,167-186; Seher 2000).

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zu betrachten, dass man ihm die Chance gibt, durch sein Verhalten wieder Anschluss zu gewinnen und die Regelverletzung gutzumachen. Diese vergeltungsoffene, dem quia peccatum den Vorzug vor dem ne peccetur gebende Anschauungsweise Hörnies und von Hirschs ist kein Einzelfall. Der Retributivismus, so ist der sich selbst beobachtenden Strafrechtswissenschaft zu entnehmen, steht vor seiner Rehabilitierung. Eine „Renaissance der absoluten Straftheorie" findet statt (Schünemann 2002, 327).8 Die Unterstützung, die die gegenwärtig das kulturelle Deutungsmonopol anstrebende Hirnforschung zusammen mit den Ökonomisten dem Kampf der Präventionisten gegen Metaphysik, Moral und Schuld anbietet, wird ausgeschlagen. Auch äußern diese umlernenden Juristen jetzt die Überzeugung, dass ein Rechtsstaat aufgrund seiner internen freiheitsrechtlichen Verpflichtung an seiner eigenen normativen Substanz Raubbau betreiben würde, wenn er sich einer Strafrechtskonzeption verschreiben würde, die grundlegenden Bestimmungen der moralischen Subjektivität und normativen Prinzipien widerstreitet. Wenn die vom ökonomischen Verstand geleitete Rationalisierung gesellschaftlicher Institutionen und Praktiken so weit voranschreitet, dass der moralische Überzeugungsfundus der Gesellschaft angegriffen wird, nimmt das Selbstverständnis Schaden. Rationalisierung ist nur erfolgreich innerhalb eines durch sie selbst in seinen grundlegenden Gültigkeitsansprüchen anzuerkennenden moralischen Rahmens; in dem Maße, in dem durch geradezu quasireligiösen Aufklärungs- und Verwissenschaftlichungsfuror dieser Rahmen selbst zum Gegenstand szientistischer Modernisierung wird, in dem Maße, in dem die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft das Opfer der hermeneutischen Selbstentfremdung und der moralischen Selbstverleugnung abverlangt, muss sie zurückgewiesen werden. Natürlich verfügen wir über keinen diskursexternen Standpunkt, von dem aus wir absolute und relative Straftheorien beurteilen und ihre Konkurrenz entscheiden könnten. Daher kann man auch nicht behaupten, dass die absolute Straftheorie richtig und die relative Straftheorie falsch ist. Was man aber behaupten kann, ist das Folgende: Solange wir in unserem individuellen und kollektiven Selbstverständnis von moralischen Zuschreibungen Gebrauch machen, die Sprache von Recht und Pflicht sprechen, ist eine damit kompatible, also eine normativ kohärente Strafkonzeption einer anderen, instrumentalistischen Strafkonzeption vorzuziehen.9 8

Vgl. auch Pawlik 2004, 45ff. Dort finden sich weitere Belege dafür, dass ehemals auf das Präventionskonzept eingeschworene Juristen jetzt empfehlen, sich an den strengen rechtsphilosophischen Sinn des Vergeltungsprinzips zu erinnern, und die früher erhofften Wirkungen präventiver Verbrechensbekämpfung zu Nebenwirkungen herabstufen. Zur jüngeren Retributivismus-Diskussion vgl. Cragg 1992; Kaiser 1999, 140-168.

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Dass sich die Strafrechtstheorie seit einiger Zeit wieder verstärkt retributivistischen Konzeptionen in all ihren semiotischen, diskursethischen und expressionistischen Spielarten zuwendet, hat mehrere Gründe. Neben der Einsicht in die normativen Defizite der präventionistischer Strafbegründung spielt sicherlich auch der Umstand eine Rolle, dass es für viele begründete Zweifel daran gibt, ob die Strafe die von ihr erhofften präventiven Wirkungen wirklich erzielt. „Ob Strafe individuell oder generell abschreckend wirke, ist ebenso zweifelhaft wie die Behauptung, Strafe sei ein wirksames Mittel für die individuelle Besserung des Delinquenten. Die Zweifel an der empirischen Nachweisbarkeit der Zweck-Mittel-Relation werden noch stärker, wenn als präventiver Zweck die Stabilisierung des Normvertrauens der Bevölkerung behauptet wird. Der Befund, daß nur präventive

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IV. Eine retributionistische Begründungsskizze Mit der Sprache von Gerechtigkeit, Recht und Pflicht lässt der Präventionismus all die Streitigkeiten hinter sich, die in der Moralphilosophie über den Status der Moral und die Wurzeln ihrer Geltung herrschen. Und das ist in den Augen der Präventionisten natürlich ein beträchtlicher Vorteil. Herrscht die instrumentelle Vernunft absolut, dann muss sich niemand mehr Gedanken machen, ob die moralische Vernunft universalistisch oder partikularistisch ist. Diese Frage taucht aber natürlich sofort wieder auf, wenn wir die schöne neue Welt der Präventionisten verlassen und in die Stammlande der Moral zurückkehren und dort nach einer akzeptablen Version des Retributivismus suchen. Kant oder Hegel; Moralität oder Sittlichkeit. Schaut man sich das umfassende Material an, dass Ethnologen zur Bedeutung des Retributionsprinzips in der Menschheitsgeschichte zusammengetragen haben, dann liegt es durchaus auf der Hand, sich durch schlichten Verweis auf die offensichtliche Nichtwegdenkbarkeit des Vergeltungsprinzips aus unserem kulturellen Bewusstsein alle weiteren Begründungsanstrengungen zu sparen. Der Retributivist würde dann kommunitaristisch argumentieren und mit dem Hinweis auf unsere geteilten Überzeugungen die Überlegenheit des Vergeltungsgedankens begründen. Wir sind aufgrund unserer kulturellen Überlieferung Retributivisten, von Kultur aus empfinden wir vergeltungstheoretisch. Daher ist jede Straftheorie zum Scheitern verurteilt, die sich über dieses kulturelle Vorurteil hinwegsetzen würde. Das kann natürlich bestenfalls die Widerwilligkeit der Annahme präventionistischer Theorien erklären, nicht jedoch die Überlegenheit retributiver Strafkonzeption begründen. Die Aufdeckung kulturpsychologischer Voreingenommenheit hilft nicht weiter; wir benötigen schon auch noch unabhängige begriffliche Gründe, die dem Akzeptanzvorsprung des Retributivismus einen Legitimitätsvorsprung an die Seite stellen können. Freilich ist das begriffliche Repertoire begrenzt, von dem der Vergeltungsgedanke bei seiner Konzeptualisierung und Begründung Gebrauch machen kann. Letztlich kann alles nur eine Variation der folgenden, das retributive Grundschema konstituierenden Trias von Recht, Verbrechen und verbrechensreaktiver, das Recht wiederherstellender Strafe sein. Ich werde im Folgenden eine solche Begründungsskizze vortragen, die als freie systematische Rekonstruktion der strafrechtsphilosophischen Überzeugungen Kants und Hegels zu verstehen ist. Freilich werden die hegelschen Gedanken dabei in ein gänzliches anderes Denken transponiert, denn ich mache von den Voraussetzungen der hegelschen Systemphilosophie keinerlei Gebrauch und bediene mich ausschließlich der vertrauten Prinzipien des menschenrechtlichen Egalitarismus und der Argumentationsformen der neuzeitlichen Staatsphilosophie Ich beginne mit einer Erläuterung der retributiven Trias. Der erste Schritt besagt: Es existiert eine anerkannte, durch den Legitimitätsglauben und die Richtigkeitsüberzeugungen der Bürger gestützte Rechtsordnung. Ihr ausdifferenziertes Gesetzessystem ist Zwecke vernünftig seien, diese Zwecke sich aber mit der Strafe nicht wirksam erreichen lassen, scheint nur zwei Konsequenzen zuzulassen: Entweder die Rückkehr zu absoluten Straftheorien oder die Erwägung, das Strafen abzuschaffen und sich auf alternative Reaktionsmöglichkeiten zu besinnen." (Günther 2002, 205-219).

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in fundamentalen Menschenrechtsprinzipien begründet; diese fundamentalen Menschenrechtsprinzipien bilden die normative Grammatik unserer moralisch-kulturellen Selbstverständigung; die Philosophie und verwandte Konzeptualisierungsbemühungen einschlägig betroffener Nachbarwissenschaften explizieren diese Grammatik und entwickeln Rechtfertigungsstrategien innerhalb der von ihr gezogenen kategorialen Bahnen. Der zweite Schritt ist der Schritt des Verbrechens: Das Verbrechen ist ein Bruch dieser Rechtsordnung, eine Verletzung des Rechts, eine Negation seiner Geltung, eine Missachtung fundamentaler rechtsgenossenschaftlicher Loyalitätspflicht; es wird darum von den diese Rechtsordnung anerkennenden, für richtig und darum für unverletzlich haltenden Bürgern zutiefst missbilligt und zurückgewiesen: Dritter Schritt: Ausdruck der gesellschaftlichen Missbilligung des Verbrechens, seiner Zurückweisung, der Negation seiner Anmaßung, sich an die Stelle geltenden Rechts setzen zu können, ist die Strafe. Sie stellt das Recht wieder her, heilt die Verletzung, bekräftigt die Verbindlichkeit der Ordnung. Wohlgemerkt: Die Strafe dient nicht der Wiederherstellung der Rechtsordnung, sie ist die Wiederherstellung der Rechtsordnung. Im Medium der Strafe heilt sich das gekränkte Recht selbst. Ob diese Strafe nun auch noch im Sinne einer negativen oder positiven Generalprävention wirksam ist oder zur Besserung des Verbrechers beiträgt, ist ohne jeden Belang. Natürlich kann sie all diese wünschenswerten Wirkungen erzielen, wenn die gegebenen Umstände das zulassen. Und wenn sich bei der das Schuldprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtenden Strafbemessung ein Spielraum ergeben sollte, ist es auch aus retributivistischer Sicht durchaus vernünftig, bei der Entscheidung den Präventionsgedanken zu berücksichtigen. Nur hat diese kontingente instrumenteile Eignung der Strafe fur Präventionszwecke keinerlei Rechtfertigungskraft. Die Strafe muss vollzogen werden, weil sich der Verbrecher des Rechtsbruchs schuldig gemacht hat. Vielleicht möchte man dieses retributivistische Argument der Wiederherstellung des Rechts durch Strafe mehr ins Subjektive wenden, vielleicht löst diese Rede vom sich selbst heilenden Recht, diese serologische Dialektik der rechtsverletzungsaufhebenden Strafe Bedenken aus, weil sie zu metaphysisch klingt, der Verdacht entsteht, hier würde dem Recht eine ontologische Eigenexistenz zugesprochen werden. Dann sollte man sich der Pflichtsprache zuwenden. Die Rechtsordnung, die die neuzeitliche Philosophie als geordnete, wohlgeordnete Freiheit begreift, als ins Dasein, in die Wirklichkeit getretene und Wirksamkeit gewinnende Freiheit, als institutionalisierte Freiheit, diese Rechtsordnung - das ist eine unersetzliche und unabdingbare Voraussetzung aller vergeltungstheoretischen Strafauffassung - ist verbindlich, verpflichtend. Das heißt: Sie ist nicht nur ein allgemein vorteilhaftes, regelegoistisch zu begründendes Instrumentarium der Handlungskoordination, sondern sie stattet jeden Bürger mit der fundamentalen Verpflichtung aus, diese Rechtsordnung zu respektieren; genauer: Die Bürger betrachten sich selbst und einander als einer grundlegenden rechtsgenossenschaftlichen Loyalitätspflicht unterworfen. Und diese Sichtweise und die darin begründete normative Erwartung bildet das normative Rückgrat des wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses, das ihr Zusammenleben als Bürger und Rechtspersonen strukturiert. Ich werde diese These jetzt erläutern. Retributionstheorien machen häufig den Fehler, die Dimension der Strafbestimmung und die Dimension der Strafbegründung zu kon-

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fundieren und sich von ihren gerechtigkeitsmetaphorischen Assoziationen gleichermaßen bei der Strafbemessung und der Strafrechtfertigung leiten zu lassen. Beides fuhrt jedoch in die Irre. Wenn wir uns auf die Frage der Strafbemessung konzentrieren, erweist es sich als schwierig, den Gerechtigkeitsbildern der Gleichheit, des Ausgleichs und der Restitution in einem abstrakten gerechtigkeitstheoretischen Prinzipienraum einen strafrechtlich verwertbaren Sinn zu geben. Wie wir gesehen haben, fuhrt uns unsere gerechtigkeitsethische Imagination unvermeidlich in die Gefilde des Theologischen und Mythischen. Und nur durch Abschwächung des Gleichen zum Proportionalen können wir handhabbare Strafbemessungsgrundsätze gewinnen. Wenn wir uns hingegen dem Begründungsproblem zuwenden, ist ebenfalls nicht zu sehen, wie mit Hilfe des Gerechtigkeitsbegriffs ein Strafrechtfertigungsargument gewonnen werden kann. 10 Wäre eine gerechtigkeitsethische Strafbegründung eine etablierte Argumentation, dann wäre auch eine gerechtigkeitsethische Staatsbegründung bekannt. Aber wir kennen keine gerechtigkeitsethische Staatsbegründung in der neuzeitlichen politischen Philosophie. Und dass wir keine gerechtigkeitsethische Staatsbegründung in der neuzeitlichen politischen Philosophie kennen, ist fur ihre Verständnis nicht von peripherer, sondern von zentraler Bedeutung. Sie kann aufgrund ihre Radikalität von dem Gerechtigkeitsbegriff keinen Gebrauch machen, denn der Gerechtigkeitsbegriff ist ein das zeigt bereits sein erstes Auftreten in Piatons Politeia - Ordnungsgestaltiingsbegriff, jedoch kein Ordnungslegitimationsbegriff. Als Ordnungsgestaltungsbegriff kann er Verwendung finden, wenn die Ordnung etabliert ist, die für ihre grundlegende Aufrechterhaltung erforderlichen Kompetenzen legitimiert sind und es an die Arbeit der Detaillierung des institutionellen Designs geht. Gerechtigkeit setzt Gewaltabwesenheit, Wirksamkeit des Institutionellen, setzt also Rechtsverhältnisse voraus, die nach den von ihr exponierten Bestimmungen zu gestalten sind. Die Etablierung von Rechtsverhältnissen ist aber keine Forderung der Gerechtigkeit, sondern des Freiheitsrechts. Das hat die neuzeitliche politische Philosophie deutlich gemacht. Ihr Grundbegriff ist der Begriff der Freiheit; ihr Ausgangspunkt ist die Aporetik ungeregelter Freiheit; um diese sinnfällig zu machen, erzählt sie ihre Naturzustandsgeschichten (vgl. Kersting 1994). Der Vertrag, der die Einsichten des klugen Selbstinteresses unter der Rationalitätsbedingung der Wechselseitigkeit wirksam machen möchte, ist ein Programm der Entaporetisierung der Freiheit durch gleiche, wechselseitig garantierte Selbstbindung; und der Staat ist das Instrument, um diese im Argument vorentworfene Verwirklichungsbedingung zu garantieren. Insofern dient er der Freiheitsermöglichung. Das eben ist die Grundformel neuzeitlichen staat-

10 Natürlich kann man kontraktualistisch vorgehen und die Gesellschaft auf einen klugen Macht- und Freiheitsverzichtstausch stützen. Der Verbrecher wäre dann jemand, der sich unfairerweise mehr Freiheit genommen hat, als ihm aufgrund des vertraglichen Macht- und Freiheitsverzichtstausches zusteht. Und die Strafgerechtigkeit wäre dann wie schon bei Thomas von Aquin eine ìustitia commutativa, die verlangt, die unfairer Mehrfreiheit durch eine entsprechende kompensatorische Bestrafung abzugleichen. Nur sind derart kontraktualistische Begründungen nicht in der Lage, den Rechts- und Moralprinzipien zukommenden Verbindlichkeitscharakter zu erklären. Innerhalb rationaler Kalkulation läßt sich ja noch nicht einmal der genuin moralische Sinn des Fairneßprinzips sichern.

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lichen Rechts: Freiheitsermöglichung durch einvernehmliche Freiheitsregelung. Wenn die Strafe eine hoheitliche Tätigkeit ist, wenn darüber hinaus die Strafe gerechtfertigt werden soll, dann liegt es doch nahe, die Rechtfertigung der Strafe primär als Rechtfertigung einer staatlichen Tätigkeit zu verstehen und Strafrechtfertigung in die Nähe neuzeitlicher Staatsbegründung zu rücken. Die Erinnerung an die Grundsätze neuzeitlicher Staatsphilosophie sollte nur dazu dienen, den kategorialen Rahmen sichtbar zu machen, in den eine solche staatsrechtsnahe Rechtfertigung der Strafe gestellt werden könnte. Wir kommen nun einen Schritt weiter, wenn wir auf einen Unterschied achten, der für diese Erinnerungsskizze nicht erheblich war, für das weitere Vorgehen jedoch von entscheidender Bedeutung ist. Es ist der Unterschied zwischen Hobbes' prudentieller Rechtfertigungstheorieund der vernunftrechtlichen Rechtfertigungstheorie Kants. Die hobbessche Welt ist eine Welt der Mittel; sie ist mittelabsolutistisch; alles ist Mittel, auch das Recht, auch die das System des Rechts stabilisierende Strafe. Hobbes ist der Begründer des szientistischen Reduktionismus und der Ahnherr aller Generalpräventionisten (vgl. Kersting 2005). Die flüchtigen Bezugspunkte der hobbesschen Mittelwelt sind die teils konvergierenden, teils auseinander strebenden Präferenzen der Individuen. Wir werden nie zu einer den Instrumentalismus des Präventionismus vermeidenden Straflegitimation kommen, wenn wir nicht diese schlechte Unendlichkeit des Instrumentellen durchstoßen. Und durchstoßen können wir sie nur, wenn wir eine kantische Voraussetzung machen: wenn wir die Freiheitsordnung des Staates nicht als distributivallgemeines Instrument individueller Interessendurchsetzung verstehen, sondern als eine vernunftrechtlich oder menschenrechtlich gebotene Rechtsordnung, als staatsrechtlich konkretisierte und ausdifferenzierte Ordnung des Menschheitsrechts, die jedem Menschen das Recht auf allgemein verträglichen Freiheitsgebrauch zugesteht und jedermann verpflichtet, alles zu tun, damit jeder seines Rechtes teilhaftig wird. Der Staat ist institutionalisiertes Menschheitsrecht. Mit seiner Errichtung weicht die apriorische Recht-PflichtKorrespondenz des abstrakten vernunftrechtlichen Ausgangszustandes einem bürgerlichen, gesetzesrechtlichen Zustand, den alle Bürger durch Rechtschaffenheit und Gesetzestreue zu unterstützen von Vernunftrechts wegen verpflichtet sind. So, wie der Staat selbst als Ort der gesetzesrechtlichen Institutionalisierung des Vernunftrechts Teil hat an dessen Verbindlichkeit und praktischer Notwendigkeit, so hat auch die Strafe, die in diesem kategorialen Rahmen für die Stabilisierung der gegebenen staatlichen Rechtsund Freiheitsordnung sorgt, teil an der normativen Autorität und Dignität des Vernunftrechts. Wenn Kant das Strafgesetz als kategorischen Imperativ bezeichnet, dann ist genau dieser Gedanke damit zum Ausdruck gebracht: dass die Strafe kein dem Recht äußerliches, an seiner Verbindlichkeit nicht teilhabendes, nur zweckdienliches Instrument zur Erreichung oder Sicherung distributiv-allgemein vorzugswürdiger Zustände ist, sondern als immanenter Bestandteil des seine eigene staatliche Institutionalisierung verlangenden Vernunft- und Menschheitsrechts betrachtet werden muss und nur als solcher normativ gerechtfertigt werden kann. Nur durch die Integration in einen solchen normativen kategorialen Kontext kann der Strafe selbst normative Kontur zukommen, kann sie selbst als rechtlich notwendiges Element einer Rechtsordnung verstanden werden, das immer dann heranzuziehen ist, wenn die Rechtsordnung durch widerrechtliches Verhalten erschüttert wird.

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Strafe ist die Antwort auf ein Verbrechen, das als zurechenbare, schuldhafte freiheitsrechtliche Pflichtverletzung zu verstehen ist. Freiheitsrechtliche Pflichtverletzung ist das Verbrechen, weil das Recht seine Verbindlichkeit als zivile, als bürgerliche Freiheitsordnung gewinnt. Die mit dem Übergang vom staatlich ungefestigten Naturzustand zum Friedenszustand sich vom Menschen in einen Bürger verwandelnde Rechtsperson steht unter der Verpflichtung, alles zu tun, damit jeder seines Rechtes teilhaftig werden kann. Der Bürger ist zur Loyalität, zumindest zur passiven Erhaltung der freiheitsrechtlichen Ordnung verpflichtet; er hat sich selbst als Person im öffentlichen Interaktionsraum zu verhalten und andere als Personen zu respektieren. Beides verletzt der Verbrecher, er zerstört das wechselseitige rechtspersonale Anerkennungsverhältnis. Und dieses kann nur durch Bestrafung wieder restituiert werden. Denn Rechtspflichten zu erfüllen ist keine Obliegenheit, die man abschütteln kann, die man nach seinen eigenen Begriffen erfüllen kann. Rechtspflichten sind Schuldigkeiten; sie haben den Schutz der Rechte anderer zum Inhalt. Rechtspflichten werden aber nicht nur Subjekten gegenüber geschuldet. Das interindividuelle und reziproke Recht-Pflicht-Gewebe ist aufgehängt in einer es tragenden Ordnung, die als solche zu schützen und zu achten Bestandteil der grundlegenden Bürgerpflicht ist. Daher ist die Schuld des Verbrechers nicht nur Verletzung des Rechts seiner Opfer, sondern immer auch ein Angriff auf die Rechtsordnung selbst. Allgemeiner formuliert: Jede verbrecherische Verletzung rechtsgeschützter individueller Freiheit ist zugleich Verletzung der grundlegenden Ordnung allgemeiner rechtlicher Freiheitsermöglichung. Wird dieser freiheitsrechtliche Ermöglichungszusammenhang mitgedacht, wird die Rechtspflicht als eine immer auch der Ordnung, der Allgemeinheit, der Vernunft geschuldete Loyalitätspflicht verstanden, dann wird verständlich, dass für Kant durch das Verbrechen immer auch „das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person [...] gefährdet wird" (Kant 1797, 331). Das Verbrechen beschränkt sich nicht auf eine Verletzung individueller Rechte, es ist ein Angriff auf die Rechtsordnung, auf die „allgemeine Sache", 11 auf die Vernunft. Entsprechend muss auch ein angemessenes Verständnis der Strafe die Strafe aus einem ausschließlich interindividuellen Verhältnis herausnehmen; sie entprivatisieren und objektivieren. Die Strafe, die als Wiederherstellung der durch das Verbrechen verletzten Ordnung interpretiert wird, ist dem äußeren interindividuellen Verbrechensgeschehen entrückt, sie ist überindividuell, wird im Namen des Volkes verhängt, ist begründet in der Pflicht jeden Bürgers, die Rechtsordnung als freiheitsrechtliche Ermöglichungsbedingung selbstbestimmter Lebensführung zu respektieren. 12

11 „[...] so ist das Verbrechen nicht mehr nur Verletzung eines subjektiv-Unendlichen, sondern der allgemeinen Sache, die eine in sich feste und starke Existenz hat." (Hegel 1821, § 218) 12 Eine umfangreichere Fassung dieses Aufsatzes ist unter dem Titel „Zur philosophischen Begründung der Strafe. Historische Skizzen und systematische Probleme" erschienen (in: Hans H. Gander/Monika Fludernik/Hans J. Albrecht (Hg.): Bausteine zu einer Ethik des Strafens. Philosophische, juristische und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Würzburg 2008, 3-47).

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C A R L FRIEDRICH G E T H M A N N

Professionelle Ethik und Bürgermoral Zur Debatte um die „Bio-Politik"1

Kaum eine moderne wissenschaftlich-technische Entwicklung hat so tief gehende Kontroversen hervorgerufen wie die Entwicklung der bio-medizinischen Forschung. Insbesondere die Gentechnik in Verbindung mit der Reproduktionsmedizin hat diagnostische und therapeutische Handlungsmöglichkeiten von einer Eingriffstiefe eröffnet, die überkommene Überzeugungen von unüberschreitbaren naturhaften Grenzen des Handelns in Frage stellen. Diese Handlungsmöglichkeiten haben daher mit einer gewissen Zwangsläufigkeit hochkontroverse gesellschaftliche Debatten herbeigeführt. Zwar sind solche Debatten nicht historisch einmalig - die Kontroversen um die Abtreibung, den NATODoppelbeschluss oder die Kernenergie sind in Deutschland Beispiele für ähnlich tief greifende gesellschaftliche Antagonismen gewesen - , sie haben jedoch insofern eine eigentümliche Struktur, als die Wissenschaften und die Ethik als philosophische Disziplin in anderer Weise als kognitive Akteure erscheinen, als das in früheren Kontroversen der Fall war. Zu Kontroversen derartigen Zuschnitts gehört, dass bereits die Deutung der Kontroverse selbst seitens der Parteien nicht einvernehmlich erfolgt. Während von moralisch motivierten Personen und Bürgergruppen ihre Position als notwendiger Einspruch potenziell oder aktuell Betroffener unter Berufung auf ihre allgemeinen Menschenrechte, die Menschenwürde, die Heiligkeit des Lebens oder ähnliche fundamentale Vorstellungen gedeutet wird, wird sie von den Forschern als Bremse des Fortschritts, beruhend auf einem Mangel an wissenschaftlicher, besonders biologischer Bildung oder als hysterische Angst vor dem wissenschaftlichen Fortschritt interpretiert. Wirtschaftliche Akteure schließlich betrachten die Proteste als Investitionsbremse und als ein Versagen von Politik und Gesellschaft vor den Aufgaben der Zukunft angesichts der Globalisierung des Wissens. Neben besorgten Bürgern (nebst durch solche gebildete Bürgergruppen und -bewegungen), hoffnungsfrohen Wissenschaftlern (und ihren ForschungsfÖrder- und Standesorganisationen) und Wirtschaftsvertretern (einschließlich Berufsverbänden, Kammern, Gewerkschaften), haben auch die Informationsmedien entweder jeweils Verstärkerfunktionen (vor allem bezüglich der besorgten Bürgergruppen) übernommen oder aber sich selbst die Rolle der „Sachwalter des Ganzen" zugeschrieben, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, deren Feuilleton-Redaktion den in anderen Zu-

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Der Beitrag ist eine Ausarbeitung des Vortrage, den der Autor am 25.04.02 vor dem Nationalen Ethikrat in Berlin gehalten hat.

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sammenhängen 2 geprägten Ausdruck „Bio-Politik" wiederbelebt hat, um genau eine solche zu betreiben. 3 Wenig öffentliche Aufmerksamkeit (abgesehen von journalistischen Sottisen in reichlichem Maße) erfährt in diesem Zusammenhang die Disziplin Ethik, der im abendländischen Disziplinenkanon die Aufgabe der Rekonstruktion von Empfehlungen obliegt, die geeignet sind, Einverständnisse über normative Fragen herbeizuführen. Diese „professionelle Ethik" befaßt sich daher auch schon seit einer Reihe von Jahren mit den ethischen Problemen der Gen- und Biotechnik im Rahmen der Entwicklung der modernen Medizin. Für diesen Sachbereich ethischer Reflexion hat sich der Begriff der Bio-Ethik (vgl. Gethmann 2005) eingebürgert (der also keine philosophische Position bezeichnet, sondern ein Bezugsfeld ethischer Urteilsbildung). Die Rolle der philosophischen Ethik erscheint in diesem Zusammenhang allerdings als prekär. Als Disziplin der Philosophie nimmt sie einerseits am Rationalitätsparadigma „Wissenschaft" teil. Insofern erscheint sie manchen als Partei im Streit zwischen Experten und Laien. Wichtiger ist jedoch die weitverbreitete Überzeugung, dass normative Konflikte („Wert-Konflikte") nicht rational entscheidbar seien, sondern mit (einem missverstandenen) Max Weber letztlich die Struktur eines Kampfes um Leben und Tod haben. Soll dieser Kampf mit friedlichen Mitteln entschiedenen werden, seien die Instrumente der gesellschaftlichen Konfliktlösung heranzuziehen. Jedenfalls seien die durch die bio-medizinische Forschung eröffneten Handlungsmöglichkeiten nicht durch wissenschaftliche oder wissenschaftsähnliche Expertise zu lösen, sondern eine Aufgabe der demokratischen Partizipation aller Bürger, die sich in parlamentarischen Enquête-Kommissionen, in getrennt vom Parlament durchgeführten Partizipationsverfahren oder in institutionalisierten Ethikräten zu manifestieren habe. Der Anspruch einer ethischen Expertise erscheint demgegenüber als Ausdruck elitären Expertentums oder philosophischer Arroganz gegenüber den eigentlich durch Routine und Sachnähe ausgezeichneten Fachwissenschaftlern. In diesem Beitrag sollen nach einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses von Ethik und Ethos vor allem das Verfahren der partizipativen Bürgerbeteiligung und die Kompetenz von Ethikräten kritisch untersucht werden. 4

2

Michel Foucault prägte den Begriff „Biopolitik" im Rahmen seiner Forschung zur Geschichte der Sexualität, um damit die zunehmende Tendenz des modernen Staates herauszuheben, den menschlichen Körper vor allem durch Sexualvorschriften immer stärker zu reglementieren.

3

Die Polemik gegen die Vorstellung, es könne jenseits und unabhängig von der Bürgermoral (dem Ethos) eine Wissenschaft vom Ethos (also eine Ethik) geben und die damit verbundenen Invektiven gegen die „Berufsethiker" stellen aus Sicht der philosophischen Ethik ein merkwürdiges Amalgam aus dem Neo-Aristotelismus der Ritter-Schule und (manchmal katholisch geprägten) kommunitaristischen Vorstellungen dar.

4

Dagegen bleibt das Instrument der parlamentarischen Enquête-Kommissionen außerhalb der Betrachtung, weil es für die hier behandelte Diskussion zwar bedeutsam, aber als Instrument der parlamentarischen Beratung für diese nicht spezifisch ist.

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1. Ethik und Ethos 5 Die Ethik oder Moralphilosophie ist eine akademische Disziplin des Faches Philosophie mit allen zu einer Disziplin gehörigen Attributen wie Lehrsätzen und Lehrbüchern, Axiomen und Methoden, Instituten und Bibliotheken, Kontroversen und Kongressen und einer recht unübersichtlichen Fachgeschichte. „Ethik" wird an allen Universitäten der westlichen Welt und vielen anderen gelehrt, gelernt und geprüft. Entsprechend gibt es Lehrstühle für „Ethik" oder (nach der von Kant stammenden Wortgebrauchstradition) „Praktische Philosophie". 6 Gegenstand der Ethik sind die Handlungen und Handlungsweisen der Menschen, die man gewöhnlich als (meistens implizite) Regelbefolgungen erfasst. Ein Ensemble solcher Regeln bildet ein Ethos, eine „Moral", eine Sitte oder ein Konglomerat von Üblichkeiten einer Gruppe oder Gesellschaft. Eine „Moral" besteht primär nicht aus Sätzen, sondern aus Handlungen, Handlungsweisen und Handlungsgewohnheiten (vgl. die Rede von der „Moral" der Truppe). Diese lassen sich jedoch aus der Berichtsperspektive in Sätze überführen, die zur direkten Handlungsanleitung bestimmt sind bzw. sein können. Dabei hat schon Aristoteles als zweckmäßige methodologische Rekonstruktion herausgestellt, die Akteure zu betrachten, als ob sie nach Regeln handelten. 7 Solchen Regeln ist gemeinsam, dass sie unmittelbar handlungsanleitend 8 sind. Die Ethik besteht hingegen primär aus Sätzen, und zwar aus Sollenssätzen für jedermann. Diese sind jedoch nicht Sätze, die der Handlungsanleitung, sondern solche, die der Handlungsbeurteilung dienen. Beispiele dafür sind: -

-

„Was du nicht willst, dass man dir tu, das fug' auch keinem andern zu!" (Tob 4,16; Goldene Regel; Isokrates, Aristoteles; Stoa; in der positiven Variante in der „Bergpredigt"); „Handle so, dass du durch deine Handlung das größte Glück der größten Zahl verwirklichst!" (Bentham); „Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit eine Norm sein könnte!" (Kant, terminologisch aktualisiert).

Es gibt nur eine Ethik, auch wenn es mehrere Ansätze und eine große Zahl wissenschaftlicher Kontroversen gibt. Diese Singularität gilt für jede Disziplin, z. B. die Betriebswirtschaftslehre, die Mathematik usw. Im Unterschied dazu gibt es mehrere

5 6 7

8

Die Überlegungen dieses Abschnitts sind in unterschiedlichen Varianten schon mehrfach mitgeteilt worden; vgl. v. a. Gethmann/Sander 1999. Im Unterschied zur Moralphilosophie befasst sich die Moraltheologie mit der Explikation einer auf religiösen Prämissen beruhenden Moral. Wohlgemerkt: Die Unterstellung ist nicht, dass Akteure nach Regeln handeln, sondern dass dies eine zweckmäßige methodische Annahme ist (z. B. weil Regeln als bedingte generelle Aufforderungen Konklusionen in Schlüssen und in diesem Sinn rational kontrollierbar sein können). „Handlung" wird hier unterschiedslos in den zwei Modi des Ausfuhrens oder Unterlassens der Handlung verstanden.

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Moralen, ζ. Β. Familienmoral(en), Nachbarschaftsmoral(en), Stammesmoral(en), religiöse Moral(en), Standesmoral(en), bzw. Menschheitsmoral(en) usw. Somit ist der moralische Pluralismus vom ethischen Pluralismus genau zu unterscheiden. Der moralische Pluralismus (zwischen Individuen und Gruppen) ist die (freilich keineswegs naturnotwendige) Gegebenheit, von der man als „Bedingung der Wirklichkeit" von Konflikten auszugehen hat. Der ethische Pluralismus ist zu betrachten wie jeder Theorienpluralismus in den Wissenschaften. Insbesondere sind die „ethischen Schulen" nicht wie religiöse Konfessionen, sondern - wie es das Wort „Schule" schon nahelegt - als wissenschaftliche Lehr- und Lernzusammenhänge zu betrachten. Der ethische Pluralismus desavouiert nicht den Geltungsanspruch der Ethik, sondern bezeugt, dass es neben dem ethischen Lehrbuchwissen auch eine ethische Forschungsfront gibt, an der die Standards der Urteilsbildung noch nicht abschließend geklärt sind.9 Unkontrovers unter den wichtigsten Paradigmen der Ethik ist, dass sie kognitive Instrumente entwickelt, nach denen Regeln zur Beurteilung des Handelns unter dem Gesichtspunkt der Verallgemeinerbarkeit erfunden und geprüft werden. Gemäß solchen Verallgemeinerbarkeitsstandards „entstehen" (im methodischen, nicht im genetischen Sinn) aus den lebensweltlichen Handlungsqualifikationen die ethisch-deontischen Handlungsqualifikationen: Beurteilungskategorien Moral

= verallgemeinerbar =>

Ethik

„gut" geboten: OA (im Sinne von empfehlenswert) „schlecht" (im Sinne von verwerflich)

verboten: FA

„nicht schlecht" (im Sinne von zulässig)

erlaubt: PA

„weder gut noch schlecht" (im Sinne von beliebig)

indifferent: IA

Sätze der Form ΔΑ (Δ = O, F, Ρ oder I) heißen „Normen". Normen sind hypothetisch (B —• ΔΑ), wenn sie von einem Antezedens subjunktiv abhängen, sonst kategorisch ( 0 —> ΔΑ). Moralische Sätze sind tiefengrammatisch in aller Regel hypothetisch zu 9

Im Übrigen bedeutet das in diesem Beitrag vorgetragene Plädoyer für die Zuständigkeit der Ethik nicht, dass die von ihr behandelten Probleme zu jedermanns Zufriedenheit gelöst werden. Wer diesbezüglich der Meinung ist, dass sich die Ethik sogar in einem wissenschaftlich unbefriedigenden Zustand befindet, sollte sich allerdings vor Augen halten, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich alle wissenschaftlichem Disziplinen in einem kognitiv gleich „guten" Zustand befinden. In einer solchen Situation ist die adäquate Frage, was zur Verbesserung des Zustande zu tun ist.

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rekonstruieren, auch wenn sie oberflächengrammatisch eine kategorische Form zu haben scheinen.10 Die Durchführbarkeit von Verfahren der Verallgemeinerbarkeit im dargestellten Sinne hängt von einer Reihe von meta- oder proto-ethischen Prämissen ab, die selbstverständlich der wissenschaftlichen Debatte zugänglich sind. Sie betreifen wenigstens Unterstellungen (a) über die Struktur des moralischen Diskurses, (b) über den Begriff der Handlung und (c) über Merkmale des Akteurs als Handlungsurhebers. (a) In moralischen Diskursen (die gegebenenfalls fiktiv geführt werden) werden moralische Verpflichtungen und Berechtigungen gerechtfertigt. Über die materiellen Ergebnisse solcher Diskurse weiß die Ethik zunächst nichts zu sagen. Sie legt aber in Entfaltung des Verallgemeinerbarkeitsprinzips sozusagen die Geschäftsordnung des moralischen Diskurses fest. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wem eine handelnde Person die moralische Berechtigung zuerkennen und demgemäß sich verpflichten lassen soll. Dabei sind drei Antworten denkbar: -

nur sich selbst, nur einigen (z. B. den Angehörigen ihrer Gruppe) oder aber allen Menschen.

Ethische Konfliktlösungsregeln können somit grundsätzlich auf diesen drei Ebenen verstanden werden: -

Erstens: Jeder löst den Konflikt nur für sich, was ersichtlich ein pragmatischer Widerspruch ist (Solipsismus, Egoismus); Moral ist keine Privatsache.11 Zweitens: Die Lösung von Konflikten gilt nur fur die Mitglieder einer Gruppe (Partikularismus). Drittens·. Sie gilt für Jedermann" (Universalismus).

Universalismus bezeichnet somit eine Strategie der Konfliktbewältigung, in der Normen generiert werden, die durch die Diskursform der Universalisierung entstehen. Die Ethik wird demnach durch einen praktischen Universalismus bestimmt. Die demgemäß aufgestellte Norm ist als ethische, nicht als moralische zu verstehen. Wenn man Moralen einer ethischen Kritik unterzieht, dann wird geprüft, ob die Regeln, die eine Moral (z. B. Standesmoral) ausmachen, universalisierbar sind. Dies ist jedoch kein einfaches „Töpfchen-Kröpfchen-Geschäft"; denn im Falle der Nicht-Universalisierbarkeit erhebt sich sofort die Frage, wie man Maximen ändern muss, damit sie universalisierbar und somit nicht konflikterzeugend sind. Dies ist ersichtlich alles andere als eine triviale Fragestellung; Vielmehr macht sie aus der Ethik erst eine Disziplin, zu deren Beherrschung 10 Beispiele sind das Tötungsverbot oder das Wahrhaftigkeitsgebot. 11 Die Rede von einer Individualmoral und komplementär von Sozialmoral geht auf die religiöse Vorstellung einer Position des Individuums vor einem ihn zur Verantwortung ziehenden Gott zurück. Unbeschadet dessen kann auch eine Moral als soziales Phänomen Verpflichtungen eines Akteurs gegenüber sich selbst enthalten.

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eine Form der Routine im Umgang mit Problemen eines bestimmten Typs, somit Professionalität gehört. Es gibt eine „ ethische Expertise ". Bezüglich der Rechtfertigung des praktischen Universalismus stellt sich die Frage, warum man überhaupt ein Universalist und nicht vielmehr ein Partikularist sein soll. Die Frage stellt sich vor allem angesichts des Umstands, dass alle faktisch existierenden Moralen partikularistischer Natur sind. Dazu zählen insbesondere Moralen, die ihre Geltung nach der Zugehörigkeit der Akteure zu einem Stamm, einem Stand, einem (religiösen) Bekenntnis, einer Rasse, einer (sozialen) Klasse, einem Geschlecht usw. bestimmen. Die Rechtfertigung des Universalismus ergibt sich nun aus den Präsuppositionen des Willens zur Konfliktbewältigung: Jede Beschränkung des Jedermann" fuhrt nämlich potenziell zu Konflikten mit denjenigen Akteuren, die sich außerhalb der Grenze befinden. Will man also für die Konfliktbewältigung maximale Vorsorge treffen, so muss man die Grenzen der potenziellen Diskursteilnahme von Proponenten und Opponenten möglichst weit fassen, und zwar universell. Der Ausdruck „universell" heißt dabei, dass jeder, der in Diskursen durch das Äußern einer Aufforderung (z. B. „Gib mir das!") einen Anspruch geltend machen kann und damit potenziell Konflikt erzeugend ist, einzubeziehen ist. Die Universalität der ethischen Imperative erstreckt sich also auf alle, die sich auf die Aufforderung verstehen. Demzufolge wird der praktische Universalismus insoweit zunächst rein funktionell (und nicht beispielsweise metaphysisch oder religiös) gerechtfertigt: Will man sicher sein, dass die jeweiligen Regeln konfliktfrei realisiert werden können, dann muss man nach maximaler Akzeptabilität für jedermann und jederzeit suchen. Nebenbei gibt diese Rekonstruktion des Universalismus eine einfache Möglichkeit an die Hand, den Ausdruck „Würde" ohne metaphysische Substruktionen zu explizieren. Als Definitionsskizze sei vorgeschlagen: „X anerkennt die Würde von Y": = „X präsupponiert bei seinen diskursiven Handlungen, dass Y legitimer Diskursteilnehmer ist" oder (bei naheliegender Substitution): „[...], dass Y ein kompetenter moralischer Akteur ist" oder: (bei naheliegender Substitution in die Zweck-Mittel-Rede): „[...], dass Y als ,Zweck an sich selbst' und nicht als ,bloßes Mittel' gesetzt wird." Man sieht, dass ein enger systematischer Zusammenhang zwischen dem Universalismus, dem Würdebegriff und dem Instrumentalisierungsverbot hergestellt werden kann, ohne dass man in die Probleme des Wertjargons geraten muß. Entsprechend kann man ein prozeduralistisches von einem substanzialistischen Würdeverständnis unterscheiden. Der Prozeduralismus hat den Vorteil, nur auf dem Universalismus zu beruhen, keine starken (metaphysischen oder religiösen) Prämissen zu benötigen und alle interessanten (z. B. rechtsphilosophischen) Fragen zu explizieren zu erlauben. (b) Die Grundlage dieses methodischen Verfahrens bildet eine gemeinsame Verständigung über das menschliche Handeln, d. h. die elementare Pragmatik, in der festgelegt

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wird, welche grundlegenden Kategorien der Handlungsdeutung zu welchem Zweck adäquat sind. Zu diesen Kategorien zählen die Begriffe: „Folge" (von Folgen), „Zweck", „Ziel", „Mittel" und „Gut" („pragmatisches Pentagon"). Die Folge (einer Handlung) ist ein Zustand, der als (vermeintliche) Wirkung eintritt, wenn die Handlung als Ursache rekonstruiert wird. Der Zweck ist ein Zustand, der als Folge (von Folgen) geplant (erwünscht) ist. Das Ziel ist dasjenige Attribut des Zwecks, das den Zweck als erwünschten Zustand erscheinen lässt. Ein Mittel ist diejenige Handlung, die (vermeintlich) ausgeführt werden muss, damit der Zweck sich als ihre Folge (von Folgen) ergibt. Als Gut (pl. Güter) ist ein Gegenstand zu verstehen, der für die Realisierung von Mitteln gebraucht wird oder sich dazu eignet. Menschen können im Handeln verschiedenen Zwecken folgen. Zwei Zwecke heißen unvereinbar, wenn sie nicht zugleich realisierbar sind. Streben zwei Akteure (handelnde Menschen) unvereinbare Zwecke an, so befinden sie sich in einem Konflikt. Niemand verbietet es zwar und kein Naturgesetz verhindert es, dass Menschen in Konflikten leben. Der Satz ,Du sollst nicht in Konflikten leben' lässt sich also nicht rechtfertigen. Wenn Menschen jedoch überzeugt und willens sind, Konflikte zu bewältigen, so stehen ihnen verschiedene Varianten der Konfliktbewältigung zur Verfugung: die non-diskursiven, ζ. B. durch Liquidation der Opponenten (Kontrahenten), oder die diskursiven, ζ. B. durch Rechtfertigungsdiskurse, die die Zustimmungsfähigkeit von Zwecken, Mitteln und Gütern prüfen, auf diese verzichten oder sie in kompatible Zwecke, Mittel und Güter modifizieren. Näherhin lässt sich die Ethik in diesem Zusammenhang als die Lehre von der diskursiven Konfliktbewältigung bestimmen. Ihre Professionalität besteht somit in der Fähigkeit, Möglichkeiten der Friedfertigkeitsroutine in einer konkreten Situation (durch „regelgeleitete Kasuistik") zu rekonstruieren (vgl. Gethmann 1992). (c) Eine der unhintergehbaren Grundlagen der Selbsterfahrung des Akteurs ist, dass er gewissermaßen nicht weggedacht werden kann. Eine Anwendung dieser Erfahrung ist, dass der Ich-Autor einer Redehandlung nicht ohne semantischen Verlust auf den Akteur im Sinne einer Handlungsbeschreibung reduziert werden kann. Der Akteur hat zu seiner Handlung, die er vollzieht, also ein strukturell anderes Verhältnis als deijenige, der den Handlungsvollzug des Akteurs beschreibt oder darüber berichtet. Grundsätzlich ist also die Vollzugsperspektive des Akteurs von der Berichtsperspektive eines Außenstehenden zu unterscheiden. Sprachlich drückt sich dies unter anderem dadurch aus, dass eine tiefe Ambiguität in der Bedeutungsverwendung von „Ich" liegt (vgl. Gethmann 2008). Die Verwechslung des Vollzugs-Ich mit dem Berichtsgegenstand in der dritten Person kann als Form eines Widerspruchs im Vollzuge (contradictio exercita) dargestellt werden. Ein Wesen, das sich selbst als Handlungen vollziehend erfährt, kann sich nicht restlos als bloßen Berichtsgegenstand setzen. Angenommen, ein solches Wesen berichtet über jemanden, der es nicht selbst ist, dann ist es jedenfalls Ich-Akteur der Handlung des Berichtens. Wer sich prinzipiell als Akteur erfahrt, kann zwar bezüglich jeden einzelnen Handlungsvorkommnisses, aber nicht jeden Handlungsvorkommnisses schlechthin sich selbst als bloßen Berichtsgegenstand setzen. Aus der Struktur der Selbsterfahrung des Akteurs ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Zum einen können die Attribute, die der Akteur sich selbst zuschreibt, nicht restlos als Sonderfälle von Fremdzuschreibungen interpretiert werden. Bezeichnet man

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die Selbstzuschreibungen als „Askriptionen" und die Fremdzuschreibungen als „Deskriptionen", dann lässt sich die These so zusammenfassen, dass Askriptionen nicht vollständig in Deskriptionen übersetzbar sind. Ein Beispiel für eine Askription, die im Zusammenhang mit der Diskussion um Anthropozentrismus und Pathozentrismus eine Rolle spielt, ist die Selbstzuschreibung von Schmerzempfindungen. Die Askription ,Ich empfinde Schmerz' lässt sich nicht vollständig in die Deskription ,Er empfindet Schmerz' übersetzen. Damit ist nicht die Mitteilbarkeit von Schmerzempfindungen in Abrede gestellt; es bleibt jedoch ein unübersetzbarer Unterschied, ob man Schmerzen empfindet oder das Empfinden von Schmerzen beschreibt. Dieser nicht übersetzbare Rest bleibt übrigens auch dann bestehen, wenn man (z. B. in der Erinnerung) selbst empfundene Schmerzen beschreibt. Dies belegt, dass auch in der Eigenberichtsperspektive zwischen Askriptionen und Deskriptionen unterschieden werden muss. Verallgemeinert heißt das, dass die Selbsterfahrung des Akteurs im Sinne einer Handlungspräsupposition klar zu unterscheiden ist von Eigenberichten im Sinne einer Handhingsproposition. Damit ist auch eine tief greifende Ambiguität aufgedeckt, die mit Begriffen wie „Reflexion" oder „Introspektion" verbunden ist. Wer sich als Akteur erfährt, ist in einer anderen Situation als derjenige, der sich als Akteur beschreibt. Vollzugs- und Berichtsperspektive können nicht in eins fallen. Der Akteur erfährt sich zum anderen in der Vollzugsperspektive als Zwecke setzend. Handlungen werden in der Vollzugsperspektive immer als Zweckrealisierungsversuche gedeutet, unabhängig davon, ob sie in der Berichtsperspektive als Wirkungen von Ursachen erscheinen. Der handlungstheoretische Antagonismus zwischen kausaler und finaler Handlungserklärung löst sich auf diese Weise in ein Perspektivenproblem auf. Die Beschreibung von Handlungen als Wirkungen von Ursachen (bzw. Funktionen in Systemen) ist keineswegs inadäquat; sie dient vielmehr gut etablierten Zwecken. Eine kausale Handlungserklärung empfiehlt sich z. B. dann, wenn Störungen eines erwartbaren Handlungsablaufes geklärt werden sollen. Der finalen Handlungsdeutung kommt jedoch methodisch ein Primat zu. Die Zweckperspektive ist diejenige, die der Akteur selbst einnimmt, unabhängig davon, was ihm über Ursachen berichtet werden mag. Der Akteur lässt sich den Zweckaspekt seiner Handlung nicht durch Fremdrekonstruktionen ausreden, jedenfalls nicht (im Durchlaufen der Stufen der Handlungsreflexion) beliebig oft. 12

2. Ethische Beratung und Partizipation13 Die Zuständigkeit der professionellen Ethik für die Rekonstruktion von Empfehlungen hinsichtlich der durch die bio-medizinische Forschung eröffneten Handlungsmöglichkeiten wird häufig durch einen Typ von Einwänden bestritten, der seine Plausibilität vor 12 Vgl. zu genaueren subjekttheoretischen Überlegungen Gethmann 2002. 13 Die Auseinandersetzung mit den hier kritisierten Vorstellungen politischer Partizipation wurden vom Autor bisher vor allem mit Blick auf die partizipative Technikfolgenabschätzung formuliert; dabei haben jedoch Fragen der ethischen Kompetenz eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Gethmann 2001 und 2005).

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allem aus dem Gedanken der politischen Willensbildung in demokratischen Gemeinwesen zu ziehen versucht. Dies gilt auch in Verfassungsordnungen, in denen sich die demokratische Willensbildung grundsätzlich wenig oder gar nicht durch Abstimmungen, sondern durch Wahlen manifestiert. Insoweit drückt sich im Gedanken von politischer Partizipation bei Sachfragen nicht nur ein Misstrauen gegenüber wissenschaftlicher Expertise, sondern auch gegenüber den repräsentativen Verfahren der politischen Sachentscheidungen aus. Insgesamt führen diese partizipativen Vorstellungen dazu, bestimmte Entscheidungsverfahren mehr oder weniger basisdemokratisch zu gestalten oder wenigstens Symbole zu schaffen (wie Konsensuskonferenzen), die basisdemokratische Entscheidungsverfahren in einer diffusen Weise abbilden. 14 Es geht letztlich um Kompetenzzuordnungen. Dabei sind sicher auch kognitive, näherhin wissenschaftliche Kompetenzen involviert. Deswegen werden meistens auch nicht rein plebiszitäre, sondern gemischte Verfahren in etlichen Varianten vorgeschlagen. Daher präsupponieren die verschiedenen Varianten partizipativer Verfahren auch nicht einfach eine Kompetenzverlagerung (ζ. B. vom Wissenschaftler zum Laien), wohl aber so etwas wie ein Kompetenzschisma entlang der Linie der Unterscheidung kognitiver versus evaluativer Kompetenzen. Genauer lassen sich die dabei unterstellten Vorstellungen in drei Thesen entfalten: -

-

These /: Den Wissenschaften kommt primär keine evaluativ-präskriptive Kompetenz zu. Diese Prämisse unterstellt einen wissenschaftlichen Deskriptivismus und einen moralischen Nonkognitivismus (wissenschaftstheoretische Prämisse). These IL Der Bürger verfügt im Unterschied zum Wissenschaftler primär über diese evaluativ-präskriptive Kompetenz (ethische Prämisse). These III: Die durch Delegation und Repräsentation von Kompetenz konstituierten demokratischen Institutionen sind (jedenfalls in einer Reihe wichtiger Fälle) untauglich, den Bürgerwillen zu exekutieren (politische Prämisse).

(A) These I hat zur Folge, dass die Wissenschaften primär nicht zuständig sind, wenn es um technikpolitische und wissenschaftspolitische Entscheidungen geht, die die Bevölkerung oder einen großen Teil derselben wesentlich tangieren. Die hier zu stellenden Fragen lassen sich unter zwei Gesichtspunkten diskutieren: (i) Ist die Wissenschaft tatsächlich ausschließlich oder primär ein rein deskriptivexplanatives Unternehmen? Diese Frage fuhrt in die allgemeine Wissenschaftstheorie und wird dort breit diskutiert. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es genuin normative Wissenschaften gibt, nämlich ζ. B. die Ökonomie, die Jurisprudenz und die Ethik. Darüber hinaus sind auch die sogenannten deskriptiven Wissenschaften von Normen methodologischer Art durchsetzt, die ihrerseits zweckrational gerechtfertigt werden müssen. Diese Normen gehören zum Kompetenzfeld der Wissenschaftler (und nicht der Laien). 14 Mit den Ausführungen dieses Paragraphen wird nicht in Frage gestellt, dass Partizipation das grundlegende Prinzip der politischen Organisation der Gesellschaft ist, so wie Volker Gerhardt das in seinem Werk Partizipation dargestellt hat. Es wird vielmehr bestritten, dass Ethikräte Elemente der politischen Organisation der Gesellschaft sein sollen.

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(ii) Verfügen aber deswegen auch die Wissenschaftler über die entsprechenden evaluativen Kompetenzen? Dazu ist zunächst zuzugestehen, dass man aus dem methodologischen Status einer Wissenschaft nicht direkt auf die Kompetenzen derer schließen kann, die die Wissenschaft betreiben. A priori gilt nicht, dass sich Ökonomen wirtschaftlicher, Juristen rechtskonformer und Ethiker moralischer verhalten als andere Menschen. Gleichwohl gilt aber, dass Ökonomen besser wissen, was ökonomisch rational ist, Juristen besser wissen, was rechtskonform ist, und Ethiker besser wissen, was moralisch ist. Wenn dies zutrifft, dann ist nicht zulässig, die Wissenschaftler (Experten, Technokraten, ...) unter Kompetenzgesichtspunkten als Gruppe neben andere Gruppen zu setzen (Gruppen der Bürger, Laien, Betroffenen, ...) und bezüglich ihrer Kompetenz mit diesen gleichzustellen, so wie man als Ethnologe Volksstämme (Tribus) neben Volksstämme setzt oder als Religionswissenschaftler Konfessionen neben Konfessionen. Die hier nicht selten anzutreffende Tribualisierung der Wissenschaften zeigt sich darin, dass Wissenschaftler als soziale Gruppe neben anderen angesehen werden, ohne zu berücksichtigen, dass das innere Definitionsmerkmai der Wissenschaften gerade die Selbstverpflichtung auf Rationalitätsstandards ist, die unter bestimmten (freilich: nicht-trivialen) Bedingungen erlaubt zu sagen, dass eine Behauptung wahr und eine Aufforderung richtig ist. Demgegenüber scheinen viele Ansätze der partizipativen Verfahren vom Virus eines Relativismus in der besonders schwierigen Variante des Soziologismus befallen zu sein. Gegen diesen ist daran festzuhalten, dass Wissenschaft/er zwar auch nur Menschen sind, daß Wissenschaft« jedoch, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, zu Recht Anspruch auf Akzeptabilität erheben und die Wissenschaftler diejenigen sind, die das mehr oder weniger gut wissen und können. (B) Die als „ethische Prämisse" charakterisierte These II besagt, dass der Bürger im Unterschied zum Wissenschaftler über diejenigen evaluativ-präskriptiven Kompetenzen verfügt, die als Grundlage für „richtige" Entscheidungen notwendig sind. Kritisch ist zunächst auf eine Ungereimtheit in den daraus folgenden Strategien aufmerksam zu machen, die sich auf die unklare Bedeutung des Wortes „Diskurs" zurückfuhren lassen. Wenn es primär um evaluativ-präskriptive Kompetenzen geht, wieso dann die aufwendigen „Diskurse", in denen den Bürgern die Grundlagen der Energietechnik, der Molekularbiologie oder Reproduktionsmedizin beigebracht werden? Programme, die in den USA mit dem Stichwort „education" verbunden sind, spiegeln das hier liegende Missverständnis wider. Die Bürger bezweifeln ja nicht, dass beispielsweise die Biologen ihr Geschäft beherrschen, sie furchten vielmehr, dass sie ihr Geschäft beherrschen; sie wollen ja auch nicht die kognitiven Leistungen der Wissenschaftler evaluieren, sondern eher ihre evaluativ-präskriptiven Kompetenzen, ihre Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit und andere Charaktereigenschaften. Vertrauen hat auch etwas mit Vertrautheit mit dem Themenfeld zu tun, aber nicht mit einem quasi-wissenschaftlichen Training. Was hier „Diskurs" heißt, bedarf dringend der Präzisierung. Die Kernfrage ist jedoch, ob der Bürger selbst tatsächlich über diese evaluativpräskriptiven Kompetenzen verfugt. Ist es wirklich angemessen zu unterstellen, dass jeder weiß, „was für ihn das Beste ist"? Oder geht die Forderung nicht vielmehr dahin, dass jeder erwartet, dass die anderen anerkennen, dass dies für ihn zutrifft? Die These, jeder sei bezüglich seiner eigenen Bedürfnisse der beste Experte, soll hier als „Eigen-

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kompetenzthese" bezeichnet werden. Gegen diese These stehen zunächst Phänomene der primären Lebenserfahrung, der Erfahrung der Phasenhaftigkeit des Lebens und des biographischen Wandels von der Erziehungsbedürftigkeit des Kindes bis zur Betreuungsbedürftigkeit alter Menschen. Dazu kommen Erfahrungen mit der Manipulation von Bedürfnissen und der strategischen Erzeugung von Bedürfnissen. Als Theoretisierungen solcher Erfahrungen sind eine Reihe anthropologischer Konzeptionen von der faktischen Unmündigkeit des Individuums angeboten worden. Zu erwähnen sind unter anderem Kants Forderung nach Aufklärung als Herausfuhrung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, Marx' Konzeption des falschen Bewusstseins, die Konzeptionen der Verdrängung von Bedürfnissen bei Freud und anderen Psychoanalytikern, sowie die Theorien, die es mit dem Warencharakter aller Güter und der Herrschaftsimprägnierung aller Diskurse zu tun haben. Selbstverständlich sollen diese Hinweise nicht darauf hinauslaufen, die Eigenkompetenzthese grundsätzlich zu bestreiten, schon allein deswegen nicht, weil dadurch Entmündigungsstrategien in welcher politischen Form auch immer gerechtfertigt würden. Die Eigenkompetenzthese ist weder a priori zu begründen noch zu widerlegen. Vielmehr ist sie eine regulative Idee, die ein Gemeinwesen als erfüllt unterstellen muss, die jedoch im Einzelfall immer nur mehr oder weniger erfüllt ist. Dass die Bürger, Laien, Betroffenen,... über Eigenkompetenz verfügen, ist also keine Tatsache, sondern eine regulative Idee, die uns bei der Organisation des Gemeinwesens leiten muss, die wir aber nicht für faktisch realisiert halten dürfen. Die faktische Eigenkompetenzthese dagegen stellt tendenziell eine Überforderung der evaluativ-präskriptiven Kompetenzen des Bürgers dar, von der er sich in vielen Fällen zu Recht durch die politischen Organisationen des Gemeinwesens freigestellt sehen möchte. Bürger wählen auch deshalb Repräsentanten, weil sie sich nicht ständig mit den überkomplexen Entscheidungsproblemen des Gemeinwesens auseinandersetzen wollen. (C) Die als „politische Prämisse" herausgestellte These III besagt, dass die durch Delegation und Repräsentation von Kompetenz konstituierten demokratischen Institutionen (teilweise) untauglich sind, in technik- und wissenschaftspolitischen Fragen den Bürgerwillen zu exekutieren. Diese politische Prämisse steht zunächst der Erfahrung entgegen, dass sich der Bürger in vielen Fragen von der Zumutung der Eigenkompetenz durch die politische Organisation des Gemeinwesens freigestellt sehen möchte. Dafür wählt er durch Verfahren der Delegation und Repräsentation solche Mitbürger, an die er seine Kompetenz zur Vermeidung von Kompetenzüberlast abtreten möchte. Basisdemokratische Vorstellungen liegen somit gar nicht im Interesse des Überlasten abwehrenden Bürgers, sondern solcher politischer Akteure, die einfach materiell andere Entscheidungen oder sogar ein anderes politisches System wollen. Partizipative Konzeptionen politischer Entscheidung müssen sich daher mit dem Verdacht auseinandersetzen, ihre Agitation für die Bürgerkompetenz sei Systemkritik mit anderen Mitteln. Ein weiterer kritischer Gesichtspunkt ergibt sich, wenn man die Betrachtung umkehrt, d. h. aus der Perspektive der politischen Institutionen argumentiert. Basisdemokratische Prozeduren implizieren eine Entsubstanzialisierung der demokratischen Institutionen, vor allem der Parlamente. Denn diese Konzeptionen unterstellen, dass sich Verfahren der Delegation und Repräsentation und die dazugehörigen Prozesse der Professionalisierung

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von Entscheidung gewissermaßen zurücknehmen lassen. An dieser Stelle ist auf ein Phänomen hinzuweisen, das man als Zirkel der Kompetenzzuordnung bezeichnen kann. Dieser Zirkel kann in einer stark vereinfachten Stilisierung so dargestellt werden: Bürger wählen Parlamente. - Parlamente fordern den Rat der Experten an. - Die Experten fordern Bürgerentscheide. - Bürger wählen Parlamente. Im Übrigen liegt auf der Hand, dass die Entsubstanzialisierung der politischen Repräsentation die Entsubstanzialisierung der wissenschaftlichen Expertise fur die politischen Institutionen nach sich zieht. Demgegenüber sei daran erinnert, was die Staatsrechtslehre seit Kant zum Thema der „Repräsentation" (d. h. der Entscheidung durch Wahl statt durch Abstimmung) lehrt. Danach ist die parlamentarische Willensbildung eine „Vermehrung", sogar „Vergütung" des Volkswillens (vgl. Krüger 1966, 232-253, bes. 233). Eine demokratische Gesellschaft ist eine solche, in der Verfahren der politischen Willensbildung etabliert sind, durch die sich der gefilterte Volkswille Bahn bricht. Hier kommt alles darauf an, diese Filterfunktion genauer zu betrachten. Der Ausdruck „gefilterter" Volkswille steht im Gegensatz zu „unmittelbarer" Volkswille. In einer langen und zum Teil durchaus blutigen Geschichte der Entwicklung politischer Institutionen haben die westlichen Gesellschaften gelernt, dass es nicht der unmittelbare Volkswille ist, der der Despotie entgegenzustellen ist. Solche Filterfunktionen sind beispielsweise die Gewaltenteilung, durch die sich die Träger der staatlichen Gewalt wechselseitig kontrollieren, die Subsidiarität zwischen den Ebenen der Gebietskörperschaften (Gemeinde, Land, Bund) oder die Zeitdilatation (z. B. durch Verfahrensvorgaben wie Anhörungen, Mehr-Lesungsverfahren). Es handelt sich also um Elemente, die in westlichen Demokratien wesentlich zum Gefüge der Institutionen gehören, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Die Konstruktion demokratischer Institutionen in nichtplebiszitären Demokratien bringt einmal zum Ausdruck, dass niemand anders als das Volk herrscht. Auf der anderen Seite gebührt dem unmittelbaren Volkswillen Misstrauen. Also sind die Institutionen so zu „konstruieren", dass das Volk teilweise vor seinem eigenen Willen durch institutionelle Filter geschützt werden kann. Man könnte nun einwenden, dass diese Überlegungen der unmittelbaren Evidenz widersprechen, die die Forderung nach Partizipation in Fällen weitreichender Entscheidungen - wie den Bau überregionaler Straßenverbindungen oder der Einrichtung petrochemischer Großanlagen - gefunden hat. Es ist keineswegs in Frage zu stellen, dass die Partizipation unmittelbar Betroffener im Rahmen von Planungsverfahren für großtechnische Anlagen ein wesentliches Instrument zur Verbesserung der Planungsrationalität ist. Die Bürgerbeteiligung verbessert in solchen Fällen die Kommunikation und damit (wenn auch nicht mit Sicherheit) möglicherweise die Akzeptanz. Zu fragen bleibt jedoch, ob dadurch auch die Legitimation der Entscheidung verbessert wird. Diese Frage wird man ebenfalls bejahen, wenn die Beteiligten auch wirklich und unmittelbar betroffen sind. In vielen Fällen technik- und wissenschaftspolitischer Entscheidungen ist die Betroffenheit aber mittelbar und indirekt. Hier ist die Abgrenzung zwischen Betroffenen und selbsternannten Berufs-Betroffenen kaum noch möglich. Insbesondere kann aus dem

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kommunikativen Aspekt der Partizipation nicht auf seinen Legitimationsaspekt geschlossen werden. Daher sei abschließend die Vermutung formuliert, dass die hohe Plausibilität, die der Gedanke der partizipativen Bürgermoral zu haben scheint, sich im Wesentlichen dem teilweise erfolgreichen Einsatz von Partizipationsstrategien im Rahmen unmittelbarer Bürgerbeteiligung in Planungsprozessen für Großanlagen verdankt. Aus dieser Sphäre wird gewissermaßen ein Plausibilitätstransfer in solche Bereiche vorgenommen, in denen im Prinzip jedermann betroffen ist. Sollte diese Vermutung richtig sein, dann käme es darauf an, diejenigen Sektoren schärfer auszuzeichnen, in denen der Partizipationsgedanke besonders unter Berücksichtigung seiner kommunikativen Funktion am Platze ist, und davon solche Fragen abzugrenzen, bei denen der Partizipationsgedanke jedenfalls ohne legitimatorischen Effekt ist. Zu letzteren Fragen gehören die höchst komplexen Probleme, die die Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften und medizinbezogenen Naturwissenschaften mit sich bringt. Ob es beispielsweise moralisch zulässig ist, Embryonen zu klonen, um Stammzellen für die Therapie einer Reihe schwerwiegender, bisher unheilbarer Krankheiten zu gewinnen, kann danach kein Partizipationsproblem sein. Unmittelbar Betroffene sind auf der einen Seite Embryonen, eventuell die Spender der Ausgangsmaterialien, auf der anderen Seite potenziell betroffene Patienten. Wie soll man sich Partizipation hier vorstellen? Welche kommunikativen Effekte können erzielt werden? Was legitimiert diejenigen, die glauben, ihre Stimme erheben zu sollen?

3. Ethische Expertise und ethischer Rat Fast alle Staaten der westlichen Welt haben Ethikkommissionen mit weitgehend ähnlichen Aufgabenstellungen gegründet. 15 Ihre Rechtfertigung ergibt sich jedoch aus sehr unterschiedlichen Überlegungen, und somit unterscheiden sie sich nach Konstitution und konkretem Auftrag erheblich. 16 In Deutschland hat auf Bundesebene zuerst der unter Bundeskanzler Schröder gebildete Nationale Ethikrat die Aufgabe der ethischen Beratung übernommen, der inzwischen durch den Deutschen Ethikrat abgelöst wurde. 17 Auf Länderebene haben die Länder Rheinland-Pfalz 18 und Bayern 19 teilweise schon erheblich früher Ethikräte eingerichtet. 15 Einen Überblick für Deutschland geben ζ. B. Krippner/Pollmann (2004). Einen Überblick über die internationale Situation gibt Fuchs (2001). 16 Vgl. Lanzerath 1996. - Im Folgenden werden nur die durch die Politik etablierten gesamtgesellschaftlichen Beratungsgremien behandelt. Dagegen werden die Ethikräte an den Universitätskliniken (Helsinki-Kommissionen) und an den Krankhäusern mit intensivmedizinischen Abteilungen außer Betracht gelassen. 17 Volker Gerhardt gehört(e) beiden Gremien als einer der wenigen professionellen Ethiker an. 18 Die BioEthik Kommission Rheinland-Pfalz wurde 1985 durch den damaligen Justizminister Caesar gegründet und ist damit der älteste Ethikrat in Deutschland. Sie setzt sich zusammen aus Wissenschaftlern (Ethikern, Theologen, Medizinern, Naturwissenschaftlern, Juristen) sowie aus Vertretern der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der zuständigen Landesministerien.

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Die Probleme solcher Ethikräte zwischen professioneller Ethik und Bürgermoral sollen im Folgenden grundsätzlich vor dem Hintergrund der vorstehenden Überlegungen diskutiert werden. Danach sind idealtypisch zwei Typen von ethischen Beratungsgremien denkbar. (A) Rat der Sachverständigen („Weisen"): Ein solcher besteht aus sachverständigen Wissenschaftlern, deren Aufgabe die sachverständige Politikberatung ist. Sie sind ethische Experten, die die anstehenden Fragen unter den für die Wissenschaft konstituierenden Gesichtspunkten der Verallgemeinerbarkeit und Nachvollziehbarkeit bearbeiten und ihre Arbeitsergebnisse den Entscheidern zur Verfügung stellen. Ein deutsches Beispiel für ein solches Gremium ist der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", umgangsprachlich „Die fünf Weisen" genannt, der im Jahre 1963 eingesetzt wurde. Seine Aufgabe ist die periodische, unabhängige Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur Erleichterung der politischen Urteilsbildung der politischen Entscheider. Die Erfahrung zeigt, dass ein solcher Rat der Sachverständigen die entscheidenden Politiker keineswegs inhaltlich festlegt. Sie können mit dem Hinweis auf die Komplexität der Aussagen (Regierung und Opposition sehen sich in der Regel bestätigt) und die weitergehenden Entscheidungsparameter der Politik leicht eskapieren. Allerdings zwingt ein solcher öffentlich erteilter Rat immerhin zur Stellungnahme. Je qualifizierter der Rat erscheint, umso mehr muss die Politik sich mit ihm befassen und umso intensiver muss sie eine abweichende Position rechtfertigen. Insofern unterhöhlt ein Rat der Sachverständigen nicht die politischen Zuständigkeiten, wirkt aber gleichwohl inhaltlich auf sie ein. Der Wahrheitsanspruch der Wissenschaft wird andererseits grundsätzlich nicht kompromittiert. Ein Ethikrat, der nach dem Muster eines Rates der Sachverständigen konstituiert ist, repräsentiert die ethische Expertise im dargestellten Sinn und den wissenschaftlichen Sachverstand der einschlägigen Fächer aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften, den Lebenswissenschaften und den medizinischen Disziplinen. Dabei sollte die Pluralität der Mitglieder die Pluralität der einschlägigen Normwissenschaften wie Jurisprudenz, Ökonomie und Ethik sowie der ethischen Paradigmen und der Ermessensräume rationaler Urteilsbildung widerspiegeln.

(B) Rat der Stellvertreter: Ein solcher Rat umfasst Vertreter (Repräsentanten, Delegierte) von Großgruppen und Verbänden. Ein deutsches Beispiel sind die Rundfunkräte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens („Vertreter des öffentlichen Lebens"). Der Rundfunkrat bzw. Fernsehrat ist bei deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ein Kontroll19 Die Bioethik-Kommission Bayern wurde im Jahre 2001 berufen. Ihr gehören Experten der Fachdisziplinen Medizin, Biologie, Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und der Behindertenpolitik an.

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gremium zur Vertretung der Interessen der Allgemeinheit bei der Programmgestaltung. Zugleich ist der Rundfunkrat das oberste für die Programmkontrolle zuständige Aufsichtsgremium. Ein solches Gremium arbeitet somit nicht nach dem wissenschaftlichen Ethos der Wahrheitssuche, sondern hat die Aufgabe, gesellschaftliche Konfliktlagen abzubilden und möglichst durch Kompromisse aufzulösen. Letztlich wird durch Mehrheit entschieden. Somit bildet ein Rat der Vertreter den demokratischen Prozess ab. In einem gewissen Sinne werden parlamentarische Verfahren nachgeahmt und damit verdoppelt. Ein Gremium dieser Art greift somit grundsätzlich in die Kompetenzen der Parlamente ein. Ein Beschluss eines solchen Gremiums ist für die Politik daher auch schwer zu revidieren, weil alle politischen Kräfte ja schon an den Beschlüssen mitwirken. Ein ethisches Beratungsgremium, das nach dem Konzept eines Rates der Vertreter konstituiert ist, hat die Aufgabe, die inhaltlich unterschiedlichen und oft unklaren moralischen Vorstellungen der Bürger zu artikulieren und zu systematisieren. Mitglieder eines solchen Gremiums sind nach den Gesichtspunkten der Übersicht und der Lebenserfahrung, aber auch der Repräsentanz für wichtige Positionen(-typen) auszuwählen. (C) Mischformen: Die deutschen Ethikräte sind ausnahmslos Mischformen aus den beiden idealtypischen Formen, allerdings mit deutlichen Akzentunterschieden. Der Anteil der ethischen Expertise war schon im Nationalen Ethikrat schwach ausgebildet; diese Situation hat sich im Deutschen Ethikrat noch verstärkt. Die Repräsentanz von Konfessionen, politischen Parteien, Geschlechtern und Minderheiten spielt gegenüber der ethischen Expertise eine dominante Rolle bei der Auswahl der Mitglieder, wobei Personen, die mehrere Parameter abdecken, offenkundig als besonders ideale Besetzungen gelten. Nicht selten wird die Mischform verteidigt, indem man in ihr eine Realisierung der Tugend des Kompromisses sieht und ihr somit eine besondere befriedende Wirkung zuschreibt. Aufgrund der vorstehenden Überlegungen ist jedoch eine derartige Mischform tendenziell als Übergehen der ethischen Expertise und eine mehr oder weniger explizite Realisierung des Gedankens der partizipativ-plebiszitären Politik- und Moralkonzeption zu deuten. Ferner werden die politischen Auseinandersetzungen in einem solchen Ethikrat bereits antizipiert, weil aufgrund des hohen Repräsentationsanteils die Revision der Entscheidung für die politischen Akteure sehr schwierig ist; die Beschlüsse des Gremiums haben eine Art quasi-plebiszitäre Weihe. Ein Rat der Stellvertreter ist im Übrigen keineswegs bürgernäher als ein Rat der Sachverständigen. Die Vertreter des öffentlichen Lebens sind vom Bürger genauso weit entfernt wie die „Weisen". Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist daher keines der beiden Modelle durch besondere Volksnähe ausgezeichnet. Diese Gesichtspunkte stellen noch keine grundsätzlichen Einwände gegen Mischformen dar. Solche ergeben sich jedoch, wenn man sich fragt, wie durch die Wahl der Grundform die moralischen Konflikte innerhalb einer Gesellschaft implizit interpretiert werden. Ein Rat der Sachverständigen manifestiert ein Moralverständnis, das moralische Konflikte nach dem Muster wissenschaftlicher Dissense versteht und dementsprechend eine Auflösung des Konflikts mit den Mitteln diskursiver Klärung sucht. Ethikräte dieser Form

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haben daher große Ähnlichkeiten mit wissenschaftlichen Konsensuskonferenzen, in denen der Stand des Wissens durch Austausch und Abwägung von Argumenten wenigstens in the long run festgestellt wird. Sie orientieren sich an der regulativen Idee der normativen Richtigkeit in Analogie zur wissenschaftlichen Wahrheit. Demgegenüber manifestiert ein Rat der Stellvertreter ein Moralverständnis, das an religiösen Konfessionskämpfen orientiert ist. Ethikräte sind so (gewaltfreie) KonfessionsKriegsschauplätze. Durch Austausch von Bekenntnissen werden die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse eruiert. Die Konflikte und Dissense lösen sich nicht auf, es besteht nicht einmal die Absicht, andere zu überzeugen. Vielmehr werden Bekenntnisse ausgetauscht und allenfalls nach Authentizität, nicht nach der Richtigkeit klassifiziert. Häufig wird ein Rat der Stellvertreter mit dem Hinweis gerechtfertigt, die gesellschaftliche Meinungsbildung müsse durch dieses Gremium organisiert „werden". Dabei wird oft übersehen, dass eine solche Aufgabenstellung paternalistische bis autoritäre Allusionen hervorruft. Es ist nicht die Aufgabe der vom Staat eingesetzten Beratungsgremien, die Gesellschaft in ihren Meinungsbildungsprozessen zu organisieren. Stattdessen sollte ein ethisches Beratungsgremium ein Ort des „interdisziplinären Diskurses" zwischen den einschlägigen Fachdisziplinen zum Zwecke der Herausbildung ethischer Expertise unter Einbindung bestehender Professionalität sein. Ein professioneller Ethikrat im Sinne eines Rates der Weisen sollte die Bürgermoralen nicht wie ein Mikrokosmos wiederholen und sie nach immer problematischen Kriterien zu sortieren versuchen, deren Legitimation sofort wieder in Frage gestellt wird, sie auch nicht organisieren oder auch nur moderieren und erst recht nicht uniformisieren. Ein Ethikrat sollte vielmehr professionelle ethische Empfehlungen zur moralischen Konfliktbewältigung in einem moralisch pluralistischen Gemeinwesen formulieren. Folglich sollten die Stellungnahmen des Ethikrates problemorientierte, wissenschaftliche Texte sein, nicht Instrumente der Volks-Andragogik. Ein Ethikrat sollte sich nicht von Fragen der Repräsentativität und Partizipation leiten lassen, d. h. nicht politisch strategisch, sondern fachlich-argumentativ arbeiten. In Orientierung daran sollten die Fragen der internen und externen Kommunikationsformen behandelt werden.

Bibliographie Fuchs, Michael (2001): Internationaler Überblick zu Verfahren der Entscheidungsfindung bei ethischem Dissens. Gutachten im Auftrag der Enquête-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages. Bonn (www.bundestag.de/gremein/medi/medi_ext.htm). Gerhardt, Volker (2007): Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: Verlag C. H. Beck. Gethmann, Carl Friedrich (1992): Universelle praktische Geltungsansprüche. Zur philosophischen Bedeutung der kulturellen Genese moralischer Überzeugungen. In: Peter Janich (Hg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 148-175. Gethmann, Carl Friedrich (2001): Participatory Technology Assessment. Some Critical Questions. In: Michael Decker (Hg.): Interdisciplinarity in Technology Assessment. Implementation and its Chances and Limits. Berlin u. a.: Springer Wissenschaftsverlag, 3-13.

PROFESSIONELLE ETHIK U N D BÜRGERMORAL

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DIETER STURMA

Individualität und Menschenrechte

1. Die Kultur der Individuen Anders, als oftmals angenommen wird, sind Individualitätsbestimmungen keine spezifischen Kennzeichen der abendländischen Kultur und können nicht in dem ausgrenzenden Sinn verwandt werden, dass andere kulturelle Lebensweisen keine Formen individueller Existenz aufwiesen. Die Eigentümlichkeit abendländischer Individualität liegt vielmehr in der ausdrücklichen - zuweilen vielleicht überzogenen - Auseinandersetzung mit der subjektiven Erlebnisperspektive von Erfahrungsprozessen. Die Weise, in der wir Individualität betrachten, ist immer schon durch eine existenzielle, psychologische und moralische Dimension formiert, in der das Subjektive als Standort und Reflexionspunkt dominiert. Diese Formierung wird mit Kunstausdrücken wie ,Selbst' oder ,Ich' angesprochen. 1 Selbstgefühl oder Existenzbewusstsein als solches ist deshalb aber nicht auf die abendländische Kultur beschränkt und kann nicht einmal auf menschliches Dasein begrenzt werden. Vielmehr gehört es zum Grundbestand jeglicher bewusster Existenz, dass die Erfahrungs- beziehungsweise Erlebnisperspektive des jeweiligen Lebens in einem ganz grundlegenden Sinne Zugang zu der Erfahrung hat, dass sie oder etwas anderes von einem Ereignis betroffen ist - was nicht nur auf die humane Lebensform, sondern auch auf andere animalische Lebensformen zutrifft. 2 Jeder Prozess bewussten Lebens scheint sich in struktureller Hinsicht durch eine formale Selbstreferenz zu konstituieren. Die besondere Bedeutung abendländischer Individualität ist in der Hervorhebung der formalen Selbstreferenz bewussten Lebens begründet. Allein aus Koordinationsgründen müssen Erfahrungsprozesse auf ein Zentrum bezogen werden, von dem aus das Wahrnehmungsfeld konsistent und über die Zeit hinweg geordnet werden kann. Ein solches Zentrum hat jedoch nicht nur die Gestalt der personalen Erlebnisperspektive, wie ein verständiger Blick auf nichtmenschliche Lebensformen und Lebensweisen zeigt. Es ist daher zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Idee, den menschlichen Akteur als ,Ich' oder ,Selbst' zu bezeichnen, einer kulturellen Tradition angehöre, die der Perspektive der ersten Person einen zentralen Platz zubilligt.3

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Zu den kulturell unterschiedlichen Verwendungsweisen des Selbstbegriffs siehe Taylor 1989, 111 ff. Vgl. Gerhardt 2000, 96 ff. „Schon die Idee, den menschlichen Akteur als ,Ich' oder .Selbst' zu beschreiben, gehört einer Kultur an, die der Perspektive der ersten Person einen zentralen Platz einräumt. Die Vorstellung von Freiheit als Selbsttätigkeit beruft sich auf diese Perspektive, indem sie sie zugleich befestigt; sie intensiviert sozusagen unser Bewusstsein, ein ,Selbst' zu sein." (Taylor 2001, 264).

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Die Kultur der ersten Person wirft Schatten, die in den letzten Jahrzehnten immer länger geworden sind. Die Schattenseiten moderner Individualität werden gemeinhin unter dem Titel des Individualismus angesprochen, der für das besessene Kreisen um das steht, was jeweils für das eigene ,Ich' oder,Selbst' gehalten wird. Der neokonservativen Kritik zufolge zieht die Selbstbefangenheit des Individualismus eine Verflachung und Verengung des sozialen Lebens nach sich. Selbst wenn man dieser Individualismuskritik nicht in jeder Hinsicht folgen will, muss man zugeben, dass mit der Freisetzung spezifischer Formen moderner Individualität sich auch die Tragödien eines gemeinschaftlich vereinzelten Lebens einstellen, mit denen die Bewohner der Moderne umzugehen lernen müssen. 4 Vor dem Hintergrund der Schattenseiten moderner Individualität ist es angeraten, Vorteile und Nachteile genau zu identifizieren. Die Entwicklungen moderner Individualität sind ein kulturgeschichtliches Faktum, das nicht einfach rückgängig zu machen ist wenn das überhaupt gewollt wird. Wir sind aber immerhin in der Lage, ein differenzierteres Bild des Zustandes der Kultur der Individuen zu zeichnen. Dabei erweist sich im Rückblick die bis heute nicht zum Abschluss gekommene Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse als günstiger Anlass, Gewinn und Verlust moderner Individualität abzuwägen.

2. Der Streit um die Individualität In der Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse wird um das Leitbild der Individualität gestritten. Es soll die grundsätzliche Frage beantwortet werden, ob es gerechtfertigt ist, Individualität im Sinne selbstbestimmter Lebensführung einen Vorrang vor dem Gemeinschaftsgedanken einzuräumen. Die grundsätzlichen Vorbehalte der kommunitaristischen Kritik lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Das sich im Begriff des ungebundenen Selbst 5 ausdrückende Individualitätsverständnis ist inhaltslos. 2. Der Begriff des ungebundenen Selbst ist nicht imstande, unser soziales Selbstverständnis zu erfassen. 3. Der Begriff des ungebundenen Selbst ignoriert die Rolle sozialer Anerkennungsverhältnisse in unseren Selbstverständigungen. Der Vorwurf der Inhaltslosigkeit besagt, dass im Begriff des ungebundenen Selbst gerade all die inhaltlichen Bestimmungen fehlen, die ein vernünftiges Individuum überhaupt erst zu einer Person machen. Entsprechend könne auch nicht von Freiheit gesprochen werden, wenn sie dadurch zustande kommen solle, dass die inhaltlichen Bestimmungen und Ziele ausgeklammert werden, die menschliche Freiheit erst mit Sinn erfüllen. Menschliche Freiheit, die sich nicht auf etwas richtet, sei buchstäblich eine

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Ronald de Sousa benennt in diesem Zusammenhang drei Tragödien des Individuums der Moderne: 1. den einsamen Tod, 2. die Relativität aller Werte und 3. die soziale Isolierung (vgl. de Sousa 1987, 329 ff.). Es darf in diesem Zusammenhang allerdings nicht übersehen werden, dass es auch in abendländischen Kulturen noch viele Bereiche gibt, die durch prämoderne Einstellungen und Lebensweisen gekennzeichnet sind.

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Zur Einführung des Begriffs „unencumbered s e l f vgl. Sandel 1984.

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Freiheit zu nichts. Deshalb müssten gleichsam im Gegenzug die Begriffe der Freiheit und des Selbst immer als ,situated', als in soziale Kontexte eingebettet gedacht werden.6 John Rawls hat in der Tat behauptet, dass das Selbst vor seinen Zielen da sei.7 Fasst man diese Behauptung buchstäblich auf, wäre der Vorwurf der Inhaltslosigkeit berechtigt. Aber eine solche Ausdeutung kann kaum ernsthaft in Betracht gezogen werden. Mit dem Ausdruck , Selbst' bezeichnet Rawls den formalen Ursprung normativer Bestimmungen. Seine vermeintliche Inhaltslosigkeit ist deshalb nichts anderes als Ausdruck praktischer Offenheit. Das Selbst, von dem Rawls sagt, dass es vor seinen Zielen da sei, kann rechtfertigungsfähig nur als deontologisches Selbst verstanden werden, das für eine über die Zeit hinweg kontinuierliche Einstellung normativer Bewertungen steht. Die semantische Unbestimmtheit hinsichtlich der Handlungsgeschichten, die vor ihm liegen, ist lediglich die andere Seite der Annahme, dass ein deontologisches Selbst kein vollständig vergesellschaftetes Subjekt sein kann. Der Begriff des deontologischen Selbst setzt sich zumindest implizit von Vorstellungen eines sozial vollständig determinierten Individuums beziehungsweise eines bloß reagierenden Vergesellschaftungsprodukts ab. Seine formale Irreduzibilität und inhaltliche Offenheit macht ihn geradezu zum Gegenbegriff der vielfältigen Thesen zur vollständigen gesellschaftlichen Determination von Personen. Der Einwand, dass der Begriff des ungebundenen Selbst unsere soziale Eingebundenheit und insofern unser Selbstverständnis nicht erfasse, ergibt sich nahezu umstandslos aus dem Vorwurf der Inhaltslosigkeit. Der kommunitaristischen Kritik zufolge kommt es im menschlichen Leben nicht darauf an, zukunftsoffene Fragen wie Wie soll ich mich als Person verhalten?, Wie führe ich ein selbstbestimmtes Leben? oder Welche Ziele soll ich wählen? zu stellen, sondern zum Verständnis der eigenen sozialen Bedingtheit und Kontextualität zu gelangen.8 Dieses Verständnis könne nur mit dem Blick auf die kulturelle Gemeinschaft, in der man immer schon lebt, erlangt werden. Es gehe also lediglich darum, die einfache Frage Wer bin ich? innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft praktisch zu beantworten.9 Ungeachtet des Unbehagens gegenüber Konzepten individueller Selbstbestimmung sind die Lehren, die aus der Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse um das a n gebundene Selbst' zu ziehen sind, überaus hilfreich bei der Neubestimmung der Individualitätsproblematik. Jenseits der extremen Positionen von Liberalismus und Kommunitarismus zeichnen sich nämlich durchaus theoretische Perspektiven ab, die überzogene

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„Complete freedom would be a void in which nothing would be worth doing, nothing would deserve to count for anything. The self which has arrived at freedom by setting aside all external obstacles and impingements is characterless, and hence without defined purpose, however much this is hidden by such seemingly positive terms as .rationality' or ,creativity'." (Taylor 1977, 561). ,,[T]he self is prior to the ends which are affirmed by it; even a dominant end must be chosen from among numerous possibilities." (Rawls 1971, 560). Vgl. Sandel 1982, 54 ff. Die Differenz zum neokantianischen Liberalismus und Egalitarismus könnte denn auch nicht deutlicher ausfallen. Kant hat bekanntlich überzeugend dargelegt, dass die Frage Wer bin ich? als solche gar nicht beantwortbar ist.

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Formen des Individualismus genauso vermeiden wie repressive Einbettungen in Gemeinschaftsideologien. Auf das kulturgeschichtlich kontingente Faktum moderner Individualität ist theoretisch und praktisch auf zweierlei Weise reagiert worden. Einerseits tritt es als Ausgangspunkt grundsätzlicher politischer Orientierungen auf - wie im Liberalismus und im Großteil der neuzeitlichen Gesellschaftsvertragstheorien - , andererseits ist es kritisiert und zum Anlass für weitgehende politische und kulturelle Revisionen gemacht worden das trifft vor allem fìir die neokonservative Politiktheorie und den Kommunitarismus zu. Deshalb muss am Anfang einer realistischen Bestandsaufnahme der Individualitätsproblematik der Fragestellung nachgegangen werden, inwieweit das Faktum der Individualität überhaupt für Revisionen offen ist. Die Kommunitaristen haben diese Frage mit Blick auf die kulturgeschichtliche Kontingenz des Faktums entschieden bejaht und sind nicht müde geworden, in diesem Zusammenhang auf prämoderne Gemeinschaftsmodelle zu verweisen. Für den Liberalismus ist es demgegenüber eine unumstößliche Voraussetzung jeder Form von Kultur und Politik, dass Personen ,separate existing beings' sind. Diese Vereinzelungsthese wird als kulturgeschichtlich nicht relativierbare Eigenschaft menschlicher Existenz angesehen. Es sprechen in der Tat gewichtige Gründe dafür, dass Vereinzelung ein fester Bestandteil der Ontologie vernünftiger Individuen ist. Sie hängen vor allem damit zusammen, dass die komplexen Weisen theoretischen und praktischen Wissens, die den Menschen natur- und kulturgeschichtlich auszeichnen, ohne einen produktiven und organisierenden Selbstbezug nicht verständlich gemacht werden können. Individualität in der Gestalt von Subjektivität scheint dementsprechend als Phänomen angesehen werden zu müssen, das in einer Gemeinschaft niemals vollständig beruhigt werden kann. Zudem schließen selbst Kommunitaristen nicht grundsätzlich aus, dass Vereinzelung und Selbstbezug jeder Form menschlicher Existenz eigentümlich sind. Die These von der ontologischen Vereinzelung hat aber - anders als Liberalisten unterstellen und Kommunitaristen befurchten - noch keine präjudizierende Wirkung auf die politische und kulturelle Ausgestaltung menschlicher Gemeinschaften. Während die Liberalisten auf diese Offenheit mit einer defensiven Strategie der Ausgrenzung von persönlichen Wertvorstellungen aus dem politischen Raum reagieren, vertreten die Kommunitaristen den Standpunkt, dass keine Gemeinschaft auf Dauer ein funktionierendes öffentliches Leben aufrechterhalten könne, wenn die religiösen und ethischen Überzeugungen ihrer Teilnehmer darin ausgeklammert blieben. Dem liberalistischen Dualismus von persönlicher und politischer Selbstbestimmung setzen die Kommunitaristen ein Konzept öffentlicher Kultur gegenüber, das die persönlichen Wertvorstellungen eng an die Gemeinschaftsethik bindet. Auch wenn das kommunitaristische Plädoyer für den Vorrang einer Gemeinschaftsethik mittlerweile differenzierter und vorsichtiger vorgetragen wird, bleibt es gleichwohl von einem tiefen Unbehagen gegenüber den modernen Ausprägungen menschlicher Subjektivität und Individualität erfüllt. Dieses Unbehagen verstellt den nüchternen Blick auf den Unterschied zwischen moderner Individualitätsproblematik einerseits und gegenwärtigen Formen des Individualismus andererseits, die eben nicht umstandslos miteinander identifiziert werden können.

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Von Charles Taylor ist ein bedeutender Vorschlag gemacht worden, der Differenz zwischen Individualität und Individualismus im allgemeinen Theorierahmen des Kommunitarismus Rechnung zu tragen.10 Dieser Versuch ist nicht frei von kulturphilosophischen Ambivalenzen und prämodernistischen Tendenzen. Gleichwohl wird in ihm überzeugend herausgearbeitet, dass sich hinter den kulturell und sozialpsychologisch aus der Bahn geratenen Erscheinungsweisen des modernen Individualismus ursprünglich das nach wie vor ernst zu nehmende moralische Ideal der Authentizität verbirgt.11 Den Individualismuskritikern wirft er vor, dieses Ideal überhaupt nicht bemerkt zu haben. 12 Den Begriff der Authentizität verwendet Taylor im Sinne der Selbstverwirklichung („self-fulfilment") als Treue zu sich selbst („being true to oneself), womit unangesehen des etwas pathetischen Klangs zunächst nur gesagt werden soll, dass das jeweilige Individuum sich selbst für das Gelingen seines Lebens verantwortlich macht.13 Taylor kommt das Verdienst zu, innerhalb kommunitaristischer Sichtweisen den Begriff der Individualität entlastet zu haben. Aus Taylors Analysen kann unabhängig von seinen eigenen theoretischen Intentionen entnommen werden, dass die Auswüchse des Individualismus mit dem systematischen Kern der modernen Individualitätsproblematik wenig zu tun haben. Berechtigte Individualismuskritik begründet für sich allein noch keine Wende zu einer Gemeinschaftsethik. Die Kritik des gegenwärtigen Individualismus sollte sich auf den Nachweis konzentrieren, dass dieser gerade das nicht erreicht, woran ihm doch am meisten gelegen zu sein scheint: nämlich Individualität. Die individualistischen Praktiken führen nicht auf das Eigene und Unverwechselbare einer Person, sondern bestärken Leitbilder, die in aller Regel ideologisch identifizierbar sind. Das Unbehagen an der Individualität von Personen muss schon tief verwurzelt sein, wenn in dieser Situation das Heil von einer unbefragten Gemeinschaftsethik erwartet wird, zumal auch der Blick in die Geschichte in diesem Zusammenhang wenig Anlass für Zuversicht bietet. Was in vielen Formen der Individualismuskritik gemeinhin übersehen wird, ist der Sachverhalt, dass das Verhältnis von persönlicher und politischer Selbstbestimmung sich unter den Bedingungen der Moderne nur innerhalb des individuellen Standpunkts abspielen kann - hierin besteht Rousseaus ursprüngliche Einsicht.14 Wenn der moderne 10 Vgl. Taylor 1991. 11 Unter einem moralischen Ideal versteht Taylor eine Ordnung, die zwischen besseren und schlechteren Lebensweisen unterscheidet. Seine systematische Grundlegung erfährt des moralische Ideal der Authentizität bei Rousseau (vgl. Taylor 1991, 27 ff.; Sturma 2001a, 168 ff.). 12 „What I am suggesting is a position distinct from both boosters and knockers of contemporary culture. Unlike the boosters, I do not believe that everything is as it should be in this culture. Here I tend to agree with the knockers. But unlike them, I think that authenticity should be taken seriously as a moral ideal. [...] The picture I am offering is rather that of an ideal that has degraded but that is very worthwhile in itself, and indeed, I would like to say, unrepudiable by moderns. [...] What we need is a work o f retrieval, through which this ideal can help us restore our practice." (Taylor 1991,22-23). 13 „Authenticity is itself an idea o f freedom; it involves my finding the design o f my life myself, against the demands o f external conformity." (Taylor 1991, 67-68). 14 Vgl. Sturma 2001a, 138 ff.

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Individualitätsgedanke mit kulturellen Zielsetzungen versöhnt werden soll, dann muss jeweils von einem individuellen Standpunkt aus entschieden werden, unter welchen politischen Bedingungen wir leben und welche kulturellen Ziele wir anstreben wollen. Diese allgemeinen Problemstellungen können konkret und praktisch nur auf der Ebene von Fragen beantwortet werden, die darauf abzielen, wie Personen miteinander leben können, leben wollen und leben sollen. Das sind typische Fragen einer Person, die ihre Lebenspläne und Ziele vor sich hat - in einem metaphorischen Sinne kann deshalb von einem ,ungebundenen Selbst' gesprochen werden. Die Phänomenbasis des Begriffs des ,ungebundenen Selbst' ist das Faktum, dass Personen keineswegs ausschließlich egoistisch formiert sind und in ihren praktischen Lebensvollzügen in der Regel auf ganz unproblematische Weise von ihrem unmittelbaren Eigennutz abstrahieren können. Die praktische Perspektive, die sich daraus ergibt, ist die einer Person, die imstande ist, zumindest einige ihrer Motive und Interessen in den politischen Raum zu verlängern und auf Institutionen zu übertragen, die auf politische Gleichheit und Gerechtigkeit ausgelegt sind. 15 Selbst unter der günstigen Bedingung, dass die individuellen Erwartungen von Personen durchgängig Entsprechungen in den Institutionen und der Politik finden, wird die Frage des individuellen Standpunkts, welches Leben ich als Person im sozialen Raum fuhren soll, keineswegs überflüssig. Ihre praktische Beantwortung wird durch die soziale Gemeinschaft bestenfalls unterstützt. In der Gegenwart kann die komplexe und insofern anonymisierte Gesellschaft die individuellen Sinnerwartungen wohl ohnehin nicht mehr vollständig einlösen. Deshalb ist die Forderung nach ungeprüfter Übernahme von traditionellen gesellschaftlichen Werten ein Anachronismus. Wenn in einer Kultur der Individuen keine Einmütigkeit über die persönlichen und politischen Ziele mehr herrscht, kann sie in demokratisch verfassten Gesellschaften auch nicht mehr autoritär erzwungen werden. Auch politisch ist der personale Standpunkt unhintergehbar.

3. Multikulturalismus und Relativismus Die theoretische und praktische Unhintergehbarkeit des personalen Standpunkts ist der Ausgangspunkt für eine Ethik der Individualität. Ihr normativer Einsatz lässt sich formelhaft in drei Grundsätzen zusammenfassen: 1. Jede Person muss sich als eine solche entwickeln und entfalten können. 2. Jedes personale Leben hat in gleicher Weise existenzielle Bedeutung. 3. Jede Person muss die Möglichkeit haben, ihr Leben selbst zu führen. 1 6 Die Sätze 1 und 2 lassen sich zumindest in leicht abgewandelter Form mit kommunitaristischen Annahmen verbinden - insbesondere dann, wenn die Entwicklungsmöglichkeiten als sozial gesättigt gedeutet werden. Die große Herausforderung für jeden individualitätskritischen Ansatz stellt Satz 3 dar. Hinter ihm verbirgt sich ein umfassen15 „The moral division of labor between social institutions and the indivdual will work only if it corresponds to a possible division within the individual which amounts to a coherent form o f life, allowing him simultaneously to pursue his personal aims and to support the institutions which surround and constrain and limit that pursuit." (Nagel 1991, 59). 16 Vgl. Nagel 1 9 9 1 , 4 4 ff.

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der Menschenrechtsgedanke, der - unabhängig vom Unbehagen an der Individualität Vorbehalten ausgesetzt ist, die sich gleichsam im Gegenzug an Bestimmungen der Multikulturalität beziehungsweise der kulturellen Relativität orientieren. Der Bestimmung nach sind Menschenrechte Individualrechte, deren Adressaten als Träger von Eigenschaften und Qualitäten wie Würde, Verletzbarkeit, Empfindungsfähigkeit und Reflexion anerkannt werden. Mit dieser Anerkennung geht der positive Anspruch der Selbstentfaltung und Selbsterweiterung einher. Dieser gleichermaßen egalitäre und individualrechtliche Ausgangspunkt erzeugt in den gegenwärtigen politischen und kulturellen Debatten eine Reihe von Irritationen. In den internationalen Diskursen herrscht keine Einigkeit darüber, wie die Achtung der Würde der Person mit der Anerkennung der kulturellen Eigenständigkeit der Lebensform zu verbinden ist, in der die jeweilige Person lebt. Weil Nationen und kulturelle Lebensformen genauso auf Eigenständigkeit pochen wie Individuen - und in der Regel sogar wesentlich nachdrücklicher als diese - , scheint es in internationalen Abkommen wie der Menschenrechtserklärung unvermeidlich zu sein, der Einbettung der jeweiligen Person in seine spezifische Lebensform Rechnung zu tragen. Es bereitet keine grundsätzlichen Schwierigkeiten, diesem Erfordernis zu genügen, denn es hängt nur zu offensichtlich von den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen ab, ob eine Person ein menschenwürdiges Leben führen kann oder nicht. Die entscheidende Frage ist allerdings die, ob es allein davon abhängt. Auf jeden Fall ist zu vermeiden, dass in den Menschenrechtserklärungen Wertvorstellungen einer Kultur zulasten anderer kultureller Lebensweisen zum Tragen kommen. Während der Begriff der Multikulturalität, was immer er im Einzelnen besagen soll und besagen kann, die Vielfältigkeit, Eigenheit und das Eigenrecht kultureller Lebensformen als semantischen Kernbereich enthält, sollen Menschenrechte unterschiedslos jedem Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort zukommen. Gleichwohl kann der Ausdruck „Multikulturalität" - anders als der Zeitgeist nahelegen will - konstruktiv mit dem Menschenrechtsgedanken in Beziehung gesetzt werden und muss nicht zwangsläufig als Grundbegriff des Kulturrelativismus fungieren. Kulturrelativistische Ansätze setzen stillschweigend voraus, dass es eine abzählbar unendliche Menge von Phänomenen gibt, die annäherungsweise durch den Begriff der Kultur zu bezeichnen sind. „Kultur" soll dementsprechend nicht trennscharf definiert, sondern nach Maßgabe einer prädikativen Inflation aufgefasst werden. Ein solcher Kulturbegriff ist also unterbestimmt und scheint permanent seine Bestimmungen im Durchgang der mit ihm angesprochenen Orte und Zeiten zu wechseln. Zwei semantische Zumutungen multikulturalistisch ausgerichteter Theorieansätze sind auffällig: Zum einen wird „Kultur" als singulärer Terminus behandelt, ohne dass sich mit ihm konsistente Prädikationsräume verbinden ließen. Es werden nicht einmal konsistente Zuordnungen von singulärem und generellem Terminus zugelassen, womit von vornherein die Möglichkeit entfällt, mit dem Kulturbegriff prädikative Diskriminationen und Klassifikationen vorzunehmen. Zum anderen wird semantisch das unterstellt, was dem Argument nach gerade bestritten werden soll, nämlich dass der Begriff einer einzelnen Kultur sich auf einen in der Zeit identifizierbaren beziehungsweise über die Zeit hinweg identifizierbaren Sachverhalt bezieht.

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Weil Kulturen keine numerisch einfachen Entitäten sind, können sie denn auch nicht als feststehende Größen multikultureller Konflikte auftreten, in denen sich ohnehin immer auch gesellschaftsimmanente Gegenläufigkeiten zeigen. Multikulturelle Konflikte sind immer Konflikte im politischen Raum. Sie sind deshalb in letzter Konsequenz Fragestellungen nach dem gerechten und menschenwürdigen Leben.

4. Menschenrechte Adressaten von Menschenrechten sind die Akteure und Mitglieder der ethischen Gemeinschaft der humanen Lebensform. Sie führen ihr Leben als biologische Wesen in einem sozialen Raum, der durch normative Regeln ausgefüllt wird. 17 Ihre Verhaltensweisen und Handlungen unterliegen sowohl dem Raum der Ursachen als auch dem Raum der Gründe, was differenzierte Vorgaben für die ontologischen Bestimmungen personalen Lebens zur Folge hat: Im Leben von Personen konvergieren Faktizität und Normativität. 18 Deshalb ist es unumgänglich, bei Fragen nach den Menschenrechten bei dieser Konvergenz anzusetzen. Die Verbindung von Faktizität und Normativität provoziert den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses. Er geht auf Humes Klage zurück, dass in moralphilosophischen Entwürfen der Unterschied zwischen deskriptiven und normativen Aussagen gemeinhin übergangen oder unterschlagen werde. 19 Die Kritik am naturalistischen Fehlschluss ist im Sinne einer Begründungs- und Argumentkontrolle berechtigt. Seine kritische Reichweite ist allerdings begrenzt. Schon an Humes Formulierungen ist ablesbar, dass es auf die Differenzierung zwischen deskriptiven und normativen Diskursen ankommt, nicht etwa auf die Elimination von Sollenssätzen. Ein solches Eliminationsszenario stellt sich immer dann ein, wenn aus dem Umstand, dass normative Bestimmungen vom semantischen Ansatz her szientifischen oder naturalistischen Identifikationen im engeren Sinn nicht zugänglich sind, geschlossen wird, es sei nicht möglich, mit normativen Bestimmungen Vorgänge oder Sachverhalte in der Welt zu erfassen, auf die sich auch die 17 Zum normativen Gehalt des Begriffs der Person vgl. Gerhardt 1999, 356 ff. 18 „Die Trennung von Sein und Sollen findet an der Person keinen Anhaltspunkt. [...] Die Person fügt sich dem Schema von Sein und Sollen nicht. [...] Eine Person kann ihr Dasein nicht zureichend als einen bloß wie eine Ereigniskette ablaufenden Prozeß erfassen, sondern sie nimmt (vorausgesetzt sie will sich adäquat begreifen) notwendig die Selbstansprüche hinzu, die sie hat, weil sie über eine instantielle Vernunft verfugt." (Gerhardt 1999, 360-361) 19 Siehe Hume 1739/1978, 469: „In every system of morality, which I have hitherto met with, I have always remark'd, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs; when of a sudden I am surpriz'd to find, that instead of the usual copulations of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, 'tis necessary that it shou'd be observ'd and explain'd; and at the same time that a reason should be given, for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it."

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Naturwissenschaften beziehen. In den Eliminationsszenarien findet der Sachverhalt keine Berücksichtigung, dass biologische Wesen als Personen sich im Raum der Ursachen zu Gründen verhalten können. 20 Unabhängig von Fragen nach dem Verhältnis von Raum der Ursachen und Raum der Gründe ist ein begründungstheoretischer Zusammenhang zwischen Natur des Menschen und Menschenrechten mithilfe einer Konzeption menschlicher Grundbedürfnisse konstruierbar. Die Theorie der Menschenrechte kann auf menschliche Grundbedürfnisse als auf einen Brückenkopf zurückgreifen, der Naturbestimmtheit und Normativität miteinander verbindet. Der Rückgriff auf menschliche Grundbedürfnisse begegnet dem freien Spiel kultureller Kräfte mit der Rekonstruktion strukturgleicher Formen in den vielfältigen menschlichen Lebensweisen und gibt Auskunft über universale menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten. Zu ihnen gehören unter anderem Selbstbewusstsein, Körperbewusstsein, Zeitbewusstsein, personale Identität über die Zeit hinweg, kognitive Fähigkeiten, Bildung, Moralität, soziale Bindungen und Gegenseitigkeit, Naturerfahrung sowie die Fähigkeit, Lebensentwürfe zu entwickeln. 21 Die ethisch folgenreichsten Bestimmungen fallen in die Bereiche der personalen Identität, Bildung und kulturellen Teilhabe. Zwar tauchen sie nur selten ausdrücklich in den öffentlich geführten Menschenrechtsdiskussionen auf, gleichwohl sind sie für das Individualitätsverständnis schlechthin entscheidend. Ihr großer Vorzug ist die inhaltliche Reichhaltigkeit, die in den politischen Diskursen meistens aus dem Blick gerät, zumal oft vermutet wird, dass Menschenrechte letztlich kulturell überformt seien und deshalb nicht als universelle Bestimmungen behandelt werden könnten. Wie jedoch aus der Anerkennung der multikulturellen Vielfalt noch kein kulturrelativistischer Beliebigkeitsspielraum folgt, so können Universalisierungen nicht einfach mit dem Hinweis verworfen werden, dass sich hinter vielen Verallgemeinerungen spezifische Wertvorstellungen und Idealisierungen verbergen. Ungeachtet ihrer kulturellen Eigenheiten bildet jede menschliche Lebensform eine spezifische Konstellation von Bewusstsein, Sprache, Zeitverständnis und Moralität heraus. Darüber hinaus sind Spuren allgemeiner Moralität in vielen vergangenen und gegenwärtigen Kulturformen erkennbar: Zu nennen sind hier vor allem moralpsychologische Einstellungen wie Reue und Empörung sowie normative Gegenseitigkeitsund Anerkennungsverhältnisse. In ihren vielfaltigen Lebensweisen reagieren menschliche Gemeinschaften mit einer Reihe von wiederkehrenden Strukturen und Verhaltensmustern auf ihre Umwelt- und Lebensbedingungen. Sie betreffen insbesondere die kulturellen Ausprägungen von Sprache, Religion, Kunst und Arbeit. Allerdings können die Gewichtungen und Hierarchisierungen der damit verbundenen Werte von Lebensweise zu Lebensweise sehr unterschiedlich ausfallen. Das Leben einer Person zu führen bedeutet, an jedem Ort und zu jeder Zeit als naturbestimmtes Individuum in einer sozialen Dimension von Gründen zu leben. Die Anwesenheit in der Dimension von Gründen verleiht der Erfüllung von Identitäts- und Bildungsbedürfnissen entscheidende Bedeutung bei der Bestimmung der ethischen Kri20 Vgl. Sturma 2007 u. 2008. 21 Vgl. Sturma 2001b.

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terien für humanes Dasein. Es gibt einen notwendigen Zusammenhang von Ausdrucksfähigkeit, Bildung und sozialer Gerechtigkeit. Menschen müssen intellektuell und praktisch in der Dimension der Gründe präsent sein, um nicht in einer Weise instrumentalisiert zu werden, die ein authentisches Selbstverständnis verhindert. Ohnehin scheint es Menschen unter den gegenwärtigen lokalen und globalen Lebensbedingungen immer schwerer zu fallen, ein stabiles Verhältnis zwischen personaler Identität, Lebensführung, Wohlergehen und Arbeit auszubilden oder aufrechtzuerhalten. Die weitestgehende Ausdrucksform der Gerechtigkeit gegenüber den Einzelnen ist bekanntlich Kants kategorische Feststellung, dass „die vernünftige Natur [...] als Zweck an sich selbst" (Kant 1785/1911, 429) existiert. An sie schließt er das Instrumentalisierungsverbot der materialen Vorstellungsart des kategorischen Imperativs an: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. " (ebd.) Gegen die Gefahren der Instrumentalisierung muss die einzelne Person authentische Anerkennungsverhältnisse aufbieten beziehungsweise aufbieten können. Indem sie sich lebenspraktisch nicht zur bloßen Sache machen lässt und sich wie anderes wichtig nimmt, bringt sie ihre Individualität zum Ausdruck. Authentizität und Ernsthaftigkeit stellen demnach lebenspraktisch die moralischen Verbindlichkeiten zu dem her, was einer Person von Bedeutung ist.22 Kants systematischer Umgang mit den Begriffen „Würde" und „Gerechtigkeit" verankert die Menschenrechtsproblematik in den jeweiligen Vollzügen personalen Lebens. Gerechtigkeit gegenüber Personen ist damit nicht nur eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit und fairen Behandlung, sondern vor allem auch eine Frage von Anerkennung, Ernsthaftigkeit und Selbstachtung. Die Entfaltung der eigenen Individualität in der Gestalt der Bildung der Persönlichkeit hängt unmittelbar von dem Zusammenhang zwischen Sprache und Bildung ab.23 Nur durch eine entwickelte Ausdrucksfähigkeit können Personen ein Verständnis der fremden wie der eigenen Subjektivität erlangen, die nicht bloß emotiv erlitten, sondern vor allem ausgedrückt wird. Sprache und Bildung müssen als gleichbedeutend mit Ausdruck und Entwicklung von Humanität angesehen werden. Ein menschliches Leben, das keinen Zugang zu diesen Möglichkeiten hat, kann seine existenziellen Potenziale nicht ausschöpfen.

5. Ethik der Individualität Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Ausdruck von Individualität und menschenrechtlichem Anspruch auf Bildung zur Persönlichkeit bildet den systematischen Kern einer egalitären Ethik der Individualität. Sie billigt jeder Person zu, ihr eigenes Leben zu führen, und lässt keine Unterschiede hinsichtlich der existenziellen Wichtigkeit jedes Einzelnen zu. Die Ethik der Individualität ist gleichwohl nicht individualistisch verfasst 22 Vgl. Sturma 1997, 335 ff. 23 Vgl. dazu Volker Gerhardts Überlegungen zur Selbstdarstellung der Personalität, Gerhardt 1999, 334 ff.

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und macht realistische, naturalistische, universalistische und partikularistische Anleihen bei den Hauptströmungen der Ethik. Sie setzt Sachverhalte voraus, die darüber entscheiden, ob Aussagen wie Die Handlung c ist eine Menschenrechtsverletzung wahr oder falsch sind. Dabei orientiert sie sich an im weiteren Sinne naturalistischen Bestimmungen von Eigenschaften und Fähigkeiten personalen Lebens und legt formale Kriterien für den Ausdruck von Individualität beziehungsweise für die Bildung der Persönlichkeit fest. Sie verzichtet auf inhaltliche Festlegungen der Lebensstile und Lebenspläne und geht davon aus, dass sich Humanität in einer Vielzahl kultureller Lebensweisen ausdrücken kann. Die Konsequenzen der Ethik der Individualität sind beunruhigend. Auf der einen Seite gibt es keinen ethischen Grund, einer Person zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort das mögliche Maß eigener Artikulationsfahigkeit und Lebensqualität zu verweigern. Auf der anderen Seite leben wir in einer Welt, in der individualethische Gerechtigkeit nur gegenüber vergleichsweise Wenigen ausgeübt wird, und es ist nicht ersichtlich, wie diese Situation - selbst bei gutem Willen und praktischer Entschiedenheit - so verändert werden kann, dass zumindest den jetzt lebenden Personen ein menschenrechtlich geforderter Ausdruck ihrer Individualität ermöglicht wird. 24 Diese Verlegenheit wirft einen langen Schatten nicht nur auf die kulturellen Errungenschaften moderner Lebensweisen. Die Ethik der Individualität schließt den Anderen mit ein und grenzt ihn nicht etwa aus. Die Gegenwart anderer Personen begegnet uns als Anspruch und Erfüllung - aber zuweilen eben auch als Verweigerung. Mit der Präsenz anderer Personen geht die konkrete Erfahrung einher, dass wir unangesehen der Unzulänglichkeiten der sozialen Wirklichkeit in einer Kultur der Individuen leben, deren normativer Kern nicht in dem besteht, was uns psychisch oder kulturell trennt, sondern in dem, was uns gemeinsam ist nämlich individuelle Ausdrucksfahigkeit und existenzielle Gleichheit. Überall dort, wo diese Komponenten in der sozialen Wirklichkeit fehlen, können wir davon ausgehen, dass Personen instrumentalisiert werden. Die Ethik der Individualität kann an Entwicklungen moderner Lebensweisen anschließen, die keineswegs ein unvermeidliches zivilisatorisches Verhängnis sind, sondern eine Reihe ethischer und kultureller Optionen offen halten. Die individuellen und gesellschaftlichen Möglichkeitsspielräume hängen entscheidend davon ab, welches persönliche und kulturelle Selbstverständnis wir entwickeln können. Dieses Selbstverständnis wird das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft entscheidend bestimmen. Es wäre ratsam, nicht schlechthin auf die althergebrachten Gemeinschaftsmodelle zu schauen, sondern Sensibilitäten für diejenigen Gemeinschaftsmodelle aus der Vergangenheit und Gegenwart zu entwickeln, die ethisch rechtfertigungsfähig auf den Ausdruck von Individualität Rücksicht nehmen. Es gibt denn auch keine „westlichen" Menschenrechte, sondern lediglich verschiedene Weisen, mit Menschenrechten angemessen oder unangemessen umzugehen. Der Unterschied zwischen westlicher und östlicher Politik der Menschenrechte besteht nicht zuletzt auch darin, dass jeweils unterschiedliche Be-

24 Vgl. O'Neill 1986.

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reiche aus den Menschenrechtskatalogen akzentuiert und wieder andere ausgeblendet werden. So wird hierzulande geflissentlich übersehen, dass auch von den westlichen Demokratien etliche Forderungen aus der Erklärung der Menschenrechte von 1948 nicht erfüllt werden. Die hier entworfene Ethik der Individualität ist einem egalitaristischen Verständnis von Gerechtigkeit verpflichtet, demzufolge es keinen moralischen Grund gibt, einem Individuum die Entwicklung seiner humanen Potentiale zu verweigern. Dieser Egalitarismus wird politisch gemeinhin als Überforderung oder sogar als Zumutung empfunden. Revisionsversuche unserer Lebensweisen im Sinn der Ethik der Individualität dürften nicht nur aus diesem Grunde noch für lange Zeit auf immense Schwierigkeiten stoßen. In ihnen sollten aber weder bloße Utopien noch Schreckensszenarien gesehen werden. Im Laufe der menschlichen Kulturgeschichte sind schon eine Reihe von Hindernissen bei der ethischen und rechtlichen Gleichstellung von Personen überwunden worden. Zur Geschichte der Menschenrechte gehören auch die Entdeckungen der Menschenrechtsverletzungen, denen wiederum die Weiterentwicklung von Unrechtserfahrung und Unrechtsbewusstsein korrespondiert. Das Ziel der egalitären Ethik der Individualität ist die bedingungslose ethische und rechtliche Gleichstellung aller Personen und richtet sich zuerst gegen Folter, Rassismus und staatliche Verletzungen der Freiheitsrechte. Nach der hier vorgelegten Konzeption ist damit aber nur ein Teil des Weges zur Humanität zurückgelegt. Für ein gelungenes personales Leben sind die Ausdrucksmöglichkeiten unverzichtbar, die über den Anspruch der Unverletzlichkeit des Körpers weit hinausgehen. Personen können nur einen Begriff von Selbstachtung entwickeln, wenn sie die Möglichkeit zu einer selbstbestimmbaren und anerkennungsfahigen Lebensführung vorfinden und nicht zu bloßen Opfern von eklatanten sozialen Benachteilungen werden. Es ist ethisch nicht zu rechtfertigen, dass es Personen - unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen auch immer - verwehrt bleibt, ihr Leben selbst zu führen und ihre Individualität auszudrücken, zumal die Bedingungen für einen solchen Ausdruck in allen bekannten Kulturen der humanen Lebensform verfügbar sind.

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Anerkennung, Pluralismus und Demokratie

1. Zwei Befunde Der Streit um die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Tageszeitung Jyllands Posten im Frühjahr des Jahres 2006 und die in kurzen Abständen immer aufs Neue aufflackernde Debatte über die Dringlichkeit einer deutschen Leitkultur für alle, die im Lande leben wollen, sind Hinweise für immer deutlicher zutage tretende Defizite im Integrationsprozess. Die Gesellschaft hat sich noch nicht darauf eingestellt, was Liberalität und Demokratie in einer kulturell pluralistischen Gesellschaft wirklich bedeuten, wenn beide für alle Bürger unabhängig von ihrer religiösen oder kulturellen Identität den gleichen Wert haben sollen. Das aber ist die Voraussetzung gelingender Integration der Religionen und Kulturen in der liberalen Demokratie. Worin besteht denn der Geltungssinn der politisch-kulturellen Grundwerte der liberalen Demokratie und der politisch-rechtlichen Institutionen, die ihrer Sicherung dienen? Im Kern doch darin, dass nur diejenigen Normen und Regeln für alle verbindlich gemacht werden sollen, die ihnen größtmögliche Freiheit gewährleisten, um im Übrigen so verschieden sein zu können, wie sie es selber wünschen. Es geht also in der liberalen Demokratie um die Verbindlichkeit allein desjenigen Minimums an Normen und Regeln, durch das das Maximum individueller Freiheit, also das Recht auf Verschiedenheit sichergestellt werden kann. Was in Deutschland und anderswo in Europa aber zu beobachten ist, seit die Erkenntnis allmählich zu reifen beginnt, dass unsere Gesellschaften nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer kulturell vielfältige Einwanderungsgesellschaften bleiben werden, sind zwei zunehmend diesem Ziel zuwiderlaufende Tendenzen. Die eine ist eine verdeckte Kulturkampfmentalität bei Teilen der gesellschaftlichen und publizistischen Multiplikatoren, die andere eine wachsende Islamophobie in der Breite der ganzen Gesellschaft selbst. Das interdisziplinäre Zentrum für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld hat ermittelt, dass die Islamfeindlichkeit in Deutschland in den letzten Jahren mit weiter steigender Tendenz rapide zugenommen hat und mittlerweile mehr als die Hälfte unserer Gesellschaft erfasst (Leibhold/Kühnel 2006). So meinten im Jahre 2005 60 % der deutschen Bevölkerung, Islam und Terrorismus seinen weitgehend identisch - und zwar um so mehr, je weniger sie vom Islam wissen und je weniger ihnen die großen Unterschiede vertraut sind, die diese Religion ausweist. Es droht die Gefahr, dass sich die in empirischer Sicht von Grund auf falsche und im Hinblick auf das Zusammenleben der Kulturen in dieser Welt desaströse These des Clash of Civilizations von Samuel

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Huntington durch eine sich selbst ernährende neuartige Kultur-Kampf-Industrie durch die Hintertür in vielen Köpfen festsetzt und dann auf allen Seiten eine Wirkung entfaltet, als wäre sie begründet (Huntington 1996). Ihre entschiedensten Anhänger sind ja nicht zufällig die Fundamentalisten aller Lager.

2. Eine Art Kultur-Kampf-Industrie Beim Hochschrauben der Missverständnisse über die Kultur der Anderen scheint sich ein merkwürdiger Mechanismus einzuspielen, eine Art Kultur-Kampf-Industrie. Sie ist im Begriff, nach längerem Vorlauf die an verschiedenen Orten der Welt entstandenen Zulieferwerkstätten systematischen kulturellen Missverstehens zu einer veritablen weltweiten Produktionsgemeinschaft zusammenzufügen. Die beteiligten Ko-Produzenten dieser Industrie arbeiten nach gemeinsamen Regeln, in reibungsloser Arbeitsteilung, zu gegenseitigem Nutzen, an einem gemeinsamen Produkt, das nur zustande kommt, wenn alle Mitwirkenden ihren je besonderen Beitrag dazu leisten, auch wenn sie alle zugleich daran interessiert sind, den gegenteiligen Eindruck zu erzeugen. Die Ursprünge, Abläufe und Folgen des nun fast schon wieder vergessenen Karikaturen-Streits, der sich freilich jederzeit nach gleichem Muster wiederholen kann, haben schlagartig die Akteurskoalitionen, Motive, Regeln und die Serienprodukte dieses politisch-kulturellen Betriebs sichtbar werden lassen. Sie haben aber auch, anders als bei der eingespielten Kulturindustrie, an die wir uns gewöhnt haben, vor Augen gefuhrt, mit welchen Kosten zu rechnen ist, wenn dieses Verfahren weiter Schwung gewinnt und welche Rechnung dabei am Ende präsentiert wird. Denn dabei geht es keineswegs bloß um die Entertainisierung der interkulturellen Kommunikationsverhältnisse, sondern um die planvolle Arbeit an wirklicher wechselseitiger Verfeindung. Die Akteure der Kulturkampf-Industrie zeigen sich in ihrer adversen Arbeitsteilung bestens synchronisiert und bei der Einbeziehung der Massenmedien, ohne die das Ganze nicht funktionieren kann, als Profis im jeweiligen Metier, aber eben je nach Standort und verfügbaren Produktionsmitteln perfekt diversifiziert. Jeder von ihnen zog seinen Gewinn aus der Sache, manche hatten bloß Spaß bei der Arbeit, andere hatten offenbar die großen metaphysischen Emotionen und nicht wenige das Hochgefühl, ihrer Kultur an der vordersten Frontlinie der Gefährdung durch altböse Feinde einen rühmlichen Dienst zu erweisen. Fünf Akteursgruppen lassen sich unterscheiden. Sie werden sich, soviel wurde im Karikaturenstreit idealtypisch deutlich, in ähnlicher Weise und Aktionsform jederzeit an vielen Orten, je nach Anlass auch ein wenig anders gesellt, für eine neue Runde rasch und geübt zusammenfinden. Da sind, erstens, die rechts-populistischen Scharfmacher in der multi-kulturellen Demokratie, die für den erhofften politischen Gewinn der Vorurteilsschürung emsig am gezielten Missverstehen der Kulturen und Religionen arbeiten. Sie möchten die Anderen pauschal als Feinde der eigenen Kultur verdächtigen. Sie sind überall am Werk, wo kulturelle Differenzen zum politischen Missbrauch verlocken.

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Da sind, zweitens, die religiös-fundamentalistischen Eiferer und Gewalttäter, durchaus nicht nur in islamischen Gesellschaften, die Anlässe, auf die sie anspringen können, geradezu herbeisehnen, um sich als einzig kampfbereite Verteidiger der verletzten Würde ihrer Religion in die Gemüter ihrer Glaubensgenossen einbrennen zu können. Sie hoffen, auf diese Weise ihrer erschlichenen Legitimation als allein berufene Repräsentanten ihrer Kultur ein wenig Substanz zu verleihen. Bleibt das erwünschte Stichwort aus, schlagen sie auch gerne selber los. Da sind, drittens, die machtzynischen Autokraten, nicht nur im Iran und in Syrien, die bei solchen Gelegenheiten ihren unterdrückten Gesellschaften mit gesteigerten Erfolgsaussichten vormachen können, in den entscheidenden Belangen eben doch der beste Anwalt ihrer „Ehre" zu sein und auf diese Weise den Anschein aufpolieren, ihre Unterdrückungspolitik sei nötig, um die eigene Tradition gegen ihre Feinde zu bewahren. Da sind, viertens, erstaunlich genug, aber auch vermeintliche „ Wächter" der westlichen Zivilisation, die sich durch pauschale Akte der Solidarisierung gegen die „Anderen" mit geringen Kosten und oft noch geringerer Sachkenntnis im vermeintlichen Interesse der Freiheit in die Bresche schlagen, wo doch in alle Richtungen zuallererst Unterscheidung geboten wäre. Sie übernehmen den Heldenpart. Und da sind, keineswegs zuletzt, die Massenmedien, nicht alle, aber zu viele, die als Katalysatoren die Sache anheizen, den Produzenten die Kunden zuführen und den Unternehmern der Kultur-Kampf-Industrie den Markt richten. Die Medien spielen bei alldem durchaus eine Schlüsselrolle. Als Generalunternehmer der Aufmerksamkeitsindustrie machen sie im öffentlichen Informationsinteresse die Auslöser-Ereignisse zunächst in Echtzeit weltweit publik und bringen den dann allmählich in Gang kommenden Herstellungsprozess der Kulturkampf-Produkte durch unterschiedliche Grade der Beimischung ihrer Marktinteressen und deren eingeborener Selektivität kräftig in Schwung. Sie liefern die schnellen Bilder zur allseitigen Empörung aus allen Ecken und Enden der Welt, so dass sich der pakistanische Mob abends selbst über CNN im Fernsehen bewundern und seine Horrorerfolge beim abendländischen Publikum überprüfen kann, um sich für die nächste Runde der Raserei zu motivieren. Entsprechend der Medienlogik haben dabei wie üblich die Bilder von Konflikt, Gewalt und Schaden absoluten Vorrang vor Ereignissen der Verständigung, des demokratischen Wandels und den ganz überwiegenden Normalfällen interkultureller Ko-Existenz in allen Gesellschaften dieser Welt. Der Krieg macht bessere Bilder. Die fortwährende Selektion des Überspitzten gibt ihm Nahrung. Die Wirklichkeit der interkulturellen Beziehungen und der intra-kulturellen Zustände bleibt auf der Strecke. Das gilt insbesondere auch für den Alltag der Integration in unserer Gesellschaft, der in der Dramatisierung medial sensationalisierter Einzelereignisse wie „Ehrenmorde", Zwangsheiraten und dergleichen komplett verdeckt wird. Neu daran ist nicht die Logik der marktgängigen Brisanzerzeugung selbst, sondern die Qualität des Sprengstoffs, mit dem in diesem Falle gespielt wird. Das wirkungsvollste Rezept seiner Anreicherung ist die Unterschlagung der riesigen inneren Unterschiede in den Religionen und Kulturen der Anderen und, wo diese keine Erfolgsaussichten hat, wenigstens deren Marginalisierung.

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Neu ist aber auch der an das Narrativ der „Unendlichen Geschichte" erinnernde Mechanismus des Übersprungs der bloß medial erzählten Geschichte in das Leben selbst, der polemischen Karikatur aus dem Reich der Medienwirklichkeit in den blutigen Kampf auf den Straßen an den entlegensten Orten der Welt und dann wieder hin und zurück. Das vor allem ist eine Qualität der neuen Kultur-Kampf-Industrie, die unsere besondere Aufmerksamkeit herausfordert. Sie würde die Grundlagen des Zusammenlebens in unseren kulturell vielfältigen Gegenwartsgesellschaften nachhaltig unterminieren, wenn ihr nicht beizeiten eine Kultur der Differenzierung entgegengesetzt wird.

3. Politische Kultur und lebenskulturelle Differenz Die alle verbindenden Normen, die eine liberale Demokratie braucht, um auf die Dauer lebensfähig zu sein, sind Normen der politischen Kultur und nicht der religiösen Identität oder der Alltagsethik der Lebensführung. Die rechtsstaatliche Demokratie würde unweigerlich in dem Maße mit sich selbst in Widerspruch geraten und ihre Glaubwürdigkeit verspielen, wie sie über diejenigen Normen hinaus, die die autonomen lebensweltlichen Entfaltungsspielräume der in ihr Lebenden sichern sollen, auch noch kulturelle Regeln der Lebensweise für alle selbst verbindlich machen wollte (Meyer 2002). Ein solcher Übergriff wäre der erste Schritt in ein fundamentalistisches Kulturverständnis, das nicht nur die Regeln der Moral und des Rechts für alle verbindlich machen will, sondern darüber hinaus der spezifischen Ethik eines der miteinander lebenden Kollektive Verbindlichkeit auch für die Anderen zusprechen will. Die Idee der rechtsstaatlichen Demokratie schließt jede Forderung als illegitim aus, die kulturelle Normen über das fur ihre Bestandssicherung erforderliche qualitative und quantitative Maß hinaus verbindlich zu machen. Die politische Kultur ist ein mit der allgemeinen Kultur verwobener Teil der Gesellschaft und in gewissem Maße, wie Jürgen Habermas es nannte, durch sie ethisch imprägniert (Habermas 1997). Sie umfasst diejenige Teilmenge der Einstellungen, Orientierungen, Emotionen, Werturteile, Kenntnisse und Verhaltensdispositionen der allgemeinen Kultur, die sich speziell auf das politische Zusammenleben beziehen. Zur Klärung der Zusammenhänge zwischen allgemeiner und politischer Kultur sind zwei grundlegende Differenzierungen erforderlich. Zuerst zum Begriff der Kultur selbst. Alle Kulturen unserer Zeit sind dynamische soziale Diskursräume, in denen verschiedene Akteursgruppen unterschiedliche Vorstellungen davon entwickeln, wie die Tradition in den Glaubensüberzeugungen, der Alltagsethik und den Formen des Zusammenlebens fortgesetzt werden soll und was sie im Lichte neuer Erfahrungen bedeuten kann. Infolgedessen differenzieren sich die Festlegungen, Normen, Überzeugungen, Gewohnheiten, die eine Kultur ausmachen, und vor allem ihre Geltungsbereiche, heute überall zunehmend auf drei deutlich zu unterscheidenden Ebenen aus. Diese stehen miteinander in Wechselwirkung, gewinnen aber dennoch ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit voneinander, bis hin zur weitgehenden Autonomie. Zu unterscheiden sind: 1. Die Ebene des Lebenssinns, der metaphysischen Sinngebungen und Heilserwartungen (ways of believing). Bei diesen Orientierungen handelte es sich um das, was im Kern

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aller Weltanschauungen und Religionen steht, nämlich ein Angebot an Wegen für individuelle und kollektive Sinnorientierungen, Lebens- und Heilsgewissheiten. 1 2. Die Ebene der individuellen und kollektiven Lebensführung, also der Lebensweisen und der alltäglichen Lebenskultur (ways of life). Dabei handelt es sich insbesondere um Praktiken, Gewohnheiten, Ethiken der Lebensweise, Rituale der Lebensführung, Umgangsformen, Lebensästhetiken, Essgewohnheiten und vieles andere mehr, also um Orientierungen der praktischen Lebensführung und deren expressiven Symbole, mithin all das, was in aller Regel zuerst an einer anderen Kultur ins Auge sticht und häufig besonders nachhaltig die Gewohnheit der Menschen prägt, die mit den entsprechenden Praktiken und Routinen aufgewachsen sind. 3. Die Ebene der sozialen und politischen Grundwerte des Zusammenlebens mit anderen (ways of living together). Hierbei handelt es sich vor allem um die Grundwerte für das Zusammenleben verschiedenartiger Menschen in derselben Gesellschaft und demselben politischen Gemeinwesen, also um die sozialen politischen Normen wie etwa Gleichheit oder Ungleichheit, Individualismus oder Kollektivismus, Toleranz, Freiheit, Geschlechtergleichheit. Es zeigt sich nun in der empirischen Betrachtung aller großen zeitgenössischen Kulturen, dass Individuen und Kollektive, die die kulturellen Orientierungen der Ebene 1 miteinander teilen, äußerst unterschiedlicher Einstellung auf den Ebenen 2 und 3 sein können, ebenso wie Menschen aus tiefliegender Überzeugung die Normen der Ebene 3 teilen können, ohne auf den anderen beiden Ebenen Gemeinsamkeiten miteinander zu haben. Es liegt auf der Hand und wird vor allem von der neueren Alltagskultur- und Milieuforschung immer aufs Neue bestätigt, dass etwa zwei gläubige protestantische Christen (Ebene 1) in unserer eigenen Gesellschaft extrem unterschiedliche alltagskulturelle Lebensweisen wählen können, der eine ζ. B. eine „kleinbürgerliche", der andere eine „alternative", in ihren sozialen und politischen Grundwerten dann aber wieder übereinstimmen könnten, ζ. B. in einer egalitären-liberalen Position oder auch entgegengesetzte Positionen vertreten können, der eine ζ. B. egalitär-liberal, der andere antiegalitär-illiberal. Die bisher vorliegenden empirischen Studien belegen, dass diese Art der Entkoppelung der drei kulturellen Ebenen in allen großen Kulturkreisen der Gegenwart zu beobachten ist, wobei der Islam dabei keineswegs eine Ausnahme bildet (Meyer 2002). Es gibt aber gleichzeitig auch in allen Kulturen soziale Milieus, die die nahtlose Identität aller drei Ebenen gegen den modernen Trend ihrer zunehmenden Differenzierung aufrechterhalten wollen und darum im Französischen Integristen, sonst Fundamentalisten genannt werden. Nach allem, was wir wissen, können sie in keiner der Kulturen der Welt heute den Anspruch erheben, die Mehrheit ihrer Gesellschaft zu repräsentieren, obgleich sie aufgrund ihrer aggressiven Lautstärke und Gewaltbereitschaft in vielen Fällen deren Außenbild dominieren. Und keine der Kulturen ist frei von ihnen (Marty/Appleby 1996). In empirischer Betrachtung sind also alle Kulturen dynamische soziale Diskursräume, die sich je nach Erfahrungen, Konflikten und Außeneinflüssen intern hochgradig ausdif-

1

Also um das, was in der Terminologie Max Webers „Soteriologie" genannt wird (Weber 1978).

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ferenzieren, so dass unterschiedliche Kollektive bzw. Milieus in ihnen dieselben Traditionen jeweils in ganz unterschiedlicher, mitunter sogar entgegengesetzter Weise weiterfuhren. Der Prozess der Differenzierung findet auf allen drei kulturellen Ebenen statt, obgleich die allgemeinste Ebene der Sinn- und Heilserwartungen häufig besonders kontinuierlich ihren, wenn auch mit der Zeit ausgedünnten, Vorrat an Identitätsangeboten zur Verfügung stellt. In diesem dynamischen Prozess spielen in der Gegenwart zunehmend, wie im Übrigen ja in der Geschichte immer schon, kulturelle Außeneinflüsse und infolgedessen Formen der Synthese zwischen der eigenen Überlieferung einer Kultur und Elementen des „Anderen" eine beträchtliche Rolle. Der kulturelle Differenzierungsprozess ist unvermeidlich immer auch ein Prozess der voranschreitenden Hybridisierung. Darum ist Wolfgang Welsch zuzustimmen, wenn er diagnostiziert, dass wir es bei genauer Betrachtung in der Moderne bei allen Formen kultureller Identität im Grunde in diesem Sinne immer schon mit Phänomenen der Transkulturalität zu tun haben (Welsch 1994). In einem gewissen, wachsenden Maße sind die Kulturen der Gegenwart nicht mehr die Herder'sehen hermetisch verschlossenen Kugeln, sondern unweigerlich offene Transkulturen. Der normative Funktionssinn der liberalen Demokratie, ihre evolutionäre Bedeutung angesichts des beschriebenen historischen Faktums der zunehmenden kulturellen Differenzierung besteht nun gerade darin, die Festlegungen auf der dritten Ebene (Institutionen sowie soziale und politische Grundwerte) so zu treffen, dass ein möglichst großer Spielraum der Entscheidungsfreiheit auf den Ebenen 1 (Religion) und 2 (Lebenskultur) entsteht und vor allem die Verbindlichkeiten, die allen im gleichen politischen Gemeinwesen Lebenden auferlegt werden müssen, auf die politisch-kulturelle Ebene zu beschränken. Die beiden Ebenen der privatautonomen Handlungsfreiheit, Glauben und Lebensführung, sind der Entscheidung und Verantwortung der Individuen und soziokulturellen Kollektive vorbehalten. Das ist die Sphäre der abwehrenden Freiheitsrechte. Die politische Kultur der Demokratie kann sich demnach legitimerweise explizit nur auf Übereinstimmungen auf der Ebene 3 beziehen, also auf die sozialen und politischen Grundwerte des Zusammenlebens und des Schutzes der Individuen und Minderheiten. Diese Garantien kann die rechtsstaatliche Demokratie allerdings nur geben, weil und solange die Grundwerte der dritten Ebene durch die Art und Weise der kulturellen Identitätsbildung und Praxis auf den anderen beiden Ebenen nicht in Frage gestellt wird. Fundamentalistische oder essentialistische Formen kultureller Identität verträgt die rechtsstaatliche Demokratie daher prinzipiell nicht. Diese können aber auch in der empirischen Realität keiner der kulturell-religiösen Traditionen der Gegenwart den Anspruch erheben, die authentische, geschweige denn allein legitime Form der kulturellen Selbstbehauptung derjenigen Tradition zu sein, in deren Namen sie sprechen. Fundamentalismus bezeichnet den Anspruch, die partikulare Glaubenspraxis und Lebensführung eines der tatsächlich vorhandenen zahlreichen sozio-kulturellen Milieus, sei es innerhalb einer kulturellen Tradition oder kulturübergreifend, für alle anderen verbindlich machen zu wollen oder ihnen eine Führungsrolle zuzuschreiben (Meyer 1989). Alle großen kulturell-religiösen Traditionen differenzieren sich seit langem in einen traditionalistischen und einen liberalen bzw. modernisierenden Zivilisationsstil der Interpretation der Überlieferung aus, gegen die der Fundamentalismus als dritte Haupt-

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Strömung sich wendet. Kulturelle Identität gibt es aus diesen Gründen auch innerhalb der großen kulturell-religiösen Traditionen in der Gegenwartswelt nur noch im Plural. Das ist der eindeutige empirische Befund. Schon die von uns mangels griffiger Alternativen weiter geführte essentialistische Redeweise von den Religionen und Kulturen pflanzt die Missverständnisse fort. Freilich bestehen weiterhin weltweite Ungleichzeitigkeiten in der Gesellschaftsentwicklung, die dazu fuhren, dass etwa der christliche Ursprungsgehalt in den sozialen Kulturen des „Westens" nicht mehr das Ganze umfasst, sondern sich in schrumpfende Teilbereiche zurückzieht und seine Spuren im Ganzen allmählich verwehen. Dieser „schwachen" Prägung steht fürs erste immer noch die weit „härtere" Prägung der realen Sozio-Kulturen durch die religiöse Überlieferung in weniger modernisierten Gesellschaften gegenüber. Das erklärt auch das unterschiedliche Höhenmaß ihrer religiösen Tabuschwellen. Daher funktioniert in einigen ihrer relevanten Milieus die kalkulierte Provokation des Tabubruchs wie auf Bestellung, während sie durch Gewöhnung oder Gleichgültigkeit in anderen umgehend verpufft. Die empirische Analyse zeigt aber ganz unzweideutig, dass nunmehr die inneren Unterschiede innerhalb aller Religionen, Kulturen und Gesellschaften deren Realität kennzeichnen. Alle Religionen dieser Welt haben ihre Schattenseiten, in denen der Fundamentalismus gedeiht, und alle haben sie ihre Lichtquelle, die Wege der Verständigung weist. In allen Gesellschaften dieser Welt, ganz gleich, von welcher der religiösen Traditionen sie beeinflusst sind, ob Christentum oder Islam, Hinduismus oder Judentum, Konfuzianismus oder Buddhismus, finden wir heute drei Grundströmungen des sozialen und politischen Selbstverständnisses. Überall, gerade auch im Islam, gibt es zunächst liberale Modernisierer, die aus ihrer religiös kulturellen Überlieferung die zeitgemäßen praktischen Konsequenzen ziehen: persönliche Freiheit und Pluralismus, Individualität und Vielfalt, Vorrang für vernünftige Verständigung in allen öffentlichen Angelegenheiten, kurzum: Grundrechte und Demokratie als Ordnung des Zusammenlebens. Diese demokratisch liberale Strömung ist in einigen Gesellschaften im Laufe der Zeit breit und mächtig geworden, sie ist aber nirgends, auch nicht in Europa und schon gar nicht den USA, unangefochten. Nicht zu vergessen, dass keine der religiösen Traditionen der Welt mit einem liberal demokratischen Programm zur Welt gekommen ist, die christliche hat das erst nach fast zwei Jahrtausenden illiberaler Hegemonie und am Ende von anderthalb Jahrhunderten erbitterter interner konfessioneller Bürgerkriege vielerorts geschafft. Es gibt, neben den Traditionalisten als zweite Grundströmung, überall auf der Welt und in allen Religionen und Kulturen die spektakuläre Sektion der Fundamentalisten. Groß und aktuell dort, klein und rückständig hier, aber, da alle Kulturen im Fluss sind, nirgends in dauerhafter Position. Sie bekämpfen religiöse Gleichberechtigung und universelle Grundrechte im Namen ihrer vermeintlichen Wahrheitsgewissheit. Selbst in den USA haben sie, in ihrer christlichen Spielart, bedrohlich große politische Macht und im Iran herrschen sie, in ihrer islamischen Variante, fast totalitär (Marty/Apleby 1996). Eine Mehrheit sind sie noch nicht einmal in ihrer momentanen Hochburg, dem Iran. Sie können, wenn heftige soziale, wirtschaftliche und kulturelle Krisen eine Gesellschaft schütteln und korrupte Eliten keine Aussicht auf Besserung bieten, vorübergehend eine beträchtliche

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Anhängerschaft verzweifelter oder gekränkter Menschen mobilisieren. Ihr Einfluss ist aber nicht von Dauer, denn sie verfügen über keine pragmatischen Lösungen für die sozialen und wirtschaftlichen Nöte ihrer Anhänger und ihre gewaltsame Vormundschaft in Glaubensfragen widerspricht der Botschaft aller Religionen.

4. Braucht die liberale Demokratie eine Leitkultur? Im Lichte dieser Befunde ist die Forderung nach einer, womöglich zudem „deutschen", Leitkultur zu diskutieren. Dabei wird eines sogleich deutlich. Sobald der Anspruch auf eine Leitkultur innerhalb der liberalen Demokratie erhoben wird, die Festlegungen auf den Ebenen 1 oder 2, Glaubensfragen und Lebensführung, fììr alle Bürgerinnen treffen will, die über das für die gemeinsame politische Kultur Unerlässliche hinausgehen, werden die Ansprüche der rechtsstaatlichen Demokratie verletzt und damit im Kern schon der fundamentalistische Übergriff auf die Rechte und anerkennungsfahigen Identitäten anderer von Seiten der Mehrheitskultur selbst vollzogen. Die „Leitkultur", die eine rechtsstaatliche Demokratie von Rechts wegen fur alle Bürgerinnen und Bürger als Orientierung verbindlich machen kann und auf deren Verankerung in der Gefühls- und Denkwelt ihrer Bürgerinnen und Bürger sie u. a. im Bildungssystem hinwirken muss, um die Voraussetzungen ihres eigenen institutionellen Bestands zu sichern, darf daher den Kernbestand der politischen Kultur, also die Ebene 3, nicht überschreiten. Freilich müssen die prinzipiell privatautonomen Festlegungen der anderen Ebenen den Anforderungen der dritten Ebene entgegen kommen und dürfen nicht in einem prinzipiellen Widerspruch zu ihnen geraten. Auch empirisch gesehen werden nicht begründungsfähige Überschreitungen der dritten Ebene gerade Distanz und Entfremdung der betroffenen Gruppen gegenüber der Demokratie schaffen und damit deren Stabilität und Existenzbedingungen untergraben. Die rechtsstaatliche Demokratie bedarf keiner Übereinstimmungen auf den Ebenen 1 und 2, sondern nur deren prinzipielle Verträglichkeit mit der Ebene 3. Sie beschädigt ihre eigenen Legitimationsbedingungen, wenn sie darüber hinausgehende Forderungen erhebt. Die Menschen- und Bürgerrechte, die den Raum für die Privatautonomie auf den Ebenen 1 und 2 konstituieren und die auf der Ebene 3 begründet und garantiert werden, können nur individuelle Rechte sein und keine kollektiven Rechte, für deren Vermittlung und Verwaltung kulturelle oder religiöse Kollektive benannt werden, in deren Namen Repräsentanten Inhalte definieren, Grenzen ziehen und Kontrollfunktionen wahrnehmen (Gerhardt 2007, insbes. Kap. 10). Nur die einzelne Person kann die Verbindlichkeiten, Praktiken und Zugehörigkeiten, die auf diesen Ebenen eine Rolle spielen, letztinstanzlich für sich selbst entscheiden. Sie muss jederzeit das Recht und die gesicherte soziale Chance haben, ihre Personenrechte gegebenenfalls gerade auch gegen unerwünschte Zumutungen von Repräsentanten des „eigenen" ethno-kulturellen bzw. kulturell-religiösen Kollektivs behaupten zu können, dem sie zugerechnet wird oder dem sie sich selbst zurechnet. Einen „Artenschutz" für bestimmte Gestaltungen kultureller Lebensweisen, unabhängig von dem, was die unterschiedlichen Individuen in ihrer Lebenspraxis daraus

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machen möchten, kann es in der rechtsstaatlichen Demokratie darum nicht geben (Habermas 1997). Die harten Grenzen der Institutionen der Demokratie und die Minima einer alle verbindenden politischen Kultur, auf die die Demokratie um ihrer eigenen Lebenschancen willen hinwirken muss, sind gleichwohl eindeutig. Wer gegen die Grundwerte der Menschenrechte und Demokratie selbst Stellung bezieht, hat in der Demokratie keinen legitimen Platz, wie immer seine religiösen und kulturellen Rechtfertigungsversuche auch lauten mögen. Darum kann der Dialog der Religionen und Kulturen weder ziel- noch bodenlos sein. Die Orientierung auf eine gemeinsame politische Kultur der Demokratie gibt ihm Sinn und Richtung. Allerdings muss auch die Grenze nach der anderen Seite klar gezogen werden. Wer eine der kulturell bedingten Lebensformen in der Demokratie zur Leitkultur für alle machen will, verletzt selber die Grundnormen der rechtsstaatlichen Demokratie. Eines der Hauptergebnisse der politischen Kulturforschung besteht auch darin: Politische Kultur lernt man nicht im Unterricht, in Seminaren oder beim Anhören großer Reden, sondern in der Alltagspraxis konkreter Lebenserfahrungen. Wenn Demokratie die Chance zur gleichberechtigten Teilhabe und zum toleranten Zusammenleben nicht bietet, dann schafft sie auch nicht die Kultur, die sie verlangt und zum eigenen Überleben braucht. Die Säkularisierung scheint dazu einzuladen, dass diejenigen ethischen Kollektive, die die stärkste gemeinschaftliche Organisationsmacht und Motivationskraft entfalten können, auch ein inhaltliches Definitionsrecht darüber beanspruchen, welche ethischen Normen gelten müssen und wie sie im konkreten Anwendungsfall auszulegen sind. Diese Verführung liegt nahe. Nach der harten Pluralismusregel, wonach das Gemeinwohl nichts anderes sein kann als das Ergebnis des Kampfes der Interessen im rechtsstaatlichen Rahmen, setzen sich dann bei der Auslegung der allgemeinen Rechtsnormen der Verfassung eben die stärksten Bataillone durch, also jene, die für ihr Auslegungsinteresse die größte soziale und publizistische Repräsentationsmacht entfalten können. Diese Regel ist freilich schon bei den regulativen und distributiven politischen Entscheidungen über profane Interessen höchst fragwürdig und wird daher in fast allen liberalen Verfassungen durch geschriebene oder ungeschriebene soziale Grundrechte und Fairnessregeln begrenzt.

5. Eine Kultur der Heuchelei Die Heuchelei der herkömmlichen Kultur-Industrie ist längst durchschaute Routine. Sie gehört zum Geschäft. Die sich mittlerweile einspielende Heuchelei der Kultur-KampfIndustrie übt sich gerade erst in der von Samuel Huntington vorgeführten Raffinesse ein. Dieser hatte im Gründungsdokument des neuen Gewerbes, The Clash of Civilizations, zuerst auf 520 Seiten sorgfaltig „bewiesen", dass im Verhältnis der religiösen Kulturen dieser Welt keine andere Verkehrsform mehr möglich sei, als der finale clash, um die letzte Seite des Werks fur einen salvatorischen Appell zu nutzen, man möge sich doch, bitte schön, trotz alledem verständigen (Huntington 1996). In dieser Tradition hielt sich Ex-US-Präsident George W. Bush mit Mr. Graham einen persönlichen religiösen

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Berater, der den Islam öffentlich als evil religion brandmarkte, stellte sich aber auf der Bühne neben die Imame, um wenigstens Bilder des Respekts vor ihnen in Umlauf zu bringen. So fügen die anspruchsvolleren unter den „westlichen" Ko-Produzenten der Kultur-Kampf-Industrie ihrem dauernden Grundton, das Übel sei nicht der Missbrauch der anderen Religion, sondern diese selbst, fast immer einen kleinen Unterton der Differenzierung bei - wie Kleingedrucktes zu den Drogen der Pharmaindustrie. Denn dass der Islam, wie alle anderen Religionen, seine Fundamentalisten hat, viel zu viele wegen der unglücklichen Geschichte des Nahen Ostens, und dass er dort sogar in totalitärer Manier nach der Macht greifen kann, ist seit langem bekannt. Auch die Ursachen sind analysiert. Leidenschaftliche Verbreitung in unseren eigenen Medien verdiente etwas ganz anderes, hierzulande weitgehend noch Unbekanntes, nämlich die Tatsache, dass diese ihren Hegemonial-Anspruch in keiner einzigen islamischen Gesellschaft zu Recht erheben können, weil ihnen überall friedlich gesinnte und an Liberalität interessierte Glaubensgenossen entgegentreten. Die beharrliche und informierte Beleuchtung dieses vernachlässigten Sachverhalts wäre aber in Wahrheit die größtmögliche Schwächung der Fundamentalisten und ihres politisch-religiösen Vertretungsanspruchs überall auf der Welt, vorausgesetzt freilich die Anwälte der liberalen Demokratie könnten im Westen selbst auf eine glaubwürdige Handlungsbilanz verweisen, ohne Guantanamo, Abu Ghraib und was dazu gehört.

6. Politik der Anerkennung Die Kultur-Kampf-Industrie nährt sich von der Beschleunigung, den immer rascheren Zyklen der Ko-Produktion ihrer Konflikt schürenden Produkte. Jede Überdosis ist schädlich für alle, die damit in Berührung kommen. Gegen die Beschleunigungsspiralen der Kultur-Kampf-Industrie helfen nur Distanz und Differenzierung. Nur sie geben der Besinnung eine Chance. Für unsere kulturell vielfältige Welt sind sie ein Überlebensmittel. Die Kultur-Kampf-Industrie aber stärkt den Fundamentalismus auf allen Seiten, weil sie seine „Wahrheit" scheinbar beweist. Es geht um die Anerkennung der kulturellen Identität der Anderen und um die klare Unterscheidung zwischen den Religionen bzw. Kulturen selbst und den politischen Formen ihrer Instrumentalisierung fur Zwecke kultureller und politischer Herrschaft. Die Bedingungen der gleichen Bürgerschaft in der Dimension aller fünf Gruppen universeller Grundrechte, neben den bürgerlichen und politischen, auch der sozialen, ökonomischen und kulturellen, erfüllt nur eine Politik der Integration durch Anerkennung, die drei Handlungsstrategien miteinander verbindet (Taylor 1997; Meyer 2002): 1. Die Anerkennung unterschiedlicher kultureller Identitäten, 2. die Anerkennung des verpflichtenden Rahmens der rechtsstaatlichen Demokratie und der universellen Grundrechte durch alle kulturellen Kollektive, also die Ausbildung einer gemeinsamen politischen Kultur und 3. die gleichberechtigte Teilhabe aller an den sozialen und ökonomischen Ressourcen und Chancen der Gesellschaft.

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Es liegt auf der Hand, dass der größte Dienst an der weltweiten Liberalisierung der interkulturellen Verhältnisse und die empfindlichste Schwächung von fundamentalistischer und populistischer Anmaßung die fortgesetzte Aufklärung über die Unterschiede innerhalb aller heutigen Religionen und Kulturen und deren Wirklichkeit in den einzelnen Gesellschaften wäre, um die es jeweils geht. Das wäre das genaue Gegenstück zum standardisierten Massenprodukt der sich etablierenden Kultur-Kampf-Industrie. Aber das reicht nicht. Ebenso wichtig, wahrscheinlich das Wichtigste überhaupt, ist nämlich die dritte Dimension der Politik der Anerkennung: die faire Teilhabe aller an den materiellen und sozialen Ressourcen einer gleichberechtigten Lebensführung, vor allen in den Schüsselbereichen der Bildungschancen, des Arbeitsmarktes und der Erwerbseinkommen. Solange diese nicht gewährleistet wird, innerhalb unserer eigenen Gesellschaft und in der globalen Arena, würden wohl selbst große und ernst gemeinte Gesten der symbolischen Anerkennung der anderen Kulturen bei den Benachteiligten den Verdacht nähren, es handele sich letztlich doch nur um Heuchelei der Privilegierten, denn vom wirklichen Sagen und Haben, Mitreden und Teilhaben blieben die Benachteiligten trotz der Anerkennungsgesten ja fortwirkend ausgeschlossen. Wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen. Liberale Demokratie, die glaubwürdig sein will, verlangt eine soziale Dimension. Der Beweis der Anerkennung liegt in der Bereitschaft zum Teilen. Freiheit in der kulturell pluralistischen Gesellschaft, auch in der Weltgesellschaft im Ganzen, hat nicht nur ihre Grenzen. Sie hat vor allem auch unbequeme Voraussetzungen.

Bibliographie Gerhardt, Volker (2007): Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: C.H. Beck. Habermas, Jürgen (1997): Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: Fischer, 147-196. Huntington, Samuel P. (1996): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Europa Verlag. Leibhold, Jürgen/Kühnel, Steffen (2006): Islamophobie. Differenzierung tut not. In: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Marty, Martin E./Appleby, R. Scott (1996): Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne. Frankfurt am Main /New York: Campus. Meyer, Thomas (1989): Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne. Reinbek: Rowohlt. Meyer, Thomas (2002): Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Taylor, Charles (1997): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas. Frankfurt am Main: Fischer. Weber, Max (1978): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen: Mohr Siebeck. Welsch, Wolfgang (1994): Transkulturalität - die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. In: Stiftung Weimarer Klassik (Hg.): Sichtweisen. Die Vielheit in der Einheit. Weimar: Ed. Weimarer Klassik, 83-122.

HENNING OTTMANN

Was ist politische Erfahrung?

Als ein Beispiel für politische Erfahrung kann die Geschichte dienen, die von kanadischen Elchjägern handelt. Diese lassen sich mit einem kleinen Flugzeug zur Elchjagd fliegen. Als sie aussteigen, mahnt sie der Pilot, dass jeder nur einen Elch erlegen darf. Das Flugzeug würde ansonsten überlastet werden. Als der Pilot zurückkommt, um die Jäger abzuholen, sieht er, jeder von ihnen hat zwei Elche geschossen. Er weigert sich, diese einzuladen. Daraufhin sagt einer der Elchjäger, wir haben dir letztes Jahr 100 Dollar extra gegeben, damit du drei Elche einlädst. Hier hast du 200 Dollar extra. Die Elche werden eingeladen, das Flugzeug startet. Es stürzt ab. Die Jäger können sich aus dem Wrack befreien. Einer fragt den anderen: Wo sind wir? Der andere antwortet: Ich schätze ca. 100 Meter von der Stelle entfernt, an der wir letztes Jahr abgestürzt sind. Mit Erfahrung verbinden wir, was das Sprichwort behauptet: Aus Schaden wird man klug. Ob es zutrifft, ist, wie es die Geschichte der Elchjäger zeigt, fragwürdig. Ob Menschen oder gar die Menschheit aus Erfahrungen lernen, ist nach dem Verlust des Vertrauens in die Fortschrittsgeschichten eine bange Frage. Ob die Menschen politisch lernen, ob sie in der Politik aus Schaden klug werden, ist angesichts der steten Wiederkehr der Katastrophen keineswegs gewiss. Unterstellt, dass wir ansonsten aus Erfahrungen lernen, ließe sich fragen, ob politische Erfahrungen Erfahrungen eigener Art sind. Sind sie schwerer zu machen als andere Erfahrungen? Sind sie flüchtiger, weniger bleibend, weniger lehrreich als Erfahrungen in anderen Lebensbereichen? Oder liegt das Problem darin, dass wir zwar über politische Erfahrungen in reicher Form verfugen, wir aber, wenn wir handeln, diese auch schon wieder vergessen haben? Seit den großen Revolutionen, seit der Französischen und der Amerikanischen Revolution, wird Politik mit einem Pathos des Neuen und des nie Dagewesenen verbunden. Man erweckt den Eindruck, als finge alles von vorne an. Auch die Vertragstheorien, deren Siegeszug in der Neuzeit unaufhaltsam zu sein scheint, wirken wie ein Versuch, eine politische Ordnung ganz von vorne beginnen zu lassen. Man muss - so die unterstellte Annahme - die Ordnung nur wollen, und schon ist sie da. Wohl keine Epoche hat politische Erfahrung mehr verachtet als die Moderne. Nie war die Verehrung des Neuen und nie Dagewesenen größer als in dieser Epoche! Politische Erfahrung ist ein Begriff, der seine Schwierigkeiten hat. In Lexika und Begriffsgeschichten begegnet er einem bis heute nicht.1 Das mag - außer am unseligen 1

Eine gewisse Ausnahme bildet Eric Voegelins Was ist politische Realität? (1966). Voegelin behandelt darin jedoch einzig und allein seine Idee von Erfahrung, die mit einer speziellen Psychologie und einer Lehre von der Transzendenz verbunden ist.

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Vergessen dessen, was man schon wissen könnte - auch daran liegen, dass sich die Auffassung von Erfahrung ändert, je nachdem im Licht welcher Theorie man Erfahrungen macht. Ein Konservativer denkt über vergangene Erfahrungen anders als ein utopischer Denker. Ein politischer Realist umschreibt Politik anders als ein Idealist, der auf die faktische Kraft des Normativen setzt. Unterschiedliche Anthropologien erzeugen unterschiedliche Begriffe von politischer Erfahrung. Wer den Menschen für gefahrlich oder böse, für erbsündenbelastet und aggressiv hält, wird andere Erfahrungen hervorheben als der, der auf die Bildsamkeit und Erziehbarkeit des Menschen hofft. In Steigerung der Schwierigkeiten, die politischer Erfahrung begegnen, kommt hinzu, dass politische Erfahrung auf zwei Ebenen gemacht wird. Sie ist Sache der alltäglichen lebensweltlichen Erfahrung, und sie ist - seit den Griechen - Sache der Reflexion und der Wissenschaft. In der Wissenschaft wird sie zu einer Sache zweiter Ordnung, zur Reflexion auf das, was sowieso schon erfahren worden ist. Die politische Reflexion in der Form politischer Philosophie beginnt mit Sokrates (Ottmann 1989). Die Politische Wissenschaft wird von den Griechen erfunden. Bei ihnen wird das Politische entdeckt (Meier 1983). Es besteht in der Entdeckung, dass Politik durch Miteinanderreden und Miteinanderhandeln gemacht wird. Wir kennen den Weg zu dieser entscheidenden Entdeckung, wie er sich von Homer bis zur klassischen Philosophie, vom frühen Königtum über die Tyrannis zur Demokratie der Griechen vollzogen hat. Politische Erfahrung gibt es seitdem in der doppelten Form einer lebensweltlichen Erfahrung auf der einen, einer wissenschaftlich reflektierten Form auf der anderen Seite. Seit der Zeit der Griechen gibt es eine eindeutige Beziehung beider Ebenen nicht mehr. Die Reflexion auf die lebensweltliche politische Erfahrung kann sich seitdem um eine Nähe zur Alltagserfahrung und zur vorhandenen Sittlichkeit bemühen. Sie kann aber auch aus Enttäuschung über die Praktik der Politik zur Philosophie der besten, der optimal gerechten Stadt werden. Aristoteles' hermeneutische Anknüpfung an das Bestehende und Piatons kulturrevolutionäre Philosophie geben eine Ahnung davon, wie unterschiedlich die Distanz zur Lebenswelt schon in der klassischen Philosophie ausfallen kann (Ottmann 2005). Die Bedeutung, die man der Politik im Gesamtzusammenhang des Lebens zuweist, hat sich - das kommt hinzu - von Epoche zu Epoche geändert. War sie für die Alten der Mittelpunkt des Lebens, so wird sie seit dem Erscheinen des Christentums relativiert. Politik ist seitdem zur Kunst der Regelung vorletzter Dinge geworden, weil die Religion zuständig für das Letzte ist. In der Neuzeit wiederum streiten sich Befürworter der Alten mit Anhängern der Modernen über die Rolle, die Politik im Leben der Menschen einnehmen kann. Es entstehen die großen Strömungen des Liberalismus und des Republikanismus, die der Politik eine je unterschiedliche Bedeutung zuweisen. Man kann Politik seitdem erfahren als bourgeois oder citoyen, wie man eben will. Erfahrungshorizonte der Politik ändern sich mit den Epochen. Schon dies stellt die Hermeneutik politischer Erfahrungen vor große Herausforderungen. Politik epochenübergreifend definieren zu wollen - etwa über kollektive zwangsbewehrte Entscheidungen oder über den Staat - bietet keinen Ausweg aus der Verlegenheit. Das eine ist nichtssagend, eine bloße Leerformel, das andere sogar falsch, da der Staat ein Kind der Neuzeit ist. Die Polis, das imperium Romanum oder das sacrum imperium des Mittelalters waren kein Staat im Sinne des neuzeitlichen Gebildes. Titel wie der „Staat der

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Griechen" verdanken sich der Staatsgläubigkeit des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Aus der Epochenabhängigkeit politischer Erfahrungen fuhren sie nicht heraus. Die Lebenswelt vergangener Epochen steht uns nicht unmittelbar zur Verfügung. Sie wird immer schon gespiegelt durch das, was Dichter, Historiker, Denker über sie berichten oder meinen. Wie man sich diesen Darstellungen vergangener Epochen nähern soll, ist selbst Gegenstand des Streits. Kann man die Autoren früherer Epochen so verstehen, wie diese sich selber verstanden haben? Steht jede Epoche „gleich unmittelbar zu Gott"? Oder kann man die Autoren sogar besser verstehen, als sie sich selber verstanden haben? Auf der einen Seite führt der „Zeilenabstand" zu gewissen Klärungen, man versteht besser. Auf der anderen Seite scheint die Lösung vom eigenen Vorurteil schwieriger zu sein, als es die historistische Geschichtsschreibung verheißen hat. Gerade jene Werke, in denen versichert wird, man gebe eine Epoche nur wieder, wie sie sich selbst verstanden habe, sind von zeitgenössischen Vorurteilen durchtränkt. Mommsens Römische Geschichte etwa verrät allenthalben den Blick eines Liberalen des 19. Jahrhunderts. Droysens Geschichte des Hellenismus ist geprägt durch die Analogien, die er zwischen der griechischen Spätzeit und der eigenen Gegenwart erblickt. Die Urteile holen die Vor-Urteile nur teilweise ein. In der politischen Philosophie will man diesen Schwierigkeiten entkommen, indem man von „Klassikern des politischen Denkens" spricht. Dies ist insofern berechtigt, als man schon um der politischen Bildung willen eines Kanons der Klassiker bedarf. Als klassische Texte gelten dabei solche, die unmittelbar gegenwärtig sind, nicht veralten und, so besehen, zeitlos sind. Aber so unvermeidlich ein Kanon schon aus pädagogischen Gründen ist, so wenig kann er die Schwierigkeiten klären, in die sich jede Hermeneutik politischer Erfahrungen verstrickt. Das Klassiker-Konzept führt zum Bild eines Höhenweges, oft verbunden mit einer Geschichte der „Ideen". Ein Denker zeugt den nächsten in einer Art Jungfrauengeburt. Nach Piaton Aristoteles, nach Aristoteles Cicero, nach Cicero Augustinus usf. Die materiellen Interessen, die hinter der Politik stehen, kommen so nicht in den Blick. Die politisch immer zu stellende Frage „cui bono?" wird im Namen zeitlos gültiger Erkenntnis vornehm umgangen. Ob politische Ideen nicht immer polemisch sind, ob sie überhaupt eine unverfälschte Wiedergabe von Erfahrungen sein können, ob hinter ihnen nicht stets Interessen stehen, solche Fragen werden im Klassiker-Konzept ausgeklammert. Dabei kann, was die Autoren über sich selber und ihre Motive sagen, nicht fur bare Münze genommen werden. Statt für sich selber zu sprechen, sind sie vielleicht nur ein Sprachrohr. Von Interessen über Verdrängungen bis zu Täuschungen und Selbsttäuschungen kann vieles im Spiele sein. Auf die Unzufriedenheit mit dem Klassiker-Konzept und den traditionellen Ideengeschichten antworten verschiedene neue Ansätze: bei den deutschen Historikern vor allem sozialgeschichtliche, bei den französischen Historikern die Mentalitätsgeschichte, in der englischen intellectual history die politische Hermeneutik der Cambridge School. Skinner, Pocock, Dunn u. a. versuchen, von den Ideen zu den politisch Handelnden zu gelangen, welche Ideen zu verschiedenen Zwecken benutzen; 2 „there is", heißt es bei

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Skinner ( 1969, 1970, 1971, 1988) und Koikkalainen/Syijämäki (2002).

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Quentin Skinner, „no history of an idea to be written, but only a history necessarily founded on the various agents who used the idea, and on their varying situations and actions in using it" (Skinner 1969, 36). Nach Meinung der Autoren der Cambridge School kann es nicht die Aufgabe einer politischen Hermeneutik sein, sich in die Köpfe der Autoren vergangener Epochen zu versetzen. Vielmehr muss es das Ziel sein, die Probleme zu identifizieren, auf welche die Ideen einer Epoche eine Antwort gewesen sind. Das ist ein - man könnte sagen Collingwood-Programm (Collingwood 1955). Man sucht die Frage oder das Problem, auf das ein Text die Antwort ist. Der Ansatz der Cambridge School verstrickt sich in eigene Schwierigkeiten. Skinner sucht nach einem „Kontextualismus". Ein Autor - wie etwa Hobbes - wird mit allem Zeitgenössischen umgeben, von Samuel Parker bis James Harrington, von humanistischen Rhetoriktraktaten bis zu Pamphleten der Zeit. Dies führt zum einen zur Auflösung des Textes in den Kontext, es fuhrt dazu, dass die Unterscheidung zwischen einem Denker der ersten und einem der zweiten oder der dritten Reihe verloren geht. Zum anderen macht Skinner Anleihen bei der Sprachphilosophie, bei Austin und beim älteren Wittgenstein. Auch dies ist problematisch. Die Monadologie der Sprachspiele bei Wittgenstein müsste zum Verzicht auf Epochenbegriffe und auf kulturübergreifende Deutungen fuhren. Die Konsequenz müsste wie bei Lyotard in einer Verselbständigung der unendlich vielfältigen Sprachspiele liegen, die ineinander nicht übersetzbar sind (Lyotard 1986). Das Sprachspielkonzept suggeriert zudem einen viel zu engen Zusammenhang von Reden und Tun. Schon der Versuch von Peter Winch, eine verstehende Sozialwissenschaft in der Manier Wittgensteins zu begründen, führte zu einer Gleichsetzung menschlicher Beziehungen mit sprachlichen Korrelationen. Aber eine korrekte Grammatik ist nicht schon gleichbedeutend mit korrekten menschlichen Beziehungen.3 Menschen behandeln einander nicht so, „wie sie den Akkusativ [regelkonform, H. O.] verwenden" (Bubner 1976, 165). Nicht alles Handeln ist Miteinander-Reden. Der Zusammenhang von Reden und Tun lockert sich umso mehr, je weniger ritualisiert, je weniger verknöchert eine Lebensform ist. Ein Ja vor dem Standesbeamten hat eine andere performative Qualität als die Unterschrift unter einen völkerrechtlichen Vertrag. Dieser wird vielleicht schon bei kleinster Veränderung der Lage mit Verweis auf die clausula rebus sie stantibus gekündigt. Skinner scheint Ideen instrumentalistisch zu deuten, als so oder so einsetzbare Antworten auf ein aktuelles Problem. Das wiederum fuhrt dazu, dass ähnlich wie beim Klassiker-Konzept - Überzeugungen, Selbsttäuschungen, Verblendungen nicht ausreichend analysiert werden können. Politisch Handelnde suchen mit Hilfe politischer Ideen Antworten auf Fragen ihrer Zeit. Der Schritt der Cambridge School von den Ideen zu den politisch Handelnden, von den Köpfen der Autoren zu den politischen Fragen einer Zeit führt bereits an die Schwelle 3

Ausgehend von Wittgensteins Sprachphilosophie hatte Peter Winch die Idee einer verstehenden Soziologie entwickelt. Soziale Beziehungen wurden dabei als Spiegel sprachlicher Beziehungen verstanden, so als ob Reden und Tun immer in enger Verbindung zueinander stünden. Winchs Hypothese war, „daß soziale Beziehungen logischen Beziehungen zwischen Aussagen gleichen ..." (Winch 1966,161).

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eines Ansatzes bei der „Lebenswelt" (diese nicht streng im Husserlschen Sinne verstanden, sondern genommen als Welt des Alltags, als Welt primärer Einverständnisse, als vertraute Welt, als immer schon interpretierte Welt). Ein solcher Ansatz muss sich jedoch von der engen Anbindung an bestimmte Sprachphilosophien befreien. Er muss sich vor allem dagegen schützen, dass lebensweltliche Erfahrung durch Theorie sprachlos gemacht wird. Lebensweltliche Erfahrung muss überhaupt erst zugelassen werden, sie muss sich überhaupt erst äußern können, und das ist seltener der Fall, als man denkt. Konstruktivistische und dekonstruktivistische Theorien beispielsweise sind ständig dabei, Erfahrungen als konstruiert oder gar als nur konstruiert aufzuweisen: die Nation, den Fremden, das Geschlecht, was auch immer. Es entsteht eine Welt als Wille und Vorstellung, die kein Ereignis mehr kennt und die vor Erfahrung keinerlei Respekt mehr hat. Wie kann es gelingen, lebensweltliche Erfahrung im politischen Denken zu Wort kommen zu lassen? Zwei Gedankengänge seien entwickelt: a) eine Kritik von Theorien, die Erfahrung gar nicht erst zulassen, b) eine Skizze lebensweltlicher Politikerfahrung. Lebensweltliche Erfahrungen verflüchtigen sich, je mehr sie vertheoretisiert werden. Vertheoretisiert sind alle Typen politischer Theorie, welche dem politischen Handlungsbereich eine Eigenart absprechen, ihn vielmehr modellieren nach dem Vorbild politikfremder Gebiete. Dies geschieht erstmalig schon bei Piaton, wenn er Politik aus der Schau der Ideen begründen will. Theorie wird hier selber zur Praxis. Praxis wird verwechselt mit Theorie. Eine Verzeichnung des politischen Erfahrungsbereiches liegt ebenfalls vor in jenen neuzeitlichen Theorien, welche - beginnend mit Hobbes - Naturwissenschaft und Technik zum Modell der Politik machen. Sie erwecken den Eindruck, als ob der Bereich menschlicher Handlungen ein Objektbereich wie jener der Natur wäre, naturgesetzlich bestimmt, erklärbar wie ein Naturvorgang. Diese von Hobbes über den Positivismus bis zum Behaviorismus reichenden Theorien sind schon insofern unangemessen, als Politik nicht die Beziehung eines Subjekts auf ein Objekt, sondern die Beziehung von Subjekten auf einen selbst wieder von Subjekten konstituierten Bereich betrifft. Hier kann man nur erklären und verstehen, wenn man die Selbstdeutungen (oder Selbsttäuschungen) der Subjekte einbezieht. Der politische Handlungsbereich kennt keine strengen Gesetzmäßigkeiten im Sinne von Naturgesetzen. Folgen menschlicher Handlungen sind unabsehbar. Die Prognosefahigkeit - selbst sozialtechnologisch beschränkter Voraussagen - ist gering. Es ist kein Zufall, dass der Positivismus eine Philosophie bloßer Ankündigungen war und ist. Immer wieder wird angekündigt, man werde Gesetze menschlichen Verhaltens aufdecken. Nur geschieht dies nicht, und es geschieht nicht, weil es nicht geschehen kann. Politische Erfahrung fuhrt immer nur zu relativen Verallgemeinerungen, zu Regeln, zur Orientierung an Präzedenzien und Beispielen. Zu ihr gehören Geschichten, Narrationen, von den Gründungsmythen der Gemeinschaften bis zu dem, was einzelne als ihre Lebensgeschichte erzählen. Dabei kann sich jemand sogar darauf versteifen zu sagen, das ist meine Geschichte, das ist meine Erfahrung. Politische Erfahrung ist in eine strenge Allgemeinheit nicht zu pressen. Sie kann im Extremfall mit subjektiver Erfahrung konfrontiert sein. Das hat mit der Individualität der Personen und der irreduziblen Vielfalt ihrer Lebensgeschichten zu tun.

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Ein weiteres Beispiel der theoretischen Verzerrung politischer Erfahrung liefert die expertokratische Politikauffassung. Auch sie ist nicht geeignet, der lebensweltlichen Erfahrung gerecht werden zu können. Wissenschaft kann lebensweltliche Erfahrung nicht ersetzen. Experten können bei der politischen Meinungsbildung hilfreich sein. Aber Expertenmeinungen gibt es nicht selten mehr als eine. Noch entscheidender ist: Experten für Politik sind wir alle, d. h. wir müssen entscheiden, welcher Expertise wir folgen wollen. Geht es beispielsweise um die Atomkraft, so muss - Expertenmeinung hin oder her - letztlich die Bürgerschaft entscheiden, mit wieviel Risiko sie leben will. Keine Expertise wird ihr diese Entscheidung abnehmen. Die Technokratietheorie der 60er Jahre vertreten von Schelsky, Gehlen u. a. - , nach welcher die Demokratie in die Hände der Fachleute gelegt werden sollte und Wahlen nur noch als eine scheindemokratische Kulisse bestehen bleiben sollten, geht an der Eigenart politischer Erfahrung vorbei (Schelsky 1979; Gehlen 1978; Lübbe 1971). Die höchste Steigerungsform der Ausschaltung lebensweltlicher Erfahrung stellt die Ideologisierung dar. Eine solche entsteht in der Neuzeit aus vielfältigen Gründen: durch Säkularisierung, Totalitätsansprüche, teleologische Geschichtsphilosophien, prometheische Übersteigerungen des Selbstvertrauens des modernen Subjekts. Ideologien tarnen sich gelegentlich als Wissenschaft, wie im Falle des Nationalsozialismus und des Marxismus. In Ideologien hat die lebensweltliche Erfahrung keinerlei Chance mehr, zu Wort kommen zu können. Ideologien schaffen sich ihre eigene Welt. Erfahrung wird ausgeschaltet: zum einen durch die systematische Leugnung von Gegenevidenz, diese wird durch immer neue ad-hoc-Annahmen aus der Welt geschafft; zum anderen durch die den Ideologien mögliche Schaffung von Realität. Hannah Arendt hat dargelegt, dass Ideologien in der Lage sind, sich ihre eigene Realität zu erzeugen. Wenn die Welt mit den Augen der Ideologie betrachtet wird, wird sie schließlich so, wie sie im Auge des Betrachters zu sehen ist. Hier bestehen gewisse Ähnlichkeiten mit der Freud'sehen Psychoanalyse. Ihre sexuelle Symbolisierung von allem und jedem erzeugt im Auge des Betrachters eine pansexuelle Welt, auch wenn eine Zigarre manchmal nur eine Zigarre ist. Politische Erfahrung macht jeder. Jeder kann sie machen. Man bedarf zu ihrem Verständnis nicht notwendigerweise der Hilfe der Philosophen und Wissenschaftler. Deren Beitrag zur Deutung politischer Erfahrung kann willkommen sein. Jedoch kann gerade in der Politikauffassung von Intellektuellen eine eigene Gefahr lauern: die Gefahr intellektualistischer Vorlieben, die der Politik eher schädlich als nützlich sind. In seiner Rede Über die politischen Wissenschaften (1852) hat Tocqueville ausgeführt, dass das Schreiben guter Bücher über Politik nur schlecht auf das Regieren vorbereite. Der Literat hat, so Tocqueville, „Gefallen am Endgültigen, am Schwierigen, am Geistreichen und Ursprünglichen, während gerade die großen Gemeinplätze die Welt umtreiben" (Tocqueville 1852, 50). Hinzu kommt die Anfälligkeit von Intellektuellen für geistige Modeerscheinungen, die sie für politische Selbstverständlichkeiten gelegentlich blind werden lässt. Bei der Deutung politischer Erfahrung kommt keiner einzelnen Disziplin eine Monopolstellung zu. Nicht nur die politische Philosophie, auch die Historie, die Rechtswissenschaft, die Theologie, die Ökonomie, ja sogar die Dichtung trägt zum Verständnis politischer Erfahrung bei. Man muss politische Erfahrung von überall aufgreifen, wo überhaupt über Politik nachgedacht wird. Das geschieht in vielerlei Disziplinen und bei

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vielerlei Gelegenheiten. Einen Monopolanspruch zur Deutung der Politik besitzt kein einzelnes Fach, und das ist einer der Gründe, warum ich statt von politischer Philosophie oder politischer Theorie lieber von „politischem Denken" spreche (Ottmann 1996). Politisch denken kann a) jeder Bürger, b) jede Disziplin, die in irgendeiner Weise das gemeinschaftliche Leben reflektiert. Die Erfahrung kommt aus der Lebenswelt und sie geht nach der Reflexion auf diese wieder in diese ein. Dieser Kreislauf wird verfehlt, wenn Erfahrung durch a priori feststehende Theorien vorfabriziert wird. Die schon als wahr erkannte Theorie soll dann nur noch „angewendet" werden. Der Politikwissenschaft ist jedoch wie der Rechtsprechung oder der Theologie die Anwendung nichts Nachträgliches oder Äußerliches (Gadamer 1972, 290ff.). Verstehen, Auslegen und „Anwenden" bilden vielmehr eine Einheit. Im Unterschied zum Historiker kann sich der Politikwissenschaftler nicht mit der Deutung der res gestae bescheiden. Er hat es mit den res gerendae zu tun. Sein Nachdenken über Politik muss immer schon auf die zu fällende Entscheidung und die zu lebende Praxis ausgerichtet sein. Statt um die Anwendung von bereits Feststehenden geht es um die hermeneutische Vermittlung einer nie alles umfassenden Regel mit einem konkreten Fall. Gefragt ist statt Subsumtion und Deduktion so etwas wie Urteilskraft, Fingerspitzengefühl, Takt, Sinn, Gespür. Man berät sich über die richtige Entscheidung, man deliberiert, und das ist überhaupt nur sinnvoll, wenn man über eine Sache verschiedener Meinung sein kann und man zugleich hoffen darf, durch das Miteinanderreden zu einer besseren Entscheidung zu gelangen. Es ist eine Hoffnung, die in Aristoteles' Summationstheorie wie in den aktuellen Theorien der deliberativen Demokratie in gleicher Weise zum Ausdruck kommt (Ottmann 2007). Wie soll man sich der politischen Lebenswelt nähern? Sie scheint sich heute zugleich auszubreiten und zu verflüchtigen. Der neuzeitliche Staat hatte klare Unterscheidungen hervorgebracht: öffentlich und privat, staatlich und gesellschaftlich, militärisch und zivil. Diese Unterscheidungen sind im 20. Jahrhundert ins Wanken geraten. Krieg und Frieden, Staat und Gesellschaft, Öffentlich und Privat sind nicht mehr eindeutig voneinander zu trennen. Kalter Krieg und Kalter Frieden, irreguläre Kämpfer und eine immerwährende Rüstung, ein die Gesellschaft teils regulierender, teils ihr ausgelieferter Staat, ein Eindringen der Politik in ehemals unpolitische Bereiche, das alles sind Kennzeichen der neuen Lage. Ein Gespräch unter Bäumen kann heute politisch werden, ein scheinbar unschuldiger Kauf eines Pfundes Kaffee ebenso, das Verhältnis der Geschlechter sowieso. Carl Schmitt hatte auf den Verlust des staatlichen Politikmonopols durch den Begriff des „Politischen" geantwortet (Schmitt 1932). Seine Theorie war allerdings zweideutig geblieben. Auf der einen Seite verabschiedete sie den Staat, auf der anderen Seite setzte sie ihn doch wieder voraus. Wenn alles politisch werden könnte, gäbe es - mangels Gegensatz - keinen Begriff von Politik mehr. Eine gebietspolitische Bestimmung von Politik - d. h. durch den Staat, durch die Ämter, durch die legitimierenden Verfahren lässt sich deshalb auch heute nicht umgehen. Es ist ein Unterschied, ob man den fairen Kaffeekauf oder eine Wahl politisch nennen will. So verdienstvoll es sein mag, den Kaffee zum fairen Preis zu kaufen, so wenig hat diese Kaufentscheidung mit politischer Legitimation zu tun. Der korrekte Kaffeekauf legitimiert politisch nichts. Ähnlich steht

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es um die vielfach geforderten Diskurse in spontanen, außerparlamentarischen Öffentlichkeiten. Sie bleiben solange vorpolitisch, solange sie nicht den Weg in die etablierten Institutionen finden. Global governance, das neue Schlagwort internationaler Politik, muss man wohl übersetzen mit „Regieren ohne Regierung". Damit ist die ganze Unverbindlichkeit, Unkontrolliertheit und Unverantwortlichkeit dieses Politikstiles schon benannt. Die NGOs, was immer ihre Verdienste bei der Aufmerksamkeitserregung sein mögen, werden weder demokratisch legitimiert noch kontrolliert. Der Horizont der Politik hat sich um den Raum einer Quasi-Politik erweitert. Den Kriterien einer verantwortlichen Politik genügt diese nicht. Nach dem Durchgang durch die Beispiele, welche die Verdeckung und Verzerrung lebensweltlicher politischer Erfahrung demonstrieren, sei abschließend gefragt, wie man sich der lebensweltlichen politischen Erfahrung angemessen nähern kann. Angesichts der Doppelstruktur von immer schon gedeuteter politischer Ordnung und der Reflexion auf diese wird man nicht umhin können, sich der Erfahrung verstehend zu nähern, in einem komplizierten Ausgleich zwischen Vor-Urteil und Urteil. Politische Erfahrungen sind zunächst einmal geistige, so wie man bei jeder gemeinschaftlichen Tätigkeit erfahren kann, was Geist ist. Schon beim Spiel einer Fußballmannschaft ist auf einen Blick zu sehen, wie es um den Geist der Mannschaft bestellt ist. Geist dokumentiert sich im gemeinsamen Handeln und im Miteinanderreden, in den beiden Kernbestandteilen aller Politik. Lebensweltliche politische Erfahrung ist aber nicht nur eine geistige. Sie ist auch eine leibliche, und mein letzter Vorschlag zur Güte ist dieser, es einmal mit einer Phänomenologie leiblicher Politikerfahrung zu versuchen. Der Vergleich von Leib und politischem Körper ist so alt wie die politische Philosophie. Er begegnet bei Piaton, bei John of Salisbury, bei Hobbes und anderen. Geht es dabei um den kollektiven Körper, den magnus homo, so möchte ich die leibliche Politikerfahrung zunächst als die der einzelnen verstehen. Was bedeutet es, Politik am eigenen Leibe zu erfahren? Es kann bedeuten, sich bewegen zu können oder nicht. Wir kämen so zur Reisefreiheit, zu den Mauern und den Grenzen, zum Exil, zur Freizügigkeit, zum Gefängnis, zu habeas corpus. Leibliche Politikerfahrung kann eine Begegnung mit dem Knüppel des Polizisten sein, mit dem staatlichen Zwangsapparat. Sie kann bedeuten, dass man im Kriege Blut vergießt, eigenes oder fremdes. Sie kann bedeuten, dass man die Hand hebt, um abzustimmen oder zu schwören. Damit wären wir bei der Schwurgemeinschaft oder bei der Amtseinführung. Handschlag und Unterschrift stehen für Abmachungen und Verträge. Wie die Hände so haben auch die Füße unmittelbar politische Bedeutung. Mit den Füßen wird abgestimmt, wenn man ein Land verlässt oder wenn Soldaten in der Schlacht desertieren. So wie Hand und Fuß kommt auch Mund und Ohr größte politische Bedeutung zu. Darf man den Mund aufmachen oder nicht? Gibt es Redefreiheit oder gar Mündigkeit? Hören wiederum hat mit Gehorchen zu tun. Alles Gehorchen kommt vom Hören, so wie alles Diskutieren letztlich auch. Erfahrungen kann jeder machen, wenn diese nicht theoretisch oder ideologisch verstellt werden. Es muss sie auch jeder selber machen, und diese Eigentümlichkeit von Erfahrung bezeichnet die Grenze der Tradierbarkeit des politischen Wissens. Was Erfahrung angeht, beginnt jede Generation von Neuem. Man kann dies pessimistisch deuten

W A S IST POLITISCHE ERFAHRUNG?

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u n d e s d a s E p i m e t h e i s c h e aller E r f a h r u n g n e n n e n . A u c h p o l i t i s c h w i r d m a n m e i s t erst a u s S c h a d e n k l u g , u n d s e l b s t d i e s m u s s - e s s e i an d i e G e s c h i c h t e v o n d e r E l c h j a g d erinnert - n i c h t i m m e r der Fall s e i n . D e r Trauer ü b e r d i e E p i m e t h i e aller p o l i t i s c h e n Erf a h r u n g steht j e d o c h d i e H o f f n u n g g e g e n ü b e r , d a s s j e d e G e n e r a t i o n v o n n e u e m b e g i n n e n k a n n . H a n n a h A r e n d t hat d i e „ A n f ä n g l i c h k e i t " d e s M e n s c h e n m i t s e i n e r F r e i h e i t v e r b u n d e n . J e d e s K i n d ist e i n A n f a n g u n d j e d e G e n e r a t i o n erhält ihre C h a n c e a u f s N e u e . V o r a u s g e s e t z t d a f ü r ist f r e i l i c h , d a s s d a s p o l i t i s c h e D e n k e n A c h t u n g hat v o r d e m S e l b s t v o l l z u g d e r E r f a h r u n g , A c h t u n g hat v o r der S u b j e k t i v i t ä t u n d ihrer S e l b s t b e s t i m m u n g ( G e r h a r d t 1 9 9 9 ) . D a s ist n i c h t w e n i g , u n d e s z e i g t n o c h e i n m a l , w i e w i c h t i g e s ist, d a s s d i e l e b e n s w e l t l i c h e E r f a h r u n g n i c h t i d e o l o g i s i e r t o d e r v e r t h e o r e t i s i e r t wird.

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Mensch - Kultur - Welt

RENATE RESCHKE

Bürger Apollon? Vom griechischen Gott zum bürgerlichen Subjekt Nachgelesen bei Winckelmann und Hegel

„Die Moderne lebt von Anfang an aus einer habituellen Selbstüberschätzung. Um ihre Progressivität plausibel zu machen, muss sie die Antike als naiv und harmonistisch disqualifizieren, obwohl sie so gut wie alles, was sie zur eigenen Profilierung braucht, aus eben dieser Antike bezieht." Volker Gerhardt, Individualität. Das Element der Welt

I Mit dem gleichen Recht, mit dem Georg Wilhelm Friedrich Hegel das Subjekt als Sohn bürgerlicher Verhältnisse bestimmt hat, könnte man hinzufügen, dass dieser geschichtlich moderne Sohn die Gesichtszüge und den Habitus antiker Heroen und Götter, vorab des machtvollsten der Zeussöhne Apollon annehmen und tragen sollte. Jedenfalls nach dem Willen derer, die versucht haben, ihm Leit- und Vorbilder zu formulieren, nach denen es sich lohnte, das neue bürgerliche Leben, Wollen und Wirken (jedenfalls das um und nach 1800) einzurichten. Dass ein solches Ansinnen von vornherein Ideal und Utopie war, tat dem innewohnenden Symbolcharakter und Ansporn keinen Abbruch, wiewohl es im bemerkenswert klassizistischen Kern der Sache lag, mit unglaublichen Selbstüberbietungsenergien sich selbst und die Antike permanent zu überfordern. Als Johann Joachim Winckelmann in Rom seine in vatikanischer Obhut stehenden favorisierten Antiken in demutsvoller ästhetischer Begeisterung, besonders den Apollon im Belvedere, bewunderte und er sich an ihm sein Ideal griechischer Kultur und Menschenbildung, das heißt, ein anmutsvolles, schönes, harmonisches und freies Griechentum imaginierte, zeichnete sich in dieses Ideal zugleich tief eine vielleicht gewollte, vielleicht nicht anders sein könnende Blindheit ein gegenüber dem, was das Monument des stolzen Gottes dem angerührten Betrachter jenseits von in eins gesehener Jugendund Männlichkeit, göttlicher Unschuld und unübertrefflicher Schönheit als Botschaft aus der Vergangenheit überbrachte. Deren kulturellen Code konnte der Mann aus dem altmärkischen Stendal, der nach Rom gekommen war, um den Atem der Freiheit der Alten in sich aufzunehmen, nicht entziffern oder (wenn doch) vermochte er sich seiner Wahrheit nicht zu stellen und hat sie im Kolumbarium einer emotions- und wortgewaltigen Apotheose weggeredet: in einer ästhetischen Kaskade von Literatur gewordenen Bildern ging unter, was hinter und unter der Schönheit sich verbarg, ihr Grund auf dem sie ruhte und der ihr erst jene unwiderstehliche Macht gab, der sich weder die Antike selbst noch ihre modernen Nachfahren entziehen wollten.

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Man muss nicht Friedrich Nietzsche bemühen, um zu wissen, wie sehr die Mythologie der Griechen ihr ideelles, ideologisches Standbein darin besaß, über den grausamen Grund des Daseins den lebensnotwendigen und Existenz sichernden Schein des Olymps zu legen. Man muss auch nicht das kulturkritische Alphabet der Moderne buchstabieren, nach dem es zu den Kennzeichen des Klassizismus gehöre, der „Trauer der Vollendung" 1 nachzusinnen und in ihrem Sinne mobil zu machen. Um den Grad der unhistorischen Idealisierung zu ermessen, braucht man nur auf das Echo zu hören, den der Hall des klassizistischen Donners bei den Zeitgenossen provoziert hat. Johann Gottfried Herder, obwohl er gern Jahre seines eigenen Lebens für den Erfinder der schönen Antike gegeben hätte, gab den grollenden Klang zurück mit dem eindrücklichen und fur die Zeiten befremdlichen Bild von einem antiken Gemeinwesen, in dem die politischen Zustände das gleiche zu wünschen ließen, wie die der eigenen Gegenwart. Nämlich: trotz historischer Differenz eine Vorteilsgesellschaft der Machtbesitzenden gewesen zu sein, die je nach eigenem gusto die Mitglieder der Polis nach ihrer Pfeife, resp. Flöte haben tanzen lassen: „als denn waren Redner, Orakel und Priester, die Krücken, worauf das Volk hinkte, wenn es nicht gehen konnte. Das abergläubische Volk wollte, was das Orakel, das Orakel, was der Priester, der Priester, was der Redner wollte; [...] der Redner, was sein Vorteil, Ehre, Familie wollte: und so spielte man mit dem Volke damals eben das blinde Spiel, was Knaben heute noch zum Zeitvertreib spielen: - Die blinde Kuh!" (Herder 1765: 44). Die Schönheit Apollons konnte darüber nicht täuschen: Herder ließ keinen Zweifel daran, dass der Gott und seine Erfinder für ihn kaum noch zum Vorbild für die moderne Zeit und zu ihrem Identifikationssymbol werden konnten. Seine Sympathien hielten sich in einsichtigen, aus dem Bewusstsein der historischen Distanz gespeisten Grenzen. Hegel dagegen, der Mann, der seine Weltphilosophie und Epochenkritik mit einer historischen Dimension ausgestattet hat, die seinesgleichen sucht, kam von der Favorisierung alles Griechisch-Antiken nicht los und hat (wie Winckelmann, wenn auch maßgeblich verändert um den Grad des Vergänglichen) Athen und seinen Bürgern wie Göttern eine hohe Reverenz und folgenreichen Tribut gezollt, indem er mit ihnen den unwiederholbaren Höhepunkt einer Kultur nachgezeichnet hat, an dem gemessen, die moderne, sich bürgerlich ausstaffierende Epoche, nur mühsam ihre eigene Identität gewinnen und behaupten konnte. Wie hinter einem Schleier nur schien, ästhetisch verklärt, die neue Realität mit ihren Widersprüchen, Konflikten und Kollisionen auf, und nur manchmal, wenn für einen Moment der Schleier durchsichtiger wurde, zeigte sich, wie sehr beide Bilder, das der Antike und das der Moderne, sich auf eine Weise zu gleichen schienen, die dem Philosophen unheimlich sein musste: dass sie beide nicht das waren, was er angestrengt von ihnen glauben wollte: Gemeinwesen, in denen ihre Mitglieder durch alle Widernisse hindurch, ohne Gewalt nicht nur miteinander auskommen, sondern auch ihre Individualität so entfalten konnten, dass erst ihre Rückkoppelung auf die Polis resp. die bürgerliche Gesellschaft deren wirkliche Substanz bedeuteten. Aus dem latenten Wissen um diese Vision oder Illusion hat Hegel es sich verboten, dem

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So der Titel einer Studie von Beat Wyss (1997): Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik.

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Schleier zu entsagen und ihn klassizistisch-idealistisch belassen. Ganz dem verpflichtet, was er seiner Eule der Minerva abgesehen hat: im Dämmerlicht den Flug der Erkenntnis zu beginnen, der klar sehen lässt und um den Trug und versöhnenden Schein weiß. Winckelmann wie Hegel haben der griechischen Antike abgesehen, was sie in der Gegenwart vermissten und in ihr hergestellt wissen wollten: ein kulturelles und politisches Gemeinwesen, in dem die Freiheit der Individuen Fundament ihrer kulturellen Identität und politischen Verfasstheit sein sollten. Dazu aber musste erst ein Selbstbewusstsein möglich sein und Wirklichkeit werden, an dem die nicht nur von Immanuel Kant kritisierte Unmündigkeit durch den Imperativ des sapere aude (Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen) durchbrochen werden musste, sondern auch die Forderung des delphischen Apollon gnôthi seautón (Erkenne dich selbst) in die Tat umzusetzen war. Den bürgerlichen Zeitgenossen in Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war dies eine Zumutung, deren Tragweite und inneres Konfliktpotential nur zu ahnen war. Im europäischen und transatlantischen Kontext war der Prozess der Selbstbewusstwerdung bürgerlicher Individuen auf der Grundlage anderer wirtschaftlicher und politischer Machtkonstellationen sehr viel weiter fortgeschritten. Deren philosophische Reflexion erreichte auch deutsches Denken und erschreckte die weitgehend politisch einflusslosen geistigen Eliten. 2 Die interne Dramatik des Erschreckens zeitigte jenen eigenartigen Zugriff auf die Antike, der nur aus den besonderen Umständen deutscher Real- und Aufklärungssituation entstehen konnte: jenes Bild von Anmut und Grazie, an dem der Klassizismus Winckelmannscher Prägung Form geworden ist mit einzigartigen Entwürfen einer illusionsvollen Bildwelt und Wissenskultur, in die sich das bürgerliche Individuum versetzt sah, um staunend und angerührt eine Welt von Freiheit und Schönheit zu entdecken, die einmal war und wieder möglich schien. So abgemildert aus ästhetischem Blickwinkel konnte Winckelmann seine betörende, aber durch nichts zu beweisende Formel von der Unnachahmlichkeit der Griechen als Forderung an die zeitgenössische Kultur und Kunst formulieren, die Alten nachzuahmen, um selbst unnachahmlich zu werden. Um in die Nähe jener Größe und Schönheit zu gelangen, die für ihn mit Freiheit verbunden und in Apollon sichtbare Gestalt geworden war. - Auch für Hegel, fast fünfzig Jahre später, blieben die antiken Göttergestalten in Stein festgehaltene Idealbilder, an denen die inzwischen ihr Gesicht zeigenden Bürger noch immer ihr Maß melancholisch werdender Schönheit erkennen sollten. Oder sich wenigstens der Differenz bewusst werden sollten, die sich in der Kluft ihrer Antlitze und sozialen Verhältnisse zu denen der antiken Vorbilder zeigten und transparent machten, wie schwierig, wenn nicht unmöglich es war, den stolzen Elitegott Apollon zum Bürger zu machen. Daran kollidieren Citoyenbewusstsein und Bourgeoisrealität. Weder Citoyen noch Bourgeois können auf Dauer in die Fußtapfen Apollons treten. Begründungen dafür waren unterschiedlich, die Gründe dagegen gleich. Dass Schöneres nicht sein kann und werden, musste der Philosoph in Berlin erkennen. Damit leistete er Trau-

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Eine Geschichte des Einflusses vor allem der englischen Aufklärungsphilosophie, so sie politische Ansprüche (Thomas Hobbes, John Locke) reflektierte, wäre aufschlussreich, aber den hier gegebenen Rahmen sprengend. So sei verwiesen auf: Paul Geyer (1997), Horst Bredekamp (2003) und Quentin Skinner (2008).

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erarbeit an der Antike und räumte dem schon lange aufgegebenen Widerstand gegen die Realität bürgerlicher Gesellschaft das Recht auf historische Legitimation ein. Das bürgerliche Subjekt als Citoyen, das mit dem auf dem Pferde in die Moderne einreitenden Weltgeist entstehen sollte, erwies sich als wirkmächtiges, aber den Erfordernissen der Realität nicht gewachsenes Geist-Konstrukt mit unverkennbar ästhetisch-antiken Zügen. Der Bourgeois, der die Realität meisterte, die er auf die Bühne der Geschichte gehoben hat und als dessen wirklicher, wenn auch von der Philosophie ungeliebter Sohn der Realität er sich erwies, konnte mit dem schönen Gott wenig anfangen und mit seinem Kostüm auch nicht. Apollon taugte, so wie ihn klassizistische Antike-Beflissenheit porträtiert hat, wenn überhaupt, wie gehabt und lange tradiert, nur als Künstler-Gott und fürs Museum. Als Figur bürgerlicher Subjektwerdung hat er nie wirklich getaugt. Und wenn doch, dann als idealischer Unterpfand für kurze Zeit. Treffend hat in diesem Zusammenhang Beat Wyss Hegels letzten Gang durchs Museum seines absoluten Geistes mit einem janusköpfigen Gedanken enden lassen: „Das Vergangene in seinen stofflichen Überresten bot gefälligen Tand: Souvenirs in glücklichere Tage, die man für einen Augenblick gerührt besah, ehe man sie dem Feuer überließ, weil man doch nicht alles Gerümpel stapeln konnte. Einer funktionstüchtigen Gegenwart stand das Veraltete, die Träume von gestern, im Weg" (Wyss 1997, 236). Was danach kam, war nicht mehr nur Abgesang, sondern etwas gänzlich anderes, auch wenn es sich noch mit den Insignien der Alten schmückte.

II 1755 hat Winckelmann in der gebildeten Bürgerwelt mit seiner Schrift Gedancken über

die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauerkunst für Aufregung gesorgt, als er empfahl, alle Zukunftsgedanken am Bild der Antike zu orientieren, d. h. am Geist, der Kunst und Kultur der Alten. Im großen Jahrhundertsdiskurs der Querelle des anciens et des modernes war diese Aufforderung am äußersten Rand der Debatte eine offensive Parteinahme für die Seite der anciens, aber mit weitaus höherem Bewusstsein ihrer für die bürgerliche Kulturwerdung bedeutenden Dimension, als es der französischen Kerndiskussion je in den Sinn gekommen wäre. Gegen die überall sichtbare barock-feudale Instrumentalisierung der Antike zur dynastischen Machtentfaltung und ihrer ästhetischen Repräsentation in der Architektur und ihrem Figurenprogramm, bei Museumserwerbungen, in Bibliotheken und privaten wie öffentlichen Kunstsammlungen opponierte Winckelmann mit einer energischen Revision der Klassizismen der klerikal-feudalabsolutistischen Hofkultur und mit unmissverständlicher Reklamation der Antike für ein neues, anderes, jenseits der Feudalkultur angesiedelten Menschen- und Gesellschaftsbildes. Aus der Optik bürgerlicher Aufklärung sollte die Antike zum Symbol einer sich selbst befreienden Menschheit werden, als Wertepool für eine neue kulturelle Identität zunächst für die geistigen Eliten innerhalb des Bürgertums, dann aber auch für das sich bildende Bürgertum überhaupt. Dass deren Ideale denen herrschender Feudalität entgegenstanden, muss nicht eigens erwähnt werden, wohl aber ist von Interesse, dass Winckelmann sich anschickte, sie in das gleiche Kostüm zu

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kleiden, mit dem der Hochadel die seinen ausstaffierte. Indem Winckelmann nicht nur das Bild der Antike anders interpretierte und sich seine resp. des Bürgers Antike erfunden hat 3 , sondern diese zugleich an herausragenden repräsentativen Kunstgestalten zu demonstrieren wusste, hat sie von ihm ein nicht mehr aus dem Gedächtnis zu tilgendes Antlitz erhalten. So sehr an der Laokoon-Gruppe das Idealbild stoischer Welt- und Lebenshaltung, jenes der edlen Einfalt und stillen Größe sinnfällig wurde, so sehr hat seine Apotheose des Apollon im Belvedere eine Eigendynamik im Spektrum der machtvollen Bilder entwickelt und ästhetische Energien freigesetzt, die eine Konjunkturphase klassizistischer Antikeverehrung in Szene gesetzt haben, an der der inhärente unterschwellige, aber von den Zeitgenossen verstandene politisch-oppositionelle, antiklerikale und antifeudale, der bürgerliche Geist hervorzuheben ist (Reschke 2006, 105 ff.). Winckelmann ersann den nach identitätsstiftenden Bildern suchenden bürgerlichen Intellektuellen eine griechische Antike, die an historischer Wirklichkeit zwar nicht zu messen war, dafür aber mit ästhetischer Eindringlichkeit einen Sehnsuchtsraum öffnete, der die Vision einer anderen kulturellen Möglichkeit bedeutete. Ihr Konstruktcharakter tat der Begeisterung keinen Abbruch. Er wurde kaum wahr- oder billigend in Kauf genommen. Seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts hat man auch in deutschen literarischen und philosophischen Diskursen begonnen, sich verstärkt der Antike zu versichern, um Kritik zu üben an den Zuständen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und ein ganzes Netzwerk antiker Symbole und Kunstwerke im kulturellen Bewusstsein zu installieren, um den Gedanken der Aufklärung sinnstiftende Gestalt zu geben. Nicht als ästhetisches Beiwerk, sondern den Kern von Aufklärung (Vernunft, Sittlichkeit, Freiheit, Subjekt) betreffend, haben Denker und Literaten wie Johann Christoph Gottsched, Herder, Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, der junge Johann Wolfgang Goethe oder Christian Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier die Griechen mit neuen Augen gesehen und ihre Version der Alten in die Welt des(r) Geistes(r) lanciert, so dass deren Anwesenheit selbstverständlich wurde und Winckelmanns Superlativierung griechischer Antike ohne weiteres angenommen werden konnte. Der Boden war fruchtbar schon, auf den der Samen seiner Griechenverehrung fiel. Man war nicht mehr erstaunt, in der Antike freien Polisbürgern zu begegnen, deren Individualität sich in der und durch die Verpflichtung auf das Gemeinwesen bestimmte, man wusste in Ansätzen von der unvergleichlichen Schönheit ihrer Kunstwerke, kannte ihre Sprache und Homer galt unangefochten durch die Jahrhunderte. Aber erst mit Winckelmann radikalisierte sich der Blick, begann die Erkenntnis zu greifen und gedanklich Gestalt zu werden, dass mit der Antike ein Weg zu weisen war nicht nur aus der Misere deutscher politischer Kleinstaaterei und feudaler Provinzialität, sondern dass man Grieche werden musste, um sich daraus zu befreien, dass die ideell-ästhetische Verbrüderung mit den Griechen erst den kulturellen Raum öffnete, in dem die eigene Subjektivität zu gewinnen war. Der Spannungsbogen reichte vom Potential sittlichen Verhaltens, das im Halte Maß der Alten lag, bis zum Ideal der Kalokagathie, der Vortrefflichkeit, der Einheit 3

Wie sehr diese Antike Züge des 18. Jahrhunderts, samt bürgerlichem deutschem Jammertal trug, hat Egon Friedeil geistreich beschrieben (Friedell 1927, 786ff.).

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von Ethischem und Ästhetischem, von Sittlichkeit und Schönheit als faszinierendem Ensemble, das als conditio sine qua non eines emanzipatorischen Geistes zu gelten begann und dessen kulturelle Kraft begründete, die in der ästhetisch bestätigten Geburt des bürgerlichen Subjekts münden sollte. In der Erkenntnis dieses Zusammenhanges avancierte die antike Polisgesellschaft, unbeschadet ihrer inneren Widersprüchlichkeit, zum Bild einer idealen kulturellen Ordnung, zu einem Idealszenarium, mit dem Winckelmann in den großartigen Raum Antike entführte, in dem gelebt wurde, was in der Gegenwart keine Realität hatte. Eine Welt der Einfachheit, Natürlichkeit, Würde, Anmut, Schönheit, Freiheit, Gemeinwesen und Individualität, zum Gesamtbild zusammengezogen. Winckelmanns Traumbild von der Antike war in aufklärerischen Kategorien gedacht und ausgemalt, aufgeladen mit den Inhalten und dem Pathos einer Antike, die im Abstand zur historischen Wirklichkeit ihre kulturelle, ästhetische, symbolische Wahrheit gewann. Eine Welt, in der schöne Menschen schöne Kunstgestalten schufen und sich in ihnen feierten, göttergleich und unsterblich. Eine Welt, gedacht jenseits von den Gebrechen und Krankheiten der zeitgenössischen Gegenwart, aber auch geglättet von ihren eigenen sozialen, politischen, kriegerischen Konflikten, von der hässlichen Seite der Schönheit. Beim Gedanken an eine Kultur der Freiheit, in der für die Individuen Subjektivität und Substantialität zusammenfallen, sollte fortan die Welt des antiken Athen einfallen, so wie Winckelmann sie imaginierte, aufgefaltet an der Schönheit eines Gottes, genauer einer seiner ästhetischen Gestalten: im Apollon im Belvedere sah er alle Idealitäten der Alten ausgedrückt. Alles griechisch Ideale lag im Bild und Begriff dieses Gottes. Indem er Apollon über alle Maßen ästhetisch apostrophierte, machte er ihn, dessen Kopien in Barockgärten von Versailles bis Sankt Petersburg standen, den feudalen Besitzern streitig. Was er dem Original abgewann, vertrug sich nicht mit dynastischen Identifikationsstrategien, die die sonnengleiche Strahlkraft des Zeus-Sohnes der Selbstdarstellungspraxis feudalabsolutistischer Macht und barockem Überdruss, Kunstgebaren und Prunkverlangen zugeschlagen hat. Unter der Ägide feudaler Herrschaft und höfischen Wohllebens habe der Gott seine jugendliche Anmut und schöne Körperlichkeit verloren, seine Natürlichkeit sei künstlichen Posen, seine körperliche Anmut einer verweichlichten Fleischlichkeit gewichen, die Züge des im Überreichtum schwelgenden sinnlichen Genusses seien unübersehbar und spiegelten den Verfall sittlicher wie künstlerischer Werte. 4 Höfische Subjektivität habe die Züge Apollons entstellt. Seine Wiederkenntlichmachung in neuer Projektion für eine historisch neue kulturelle Zielgruppe lag daher naturgemäß in ausdrücklicher Absicht Winckelmanns. Immer wieder hat er vor dem Apollon im Belvedere gesessen, ihn mit allen Sinnen und dem Wissen eines an europäischer Aufklärung gebildeten Gelehrten und als deutscher Grieche' (Herder) studiert, damit die Statue das Geheimnis ihrer Schönheit preisgebe. Er hat ihr dabei (s)eine ganze klassizistische Ästhetik abgerungen und den Le4

Winckelmanns treffend-einseitige Polemik gegen Gian Lorenzo Bernini, François Girardon und Roger de Piles ist ein herausragendes Beispiel seiner ablehnenden Haltung gegen die Sicht des Barock auf die Antike. Siehe Winckelmann (1755, KS 36f., 38, 43) sowie Winckelmann (1759b, KS 161f.).

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bensraum des delisch-delphischen Gottes in atemberaubenden Bildern nachempfindend erfunden. Dass er die Statue in der klassischen Zeit entstanden sah, gehört zu den großen kunsthistorischen Irrtümern, geht aber den idealen Vorwurf als kulturelles Leitbild für das bürgerlich werdende 18. Jahrhundert wenig oder nichts an.5 In einer nur diesem Jahrhundert zugehörenden Emphase ließ er sich durch ein einziges Kunstwerk auf eine Weise affizieren, die aus der Faszination für sie eine Apotheose des Griechentums und des Menschen überhaupt werden ließ. Durch die der Mensch, wie es Goethe in seiner Winckelmann-Studie von 1805 formuliert hat, sich über sich selbst erhebt und sich als Gott fühlen kann: „Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben. Man erblickte die höchste Würde und ward für die höchste Schönheit begeistert [...] Für diese Schönheit war Winckelmann, seiner Natur nach fähig, [...] sie kam ihm aus den Werken der bildenden Kunst persönlich entgegen" (Goethe 1805,401). Wie hat er Apollon gesehen? Er sah sich einen Gott, „über die maßen schön" (Winckelmann 1759a, KS 269), den jugendlichen Apollon mit den Zeichen junger Männlichkeit, den nackten Körper im Moment vollendeter Anstrengung, durch Anlage und Übung, im Sinne antiker paideia wohlgeformt. Im harmonischen Wechsel von An- und Entspannung der Muskelpartien, der Kopf-, Körper- und Beinhaltung für den Betrachter ein betörendes Zusammenspiel von Zartheit und Stärke, fand er Göttlichkeit mit Schönheit zu unnachahmlicher Einheit verbunden. Der Gott in dieser Gestalt ist für Winckelmann das A & Ω seiner Antikesicht. 6 Auf des Gottes Erhabenheit, den Stolz und die Macht, die er ausstrahlte, hat Winckelmann sein ganzes Interesse konzentriert. Sie gaben die Argumente für die Großartigkeit seiner Menschen- und Kultursicht am antiken Ideal. Dieser Apollon konnte für ihn nur der Realität klassisch-antiker Poliskultur und dem Geist der sie begleitenden Künste entsprungen sein. In ihn sah er die Voraussetzungen und Konturen antiker Schönheit hinein, um sie dann wieder als Beweis für sein AntikeBild aus ihr zu entwickeln. Im Antlitz und in der Körperhaltung Apollons fand er dessen Wesensmerkmal, das in der belvederischen Gestalt bildkünstlerisches Paradigma geworden ist, eine Siegergestalt zu sein: „Er hat den Python, wider welchen er zuerst seinen Bogen gebraucht, verfolget, und sein mächtiger Schritt hat ihn erreichet und erleget. Von der Höhe seiner Genügsamkeit geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung sitzt auf seinen Lippen" (Winckelmann 1764, 267). Wer wie Apollon auftritt, ist sich seiner Stellung und Macht bewusst. Bereits in der Antike, bei Kallimachos war er mit „wuchtigen Schritten" (Hymnos auf Apollon, Vers 3) und erhobenen Hauptes dahergekommen, schon bei Homer war er in der Ilias der siegreiche Gott, der seine Macht verteidigend, sie seine Gegner hart spüren ließ: Stolz und Selbst-

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Die Marmorstatue ist eine römische Kopie nach griechischem Original aus dem 3. Viertel des 4. Jahrhunderts vor Christus aus der Zeit des Kaisers Hadrian.

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Fast zeitgleich hat William Hogarth seine Schönheitsauffassung, die er in der von ihm gefundenen Schönheitslinie sinnfällig sah, in der Grazie des Gottes erfüllt gesehen, von der auch Winckelmann beeindruckt war. Romreisende hatten ihm berichtet, der Apollon setze in Erstaunen durch die Großartigkeit der Proportionen und das Spiel der Körperpartien, durch die der Gesamteindruck als Schönheit entstehe (Hogarth 1754, 130f.).

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bewusstheit im Blick und diesen ins Große gerichtet. Dem korrespondierte das „stolze [...] Gebäude seiner Glieder" (Winckelmann 1764, 267), das Gelassenheit, Selbstsicherheit, Überlegenheit aus eigener Kraft und Siegesgewissheit gegenüber allem Geschehen ausdrückt. Winckelmann konnte hierbei an das antike literarische Bild anknüpfen und ihm vertrauen. Ihm zu neuer, antifeudaler und antibarocker, zur bürgerlichen Geburt zu verhelfen, dazu sah er ihm den Machtwillen und die Macht ab, mit denen ihn die Mythologie ausgestattet hat. Wie in der Hymne auf den Delischen Apollon: „Denken und nimmer vergessen will ich des Schützen Apollon / den selbst Götter furchten, wenn er dem Hause Kronions / naht; und sie erheben sich gleich, sobald er herankommt / alle vom Sitz" (Götterhymnen, 49). Von Kallimachos wusste er, dass sich Türen und Tore von selbst öffneten, wenn der Gott sie durchschreiten wollte (Hymnos auf Apollon, Verse 6-7). Und er kannte seinen elitären Zug: „Jedem erscheint nicht Apollon, er zeigt sich nur den Edlen und Frommen. / Wer ihn erblickt, ist selig, wer nicht, ein Mensch nur des Durchschnitts. / Schütze, wir möchten dich sehen und niemals zum Durchschnitt gehören" (Verse 9-11). Für Winckelmann ein Wink mit Folgen. In den Gott ist gezeichnet und gesehen, wie der nach Freiheit, Größe und Selbstachtung strebende Bürger des 18. Jahrhunderts sich sehen wollte und sollte. In und mit Apollon stellte ihm Winckelmann sein Selbstporträt und das der ganzen bürgerlichen Schicht vor Augen. Von ihm sollte eine Sinnstiftung ausgehen, die sich genuin bürgerlich buchstabierte. Idealisch, utopisch, mit den beeindruckenden Zügen antiker Göttergröße, die sich auf das moderne bürgerliche Individuum übertragen sollte. Was im Aufklärungsdiskurs an Konturen des bürgerlichen Subjekts denkbar geworden war, Winckelmanns Apollon hat ihm das intime Gesicht des antiken Gottes zur Identifikation frei gegeben und mit großem Pathos den notwendigen Hauch einer eigenen historischen Bedeutsamkeit inszeniert, die Bühne der Geschichte zu betreten, nicht mehr als Statist oder durch die Hintertür, sondern als Hauptakteur vor die Rampe tretend. Mit dem Stolz auf die eigene Herkunft und das eigene Tun. Ein so bürgerlicher Apollon konnte lebensvoll und Zukunft begründend den armseligen, unter feudaler Okkupation stehenden Brüder-Kopien entgegentreten. Wie die Bürger, nachdem sich der feudale Anspruch auf die „Göttlichkeit des höfischen Menschen" in eine Illusion verwandelt hat und „von der stolzen Höhe des hochbarocken Ethos" gefallen sei, ganz in dem Sinne, in dem Richard Alewyn diesen Prozess ins Bild gefasst hat: Je weiter die Stunde der Epoche vorrücke, nahe der Moment, in dem „die Türen auffliegen" und „der Bürger [...] hereintritt", um die schrille Agonie der Feste zu beenden (Alewyn 1985, 17). Apollon avanciert zu einer Epochenfigur, in antikisierender Ästhetisierung, dem bürgerlichen Klassizismus des 18. Jahrhunderts eigen. Des Interpreten unverborgene Sympathie für den schönen jugendlich-männlichen Körper hat den Gott in den philosophisch-ästhetischen Diskurs um Körperlichkeit und Sinnlichkeit, Sublimierungskalkül und Vernunftbesonnenheit und damit in den Kontext der Parameter zeitgenössischen Aufklärungsdenkens gestellt. Winckelmann ließ zwar keinen Zweifel an der Schönheit des nackten Körpers, aber die Nacktheit sollte eine über jede Form von sinnlichem Begehren erhabene sein. Die Distanz erzeugende, reflektierende Betrachtung durch die poetische Literalisierung des Bildes arbeitete einer Vergeistigung zu, die in ihrem Kern aufklärerisch war. An der Komposition Apollons fiel ihm auf, dass nichts „wieder die Vernunft", dass es ein großer Verstand gewesen sei,

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der sie über die Materie erhoben habe, dass ein „himmlischer Geist" Apollon umspiele und „ein Ausfluß eines himmli(s)chen Lichts" ihn umfließe (KS 271; 273ff.)· Winckelmann sah den Gott „ungerührt von Leidenschaften" und da, wo sie und Wollust doch durchschienen, waren sie sanft und heiter, so dass alle Körperlichkeit aus einer „höchsten Idee entworfen" und „verklärt und rein" sei: „Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Alterthums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind"; sie zu begreifen, musste man mit dem „Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten" gehen, und was er von dem „Bild" geben konnte, war sein „Beg r i f f (KS 276f.). Dieser Begriff Apollon verband sich mit dem der Schönheit, der „wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist [ist], welcher sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der im Verstand der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Creatur" (Winckelmann 1764, 250). Die ästhetische Anschaulichkeit des Vernünftigen fand im Bild Apollons ihr kongenial künstlerisches Medium. Aufklärerische Schönheit (Reschke 2003) hat in klassizistischer Interpretation des Gottes ihre Gestalt gefunden und er in ihr seinen Begriff. Winckelmanns Apollon war eine narrative Projektion. Mit ihr hat ein bis dato beispielloser Transfer von Bild- in Wortkunst stattgefunden, ganz nach den Vorstellungen der Aufklärung, auf eine unbedingte Versprachlichung allen Denkens hinzuarbeiten. Man begegnete Apollon in seinen Landschaften und in seinem Wirken so, wie es nur literarischer Phantasie möglich ist: „Unvermerkt fand ich mich im Geist nach Delos u. in die Lycischen Haine, Orte die Apollo mit seiner Gegenwart beehrete, geführet u. ich glaubte den schönsten der Götter [...] mit Bogen und Pfeilen zu sehen" (KS 276, Zweiter Entwurf. I. Beschreibung des Apollo im Belvedere). Die Gegenwärtigkeit der Landschaft suggeriert die Gegenwärtigkeit der antiken Vergangenheit: „So wie in dem glückseeligen Elysien wo niehmals ein Nördlicher Wind das Haupt der Blumen gebäuget noch die schwüle Mittags Hitze die Lust der Thäler verdorret, ein immerwährendes Spiel von sanften Zephirs die jugendliche Natur belebet und erfrischet" (KS 274, Pariser Manuskript): In diesen Beschreibungen spielt sich ab, was an der Göttergestalt vollzogen wird. So hat das bürgerliche 18. Jahrhundert Griechenland mit der Seele gesucht, und Winckelmann hat ihm die verzauberten Landschaften und Orte, die es so nie gegeben hat, vorgeführt. Er hat mit seinen Erzählungen, die durch die reale Skulptur des Apollon im Belvedere ihre Authentizität erhielten, einer Utopie Leben gegeben, die aus dem Geist des Mangels an Freiheit und Schönheit unter den Bedingungen feudalabsolutistischer Herrschaft geboren worden war. 7 In ideale Landschaften versetzt, musste auch der Gott ideal werden: „Über die Menschlichkeit erhaben ist sein Gewächs und sein Stand zeuget von der ihn erfüllenden Größe. Ein ewiger Frühling der Jugend bekleidet die vollkommene Männlichkeit dieses Körpers und der Reiz von blühender Schönheit gefalliger Jahre spielet auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder" (KS 267). Die antik-göttliche Schönheit konnte zwar an der Statue gesehen werden, aber erst ihre sprachliche

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Der Natur- und Klima-Diskurs der französischen Aufklärung, der auch in das deutsche Denken gedrungen war und an dem Winckelmann partizipierte, tat sein Übriges.

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Modellierung 8 veranschaulicht sie wirklich. Apollon, in der Helligkeit antiker Landschaft imaginiert, ist von Winckelmann mit der Lichthaut seiner eigenen Idealität überzogen und diese triumphiert in idealen Landschaften. Der Gott erfuhr dadurch eine Erhöhung, die die seiner mythologischen Überlieferung weit überstieg. Das Luminose seiner Gestalt gewann ein subtiles Pathos, das sich erst dem literarisch gewordenen Auge verdankte. Seine Transzendenz in eine ästhetische Vollendung, die durch die Körperlichkeit der göttlichen Statue hindurch erzählt wird, macht seine Schönheit scheinbar zeitlos. Sehnsucht verantwortete die Aufhebung des Historischen und die Tilgung jeder Realität. Das Mimetische des Apollon erlag seiner sprachmächtigen Erfindung. Friedrich Nietzsche hätte vom Sieg apollinischer Geistesstärke gesprochen.

III Das war alles großartig übertrieben. Kein Wort und kaum ein Bewusstsein davon, dass dieses Bild Apollons und der Kultur, die die Skulptur hervorgebracht hatte, in hohem Maße eine Projektion war, ein ideologisches Gebilde in einem wohl kalkulierten Programm kultureller Identität und Selbstdarstellung, dass es der Sicherung kultureller Vormachtstellung gedient hat und die Schönheit griechischer Körper ein Politikum erster Ordnung und die Apollon-Ikonographie wesentlicher Teil dieses Zusammenhanges war. Für Winckelmann blieb dies außerhalb seines Blickwinkels und unterhalb seiner Augenhöhe mit dem Gott. Er wollte dessen Anmut menschlich, ästhetisch, frei von die Schönheit demütigenden Gesichtspunkten sehen und bediente sich dabei europäischer Aufklärungsideen als Geburtshelfer für eine Kulturkritik, für die die Antike ein Stachel im Fleische zeitgenössischer Selbstsicherheiten war. Winckelmann und Jean Jacques Rousseau wären hier ein Thema (Müller 1997). In ihrer Inanspruchnahme als gewaltloser, von Widersprüchen historisch befriedeter und ästhetisch bereinigter Antike lag das Problem klassizistischer Subjekt- und Weltsicht. Das Stichwort von Anmut und Grazie, im zeitgenössischen Diskurs von Winckelmann bis Friedrich Schiller und Hegel ein Grundthema der Ästhetik, besaß sein kunsthistorisches Pendant in der Diskussion um die Herausbildung und Bedeutung des Wechselspieles von Stand- und Spielbein an antiken Skulpturen. Winckelmann hat sich am Apollon dafür ausgesprochen, in diesem Spiel der Glieder den Ausdruck sich vollendender Schönheit zu erblicken und dem Moment der darin liegenden Bewegtheit und Bewegung die Ausgeglichenheit von Stärke und Schönheit und davon abgeleitet, die von Körper und Seele gestaltet zu sehen. Das Moment der Balance spielte die entscheidende Rolle. 1759 hat er festgestellt, dass die Grazie sich an Werken der Antike wie selbstverständlich verschwendet habe, an denen der Gegenwart seit der Renaissance sich aber rar gemacht und dem Schweren und Manirierten gewichen sei (Winckelmann 1759b, KS 157). Für die Statuen der Alten reklamierte er deren Gelungenheit: „Stand und Gebährden an den alten Figuren sind wie an einem Menschen, welcher Achtung er8

„Die Beschreibung des Apollo wird mir fast die Mühe machen, die ein Heldengedicht erfordert", zit. nach: Baumecker (1933, 10f.).

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wecket und fordern kann, und der vor den Augen weiser Männer auftritt: ihre Bewegung hat den notwendigen Grund ihres Wirkens in sich, wie durch ein flüssiges feines Geblüt und mit einem sittsamen Geiste zu geschehen pfleget" (KS 158); ihm kam es auf den Zusammenhang von Größe und Schönheit, Grazie und Würde an. Wobei das Hauptgewicht auf der Grazie selbst lag, dem ästhetischen Blick verpflichtet. Sie war für Winckelmann das, was des „Menschen Thun und Handeln [...] angenehm" mache und in jedem schönen Körper kraftvoll herrsche. Sie sei das „vernünftig gefällige" (KS 157), das sich auf alles menschliche Tun beziehe und garantiere ruhe- und würdevolle Gelassenheit, die antiken Kunstwerken eigen sei. Der ruhevollen Würde und Grazie eine bildkünstlerische Form zu geben, darin entschied er für sich die Bedeutung des Wechselspiels der Beinstellungen: „Im ruhigen Stande, wo ein Bein das tragende ist, und das andere das spielende, tritt dieses nur so weit zurück, als nöthig war, die Figur aus der senkrechten Linie zu setzen" (KS 158), um nicht der Schwere des Körperlichen zu erliegen, sondern sie im gefälligen Zusammenspiel der Teile beruhigend aufzufangen. Übereinander geschlagene Beine waren der Weichlichkeit zugerechnet und kamen bestenfalls dem Dionysos, Satyrn oder Mänaden zu. Grazie war umfassender als auf bloße Körperlichkeit bezogen. Sie manifestierte fur Winckelmann ein ganzes Menschenbild. Sie versinnbildlicht jene Lebenshaltung, die er im Leid ertragenden und besiegenden Laokoon hervorgesehen hat. Die „Würdigkeit der Menschen in Fassung der Seele vorzustellen" (KS 159) ging über jede Vorstellung und die Kunstwerke gaben den Beweis aufs Exempel: „In den Gebährden der alten Figuren bricht die Freude nicht in Lachen aus, sondern sie zeigen nur die Heiterkeit vom inneren Vergnügen: auf dem Gesichte einer Bacchante blicket gleichsam nur die Morgenröthe von der Wollust auf. In Betrübniß und Unmuth sind sie ein Bild des Meers, dessen Tiefe stille ist, wenn die Fläche anfangt unruhig zu werden; auch in empfindlichsten Schmerzen erscheinet Niobe noch als Heldin [...] Denn die Seele kann in einen Zustand gesetzet werden, wo sie von der Größe des Leidens, welches sie nicht fassen kann, übertäubet, der Unempfindlichkeit nahe kömmt" (KS 159). Die Alten haben sie daher außerhalb der unmittelbaren Handlung gesetzt, um nicht dem Konflikthaften zu erliegen und die Grazie der Realität zu opfern. So Winckelmann. Grazie und Würde standen in wechselseitiger Begründung und fanden ihre Wirklichkeit im schönen Schein der Kunst, ohne die Verpflichtung des Subjektes, anmutig zu sein, um als moralisches Wesen bestehen zu können. Offene Opposition, Skepsis und Ablehnung werden erst Kinder späterer Tage. 9 Den Menschen der antiken Polis und diese selbst in Kategorien von Anmut, Grazie und Würde imaginiert zu haben, gehört zum Kern des Winckelmannschen Klassizismus und trägt einen Gutteil zu seiner Wirkmächtigkeit bei. Darin liegt aber das Problem. Auf mindestens zweifache Weise. Zum einen wird der politische Impetus dessen, was die so dargestellten Figuren bedeuten, kassiert und zum anderen ist der Bürger des 18. Jahrhunderts, dem sie als Ideal vorgestellt werden, immer schon als Schöngeist vorausgesetzt, 9

Schiller hat sich in den neunziger Jahren, in Erfahrung der Französischen Revolution, am Auseinanderbrechen von Anmut und Würde abgearbeitet (siehe Goebel 2006, insbes. Kap. l·. „Grazie. Körpervernunft bei Johann Joachim Winckelmann" und Kap. 2: „Gesinnung: Anmut und Würde in Zeiten des Krieges: Friedrich Schiller").

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der durch die präsentierte ästhetische Imagination der Antike als dieser sich konstituiert und bestätigt wird. So wie über Apollon immer schon der flüssige Gips des Schönen geflossen ist (KS 217, Abhandlung von der Fähigkeit des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben), so ist der Bürger als Schöngeist, im besten Fall der Citoyen, der seine kulturelle Identität in der Teilhabe an der Realität als Weltbürger oder wenigstens in weltbürgerlicher Absicht (wie Kant es formuliert hat) findet. Dem ästhetisch gedämpften und besänftigenden Blick ist von vornherein entgangen, was in der, unter antikem Vorzeichen, politisch aufgeladenen Anmut konnotiert ist: ihr immens hohes Potential an politischer Machtsymbolik und Herrschaftsidentität. Die Schönheit Apollons war eine sozial und politisch sich buchstabierende. Anmut und Politik gehörten zusammen, waren zwei Seiten einer Medaille (Meier 1985). Sie verband das Ethos einer Schönheit, in die der Gesamtentwurf selbstbewusster und in blutigen Kämpfen begründeter kulturellen Herrschaft eingezeichnet war und gefeiert wurde. Nicht ohne Bedacht waren charis (Anmut, Liebreiz) und tolma (Wagemut) pointiert in Korrespondenz gesetzt. Dies entsprang dem notwendigen Bedürfnis nach Selbstbestätigung einer Kultur, die sich in Jahrhunderten kriegerischer Siedlungsbewegungen durchgesetzt hat und einer daraus resultierenden Herrschaftsmentalität. Gefeiert wurden die Siegreichen, die Heldenhaften. So wie es mehr als ein Jahrhundert später Nietzsche vor Augen gestellt hat: dass bluttriefende Sieger die Besiegten im Triumphzuge an die Wagen gebunden, mitschleiften, sich selbst zur bestätigenden Genugtuung, den Verlierern als Sklaven zur demütigenden Unterwerfung (Nietzsche 1872, K S A I 768 f.). Die schönen Jünglinge als Helden waren nichts als siegreiche Kämpfer, ihre schönen Körper eine der Garantien für den für ihre Polis erfolgreichen Eroberungs-, Kolonisierungs- oder Beutezug. Und noch die erbitterten Kämpfe um die Regierungsform und die Machtpositionen innerhalb einer Polis brauchten die schönen Kämpfer für die entscheidenden Auseinandersetzungen, die Tyrannen oder die Tyrannenmörder. Ihr Geschäft war blutig, grausam, mörderisch, aber ihnen wurden von denen, für die sie sich einsetzten oder opferten, Bildwerke in den öffentlichen Raum, bevorzugt auf der Agora, gesetzt, in denen ihre Taten durch die Gestaltung schöner Körper ausgezeichnet und in Erinnerung gehalten wurden. Winckelmann hat auf deren ausdrückliche Würdigung nicht ohne Grund verzichtet oder sie minimal gehalten. Ehrenstatuen für die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton fanden zum Beispiel keinerlei für sein Denken konstitutive Beachtung. Und den Siegern in den sportlichen Wettkämpfen galt sein Interesse vorrangig unter der Perspektive ihrer schönen Gestaltung und der Bewunderung durch die Mitbürger: „Eine Statue des Siegers [...], an dem heiligsten Orte in Griechenland gesetzet, und von dem ganzen Volke gesehen und verehret, war ein mächtiger Antrieb, nicht weniger dieselbe zu machen, als zu erlangen [...] Die höchste Ehre im Volke war, ein olympischer Sieger zu seyn, und es wurde dieselbe für eine Seligkeit gehalten: denn die ganze Stadt des Siegers hielte sich Heil widerfahren" (Winckelmann 1764, 221). Ein solches Bild, wiewohl es stimmig zu sein scheint, rückt in die Optik auf das griechische, für die Gegenwart vorbildhafte und nachahmungswürdige Leben, das als kulturelles Elysium vorzustellen war, unter heiterem Himmel, vorzüglichem Klima, daher als Heimat des Schönen, dem sich anzuverwandeln, als ganzer Daseinszweck der antiken Griechen anzusehen war. Alles ein solches Bild Störende wird außen vor gelassen oder unter der Wucht der

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idealischen Gesamtsicht unkenntlich. Vergeblich sucht man bei Winckelmann auf die hinweisenden Kenntnisse einer diese Realität anerkennenden theoretischen oder historischen Gedankengeste. Dass alle Bildung zum Schönen für den Griechen eine Bildung vor allem politischer Identität war und dass sophrosyne (Besonnenheit) und kalokagathia (Vortrefflichkeit) politische Tugenden waren, die in einem ausdrücklichen Konzept anmutiger Schönheit zusammentrafen, ließ sich den Figuren absehen, mit einer Deutlichkeit, die den nachfolgenden Epochen zwar nicht mehr selbstverständlich war, aber deren ästhetische Codierungen kenntlich geblieben waren. Winckelmanns und des deutschen Klassizismus diesbezügliche Augenlosigkeit können danach nur als gewolltes Nichtsehen gewertet werden. Man wollte dem Bürger nicht zumuten, im Ideal schon sehen zu müssen, worin auch seine zukünftige Wirklichkeit bestehen würde. So verschrieb man sich der Illusion, gewaltlos in die Weltgeschichte nicht nur einzutreten, sondern es für alle Zukunft bleiben zu können. Dabei kannte Winckelmann die Züge der Gewalt am antiken Vorbild. Als Kenner antiker Literatur, vorab Homers, als derjenige, der sich vorzüglich mit den Werken der Bildhauerei und Malerei beschäftigt hat, der die Motive auf Münzen und geschnittenen Steinen studiert hat, wusste er um die Bedeutung der Gewalt fur die Kultur der Griechen. Und dass die Kämpfe in Olympia nur der friedliche Ausdruck einer auf Auseinandersetzung, Gewalt und Grausamkeit beruhenden Kultur war, die um diesen Untergrund wusste und sich selbst keinen Hehl daraus gemacht hat. In mythologischer Überlieferung, in Epen und Hymnen, den großen Tragödien, im Skulpturenprogramm der Bildhauer, auf Tempelfriesen und Vasen, Krateren und Trinkschalen, auf Gebrauchsgütern für den Alltag und sogar im Kinderspielzeug haben sie davon Zeugnis gegeben. In öffentlichen und privaten Räumen, in staatlichen Zeremonien, Stadtfesten und Prozessionen zu Ehren der Götter war dieses Selbstbewusstsein gegenwärtig als, gegenüber nicht-griechischen Kulturen, stolzes hellenisches Eliteprestige, als Leitbild fur sich und als unverhohlene Einschüchterung oder Warnung an mögliche Kriegsgelüste anderer. Wer wollte sich anschicken eine Polis zu besiegen, die Bilder mit derartiger politischästhetischer Energie von sich hatte. Sich ganz der Kriegs- und Gewaltdarstellungen zu entziehen, ging auch für Winckelmann nicht. Zu machtvoll haben sie das beruhigte Bild seiner Antike bedrängt. Die Kämpfe um Troja, die Perserkriege, den Peloponnesischen Krieg mit ihren Kampfszenen kommentierte er auf seine Weise. Obwohl sprachlich die Brutalität der Auseinandersetzung zügelnd (wie bei der Skizze zum Krieg zwischen Achäern und Aetoliern), bricht sich für einen Moment in der Darstellung die Gewalt Bahn: der Krieg habe eine Form angenommen, in welcher „die Feindseligkeit beyder Theile gegen einander so weit gieng, dass man damals anfieng, so gar wider die Werke der Kunst zu wüten; und die Aetolier waren die ersten, die diesen Unfug verübeten." Da die Einwohner von Dios geflüchtet waren, „rissen jene die Mauern derselben um, und die Häuser nieder; die Halle und die bedeckten Gänge um die Tempel wurden in Brand gestecket, und alle Statuen zerschlagen" (Winckelmann 1764, 705ff). Dies sei vielerorts geschehen; spätere Vergeltungsaktionen waren provoziert, in der von der anderen Seite der Zerstörung freier Lauf gelassen worden sei. Brandschatzungen, Grabschändungen, Tempelzerstörungen: Winckelmann konstatiert sie als Gewalt gegen Kulturgüter, und es hat den Anschein,

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seine Empörung richte sich gegen den Kunstfrevel mehr als gegen die Gewaltorgien überhaupt. Männlichkeit und Gewalt gehören in solchen Bildern zusammen. Szenen des alltäglichen Krieges oder Schlachtgetümmel, Szenen, in denen gegen Menschen vorgegangen wird und sie ermordet, verbrannt, misshandelt, vergewaltigt, verschleppt wurden, da wird man den Eindruck nicht los, dass fast mit Widerwillen Kenntnis davon genommen wird. Gelegentlich einiger etrurischer Grabfunde heißt es: „Die mehresten der Friesen bilden Gefechte oder Gewaltthätigkeiten wider das Leben einiger Personen ab [... man] siehet theils ordentliche Gefechte zwischen Kriegern, von denen sechs unbekleidete Figuren sich nahe an einander schließen; die ihre runden Schilder einen über den anderen legen und also fechten; andere Krieger haben viereckte Schilder, und die mehresten sind nackend. In diesem Gefechte werden von einigen kurze Degen, die Dolchen gleichen, von obenher in die Brust gesunkener Figuren gestoßen. Zu einem solchen Blutvergießen läuft ein betagter König herzu, mit einer zackigten Krone um sein Haupt, welche vielleicht die älteste zackigte königliche Krone ist, die auf alten Werken vorgestellet worden" (Winckelmann 1764, 165). Man muss sich schon blind machen, um nicht die ungeheure Gewalt und Brutalität als solche zu benennen, die offensichtlich ist, um der zackigen Krone und den Variationen der Schilde mehr Gewicht beizumessen als dem Gemetzel. Dass die schwer bewaffneten Krieger mit großer Wucht und verzerrten Gesichtzügen der Gewalt agieren, mit Lust am Töten und Unterwerfen der schon gefallen am Boden liegenden Gegner, dem konnte, der gemeinsamen Schnittmenge von harter Brutalität und subtiler Schönheit eingedenk, Winckelmann nur dadurch eine verschämte Akzeptanz abgewinnen, indem er sich auf die kriegstechnischen und machtrepräsentativen Objekte konzentrierte. Damit sein ideales Weltbild der Antike nicht seine Antike verliere. Wie denn auch anders? Not, Schrecken, verwüstete Landschaften und zerstörte Kultur(en), zerstückelte und massakrierte Leichen hätten dem imponierenden Bild des Schönen und der schönen Heldengestalten, der schönen Freiheit heiteren Griechentums irreparablen Schaden zugefügt; weil es unglaubhaft worden wäre. Die Griechen selbst waren nicht so zimperlich. Sie lebten mit der Gewissheit, dass ihre kulturelle Identität eine im Sinne des Wortes eroberte war, die es immer wieder zu verteidigen galt. Mit Waffengewalt, den eigenen Tod in Kauf nehmend, ohne Mitleid für den Feind im Getümmel der Schwerter und schwingenden Arme, fliegender todbringender Speere, kunstvoll verzierter Helme, wobei die schreienden Münder das einzige waren, was an Menschen erinnerte. Blutgeschwärzt und mit gespalteten Schädeln den Moiren ausgeliefert, die ihrerseits das Bild des Grauens mehrten. Alles im Bewusstsein, als toter Held gefeiert zu werden und in der Erinnerung lebendig zu bleiben. Die Tradition der Leichen- und Gefallenenreden ließ die Helden heldenhaft schön bleiben. Was mehr als zwei Jahrhunderte später Peter Weiss am Pergamon-Altar gesehen und beschrieben hat, gleichsam seine Bedeutung für das 20. Jahrhundert entdeckend (Weiss 1983, 7 f f ) , den Schrecken des Krieges, den gnadenlosen Kampf um (Vor)Macht und Herrschaft, der durch alle Gesellschaften hindurch der gleiche bleibt: Hätte Winckelmann ihn sehen müssen an den Bildwerken, die ihm zur Verfügung standen? Um sie dem politisch machtlosen Bürger, der gerade seine ersten Schritte in die Richtung der eigenen Herrschaftserlangung zu unternehmen begann, vorzuhalten? Der hätte ein solches Bild der Antike nicht nur nicht verstanden, er wäre noch viel mehr verschreckt gewesen, als er es von den

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Ereignissen in Frankreich tatsächlich war, als sich selbst der Ehrenbürger der Französischen Republik Schiller mit Grausen vom jakobinischen Terror abwandte und ihn in schaurigen Bildern der Gewalt in der Glocken-Ballade folgenreich verzeichnet hat. Um in den ästhetischen Reflexionen, dem Schönen den Vorrang zu geben, durch das der Bürger erst und allein ins Land der Freiheit gelange. Und die Götter? Und Apollon? Die antike Mythologie wusste auf ihren treibenden Anteil an den Gemetzeln sinnfällig aufmerksam zu machen. Für Homer und Hesiod zählte ihr meist gewaltvolles oder hinterlistiges, subtil violentes Tun zu ihren herausragenden, sie unverwechselbar machenden Eigenschaften. Ins Spektrum ihrer Verhaltensmuster gehörten die unterstützende Teilnahme an den Kriegen der Sterblichen ebenso wie der Kampf um die besten Positionen im olympischen Machtgerangel oder in anmaßenden Wetten ihre Überlegenheit nicht nur unter Beweis zu stellen, sondern sie durch grausame Bestrafung der Unterliegenden auch zu unterstreichen. Das Gewaltmonopol ist bei den Göttern, ihr Recht darauf unanfechtbar, die Möglichkeit des Verlierens lag nicht in ihrer Perspektive. Wie im Falle des Marsyas, den Apollon ob seiner Herausforderung nicht nur mit unredlichen Mitteln besiegte, sondern durch Häutung seine Macht über ihn besiegelte. Zur Warnung an alle, die Ambitionen hegen, sich mit dem Gott messen zu wollen. Winckelmann umgeht das Thema nicht, aber die Grausamkeiten des Apollon spielen eine gezielt geringe Rolle. Sie fielen nicht ins Gewicht, um den Lieblingsgott zu charakterisieren. Zwar war Ausblendung der Grausamkeit selbst in antiken Darstellungen zu beobachten, aber nicht, weil sie der Strahlkraft des Gottes Abbruch getan hätte, sondern aus künstlerischer Optik des fruchtbaren Augenblicks. Vielmehr gehörte „ EINE FEIERNDE KUNST DER GEWALT" ins Kalkül des Gottesbildes, wie in das der kulturellen Identität der Griechen überhaupt. Indem das Gewaltvoll-Herrscherische der Unsterblichen hervorgehoben wurde, setzte man der eigenen Gewalt ein mythologisches, unhinterfragbares Denkmal. Weil die eigene Siegermentalität als Kulturausdruck nur so jedem Politen sichtbar und vertraut zu machen war: „Das Interesse gilt [...] dem Sieger, dessen Leistungen gefeiert und gerühmt werden - ist doch die antike Bildkunst die Kunst der Sieger. Die Unterliegenden und Gedemütigten haben in den Kulturen der Antike hingegen keine Bilder als Instrument ihrer Anklage. Und entsprechend ist auch ihr Leiden und die Grausamkeit der Sieger gegen sie kein zentrales Thema der antiken Bildwelt, auch wenn die Bilder solches darstellen. Und sie zeigen es, oftmals sogar unverhohlen" (Muth 2008, 131). Apollons Macht ist der Spiegel, in dem alle Grausamkeit zum Sieg und zur Absolutheit dieser Macht die notwendig andere Seite ist. Noch, wo er nur mit der Kithara gezeigt wird, sind Macht und Grausamkeit unterschwellig präsent und gehören zu den Fundamenten seiner Schönheit, in der sich diese Macht selbst ästhetisiert. Der jugendliche Gott, der Prototyp eines Siegers und Machtbeanspruchenden mit den Zügen des schönen Musenfuhrers war es, der Winckelmann veranlasst hat, seinem Bild nachzugeben und ihn dem Bürger des 18. Jahrhunderts als seinen Psychopompos in die neue Bürgerwelt vorzustellen. In der Doppelseitigkeit heilender, besänftigender und musischer Fähigkeiten und unheilbringender, strafender, wolfsköpfiger, in der Rolle des Gewalt ausübenden und sie zugleich bändigenden Gottes, als kraftvoller Kämpfer und Jäger, als der die Gegner gnadenlos Erschlagene und der in süßen Tönen musizierende Jüngling (Schollmeyer 2008, 163), als in jedem Falle ordnender Gott mit dem Prestige des Ge-

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setzgeberischen und delphischer Autorität als der in das unmittelbar politische Leben der Polis-Gesellschaft(en) Eingreifende. Da war es leicht, aus der Gestaltenvielfalt Apollons sich auf die zu kaprizieren, die seine Schönheit unbefleckt erscheinen ließen und dem Ideal Winckelmanns entgegenkamen: „Ich sage, was seyn sollte, nicht was zu seyn pfleget, und mein Begriff ist wie die Probe von der Richtigkeit der Rechnung" (KS 217, Abhandlung von der Fähigkeit des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben).

IV Das Stichwort von der unbefleckten Schönheit fuhrt zu Hegel, der in der Phänomenologie des Geistes seinen ganzen philosophischen Hohn über die lebensunfähigen Schönheitsgeister, die aus Furcht vor der Befleckung mit der Realität sich scheuten, ihr Subjektsein durch handelndes Tätigsein mit Substanz zu füllen, ausgeschüttet hat. Denen Freiheit unbegreiflich und unerreichbar blieb, weil sie in Verweigerungsstrategien und Realitätsvermeidungen sich selbst zur Agonie verurteilten und den Pakt mit dem Wirklichen nicht in seiner dramatischen Notwendigkeit anerkennen wollten oder konnten. Der Verzicht auf eine souveräne Teilnahme und Teilhabe am geschichtlich sich zeigenden Prozess der Verwirklichung eines vernünftigen Selbstbewusstseins innerhalb des Zu-sich-selbst-kommens des absoluten Geistes, der sich als Geist wissende Geist, zeitigte für Hegel jene Entwicklung, in der sich nicht die „Wahrheit der sittlichen Welt darstellt" und das „Selbst der Person" ihr Dasein in ihrem „Anerkanntsein" hat, sondern als substanzleer jeder Wesentlichkeit entbehrt, weil es sich nicht in „unmittelbar konkreter] moralischer] Gestalt", in der Dialektik von Pflicht und Gewissen handelnd vor Augen stellt (Hegel 1806, 445ff). Mit der unbedingten Verpflichtung des Subjekts auf Handlung als dem Terrain seines Wirklichwerdens erst gewinnt die Handlung selbst ihre Bedeutung, gehen Sache und Handlung, Subjekt, Freiheit und Bewusstsein jene hegelische Liaison ein, die sie zum Movens jeder Epochen- und der ganzen Weltgeschichte macht. In der Isolation des Einzelnen liege die Gefahr des an der Wirklichkeit Vorbeilebens, mehr noch: Nicht nur, was der Einzelne für sich tue, komme dem Allgemeinen zugute, sondern „seine Wirklichkeit selbst ist nur dies, im Zusammenhange mit andern zu sein und zu leben [...] In der Erfüllung der Pflicht gegen den Einzelnen, also gegen sich, wird [...] das Allgemeine erfüllt" (Hegel 1806, 455). In der schönen Seele bricht dies auseinander, separieren sich die Momente in verinnerlichender Schutzsuche vor dem Ansturm des Wirklichen, verweigert das dadurch unglücklich werdende Bewusstsein die Anstrengung der Entäußerung ins Dasein. In der Kraftlosigkeit dieser Anstrengung verliert sich alles Lebensvolle in der Angst, an der Berührung mit dem Leben sich zu verunreinigen und „beharrt in der eigensinnigen Kraftlosigkeit, seinem zur letzten Abstraktion zugespitzten Selbst zu entsagen und sich Substantialität zu geben oder sein Denken in Sein zu verwandeln und sich dem absoluten Unterschiede anzuvertrauen. Der hohle Gegenstand, den es sich erzeugt, erfüllt es daher nun mit dem Bewußtsein der Leerheit; sein Tun ist das Sehnen, das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verliert, und über den Verlust hinaus und zurück zu sich fallend, sich nur als verlornes findet; - in dieser durchsichtigen Reinheit seiner

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Momente eine unglückliche sogenannte schöne Seele, verglimmt sie in sich, und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst" (Hegel 1806, 463). Dass dies die Philosophie gewordene Befindlichkeitsdramatik der Romantiker-Generation ist, liegt auf der Hand und war von Hegel auch so gemeint. 10 Die andere Möglichkeit des Irrweges des Bewusstseins auf dem Wege zu seinem An-und-für-sich-Sein fand Hegel paradigmatisch in der absoluten Freiheit, deren In-die-Welt-Treten er nicht anders denn als Schrecken, das heißt, als Gewalt vorzustellen in der Lage war. Die Bilder dessen vor Augen, was aus dem Paris der Jakobinerherrschaft berichtet wurde, finden diese ihre Übersetzung in die verwinkelte Welt des absoluten Geistes, der in seinem Durchlauf durch die Weltgeschichte auch französischen Boden betreten hatte. Als Gestalt des Bewusstseins in der Wirklichkeit wird der absoluten Freiheit die Verantwortung für eine unerhörte Negativität allen Geschehens überlassen, an der sie selbst zuschanden wird. In der dadurch bewirkten Unordnung maßt sich das Selbstbewusstsein an, sich zur Substanz und zum Gesetz allen Geschehens zu erklären und „erhebt sich auf den Thron der Welt" (Hegel 1806, 415). Ohne sich allerdings der internen Gegensätze zu vergewissern, die allein eine die Substantialität konstituierende Kraft besitzen. Im Undeutlichwerden und in der Maßlosigkeit des Anspruches verschwimmen auch die Grenzen der Zuständigkeiten, das heißt die Strukturen eines geregelten Daseins. Das geforderte Handeln ist nur dadurch zu realisieren, dass sich das Allgemeine „in das Eins der Individualität" zusammennehme und sich ein einzelnes Selbstbewusstsein an die Spitze stelle, was nichts anderes heiße, als dass alle anderen von den Taten und Entscheidungen ausgeschlossen sind. In der Selbstherrlichkeit absoluter Freiheit und dem negativen Tun verschwindet alle wirkliche Freiheit: es bleibt „nur die Furie des Verschwindens" (Hegel 1806, 418) und eine sich selbst zerstörende Wirklichkeit, aus der die Freiheit und der Geist um ihrer selbst willen ausziehen müssen, in „ein anderes Land" (422), um ihre Wahrheit in neuer lebensfähiger Gestalt zu gewinnen. Subjektwerdungen fur und in bürgerliche(n) Verhältnisse(n) sind beide: die schöne, sich nicht beflecken wollende Seele und der sich zum non plus ultra erklärende, in absoluter Selbstregie Handelnde, dessen Machtwille an der Uneingeschränktheit seines Wollens scheitert, weil er die Abhängigkeiten und die Macht der anderen folgenreich unterschätzt oder zu kassieren sucht. Was der bürgerlichen Gesellschaft zuträglich ist, übersteigen beide, entweder dadurch, dass in einem solchem Maße das System der Notwendigkeiten und Bedürfnisse aufgesprengt wird, ohne das andere Ordnungen substanziell sichtbar würden oder dass die Übermacht innerlicher Begrenzung den Fortgang der Freiheit unmöglich macht. Da es für Hegel in der Definition der bürgerlichen Gesellschaft liegt, den Einzelnen sich selbst Zweck sein zu lassen und ihn zugleich durch die Wahrung der eigenen Interessen an die der anderen Mitglieder der Gesellschaft gebunden zu bestimmen und ihn dazu zu verpflichten, in dieser Gegensätzlichkeit seine vernünftige Existenz zu finden (Hegel 1821, 220 (§ 182)), bedarf es der Instrumentarien der Plausibilität und Legitimation ebenso wie die der nachhaltigen tatsächlichen Gelo In seinen Berliner Ästhetik-Vorlesungen kommt er darauf zurück und begründet so seine Kritik an August Wilhelm und Friedrich Schlegel und an den Studienfreund Friedrich Wilhelm Joseph Schelling.

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währleistung dieser Ordnung: zumal sich der Philosoph bewusst war, das die den Individuen zugesprochene Freiheit und Substantialität sich in den vorgegebenen möglichen Strukturen des Besitzes und der Bedürfnisse nur in ihrer entfremdeten formalen Abstraktheit ins Gewicht fallen und tatsächlich sind. Der zutreffende ästhetische Befund, die bürgerliche Gesellschaft sei nichts als die „Prosa der Welt" (Hegel 1842,1 152), ihre Realität eine prosaische Alltäglichkeit, macht diese Erkenntnis zu einer profunden, von der aus an der griechischen Antike als dem verbliebenen Symbolraum klassizistisch unverhüllt festzuhalten war. Der vernünftigen Einsicht in die Partikularität und Zufälligkeit bürgerlicher Verhältnisse entsprach in asymmetrischer Projektion das Bild eines heroisch-idealen und poetischen Weltzustandes, dem hoffnungslos irreversibel seine historische Dimension und Entfernung einzuschreiben war. Die Differenz der Weltzustände schlägt sich in ihren Kunstwerken nieder, die als ihren Gehalt eine jeweils andere Weise der Subjektkonstitution zum Ausdruck bringt. Es war jenes Heroen-Zeitalter, in dem Individualität und Allgemeinheit weder unterschieden waren, noch durch eine hervortretende Partikularität in ihrer ,,unmittelbare[n] Einheit" (Hegel 1842, I 185) beeinträchtigt wurden. Individualität bestimmte sich an ihrer Ganzheitlichkeit und „das Subjekt mit seinem gesamten Wollen, Tun, Vollbringen [blieb] im unmittelbaren Zusammenhang", so uneingeschränkt, das der heroische Charakter „für das Ganze seiner Tat mit seiner ganzen Individualität" (Hegel 1842,1 187) einstehen konnte. Am Ende des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts taugte ein solches Bild nicht mehr als Ideal für die bürgerliche Epoche. Zu sehr zeigten sich bereits deren erodierende Geist- und Kulturfelder und hatte die Erfahrung gegriffen, sich den allgemeinen Zwängen und Notwendigkeiten nicht wirklich entgegenstellen zu können, sondern als Selbstbewahrungsstrategie, um in der „gemeine(n) Prosa des Lebens" (Hegel 1842,1 241) zu bestehen, sich „in die formelle Selbständigkeit der subjektiven Freiheit zurückziehen zu können", weil nur dann „die Macht des Unrechts keine Macht mehr" auf das Subjekt ausüben kann: „Doch weder diese Abstraktion einer rein formellen Selbständigkeit noch jenes resultatlose Abkämpfen ist wahrhaft schön" (Hegel 1842, I 209). Die Auflehnung des Subjekts blieb folgenlos, der Logik und Realität des Allgemeinen war es nicht gewachsen. Die Auflehnung mündete in resignativer Akzeptanz: „TROSTLOS VERNÜNFTIG" hat Wyss dies zu Recht genannt (Wyss 1997, 237). Das Bild der „schöne(n) Individualität" (Hegel 1842,1 155), ausgezeichnet durch den Glanz einer substanzvollen Totalität, kann dieser Welt der bürgerlichen Desillusioniertheit nur noch als unwiederholbarer Widerschein einer gewesenen Welt präsentiert werden, dessen Symbolträchtigkeit von der Abwesenheit seiner Inhalte in der Gegenwart profitiert. In den vielfältigen Kollisionen, denen sich das moderne bürgerliche Individuum ausgesetzt sah, brauchte es die Antike nicht mehr, um sich in aktiven Kämpfen die Leidenschaft zu erhalten, die nötig war, sich auf der Höhe der Zeit und der historischen Anforderungen zu halten (wie es Karl Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts resümierend formuliert hat (Marx 1852, 16)); ihm gelang nur noch der melancholische Blick auf eine nicht mehr zu realisierende kulturelle Möglichkeit, die nicht wieder Wirklichkeit werden konnte, sondern nur noch in schönen Bildern der Vergangenheit zu imaginieren war. Ohne irgendeine Hoffnung, auch annähernd mit der eigenen Kultur in ihre Nähe zu rücken, allen intellektuellen und künstlerischen Anstrengungen zum Trotz.

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Im historisch und systematisch gewordenen Klassizismus Hegels fand der Abkömmling des Zeus und der Leto die ihm gebührende Aufmerksamkeit vor allem durch die Bestimmung der klassischen Kunstform, als der höchstmöglichen, die ihrerseits, aus Hegelscher Sicht, in den Götter-Skulpturen des antiken 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus ihren unübertrefflichen Höhepunkt besaßen. Zwar teilte der Philosoph nicht mehr Winckelmanns Begeisterung fur den Apollon im Belvedere, denn inzwischen hatte die Erkenntnis die Runde gemacht, die Statue gehöre stilgeschichtlich nicht zu den Werken der klassischen Periode, sie bewege sich vielmehr „zum Übergange vom hohen Ideal zum Reizenden" (Hegel 1842, II 12)," aber seine eigene Beschreibung enthält symptomatisch und verräterisch viel von der Winckelmannschen Apotheose. Apollon schreite „siegesgewiß, nachdem er den Python mit dem Pfeile getötet, in seiner Hoheit zürnend", es sei ruhig und in ,,heitere[r] Seligkeit", selbstbewusst und in seinem Handeln machtvoll jeder Situation gewachsen (Hegel 1842,1 201). Unbeschadet der skeptischen Würdigung der belvederischen Version lebt in den Gestaltungen und Vorstellungen Apollons auch für ihn das kunstgewordene Ideal der Antike. Sein Götterblick übt auch für ihn jene Zaubermacht aus, mit der er allen und allem gebietet, seinen Befehlen nachzukommen. So wenn er, gemäß der eigenen Vorgabe: „Der Charakter der Götter macht die Besonderheit der Göttlichkeit aus" (Hegel 1823, 171) und diese zeige sich in ihren individuellen Taten, Apollon als Befehlenden interpretiert, nach dessen Wort Orest den Muttermord begangen habe (167) und als Zürnenden, der die ihn verletzenden Handlungen anderer gewalttätig rächt, wenn er bei Homer Patroklus Waffen und Schild abreißen lässt und ihn so dem Tode preisgibt (174f.). Ohne Mitleid, das spätere christliche Ikonographie und Haltung kennzeichnet, aber mit der Erhabenheit und Schönheit des Grauens, die nur antiken Darstellungen eigen sind. Wie Winckelmann hat Hegel Apollon vor allem als delphischen Gott gesehen. Aber er radikalisierte diese Perspektive um den Gesichtspunkt des Wissens, des Geistes und des Geistigen. Der Gott als der des Wissens: „Mars, Apollo: der Krieg, das Wissen, das sind bleibende, wesentliche Mächte" (Hegel 1823, 295) und: „Apoll ist einerseits die Sonnenmacht, andererseits der Wissende" (Hegel 1823, 169). Die Freilegung des Wissens als Macht und die Mächtigkeit, das Wissen einzusetzen, darin liegt die neue Dimension des Gottes, der für Hegel Macht, Schönheit und Wissen in eins setzt. Die Lust des Geistes am Geist ist es, die den Weg dahin vorgezeichnet hat. Wie bei einer Spirale windet sie sich in den Körper des Wissens, um ihm die Auszeichnung zu geben, die unter dem Aspekt, ein Identitätszentrum zu sein, ihm zusteht. In der Kontextualisierung des Gottes im Umfeld des Geistigen gründet nicht nur eine neue Hierarchisierung Apollons, vielmehr: der Gott wird mit einer anderen, neuen Macht ausgestattet, die, wie

11 Hegel verließ sich hierbei auf Stimmen auskunftsfreudiger englischer Italienreisender:, jetzt ist sie [die Apollon-Statue], seitdem man im Ausdruck tiefere und in den Formen lebendigere und gründlichere Werke hat kennenlernen, in ihrem Werte etwas heruntergedrückt, und man setzt sie in eine spätere Zeit, in welcher die Glätte der Ausarbeitung schon das Gefallige und Angenehme im Auge hat und nicht mehr im strengen echten Stil beharrt. Ein englischer Reisender nennt sogar (,Morning Chronicle' vom 26. Juli 1825) den Apollo geradezu einen theatralischen Stutzer (a theatrical coxcomb)" (Hegel 1842, II 146).

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wenig andere, mit der Verbürgerlichung der modernen Kultur korrespondiert. Als „Licht des Wissens" (Hegel 1842, I 456) apostrophiert, erhält er alle Insignien als Interessenvertreter des Geistes und als Lehrer nicht nur der Musen: „,Erkenne dich selbst' ist die Überschrift seines Tempels in Delphi, ein Gebot, das sich jedoch nicht etwa auf die Schwächen und Mängel, sondern auf das Wesen des Geistes, auf Kunst und jedes wahrhafte Bewußtsein bezieht" (Hegel 1842, I 471). So ließ Hegel Apollon einen anderen Olymp beziehen, den des Wissens, neu gestaltet in den Landschaften idealistischen Systemdenkens, in denen er einer neuen Begrifflichkeit zugeführt wurde. Eine späte Konsequenz seiner aufklärerisch-klassizistischen Geburt. Aber eine, die auf symptomatische Weise dem Prozess der Verbürgerlichung nicht nur entgegenkam, sondern ihn auch spiegelte. Noch immer zugleich mit dem „Reiz der lebendigen Menschlichkeit" als dem „Positive[n] der griechischen Götter" (Hegel 1842,1 477) ausgestattet, gerät er zu einer Art idealem Prototyp des Bürgers, der im Reich der Bildung seine kulturelle Heimat zu sehen sich angewöhnt hat und angewöhnen musste. Als Führer ins Land des Wissens, in dem jene Freiheit zu finden war, die in der politischen Wirklichkeit nicht Fuß fassen konnte und formal blieb, konnte er denen dienen, die hier ihre Erfüllung finden wollten und fanden. Das Ideal einer bildungsbürgerlichen Elite. Dem empirischen bürgerlichen Subjekt, eingespannt in das Prosaische der Verhältnisse, blieb er nur noch gegenwärtig in seinen diversen nachahmenden porträtähnlichen Kunstgestalten in der Malerei und als kunstgewerblicher Nippes in biedermeierlicher Absicht. So war er zwar Bürger geworden, aber der Hauch vom Citoyen war schnell verflogen. Der hat ausgereicht, ihm die Kraft zu geben, wenigstens Bourgeois zu werden und anzukommen in der widersprüchlichen Wirklichkeit, von der Clemens Brentano gesagt hat, in ihr müsse man sich entscheiden, entweder Mensch oder Bürger zu sein. Hegel hat hier das Unmöglich-Mögliche gewollt. Er wollte für das bürgerliche Subjekt beides und hat darin das epochal neue und durch keine Antike zu glorifizierende gesehen. Einhundertfunfzig Jahre weiter hat dies einen Lyriker, durchgegangen durch die Hegel-Marx-Schule, Steffen Mensching veranlasst, diesem Zwiespalt ein wortdeutiges Denkmal zu setzen. Es sei abschließend zustimmend wiedergegeben: Hegel bei den Skulpturen Schöner Stein Ich heule mit den Wölfen, der Macht Der Prosa lache ich ins Auge, Ich denk die Welt und hock auf Knien, Das Staatsmaul frisst die Utopien, Im Bauch der Dampfmaschinen heizen Die Freiheitsthesen das Fabrikenwesen. Mein Stein, mein Jünglingsalter töt ich. (Was wirklich ist, ist nötig.) Stein du totaler schöner Schein der Wahrheit Ich ziehe mit, der Zeit das Leder Über die Ohren, vom Katheder.

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In den Gesetzesnetzen, engen Zwängen Seh Fürsten ich, und Bürger hängen. Ich trinke Bohnenkaffee im Gedränge Der N o t der äußeren Notwendigkeit Und segne die Reformen, heut und künftig. (Was wirklich ist, ist auch vernünftig.) Du mein Athener schöner Stein der Sehnsucht Ich lache, W o l f im Staatsfell, meine Trauer Ist allein im Stein gefangen. Pathetisch schießen sich die Täter Blei Oder Tränen in den Herzensbrei. Z u m Kreuze kriechen meine liebsten Freunde. D i e Griechen schimpfen mich Verräter. D o c h nein, ich stelle mir das eigne Bein. (Was vernünftig ist, muß sein.) Schöner Stein (Mensching 1984, 30f.)

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Freiheit und Verantwortung in Kirche und Gesellschaft Theologische und philosophische Argumente in Begegnung1

1. Fragestellung Wenn politisch verfolgte und zurückgedrängte Kirchen ihre Freiheit wiedererlangen, um in der Gesellschaft nach ihren eigenen Vorstellungen wirken zu können, dann vergrößert sich sofort auch wieder die öffentliche Verantwortung dieser Kirchen für die Lebensbedingungen in der Gesellschaft. Aus ihrer eigenen Erfahrung von Unterdrückung und Verfolgung heraus wird die Kirche wachsam beobachten, ob nun wirklich in den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wieder jene Freiheit ermöglicht wird, die nach christlicher Auffassung zu einem menschenwürdigen Leben gehört. Wo humane Grund- und Freiheitsrechte nach wie vor vorenthalten werden, muss die Kirche sich öffentlich für die bedrängten Menschen einsetzen - unabhängig von deren Konfession oder Religion. Sowohl in Deutschland wie in Russland ist im 20. Jahrhundert die soeben beschriebene Situation konkret eingetreten. Wo aber sitzt die Schwierigkeit, wenn

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Herzlich gratulierend grüßt der Vf. Volker Gerhardt - nachhaltig erfreut über sein oft erwiesenes philosophisches Interesse an der Theologie (das von Theologiestudierenden und theologischen Kollegen in Seminaren ζ. B. über „Individualität" oder „Selbstbestimmung" erwidert wird), und in der persönlichen Verbundenheit u. a. durch gemeinsame Ethik-Aktivitäten an der Humboldt-Universität zu Berlin („Werner-Reihlen-Vorlesung"). Mein Beitrag zu diesem Buch ist die überarbeitete Fassung eines einleitenden Vortrags, den ich bei dem offiziellen theologischen Dialog zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche im Februar 2008 in Wittenberg gehalten habe. Im Hintergrund des Dialogtreffens zum Thema Freiheit und Verantwortung, an dem sich u. a. auch Bibel-Exegeten und Patristiker, aber auch zwei Bischöfe beteiligten, standen unterschiedliche Äußerungen aus beiden Kirchen zu den allgemeinen Menschenrechten während der jüngst zurückliegenden Jahre. Die Differenzen sollten nun theologisch untersucht und, wenn möglich, aufgearbeitet werden. Die Ausgangslage war aber schwierig, weil die russischorthodoxe Seite das heutige protestantische Engagement fur die Menschenrechte kritisch betrachtet und meint, dass die moralischen Pflichten, die mit individuellen Freiheitsrechten verbunden sein müssten, in den letzen Jahren oft verletzt worden seien. Die Inanspruchnahme der Menschenrechte, um dann unter der Fahne des Selbstverwirklichungs-Rechts a-moralisch handeln zu können (ζ. B. durch die Herstellung sittenwidriger ,Kunstwerke' oder durch das Eingehen homosexueller ,Ehen'), sei inakzeptabel. Wer sich frei für das Böse und Unsittliche entscheide, verspiele weitgehend seine Würde als Mensch. - Dementsprechend war der Hauptfokus des Wittenberger Dialogs die theologische und philosophische Anthropologie und die heutige Diskussion der Menschenwürde. Die evangelische Seite legte dar, warum sie meint, die Kirchen müssten die weitere Durchsetzung der Menschenrechte heute überall unterstützen.

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es unter Christen doch selbstverständlich ist, dass ein kirchlicher Auftrag besteht, sich für bedrängte Menschen einzusetzen? Sie sitzt darin, dass das rechte Maß der Freiheit strittig ist. Es ist klar, dass nicht alle Freiheitswünsche von der Kirche unterstützt werden. Nicht jeder Mensch, der nicht alle seine Wünsche erfüllt bekommt, ist ein unterdrückter Mensch. Kirche und Staat müssen beide wissen, worin der Segen der Freiheit liegt, und wo recht verstandene Freiheit andererseits ihre Grenzen findet. In Sorge darüber, dass bei politischen Umbrüchen der Pendelschlag von der Unfreiheit zur Freiheit oft zu weit geht und dann ein moralisch ungesundes und schädliches laissez faire, laissez aller in die Sittenkultur und in die Rechtskultur eindringt, muss sowohl in der Kirche wie im Staat über Freiheit und Verantwortung immer wieder nachgedacht werden. Selbst der Stolz der westlichen Kultur, die Errungenschaft der Menschenrechte, muss mit auf den Prüfstand, weil sich hinter der Berufung auf sie möglicherweise nicht in jedem Fall nur die lautersten Motive verbergen. - Wir haben uns in Wittenberg zusammengefunden, um in einem ökumenischen Dialog unseren ethischen Blick zu schärfen, damit in unserem Wirkungsbereich einerseits Verantwortung fur die Freiheit übernommen wird, andererseits die Freiheit mit Verantwortungsbewusstsein gestaltet wird. Nachfolgend soll dargelegt werden, wie sich das fast uferlose Thema der Freiheit speziell in einigen heutigen Aufgabenbereichen von Kirche und Staat darstellt. Es soll auch gefragt werden, welche Unterschiede und welche Gemeinsamkeiten oder Zusammenhänge zwischen verschiedenen theologischen und philosophischen Freiheitsbegriffen bestehen. Wir konzentrieren uns auf heutige Herausforderungen - ζ. B. auf die Frage des Verhältnisses der Kirchen zu den sog. allgemeinen Menschenrechten. Man kann in einem einzelnen Vortrag nicht alle wichtigen Aspekte von ,Freiheit und Verantwortung' beleuchten und Ideen dazu äußern. Sonst würde man vom Spott des Münchner Humoristen Carl Valentin ereilt werden, der süffisant bemerkte: „Es ist schon alles dazu gesagt - nur noch nicht von allen."

2. Freiheit im Überschneidungsfeld von Staat und Kirche, Philosophie und Theologie Spätestens seit der englischen Toleranzakte von 1689 ist Freiheit ein vorrangiges Thema vor allem in Europa und in Nordamerika geworden. Die danach im , Westen' sich mehr oder weniger ausgeprägt entwickelnden politischen Demokratien haben Forderungen wie diejenige der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit), oder diejenige nach der Gewährung von Menschenrechten, keineswegs direkt aus dem Christentum abgeleitet. Denn die Kirchen schienen ihnen selbst ein Teil des Problems zu sein. Ihnen habe mit staatlichem Druck mehr Toleranz untereinander und auch gegenüber Nichtchristen abverlangt werden müssen. Viele Staatstheoretiker haben sich daher direkt auf altgriechische philosophische Wurzeln der modernen politischen Bemühungen um Demokratie, Freiheit und die Menschenrechte besonnen. Aber nun ist es historisch und sachlich keineswegs zutreffend, dass der neuzeitliche Freiheitsdrang und Freiheitsbegriff (und das politische Vorhaben einer Demokratie) direkt aus dem antiken griechischen Stadtstaat Athen und den dortigen philosophischen Schulen

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ins moderne Europa gelangt wären, und dass die .Vermittlung' in die Neuzeit hinein allein die westeuropäische Renaissance im 15. /16. Jh.s geleistet habe. Es wissen ζ. B. die orthodoxen Theologen sehr genau, das auch Kirchenväter der Spätantike und des Frühmittelalters durch schöpferische theologische Synthesen zwischen griechisch-philosophischem und biblischem Denken den Freiheitsbegriff Europas zutiefst bereichert haben. Zur allgemeinen Erinnerung nenne ich jetzt nur das Stichwort christlicher Platonismus'. Katholische Theologen würden Ähnliches vom Hl. Augustinus und dessen Nachdenken über die beiden civitates sagen sowie vom Hl. Thomas von Aquino, in dessen Theologie auch aristotelische Gesichtspunkte zur Freiheit mit verarbeitet wurden. Evangelische Theologen schließlich werden vielleicht an die vergessene Bedeutung der Zürcher Wiedertäufer des frühen 16. J.hs fur die tatsächlichen Anfange der Demokratie im neuzeitlichen Europa und im ganzen Westen erinnern (vgl. Blanke (1950)); sowie an Martin Luthers unvergessene Vorkämpferrolle für die Gewissensfreiheit auf dem Reichstag zu Worms von 1521 und an Luthers (zu großer gesellschaftlicher und auch politischer Wirkung gelangte) Interpretation von Briefen des Apostels Paulus in der zündenden Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen ( 1520). Überhaupt Paulus, der Apostel und Heilige! Auf sein Freiheitsverständnis werde ich im Nachfolgenden noch besonders zurückkommen. Es scheint, dass er, nicht weniger als Piaton, Aristoteles und die altgriechischen Stoiker, Freiheitsbegriffe der Moderne durchaus mit beeinflusst hat. Seine Nachwirkung bis heute, auch in der Philosophie, ist nicht zu leugnen.2 Aber wir wollen kein theoretisches Problem daraus machen, sondern ein praktisches: Sollten heutige europäische Staaten - aber nicht nur die europäischen - , wenn sie ihre Verantwortung für die Freiheit erkennen, das Gespräch auch mit den Kirchen suchen über die rechte Verwirklichung von Freiheit in der modernen Gesellschaft? Das wäre den Kirchen natürlich erwünscht. Aber sie müssten sich dann auch ihrerseits auf Vorgaben einlassen, die nicht von ihnen, sondern von der Seite des heutigen Staates kommen. Wir gehen davon aus: In bedeutenden heutigen Freiheitsbegriffen sind - von ihrer Vorgeschichte her - theologische und philosophische Aspekte miteinander verwoben. Damit heute gut umzugehen, stellt aber eine hermeneutische und praktische Schwierigkeit dar. Das zeigt sich, wenn uns z. B. das Verhältnis der Freiheit zur Macht des Bösen zum Problem wird. Alle müssen heute ein Interesse an der ethisch qualifizierten Freiheit haben. Das gilt für staatliche Instanzen ebenso wie für kirchliche. Alle müssen eine solche Freiheit anstreben, die nicht durchsetzt ist mit Elementen, die sowohl die Menschen wie auch die Freiheit selbst ruinieren. Wenn heutige Kirchen dieses Anliegen unterstützen, sind sie öffentlich (und d. h. auch politisch) durchaus willkommen. Mein erstes ,Fazit' lautet: Aufeinander zugehende Verhältnisbestimmungen von christlich-kirchlicher und von weltlich-politischer Verantwortung für die Freiheit sind heute nötig. Dabei müssen wir mit einem ,hermeneutischen Modell' arbeiten, das - wie von Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt vorgeschlagen - „Analogie und Differenz zu Grundinhalten des christlichen Glaubens" beachtet (Huber und Tödt 1977, 162-175).

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Siehe unten im Kap.5 die Bemerkungen zu Kant und Paulus.

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3. Das christliche Freiheitsverständnis kurze neutestamentliche Grundlegung Christen sind „zur Freiheit berufen", schreibt der Apostel Paulus im Galaterbrief (Gal 5,13). Daher muss auch die Kirche eine Institution der Freiheit sein, hat unlängst der orthodoxe Erzbischof Ioannes Zizioulas betont. Er schrieb: „Es gibt nichts Heiligeres als Personsein. Der Respekt vor der Person ist der Respekt vor Gott." Und weil die Kirche diesen Respekt vor der Person hat, ist sie „Stätte der Freiheit" (Zizioulas 1997, 589 und 601). Aber ein kirchlicher Umgang mit der Freiheit wird auch die Mahnung des Apostels Paulus bedenken: „Seht zu, dass ihr durch die Freiheit nicht dem Fleisch Raum gebt; vielmehr: durch die Liebe diene einer dem andern" (Gal 5, 13). „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen" (Gal 6,2). Die lebenskräftigste Wurzel der Freiheit ist demnach nicht die menschliche Selbstsucht3, sondern die, die Freiheit entstehen lässt aus der Lastabnahme heraus. So wie ein Mensch leichter atmet und befreit seinem Ziel entgegengeht, wenn ihm eine schwere Last vom Rücken genommen wird, so kommt immer und überall auf dem solidesten Weg Freiheit überhaupt zustande. Denn dann bedeutet sie nicht nur, dass eine Last kurzerhand weggeworfen worden ist, oder dass sie einem anderen Geschöpf kurzerhand aufgezwungen wurde. In solchen Fällen wäre die Freiheit nur von einem Individuum für sich selbst geraubt worden. Dies ist aber dann nicht der Fall, wenn die drückende Last von anderen freiwillig getragen oder mitgetragen wird, weil diese anderen den Wunsch und auch die Kraft haben, einem oder mehreren belasteten Menschen beizustehen und sie, so weit es geht, zu befreien. Die Bibel jedenfalls spricht von Freiheit immer nur als von Befreiung. 4 Das ist ihr Gesichtspunkt, den sie zur Freiheitsdebatte beizusteuern hat. In diesem von Christus selbst vertretenen und geübten Sinn der Entlastung erblickt die Kirche die Wahrheit über die Freiheit, die „Wahrheit", die „frei macht" (vgl. Joh 8, 32). Christen verstehen unter Freiheit etwas Umfassenderes, als dies etwa in der politischen Philosophie geschehen könnte. Wenn wir das Neue Testament in seinen Gedanken über die Freiheit ganz knapp zusammenfassen, so kommen wir zu der Definition: 3

Adam Smith ( 1 7 2 3 - 1 7 9 0 ) hat in seinem nationalökonomischen Werk Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes klassisch dargelegt, warum für eine freie Marktwirtschaft, die ^llen an ihr Beteiligten Nutzen bringt, das Motiv des Eigennutzes und das Streben nach persönlichem Gewinn angemessen und unerlässlich ist.

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Vgl. Spieckermann 1995, 37-40: „Die Bibel schweigt zurproairesis, der Wahlfreiheit des Menschen. Sie schweigt zum autexousion, zur freiheitlichen Selbstbestimmung des Menschen. Sie schweigt zu ta eph hämin, dem, was in unserer Macht steht. Und sie ist auch wortkarg zur eleutheria ...". Dieser Begriff kommt nur „zehnmal... im Neuen Testament vor (Rom 8, 21; I Kor 10, 29; II Kor 8, 17; Gal 2, 4; 5,1.13; Jak 1, 25; 2, 12; I Petr 2, 16; 2 Petr 2, 19)". Für eleutheros gibt es im N T 23 Belege. Der Schwerpunkt des gesamten Befundes liegt in den Paulusbriefen. Überall aber wirkt der alttestamentliche Befund nach: „Hier ist wie im Alten Orient der Begriff ,frei' nur im privatrechtlichen Sinne vor allem im Zusammenhang mit der Sklavenfreilassung bekannt." „Die Befreiung Gottes macht aus den Israeliten keine Freien, sondern Gerettete, die in eine neue Gottesbindung gestellt sind..."

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Frei ist das von Gott aus der Macht der Sünde, des Todes und der dämonischen Mächte befreite Menschenleben. Der so befreite Mensch ist frei für Gott, frei vom seelischen Unfrieden in der eigenen Person und in seinen sozialen Beziehungen; sowie frei für die ein besseres Leben aufbauende Nächstenliebe. Allerdings gehen Christen nicht davon aus, wie es doch, mit Friedrich Schiller, viele Philosophen der neuzeitlichen Aufklärung (und noch die Allgemeine Erklärung der individuellen Menschenrechte durch die Vereinten Nationen am 10. 12. 1948) getan haben, dass der Mensch schon ein ,frei geborenes' Wesen sei. Der Mensch muss vielmehr, aus christlicher Sicht, (durch Jesus Christus) „zur Freiheit befreit" werden (Gal 5,1). Er muss also gläubig annehmen, was ihn befreit. Hier liegt eine große Schwierigkeit des Gesprächs zwischen Theologie und Philosophie über die Freiheit. Wir stehen vor der Frage, wie sich die neuzeitliche (vor allem westliche) philosophische Behauptung grundlegender Freiheiten und Rechte der Menschen (im Zeichen einer eher philosophisch verstandenen ,Menschenwürde') verhält zum christlichen Verständnis dieser Freiheiten, Rechte sowie der Menschenwürde im Zeichen der imago Dei. Kann die Kirche sich die verschiedenen neuzeitlichen Erklärungen der allgemeinen Menschenrechte vorbehaltlos zu eigen machen? 5 Liegt es mit in ihrer kirchlichen Verantwortung, deren politische Durchsetzung zu unterstützen? Oder sollte von der Kirche etwa umgekehrt der christliche Glaube der gesellschaftlichen Allgemeinheit empfohlen werden als Vorbedingung für ein Leben in wirklicher Freiheit? Mit dieser Empfehlung allein könnte sich die Kirche allerdings nicht sinnvoll am öffentlichen, gesellschaftlichen Diskurs über Freiheit beteiligen. Einerseits erwartet die heutige Gesellschaft auch von den Kirchen ein Umdenken, gemessen an früheren kirchlichen Intoleranzhandlungen und Absolutheitsansprüchen. Andererseits erkennen ja auch die heutigen Kirchen, dass es echte Solidarität, Entlastung der Überbürdeten und Freiheit in unterschiedlichen Graden überall geben kann, und dass auch außerkirchliche Instanzen, eine Verantwortung und vielleicht auch ein Charisma haben, solches zu verwirklichen. Es kommt in diesem Bereich also alles auf die menschenfreundliche und lebensdienliche öffentliche Bewährung an und auf die Bereitschaft, auf dem Boden des eigenen Glaubens, der nicht von allen geteilt wird, auch zu deren Gunsten stellvertretend beispielhaft tätig zu werden. Dann freilich muss man sich untereinander auf bestimmte Rahmenbedingungen, Spielregeln und Grenzen des öffentlichen Wirkens für die Freiheit einigen.

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Bekanntlich hat es in den verschiedenen Kirchen eine je eigene Tradition der unterstützenden Bejahung und des Widerstands gegen die modernen Deklarationen der ,Menschenrechte' gegeben. Diese bis in die Gegenwart reichende ambivalente kirchliche Haltung ist - gut informierend - beschrieben in: Naudé et al. 2007.

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Alles, was soeben dargelegt wurde, läuft letztlich zusammen in der Frage des Menschenbildes und der Menschenwürde. Wie werden diese inhaltlich aufgefasst, und welche praktischen Folgen ergeben sich daraus? 6 Theologisch sieht es so aus: Nur dort, wo man sich gegenseitig Freiheit ermöglicht, gibt es humane Kultur. Humane Kultur ist des näheren gekennzeichnet durch wechselseitige Hilfe, ,Erbauung' und Anerkennung als freie Menschen, die ihre Würde darin haben, dass sie zum Bild Gottes geschaffen sind.

4. Aus der gegenwärtigen philosophischen Erörterung der Freiheit Für die heutige Philosophie bedeutet Freiheit in erster Linie Wahlfreiheit. Damit steht die schon von Aristoteles (als Hauptkennzeichen menschlicher Freiheit) benannte proairesis auch in der Neuzeit obenan. Mit der Wahlfreiheit verbindet sich, als deren Voraussetzung, die als (partielle) Unabhängigkeit von äußerem Zwang charakterisierte Freiheit. Ferner verbindet sich mit ihr das (partielle) Recht und auch die sittliche Pflicht zur Selbstbestimmung (,Autonomie') und zur individuellen Selbstverwirklichung (,Streben nach Glück'). Das zuletzt genannte Selbstverwirklichungsrecht, das in den neuzeitlichen Menschenrechtserklärungen zu den staatlich zu garantierenden Hauptfreiheiten zählt, schließt auch die freie Berufswahl und die freie Wahl des Aufenthaltsortes mit ein. Es geht freilich nicht um die staatliche Begünstigung einer rücksichtlosen Selbstverwirklichung von Individuen oder von Gruppen. Vielmehr wird solcher ethischer Entgleisung entgegengesteuert mit einschränkenden staatlichen Gesetzen und mit einer positiven philosophischen und religiösen Entfaltung der Menschenwürde, zu der es allerdings unabdingbar gehört, dass jede Person dem inneren Bild, dem ihre Seele entgegenstrebt, auch Folge leisten können muss - und sei es durch den Entschluss, ins Kloster zu gehen. Selbstverständlich wird der Freiheitsbegriff von der modernen Sozialphilosophie auch noch nach anderen Richtungen hin entfaltet. Das Erbe des europäischen Freiheitsdenkens ist ja vielfaltig. Erinnert sei wenigstens an die auf G. W. F. Hegel zurückgehende Definition, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit (vgl. Hegel 1827, 348f.). Hegel will hier einen bestimmten, problematischen Freiheitsbegriff korrigieren. Er meint, die Inanspruchnahme einer absoluten Freiheit durch solche, die auf ihre subjektive Weise ,die ganze Wahrheit' verstanden zu haben oder für sich zu haben meinen, führe unter Menschen zu Fanatismus und Terror. So könne Freiheit also konkret nicht funktionieren.

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Der Heidelberger systematische Theologe Wilfried Härle (2007) konkretisierte den Begriff der Menschenwürde dahingehend, „dass ein Mensch 1. als Zweck und nicht als bloßes Mittel gebraucht wird, 2. als Person geachtet und nicht zum Objekt herabgewürdigt wird, 3. Selbstbestimmung üben kann und nicht völlig fremdbestimmt wird, 4. Entscheidungsfreiheit behält und nicht durch Zwangsmaßnahmen gefügig gemacht wird, 5. in der Sphäre der Intimität bleiben kann und nicht bloßgestellt wird und 6. als gleichberechtigt behandelt und nicht diskriminiert wird" (zit. nach Schindehütte 2008).

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Diese Erwägung ist später von Karl Marx und Friedrich Engels noch weiter ausgebaut worden: Der einzelne Mensch muss im Sozialismus seinen Selbstverwirklichungswunsch und sein Selbstbestimmungsrecht einschränken in der ,weisen Einsicht', dass die Staatsführung und die Fachleute der Einheitspartei es im Konfliktfall besser wissen, was jetzt und hier getan werden muss und gut ist. Engels definierte Freiheit „als begriffene Notwendigkeit" und als „die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können" (Engels 1878, 106).7 Dass im politischen Sozialismus des 20. Jh.s diese besondere Fassung des Freiheitsgedankens aber zum Terror und zum Freiheitsentzug missbraucht wurde, ist bekannt. Das dahinter liegende tiefere Problem steckt in einer sukzessiven Entfernung des philosophischen Freiheitsdenkens von Immanuel Kant. Der Königsberger Philosoph hatte noch die Unlösbarkeit der Antinomie zwischen Freiheit und Notwendigkeit (Determination) klar benannt und stehen lassen. Doch bereits der Berliner Philosoph Hegel und später die Linkshegelianer wollten diese Antinomie nicht mehr das letzte Wort bleiben lassen, sondern sie in gesellschaftlichen Prozessen dialektisch ,aufheben'. Die Wirkungsgeschichte dieser gedanklichen Dialektik hat schließlich das Projekt der neuzeitlichen Aufklärung selbst ,dialektisch' werden lassen (so Theodor Adorno und Max Horkheimer), und zwar in der Weise, dass politisch eroberte Freiheiten wieder in Unfreiheit umschlugen. Diese Erfahrung hat uns alle - auch die Meinungsführer in Staat und Kirche - überaus vorsichtig gemacht gegenüber ,höheren Synthesen' in totalitären Ideologien und in revolutionärem Umstürzen bestehender Ordnungen (angeblich im Namen der Freiheit). Menschliche Freiheit steht immer in der Gefahr ihres Gegenteils. Was schon in der Bibel selbst ganz deutlich gemacht ist (vgl. Genesis 3!), das zeigen uns nun auch verschiedene philosophische Freiheitstheorien der Moderne, nämlich dass die Freiheit ein doppeltes Gesicht trägt. Sie befindet sich immer einerseits in der Nachbarschaft von Schuld und Ausbeutung, andererseits aber in der Nachbarschaft der aufbauenden Liebe und der Wahrheit. Wer wirklich von Freiheit redet, redet jedenfalls von einem Phänomen mit inneren Spannungen. Einer Erweiterung oder Rettung menschlicher Freiheit wirklich zu dienen, wie es das christliche und auch das humanistische Menschenbild beide verlangen, ist heute keine Angelegenheit von Parolen mehr, sondern von gründlicher Arbeit in verschiedenen Problemzonen und auf verschiedenen Baustellen der menschlichen Gesellschaft. Mit Recht wurde neuerdings vom „Handwerk der Freiheit" gesprochen (Bieri 2001). Handwerker der Freiheit braucht ζ. B. dringend der gesamte Bereich der Ökonomie. Denn die wirtschaftliche Unabhängigkeit, Armut oder Versklavung der Menschen bilden ein eigenes Freiheitsthema von immenser Bedeutung. Dazu gehört weiterhin das ordnungsgemäße Funktionieren der großen Institutionen in er Gesellschaft, die dem einzelnen Menschen ja Lasten abnehmen und ihn nicht etwa zusätzlich belasten sollen (was die Institutionen dann tun, wenn sie hauptsächlich im Selbstinteresse zu wirken beginnen). Dazu gehört aber auch die ,Institution der Institutionen': der Staat selbst als gesellschaftliche Großbaustelle. Will ein Staat staatsbürgerliches Leben in möglichster Freiheit ermöglichen, und das wäre neben der Sorge für Sicherheit

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Zitiert nach Spaemann 1972, 1094.

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und für Gerechtigkeit unbedingt sein Auftrag, dann darf er seine einzelnen Organe und Gewalten nicht miteinander vermengen und sie auch nicht in einer überordneten Einheit zusammenschließen. Ein solcher Verstoß gegen die gebotene Gewaltenteilung geschah in den totalitären Staatsregimen des 20. Jh.s. und in den Diktaturen aller Jahrhunderte. Die Legislative, die Exekutive, die judikale Gewalt und die mediale Macht der freien öffentlichen Meinungsbildung und Information wurden nicht voneinander getrennt, so dass sie sich auch nicht mehr wechselseitig im Zaum hielten. Dies sei nicht mehr nötig, nur ein bourgeoises Relikt von gestern, hieß es im Sozialismus. Das Gegenteil ist aber richtig. Die in der Praxis nicht einfache Unterscheidung und Teilung der staatlichen Gewalt muss überall in der Welt, im Westen wie im Osten, ständig neu gefordert, erlernt und garantiert werden. Denn daran hängt die konkrete Freiheit der Menschen in hohem Maße. Schließlich und endlich muss das tägliche „Handwerk der Freiheit" auch in den Schulen und Erziehungseinrichtungen sowie in den Familien jeder Gesellschaft ausgeübt werden: Dort muss auch ein ethischer Rahmen fur die Ausbildung persönlicher Tugenden errichtet werden, d. h. es muss eingeübt werden in das persönliche Bestehen in der Freiheit. Solches alles muss die sog. Praktische Philosophie heute im Hinblick auf die Freiheit bedenken.

5. Über ,negative' und ,positive' Freiheitsich kreuzende theologische und philosophische Aspekte Freiheit ist entweder eine Freiheit ,νοη' oder eine ,Freiheit ,zu' (oder ,für'). Die negative' Freiheit ist keineswegs weniger wichtig als die ,positive'. Beim Apostel Paulus hat sie eine grundlegende Bedeutung. Er hat ja den übrigen Aposteln die Befreiung der ,Heiden' (die christlich missioniert werden sollen) von den ,kultischen Gesetzen' des Judentums abgerungen. Darüber hinaus hat Paulus in seiner Auffassung von der Rechtfertigung des Menschen ohne des Gesetzes Werke die im Glauben liegende Freiheit von der verdammenden Macht des gesamten Gesetzes erkannt. Er ermahnte die christlichen Gemeinden in Galatien, nicht mehr die Beschneidung und überhaupt kultische Bräuche, aber auch nicht mehr eigene , sittlich guten Taten' gemäß dem Gesetz als das den Menschen eigentlich Heiligende zu betrachten: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit." „Lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!" (Gal 5,1). Die später in G. W. F Hegels Schrift Phänomenologie des Geistes an zentraler Stelle bedeutsam gewordene Dialektik von „Herr und Knecht" ist vom Apostel Paulus vorformuliert worden: Obwohl der Apostel in Jesus Christus ein ,freier Herr über alles' ist, hat er sich doch zu jedermanns Knecht' gemacht (vgl. I Kor 9, 12.19 u. ö.) - d. h. er hat sich selbst sogar von der Rolle, wie ein mächtiger Herr leben zu können, befreit. Ich fasse zusammen: Paulus denkt über Jesus Christus und seine Kirche folgendermaßen: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (II Kor 3, 17) - nämlich Freiheit von der verdammenden Macht des Gesetzes u n d f ö r ein aus der Liebe heraus gestaltetes Leben (II Kor 3,17).8 8

Näheres zur paulinischen „Freiheit gegenüber dem Gesetz" (Gal 4f; Rom 6-8; I Kor 9f; II Kor 3) insbes. bei Vollenweider 1989, 403: Bei Paulus begegnet ein starker Zug zur , Autonomie', der aber

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In den Briefen des Neuen Testamentes findet sich aber auch noch ein anderes Freiheitsverständnis, das zu demjenigen des Paulus in starker Spannung steht, da es das (Sitten-) Gesetz als grundlegend wichtig für die Freiheit wertet. Die Rede ist jetzt vom Jakobusbrief, der die Freiheit gegenüber der Theologie des Paulus bewusst anders akzentuiert: „Redet so und handelt so, als würdet ihr durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden" (Jak 2,12). Den Gedanken einer ,negativen Freiheit' vermeidet Jakobus. Er formuliert positiv: Man muss das „vollkommene Gesetz der Freiheit" befolgen, um zu dem Ziel zu gelangen, „selig" zu werden (Jak 1,25). Während bei Paulus die ,Freiheit von ...' mindestens vorherrscht, ist Jakobus ein klarer ,Anwalt' der ,Freiheit für ...' Auch stehen im Jakobusbrief Gesetz und Freiheit nicht, wie hier und dort bei Paulus, in einer Spannung der Gegensätzlichkeit. Denn der Jakobusbrief geht davon aus, dass Gottes Gebote in ihrer Vollkommenheit die Menschen, die diese Gebote befolgen, in die Freiheit hineinfuhren. Es war immer schwierig für die christliche Theologie, diese beiden unterschiedlichen Akzentsetzungen im Neuen Testament gut zusammenzubringen. Die Freiheit von der Macht des Gesetzes (uns als Sünder zu verdammen) darf nicht unterschlagen werden. Aber dasselbe gilt auch für die im Glauben an Jesus Christus liegende Befreiung für die Liebe und ein Teilhaben an Gott. Hierfür können die sittlichen Gebote in neuer Weise wieder nützlich werden. Nur unter diesem Gedanken lassen sich Paulus und Jakobus einigermaßen widerspruchsfrei vereinigen. Die Kirchenväter haben den neutestamentlichen Gesamtbefund zu einer christlichen Freiheitslehre zusammengefasst bzw. ausgebaut: Von Irenäus und Orígenes an bis hin zur bereits umfassend ausgestalteten christlichen Freiheitslehre bei Máximos dem Bekenner wurde betont, dass die Freiheit (exousia, eleutheria, hekousion, autexousion, autonomia9 usw.) Geschenk der Gnade ist (s. Paulus), aber trotzdem auch eigene Anstrengung und Wahl des Menschen (prohairesis) sein muss (s. Jakobus). Der Mensch bedarf der Freiheit - so ist das Menschenbild der Kirchenväter - , um seine göttliche Bestimmung zu erfüllen und gerade so seine ,Natur' zum Ziel zu bringen. Die Kirchenväter betonen: Die Freiheit wird verfehlt, wenn sie keine „ Wendung zum Besseren" darstellt,10 Sie ist gleichzeitig begrenzt wird durch das sympheron (das Zuträgliche, das dem Aufbau des Leibes Christi Dienende). - Demnach hat der Apostel Paulus eher einen ,positiven' als einen im philosophischen Sinne des Wortes ,negativen' Freiheitsbegriff. 9 Gegenüber dem schlichten Reden von eleutheria bei den Aposteln, wird von den Kirchenvätern augenscheinlich die griechische philosophische Schulsprache für die Explikation von Freiheit bevorzugt. 10 Das ist der Grund, warum der orthodoxen Theologie die moderne Proklamation allgemeiner Menschenrechte verdächtig ist. Das orthodoxe Menschenbild lässt Freiheit nicht schlechthin gelten, sondern unterscheidet an ihr (mit bestimmen Kirchenvätern) einerseits das autexousion (als die Freiheit, die jedem Menschen schöpfungsmäßig geschenkt ist - unabhängig davon, ob er ihrer würdig ist), andererseits eleutheria (als jene Freiheit, die in der Synergie von Gott und Mensch vom Menschen bewährt werden kann und muss, was ihn würdig macht). Bei keiner dieser beiden .Freiheiten' geht es um die menschliche ,Wahlfreiheit'. „Das östliche Freiheitsverständnis ist weniger ... auf Möglichkeiten, über die der Mensch verfügt, bezogen, als vielmehr auf ein Freisein von Leidenschaften und vom Bösen" (Kommuniqué des Wittenberger Dialogs vom 22.-28. Februar 2008).

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daher nicht einfach nur ,negativ' die Erfahrung einer Erlösung oder des Loskaufs von einem Sklavenjoch', was freilich in der Bibel zunächst weithin im Vordergrund steht. Sie impliziert vielmehr auch positiv eine eigene Anstrengung zu einem das Menschenleben erfüllenden Ziel und Wert hin. Letzten Endes dient die Freiheit dem Aufschwung zum Göttlichen, also der theosis. Und noch eine Nachbemerkung: Die Kirchenväter betonen immer, dass Freiheit einen Preis kostet. Die ,negative' Freiheit, die Erlösung vom Übel/Bösen, kostet das Blut Jesu Christi. Die ,positive' Freiheit kostet die Erfüllung des Gesetzes Christi (vgl. Gal 6,2). Das ergänzende Miteinander und teilweise Gegeneinander von ,negativer' und ,positiver' Freiheit findet sich auch in der neuzeitlichen Philosophie. Hier ist jetzt aber anzumerken, dass ,negative' Freiheit nicht einfach nur Freiheit ,νοη' und ,positive' Freiheit nicht einfach nur Freiheit ,zu' oder ,für' ist. Eher handelt es sich jeweils um Gesamtkonzeptionen einer Freiheitslehre, in denen sowohl das ,wovon' wie das ,wofür' enthalten ist. Auch schon die Lehre des Apostels Paulus ließ sich schließlich nicht einfach auf eine Freiheit ,νοη' reduzieren. Eher muss man bei den genannten beiden Freiheitskonzeptionen ein je verschiedenes Erfassen des Urimpulses zur Freiheit konstatieren. Bei der einen Konzeption beginnt alles mit einer Befreiung und Abkehr, bei der anderen aber mit einer eigenen Bemühung um noch stärkere (Gesetzes-) Erfüllung. Was Immanuel Kant anbetrifft, so scheint auch er vor allem die ,negative' Freiheit zu lehren. Denn vornehmlich ist Freiheit für ihn „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" (Kant 1797, 45). Diese Freiheit ist nach Kant überhaupt „das einzige und ursprüngliche Recht, das jedem Menschen kraft seiner Geburt" zukommt (ebd.). Ich will das folgendermaßen interpretieren: Nach Kant hat der Mensch das unbedingte Freiheitsrecht, keine ,Verfügungsmasse' der Willkür anderer zu sein. Davon ist er durch vorgegebene Wertsetzungen in der Gesellschaft befreit. Aber zugleich hat der so privilegierte Mensch auch die Pflicht der sittlichen Selbstbestimmung. Hauptsächlich lag Kant an der Autonomie. In ihr läuft alles zusammen: Kein anderer Mensch hat das Recht, für mich zu bestimmen, wie ich richtig lebe und handle. Das muss vielmehr meine eigene Wahl und Selbstbestimmung sein. Nur so kann ich meiner Pflicht genügen. Dabei gibt es aber eine wichtige Grenze: Ich darf mich nur in der Weise selbst bestimmen, dass ich nicht das Recht anderer zu ihrer eigenen freien Selbstbestimmung verletze. Ich muss mir also ein Gesetz geben, das dazu taugt, alle Menschen in Freiheit zusammen leben zu lassen. Daraus ergibt sich sinngemäß als ,kategorischer Imperativ': Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit die Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Man kann nun aber durchaus sagen: Kants Autonomiebegriff hat auf eine säkularisierende Weise die vom Apostel Paulus benannte „Freiheit der Kinder Gottes" (vgl. Rom 8,21) aufgegriffen, ,beerbt', weitergeführt. Paulus sagte: Für Christen sind die heidnischen Zwänge, aber auch das jüdische Gerechtigkeitsstreben aus der Unterwerfung unters Gesetz heraus, fremd geworden; 11 es ist alles in ihre Hände und eigene Entschei11 Vgl. Apostel Paulus, Gal 4,3ff: „Wir waren, als wir noch unmündig waren, den Naturmächten der Welt wie Sklaven unterworfen...". - Jetzt, da wir mündig geworden sind, ist es anders. Genau in diesem Schema denkt auch Kant die neuzeitliche Aufklärung als „Mündigkeit".

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dung gelegt (panta moi exestin, all' ou pania symphereì (I Kor 6, 12; vgl. 10,23))12. Das sieht Kant, der eine christliche Erziehung genossen hat, genau so.13 Zugleich hat Kant aber auch an das „vollkommene Gesetz" des Jakobusbriefes angeknüpft. Diese dialektische Kraft hat Kants FreiheitsbegrifF einen außerordentlich hohen philosophischen Rang verliehen. Viele Spätere haben sich nach ihm gerichtet, ohne ihn wieder zu erreichen. Auch die Theologie kann nicht vorübergehen an seiner ,Übersetzungsleistung' ins Weltliche hinein, auch wenn sie ihre dogmatischen Vorbehalte gegen Kants Gnadenund Gottesverständnis hat. Wir lassen es offen, ob Kants Freiheitsverständnis (das auch das Prinzip des Jakobus zu integrieren vermag), klar als ein negatives' zu bezeichnen wäre. 14 Doch das tun heute jedenfalls solche Philosophen, die selber ein liberales Verständnis des Staates haben, und die dabei u. a. Kant zur Legitimierung ihrer Gedanken in Anspruch nehmen. Diese politischen Protagonisten der ,negativen' Freiheit meinen, bereits Kant habe die Macht des Staates über die einzelnen Bürger dahingehend beschränken wollen, dass der Staat ihnen nicht vorschreiben dürfe, welches Handeln gut sei. Und weiter meinen die liberals, der Staat dürfe den Bürgern das diakonische Handeln und die Wohlfahrtspflege nicht einfach abnehmen. Er dürfe es ihnen nicht durch ein umfassendes staatliches , Sozialpaket' abgewöhnen, sich aus eigenem sittlichen Antrieb z. B. um notleidende Nachbarn zu kümmern. Sonst bewirke der Staat es nur, dass die eigenen sittlichen Instinkte und Tugenden der Bürgerschaft verkümmern. Diese modernen liberalen Anhänger der ,negativen' Freiheit (angefangen bei John Stuart Mill's On Liberty (1859) bis hin zu Isaiah Berlin's „Two Concepts of Liberty" (1958)) haben aber im Westen, insbesondere in den U.S.A. und in Kanada, eine philosophische Gegenfront bekommen: die sog. Kommunitaristen. Diese machen nun den Begriff einer ,positiven' Freiheit wieder stark. Die ,kommunitaristischen' philosophischen Gegner der liberals fragen, ob ein Staat, der sich nicht einmischen will in die freie sittliche Selbstbestimmungen der Bürger, im Ergebnis nicht zerrüttete und unfreie Lebensverhältnisse hinterlassen wird? Auch wenn es wohl richtig ist, dass der neuzeitliche Staat nur als ein Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten gewährender Staat sittlich legitimiert ist, darf Freiheit dennoch, so denken diese Gegner der liberals, nicht nur ,negativ' bestimmt werden als Nichteinmischung und als Abwesenheit von Zwang.

12 Vgl. auch die nur aus Rücksicht auf Schwächere' gebremste Freiheit der Christen, (Götzen-) „Opferfleisch" zu essen oder nicht (I Kor 8). 13 Ob es wohl schon eine philosophische Dissertation gibt, die das Verhältnis Kants zu Paulus in genauer Analyse einzelner Kant-Schriften untersucht? Ich möchte jedenfalls anregen, insbesondere die Kant-Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) einmal unter diesem Aspekt besonders eingehend zu prüfen. Auch das dort genannte innere .substanzlose' Prinzip des Bösen als Verdrehung der (jeweils in sich guten) sinnlichen und geistigen Antriebe des Menschen dürfte eine säkulare Fortbildung paulinischer Gedanken (Rom l,20ff; Rom 7,15f1f) darstellen. 14 Freiheit ist für Kant zwar nach der einen Seite persönliche Unabhängigkeit von Fremdbestimmung, aber sie ist für Kant nach der anderen Seite - positiv - die Fähigkeit, mit den eigenen Willensmaximen die Natur zu beherrschen.

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Denn Freiheit zielt doch immer auch positiv hin auf einen wertvollen Lebensinhalt, der verwirklicht werden soll.15 Und dafür, so sagen sie, bedarf es gewisser Aufbauleistungen, die der Staat unterstützen sollte. Das sind die notwendigen, praktischen Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Freiheit. Der Staat müsse diese Rahmenbedingungen schaffen, damit nicht scheiternde ,liberale' Staaten letzten Endes ,umschlagen' in kommunistische Staaten.16 Wenn der Staat ein freiheitlicher Rechtsstaat bleiben soll, dann muss er, so meint beispielsweise der , Kommunitarist' Michael Walzer, einige ausgewählte, fur das allgemeine Wohl tätige Gesellschaftsgruppierungen (wie ζ. B. eine Kirche) und einige ausgewählte dem Gemeinwohl dienende Aktivitäten seiner Bürgerinnen und Bürger besonders anerkennen und unterstützen (vgl. Walzer 1993, 173; Walzer 1992).17 Auch wenn der Staat alle gleich zu behandeln hat und eine gewisse weltanschauliche Neutralität benötigt, sollte der Staat sich dennoch mit solchen Denkweisen und solchen Gruppierungen stärker identifizieren, die von sich aus die freiheitliche demokratische Gesellschaftsordnung stützen. Der Staat muss nicht unbedingt in einer Äquidistanz zu allen stehen. Unter diesem Gesichtpunkt ist es zu rechtfertigen, wenn ein Staat ζ. B. mit bestimmten Kirchen enger kooperiert als mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen (weil diese keinen vergleichbaren Beitrag zur freiheitlichen Gesellschaftsordnung leisten) (vgl. Anselm 2007). Der seinen Bürgerinnen und Bürgern Freiheiten lassende und auch gewährende Staat benötigt Kräfte, die (ζ. B. durch Moralerziehung) die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Freiheiten im Staat überhaupt möglich sind (vgl. BedfordStrohm 2005). Der Staat kann sich solche Voraussetzungen nicht aus seinen eigenen Grundlagen heraus herleiten.18 Der Begriff ,Kommunitarismus' soll aussagen, dass die Bürgerinnen und Bürger in Gruppen und Vereinen zivilgesellschaftliche (nicht vom Staat aus organisierte) Verantwortung für gute Lebensverhältnisse in einer von Freiheit geprägten Gesellschaft übernehmen. Auch Kirchen können sich hier mit einreihen.

15 War der Begriff der .negativen' Freiheit durch das Fehlen einer von außen kommenden Einschränkung der individuellen Wahlmöglichkeiten definiert, so kann unter .positiver' Freiheit die „Freiheit der Selbsterfüllung oder Selbstverwirklichung" verstanden werden. Der positive Freiheitsgedanke geht davon aus, dass die Menschen ein Recht darauf haben, in Verhältnissen zu leben, in denen sie sich verwirklichen können und je individuelle Lebenserfüllung erfahren. Dies meint jedenfalls der Kanadier Charles Taylor, einer der wichtigsten Denker dieser gegenüber den modernen liberals kritischen Richtung. Er meint ferner: Dass sich die Bürgerinnen und Bürger ,authentisch' (d. h. auf ihre je individuelle Weise) entfalten können, dies setzt einen Staat voraus, der diejenigen Kräfte besonders schützt und fördert, die ein freiheitliches Leben in der Gesellschaft überhaupt erst ermöglichen (vgl. Taylor 1992 (englischsprachiges Original in: Taylor 1985) sowie Taylor 1994, und femer Taylor 1993). 16 Vgl. als repräsentativ für die ,kommunitaristische' Richtung: Honneth 1993, darin insbesondere Walzer 1993. 17 In der deutschen evangelischen Theologie hat sich Bedford-Strohm 1999 mit der ,kommunitaristischen' Denkrichtung intensiv beschäftigt. 18 Vgl. hier Bischof Wolfgang Hubers Mahnung an den Staat „zum achtsamen Umgang mit Voraussetzungen, auf die er selbst angewiesen ist, ohne sie jedoch hervorbringen zu können" (Huber 2004). Vgl. ferner Gestrich 2003.

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Jedenfalls aus der Sicht des Staates. Aber ganz so einfach ist dies auch wieder nicht, denn mindestens die größeren Kirchen sehen sich selbst - auf dem Hintergrund einer langen Geschichte - in einem Sonderverhältnis zum Staat.

6. Über die Beziehungen von Kirche, Staat und Gesellschaft Aus alter Tradition identifizieren Kirchen oft den Staat mit der ,Welt' (vgl. .weltliche Obrigkeit'), sich selbst sehen sie jedoch sozusagen als den irdischen Außenposten des Reiches Gottes. Der Staat und alles, was in ihm ist, kümmert sich aus der Sicht der Kirchen um das zeitliche Wohl der Menschen, die Kirche selbst jedoch um das ewige Wohl (so schon John Locke in seinen ,Toleranzbriefen'). So fugen sich beide zu einem ganzheitlichen Dienst am Menschen zusammen. Große Kirchen sehen sich nicht als einen Teil der Gesellschaft neben anderen, sondern als das geistliche Vorzeichen, das vor der ganzen Gesellschaft stehen sollte. Große Kirchen haben Schwierigkeiten, sich ins heutige pluralistische Kräftespiel der Gesellschaft einzufügen als ein wichtiger Faktor neben anderen. Für die Soziologie sind sie dies freilich. Und - oft - für die Staatsregierungen ebenfalls. Auch wenn wir nun die Differenzen zwischen soziologischer und theologischer Sicht der Kirche so stehen lassen wie sie sind, so bleibt doch übrig, dass die Kirche in der Gesellschaft einen bestimmten Platz einnimmt bzw. an einen bestimmten Platz gestellt ist. Aber an welchen? Von den breiten Massen der stark säkularisierten europäischen Staaten wird immer als Erstes davon gesprochen, dass sich die Kirchen in diakonischer Weise um notleidende Menschen kümmern sollen: um Alte, Kranke, gesellschaftliche ,Randsiedler'. Es wird also vom gesellschaftlichen Wirken der Kirche vor allem eine soziale Arbeit bzw. die ,tätige Nächstenliebe' erwartet. Doch wäre jede Kirche schlecht beraten, die ihr Wirken nach außen in die breite Gesellschaft hinein auf die rein karitative Tätigkeit beschränkte. Denn die Kirche gehört in vorderer Linie zu jenen Kräften der Gesellschaft, die der Wahrheit verpflichtet sind. Die Kirche ist nach ihrem Selbstverständnis, wie Pawel Florenskij so treffend herausstellte, „Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit" (vgl. I Tim 3,15). Sie hat es in erster Linie mit der Wahrheitsfindung in den gegenwärtigen Verstrickungen der Menschen zu tun und trägt hierfür Verantwortung. Das ist ihr wichtigster öffentlicher Auftrag, und ohne diesen hätte sie auch keinen anderen. Die von der Kirche öffentlich zu vertretende Wahrheit ist aber nicht einfach die ins Dogma eingeschlossene Wahrheit. Das Wort Gottes strahlt aus auf die weltlichen Probleme. Es leitet dort dazu an, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. In der Tradition der biblischen Prophetie soll es die Kirche öffentlich aussprechen, wo gegenwärtig das Recht gebeugt und die Würde von Menschen verletzt wird - und noch nicht einmal Strafe dafür zu erwarten ist. Hierfür ist es aber nötig, dass die Kirchen sich nicht zu eng an die jeweiligen Staatsregierungen binden, vielmehr ihnen gegenüber in jeder Hinsicht unabhängig' bleiben. Dann können sie gut ,gut' und böse ,bös' nennen. Im übrigen hängen gerade Wahrheit und Freiheit aufs engste miteinander zusammen. Hat die Kirche ein geistliches Potential für die Wahrheit, so hat sie es auch für die Freiheit.

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7. Verantwortung für die Freiheit - was ist das? Zunächst: Was ist denn Verantwortung überhaupt? Dieser Begriff ist ja offensichtlich vielschichtig. Es lassen sich m. E. vier verschiedene ,Kontexte' unterscheiden: 1. der Kontext der Schuld (man wird zur Verantwortung gezogen für Fehler) 2. der Kontext der geistigen Rechenschaft (Zeugnis ablegen, Bekennen,, Verantworten' des Glaubens 19 ) 3. der Kontext der Fürsorge (für Schwächere Verantwortung tragen) 4. der Kontext der Legitimation (wer trägt die Verantwortung, wo sitzt die Verantwortlichkeit, die legitime Amts-Zuständigkeit?) 20 Die Kirche kennt und trägt Verantwortung in allen diesen vier Kontexten. Jeweils aber ist ihre Verantwortung in diesen Kontexten auf die Freiheit bezogen. Im ersten Kontext geht es um Vergebung, Absolution und um Umkehr zur Freiheit; im zweiten muss die Kirche coram publico sagen, was ihrer Meinung nach zum Wesen echter Freiheit gehört, warum diese benötigt wird und inwiefern der christliche Glaube zu ihr hinleitet, es geht aber außerdem auch spezifisch um das befreiende Bekenntnis zu Christus, wenn falsche Hirten und Herrn die Herzen der Menschen an sich binden und versklaven; im dritten Kontext geht es um Diakonie, die aus Not befreit; im vierten um die theologisch wohlbegründete Amtsstruktur der Kirche, die auch dem Priestertum aller Gläubigen und somit der innerkirchlichen Freiheit Raum geben muss. Kirchliche Leitungsämter tragen ζ. B. Verantwortung für die .Weitergabe des Glaubens an andere', etwa in die künftigen Generationen hinein. Fast alle diese kirchlichen Verantwortungen für die Freiheit betreffen gerade nicht nur den kirchlichen Binnenraum, sondern können meistens nur im Überschreiten desselben richtig wahrgenommen werden. Das Freiheitswirken der Kirche muss jedermann' betreffen können - oder es geschieht gar nicht. Das kann nun zu Konflikten mit weltlichen Umgebungen führen, aber vor allem auch zu Synergien: Legitimierte kirchliche ,Amtsträger' können ζ. B. zeitlich begrenzte Bündnisse mit Meinungsträgern aus anderen Gesellschaftsgruppen schließen, um für die ganze Gesellschaft ethisch wertvolle Ziele zu erreichen. Das kann ζ. B. den allgemeinen Menschenrechten mehr Verbreitung verschaffen; oder mit noch mehr Nachdruck einer unmenschlichen, menschenunwürdigen Praxis der Tötung menschlichen Lebens entgegentreten lassen. Unsere Zusammenstellung der vier Kontexte von Verantwortlichkeit hat auch erkennen lassen, dass Verantwortung für die Freiheit nicht bloß als ein Gewissens-, Herzens-

19 Vgl. I Petr 3,15-17: „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedem, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, jedoch mit Sanftmut und Ehrerbietung! Und habet ein gutes Gewissen, damit die, welche euren guten Lebenswandel in Christus schmähen, zuschanden werden in dem, worin ihr verleumdet werdet." 20 Dieses hier gegebene viergliedrige Schema der Verantwortlichkeit ist inspiriert durch eine soziologische Analyse: Mieg 1994, 11 ff. Die dort dargebotene dreigliedrige Schematik habe ich ergänzt durch die oben erwähnte zweite Grundbedeutung von Verantwortung.

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oder Glaubensakt einzelner Menschen zu verstehen ist. Vielmehr bedarf sie oft einer gewissen Institutionalisierung und fester Strukturen. Sie braucht einen Rückhalt, der Kontinuität ermöglicht. Das gilt, über die Kirche hinausgehend, auch für den Staat; oder besser: über den Staat hinausgehend auch für die Kirche. Die Kirche wird schwärmerisch', wo sie sich diese Erdung und langfristige Planung nicht zugesteht. Auch diese strukturelle Befestigung dient der libertas Christiana. Da die Kirche eine Ausstrahlung in die Welt und ein Gewicht in der Welt hat, ist sie auch verantwortlich dafür, welche Folgen ihr Handeln in der Welt hat (und welche rückwirkenden Verpflichtungen ihr daraus wiederum erwachsen). Aber für beide, für Kirche und Staat, gilt gleichermaßen: Sie müssen gerade aus ihrer spezifischen Verantwortung für die Freiheit heraus auch immer wieder gegen deren bereits vollzogene Institutionalisierung ankämpfen, sofern diese ihren guten Dienst irgendwann nicht mehr leistet. In diesem Zusammenhang ist die kontinuierliche philosophische Diskussion über Gesinnungsethik und Verantwortungsethik von einigem Interesse. 21 Seit den Beiträgen von Hans Jonas zu diesem Thema ist die Einsicht gewachsen, dass ,gute Gesinnungen' und spontane Hilfeleistungen allein ethisch nicht ausreichen, wenn nicht zugleich auch Verantwortung übernommen wird für die tatsächlichen Folgen des ,gut gemeinten' und im Sinne I. Kants pflichtgemäß vollzogenen Handelns. Da dies auch für die Kirche gilt, sollte sie, auch aus diesem Grund, über langfristig verlässliche Strukturen verfügen.

8. Freiheit zwischen ,gut' und ,böse' welche Verantwortung für die Freiheit erwächst daraus? Immer wieder wird behauptet, das Böse sei nun einmal der unvermeidliche Preis der menschlichen Freiheit; wo Freiheit sei, da entstehe auch das Böse. 22 Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit. Denn erst recht ist die Unfreiheit und die Verknechtung der Menschen böse. Freiheit hingegen ist für die Menschen wünschenswert, notwendig und gut. Sie ist von Gott gewollt und darf daher keinesfalls generell als eine „Frucht der Sünde" bezeichnet werden. Sie kann auch in der Liebe gründen und dann überhaupt keine bösen Ergebnisse nach sich ziehen. Ihr ,Preis' ist durch die Liebe bereits bezahlt. Allerdings: Eine Sache ist es, sich die eigene Freiheit zu rauben durch Belastung anderer und durch Diebstahl und Grenzüberschreitung (vgl. beispielsweise des Prometheus Raub des verbotenen Feuers oder Adam und Evas Aneignung der verbotenen

21 Die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik geht auf den Philosophen Max Scheler und den Soziologen Max Weber zurück. Sie war zunächst ausgerichtet auf die Verantwortung des „Berufspolitikers" (vgl. Weber 1919). Sie wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in neuer Zuspitzung von dem Philosophen Hans Jonas wieder aufgegriffen: Wer ist verantwortlich fur die Folgen unserer Technik? (vgl. Jonas 1979). Als modernen „Kategorischen Imperativ" formulierte Jonas 1979, 36: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden." 22 Vgl. z. B. Safranski 1979, 13: „Man muss nicht den Teufel bemühen, um das Böse zu verstehen. Das Böse gehört zum Drama der menschlichen Freiheit. Es ist der Preis der Freiheit."

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Frucht; vgl. ferner Genesis 4-11). Eine andere Sache ist es, Freiheit aufzubauen und sie einzupflanzen in die Seelen der Menschen durch Liebe und stellvertretendes Tragen ihrer Lasten. Hier wird Freiheit dann zur willkommenen Gabe, zum wertvollen Geschenk. So können wir festhalten: Freiheit steht empirisch zwischen einem Geschenk der Liebe (dann gehört sie zum Guten) und dem menschlichen Drang zur Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung (der nicht böse sein muss und der menschlichen Natur entsprechen kann, aber stets in der Gefahr steht, auf Kosten anderer zu gehen und böse zu werden, was die Bibel den sündigen ,fleischlichen' Drang nennt). Die Verantwortung, die zur Freiheit hinzugehört, ist daher eine doppelte'. Sie muss sich einerseits beziehen auf die Anregung oder Ermutigung von Lebensakten, die Freiheit durch Liebe aufbauen und ermöglichen. Sie muss sich aber andererseits beziehen auf die Eindämmung der bösen, lebenszerstörenden Folgen der Freiheit. Der zuerst erwähnte Sachverhalt erfordert ζ. B. ,ein Vorbild sein' (in der Liebe), entsprechende Erziehung, ,soziales Teilen', ,Hilfen zur Selbsthilfe' sowie die Anerkennung von Menschenrechten. Der andere Sachverhalt aber erfordert (und hier ist in erster Linie der Staat im Blick) ζ. B. vorsorgende Gesetze, welche die menschliche Willkür zurückdrängen, und die Fähigkeit, darüber zu wachen, dass diese Gesetze auch eingehalten werden. Nun soll man aber nicht meinen, beide Seiten der Freiheit könnte man immer sehr leicht voneinander unterscheiden. Nicht immer wissen wir von vornherein klar und deutlich, wie im Interesse der menschlichen Freiheit richtig zu handeln ist. Das ist oft eine Gratwanderung. Keine Situation und Herausforderung gleicht der anderen. Dies unterstreicht aber nur, wie wichtig Impulse sind, wie sie vom Apostel Paulus, aber auch ζ. B. von Immanuel Kant ausgegangen sind, die es mit großer Dringlichkeit angemahnt haben, sich nicht einfach auf äußere gesellschaftliche Normen und auf staatlicher Gesetze zu verlassen, sondern die Menschen als Träger einer autonomen sittlichen Kraft zu sehen und zu erziehen. Denn im praktischen Leben ereignen sich hintereinanderweg tragisch zu nennende Zielkonflikte mit der Folge von fast unvermeidlicher Schuld. Es könnte in Extremfällen sogar als ,richtig' (und als des Segens der Kirche würdig) erscheinen, sich eine lange Zeit unrechtmäßig vorenthaltene Freiheit endlich selber zu besorgen. 23 Andererseits kann es irgendwann als untragbar und sogar als sittlich falsch erscheinen, sich mit der eigenen Liebe und grenzenlosen Hingabe immer nur von anderen ausbeuten zu lassen (und ihnen darum auch keine wirkliche Befreiung zu schenken).

23 Vor diese Konfliktsituation wurden die Kirchen der Reformation bereits in den zwanziger Jahren des 16. Jh. s gestellt beim Aufstand der unterdrückten Bauern gegen die ihnen alle Menschenrechte vorenthaltenden Adligen (.Bauernkrieg'). Die Bauern beriefen sich auf die neutestamentlichen Evangelien, denen das Gewissen der Adligen doch folgen müsste. Als aber selbst im Zusammenhang der Reformation sich bei den Adligen nicht das geringste änderte, griffen die Bauern zur Gewalt, die sie als Notwehr interpretierten. Martin Luther aber urteilte in dieser Situation über die aufständischen Bauern: Ihr besorgt euch selbst euer Recht und nehmt euch euere Freiheit mit Gewalt. Das ist wider die Bibel. Den Adligen schrieb Luther, sie müssten als Obrigkeit zur Gegengewalt greifen und solchen Aufstand niederschlagen - was dann auch geschah. Aber: Entschied Luther theologisch-ethisch richtig? Auf welcher Seite war das Recht wirklich?

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Das reale Gesicht der Freiheit birgt solche Ambivalenzen in sich. Wir verlieren zwar unsere Unschuld, wenn wir uns unsere Freiheit selbst besorgen. Aber manchmal auch, wenn wir es nicht tun. Wenn konkrete Freiheit so ambivalent sein kann, ist die Verantwortung für sie und für die Unterscheidung der Geister' (vgl. I Kor 12,10) alles andere als einfach. Wir können die richtige Handlung auch nicht immer aus unseren Traditionen heraus erkennen. Christen müssen oft in einsamem Gebet zu Christus ihre Verantwortung für die Freiheit tragen. Und auch sie werden dabei schuldig, wie es ζ. B. Dietrich Bonhoeffer und auch mancher russische christliche Märtyrer des 20. Jh.s eindrucksvoll klar gemacht haben. Allerdings können sie dann auch wieder umkehren aus der Schuld, was für sie zugleich Ausdruck und Wiedergewinnung ihrer Freiheit ist. Der Tübinger evangelische Theologe Jürgen Moltmann wies mit Recht auch noch darauf hin, dass nicht allein die ,einsame christliche Gewissensentscheidung' starker christlicher Menschen noch allein die geistliche Widerstandskraft von Bischöfen eine Quelle von neuer, wiederkehrender Freiheit sein könnten, sondern auch das gemeinsame Beten christlicher Gemeinden, in denen ein christlicher Mensch Heimat, Geborgenheit und Solidarität erfahren kann. Hierbei sei durchaus gerade an gewöhnliche' parochiale Kirchengemeinden zu denken, die oft das geistliche Kraftzentrum der ganzen Kirche bildeten. Auf jeden Fall liege auf der ganzen Gemeinde die Verantwortung der Christusnachfolge. Ohne diese Basis könne die Kirche im Ernstfall nur wenig Widerstand leisten gegen das Böse. Die Prädikate der Kirche una, sancta catholica, apostolica interpretierte Moltmann - mit Blick auf die Gemeinden - folgendermaßen: Konkret verwirklichen soll sich gerade die „Einheit in Freiheit, [die] Heiligkeit in Armut, [die] Katholizität in der Parteinahme für die Schwachen und der Apostolat im Leiden" - das seien die kirchlichen „Kennzeichen in der Welt" (Moltmann 1975, 358-361, 388; Kursivsetzung durch CG). Um das aber darstellen zu können, müssen sich auch Kirchen und Gemeinden immer wieder zur Buße bereit finden: Freiheit erwächst aus der Umkehr (Moltmann 1975, 380).

9. Die notwendige Befreiung der Freiheit"24 - theologische, philosophische und politische Aspekte in hermeneutischer Verknüpfung Die Freiheit des Menschen wird nicht nur von außen her durch ,schlechte Verhältnisse' ausgehöhlt, angegriffen und unterdrückt, sondern sie wird auch in Frage gestellt und zunichte gemacht durch den Menschen selbst aus dessen innersten Schichten heraus. Das setzt jedenfalls er staatlichen Möglichkeit, die Freiheit zu fördern und zu schützen, von vorn herein Grenzen. Außerdem: Ist denn alles, was wie Freiheit aussieht, auch wirklich Freiheit? Gibt es in Sachen ,Freiheit' nicht ständig gedankliche Selbstmissverständnisse? Ist ,liberal' gut, Liberalismus' aber bereits destruktiv? Müssen an sich ,gute' Freiheiten, wenn sie zur Gewohnheit werden, wieder grundlegend erneuert werden? Der Apostel Paulus würde das nicht nur alles bejahen, er sprach sogar davon, die Freiheit

24 Siehe hierzu die gediegene, ökumenisch umsichtige theologische Monographie: Bieler 1996.

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müsse selbst noch einmal befreit werden (vgl. Gal 5,1)! Das Sterben und die Auferstehung Jesu Christi ist fur ihn der entscheidende Quellort solcher Befreiung. In diesem Sinne konnte auch noch Karl Barth, vom „Geschenk der Freiheit" sprechen. Er erläuterte dies folgendermaßen: „Die dem Menschen geschenkte Freiheit ist die Freudigkeit, in der er Gottes Erwählung nachvollziehen und also als Mensch Gottes sein Geschöpf, sein Bundesgenosse, sein Kind sein darf." Diese Freiheit, die „nicht einfach unbegrenzte Möglichkeit, formale Majestät und Verfügungsgewalt, leere, nackte Souveränität" ist, leitet sich ab von Gottes eigener Freiheit, der „Freiheit des Vaters und des Sohnes in der Einheit des Heiligen Geistes. „Sie ist nicht in erster Linie irgend eine ,Freiheit von', sondern eine Freiheit zu und für ... ". Hingegen ist der unfreie Mensch „das Geschöpf des Nichtigen, die Missgeburt seines eigenen Hochmuts, seiner eigenen Trägheit, seiner eigenen Lüge" - der Sünde also. Der von Gott hieraus befreite Mensch ist nun nicht mehr in die Situation der Wahlfreiheit „des Herkules am Scheidewege" versetzt. Eben aus dieser Situation reißt ihn Gottes Geschenk der Freiheit heraus. „Es versetzt ihn aus dem Schein in die Wirklichkeit." Was aber „wäre das fur eine Freiheit, in der der Mensch neutral wäre", und sich sein „Entschluss ...ebenso auf das Unrecht wie auf das Recht richten könnte"? „Frei wird und ist er, indem er sich selbst in Übereinstimmung mit der Freiheit Gottes wählt, entscheidet und entschließt" (Barth 1953, 336, 338f„ 342f.). Es darf die moralische Stimme der Kirche zur sog. Welt hin heute aber nicht mehr in kommunikativen Einbahnstraßen erhoben werden. Wir benötigen eine hin- und hergehende Debatte über die Inhalte. Die hermeneutische Kunst muss erlernt werden, z. B. kirchlich-theologische und weltlich-philosophische Stimmen, insbesondere in ethischen Fragen, miteinander zu verbinden, damit sie sich wechselseitig - ohne Selbstpreisgaben verstärken und umso sicherer die nötigen Ziele erreichen. Es ist heute ohnehin nicht mehr so klar und selbstverständlich, wo die Grenzen der Kirche verlaufen, wo das ,Innen' aufhört und das ,Außen' beginnt. Aber bis zum heutigen Tage reden die Kirchen fur sich, und die anderen reden auch für sich - zur selben Sache. Die jeweiligen Gaben und Möglichkeiten fließen nicht zusammen. Das ist bedauerlich. Die Ursache dafür dürfte längst nicht allein im global sich ausdifferenziert habenden Pluralismus und Individualismus liegen, sondern eher in traditionellen wechselseitigen Berührungsängsten und Verdächtigungen. (Und daneben in einer alten ,Unangefochtenheit', die meint, nur selber ganz auf der richtigen Seite zu stehen). Die alten geschichtlichen Hypotheken im Verhältnis von philosophischer Aufklärung' und ,Kirchen' haben nun aber lange genug auf der Erde gelastet. Jetzt ist die Zeit geistiger Neuorientierungen herangekommen, der unausweichlichen Zusammenarbeit angesichts immer größer werdender globaler Probleme. Auch zwischen Theologie und Philosophie sollte ein Neubeginn erfolgen, denn deren wechselseitiges Verhältnis war nicht immer so distanziert wie heute. Beide sind in viele geschichtliche Gemeinsamkeiten verwickelt, an denen dann auch Gegensätze aufgebrochen sind. Im 20. Jh. erlebte Europa den Kulminationspunkt dieses schwierigen Verhältnisses. Bekennende Christen und human denkende Nichtglaubende konnten sich, angesichts großflächiger europäischer Rückfälle in absolute Unkultur und Unrechtmäßigkeit, manches Mal im Widerstand vereinigen. Andererseits mussten beide Kräfte auch erkennen,

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dass Teile ihrer eigenen Vorgeschichte zur jetzigen Barbarei beigetragen haben. Dieses Wissen hat beide geschwächt und für Jahre in die Beschäftigung mit sich selbst getrieben. Soll ein Neuanfang in ihrer wechselseitigen Beziehung möglich werden, so bedarf es auf beiden Seiten ,vertrauensbildender Maßnahmen' und selbstkritischer Rückblicke. Auf die Gefahr hin, aus den Lagern beider geistigen Kräfte Kritik zu ernten, will ich hier kurz ausführen, zu welcher Sicht der Dinge ich mich verstehen könnte, um eine Grundlage für ein neues Miteinander zu gewinnen. Ich will zuerst von einer (schon alten) Schwäche der christlich-kirchlichen Seite sprechen (und dabei erneut die Verantwortung für die Freiheit in den Blick nehmen): Das historische Christentum scheiterte - aus seiner Bemühung heraus, , Seelen zu retten' - sehr oft an der Aufgabe der Toleranz. Zwar geschah dies nicht immer theoretisch, aber doch sehr oft praktisch. Eine Wahrheit, die nicht aus ihm selbst gekommen ist, kann das Christentum schwer ertragen. Es sei denn, sie komme aus einer sich aufs natürliche Leben' (in der theologischen Definition des Begriffs) beschränkenden Philosophie. Das wird dann hingenommen. Das Christentum neigt, wie manche andere Religion auch, zum Absolutheitsanspruch. Andersdenkende und Andersgläubige, deren Existenz ihm immer große Angst bereitete, wurden beschimpft, ausgegrenzt, ja, an Leib und Leben beraubt. So stark und angstfrei das kirchliche Christentum auch immer wieder sein konnte im leidenden Ertragen von bösen weltlichen Mächten und Gewalten (dynameis, exousiai), die sich aufblähten als wären sie Gott, so schwach war es oft im Aushalten und Ertragen fremder Geister und Gaben (hetera pneumata bzw. charismata). An diesem Punkt wurde nun das säkulare Denken der Moderne dem kirchlichen Christentum, so wie ich es sehe, zum Gericht. Im Ergebnis üben die Kirchen heute glücklicherweise mehr Toleranz gegenüber ,anderen Wahrheitsformen' - aber sie üben immer noch. Das von der neuzeitlichen Aufklärung herkommende moderne säkulare Denken war und ist nicht von der Art, ,Vernunftkirchen' zu gründen oder geistige ,Mönchsorden'. Es gibt hier keine Gemeinschaften untereinander tief verbundener Menschen, die gemeinsam den großen Schüben des Bösen im 19. und vor allem im 20. Jh. hätten Bekenntnisgewissheit und Widerstand entgegensetzen können. Darum wurden errungene Freiheiten öfters wieder verloren; oder sie zogen sogar Unfreiheiten in einem Ausmaß nach sich, das so selbst vor der Zeit der philosophischen neuzeitlichen Aufklärung nicht bestanden hatte. Selbst glaubensunfähig, war das erkenntniskritische, aufgeklärte neuzeitliche philosophische Denken immer wieder für Formen des Aberglaubens überraschend anfällig. Es war bei aller seiner Vernunft-Macht oft machtlos dagegen, dass finstere Mächte einzogen. An dieser Stelle aber behielt die Kirche bis heute ihre Kraftquelle gläubiger Gewissheit, dass „weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn" (Rom 8,3 8f). Kann dies heute so eingestanden werden? Und kann solches Eingeständnis ein neues Kapitel im Verhältnis von Glauben und Denken eröffnen? Das würde jedenfalls der Freiheit auf der Erde einen guten Dienst leisten, da ihre Lebensnerven in tiefe Kammern

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des christlichen Glaubens und der philosophischen Vernunft hinabreichen. Es könnte die Sache der Freiheit aus alten Blockaden befreien.

10. Freiheit ist eine neue Gelegenheit zur Liebe Weil die Freiheit als ,Freiheit von' immer gewisse Fesseln der Natur oder der gesellschaftlichen Konvention und ihres Moralgesetzes abstreift, überwindet sie immer wieder das berühmte philosophische ,Reich der Notwendigkeit'. In der so erreichten Freiheit kann man mehr tun, als man muss: Man kann ζ. B. Geschenke der Liebe hergeben. Allein und ausschließlich auf diesem Wege lassen sich die sog. Übel, unter denen die Menschheit leidet, reduzieren. Die in einer über den Eros noch hinausliegenden Liebe wurzelnde Freiheit ist die eigentliche Sphäre des Menschlichen. Sie bietet eine Chance, die Welt tatsächlich verändern zu können. Die Kirche will - ihrem ganzen Selbstverständnis nach - ein Hinweis auf diese Chance sein. Sie muss das Zeichen der sakramental-eschatologischen Verwandlung der Welt sein, die aus der Inkarnation Gottes in Jesus Christus heraus in die Welt einfließt. In der zur Welt gekommenen Liebe Gottes ihre ,Nahrung' findend, wird die Kirche immer wieder ein Anstoß nachhaltiger Erneuerungen in der Welt: Empfangene Gottesliebe wird zur Freiheit in den Strukturen dieser Welt. Wo aber Freiheit entsteht, da wird sich auch wiederum die Liebe vermehren. Wenn die Kirche in ihrer Mitverantwortung für Politik und Gesellschaft versagt, wird sie nicht in erster Linie ihren politischen Kurs korrigieren müssen, sondern geistliche Fehlhaltungen in ihrem Inneren zu überwinden haben. Das gilt im Westen wie im Osten. Umgekehrt hängen geistliche Schwächen im Inneren der Kirche meistens nicht mit äußerem staatlichen Druck auf die Kirche zusammen, sondern eher damit, dass die Kirche ihr eigentliches Privileg, nämlich direkt an der Quelle der göttlichen Liebe, aus der Offenbarung, Wahrheit und Freiheit schöpfen zu dürfen, nicht gut genug genutzt hat. Die Menschen insgesamt brauchen ständig und dringend vielerlei Befreiung. Nach dem 8. Kapitel des Römerbriefs seufzen sogar alle Wesen der Natur nach ihrer Befreiung. Und mit Recht sagt man seit alter Zeit: Deo servire summa libertas.

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Über Grenzen der Selbstbestimmung

Selbst wenn wir den Gedanken der Selbstbestimmung nicht ausdrücklich machen oder gar betonen, ist er in unserem Selbstverständnis fest verankert. Zentrale Elemente unserer Lebensführung sind mit ihm verknüpft. Ohne ihn könnten wir keinerlei Begriffe von Recht, Moral oder Verantwortung ausbilden, die wir jedoch mit Blick auf die praktische Orientierung unseres Lebens für wesentlich halten. Treten wir mit entsprechenden Erwartungen und bisweilen Forderungen an Andere wie an uns selbst heran, so gehen wir davon aus, dass sie und wir unser Handeln auf die ein oder andere Art selbst bestimmen. Ansonsten wären diese Erwartungen und Forderungen ganz sinnlos. Wir würden sie ja auch nicht auf etwas richten, dem wir die grundsätzliche Fähigkeit der Selbstbestimmung nicht zuschreiben. Die Konsequenzen eines Tornados mögen für das Dasein nicht weniger Menschen verheerend sein, trotzdem würden wir ihn für das, was er „angerichtet" hat, nicht verurteilen. Vielleicht würden wir Mitarbeiter von Verwaltungen verklagen, die nicht früh genug vor diesem Unwetter gewarnt haben. Auch da, wo es um die nicht einklagbare und jenseits von Rechtfertigungsansprüchen liegende Signatur unseres persönlichen Lebens geht, machen wir den Gedanken der Selbstbestimmung geltend. Wir denken, dass wir zumindest unseren eigenen Beitrag leisten zu dem, was als Glück oder Unglück unseres individuellen Lebens erfahrbar ist. Die Stoiker haben diese Überzeugung bekanntlich dahingehend radikalisiert, dass sie beides, Glück und Unglück unseres Daseins, gänzlich in unsere eigenen Hände gegeben sahen. Auf nichts als die eigene richtige Einstellung und Haltung allen Dingen gegenüber sollte es ihnen zufolge ankommen. Und diese sei, so argumentieren sie, unter allen Umständen von uns selbst in der rechten Weise auszubilden. Die Annahme, dass wir vielleicht nicht in jeder, aber doch in entscheidender Hinsicht aus eigener Bestimmung handeln und genau deshalb für unser Tun auch zur Rechenschaft gezogen werden können, ist also offensichtlich eines der Fundamente unseres Selbstbildes. Interessanterweise sind nicht einmal diejenigen bereit, es ernsthaft aufzugeben, deren wissenschaftliche Weltanschauung dies eigentlich zwingend gebieten würde. So vertritt beispielsweise der Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz die Auffassung, dass die Idee eines freien Willens als Ursprung von Selbstbestimmung, also der Fähigkeit, sich eigene Zwecke zu setzen, mit „wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren" sei. Denn wissenschaftlich argumentieren lasse sich nur auf der Grundlage eines Determinismus, der die Akzeptanz von Vorstellungen wie Selbstbestimmung und Autonomie ausschließe. Dennoch würde er nicht daran denken, seine Kinder nicht in unserem „alltagspsychologischen System", wie er das nennt, zu sozia-

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lisieren. Sie sollen sich weiterhin „frei fühlen" dürfen und sollen versuchen, „ihr Leben so gut wie möglich zu gestalten" (Prinz 2004, 20-26). Bei diesem Befund stehen zu bleiben und zu erklären, wir hätten uns damit abzufinden, in zwei voneinander getrennten Welten zu leben, einer wissenschaftlichen und einer Alltagswelt, ist sicherlich eine argumentative Bankrotterklärung. Denn natürlich hätte Prinz von seinen Voraussetzungen her zu erklären, warum es in unserem Alltag zu einer derartig tief sitzenden, unsere Praxis in allem bestimmende Täuschung kommen kann. Dieses Problem kann uns hier jedoch nicht weiter beschäftigen. Festgehalten werden soll nur, dass wir keinen Grund haben, den Gedanken freier Selbstbestimmung aufzugeben, solange die Doktrin des Determinismus keineswegs bewiesen ist. Mit Determinismus ist hier die These gemeint, dass der gesamte Weltlauf einschließlich unserer Handlungen alternativlos ein für alle Mal fixiert ist. Zu Recht ist allerdings in interessanten Studien darauf hingewiesen worden, dass unserer Fähigkeit praktischer Selbstbestimmung schmerzliche Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Eine nähere Diskussion solcher Grenzen scheint gar nahe zu legen, die Ideen der Verantwortung, der moralischen Bewertung individuellen Handelns und zuletzt der Bestimmbarkeit dessen, was wir unser Selbst nennen, grundlegend zu überdenken. Bernard Williams hat diese Art von Untersuchungen bekanntlich unter den Titel moral luck gestellt (Williams 1981, 20-39). In seinem gleichnamigen Essay fuhrt er einige gut ausgewählte Beispiele an: die Entscheidung des Malers Paul Gauguin, seine Familie in Frankreich zurückzulassen und in die Südsee aufzubrechen, um dort seine künstlerischen Möglichkeiten zu entfalten; den Entschluss Anna Kareninas, ihren Sohn und ihren Ehemann zu verlassen und mit dem Geliebten Wronski ein neues Leben zu beginnen. Der springende Punkt in diesen Beispielen ist für Williams, dass die für uns wesentlichsten Lebensentscheidungen in den fur uns bedeutsamsten Lebenssituationen durch den Faktor der Kontingenz gekennzeichnet und von ihm nicht ablösbar sind. Daraus ergibt sich dann die Frage, inwiefern und inwieweit von Selbstbestimmung in einem strikten Sinn überhaupt die Rede sein kann. Und diese Schwierigkeit ist keine bloß akademische. Wie sollten wir jemandem ein gebrochenes Versprechen übelnehmen oder die legale Bestrafung eines Mörders gutheißen, würden wir nicht unterstellen, dass das von uns kritisierte Tun seinen Ursprung und Grund in diesen von uns adressierten Personen hat und daher zurechenbar und von ihnen zu verantworten ist? Bereits Aristoteles überlegt, dass mit dem Begriff menschlichen Handelns der Gedanke verknüpft ist, dass im Handelnden selbst der letzte Ursprung oder Grund (arche) dieser Aktivität zu suchen ist. „Der Stock bewegt den Stein und ist selbst durch die Hand bewegt, die wiederum durch den Menschen bewegt wird; im Menschen jedoch sind wir bei einem Beweger angekommen, der dies nicht aufgrund des Bewegtwerdens durch irgendetwas anderes ist" (Aristoteles, Physik VIII, 256a 6-8). Was aber Ursprung von Bewegung ist, die ja immer irgendwie gerichtete Bewegung ist, muss über die Fähigkeit verfügen, diese Richtung selbst festzulegen oder zu bestimmen - ohne von etwas anderem dazu bestimmt zu werden. Insofern muss es über die Fähigkeit zur SWZwibestimmung verfügen. Solche selbstgegebenen Orientierungen des Handelns werden Zwecke genannt. Das Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen, wird in einem nächsten Argumentationsschritt - wie ihn paradigmatisch Kant durchführt -

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dann dahingehend ausgelegt, dass es den mit diesem Vermögen Ausgestatteten notwendig zu einem Wesen mit spezifischen Rechten und Pflichten macht. Weil der Mensch als ein solches Wesen in gewissem Sinne Schöpfer ab initio ist, Schöpfer eigener Zwecke und Ziele seiner Aktivitäten, darf er beispielsweise nicht als bloßes Instrument zugunsten der Zwecke und Ziele Anderer gebraucht werden. Dies widerspräche seiner Würde als Ursprung eigener Absichten, denen gemäß er seine je besonderen Ziele verfolgt. Nun aber zu den von Williams präsentierten Fallbeispielen. Sie sind geeignet, unser Selbstverständnis als Personen, die selbstgesetzten Zwecken gemäß und in diesem Sinn frei handeln und die genau deshalb zur Verantwortung gezogen und Rechtfertigungsansprüchen unterworfen werden können, herauszufordern. Williams möchte nämlich zeigen, dass Faktoren, die gar nicht in unserer Macht stehen, den für unser Leben wichtigsten Entscheidungen und Handlungen so sehr ihren Stempel aufdrücken, dass sie in den von uns selbst und anderen angestellten Beurteilungen und Bilanzen schließlich sogar die ausschlaggebenden sind. Dann jedoch wäre es - praktisch gesehen - gar nicht sehr weit her mit dem Gedanken der Selbstbestimmung. Wir hätten uns allerdings ernsthaft zu fragen, warum wir in nahezu allen Lebensbereichen dennoch an ihm so beharrlich, wenn auch zumeist eher implizit als ausdrücklich, festhalten. Die Situation, in der sich der Maler Gauguin befindet und zu entscheiden hat, sollen wir uns Williams zufolge so vorstellen: Er fühlt, dass er sich künstlerisch nur wird weiterentwickeln können, wenn er sich von einengenden und ihn bedrückenden Lebensumständen in Paris befreit. Auf der anderen Seite lasten die verständlichen Ansprüche seiner Familie, die er dort zurücklassen würde, schwer auf ihm. Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass es sich um einen von Williams exakt so konstruierten Fall handelt, der mit den Details der tatsächlichen Lebensgeschichte Paul Gauguins nicht übereinstimmt. Wir würden natürlich zugeben, dass jeder Entschluss, den Gauguin in dieser Lage treffen wird, unweigerlich seinen Preis hat. Insofern liegt ein echter Konflikt vor. Gibt es dennoch eine Möglichkeit, diesen Konflikt anhand unbezweifelbarer Entscheidungskriterien zu lösen? Williams Punkt ist, dass gerade dies nicht möglich zu sein scheint. Es gibt Entscheidungssituationen, in denen wir gleichsam ganz ohne Geländer sind und uns ins Ungewisse hinauszuwagen haben. Weil es unleugbar unsere ureigene Entscheidung ist, die wir so oder so fällen, handelt es sich um einen Akt der Selbst- und nicht etwa von Fremdbestimmung. Gauguin sollen wir uns ja nicht etwa so denken, dass er von der Aussicht auf seine künstlerische Entwicklung weit entfernt von Europa gewissermaßen getrieben wird. Vielmehr ist er sich der mit diesem Ziel konkurrierenden Ansprüche seiner Familie - „human claims", wie Williams formuliert - klar bewusst. Und er nimmt sie ernst, auch wenn er nicht zuletzt ihnen zugunsten einer Belebung seiner künstlerischen Produktivität entfliehen möchte. Wie immer er verfährt, Gauguin wird die Verantwortung für sein Tun übernehmen müssen. Aber erst der Ausgang dieses Tuns, über den er keine Kontrolle hat, entscheidet nach Williams darüber, ob es gerechtfertigt werden kann. Diese Annahme wirkt zunächst einmal schwer nachvollziehbar. Wie soll für die Rechtfertigung unseres Handelns etwas maßgeblich sein, das gar nicht in unserer Macht steht? Wenn wir denn für unser Tun zur Verantwortung gezogen werden können - und umgekehrt - die Verantwortung auch übernehmen wollen, weil wir als die erkannt und anerkannt werden wollen, die so oder anders gehandelt haben, wie sollten wir dann auf genau

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dies, für das wir geradestehen müssen und wollen, gar keinen ausschlaggebenden Einfluss haben können? Sind all unsere Ideen der Zurechenbarkeit des Handelns, der Verantwortung fur dasselbe, des Tadels oder des Verdienstes, die sich mit ihm verknüpfen, unter dieser Voraussetzung betrachtet nicht absurd? Was Williams demgegenüber geltend macht ist, dass wir in unseren gewöhnlichen Beurteilungen eines Falles wie dem Gauguins keineswegs von den Faktoren abzusehen pflegen, über die das agierende Individuum keine Kontrolle hat. So scheint sich ein signifikanter Unterschied in der Bewertung zu ergeben, je nachdem, ob Gauguins Aufbruch ein Erfolg wird oder aber am Ende für gescheitert erklärt werden muss. Williams argumentiert, dass Gauguins Entschluss, Frau und Kinder in Europa zurückzulassen, nur zu rechtfertigen ist, wenn die erhoffte bedeutende Belebung seiner Kreativität sich tatsächlich einstellt. Williams denkt dabei sowohl an Rechtfertigungsansprüche, denen Gauguin mit Blick auf sich selbst zu genügen hat, als auch an diejenigen, die Andere legitimerweise an ihn herantragen können. Falls seine Expedition als Erfolg zu werten ist, hat er - wie Williams vorsichtig formuliert - eine „Basis" (basis), eine Grundlage für den Gedanken, dass sein Tun berechtigt (justified) war (Williams 1981, 23). Williams wählt diese schwache, tentative Formulierung, weil es seiner Überzeugung nach keine Möglichkeit gibt sicherzustellen, dass Gauguin den von seiner Entscheidung betroffenen Anderen gegenüber ultimativ würde gerechtfertigt sein können - zumindest nicht ihnen allen gegenüber. Diese Anderen behalten Williams zufolge ein nicht bestreitbares Recht, Gauguin Vorwürfe (reproaches) zu machen, insofern sie die in verschiedener Hinsicht Leidtragenden seines Entschlusses sind. Es könne von ihnen nicht verlangt werden, dass sie Gauguins Rechtfertigungen akzeptieren - selbst wenn sein Erfolg am Ende unbezweifelbar wäre. Wenn Gauguins Unternehmen jedoch nur als ein kompletter Fehlschlag gewertet werden kann, bleibt ihm nach Williams auch nicht die geringste Chance der Rechtfertigung seines Tuns. Er stünde dann sozusagen im Ganzen mit leeren Händen da - in moralischer und nichtmoralischer Beziehung. Alles, was ihm bliebe, wäre grenzenloses Bedauern (regret). Der Wunsch, doch anders gehandelt zu haben, würde übermächtig. Der wesentliche und von uns zu bedenkende Aspekt ist offensichtlich, dass retrospektive Gesichtspunkte, die zum Zeitpunkt der in Frage stehenden Handlung als Kriterien ihrer Einschätzung gar nicht zur Anwendung gebracht werden konnten, fur ihre schlussendliche moralische und nichtmoralische Beurteilung eine zentrale Rolle spielen sollen. Beachtenswert ist, dass Williams zwischen zweierlei Arten von unkalkulierbaren und in diesem Sinn kontingenten Faktoren, die aber über Erfolg oder Misserfolg des Gauguin'schen Projektes bestimmen, unterscheidet: solchen, die mit Blick auf sein Unternehmen intrinsisch sind, und solchen, die diese Qualität nicht haben. Zu den letzteren würde etwa der Fall gehören, dass Gauguin auf dem Weg nach Tahiti durch einen Unfall ums Leben kommt. Obwohl sein Vorhaben dann unzweideutig gescheitert wäre, müssten wir es dennoch laut Williams nicht schon als ungerechtfertigt betrachten. Denn ein derartiger Abbruch bliebe diesem Vorhaben gegenüber äußerlich oder extrinsisch. Anders verhielte es sich, wenn Gauguin als Maler versagte, ein Fall, der nach Williams als intrinsisches Scheitern begriffen werden müsste. Er hätte zur Folge, dass Gauguins Tun absolut nicht zu rechtfertigen wäre.

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Thomas Nagel, der auf Williams Überlegungen unter dem gleichnamigen Titel Moral Luck antwortet (Nagel 1991, 24-38), stimmt dessen Analysen weitgehend zu. Doch er präzisiert manche der von Williams ins Spiel gebrachten Argumente. Mit Blick auf das Beispiel des Williams'sehen Gauguin fragt er, ob die diskutierten Bewertungen seiner Entscheidung spezifisch moralische Probleme überhaupt tangieren. Nagel zieht in Zweifel, dass dies der Fall ist. Was Williams allenfalls gezeigt habe, sei, dass die grundlegenden Handlungsmotive und -gründe seines Gauguin nicht unbedingt moralische seien. Er habe nicht erwiesen, was das Stichwort moral luck schließlich nahe legt: dass auch Moralität in ihrem Kern dem Zufall ausgesetzt ist. Dieser Einwand ist wichtig, weil Williams sich mit seinem Versuch explizit von einer Position absetzen möchte, die dafür argumentiert, dass die menschliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung allein auf dem Feld der Moral uneingeschränkt und ,rein' zur Geltung kommt. Allein auf diesem Gebiet soll der Mensch autonom sein, das heißt: nichts als seinen ureigenen Gesetzen folgen können. Insofern würde es sich um einen Bereich handeln, in dem es keinerlei Kontingenz geben könnte. Es ist leicht zu sehen, dass es hier um Kants Konzept genuin praktischer Vernunft geht. In unserem Zusammenhang interessant ist es, weil Kant das Problem der Zufälligkeit dessen vor Augen steht, was zwar aufgrund praktischer Selbstbestimmung aus absoluter Spontaneität in die Welt gesetzt und somit Wirklichkeit wird - aber längst nicht immer den Intentionen des Handlungssubjekts gemäß Wirklichkeit wird. Überdies meint Kant, dass alle nur denkbaren Handlungsziele, für sich genommen, bei genauerer Betrachtung allein einen relativen Wert haben. Er ist jeweils bezogen auf die besonderen Neigungen eines Individuums, die ihrerseits nicht ein fur alle Mal in unabänderlicher Weise fixiert sein müssen, sondern im Laufe eines Lebens Modifikationen und auch Veränderungen ihres Stellenwertes innerhalb des Gesamtrahmens der Wünsche und Absichten einer Person durchlaufen können. In Lagen der Unsicherheit und des Konfliktes lässt sich nun für Kant gar nicht unzweideutig entscheiden, welche Wahl die angemessene und richtige ist. Wie es in einer bekannten Passage der Grundlegung über einen beliebigen Menschen heißt: „Will er Reichthum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen! Will er Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur umso schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde?" (Kant 1785, 418). Und so weiter. Dazu tritt verschärfend der schon erwähnte Umstand, dass die Realisierbarkeit unserer Absichten - selbst wenn wir definitiv wüssten, welche wir verfolgen sollten - allen Risiken der Fehlkalkulation ausgesetzt ist. Was mit Blick auf die von uns handelnd initiierten Eingriffe in den Weltlauf „herauskommt", ist für uns zuletzt unberechenbar und in diesem Sinne kontingent. Kant ist sich also des Problems der Grenzen unserer Selbstbestimmung, das Williams und andere beschäftigt, sehr bewusst. Dennoch und gerade vor diesem Hintergrund ist er überzeugt, dass es etwas gibt, das einen unbedingten Wert hat und dem auch Genüge zu tun uneingeschränkt in unserer Macht steht. Es ist dies nach Kant die Erhaltung und

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Achtung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung selber. Sie ist von absolutem Wert, weil sie das Wesen, dem sie gegeben ist, dazu befähigt, sich selbst Zwecke zu setzen, deren Verwirklichung es dann aus eigenem Willen anstrebt. Dieses Vermögen macht ein solches Wesen zu etwas, das sich selbst letzter Zweck ist. Daher ist es als Selbstzweck nicht nur einzuschätzen, sondern auch zu behandeln. Das heißt, es darf nicht als bloßes Glied in Zweck-Mittel-Relationen begriffen und mit ihm sollte nicht im Sinne eines solchen (Miss-)Verständnisses umgegangen werden. Es hat im Gegenteil Anspruch auf die Achtung seiner besonderen Verfassung, die es eben zu einem anderen Dasein disponiert, als dem, das sich in einer Funktion innerhalb von Zweck-Mittel-Gefügen erschöpfte. Kant nennt dieses „Andere" die Würde der Person, weil in ihr alle Zwecksetzungen terminieren. Kants Idee ist nun, dass es uns trotz der Kontingenz des Weltlaufs und eingedenk der Wechselfälle unserer persönlichen Umstände und Befindlichkeiten möglich ist, unserer moralischen Verpflichtung jederzeit ohne Einschränkung nachzukommen. Der gute Wille eines Menschen allein, also der Wille, der die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in der eigenen Person und der Person eines jedes anderen stets achtet, das heißt zur Bedingung seines Tuns insgesamt erhebt, ist nach Kant dafür ausschlaggebend und zugleich ausreichend. In den verschiedenen Formulierungen des Kategorischen Imperativs buchstabiert er die Verfahrensweise eines guten Willens in Gestalt von Geboten, die sich an den nicht schon von Natur aus moralkonformen Willen richten, genauer aus. In unserem Zusammenhang ist nur von Bedeutung, dass Kant das Problem der Kontingenz, welches mit jedem Realisierungsversuch unserer Absichten verbunden ist, auf dem Feld der Moral meint vermeiden zu können. Dies ist seine Überlegung: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut [...]. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht genug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und seinen Werth zu bestimmen." (Kant 1785, 394). Williams müsste Kant demnach als großer Nichtkenner auffällig werden - wobei freilich die Frage noch offen ist, ob Williams das von ihm herangezogene Beispiel der Konfliktsituation Gauguins in befriedigender Weise unter moralischen Aspekten diskutiert (was Nagel bezweifelt). Was Kant anbelangt, ist offensichtlich, dass wir seinem Dafürhalten nach in moralisch-praktischer Hinsicht wenigstens prinzipiell in vollem Umfang selbstbestimmt agieren können. Unserem Versagen vor dieser Möglichkeit widmet er manch tiefsinnige Untersuchung - unter den Stichworten der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, der fragilitas humana, sowie der Unlauterkeit und Verkehrtheit des

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menschlichen Herzens (Kant 1793, 29ff.). Wenn es sich dabei auch um Grenzen praktischer Selbstbestimmung handelt, so doch um keine grundsätzlich unüberwindbaren. Dieses Merkmal unterscheidet sie von den Grenzen, die Williams und Nagel vor Augen haben. Sollten Zufall und Kontingenz als Gegengewichte selbstbestimmten Handelns bis ins Herz dessen reichen, was wir unter seiner Zurechenbarkeit, unter Verantwortung und unter den darauf aufbauenden rechtlichen und moralischen Institutionen verstehen, müssten wir unsere Ohnmacht und Hilflosigkeit bekennen. Solche Grenzen der Selbstbestimmung wären wohl sehr viel beunruhigender als die aus Schwäche geborenen. Diese nämlich ließen sich im Prinzip bezwingen, wenn wir unserer Schwäche Herr würden, jene nicht. In letzterem Fall bliebe denn auch überhaupt kein Spielraum für teleologische Argumentationsfiguren, wie sie Kant in Teilen der zweiten und dann vor allem in der dritten Kritik entwirft, die den Verdacht der Sinnlosigkeit unseres Tuns und Treibens und unserer ganzen Existenz abfangen könnten. Zurück zum Beispiel des Dilemmas, dem sich Gauguin ausgesetzt sieht, und den Überlegungen, die Williams und Nagel dazu vortragen. In welcher Weise wird dabei spezifisch moralischen Beurteilungskriterien Rechnung getragen? Williams betont gegen Kant, dass wir Moralität nicht als den ultimativen, zentralen Wert in unserem Leben betrachten sollten. Allerdings versteht er unter Moralität nicht wie Kant die Verpflichtung gegenüber der uns gegebenen Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die es zu achten und zu schützen gilt, sondern der empiristisch-angelsächsischen Tradition gemäß eher den von sich selbst absehenden Einsatz für die Belange Anderer. Von diesem Begriff der Moral her kann Williams dann sogar argumentieren, dass ein unbedingter Vorrang des moralischen Gesichtspunkts eben die Selbstbestimmung des Einzelnen zu gefährden und zu korrumpieren droht. Denn er könnte jene identitätsstiftenden, individuell charakterbildenden und für ein Leben entscheidenden Projekte in Frage stellen, denen sich ein je besonderer Mensch verschreibt und die seinem Dasein Sinn geben - und vielleicht nicht nur seinem Dasein allein. Im Falle Gauguins wäre dies sein Künstlertum, für Anna Karenina die Liebe zu Wronski. Die Hingabe an solche Projekte kann mit moralischen Forderungen, in denen sich die berechtigten Ansprüche Anderer an uns niederschlagen, in Konflikt geraten. Dann würden zwei der wesentlichsten von einer Person gutgeheißenen Ziele miteinander konkurrieren. Wie hier im Einzelfall zu entscheiden ist, lässt sich nach Williams nicht bestimmten Prinzipien gemäß festlegen. Er sieht keinen zur Verfugung stehenden strikten Maßstab. Williams folgt den Argumentationen Nietzsches, für den sämtliche Werte lediglich relationale Qualität haben. Sie gewinnen ihr Gewicht Nietzsche zufolge allein im Ganzen eines je situativen Wertefeldes (KSA 9: 310, 579, 620; KSA 12: 188). Wenn es aber keinen fixen Orientierungsrahmen für unser Handeln gibt, auch keinen spezifisch moralischer Art, können wir uns mit solchem Handeln, in dem wir uns selbst ausdrücken und zugleich unwiderruflich etwas Neues als Wirklichkeit in die Welt bringen, niemals gleichsam auf der sicheren Seite wähnen. Darin freilich liegt keine Grenze unserer Selbstbestimmung, eher wird die mit ihr verbundene Individualität betont, die sich keiner Berechnung fügt. Wenn wir auch als rationale Wesen beanspruchen, aus Gründen zu handeln - die wir uns selbst und anderen auseinanderlegen können - , so ist dadurch nicht schon festgelegt, welchen Gründen wir folgen. Im Fall der so genannten Willensschwäche etwa handeln wir ja nicht grundlos,

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wiewohl nicht dem Grund entsprechend, den wir selbst für den besten halten. Gerade weil wir uns selbst als Ursprung unseres Tuns begreifen und auch begreifen wollen, wirkt die Einsicht in die unserer Kontrolle entzogenen Faktoren, die sich in dieses Tun einzeichnen und es zumindest mit imprägnieren, so irritierend. Mit Blick auf diese Irritation lässt sich eine bemerkenswerte Asymmetrie ausmachen. In der Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche: „Kein Sieger glaubt an den Zufall" (1882 [FW], Nr. 258). Wenn das Glück auf unserer Seite ist, dann möchten wir uns selbst allen Anteil an unserem Verdienst zuschreiben. Im Fall des Misslingens unserer Aktionen gestalten sich die Haltungen, die wir ihnen gegenüber einnehmen, komplizierter. Sie reichen von dem Wunsch, die unserem Einfluss entzogenen unglücklichen' Umstände möchten als die zentralen Ursachen der von uns nicht gewünschten Folgen unseres Handelns sichtbar gemacht werden können, bis hin zur Übernahme letzter Verantwortung da, wo nachweislich kein Versäumnis des Akteurs dazu beigetragen hat, dass sich etwas Schreckliches, vielleicht Verhängnisvolles ereignet hat. Diese zuletzt genannten Phänomene haben Williams und andere unter dem Stichwort „agent-regret" beschrieben (Williams 1981, 27ff.). Was sich zeigt, scheint die Analysen Nagels zu bestätigen, der in seinem Essay zum Problem des spezifisch moralischen Zufalls formuliert: „It is tempting in all such cases to feel that some decision must be possible, in the light of what is known at the time [of this decision], which will make reproach unsuitable no matter how things turn out. But this is not true; when someone acts in such ways [like Anna Karenina who goes off with Vronsky, like Gauguin who leaves his family] he takes his life, or his moral position, into his hands, because how things turn out determines what he has done" (Nagel 1991, 29f.). Eine Ambivalenz zwischen der Emphase, mit der wir das Gewicht unserer Fähigkeit zur Selbstbestimmung geltend machen, und der Erkenntnis, dass wir gleichwohl in unseren wichtigsten Taten von unkontrollierbaren Faktoren abhängig sind, wird sichtbar. Nagel bekennt, dass sie sich für ihn nicht auflösen lässt (Nagel 1991, 37). Doch vielleicht lässt sie sich auf eine Weise beschreiben, die unserer Existenz als endlicher, beschränkter und dennoch autonomer Wesen Rechnung trägt. Denn es ist unsere (theoretische) Unfähigkeit, sämtliche Folgen einer Handlung zutreffend vorherzusagen und einzuschätzen, die verhindert, dass unsere Intentionen jemals umstandslos verwirklicht werden könnten. Um diese Tatsache jedoch wissen wir. Daher dürfte es für uns nichts Überraschendes haben, dass unser Tun auf eine Weise Gestalt annimmt, die wir so nicht vorhergesehen und gewünscht haben. Wir können dieser mit unserem Handeln verbundenen Eigentümlichkeit, die es mit Kontingenzen aller Art imprägniert, eingedenk sein. Die Dinge können eben, gemessen an unseren Absichten und Hoffnungen, einen günstigen wie ungünstigen Verlauf nehmen. Was jedoch kann es heißen, des Faktums der theoretischen Unzulänglichkeit unserer Vernunft eingedenk zu sein? Wiederum scheinen wir an einem Punkt angelangt zu sein, der uns nach einem Grund unseres Handelns Ausschau halten lässt, der von den genannten Kontingenzen unangetastet bliebe. Können wir zumindest manche unserer wichtigsten Handlungsentscheidungen nicht an ihren zu erwartenden Folgen ausrichten - weil sie nicht sicher zu prognostizieren sind - , so finden wir uns auf davon unabhängige Maßstäbe verwiesen. Dies gilt offensichtlich nicht für technisch-praktische Operationen. Auf diesem Feld

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wagen wir es im Allgemeinen, nach den von uns berechneten Resultaten unserer Eingriffe zu verfahren - und sind im Allgemeinen erstaunlich erfolgreich. Auf dem Gebiet dessen, was Aristoteles im Gegensatz zur herstellenden Kunst der poiesis praxis nannte, dagegen verfangen diese Kalküle nicht. Es gibt einen Bereich spezifisch menschlichen Tuns, in dem es nicht um die Hervorbringung von etwas geht, das als sein Ergebnis von ihm gleichsam ablösbar wäre - wie es bei aller poiesis der Fall ist. Praxis meint ein wertvolles oder gutes Handeln, das sich selbst Endziel ist (esti gar autë hë eupraxia telos) (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140 b). Solche praxis würde deshalb als ein uneingeschränkt zurechenbarer, durch keinerlei Kontingenz verzerrter Ausdruck von Selbstbestimmung gelten können. Wenn nun argumentiert wird, dass auch solches Tun, das von niemandem als technisch-praktisches angesehen würde, erst im Lichte seiner Effekte zu bewerten ist - heißt dies nicht, zu behaupten, dass alles menschliche Tun letztendlich nur als poiesis, nur als Hervorbringung und Herstellung von etwas begriffen werden kann? Den fur uns bedeutsamsten praktischen Entscheidungen in ihren für uns nie voll absehbaren Konsequenzen käme die Qualität von Produkten zu, über die allenfalls nach dem von uns nur teilweise zu steuernden Fertigungsprozess befunden werden könnte. Es dürfte evident sein, dass die meisten von uns sich und ihre Praxis in diesem Bild unzureichend beschrieben fänden. Um ein oft zitiertes Beispiel anzuführen: Das Luther zugeschriebene Wort „Hier stehe ich, ich kann nicht anders", mit dem er sich auf die Freiheit seines Gewissens als letzten Maßstab der Orientierung und Rechtfertigung seines Handelns beruft, ließe sich unter dieser Vorgabe schlechthin nicht verstehen. Was hier reklamiert wird, ist ein Bewertungsmaßstab, der ganz unabhängig davon gilt, was sich als Folge eines an ihm ausgerichteten Tuns ergeben wird. Insofern gäbe es Kriterien der Beurteilung und Rechtfertigung des Handelns, die vom Zufall nicht tangiert werden können. Und es gäbe dann so etwas wie ultimative Verantwortlichkeit genauso wie etwas, das man den Kern einer Person nennen könnte. Harry Frankfurt diskutiert solche Fälle letzter Überzeugung unter dem Titel von Engagements, von Festlegungen (commitments), denen jemand sich aus ganzem Herzen (wholeheartedly) verschreibt und deren Wert intrinsisch ist (Frankfurt 1988a, 80-94; 1988b, 159-176). Das heißt, dass er sich nicht am Erfolg, der mit ihnen verbunden sein mag oder nicht, bemessen lässt. Unter Erfolg soll hier verstanden werden, dass die mit solchen Engagements einhergehenden Handlungsziele verwirklicht werden können - ob, wie und in welchem Grad dies der Fall ist, aber ist immer auch eine Sache der Kontingenz. Wer jedoch würde am Wert von Taten wie dem Widerstand der Männer und Frauen des 20. Juli Abstriche vornehmen wollen, weil sie gescheitert sind? Wobei unbestritten ist, dass ihr Erfolg wünschenswert gewesen wäre - und dieser Erfolg war schließlich das, was mit aller Macht und allem Einsatz erkämpft werden sollte. Wohl könnte argumentiert werden, dass verschiedene commitments, in denen sich manifestiert, woran Individuen wirklich im Tiefsten gelegen ist und was daher als Zentrum ihrer Persönlichkeit zu verstehen ist, miteinander in Konflikt geraten können. Nicht zuletzt die Erwägungen solcher Fälle lassen Autoren wie Williams und Nagel daran zweifeln, dass in situ unbedingt zu rechtfertigende Handlungsentscheidungen möglich sind: das heißt Entscheidungen, die diese Qualität auch ex post, in Kenntnis der meisten

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ihrer Folgen, nicht verlieren können. Gäbe es diese Möglichkeit hingegen, könnten wir zumindest hier von Selbstbestimmung im strikten Sinn des Wortes sprechen. Kant hat den größten Teil seiner philosophischen Anstrengungen auf dem Gebiet der praktischen Philosophie bekanntlich in den Versuch investiert, diese Möglichkeit aufzuzeigen. Kern seiner Argumentation ist, wie angedeutet, dass es die Fähigkeit zur eigenen Bestimmung oder eigenen Zwecksetzung und damit das Vermögen praktischer Freiheit selbst ist, das wir im Zweifelsfall unbedingt zu achten hätten. Was kann dies aber konkret bedeuten? Kant selbst präsentiert bis heute vieldiskutierte Beispiele, vor allem in der Grundlegung, aber auch in der ethischen Kasuistik der Metaphysik der Sitten (Kant 1785, 421-423, 429f. und 1797, 423ff.). Hier jedoch sollen die von Williams so suggestiv ausgewählten Beispiele nochmals durchgenommen werden. Hätte Kant zu ihnen etwas zu sagen, das ihre in den Augen von Williams und Nagel in situ nicht wohlbegründet zu entscheidenden Konflikte einer Lösung zuführte oder sie zumindest so aufschlüsselte, dass die im Spiel befindlichen Einsichten, Intentionen und Verantwortlichkeiten sich klar abzeichnen? Dabei hat das Beispiel Anna Kareninas den offensichtlichen Vorteil, dass es uns in sehr detaillierter Beschreibung vorliegt. Das zentrale Dilemma, in dem Anna sich befindet, ist einerseits die Liebe und Verpflichtung, die sie ihrem Sohn gegenüber verspürt, und, was die Verpflichtung angeht, zunächst auch ihrem Ehemann gegenüber, und andererseits die Liebe zu Wronski, der sie im Bewusstsein ihrer Unvereinbarkeit mit dem zuerst genannten Schwergewicht ihres Lebens schließlich nachgibt. Sehr genau und fein gestaltet Tolstoi Annas Wissen um die Unmöglichkeit einer nichttragischen Lösung dieses Konfliktes, das sie jedoch - sobald es ihr zu Bewusstsein kommt - sogleich verdrängt. Ihr Blick gewinnt dann jene Undurchdringlichkeit gegen außen, und über ihr Verhältnis zu sich und ihrem Innersten legen sich jene Schleier, die Tolstoi immer wieder erwähnt. Anna sucht es zu vermeiden, sich dem Zwiespalt ihres Lebens zu stellen. Er ist ihr gegenwärtig in Form eines komplexen Gefühls, das Freude und Erregung, Scham sowie tiefes Erschrecken einschließt. Ich zitiere nach der wunderbaren englischen Übersetzung des Romans, die Richard Pevear und Larissa Volokhonsky vor einigen Jahren vorgelegt haben. Nachdem Anna es ablehnt, die Erfüllung ihrer Liebe zu Wronski in Kategorien von Glück, von „happiness" zu sehen, gibt der Erzähler ein Bild dessen, was sie spürt, sich jedoch nicht in ein klares Verständnis übersetzen kann und will: „She felt that at that moment she could not put into words her feelings of shame, joy, and horror before this entry into a new life, and she did not want to speak of it, to trivialize this feeling with imprecise words. But later, too, the next day and the day after that, she not only found no words in which she could express all the complexity of these feelings, but was unable even to find thoughts in which she could reflect with herself on all that was in her soul. - She kept telling herself: ,Νο, I can't think about it now; later, when I'm more calm.' But this calm for reflection never came; each time the thought occurred to her of what she had done, of what would become of her and what she ought to do, horror came over her, and she drove these thoughts away. - ,Later, later', she kept saying, ,when I'm more calm'" (Tolstoi 2002, II, 11 (150)).

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Anna hat eine Entscheidung getroffen. Noch bevor sie absehen kann, wie sich ihre Beziehung zu Wronski gestalten wird, weiß sie - wie sie oft betont - dass ihr nun nur seine Liebe als sie tragender Lebenssinn bleibt (Tolstoi 2002, III, 15 (287f.) und III, 22 (316)). Sie weiß auch um deren naturgemäße Fragilität - die zudem durch ihre jetzt beschädigte gesellschaftliche Stellung auf die Probe gestellt wird. Und ebenfalls weiß sie, dass sie den unausweichlichen Preis ihrer Entscheidung nicht wird tragen und verschmerzen können: den Verlust ihres geliebten Sohnes, der ihr vom Ehemann entzogen wird. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass ihr das Kind, das sie mit Wronski zusammen hat, eigentümlich gleichgültig ist und fern steht. Zweifellos ist Annas Entschluss gut verständlich und in diesem Sinn begründet. Karenin, mit dem die sehr junge Anna nach den von Tolstoi kritisch reflektierten Ehestiftungsverfahren der Zeit verbunden wird, erstickt in ihr das, was der Autor in einem emphatischen Sinn Leben nennt. Dies Motiv durchzieht den Roman (Tolstoi 2002 III, 16 (292); I, 29f. (99-103); VII, 31 (768)). Die Passion für Wronski jedoch verspricht die Möglichkeit solchen Lebens, das erst dadurch „gerechtfertigt" scheint (Tolstoi 2002 III, 16(292)). Wie immer Anna entscheidet, wird sie einen Teil des für ihr Dasein Bedeutsamsten aufgeben müssen. Die Option, die sie schließlich wählt (interessant, wie Tolstoi ihren buchstäblich leicht-lebigen Bruder als Katalysator ins Spiel bringt), ist mit moralischen Kosten verbunden, die ihr Sohn zu entrichten hat. Tolstoi zeichnet in wenigen sparsamen Strichen das Bild eines Jungen, der durch die Entfernung der Mutter und den Umgang des Vaters mit dieser Situation Schaden nimmt. Wie in allen wirklich einschneidenden Lebenskonflikten wäre es müßig und verfehlt, nach Musterlösungen zu suchen, die es gar nicht geben kann. Zuletzt bleibt alles moralisch belangvolle Handeln an die Urteilskraft der handelnden Individuen in den je einmaligen Kontexten ihres Tuns gebunden - und kann schon deshalb niemals „ultimativ" gerechtfertigt werden. Was sollte dies heißen? Auch Kant bezieht sein Prüfverfahren bekanntlich nicht auf die spezifischen Lösungen, welche an besonderen Handlungsbeispielen studiert werden können, sondern auf Maximen von Handlungen. Damit bezieht er sich auf gegebene subjektive bzw. individuelle Willensbestimmungen, auf die zu reflektieren in Lagen der Unsicherheit und des Dilemmas moralisch geboten ist. Solche Reflexion bringt allgemeine Gesichtspunkte, genauer: die Denkmöglichkeit individueller Maximen als allgemeiner Gesetze des Handelns zum Tragen. Durch die Möglichkeit aber, das eigene vielleicht nur intuitiv deutliche Begehren und Bestreben im Medium vernünftiger, das heißt in Begriffen sich vollziehender Überlegung zu distanzieren und zu orientieren, sind die Anderen und ihre Belange bereits mit im Spiel: durch den allgemein verständlichen und damit verbindenden Charakter des mit sich zu Rate Gehens. Mit Blick auf diese Forderung aber ist Anna Karenina sprechend: Was Anna angeht, so lässt sich durchweg eine Art Reflexionsvermeidung beobachten. Dies Ausweichen nimmt ihr mehr und mehr jeden Aktionsspielraum. Am Ende fühlt sie sich Wronski ausgeliefert, in dessen ungeteilter Liebe sie das einzige Fundament ihres Daseins sieht - über das sie naturgemäß nicht verfügen kann. Alles, was ihrem Leben sonst Wert und Perspektive geben könnte, scheint zuletzt an dieses einzige Fundament unglückselig gekettet und mit seinem Entzug ebenfalls verloren. Auch an ihrem Ehemann, Karenin, lässt sich

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im Übrigen diese Vermeidungs- oder sogar Verweigerungsstrategie studieren (Tolstoi 2002 II, 8 (142-144)). Es wäre vielleicht lohnend zu untersuchen, ob sich nicht in genau diesem Punkt der Arbeit an und der Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst die wichtigste der von Tolstoi entworfenen Gegenfiguren, Lewin, der den Gedanken an den Tod als Ausweg mit Anna teilt, von ihr dennoch deutlich unterscheidet. So ist es schließlich nicht sehr überzeugend, den von Tolstoi so vernehmbar eingearbeiteten Hinweisen auf Verdrängung und Vergessen der für das eigene Handeln wichtigsten Koordinaten keine Beachtung zu schenken und Anna Karenina als ein Zeugnis für die These zu nehmen, dass die mit unserem Tun verbundenen Kontingenzen ausreichend begründete und damit unbedingt zu verantwortende Entscheidungen in situ nicht zulassen. Selbstverständlich vermögen wir es nicht, sämtliche der Folgen unserer praktischen Eingriffe in die Welt und das Leben der Anderen abzusehen; und in diesem Sinn bleibt diese Praxis jederzeit ein Wagnis. Was von uns in einschneidenden Konfliktsituationen dennoch verlangt werden kann, scheint eine aufrichtige Auseinandersetzung mit uns selbst und unseren Intentionen zu sein, so dass wir unseren Willen frei bestimmen können. Nichts anderes meint ja Selbstbestimmung. Kant präzisiert diese Anforderung dahingehend, dass wir nach den unser Handeln leitenden Maximen fragen und prüfen sollen, ob wir sie als allgemeine Gesetze unseres Handelns akzeptieren würden. In diesem Fall dürften wir sie als unbedingt verbindlich ansehen. Wir können für alle Konsequenzen, die sich aus unserem Tun ergeben, nicht einstehen, weil sie beim besten Willen nicht sämtlich in unserer Gewalt sind. Mehr als unser Handeln - wie beschrieben - an seinem Ursprung zu befestigen, vermögen wir nicht zu leisten. Entsprechend könnte Anna sich fragen: Will und sollte ich mein Leben von der Wirklichkeit der Liebe eines Partners absolut und in allem abhängig machen - eine Wirklichkeit, die auf Dauer zu stellen oder zu kontrollieren naturgemäß nicht in meine Hand gegeben ist? Will und sollte ich meinem Sohn jederzeit und unter allen Umständen als Mutter zur Seite stehen? Will und sollte ich mich einer Passion, die meinem Leben Intensität und Reichtum gibt, unbedingt überlassen, das heißt um ihretwillen von allen anderen mir wichtigen Belangen absehen? Will und sollte ich eine bestehende Familie, in die ich eingebunden bin, jederzeit und unter allen Umständen aufrechterhalten - also auch dann, wenn sie mir den Atem zum Leben nimmt? Wie immer solche Fragen von einem Individuum in einer spezifischen Situation beantwortet werden - und hier kann keine philosophische Ethik Fertigprodukte liefern - , sie ernsthaft zu stellen, ist Pflicht. Unter diesem Aspekt der Selbstprüfung betrachtet, ist Annas Ehemann, der im Roman ab und an ein „Engel" genannt wird, natürlich um nichts besser als seine Frau; in der alles entscheidenden Frage, ob er einer Scheidung zustimmen soll, setzt er auf einen mehr als dubiosen Wahrsager und Wunderheiler (Tolstoi 2002 VII, 20-22 (731-739)). Nun könnte eingewandt werden: Zwar scheint es richtig zu sein, dass in Lagen des Zwiespalts und der quälenden Konflikte die Vernunft als nicht-instrumentale, das heißt nicht je schon im Dienste bestimmter unserer Zwecke wirkende und diese somit nur noch rationalisierende, keineswegs suspendiert, sondern genutzt werden sollte. Aber müssen wir dazu in den Kategorien von praktischen Gesetzen oder unbedingt gültigen Prinzipien denken? Wo alles individuell und einmalig ist, die einschlägige Situation wie die

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involvierten Personen, welchen Wert kann dort die Orientierung am allgemein Gültigen haben - auch wenn es das Gesetz der Freiheit ist, das wir uns je selbst geben? Zu berücksichtigen ist hier, dass wir mit Blick auf die tatsächlich zentralen Fragen unseres Lebens über den Augenblick hinaus denken und entscheiden wollen - und dies gerade im Licht der in aller Regel weitreichenden Folgen. Können wir diese niemals mit Sicherheit antizipieren und damit in den Griff bekommen, so haben wir dagegen einen Zugriff auf unser eigenes Wollen. Erst dessen über einen einzelnen Moment hinausreichende Konsistenz macht aus einzelnen Fragmenten des Begehrens so etwas wie einen Willen, auf den wir selbst und Andere uns beziehen können. Nichts anderes als solche Konsistenz fordert ja im Übrigen das Kantische Moralgesetz. An diesem eigenen Willen, wie er sich in unserem Handeln äußert, wollen wir nicht zuletzt als die je besonderen Personen erkannt werden, die sich in ganz bestimmter Weise festlegen. Jene von Harry Frankfurt analysierten Engagements (commitments), denen einer sich aus ganzem Herzen (wholeheartedly) verschreibt und deren Wert für ihn daher intrinsisch ist, sind von dieser Qualität. Sehen wir nun auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen, so war es das Problem der Verantwortung für unser Tun und der begründeten Bestimmbarkeit dessen, was wir unser Selbst nennen, das in Zweifel stand. Kontingenzen aller Art und insbesondere auch moral luck schienen bis ins Herz der weitreichendsten Entscheidungen zu reichen und ihnen eine von uns selbst gerade nicht bestimmbare Signatur zu geben. Demgegenüber ist jetzt zur Geltung zu bringen: Trotz der gar nicht bestreitbaren Fülle extern gesetzter Konditionen unseres Tuns, Determinanten vielfacher Art, Kombinationen von Ereignisketten und Handlungseffekten, die wir als unberechenbare, manchmal unwahrscheinliche Zufalle wahrnehmen, bleibt uns dennoch stets ein Spielraum der Freiheit. Anders formuliert: Es bleibt stets ein Raum des noch Unbestimmten, in dem wir bestimmend tätig werden können. Zumindest einige der Ursachen für das, was aufgrund unseres Handelns Wirklichkeit wird, liegen bei uns selbst und unterliegen somit unserer Kontrolle. Dazu kommt, dass wir selbst es in der Hand haben, unserem Wollen ein bestimmtes Gesicht zu geben. Dies zusammen reicht aus, um den Gedanken der Verantwortung für unser Tun nicht aufzugeben. Und die Werte, die wir mit der Vorstellung, wenigstens auch aus eigener Bestimmung zu leben, verbinden: die auf eine offene und von uns zumindest partiell zu gestaltende Zukunft sich richtenden Lebenshoffnungen, Autonomie und Selbstbildung, Individualität und Einzigartigkeit, denen wir durch unser Handeln Ausdruck verleihen, lassen uns an der Idee der Selbstbestimmung trotz ihrer offenkundigen Grenzen festhalten.

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ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

Anthropologie alternativ. Überlegungen zu einer existenzialen Anthropologie

Das Thema einer existenzialen Anthropologie hat sich in der Nachfolge Martin Heideggers im Wesentlichen durch die vorschnelle Identifikation der Analytik des Daseins mit der Anthropologie oder durch die strikte Ablehnung solcher Versuche erschöpft. Auf eine Kombination beider Formen der Absetzung von Heidegger greift Andreas Luckner zurück. Er kritisiert die „Fundamentalontologie als Anti-Anthropologie", versucht dann aber trotz des Vorwurfs, in Heideggers Daseinsanalyse fehle eine „Bestimmung des Menschenwesens", den Nachweis, dass „eine Anthropologie im ,Haushalt' des sich um sein Sein sorgenden Daseins" eine Funktion haben könnte, da das Dasein, insofern es nach seinem Sein fragt, „eben [...] Anthropologie" betreibe (Luckner 1995,96). 1 In unmissverständlicher Eindeutigkeit hat sich Heidegger gegen Versuche gewandt, die traditionelle Anthropologie entweder schlicht durch die Daseinsanalytik zu ersetzen oder den Ertrag und die Intention der Daseinsanalytik bereits als Leistung der traditionellen Anthropologie zu erklären. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Heidegger selbst gelegentlich betont, er wolle sich nicht apodiktisch gegen die Möglichkeit einer Anthropologie überhaupt wenden, sondern nur Fehlformen ihrer traditionellen Ausprägungen vermeiden, um bei einer Neubegründung einen eigenen, bislang nicht beachteten Weg einzuschlagen. Diese Hinweise Heideggers sind in der gegenwärtigen Diskussion so gut wie vergessen; nicht so in der jahrelangen Auseinandersetzung Oskar Beckers mit Martin Heidegger. Beide streben eine interessante Version der Weiterfuhrung der husserlschen transzendentalen Phänomenologie an. In diesem Kontext bleibt für Becker das Thema der Anthropologie sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Entwicklung einer zur anthropologischen Tradition alternativen Möglichkeit existenzialer Anthropologie interessant als auch in der Intention ontologischer Schlussfolgerungen, also in der Aufnahme des alten Anspruchs der traditionellen Anthropologie, eine Fundamentalphilosophie zu erbringen. In einer Vorlesung des Sommersemesters 1956 entwickelt Becker unter dem Titel Existenz und Para-Existenz die „Grundlinien einer philosophischen Anthropologie" (vgl. Becker 1956).2 Zu diesem relativ späten Zeitpunkt nimmt er explizit das Anliegen einer existenzialen Anthropologie wieder auf, das in der Diskussion

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Heidegger selbst soll diesen Weg in die Anthropologie darum verfehlt haben, weil der für die Wesensbestimmung des Menschen unverzichtbare Rekurs auf seine Endlichkeit in der Fundamentalontologie umgangen wird, so dass es scheint, als sei das Dasein „selbst nicht auch durch Endlichkeit betroffen" (Luckner 1995, 98) Eine Transkription des Manuskripts enthält der Band Mensch - Kultur - Technik im Anhang, eine ausfuhrliche Analyse findet sich in Gethmann-Siefert 2009b.

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an Aktualität verloren hat. Heidegger selbst hat dieses Desinteresse an der existenzialen Anthropologie unwillentlich gefordert, da er in der ständigen Betonung, dass Sein und Zeit „überhaupt keine Anthropologie ist", die Beschäftigung mit diesem Thema abzulehnen scheint. 3 Eigentlich geht es ihm aber nur um die Ablehnung einer Identifikation von Anthropologie (im traditionellen Sinn) mit der Analytik des Daseins und umgekehrt. Nur wegen dieses Problems gibt Heidegger zu bedenken, man solle „das Buch [Sein und Zeit] und die Sache für eine unbestimmbare Zukunft auf sich beruhen" lassen.4 Luckner versteht diese Stellungnahme Heideggers explizit als die Behauptung, das Projekt der Daseinsanalytik sei ebenso gescheitert wie das mitangesprochene Projekt einer existenzialen Anthropologie - und dieses Verständnis scheint sich weitgehend durchgesetzt zu haben. Will man also Beckers Vorlesung und seinen Versuch, die „Grundlinien einer philosophischen Anthropologie", der sich explizit an Heideggers Daseinsanalytik orientiert, nicht als Missverständnis und sehr unzeitgemäße Rückkehr zu lange erledigten Problemen abtun, so bietet es sich an, zunächst einmal Heideggers Hinweise zu den Möglichkeiten einer existenzialen Anthropologie und zu ihrem methodischen Zuschnitt näher anzusehen, um dann Beckers Versuch, dieses Programm durchzuführen, zu prüfen. Da sich in den Überlegungen Heideggers wie Beckers einige Schwierigkeiten finden, die im Rahmen des Konzepts nicht zu umgehen sind, wird abschließend eine ebenfalls gegenwärtig kaum diskutierte Konzeption der existenzialen Anthropologie skizziert, die Wilhelm Kamiah in einer kleinen, vergriffenen und weitgehend vergessenen Schrift entwickelt hat.5

1. Methodische Hinweise zum Ansatz und zur Möglichkeit einer Anthropologie Von Heidegger ist in der Regel seine ablehnende Kritik der traditionellen Anthropologie sehr wohl präsent, nicht so die mit dieser Kritik verbundenen Hinweise auf die Möglichkeit, auf der Basis der Analysen von Sein und Zeit sozusagen als Abzweig eine Anthropologie zu entwickeln. Statt - wie Heidegger in der Abhandlung Kant und das Problem der Metaphysik betont - die Anthropologie (im traditionellen Verständnis) zur Grundlage der Ontologie, damit zu einer Fundamentalphilosophie, aufzuwerten, müsste eine „thematische existenziale Anthropologie" die in fundamentalontologischer Absicht

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Heidegger 1941/1991, 34. Vgl. dazu die Äußerung in Sein und Zeit, dass die Daseinsanalytik „vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht Biologie" liege (Heidegger 1927/1977, § 10, hier 45; im Text zit. als „SZ"). Vgl. zum Folgenden. Heidegger 1929/1991, bes. §§ 36 u. 37. Heidegger, 1941/1991,34. Kamiah 1984; den Anlass, auf Kamiah zurückzugreifen, bieten weiterfuhrende Überlegungen aus dem Umkreis der konstruktivistischen Philosophie, so Schwemmer 1997 und insbesondere der näher an dem konstruktivistischen Konzept orientierte Versuch einer kulturalistischen Wissenschaftsbegründung, die Peter Janich in explizitem Hinweis auf Überlegungen Kamlahs in seinen neueren Abhandlungen entwickelt hat (z. B. Janich 1998 u. ö.).

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durchgeführte Analytik aufgreifen und die Anthropologie als eine weiterfuhrende Auslotung der in den existenzialen Phänomenen „vorgezeichneten existenziellen Möglichkeiten", i. e. der „faktischen existenziellen Möglichkeiten" entwickeln. 6 Einen ersten Hinweis, wie ein Ansatz zu einer solchen Anthropologie denkbar ist, findet Heidegger bei Jaspers. Jaspers hat im Vorwort zur ersten Auflage der Psychologie der Weltanschauungen (1919) 7 explizit daraufhingewiesen, dass er das, „was der Mensch sei", wie Kant aus dem Blick auf das bestimmen will, „was er wesenhaft sein kann". Heidegger sieht in diesem Unternehmen die Möglichkeit einer existenzialen Anthropologie, weil Jaspers die „grundsätzliche existenzial-ontologische Bedeutung der ,Grenzsituation' " herausgearbeitet hat. Will man den vorsichtigen Hinweis korrekt gewichten, so muss man ihn mit einem weiteren Verweis auf Max Scheler verknüpfen, den Heidegger im Rahmen seiner Kritik an der traditionellen Anthropologie gibt. Besieht man die Kritik an der traditionellen Anthropologie genauer, so bezieht sie sich auf deren Anspruch, eine Fundamentalphilosophie zu sein. Unter dieser Rücksicht ist es - so Heidegger - fatal, eine an Descartes orientierte Bestimmung der Subjektivität zugrunde zu legen, d. h. die bewusstseinstheoretische Fundierung zu akzeptieren, nicht aber nach dem „Sein des so bezeichneten Seienden zu fragen" (SZ, 46). Das Sein dieses Seienden wird unterschiedslos mit dem jeglichen Naturseienden identifiziert und als „Vorhandenheit" bestimmt. 8 Neben Jaspers scheint Heidegger einzig Max Scheler die strukturelle Begrenzung der Anthropologie zu überschreiten, denn in dessen Forderung, die Person niemals „als ein Ding oder eine Substanz" zu bestimmen, sieht Heidegger einen Mittelweg zwischen der cartesischen Bestimmung des Menschen und einer strikt bewusstseinstheoretisch-abstraktiven Reduktion der Lebendigkeit. 9 Heidegger beruft sich auf Schelers Bestimmung, Person sei „die unmittelbar erlebte Einheit des Er-lebens - nicht ein nur gedachtes Ding hinter und außer dem unmittelbar Erlebten" (Scheler 1921, 243). 10 Da Scheler überdies das Sein dieser unmittelbar miterlebten Einheit des Erlebens auch von der Verdinglichung

6 Vgl. dazu Heidegger SZ, 303, 301; zur Gewichtung der Überlegungen Jaspers' 301 f., Anm. 1. 7 Heidegger bezieht sich auf die 1925 erschienene dritte Auflage dieses Werks. 8 Diese Kritik Heideggers wird in Gethmann 2009 aufgenommen; Gethmann skizziert die Erfordernisse einer entsprechend modifizierten Bestimmung der Subjektivität, die zur Grundlage der Anthropologie werden könnte (vgl. Gethmann 2009, 179 ff.). - In den folgenden Überlegungen wird die Kritik am fundamentalontologischen Anspruch der traditionellen Anthropologie nur in den Grundzügen weitergeführt, die Heidegger dazu veranlassen, einen Ansatz fur die Anthropologie in einer Bestimmung der Subjektivität zu suchen, die „den phänomenalen Bestand des Daseins [nicht] von Grund aus verfehlt" (SZ, 46). Die ausführliche Auseinandersetzung mit Kants Bestimmung der Subjektivität wird daher nur kurz gestreift. Zur ausfuhrlicheren Analyse siehe Gethmann-Siefert 2009b, 233 ff. 9 Es könnte sein, dass Heidegger hier Husserls Kritik an Dilthey im Blick hat, und analog dazu bei Jaspers wie Scheler entscheidende Problemformulierungen, aber - wie die spätere Kritik an beiden Ansätzen zeigt - noch keine zureichenden Lösungen vermutet. Auch bei Husserl gibt es zwar „wesentliche Stücke" (SZ, 47) zur Bestimmung der Personalität, die Heidegger aber in seinen Freiburger Vorlesungen kritisiert. 10 Vgl. dazu das verkürzte Zitat bei Heideger (SZ, 47).

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im Sinne eines eigenständigen psychischen Seins abgrenzt, konstatiert Heidegger eine Vermeidung der psychologisierenden Auslegung von Akten, die ebenfalls letztlich auf ein Sein im Sinne des „Vorhandenseins" ausgreife. Weiterhin greift Heidegger aus Schelers Abhandlung Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik die Überlegung auf, dass es „zum Wesen des Seins von Akten [gehört], nur im Vollzug selbst erlebt und in Reflexion gegeben zu sein" (Scheler 1921, 246, Anm. 10; vgl. SZ, 48). Durch diesen Rekurs auf den Vollzug stimmt Schelers Bestimmung der Person nach Heidegger auch mit Husserls Analyse „des reinen Bewusstseins" überein, und er erreicht wie dieser eine aussichtsreiche „Problemformulierung". Heidegger selbst nimmt zunächst diese Definition der Person, sie sei „Aktvollzieher", daher „kein Ding, keine Substanz, kein Gegenstand" (SZ, 48), zum Anlass einer Kritik sowohl der antik-christlichen als auch erneut der traditionellen Anthropologie. In diesen Ansätzen findet sich nicht einmal ein zureichendes Problembewusstsein, da „über einer Wesensbestimmung des Seienden ,Mensch' die Frage nach dessen Sein vergessen bleibt" (bzw. im Sinne des Vorhandenseins der übrigen geschaffenen Dinge ausgelegt wird; SZ, 49). Letztlich zeigt Heidegger aber schon in diesem Zusammenhang, dass auch Scheler über eine „Problemformulierung" nicht hinauskommt, denn er bestimmt nicht weiter, was seine Definition der Person für die „Seinsart der Person" (SZ, 48) erbringen könnte. Im ersten Kant-Buch setzt Heidegger sich daher nicht nur kritisch mit Scheler auseinander, sondern er sieht auch in Jaspers' Psychologie der Weltanschauungen keine Möglichkeit mehr, eine „thematische [...] existenziale [...] Anthropologie" zu entwickeln (SZ, 301-302). Eine analoge Kritik bringt Heidegger gegen die Versuche vor, die Anthropologie mit einer Naturwissenschaft, der Biologie, zu verknüpfen und sie in eine „Wissenschaft vom Leben" zu integrieren, die wiederum die eigenen ontologischen Voraussetzungen „für selbstverständlich" hält, indem sie die „Seinsart dieses Seienden, das wir selbst sind" (SZ, 50), mit allem Naturseienden identisch setzt. Sowohl bei den Vermutungen, wo sich möglicherweise aussichtsreiche Ansätze der Anthropologie finden könnten, als auch in der Auseinandersetzung mit den traditionellen Ansätzen der Anthropologie wird deutlich, dass Heideggers primäres Interesse sich auf die Kritik der unterschobenen generellen Bestimmung des Seins als „Vorhandensein" richtet. Diese Kritik bezieht sich also sowohl, wenn sie gegen die traditionelle Anthropologie gewendet wird, als auch, wenn Heidegger sie gegen Wegbereiter einer existenzialen Anthropologie vorbringt, lediglich auf den fimdamentalontologischen Anspruch. Damit möchte es möglich sein, Ansätze im Sinne Jaspers' oder Schelers als den Abzweig in eine Anthropologie auszubauen, den Heidegger explizit als sinnvolle Möglichkeit charakterisiert hat. Heidegger selbst verfolgt diesen Weg allerdings nicht, sondern setzt sich zunächst mit Kants Theorie der Subjektivität auseinander, und zwar noch unter der Frage von Sein und Zeit, ob sich dessen transzendentalphilosophische Analyse der Subjektivität möglicherweise dazu eigne, den bei Scheler vermissten ontologischen Sinn des „Vollziehens" und damit „positiv ontologisch die Seinsart der Person" (SZ, 48) zu bestimmen. In seiner Abhandlung Kant und das Problem der Metaphysik (1929/ 1991) greift Heidegger die Frage nach der Anthropologie wieder auf - letztlich erneut in fundamental-

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ontologischer Absicht, hier aber unter einem für die Anthropologie selbst spezifischen Aspekt. Diesen sieht er in der Absicht Kants (auf die sich bereits Jaspers bezog), die Anthropologie in „pragmatischer Hinsicht" zu entwickeln und den Menschen nicht allein aus dem Aktvollzug zu begreifen und auf diese Weise ein Verständnis der Subjektivität durch die Analyse des Bewusstseins zu gewinnen, sondern zugleich eine praktische Dimension des Konzepts der Subjektivität zu erreichen. Zwar schließt Heidegger die nähere Überprüfung mit der enttäuschten Bemerkung ab, dass Kants Anthropologie „in einem doppelten Sinn empirisch" (1929/1991, 132) bleibe." Diese Enttäuschung bezieht sich auf die für Heidegger leitende Absicht, eine ontologische Grundlage zu finden. Unter dieser Rücksicht nennt er Kants Versuch „missglückt" (1929/1991, 133). Er greift aber trotzdem im Paragraphen 37 des Kant-Buches die Idee einer Anthropologie als „Kenntnis all dessen, was sich bezüglich der Natur des Menschen erkunden lässt", so wieder auf, dass sie im Sinne Kants als Analyse eines handelnden Wesens durchgeführt werden soll. Wie Kant geht es ihm darum, dass der Mensch, sofern er „nicht nur als Naturwesen vorkommt, sondern handelt und schafft", auch unter moralisch-praktischer Perspektive analysiert werden solle, nämlich unter der Frage, was er „als handelnder ,aus sich macht', machen kann und soll" (1929/1991, 208). In diesem Zusammenhang wird auf die vorherigen Referenzen, nämlich Scheler, Jaspers und nun auch Dilthey wieder hingewiesen; ebenso wiederholt sich die Kritik an den divergierenden Ansätzen der Anthropologie, die der gesuchten „Idee einer philosophischen Anthropologie" im Wege stehen. 12 Heidegger schreibt Schelers Abhandlung über Die Stellung des Menschen im Kosmos nun die Aufgabe zu, die „Ausarbeitung einer Weltanschauung" im kantischen Sinne als eine Bestimmung des Gegenstands „der Philosophie ,in weltbürgerlicher Absicht' " so weiterzuführen, dass „ein Können, Sollen und Dürfen der menschlichen Vernunft in Frage" steht (1929/1991, 216). Fragt man so, dann bestimmt man die menschliche Vernunft und den Menschen selbst als „wesenhaft endlich" (ebd.). Heidegger greift diese Bestimmung der Endlichkeit für seine Daseinsanalytik auf und bestimmt das Dasein als „,Sorge' um das Endlich-sein-können" (1929/1991, 217). Im Sinne Kants, der mit der Frage nach der Reichweite der theoretischen, dem Verpflichtungscharakter der praktischen Vernunft und der Transzendenzthematisierung in der Frage nach der möglichen Hoffnung nur eine einzige Frage gestellt hat, nämlich die nach dem Menschen, will auch Heidegger seine Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-Sein entfalten. Offensichtlich geht es in der Orientierung an Kant also darum, die Möglichkeit einer Anthropologie über die bisherigen Formen und die Vielfalt der Ansätze hinaus zu einer einheitlichen Frage zusammenzuschließen und - wie schon in Sein und Zeit - diese einheitliche Frage in der Analytik des Daseins zu entwickeln.

11 Zur näheren Analyse der Schritte, die Heidegger in seinem ersten Kant-Buch hier vollzieht, vgl. Gethmann-Siefert 2009b, 233 ff. 12 Heidegger geht hier zwar explizit auf Max Scheler ein (vgl. 1929/1991, 209-210). Da er aber fast wörtlich die Anmerkung aus Sein und Zeit (SZ, 301 f.) wiederholt, die Grundstellungen als „Weltanschauungen" bezeichnet, „deren .Psychologie' das Ganze der Menschenkunde umgreift" (1929/ 1991, 208), legt sich diese Verknüpfung mit Jaspers nahe.

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Da Heidegger im Kant-Buch aber offensichtlich die fundamentalontologische Perspektive in den Vordergrund rückt, bleibt seine Kritik auch des kantischen Ansatzes negativ. Eine Weiterfuhrung der kantischen Überlegungen ist nur insoweit möglich, als sie „außerhalb des Problems einer Grundlegung der Metaphysik", d. h. unter Verzicht auf den Fundierungsanspruch zu einigen sinnvollen Aussagen gekommen sein mag. Der Hauptgesichtspunkt dieses historisch vor der Ausbildung der traditionellen Anthropologie liegenden „Fortschritts" ist für Heidegger zweifelsfrei durch den Übergang vom Bewusstsein zum Handeln bzw. Handlungsbewusstsein gegeben. Diese Dimension der Anthropologie bleibt allerdings in den vorher geprüften Versuchen Jaspers', Schelers und Diltheys unbeachtet, ebenso wie die (auch bei Kant vermisste) ontologische Fundierung. Letztlich bleibt daher die Frage offen, wie es möglich sein wird, dem Anspruch einer „thematischen existenzialen Anthropologie" in dem von Sein und Zeit herausgestellten Sinn zu genügen, so dass man die „faktischen existentiellen Möglichkeiten" menschlicher endlicher Existenz „in ihren Hauptzügen und Zusammenhängen darzustellen und nach ihrer existenzialen Struktur zu interpretieren" (SZ, 301) vermag. Heidegger selbst stellt uns hier vor zwei Fragen bzw. Anforderungen, nämlich einmal die durch den kantischen Ansatz ermöglichte Überwindung des Bewusstseinsansatzes der Phänomenologie im Blick zu behalten, damit den Bezug auf den Menschen als handelndes Wesen zu berücksichtigen und zugleich eine „thematische existenziale Anthropologie" zu entwickeln. Heidegger selbst vollzieht den Schritt, der hier erforderlich wird, nämlich die fehlenden methodischen Grundlagen der Anthropologie durch deren Kombination mit der Daseinsanalyse bereitzustellen, nicht. Der Grund dafür ist eher in Heideggers primärem Interesse, der fundamentalphilosophischen Absicht, zu sehen als in einem Desinteresse an der Anthropologie. Auch die Kritik der vorliegenden Ansätze zur Anthropologie ergibt sich zunächst als Nebenprodukt dieser Überprüfungsabsicht der fiindamentalphilosophischen Ansprüche, die die Anthropologie zur ersten und grundlegenden Philosophie erheben würde. Dennoch schließt Heidegger das Projekt einer Anthropologie nicht grundsätzlich aus, sondern eröffnet mit seinen Überlegungen durchaus die Möglichkeit, einen Abzweig der Analysen von Sein und Zeit im Sinne einer inhaltlichen Auszeichnung der existentiellen Möglichkeiten des Daseins zu entwickeln und auf diese Weise zu einer Anthropologie zu gelangen. Diesen Abzweig wird Oskar Becker ausgestalten, und zwar so, dass er sich in Heideggers Sinn von der traditionellen Anthropologie Gehlens oder Plessners, aber auch Schelers absetzt und die Daseinsanalytik Heideggers im Sinne der „Grundlinien einer philosophischen Anthropologie" weiterführt. 13

13 Man könnte Versuche dieser Weiterführung auch in der Diskussion Heideggers mit der Theologie vermuten, hier vor allen Dingen in den Überlegungen Bultmanns, der für die Grundlegung der Theologie eine Konzeption der endlichen Existenz entwickelt und insbesondere im Sinne der dritten kantischen Frage, was der Mensch als vernünftiges und unter Verpflichtungen stehendes Wesen hoffen darf, weiterführt. Da die hier entwickelte „existenziale Anthropologie" aber sehr eng auf die theologische Fragestellung zugeschnitten ist, ergibt sich zwischen Heideggers Kritik in Sein und Zeit, den von ihm markierten Fehlversuchen und der nun angeführten Vorlesung Beckers eigentlich eine Lücke von einigen Jahrzehnten im Projekt der existenzialen Anthropologie. - Vgl. die

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2. Die „Grundlinien einer philosophischen Anthropologie" Oskar Becker hat gut 30 Jahre nach Heidegger in einer Vorlesung Thema und Absicht der heideggerschen Überlegungen wieder aufgenommen. Dies beides spiegelt sich im Titel der Vorlesung, nämlich in der Kombination des Titels „Existenz und Para-Existenz", der Beckers Absicht einer Weiterfìihrung der Ontologie anzeigt, und im Untertitel, der die Entwicklung der „Grundlinien einer philosophischen Anthropologie" verspricht. 14 Becker orientiert sich in der Entwicklung inhaltlicher Bestimmungen des menschlichen Daseins nicht nur ausdrücklich an Heideggers Daseinsanalytik, er geht in einigen Punkten auch zu einer Kombination des frühen Ansatzes mit späteren Reflexionen Heideggers über. Dennoch beansprucht er, den Abzweig in die Anthropologie im Sinne von Sein und Zeit zu vollziehen, also die nähere Auszeichnung der existentiellen Möglichkeiten des Daseins zu entwickeln. Wie der Haupttitel der Vorlesung zeigt, will er auf diese Weise zunächst eine Anthropologie entwickeln, aber auch den Anspruch der Anthropologie im heideggerschen Sinn wieder aufgreifen, dass durch die Auslegung des Daseins eine Ontologie zu entwickeln ist. Becker unterstellt seinen „Grundriss einer philosophischen Anthropologie" also dem Anspruch, den nach Heidegger die traditionelle Anthropologie zwar erhoben, aber nicht eingelöst hat. Ebenfalls greift er die in Heideggers Kant-Buch angezielte Idee einer philosophischen Anthropologie auf und entwickelt sie im Sinne Kants als ein „Studium unserer inneren Natur" bzw. als die Frage nach der „Endlichkeit im Menschen" (Kant 1781/1956, A 703/B 731). 15 Eine nähere Analyse der Notizen zur Vorlesung steht unter der Frage, inwieweit Becker auch die von Heidegger für zentral gehaltene Kombination von Wissen und Handeln, also die Überwindung des bewusstseinsphänomenologischen Ansatzes im Blick behält. Durch die Konzentration auf die Frage nach der Möglichkeit einer existenzialen Anthropologie wird in den folgenden Überlegungen Beckers ontologische Konsequenz, nämlich die über Heidegger hinausweisende Bestimmung der Seinsweise des Daseins, nur jeweils mitangedeutet. Entscheidend ist der von Heidegger übernommene Gedanke, das Wesen des Menschen liege in seiner „Existenz". 16 In den Notizen zur Vorlesung Beckers findet sich eine Reihe von Parallelen zu Heideggers Überlegungen. So setzt Becker sich (wie Heidegger im § 10 von Sein und Zeit) nähere Analyse der existenzialen Theologie Bultmanns bei Gethmann-Siefert 2009b, 238 ff; vgl. Gethmann-Siefert 1974, bes. 140 ff. 14 Der Text der Vorlesung wird im Anhang des schon genannten Bandes Kultur - Mensch - Technik veröffentlicht. 15 Zur entsprechenden Interpretation Heideggers vgl. Heidegger 1929/1991, 217-218; in dieser Abhandlung s. o. 5 f. 16 Zur Kombination des anthropologischen und ontologischen Anspruches bei Oskar Becker vgl. im Einzelnen Gethmann-Siefert 2009b, 241, 245 ff., bes. 250 ff. (die ontologische Dimension der Existenz-Vollzugsanalyse). Becker betont dieses ontologische Interesse ausdrücklich, und zwar bereits zu Beginn der Vorlesung, wo er den Untertitel als „Notbehelf' charakterisiert, um seine Überlegungen zur „Existenz" und „Para-Existenz" verständlicher zu machen. Da er diesen Notbehelf im Zuge der Vorlesung aber im Sinne einer existenzialen Anthropologie ausbaut, mag es berechtigt sein, diese Perspektive in den Vordergrund zu rücken.

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von allen bisherigen Formen der Anthropologie ab, um sein Konzept „frei [zu] machen von der erdrückenden Tradition der Wissenschaften und auch der klassischen (und mittelalterlichen) Philosophie" (Becker 1956, 5). Ebenfalls betont er, die philosophische Anthropologie müsse eine grundlegende Einheit aufweisen und könne nicht von dem „Einzelhaften am Menschen" ausgehend bestimmt werden oder sich gar als „eine Art ,Synthese' des Einzelwissens der Einzelwissenschaften" verstehen (ebd., 8). Insbesondere die Berufung auf die Einzelwissenschaften, die für die traditionelle Anthropologie charakteristisch ist, wird scharf attackiert, denn die Wissenschaften können für die Philosophie kein zureichendes Fundament liefern. „Eine Philosophie, die sich auf die Einzelwissenschaften verließe, ist insofern ,verraten und verkauft'. So auch die philosophische Anthropologie." (ebd., 9) Bei der Kritik der einzelwissenschaftlichen Zugänge und in der Frage, wie man die Anthropologie davor bewahren könne, ihr eigenes Anliegen zu verfehlen, verweist Becker zwar nicht auf Heidegger, sondern auf Husserls Forderung einer „streng methodischen Begründung" (ebd., 8) unter ausdrücklichem Verweis auf Husserls Ideen von 1913. Husserls Gedanke der epochë wird zur Forderung der „Ausschaltung, Einklammerung", zum Verbot, „Gebrauch [zu] machen von wissenschaftlichen Hinsichten" (Becker 1956, 6). Auch in der spezifischen Bestimmung der Aufgabe bzw. des problem-Ansatzes" orientiert sich Becker einerseits am Methodenideal Husserls, geht andererseits aber auf Heideggers Analyse des Existenz-Vollzuges ein, die ihrerseits dann das „Fundament" der Wissenschaften vom Menschen liefern soll.17 Für Becker herrscht zwischen Existenzanalyse und Anthropologie als Wesensbestimmung des Menschen eine sehr viel engere Verbindung als bei Heidegger. 18 Da er versucht, die Überlegungen der frühen Schriften Heideggers mit seinen späteren zu verknüpfen, kann er beispielsweise das Dasein so bestimmen, dass seine Analytik „den Menschen [...] als das Wesen [ausweist], in dem sich das Sein lichtet und damit zum Da-sein wird" (Becker 1956, 5). Den banal scheinenden etymologischen Verweis auf die Tatsache, dass „wesen" wie „dasein" als Verba einen Vollzug bzw. unterschiedliche Vollzugsweisen charakterisieren, nutzt Becker, um sein Konzept von der traditionellen Anthropologie abzusetzen. Philosophische Anthropologie beschränkt sich nicht auf die 17 Die Verknüpfung der Analyse des Existenz-Vollzuges mit einem Konzept des Handelns bzw. mit dem später von Heidegger reklamierten Anliegen, durch sie zugleich eine Ethik zu begründen, findet sich bei Becker in einer um diese Zeit entworfenen Abhandlung mit dem Titel Grundprobleme existenzialen Denkens (Becker 2008). In Kombination des frühen heideggerschen Ansatzes, offensichtlich auch unter Kenntnis von dessen Aristoteles-Interpretation, fundiert Becker die angestrebte Ethik durch eine Analyse der „Haltung". Es wird abschließlich zu fragen sein, ob und wieweit dadurch der von Heidegger reklamierte Handlungskontext der Anthropologie erhalten bleibt. 18 In der Vorlesung redet Becker von Heideggers Philosophie als der „sog. ,Existenzphilosophie'", will aber durch die Verknüpfung der frühen Überlegungen Heideggers mit späteren - wie sich inhaltlich zeigen wird - eine Analytik der Faktizität entwickeln, die sich zugleich in ontologischer Perspektive ausdeuten, ja über Heidegger hinausführen lassen soll. Die Rechtfertigung dafür, dass die existenziale Analyse mit der Wesensbestimmung verknüpft wird, findet Becker bei Heidegger selbst in dessen These, das Wesen des Daseins liege in seiner Existenz; daher redet er auch häufig davon, die existenziale Bestimmung des Daseins mit der Wesensbestimmung zu verknüpfen.

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Erhebung einer Summe von Eigenschaften, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden. 19 Eine weitere Fehlform der Anthropologie hält sich in der philosophischen Tradition durch, nämlich die Bestimmung des Menschen als Substanz mit spezifizierenden Eigenschaften. Wenn man beide Konzepte aufgibt, lassen sich - so Becker aus der philosophischen Tradition, sowohl der platonischen, der aristotelischen Deutung des Menschen ebenso wie bei Kant und Schopenhauer durch die Konzeption praktischer Vernunft oder der Freiheit Überlegungen gewinnen, die den Menschen als handelndes Wesen deuten und von der statischen Deutung („operari sequitur esse"; ebd., 15) abgehen. Wichtig für Becker ist die hier thematisierte Gegenläufigkeit oder Doppelpoligkeit menschlicher Selbsterfahrung, nämlich die Erfahrung der Sterblichkeit und die Erfahrung, „unsterblich zu sein" (ebd., 20). Besonders interessant erscheint ihm, dass eine Kombination der aristotelischen Definition des Menschen als zoon logon echón mit einer noch platonistisch gefärbten Form der theoria es erlauben könnte, dem „eigentümliche[n] Phänomen des ,Zeitflusses'" (ebd., 15) auf die Spur zu kommen. Dennoch fuhrt er selbst „den sich hier eröffnenden Weg" (ebd., 24) nicht weiter. Der alternative Weg, den er einschlägt, geht über eine Erweiterung der bereits bei Husserl (im „Bewusstseinsstrom") gewonnenen „feinsinnigen Analyse" des Zeitbewusstseins. Geht man diesen Hinweisen nach, so gewinnt man durch konsequente Weiterfuhrung eine Bestimmung der „eigentliche[n] Geschichtlichkeit (ebd., 25). Für diese alternative Orientierung bietet Heidegger den Leitfaden, der bereits in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1920 „in der urchristlichen Religiosität ein [...] perfektes Modell eines durchgeführten (echten) faktischen Lebens" analysiert hat und ebenso in einem Kolleg aus dem Sommersemester 1950 über Deutsche Existenz-Philosophie „auf das faktische Leben und die Faktizität des Lebens (Daseins)" eingegangen ist mit der These, die Faktizität liege „im Vollzug" (Becker 1956, 27). 20 In Heideggers an der christlichen Religiosität gewonnenen „perfekten Modellefn] eines durchgeführten faktischen Lebens" entdeckt Becker zugleich einen anthropologischen Entwurf und die korrekte Durchführung der Analyse der Existenz. Diese ist Vollzugsanalyse in dem Sinne, dass man „den Menschen selbst als den Lebenszusammenhang" unterschiedlicher Lebensbilder, das faktische Leben als einen „Vollzugs-Bezug" und den unterstellten Sinn von Sein als den „ Vollzugssinn dieses Vollzuges" bestimmt. Auf diese Weise gewinnt Becker die Möglichkeit, „Vollzugsgeschichte" (Diltheys Lebens-

19 Die Vorlesungsnotizen weisen aus, dass Becker hier sowohl Sein und Zeit, §§ 15-21, Heideggers Holzwege, seine Abhandlungen Der Ursprung des Kunstwerkes oder Das Ding miteinander verknüpft. Der Sinn dieser Kombination liegt für ihn darin, Heideggers Kritik an der traditionellen Anthropologie noch einmal aus anderer Perspektive zu stützen. Im Folgenden greift er zudem auf Heideggers Einführung in die Metaphysik (1953) sowie ausfuhrlich auf die Wesensbestimmung in der philosophischen Tradition (Piaton, Aristoteles, Kant, Schelling und Schopenhauer) zurück. 20 Der Hinweis auf das Kolleg von 1950 lässt sich in der Gesamtausgabe nicht verifizieren. Die von Becker zitierte Stelle könnte sich auf eine eigene Mitschrift beziehen. Becker selbst bekräftigt seine Überlegung noch durch den Hinweis, dass Heidegger durch diese Analyse der Faktizität zu Recht beanspruche, Ontologie als „Hermeneutik der Faktizität" durchzuführen, so in der Vorlesung im SS 1923 (vgl. Becker 1956, 30).

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ström, Husserls Bewusstseinsstrom) durch die Analyse der Existenz qua Vollzug zu fundieren. Er geht hier allerdings wieder auf ein husserlsches Konzept der Phänomenologie zurück, was letztendlich für seine Anthropologie entscheidend sein wird, wenn er betont, Bewusstseinsakte werden von jemandem vollzogen, so dass sich über „Gehaltssinn und seinen Vollzugssinn" (Becker 1956, 26) das Phänomen des geschichtlichen ExistenzVollzuges auslegen lässt. Diese Auslegung der Existenz bzw. des Daseins als „Vollzugsgeschichte" (ebd.) bietet für Becker dann das Sprungbrett zum Thema seiner Vorlesung, nämlich zur ontologischen Fundierung des Existenz-Vollzuges. 21 In Anlehnung an Heidegger versucht Becker einen anderen Zugang zur Anthropologie zu gewinnen, der die Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Begründung und der metaphysischen Auslegung der Anthropologie vermeidet. Er schließt sich damit an Forderungen seines philosophischen Umkreises, etwa Rothackers, an und vermeidet die von Husserl herausgestellte Schwierigkeit einer empirisch-psychologischen Ausdeutung der „Selbstkonstitution", auch wenn er die Konstitutionsleistung des transzendentalen Ego auf habituelle, also der konkreten geschichtlichen Subjektivität zugehörige Eigenheiten hin entwirft. Die aus Heideggers Analyse der Sorge-Struktur übernommene Reformulierung des Selbstbezuges bzw. der Selbstkonstitution verknüpft Becker mit der Bestimmung der „Befindlichkeit" und erreicht so - wie er in der Vorlesung anführt - die „Verortungsweisen des ,Da-seins' " (ebd., 32). In all dem entwickelt Becker eine Auslegung der heideggerschen These, das Wesen bzw. „die Substanz des Menschen [sei] ... die Existenz" (SZ, 117). Seine Auslegung der Existenz durch eine Vollzugsgeschichte macht plausibel, warum in der Existenzanalyse die eigentliche und grundlegende Anthropologie entwickelt werden kann. In eigentlich ontologischer Absicht, aber eben auch anthropologiebegründend, will Becker Heideggers Bestimmung des Existenz-Vollzuges als „geworfenen E n t w u r f oder „befindliches Verstehen" erweitern. Der Vollzug des faktischen Lebens ist durch eine weitere Besonderheit geprägt, nämlich durch eine Form nicht nur des Da-seins, sondern auch des Da-wesens. Die heideggersche Existenzform der „Geworfenheit" wird ergänzt durch ein Konzept des Getragenseins bzw. der Getragenheit. Von daher gewinnt Becker eine Neubestimmung menschlicher Zeitlichkeit: ihre Charakteristik als Geschichtlichkeit oder als Gegenwärtigkeit. Strukturell stehen sich Geworfenheit und Entwurf bzw. Getragenheit gegenüber, so dass die Zeitmodi Gewesenheit und Zukünftigkeit durch den Modus der Gegenwärtigkeit ergänzt werden. 22 Diese Erweiterung nimmt Becker vor, um seinen Anspruch zu begründen, dass es ihm darum geht, in der Anthropologie „einen anderen [Weg] einschlagen zu können (Becker 1956, 24) als die traditionelle oder metaphysische Anthropologie, nämlich den Weg über eine Analyse der Existenz als des faktisch-geschichtlichen Lebensvollzuges und der Entwicklung einer „Vollzugsgeschichte", die über Heideggers Form der Geschichtlichkeit eine weitere Dimension des Existenzvollzuges, nämlich neben dem Da-sein das Da-wesen einführt. 21 Diese Dimension der Überlegungen zur Anthropologie wird im Folgenden ausgespart; vgl. dazu Gethmann-Siefert 2009b, 250 ff. 22 Die ontologischen Konsequenzen insbesondere auch des Zeitbegriffes analysiert Jochen Sattler in seiner Arbeit über Phänomenologie und Ontologie bei Oskar Becker (Sattler 2008).

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3. Existenziale Anthropologie als Alternative Die weiterfuhrende Bestimmung menschlicher Zeitlichkeit entnimmt Becker seiner Auseinandersetzung mit der philosophischen, und zwar der metaphysischen Tradition. Um sie für seine Analyse des faktischen Lebens als „Vollzugsgeschichte" fruchtbar zu machen, bleibt letztlich nur die formale Einsicht in die „Doppelpoligkeit" des Menschen relevant. Menschliche Existenz, deren Analyse die Wesensbestimmung des Menschen ergeben soll, lässt sich nur als „Spannung zwischen [zwei] ... ,Polen'" (Becker 1956, 23) verstehen, denn bereits der Vollzug des faktischen Lebens lässt sich nicht eindeutig als Kontingenz im Sinne der Geworfenheit bestimmen, sondern verweist zugleich auf eine weitere ontologische Bedingung des menschlichen Selbstverständnisses. Es ist der Ausgriff auf Göttlichkeit bzw. Unsterblichkeit, durch den die Kontingenz allererst - und zwar im Kontrast - erfahrbar wird. In kritischer Absetzung von Heidegger meint Becker daher, dass die Existenzerhellung nicht allein aus dem Gegenspiel von Mächtigkeit und Nichtigkeit gewonnen werden kann (also im Sinne einer Auslegung des Daseins als geworfenen Entwurfs), sondern erst durch eine Kombination dieses Ansatzes mit späteren Überlegungen Heideggers zur Geschichtlichkeit bzw. zum Geschick. In der faktischen Existenz erfährt sich der Mensch sowohl als geworfen als auch als vorgängig gesichert; beides, die Spannung von Geworfenheit und Entwurf sowie der Gegenpol der sogenannten „Para-Existenz", ergibt sich aus einer Analyse der Existenz-Vollzugsgeschichte. Nur durch diese Dimension des Ermöglichtseins als Fundierung der Geworfenheit und der Abgründigkeit der Existenz lässt sich die Analyse des Daseins, sc. der Existenz, als Wesensbestimmung im vollen Sinn erschießen. Becker führt für die ontologische Charakteristik dieses wesentlichen Daseins den Begriff des „Getragenseins" ein, das er im Sinne des späten Heidegger als eine Art Zuspiel, eine Einheit von Geschichtlichkeit und Geschick deutet. In einer Analyse paradigmatischer Existenz-Vollzüge, nämlich der Existenzform des Philosophen wie des Künstlers, bestimmt Becker diese Doppelpoligkeit menschlichen Wesens genauer.23 Die exemplarischen Existenz-Vollzüge des Künstlers bzw. des Philosophen zeichnen sich dadurch aus, dass sie als faktische bereits in dem Sinn „eigentlich" sind, dass sie ihre eigenen Bedingungen des Lebensvollzuges selbst mit im Blick haben. Die Charakteristik des Existenz-Vollzuges des Künstlers, die Becker als „Abenteuerlichkeit" bestimmt, will darauf verweisen, dass sich in diesem Existenz-Vollzug Formen eigentlicher Existenz und uneigentlichen Da-wesens verknüpfen. Das Vollzugsresultat, das Kunstwerk, zeigt (im phänomenologischen Sinn) das Zusammenspiel von Getragenheit und Geworfenheit. Auch in der Charakteristik der philosophischen Existenz geht Becker auf das Ergebnis solchen Existierens ein und definiert die Existenzweise, die „Eigenart des Philosophen" als die Existenz „des eine Metasprache [...] Sprechenden" (Becker 23 Diese exemplarischen Existenz-Vollzugsweisen hat Becker nicht nur dem Ende seiner Vorlesung, damit als Abschluss seines Grundrisses der Anthropologie, er hat sie vorab auch in eigenen kleineren Abhandlungen analysiert (vgl. Becker 1963a und 1963b). Zur Interpretation siehe u. a. Gethmann-Siefert 2002, 187-226.

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1956, 40). 24 Offensichtlich liegt das Wagnis, die „Verwegenheit" des Philosophen im Rückgriff auf existentiell missverstehbare endliche Vollzüge, an denen aber die strukturelle Form der Sinnsetzung verdeutlicht werden muss. Becker spielt hier offensichtlich auf die Probleme der „formalen Anzeige" an und die Kritik an Heidegger, dass dieser unausgewiesenerweise inhaltlich definierte faktische Existenzmöglichkeiten (genauer genommen theologisch eingefärbte Konzepte) mit strukturellen Deutungen vermischt. In seiner Analyse exemplarischer Existenz-Vollzüge will Becker offensichtlich zugleich zeigen, dass diese Kritik ungerechtfertigt ist, da die Heidegger vorgehaltene Konfirndation sich vermeiden lässt. Die methodische Verwegenheit des Philosophen liegt im Wagnis einer letztlich anthropologisch-inhaltlich auszugestaltenden Existenzanalyse und ihrer Deutung als „formale Anzeige" ontologischer Voraussetzungen. Über Heidegger hinausgehend - dies zeigt Beckers Aufsatz über die „vorsichtige Verwegenheit des Philosophen" - liegt diese darin, dass der Philosoph sich auf den Charakter von Entwurf und Geworfenheit konzentriert und gleichwohl die Dimension des „Da-wesens" mitsetzt. Die Überlegungen in der Anthropologie-Vorlesung lassen sich durch eine weitere Charakteristik eines faktischen Lebensvollzuges ergänzen, den Becker in der Abhandlung über Größe und Grenze der mathematischen Denkweise im Jahr 1959 entwickelt hat. Es ist die Existenzweise des Wissenschaftlers, die nach Becker durch den „Verzicht" auf die Wesensanalyse geprägt ist und nur durch diesen Verzicht zur Fundierung des Wissens wie des technischen Handelns gelangt. Mit Heidegger: Da der Wissenschaftler die Welt nur in einem bestimmten - nach Becker dem „Bezugssinn" - auslegt, erschließt er Seiendes als Vorhandenes, oder, in kosmologischer Dimension gesehen, er erschließt die Natur als „Kristall". Diese Existenzweise des Wissenschaftlers geht einher mit einer „Verarmung" der Existenz, dem Verlust des Welt-Verhältnisses im Vollsinn, das sich nur in der eigens auf eine Wesenserschließung gerichteten Vollzugsweise (Künstler bzw. Philosoph) gewinnen lässt. In Ergänzung der knappen Überlegungen in den „Grundlinien der philosophischen Anthropologie" kann man alle drei Existenz-Vollzugsweisen als Exempel der Wesensbestimmung des Menschen aus der Analyse von Existenz-Vollzugsmöglichkeiten deuten. Denn alle drei erlauben die Durchsichtigkeit des ontischen Existenz-Vollzuges auf dessen ontologische Fundierung. Um eine existenziale Anthropologie zu begründen, müsste Becker die exemplarischen Existenz-Vollzugsweisen als wesentliche Formen des Menschseins ausweisen, als Formen des Seinsvollzugs einerseits und andererseits als inhaltliche Weiterführung zu Bestimmungen der faktischen Existenz. Überdies müsste diese Analyse dem Anspruch einer vollständigen Erschließung genügen. Für die beiden Formen faktischer Existenz, die Vollzugsform der „Abenteuerlichkeit", die den Künstler definiert, und die „vorsichtige Verwegenheit" des Philosophen beansprucht Becker in der Tat, das „Wesen des Menschen" (Becker 1956, 39) als das Zusammenspiel von „ursprünglichem Da-sein und

24 Eine weiterführende Analyse geben die genannten Abhandlungen; die für eine existenziale Anthropologie relevanten Gesichtspunkte fasst Becker allerdings in der Vorlesung zusammen; s. o. Anm. 2.

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ursprünglichem Da-wesen" (ebd., 37) bestimmt zu haben. 25 Nimmt man diesen Anspruch ernst, so sind die Formen faktisch vollzogener Existenz Thema und Resultat der existenzialen Anthropologie, d. h. sie leisten eine Wesensbestimmung des Menschen, die sich im Existenz-Vollzug qua Selbst- und Welt-Vollzug manifestiert. Prüft man Beckers Anthropologie im Blick auf die von Heidegger an eine existenziale Anthropologie gestellten Anforderungen, so zeigt sich, dass in der inhaltlichen Bestimmung der beiden exemplarischen Existenz-Vollzüge (Künstler wie Philosoph) eine für Heidegger und anfangs auch für Becker maßgebliche Dimension verloren geht. Zwar will Becker nicht wie Husserl Bewusstseinsphänomenologie betreiben, sondern eine phänomenologische Auslegung des bewussten Lebensvollzuges (d. h. eine Auslegung auf seine ontologischen Voraussetzungen und damit auf die notwendige Fundierung der Anthropologie hin). Der für eine solche Deutung konstitutive Bezug auf das Handeln wird aber nur in den Überlegungen zur Größe und Grenze der mathematischen Denkweise, in der Deutung des faktischen Lebensvollzuges des Wissenschaftlers gewahrt. Das Wissen des Wissenschaftlers wird verständlich aus seinem Zweck, dem Herrschenwollen; Wissen ist auf technisches Handeln angelegt. Die heroische Durchsetzung dieses „Verzichtes" auf eine Wesenseinsicht zugunsten des Bezugssinns (hier des Bezugssinns auf Handeln) bringt zwar eine „Verarmung" der Existenz mit sich, lässt den bewussten Lebensvollzug aber noch als Einheit von Wissen und Handeln erfahrbar werden. Dieser Konnex zum Handeln geht in den Analysen der exemplarischen ExistenzVollzugsweisen des Künstlers wie des Philosophen verloren, obwohl sich das Resultat künstlerischen Existenzvollzuges, das Kunstwerk, in diesem Sinne hätte deuten lassen. In ähnlicher Weise löst Becker den Existenz-Vollzug des Philosophen, den er als Sprechen „einer Metasprache" charakterisiert, von der Welthafitigkeit im heideggerschen Sinne, d. h. er verengt die Vollzugsperspektive auf den Vollziehenden. In der Analyse der Existenz des Wissenschaftlers ist Becker die Einschränkung noch bewusst und wird als konstitutiv fur den Vollzug der Welt als Kosmos oder „Kristall" legitimiert; die beiden anderen exemplarischen faktischen Existenz-Vollzüge bleiben meines Erachtens durch den Verzicht auf die Handlungsperspektive „weltlos".

4. Existenz-Vollzug als Sprache und Handeln Will man Beckers Überlegungen weiterverfolgen, d. h. der heideggerschen Aufforderung nachkommen, eine existenziale Anthropologie auf der Basis der Daseinsanalytik zu entwickeln, so ergibt sich die Notwendigkeit, den „Tätigkeiten", die jeweils die exemplarische Vollzugsweise faktischer Existenz charakterisieren, Aufmerksamkeit zu widmen. Das künstlerische Gestalten bzw. der vor-sichtige Entwurf lässt sich nur im Blick auf die Resultate dieser Gestaltung oder Deutung im Vollsinn erschließen. Heidegger hat in seiner Charakteristik des Kunstwerks diesen Schritt noch vollzogen. Analog zum Sinn25 Die Parallelität zu Heidegger zeigt sich insbesondere in der Einfuhrung der „vorsichtigen Verwegenheit" des Philosophen, durch die Becker offensichtlich auf Heideggers Vor-sicht, auf eine apriori mitgesetzte Form des Erschlossenseins, anspielt.

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entwurf der Beherrschbarkeit im naturwissenschaftlichen Wissen wie technischen Handeln sieht er im bewussten Existenz-Vollzug des Künstlers ein Ersichtlich-machen des Seinssinns der pragmata.26 Für Beckers Überlegungen ließe sich hier eine Weiterfuhrung der Analyse des Existenz-Vollzuges des Künstlers finden. Während der Wissenschaftler durch den Verzicht auf eine Wesensanalyse das Wissen in Bezug zum technischen Handeln setzt, deutet das Werk des Künstlers den Sinn solcher Artefakte, der Resultate technischen Handelns, als „Dienlichkeit". Beide gehen auf ein Ziel des Wissenswie des Handlungszugriffes. Erhalten bleibt Beckers Überlegung, dass die exemplarischen Existenz-Vollzugsweisen durch eine Erfahrung des Getragenseins geprägt sind; diese ist für das instrumentelle Gelingen technischen Handelns wie für das Glücken des Kunstwerks gleichermaßen konstitutiv. Da Becker wie Heidegger letztlich die zunächst mitangestrebte pragmatische Bewährung aus dem Blick verlieren, wird in den folgenden Überlegungen der Weg einer Re-Interpretation auf die anfängliche pragmatische Dimension der existenzialen Analyse ausgespart. Mit dieser Einschränkung der Analyse der faktischen Existenz-Vollzüge geht auch die Möglichkeit verloren, Heideggers Analyse des Mit-daseins im Sinne einer wesentlichen Prägung menschlicher Existenz bzw. der aus dem Existenz-Vollzug gewonnenen Wesensbestimmung weiterzufuhren. In Beckers Vorlesungsmanuskript findet sich ein nur kleiner Hinweis, dass es ihm bei seinen anthropologischen Überlegungen wohl auch darum geht. Interessanterweise fällt diese Bemerkung aber im Kontext der Reflexionen, die sich auf den „Bewusstseinsstrom" beschränken. So heißt es dort, ,jene ,Akte', die den sog. ,Bewusstseinsstrom' erfüllen, ja ihn auszumachen scheinen, vollziehen sich nicht von selbst, sondern werden von mir zu dir, von uns [...] vollzogen. Jemand vollzieht sie, nicht ,etwas' kann das sein." (Becker 1956, 26) Hier hätte man die Möglichkeit, die Daseinsanalyse als „Existenz- Vollzugsgeschichte" (ebd.) von einer Bewusstseinsgeschichte zu lösen und in ein Konzept der Interaktion, mit Heidegger: des Mit-daseins, zu übertragen. Becker ging es grundsätzlich um diese Dimension existenzialer Anthropologie. In den von ihm analysierten exemplarischen Existenz-Vollzügen des Künstlers wie des Philosophen wird aber die Perspektive auf technisch-praktisches Handeln, auf die von Heidegger entwickelte daseinsanalytische Grundlegung der Wissenschaft und ihres Seinsverständnisses nicht thematisiert. Will man eine Analogie zum Umfeld der heideggerschen Überlegungen versuchen, so wird Handeln hier aus der Perspektive Cassirers gedeutet; es degeneriert zum Umgang mit symbolischen Formen. 27 Becker hat zwar,

26 Vgl. Heidegger 1963; zur näheren Begründung vgl. Gethmann-Siefert 1988. 27 Von diesem Ansatz geht in einer neueren Überlegung Oswald Schwemmer aus, wenn er Die kulturelle Existenz des Menschen (1997) am Leitfaden der Verständigungsformen über die Welt auslegt. Zwar meint auch Cassirer, dass Handlungsorientierungen sich aus den Symbolsystemen ergeben oder zumindest nahe legen, dies geschieht aber in den untersuchten Beispielen (Mythos, Ritus, Religion, aber auch Kunst) nur im Sinne einer Analyse der durch die symbolische Repräsentation der Welt mitgesetzten Zwecksetzungen. Ausgespart bleibt eine Analyse der Zwecke technischen Handelns (vgl. dazu Janich 1998). Aber auch eine Verständigung über die Zwecke der Lebensformgestaltung

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Heideggers Analysen zur Zeitlichkeit aufgreifend, eine existenzialanthropologische Erweiterung im Sinne der Auslegung der Geschichtlichkeit des Daseins im Blick, entwickelt aber lediglich in seinen Überlegungen zu Größe und Grenze der mathematischen Denkweise eine Handlungskonsequenz von Weltentwürfen im Blick auf die Brauchbarkeit des in den Wissenschaften gewonnenen Herrschaftswissens. Während die exemplarischen Existenzweisen menschliche kulturelle Existenz auf die Welt symbolischer Formen einschränken, bleibt in der Existenz des Wissenschaftlers zwar die Perspektive auf ein Handeln erhalten, nicht aber die Perspektive auf eine mögliche Diskussion der Zwecksetzungen technisch-praktischen Handelns und die Integration dieser Handlungsform zu einer umfassenderen Form kulturellen Handelns. 28 In der Regel wird die Dimension des Handelns als Grundlage einer spezifischen Wesensbestimmung des Menschen in den wissenschaftlich fundierten Ansätzen der Anthropologie (bei Gehlen, aber auch noch bei Plessner) verfolgt, gegen die die existenziale Anthropologie sich explizit wendet. Es ist also zu fragen, wie weit eine Konzeption geschichtlichen Handelns, die sich aus der Zeitlichkeit der Existenz entwickeln lässt, über die Erklärung der durch Handeln erwirkten Kultur-Natur des Menschen der anthropo-biologischen Ansätze hinausgehen kann. Einen solchen Versuch entwickelt Wilhelm Kamiah in einer kleinen Abhandlung zur philosophischen Anthropologie (Kamiah 1984).29 Mit Heidegger geht er von dessen Definition in der Abhandlung Was ist Metaphysik? aus, die lautet, das Wesen (essentia) des Menschen sei seine Existenz. Diese Existenz wird als zeitlich-geschichtliche, endliche Existenz unter Rückgriff auf Heideggers Bestimmung des Seins zum Tode (vgl. SZ, §§ 51 u. 53) weiterbestimmt. Wichtig ist - und hierdurch schließt Kamiah seine Überlegungen an die Versuche existenzialer Anthropologie an - , dass die Beschreibung des erscheinenden (phänomenalen) Wesens des Menschen generell nicht aus der Beobachterperspektive gewonnen werden kann, sondern nur durch eine Analyse der Existenz, des leiblich-zeitlichen Selbst- und Weltvollzuges. Menschliche leibliche Existenz bestimmt sich einerseits durch eine spezifische Weise des Sich-Verhaltens zur eigenen Zeit: als eine zeitliche auf Zukunft ausgerichtete Existenz; sie bestimmt sich in der Weiterführung, die Becker im Blick hat, nicht nur als eine Form des geworfenen Entwurfs, sondern zugleich als eine Form des „Getragenseins", als „Para-Existenz". Was Becker als ontologische Dimension menschlichen Existierens in den Blick rückt, nämlich diese Form einer kontingenten Existenz, die sich zugleich nicht ausschließlich aus dem eigenen Selbst- und Weltverhältnis versteht, sondern aus einer Form der ihr zugespielten Existenzmöglichkeiten, rückt Kamiah aus der ontologischen Perspektive in die anthropologische zurück. Die argumentative Grundlage für diesen Perspektivenwechsel liegt in einer genuinen Berücksichtigung des Mit-Daseins.

wird problematisch, da diese in den symbolischen Formen via Tradition mitgegeben sind (Recki, 2004). Zur Auseinandersetzung vgl. Gethmann-Siefert 2005. 28 Es fragt sich, wie weit eine alternative Konzeption existenzialer Anthropologie an Heideggers ursprüngliche (in der Spätphilosophie aber verlassene) Dimension des Praktischen wieder anschließen kann. 29 Der erste Teil dieser Anthropologie geht von einer an Heidegger orientierten Analyse geschichtlicher Existenz aus.

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Kamiah übernimmt aus Heideggers Daseinsanalyse die methodischen Prämissen sowie dessen Bestimmung der Zeitlichkeit des Daseins als Geschichtlichkeit, bestimmt diese aber durch die nähere Analyse des Mit-Daseins. Dadurch erweitert er Heideggers Fundierung zu einem Bestimmtsein des Menschen durch Sprache und Handeln. Beides rückt das zeitlich-geschichtliche Wesen des Menschen in die Dimension einer kulturellen Existenz, und zwar einer Form der geschichtlichen Selbstrealisation mit anderen und durch andere. Diese Dimension der kultürlichen Existenz hat Ernst Cassirer in seiner Bestimmung des Menschen im Blick und grenzt sie aber letztlich ein auf eine verständige Einrichtung des Menschen in einer menschlichen Lebensform, auf eine sprachliche Existenz. Durch eine Unterbestimmung der Dimension des Handelns, nämlich die auch in der Philosophie der symbolischen Formen feststellbare Restriktion der Handlung auf vorgegebene symbolische Netze, degeneriert die intersubjektive Lebensbewältigung zu einem Sich-Verhalten in einer Deutungskultur im Ensemble der symbolischen Formen. Der Anspruch, den Heidegger und mit ihm Becker erheben, durch die Daseinsanalytik auch eine Ethik mitzuentwickeln, kann bislang weder bei Cassirer noch durch die existenziale Analytik noch in Beckers existenzialer Anthropologie eingelöst werden. 30 Kamiah greift beide Desiderate auf und charakterisiert seine Philosophische Anthropologie als „sprachkritische Grundlegung und Ethik". Während das Prinzip der wissenschaftlichen Anthropologie durch , Ausklammerung" oder ,¿4bblendung" gekennzeichnet ist, geht es in dieser Analyse um eine ganzheitliche Bestimmung des geschichtlich handelnden Menschen. So lange man „auf der Grundlage der neuzeitlichen Physik z. B. biologisch, physiologisch, medizinisch den Menschen erforschen" will, damit den Bereich der „hochentwickelten Wissenschaften vom Menschen" (Kamiah 1984, 14) absteckt, kommt man an Bereich und Thema der Anthropologie gar nicht heran - so weit bestätigt Kamiah Heideggers Skepsis gegen die traditionelle Anthropologie, die auch Becker zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht hatte. An die Stelle der wissenschaftlichen Beobachterperspektive setzt Kamiah eine Vollzugsanalyse, durch die die philosophische Anthropologie „in beteiligter , Betroffenheit' vom Menschen zu reden unternimmt" (ebd., 15). Darin sieht er den Antrieb, der „zum Reden oder Denken, zur Wissenschaft oder zur Philosophie" veranlasst. Zugleich kann er den Bereich der Anthropologie als philosophische Reflexion auf ein Selbstverständnis des Menschen festlegen. Es geht - mit Heidegger - um die Bestimmung der Endlichkeit des Menschen, wodurch das Selbstverständnis sich auf das „bedürftige und bedrängte ,Selbst'" bezieht, das Kamiah als das „risikoreiche Thema der Anthropologie" ausweist (ebd., 14). Da dieser Zugang zum „Selbst" nur sprachlich erschlossen wird, ist der Ansatzpunkt der Anthropologie unser alltägliches Reden über uns selbst, das in methodischen Schritten zu „einer ,Lehre', [...] [d. i. zu einem] Gefüge genereller Sätze" ausgebaut werden muss. Die Sprache der Anthropologie unterscheidet sich also von der Beschreibungssprache der bisherigen Anthropologie, da es ihr nicht um den Menschen geht, „wie er sich als von Pflanze und Tier verschiedenes Lebewesen [...] vorfindet" (ebd., 21). Anthropologie eruiert zugleich im Sinne Kants, was der Mensch als rationales, aber endliches 30 Vgl. dazu die Kritik von Carl Friedrich Gethmann, z. B. in Gethmann 1993; dazu Weisser-Lohmann 2009; Gethmann-Siefert 2009.

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Wesen aus sich machen kann und soll. Jener „risikoreich" genannte Gegenstand, „der Mensch, der wir selber sind", muss in einer Anthropologie so erschlossen werden, dass eine rational nachvollziehbare Theorie darüber entsteht, „wie wir uns selbst als Menschen verstehen sollen, jeder sich selbst und zugleich den Mitmenschen". Daher liegt die Aufgabe der Anthropologie nicht in der Deskription, sondern in dem Versuch, ein sprachliches, sich in Gemeinschaft entwickelndes endliches Wesen aus seinen grundlegenden Vollzügen zu verstehen. Der Bereich der Anthropologie wird dadurch noch einmal spezifischer fassbar, denn ihre rational nachvollziehbaren Sätze beziehen sich „auf diejenigen Menschen, die wie wir·" um eine solche Selbstverständigung bemüht sind. Diese Selbstverständigung charakterisiert Kamiah im Sinne einer älteren Abhandlung als das Leben in einer vom Menschen selbst gestalteten und zu verantwortenden Kultur, ein Leben, in dem der Mensch sich im Handeln mit den anderen selbst bestimmt. 31 Die für die Anthropologie grundlegend zu analysierende Selbsterfahrung ist also jenes Ensemble von „Erfahrungen von jedermann", die uns als miteinander handelnde Menschen bestimmen. Dieses Ensemble ist „uns" jeweils sprachlich gegeben. Miteinander-Handeln, damit Handeln überhaupt ist immer sprach-begleitet. „Dass der Mensch die Fähigkeit der Rede, also ,Sprache' im genauen Sinne hat und von dieser Potenz immerfort aktuell Gebrauch macht, ist ein Hauptthema der Anthropologie" (Kamiah 1984, 30). Der Weltentwurf des Menschen kann also (im Gegensatz zur biologisch fundierten Anthropologie) nicht durch eine Analyse der spezifischen, biologisch notwendigen Reiz-Rezeption und -Verarbeitung eruiert werden, denn jede Organisation der Reizmannigfaltigkeit zu „unserer Umwelt" konstruiert nicht nur das quasi-natürliche Kulturumfeld, sondern eine Welt, „die uns als sprachlich gegliederte bereits bekannt und vertraut ist" (ebd., 31). Trotz einiger Ähnlichkeit zu Cassirers Bestimmung des Menschen als animal symbolicum geht Kamiah in seiner Analyse der Fähigkeit einer „sprachlichen Erschließung der Welt" durch die Orientierung an der Daseinsanalytik über Cassirer hinaus. Sprache ist nicht nur ein Symbolsystem oder Symbolnetz, durch das der Mensch „seine", durch das wir „unsere" Welt konstituieren. Zugleich wird die gemeinsame Erfahrung sprachlich thematisiert als ein Sich-Stellen zu der mit allen Lebewesen und insbesondere eben mit dem Mitmenschen geteilten „Bedürftigkeit" (ebd., 32). Durch die Berücksichtigung der Endlichkeit als „Bedürftigkeit" geht Kamiah auch über die bloß biologische Konzeption des „Mängelwesens" hinaus und berücksichtigt menschliches Handeln nicht nur als Konstitution einer Überlebens-Kultur, sondern als Grundlage einer interaktiven Selbstverwirklichung. Die aus dem Weltvollzug gewonnene Wesensbestimmung des Menschen als endlich und bedürftig orientiert sich am In-derWelt-Sein als Mitsein, und zwar im ursprünglich von Heidegger für die Wissenschaften herausgestellten Sinn des handelnden (hier überdies des gemeinsam handelnden) Umgangs mit den begegnenden Dingen und dem anderen. Die Welthaftigkeit des Existenzvollzuges ist durch seine Charakteristik als sprachlich geleitetes Handeln gegeben und wird nicht - wie schließlich bei Heidegger und auch bei Becker - ausgeblendet. Das 31 Diese Überlegungen zu einer an Heidegger anschließenden Konzeption der Zeitlichkeit als Geschichtlichkeit und Innerweltlichkeit entwickelt Kamiah in seiner Abhandlung Der Mensch in der

Profanität (1949).

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wesentlich sprachlich begleitete Miteinander-Sein als Miteinander-Handeln impliziert eine Deutung der Welt und unserer selbst in Bezug auf die Welt. Der Entwurfscharakter und die Bedingtheit (Geworfenheit) des Handelns sind Elemente des Welt-Vollzuges, die sich in ihrer Notwendigkeit nicht allein aus der vorlaufenden Entschlossenheit des Da-Seins als „Sein zum Tode", sondern aus der Endlichkeit gemeinsamer Existenz erklären. Der Mensch muss um seiner Selbstverwirklichung willen mit anderen handeln; und er kann und muss als Sprechender Zwecke und Ziele des Handelns diskursiv legitimieren. Das gewonnene Selbstverständnis ist ein Sich-und-andere-Verstehen in Bezug auf die eigene Existenz. 32 Da Kamiah die Gesamtheit geschichtlicher Existenz als Einheit von Handlung und Sprache erschließt, gewinnt er zugleich die Möglichkeit, eine pragmatisch orientierte Wissenschaftsbegründung im Sinne Heideggers und Beckers mit der Zweck-Debatte zu verbinden. Die exemplarische Existenzweise des Wissenschaftlers ermöglicht ein wissensgestütztes Handeln, das als notwendige Reaktion auf die intersubjektiv erfahrene Bedürftigkeit die Zwangsläufigkeit instrumentellen Handelns, zugleich aber auch den Diskurs um die Zwecksetzung dieses Handelns im Blick hat. „Der redend und sehend vorausblickende Mensch ist nicht nur das Lebewesen, das Sprache hat, sondern auch das Lebewesen, das Geräte herstellt und verwendet, homo faber." (Kamiah 1984, 32) Miteinander-Handeln im Sinne eines verständigen, sprachlich zu rechtfertigenden Weltgestaltens und die Reflexion auf das Ziel dieser Weltgestaltung, die Bewältigung der eigenen Endlichkeit qua „Bedürftigkeit", machen das Wesen des Menschen, seine Existenz aus. In einer knappen Definition des Handelns schließt Kamiah beide Dimensionen, nämlich die der Weltbewältigung und die der an der spezifisch menschlichen Bedürftigkeit orientierten Weise der Weltbewältigung zusammen: Handlung ist Widerfahrnisbewältigung, instrumentell-technische Weltauseinandersetzung und Realisation einer gemeinsamen menschlichen Lebensform, deren Ziel sich eben durch sprachliche Verständigung über Zukunftshandeln gewinnen lassen muss. Die Analyse der „Endlichkeit qua Bedürftigkeit" gibt zugleich die Basis ab für eine umfassende Berücksichtigung des menschlichen leiblichen Weltvollzugs. Die durch Handeln angestrebte Widerfahrnisbewältigung erstreckt sich nicht allein auf die Kompensation biologischer Überlebensunfähigkeit, sondern zugleich auf die kulturellen Bedingungen des Miteinander-Lebens freier, aber endlicher Wesen. Zu Widerfahrnissen, die durch sprachlich orientiertes gemeinschaftliches Handeln zu bewältigen sind, gehören

32 Hier kann nicht genauer ausgeführt werden, dass Kamiah durch diese Überlegungen zum handelnden In-der-Welt-Sein dieselben Momente des Existenzvollzuges thematisiert, die Becker in seinen Grundproblemen existenzialen Denkens im Kapitel Ethik unter den Begriff der „Haltung" abhandelt, den er „als Mittelpunkt des ,ethischen' Problemkreises" (Becker 2008, 99) betrachtet. Haltung besagt für ihn einerseits eine Weise des Daseins als In-der-Welt-Sein, „zweitens ein Verhalten (Verhältnis) zu anderen, drittens aber vielleicht ein Verhältnis oder Verhalten zu sich selbst" (ebd.). Der Anspruch, auf diese Weise über Heidegger hinausgehend durch das Konzept einer existenzialen Analyse des In-der-Welt-Seins eine Ethik zu begründen, gelingt allenfalls teilweise. Für die Anthropologie wurden die Schwierigkeiten im zweiten Punkt dieser Untersuchung genannt; zur Kritik an der Ethikbegründung vgl. Gethmann 1993, Weisser-Lohmann 2009; Gethmann-Siefert 2009.

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sowohl biologisch-organische, kulturelle als auch generell alle denkbaren Bedingungen menschlicher Existenz; ihr Ensemble charakterisiert die condition humaine als ganze. Eine Ordnung der Widerfahrnisse gewinnt Kamiah in Orientierung an Heideggers Bestimmung des Seins zum Tode, und er definiert das menschliche Leben als Eingespanntsein „zwischen den Widerfahrnissen Geburt und Tod" (Kamiah 1984, 35). In den Phasen der Existenz manifestiert sich daher nicht bloß ein objektivierbarer Zeitablauf, sondern diese Phasen sind dem Menschen jeweils in der Brechung durch seine Selbsterfahrung gegeben. Er existiert als Kind in einer intersubjektiv zu bewältigenden Situation, dié geprägt ist durch die Hilflosigkeit, und seine Existenz endet in der nämlichen, nun bewussten Erfahrung des Krankseins, Alters und des Sterbens. Eingebettet sind die Grenzsituationen menschlicher Existenz in die Grundsituation des sprachlich geleiteten Miteinander-Handelns. So erfährt der Mensch sich in den Phasen seiner leiblichen Existenz als geschichtliches, d. h. als ein auf gemeinschaftliches Handeln im Sinne der Widerfahrnisbewältigung angewiesenes Wesen. Die „Kultur", die sich die leiblich existierenden und vergänglichen Wesen im gemeinsamen Handeln als ihre Welt schaffen, kann man zur Gänze als Widerfahrnisbewältigung oder zugespitzt (mit Oswald Schwemmer) als Todesbewältigung charakterisieren. Für Kamiah ist die Einsicht wichtig, dass der Entwurfscharakter des Handelns im Prinzip immer zugleich mit der Erfahrung der Geworfenheit, der durch Widerfahrnisse geprägten Existenz vollzogen wird. Die von Oskar Becker ins Spiel gebrachte Dimension des „Getragenseins" wird aus ihrer ontologischen Valenz in eine sinnvolle anthropologische Bedeutung übersetzt. Dieses „Getragensein" endlicher bedingter Freiheit wird dem Einzelnen in den institutionalisierten Formen kultureller, d. h. solidarischer Widerfahrnisbewältigung zugespielt. Menschliche kulturelle Existenz, ihre Zeitlichkeit qua Geschichtlichkeit, ist durch ein Handeln konstituiert, dessen Intentionen in den Rechtfertigungen der Zwecksetzungen reflexiv, und zwar sprachlich diskursiv gegeben sind. Da der Mensch im Handeln eine Reaktion auf den Widerfahrnischarakter seiner Existenz setzt, lässt er sich ganzheitlich als ein Wesen bestimmen, das sich im Miteinander-Sein auf die Endlichkeitsbewältigung durch solidarisches Handeln entwirft. Kamiah gewinnt dadurch wie Heidegger eine Bestimmung des Wesens des Menschen aus der Analyse seiner Existenz und zwar seiner geschichtlich-endlichen Existenz. Der Mensch ist das Wesen, das sich auf anderes und andere hin überschreiten kann und muss, das auf etwas bzw. auf andere (das Handeln anderer) als Bedingung seiner Existenz und Lebensform angewiesen ist. Dadurch erweitert er Heideggers Konzept des Daseins als „geworfenen Entwurfs" zu einer Bestimmung der kulturellen Existenz und gewinnt einen Begriff der „Welt" als geschichtlicher Kultur. Kultur ist die durch menschliches Handeln erwirkte Lebensform, deren Gestaltung durch Widerfahrnisbewältigung erreicht und in den einzelnen Errungenschaften als diesem Ziel entsprechend legitimiert werden muss. Die Schärfe der Solidaritätsforderung lässt sich dadurch verdeutlichen, dass die gesamte menschliche Situation, das solidarische Handeln unter den Bedingungen der Sterblichkeit, menschliches Dasein in die Absurdität letztgültigen Misslingens versetzt. Diese Grundsituation möchte den Menschen entweder zur Resignation zwingen oder im Sinne Sartres - zu einer Übernahme der kulturellen Existenz im interaktiv verantworteten Handeln.

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Durch seine Orientierung am sprachlich erschlossenen Miteinander-Handeln gelingt Kamiah eine Verknüpfung von Anthropologie und Ethik, die auf jeden Fall für die Formen wissenschaftlich-technischer Weltbewältigung das Desiderat einer Verknüpfung von instrumentellen und praktischen Zweckdiskursen ermöglicht. Menschliche Existenz, verstanden als interaktive Widerfahrnisbewältigung durch Handeln, impliziert als Moment kultureller Existenz die technische Naturbewältigung, die durch entsprechendes Wissen gestützt ist. Technik und Wissenschaft begründen und legitimieren sich als notwendige Unternehmungen der Widerfahrnisbewältigung. Instrumenteil gerechtfertigt sind sie durch das Gelingen entsprechender Handlungen. Zugleich erlaubt der „anthropologische Imperativ", die spezifischen Versuche der Widerfahrnisbewältigung unter der Maßgabe der Erhaltung und Entwicklung humaner kultureller Lebensformen zu gewichten. D. h. die instrumenteil verfolgten Handlungszwecke müssen sich als allgemein akzeptabel im Sinne der gemeinsamen solidarischen Widerfahrnisbewältigung ausweisen. Die Sprache als konstitutives Moment dieser Interaktion ist daher nicht allein Selbstverständigung durch symbolische Weltkonstitution, sondern umfasst zugleich das Vermögen einer wissenschaftlichen Formalisierung von Erfahrungen und die Fähigkeit zu Rechtfertigungsdiskursen. In der Analyse des Sprach-Handelns bestimmt sich der Mensch daher als homo faber, animal symbolicum und zoon politikon, weil er - als sprachlich existierendes Wesen durch geschichtliche Vernunft gekennzeichnet ist. Diese Dimensionen der Anthropologie fasst Kamiah in der Bestimmung ihres Zwecks zusammen, der „nicht in der neutralen Beschreibung des Lebewesens ,Mensch' [besteht], sondern in der Ausbildung eines Verstehens der menschlichen Situation, der Ausbildung genereller Termini mit dem Ziel gegenseitiger Hilfe" (Kamiah 1984, 51). In der Bestimmung der kulturellen Existenz gewinnt die Anthropologie zugleich mit der Plausibilisierung der Notwendigkeit technisch-praktischen Handelns ein Konzept moralisch-praktischen Handelns. Auch die sprachliche Kritik der Zwecksetzungen muss von der condition humaine, von der Bestimmung des Menschen als eines endlichen, geschichtlich handelnden Wesens ausgehen, dessen Existenz durch Handeln-Können und Handeln-Müssen, d. h. durch Handeln als solidarische Widerfahrnisbewältigung mit dem Ziel der Selbstverwirklichung, definiert ist. Natur-Widerfahrnisse wie Kulturbedingtheiten müssen im Blick auf dieses Handlungsziel einer kritischen Rechtfertigung in sprachlicher Verständigung unterzogen werden. 33 Es möchte verwundern, wenn in einer philosophischen Diskussion eine Form der Endgültigkeit und Vollendung erreicht wäre, die zu keinen weiteren Fragen nötigt. So ist einerseits der Versuch Kamlahs zumindest in seinem Anliegen und Ansatz ein legitimer Versuch der Weiterfuhrung der existenzialen Anthropologie im Sinne der Daseinsanalytik. Kamiah realisiert die von Heidegger geforderte, von Becker angestrebte alternative existenziale Anthropologie. Andererseits wird dieser Entwurf aber in einem zweiten 33 Eine Weiterführung dieser Überlegungen findet sich hinsichtlich der technisch-praktischen Form der Widerfahrnisbewältigung in den Überlegungen Peter Janichs, hinsichtlich der sprachlichen Geprägtheit in der an Cassirer orientierten Charakteristik der kulturellen Existenz des Menschen bei Oswald Schwemmer. Eine frühere Abhandlung von Kuno Lorenz (1990) schließt ebenfalls an Kamlahs Überlegungen an.

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Teil, e i n e r L e h r e v o m g u t e n L e b e n , w e i t e r g e f ü h r t , d i e w e g e n ihrer i n h a l t l i c h e n kulturell e n O r i e n t i e r u n g an der c h r i s t l i c h - a b e n d l ä n d i s c h e n L e b e n s f o r m z u e i n e r R e i h e

von

Z w e i f e l n nötigt. Es bleibt daher o f f e n , w i e eine endgültige B e s t i m m u n g des M e n s c h e n als e i n e s g e s c h i c h t l i c h h a n d e l n d e n , s p r a c h l i c h e n W e s e n s d u r c h d i e p h i l o s o p h i s c h e A n t h r o p o l o g i e m i t d e n s p e z i f i s c h e n F o r m e n kultureller E x i s t e n z v e r k n ü p f t w e r d e n k a n n . Hierzu müsste die grundlegende existenziale B e s t i m m u n g des menschlichen

Wesens

a u s s e i n e r g e s c h i c h t l i c h - k u l t u r e l l e n E x i s t e n z z u e i n e r G e w i c h t u n g varianter u n d variabler kultureller L e b e n s f o r m e n w e i t e r g e f ü h r t w e r d e n .

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Beginnings of Depiction. Iconic Form and the Body Schema

1. The search for the historical origins of picture-making (see Davis 1986) has to be guided by some conception, however vague, of what depiction is. This conception provides the theoretical „Beginning" for the study of depiction. Ever since the ancient Greek philosophers initiated the search for such beginnings, the first principle or arché of depiction agreed upon among philosophers has been remarkably constant: Depictions are material things that represent objects by means of their visual similarity to these objects.1 The first principle of depiction, it was claimed, is imitation. These ideas found their canonical philosophical expression in Plato's characterization of mimesis. This conception led among philosophers to a belittlement of the importance of pictures. The belief that depiction is basically the imitation of something else, which we can perceive without the aid of depiction, did not entail discounting the importance of vision, however. On the contrary, knowledge itself was regarded as a kind of seeing.2 The centrality of the term idea in the history of philosophy is the most obvious example of this. The term idea derives from Greek eidos - „what one sees" - and other key philosophical notions such as theory, speculation, and reflection also exemplify this visual conception of knowledge. The act of vision received its apotheosis in Plato's philosophy, but the visual world seen by the naked eye was relegated to the realm of mere opinion - not true knowledge, yet superior to the sphere of mimesis and depictions. Plato's ideas were not something that anyone could see with their eyes (Phaedo, 79al-5), but only in thought, somehow. They are described in Plato's dialogues as incorporeal, unchanging, and eternal (Phaedo, 78cl0-79d2). They stand as the unity over the many perceivable exemplars (Phaedo, 75b), while at the bottom end of the scale of objects of knowledge, most distant from the ideas, Plato placed pictures and imitations of all kinds (Rep., 509d-513e). Of course, the Greeks made depictions of gods and much else that nobody had ever seen, as Plato recognized (Rep., 377e2). But such images only offered further proof of the unreliable nature of depiction, according to the theory of mimesis. That there is something fundamentally wrong with all this has been noted many times. For one thing, Plato's dialogues used the same techniques as the mimetic theatre per1 2

This conception also underlines Davis' study (1986), in which (p. 201) the „man-made visual world" is taken to consist of marks that represent things in the world. A recent history of depiction predicts that no matter how early depictions were made, „these should be able to have been made as a result of mimicry" (Davidson/Noble 1989, 136).

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formances that he criticized, and which led some philosophers to call him „the dramatist of the life of reason" and even to bestow on him the title of the „greatest artist" in the history of philosophy (see Randall/Herman 1970).3 This inconsistency was necessary, of course, since genuine knowledge of the Ideas was a matter of intellectual seeing, and no use of words could be adequate to such a vision. Through the ages Platonism has been opposed by numerous nominalistic critics who denied the reality of his timeless objects of knowledge (see Goodman 1976), yet the visual model of knowledge persisted even among these anti-Platonists. In the Modern era Descartes' notion of intuition compared knowing with seeing via an inner „lumen naturale." The visual model of knowledge seemed finally to meet with fundamental criticisms in the twentieth century, however, with the so-called linguistic turn in philosophy. Instead of relying upon the evidence of clear and distinct intuitions, philosophers turned their attention to language. The age-old problem of how we can know if the outside world is like our ideas of it was swept aside by the philosophy of language, for language is public, and while it might be confused, it is not private. This new linguistic orientation changed the methods used by philosophers, but it made no difference as far as depiction was concerned. „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen", Wittgenstein wrote in his Tractatus. But when he wrote that sentence, he also upheld the so-called picture theory of language according to which language and depiction both „mirrored" the world. A few philosophers dared to reject the visual model of knowledge completely (as Wittgenstein himself later did), such as John Dewey or Martin Heidegger, both of whom then found it necessary to rethink the guiding conception of depiction. This led them both to rescue Art from the periphery of philosophy, one by enlarging it to a performative conception, the other to emphasize its work character. To deny the primacy of vision does not necessitate devaluing it, but the anatomy of knowledge needs correction if we are to understand the beginnings of depiction. In the past philosophers have come close to recognizing that there must be an enactive beginning for image formation. In the Kritik der reinen Vernunft Kant wrote: „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Cirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) [...] successiv bestimmen." (Kant 1781, Β 154-156) But this „drawing in thought" presupposes drawing by the hand or some other bodily activity.

3

Ernst Cassirer bestowed the title o f „greatest artist" on Plato in his essay Eidos und Eidolon (Cassirer 1 9 2 4 / 2 0 0 7 , 1 3 7 ) .

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2. If it were true that the human ability to create depictions of what nobody has ever seen illustrated a tendency to err, then it would still be a remarkable capacity. Scientists have determined experimentally that different kinds of animals are able to recognize depictions of various kinds of objects, and some animals are able to recognize themselves in a mirror. Animals all leave marks as they move, but none make drawings. The fact that only humans are able to make pictures led the philosopher Hans Jonas to argue in his 1961 essay Homo pictor that the differentia specifica (Jonas 1961) of human beings that which distinguishes them from other animals - is this ability to create pictures. This contrasted sharply with the traditional view that reason was what typified human beings the capacity for abstract, theoretical thought. Yet Jonas's conception of pictures was not revolutionary. His characterization of depiction began with the claim that „An erster Stelle steht die Eigenschaft der Ähnlichkeit" (Jonas 1994, 107), ignoring that this assumption had been widely contested since the rise of Modern art. Paul Klee's famous claim: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar" (Klee 1920/ 1976, 118) makes no reference to similarity. Viewers naturally compare works of art with what they already know, but even so-called „naturalistic" art adds to the world rather than replicating it, except in a metaphorical way. The metaphorical character of art pointed for Nelson Goodman to a parallel between depiction and language. Yet his conception of this metaphorical character was still conceived in the framework that Plato defined. Goodman rejected the Platonic demand that art should be measured by some absolute standard of what is real, yet he retained the notion that art offers representations. The expressive qualities of art objects derive from the fact, according to Goodman, that they are metaphorical in a special way. For example, when a colored object seems emotionally expressive in some way, this is because it possesses both the property of being colored in a certain way and that this color is able to metaphorically exemplify an expressive label (such as sad or happy). This label is no idea, but only a conventional sign. Grey, yellow, and blue metaphorically exemplify labels such as sad, happy, or peaceful as they are understood in a particular culture, but perhaps not in others. Symbolic relations take the place of fixed ideas, yet we remain in a world of representation. The emotional effects that a work of art can have on the viewer have been replaced by the cognitive understanding of labeling. Aristotle chose the medical term „catharsis" to describe possible effects of drama on the viewer, but this has no place within Goodman's symbolic interpretation of art. If we remain in the sphere of symbolism as Goodman conceives it, the viewer's body is forgotten and art enters fully into the cognitive sphere of representation.

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On first glance this work by the Hungarian artist Gyula Pauer

Image 1 : Scratches (Gyula Pauer 2007). Source: Perneczky, Géza (2008): Schale und Tuch. Die Kunst des Gyula Pauer. Noran Verlag, flg. 55

and this one by the Italian/Argentine artist Lucio Fontana are much alike (especially in reproduction).

Image 2: Attese (Lucio Fontana). Source: Carla Schulz-Hoffmann (1983): Lucio Fontana. München: Prestel, 24.

They possess certain visual qualities in common, and each metaphorically exemplifies a cutting action by showing cuts, but one of the works also possesses the property of

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being cut. As a result, Fontana's work can lead to a visceral feeling that the other does not elicit. Pauer's work can trick the viewer, but as a flat painting it then makes viewers realize they are seeing the appearance of what it looks like when something has been cut. This striking painting from the artist's Pseudo series confronts the viewer with things that are not what they seem to be. Fontana's work really has been cut open. The point is not how these works represent cutting action, but what the viewer feels when confronted with these objects. The main difference persists even if these works are touched in the dark or with closed eyes. The effect on the senses of a flat, smooth, whole surface, and one that his been cut open differs drastically. The difference is not representational, for both works „represent" cutting. Since the viewers are themselves embodied, they do not interact with objects only by means of their eyes. An object that has been cut open, and one that looks like it has been, are perceived differently. A merely sighted viewer with no body would be like a computer program that is able to recognize patterns, but such a program can never relate to these two objects the way that an embodied viewer does. The computer program lacks the embodied viewer's access to knowledge of what it feels like to be sliced open.4

Image 3: Lucio Fontana. Source: Enrico Crispolti (1999): Fontana. Milan: Edizioni Charta, 84.

4

Freedberg and Gallese argue that such phenomena can be explicated in part by reference to mirrorneurons, but a further neurological conception (the body-schema) seems to be even more important for understanding depiction. Even neurology as a whole is insufficient to explain the other biological, social, and semeiotic aspects of embodiment (see Freedberg/Gallese 2007).

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4. In 1886 Heinrich Wölfflin posed the question in his doctoral thesis Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur how it was possible for works of architecture to possess a characteristic mood or expressive qualities (Wölfflin 1886/1999,9)? His answer was that „[kjörperliche Formen können charakteristisch sein nur dadurch, daß wir selbst einen Körper besitzen. Wären wir bloß optisch auffangene Wesen, so müßte uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft, usw., ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen." (Ebd., 119-120) Aristotle taught that the sense of touch (άφή) was the primary type of sense perception (De anima II, 2,413b), but he meant the local sensation of touching something, whereas heaviness, contraction, and force are not merely feelings, but dynamic processes pervading an entire body, including non-living objects, such as architecture. Depiction requires the embodiment of certain forces in forms, not resemblance. The word depiction derives from pictüra, the act of painting, hence the association with visibility. Imägö is more general, but is also used to refer to memories, which can suggest reproduction. The Greek eikon has the still more general sense of a figurai form the actual beginning of depiction. In contemporary investigations of depiction, semiotic theories have been widely adopted as a Modern alternative to the Ancient theory of mimesis. On a strictly semiotic view, objects are regarded in terms of their meanings, independently of their embodiment, for we never arrive at anything stable beyond the signifying function. The process of referral from signifier to signified is endless. Reacting against the credo, „like it or not, interpretation is the only game in town", the concept of presence has been revived in an effort to reaffirm the autonomy of objects. This return to presence risks falling back into the static ways of thinking that semiotic theories overcame. 5 Even Heidegger's temporal understanding of „being-there" is too passive to make sense of the active embodiment found in performances, and since even the act of making a drawing is performative, the notion of presence can be of little help in the attempt to understand depiction.6 Embodied processes require an enactive approach to objects. The term enactive is used today, for example, in research on Human-Computer-Interaction to refer to knowledge based on the active use of the hand for apprehension tasks: 5

Suzanne M. Jaeger refers to Merleau-Ponty's phenomenological conception of the body-subject and the ontology of presence in order to discuss the concept of performance (Jaeger 2006). But the notion of .ontology' runs counter to her point about embodiment, since „being-there" is insufflent to explain performance. The difficulty here may only be terminological, but it is highly significant terminology, for it marks the difference between enaction and mere existence.

6

Hans Ulrich Gumbrecht appeals to Heidegger in his book Production of Presence (Gumbrecht 2004).

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Image 4: Touchscreen. Source: http://blog.seattletimes.nwsource. com/brierdudley/IMGA0051 .JPG (date: 1.1.2009)

Think of a touchscreen or, even better, a Wii.

Image 5: Nintendo Wii. Source: http://dpad.gotfrag.com/files/upload/sportsl.jpg (date: 1.1.2009)

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The concept of enaction offers a way to understand depiction and iconic forms generally. In the enactive conception, objects made from physical materials are not presences, but in a constant state of change, as science and our experience over time tells us they are. Meaning and interpretation, far from putting objects out of reach, lift them out of this changing physical sphere by giving them renewable significance in time. The invariance of meanings over time is a dynamic process, which cannot be understood in terms of a static ontology Natural images, such as imprints (e. g. fossils),

Image 6: Fossil: Archaeopoteryx (Berlin). Source: collection of the author.

and man made pictures (such as this photograph of a fossil) are not static. Their invariance over time derives in part from the fact that each is a material object, although subject as such to material aging. In the course of their histories both natural, physical images and man-made pictorial objects are able to guide viewers' actions, to emotionally move them, and to offer guidance for their conceptual orientation. In this way such iconic forms are never merely present, they do things. They can affect viewers, now or in the future, reaffirming or changing the way they feel, act, or think - immediately or in the long run. Depiction is enactive, not a static mirror.

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This famous photo was made with x-rays:

Image 7: Photograph 51. X-ray diffraction photo of a DNA molecule, structure Β (Rosalind Franklin 1952). Source: http://nobelprize.org/educational games/medicine/ dna double helix/images/x-ray .jpg (Stand: 1.1.2009). Rechte: Cold Spring Harbor Laboratory Archives: http://library.cshl.edu/archives/ (date: 1.1.2009)

Today, digital imagery can dispense with photography completely and create reliable images without cameras or lenses and without involving even potentially visible objects, such as this

Image 8: Electroanatomical mapping of a heart. Source: Al-Ahmad, Amin (Ed.) 2008: Electroanatomical mapping. An atlas for clinicians. Oxford: Wiley-Blackwell, 82.

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still picture taken from a clip of the motion of electronic fields in the muscles of the heart. Such images depend neither on visible nor invisible illumination, but are constructed from data derived from sensors registering low-level magnetism. Computer programs transform these signals into an image that continuously maps the data, resulting in a kind of motion picture. The „realistic" nature of such scientific images does not derive from any similarity between their appearance and the way something else can look to us. Few people are able to make sense of such scientific images without guidance from experts. James Watson was able to recognize the helix form of deoxyribonucleic acid (DNA) molecules in the x-ray made by Rosalind Franklin (Watson 1999, 132-133), and a cardiologist can understand the meaning of an image made using magnetic resonance imaging (MRI) techniques to make arterial and ventricular electrical activation visible, which cannot be seen even in open-heart surgery. These imaging techniques may seem far removed from the topic of the „Haptic Beginnings of Depiction", but they are not, for they result from processes involving different kinds of physical interactions, such as the spray of x-rays striking a photosensitive plate or the magnetism registered by sensors in MRI technology. The information derived from such soundings of a body is transformed into an image by instruments and computer programs, but the resulting visible iconic forms or „pictures" are in a real sense haptic images, deriving from physical contacts, even if they were created without the human sense of touch ever coming into play. When human beings receive information via their senses, it is also transformed into iconic forms, i. e., perceptual images. These images may or may not be consciously perceived. We do not notice all that we can see nor do we perceive all the haptic forms that we can feel at a particular moment. The iconic forms created by imaging technologies are never consciously perceived by the machines in which they are produced. Computer programs are Cartesian entities in the sense that they are independent of the hardware they run on. Programs and data can be transferred to different hardware, but human identity depends upon the historical continuity of the individual's body. This difference explains why computers cannot understand pictures. One of the most difficult problems for software engineering is image recognition. Unlike pattern recognition, image recognition is ultimately a matter of understanding what is depicted in a picture. Here is a captcha test (Captcha is an anagram for Completely Automated Turing Test to tell Computers and Humans Apart).1 Humans can recognize what is displayed in captcha tests because of their ambulatory experience with the objects depicted, which they know from many sides and from manipulation or use. As long as computer programs have no bodily experience of living in the world, there will be no way that programs can recognize related objects in different images that have no common appearance. Active experiences with such objects can fill the perceptual gaps, but without such experiences the images remain disparate.

7

„Captcha" stands for „completely automated turning test to tell computers and humans apart". They were developed at Carnegie-Mellon University. See: http://www.captcha.net/ (Stand: 1.10.2008).

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Chooee a word that relates to at) the images.

I Ι

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TIP: You ca* type me first letter of a word arxj fien t»e the down arrow to fino it.

Image 9: Captcha Test. Source: http://gs264.sp.cs.cmu.edu/cgi-bin/esp-pix (date: 1.1.2009) M y thesis is that h u m a n s c a n r e c o g n i z e i m a g e s b e c a u s e t h e y p o s s e s s w h a t n e u r o l o g i s t s call a body schema. c a l l e d Vitruvian

T h e b o d y s c h e m a c a n be u n d e r s t o o d b y c o n s i d e r i n g L e o n a r d o ' s so-

man,8

Image 10: Illustration zur Vitruvianischen Proportionsfigur (homo quadratus). Source: Marani, Pietro (2001): Leonardo, Das Werk des Malers. München: Schirmer/Mosel, 212.

8

Vitruvius describes how, in theory, the human body fits into a circle and square (Vitruvius, De architectura, 3.1.3). Leonardo's picture shows that this does not happen.

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This picture shows that the body defines a spatial sphere, so-called peripersonal space, a kind of invisible bubble that represents our reaching distance. This space is not established by vision, but by motor capacities to reach. This is a dynamic conception of space; it is not fixed, but changes with the body's movements. This sense of space is an aspect of the body schema. The neurologist Henry Head coined the term body schema in 1911 (Head/Holmes 1911/12) to refer to an organized, non-conscious postural model of the body in the brain, but the philosophical importance of this concept has only been developed in recent years, especially by Shaun Gallagher. Gallagher differentiates sharply between the body schema as a constantly updated, largely unconscious model of our body's spatial disposition - in movement or stasis - and of the body image - our conscious picture of ourselves (see Gallagher 2005, 24). We can become conscious of the body schema on certain occasions such as when, without thinking, we find that we catch ourselves after slipping on the sidewalk and do not fall. A recent neurological account gives the following seven characteristics of the body schema. The body schema is: 1. spatially organized: it represents the body in space (this is usually called proprioception), 2. neurologically modular: not located in a single place in the brain, 3. updated with movement: the state of our posture and positioning is kept current, 4. adaptable: tools and other extensions of the body become incorporated into it, 5. supramodal: visual, tactile and other stimuli all enter into it, 6. coherent: a continuity of body experience across space and time is preserved by a resolution of discrepancies between the senses, 7. interpersonal: information from other bodies and our own can be conjoined in it so that group activities such as dance are possible. (See Haggard/Wolpert 2005, 262-264) The body schema is iconic in form, but unlike a picture of our body, it is not static. Our body image is relatively fixed and represents how we think we appear. This appearance changes over a lifetime, but the body schema is much more dynamic. Like a motion picture it is continuous over time and constantly changing. It is like a moving haptic image, but an image that unconsciously guides our motion. It is both receptive and a system of sensory motor capacities which function „without awareness or the necessity of perceptual monitoring" (Gallagher 2005, 83). Insofar as it becomes conscious to us, we sense it in a haptic way, as the form in which we are embodied: we notice what for us is up and down, left and right, front and back.9 Whereas our body image is acquired over time after birth, we are bom with a body schema. Gallagher calls it the „proprioceptive self'. Traditional notions of self-identity were mental, such as Kant's notion of the unity of apperception in his Kritik der reinen Vernunft, which he described as the „Ich denke" that must accompany all my thoughts (Kant 1781, Β 13).10 The „proprioceptive self of the body schema involves a motoric sensitivity to our location in our 9 Conscious awareness of the body schema is detrimental to its function in guiding action (see Maxwell 2007). 10 Kant took cognizance of the body in other ways (see Svare 2006).

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peripersonal space, whether we think about it or not. Apperception takes place in internal consciousness, but proprioception occurs in the space the body is situated in. This proprioceptive self has a corporeal unity in space and time: the body as it is engaged in physically leaving impressions or casting shadows, or in making drawings. The body schema enables even those who were born blind to understand and make tactile pictures utilizing raised lines. An ambulatory subject that is subject to physical forces and possesses a body schema can understand spatial depictions, even without sight.

Image 11 : Table, drawn by a blind adult. Source: John M. Kennedy.

Embodied intelligences can understand embodied spatial organization and the physical forces that characterize them, which is why some animals can understand some kinds of pictures (see Bovet/Vauclair 2000).

Image 12: A chimpanzee is able to recognize persons in these images. Source: Itakura, Shoji (1994): Recognition of Line-Drawing Representations by a Chimpanzee (,Pan troglodytes'), in: Journal of General Psychology, 121, 192.

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A chimpanzee is able, for example, to recognize persons in these images (Itakura 1994).11 But the ability to draw pictures requires symbolizing capacities as well as a body schema the ability to treat drawn lines metaphorically. These capacities are independent of vision, and animals do not possess them although they undoubtedly have a body schema. 12 The blind are able to create visual metaphors of all kinds, such as this use of wavy lines to depict water or smoke in this picture of a boat (see Kennedy 1993).

VX/NJ^ Image 13: Visual metaphor by a blind. Source: John M. Kennedy (1993): Drawing and the Blind: Pictures to Touch. New Haven: Yale University Press, 241.

Depiction involves semiotic processes, but they are not comparable to the conventional signs used in language. These four line drawings

Image 14: Visual metaphors for feelings that are also recognized by the congenitally blind. Source: John M. Kennedy (1993): Drawing and the Blind: Pictures to Touch. New Haven: Yale University Press, 280.

11 A later experiment linked the capacity to recogniton depictions to symbolic capacities (see Tanaka 2007). 12 Humans have symbolic capacities that animals lack and which are already found in bodily actions such as gesture and ritual actions. Drawing extends these actions into a new medium.

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offer visual metaphors for feelings that are also recognized by the congenitally blind in raised line drawings, but not because of any prior knowledge of some conventional code. The sighted and the blind are both embodied. The loss of feeling in a thumb cannot be drawn, but the sighted and blind both recognize the interrupted line as a metaphor for numbness. The metaphors for a hurting or moving thumb derive from knowing what it is like to be embodied, not from conventional codes. In his Farbenlehre Goethe called colours the „Taten und Leiden des Lichts" (Goethe 1810/1890, IX): the acts and sufferings of light. Unlike colour, depiction does not depend upon light, but originates from the iconic forms emerging from the action and sufferings of the proprioceptive self. Kandinsky showed such forms in his Tanzkurven drawings made from photographs of Gret Palucca (Kandinsky 1926, 117-120).

Image 15: Kandinsky's Tanzkurven drawings made from photographs of Gret Palucca. Source: Kandinsky, Wassily (1926): Tanzkurven. Zu den Tänzen der Palucca. In: Das Kunstblatt, 10(3), 117.

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Our innate spatial sense permits us to feel our o w n Gestalt or spatial organization, even without vision, as something akin to these Tanzkurven. This capacity derives from the active unity that neurologists call the body schema. This explains h o w the congenitally blind are able to understand - and make - line drawings. Depiction arises from the ability to perceive and shape such forms, and not from the imitation o f visible objects as philosophers since Plato have assumed. This kind o f first person experience is a further (eighth) defining feature o f the body schema: the body schema is not a purely objective, neurological process, but can enter into first person experience. It is part o f our first person knowledge o f what it is like to be embodied. Our awareness o f the body's ability to m o v e from one posture to another explains w h y viewers find these pictures to be so expressive: they can even make viewers want to stretch and move. The hypothesis that the body schema is the first principle of depiction accounts for the active ability to produce expressive forms and w h y pictorial objects can effect humans so profoundly. The virtual expression o f m o v e ment in a picture can effect our feelings o f balance and make us adjust our posture. This kinesthetic significance of pictures explains w h y even a line drawing tends to be perceived less as a thing than as an alter ego.

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REINHARD MEHRING

„Berliner Geist" als „Lebensform": Eduard Spranger (1882-1963)

I. Eduard Spranger in Mit- und Nachwelt Hochschullehrer haben in Forschung, Lehre und akademischer Selbstverwaltung vielfältige Aufgaben. Zunehmend wird das auch in Berufungsverfahren kriteriell aufgefächert und anerkannt. Gute Forscher können schlechte Lehrer und katastrophale Verwalter sein. Mancher drückt sich im Namen der Forschung um die Lehre und weitergehende Aufgaben. Die Universität war und ist aber kein Elfenbeinturm. Sie muss ihren Beitrag zur „Wissensgesellschaft" ernsthaft und offensiv darstellen und - gerade in Berlin - auch ihre politische Verantwortung realisieren. Gute Hochschullehrer sind keine Fachidioten, sondern spielen auf der ganzen Klaviatur ihres Wirkungskreises. Kommt noch ein Standortvorteil hinzu, so spricht man gerne leicht despektierlich von einem „Großordinarius". Die Philosophiegeschichtsschreibung würdigt diese Verdienste zumeist nicht umfassend; sie ist einseitig forschungszentriert und dabei historisierend oder präsentistisch akzentuiert (vgl. Schneider 1998; Rothacker 1943). Sie bedient sich im Archiv oder setzt ihre Helden pietätvoll in der Galerie ihrer Geschichte bei. Forschungsstrategisch ist der historisierende Umgang mit Autoren ebenso legitim wie der aktualisierende. Aktualisierungen sind allerdings riskant. Jede akademische Tagesmode neigt zwar dazu, sich forschungspraktisch ex post ihre „Klassiker" zu kreieren. Die Halbwertzeit solcher Kanonisierungen ist aber mitunter nicht allzu hoch. Mit dem gegenwärtigen Philosophiestandard kann auch der „Klassiker" versinken. Das Spektrum möglicher Klassiker scheint überhaupt durch die Anzahl möglicher Grundpositionen beschränkt zu sein. Aus historisierender Perspektive kann als „Klassiker" gelten, wer nachhaltige akademische Wirkungen zeitigte. Unterhalb „ewiger" Klassiker wie Piaton und Kant gibt es deshalb auch „problemgeschichtliche" Klassiker. Akademische Wirkungen werden zwar oft durch institutionelle Rahmenbedingungen begünstigt: Man denke nur an mehr oder weniger strategische Schulbildungen. Sie sind aber auch jenseits direkter Einflussnahmen über die Zeiten hinweg möglich. Manche werden erst „posthum geboren", meinte Nietzsche. Schaut man näher hin, sind „verkannte" Dichter oder Philosophen allerdings ziemlich selten. Akademische Karrieren sind zwar zweifellos, wie schon Max Weber schrieb, „ein wilder Hazard" (Weber 1919/1992, 79). Talent ist aber doch auffällig. Die Mitwelt ist selten so dumm, gar nichts zu bemerken. Eduard Spranger war zweifellos ein Berliner „Großordinarius". Er verkörperte den „Berliner Geist" (vgl. Spranger 1966b) und die - von Volker Gerhardt auch in universitätspolitischer Absicht eindrücklich erinnerte - Berliner Tradition in besonderer Weise

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(vgl. Gerhardt 1993; Gerhardt 1994; Gerhardt/Mehring/Rindert 1999; Mehring 2003; Mehring 2005; Mehring 2008). Für die Zeitgenossen war er vor und nach 1933, von 1919 bis 1945, der überragende Berliner Philosoph der Zwischenkriegszeit. Spranger hatte mit Abstand die größten Hörerzahlen, den größten Einfluss und das höchste Ansehen auch unter seinen Kollegen. Er gab ab 1925 (zusammen mit Nohl, Fischer und Litt) die wichtige Zeitschrift „Die Erziehung" heraus, wurde Dekan und Rektor, war Mitglied zahlreicher Akademien und erhielt zahlreiche Ehrendoktorhüte und Orden bis hin zum Pour le mérite fur Wissenschaft. Man stolpert heute noch gelegentlich über seine Schriften. Kein Antiquariat ohne Sprangers Werke! Und doch hat ihn die Philosophiegeschichtsschreibung heute mit der „geisteswissenschaftlichen" Dilthey-Schule zusammen geradezu mutwillig vergessen und verdrängt (vgl. Schnädelbach 1983).1 Seine Philosophie scheint altväterlich, seine Diktion vage und erbaulich. Spranger-Titel wie Weltfrömmigkeit oder Magie der Seele verursachen heute Kopfschütteln. Seine nationalkonservative und preußische Haltung scheint problematisch, sodass selbst dieser erbitterte Gegner des Nationalsozialismus der Ideologiekritik verfällt. 2 Die Antiquariatspreise liegen denn auch bei Amazon heute selbst für die Hauptwerke teils unter einem Euro. Allenfalls in der Geschichte der Pädagogik hat Spranger heute seinen Platz. Die seit alten Zeiten selbstverständliche - philosophische Orientierung der Pädagogik aber (vgl. Paulsen 1906/1912, 465-470), die er maßgeblich entwickelte und vertrat, ist auch in der Pädagogik heute ziemlich verpönt. Die Erziehungswissenschaften laufen gerade von Freud und Piaget zur Neurobiologie als Grundlagen- und Leitdisziplin über, relativ unbekümmert um ihre Kompetenz in diesen Fragen. Spranger geriet auch der Pädagogik aus dem Blick. Sie erinnert ihn heute vor allem als historischen Fall (vgl. Matthes 2000). Über Spranger also divergiert das Urteil der Mitwelt und der Nachwelt stark. Seinen Vorgängern und Kollegen Friedrich Paulsen und Carl Stumpf erging es kaum anders. Auch sie sind heute trotz ihrer überragenden universitäts- und wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung weithin vergessen. Zwei Gründe dafür wurden bereits genannt: die forschungszentrierte Verengung und die präsentistische Engfuhrung des philosophiegeschichtlichen Urteils. Innovatoren wie Stumpf und Spranger, die philosophische Methoden fur Psychologie und Pädagogik fruchtbar machten, fallen als Psychologen oder Pädagogen heute aus dem philosophiegeschichtlichen Blick heraus. Wo sie dann als Psychologen oder Pädagogen, als „Klassiker" ihres Faches gewürdigt werden, fällt leicht ihr integrales philosophisches Anliegen unter den Tisch. Gerade darum soll es aber in der folgenden kleinen Würdigung gehen.

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In Metzlers Philosophen-Lexikon beispielsweise ist er auch in der 3. Aufl. 2003 nicht aufgeführt. So Blickenstorfer 1998; Tenorth, 2000, 233 f.; Tenorth 2002. Tenorth (2001) formuliert in einer systematischen Würdigung einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits liest er Sprangers „Ethik der Persönlichkeit" als „eine persönliche Ethik" (ebd., 25), die Religion und „Metaphysik an die Stelle der Reflexion" setzt, andererseits will er seiner teleologischen Pädagogik „Anschlussstücke" gerade in Richtung auf „biologische Theorien der Selbstregulation" (ebd., 28) zubilligen. Eine solche Trennung hätte Spranger freilich ausgeschlossen. Seine Bildungsgedanke ist eine Ethik der Selbstgestaltung. Zur philosophischen Diskussion vgl. Hohmann 1996.

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II. Berliner Lehrjahre Franz Ernst Eduard Spranger wird 1882 in Berlin geboren und wächst als Einzelkind „einsam" auf. Sein Vater ist Kaufmann. Er verbringt seine Kindheit im noch französisch geprägten Quadrat um die Friedrichstraße, der „Saufstraße" nahe der „Laufstraße" Unter den Linden und der „Kaufstraße" Leipziger Straße (vgl. Spranger 1966a, 24 ff.). 1899 zieht die Familie nach Charlottenburg in die Kantstraße um. Den „objektiv genommen höchst nüchternen Straßen Berlins" dankt Spranger seine geistige „Erweckung" (Spranger 1966e, 186). Im März 1900 legt er sein Abitur am berühmten Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin ab; er kehrt dann gewissermaßen in seinen „Kiez" zurück und studiert ausschließlich in Berlin an der Friedrich-Wilhelms-Universität. In der Philosophie lehren im „Zeitalter der Geheimräte" damals als Ordinarien Friedrich Paulsen (1846-1908), Carl Stumpf (1848-1936) und Wilhelm Dilthey (1833-1911). Daneben hört Spranger Adolph Lasson (1832-1917) und Georg Simmel (1858-1918). Paulsen wird sein engster Lehrer; Stumpf dagegen schreckt ihn durch seine „kühle Sachlichkeit" ab (Spranger 1945/2001, 198). Spranger hört breit über die Philosophie hinaus die Berliner Größen seiner Zeit: Wilamowitz und Harnack, die Ökonomen Adolph Wagner und Gustav Schmoller, den Verfassungshistoriker Otto Hintze, den Straf- und Völkerrechtler Franz von Liszt, die Germanisten Roethe und Erich Schmidt. Schon im ersten Semester hört er auch Dilthey. Dessen quasi religiöse „Andacht" der Fülle des Lebens beeindruckt ihn. Im dritten Semester, am 31. Juli 1901, referiert er im Seminar. Dilthey lädt ihn daraufhin zu sich nach Hause ein und trägt ihm eine Dissertation über Friedrich Heinrich Jacobi an. Damit stürzt er ihn allerdings in eine „Entwicklungskrisis" (Spranger 1945/2001, 207). Spranger bricht die Arbeit im Frühjahr 1903 entnervt ab und vollzieht für einige Jahre einen völligen „Bruch mit Dilthey" (Spranger 1978, 9).3 In seinem späten Rückblick auf Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert schreibt er dazu: Aus dem Scheitern des von Dilthey gegebenen Themas „erwuchs in mir das eigene Problem: was haben wir eigentlich von der Geschichte?" (Spranger 1973c, 344) Nach dem Bruch mit Dilthey kommt Spranger nun nicht mehr an Stumpf als gestrengem „Examinator" vorbei. Er promoviert am 2. Februar 1905 mit Diplom vom Mai bei Paulsen und Stumpf über Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft (Spranger 1905). Spranger macht in dieser von ihm selbst später wenig geschätzten Arbeit auch neukantianische Diskussionen (Windelband, Rickert) um die Eigenart historischer und kulturwissenschaftlicher Erkenntnis für eine Methodologie der Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie fruchtbar (vgl. Sacher 1988). Dabei diskutiert er insbesondere das Verhältnis von „Geschichte und Psychologie", das damals durch die psychologisierende Kulturgeschichtsschreibung Karl Lamprecht herausgefordert ist. Damit führt er die methodologische Diskussion des südwestdeutschen Neukantianismus mit der Berliner Historismustradition zusammen. Stumpf nimmt die Arbeit nicht sehr gnädig auf. Noch Jahrzehnte später erinnert Spranger sich, dass „Stumpf, nicht zu meiner Freude, in mei-

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Brief vom 16.5.1904 an Käthe Hadlich (alle Briefe sind zitiert nach den Gesammelten Schriften Bd. VII).

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nem Doktorexamen mitgeprüft" hat (Spranger 1978, 337). 4 Die ganze Fakultät erzittert damals vor Stumpfs intellektueller Schärfe. So ist Paulsen damals der einzige echte Rückhalt und Lehrer in der Philosophie (vgl. Spranger 1958b). Er ist aber ein gewichtiger Förderer: Paulsen hat große Bedeutung als angelsächsisch orientierter Philosoph, Neukantianer, Pädagoge, Bildungshistoriker und universitätspolitischer Berater im damaligen „System Althoff'. Sprangers akademische Zukunft ist damals dennoch sehr unklar. Spranger hat Geldsorgen, arbeitet publizistisch und editorisch, jobbt stundenweise einige Zeit als Lehrer an privaten Schulen. Schon damals schwebt ihm das große Projekt einer philosophischen Pädagogik als Lebensaufgabe vor (vgl. Spranger 1978, 22-24). 5 Damals bereits publiziert er auch einen ersten Aufsatz über „Grundfragen der philosophischen Pädagogik", der das „pädagogische Grundphänomen" in das Problem der „Selbstentfaltung" setzt (Spranger 1973d, 217). 6 Seit 1905 sitzt er an einer Arbeit über Humboldt. Den Ertrag seines eigenen Bildungsstrebens macht er zum „Zentrum" (Spranger 1909, VI) seiner kritischen Deutung von Humboldts Humanismus, über dessen ästhetischen „Standpunkt" er protestantisch,hinaus" ist (Spranger 1978, 39-40). 7 Er gibt eine Rousseau- und eine Fechner-Ausgabe, bald zum Universitätsjubiläum 1910 auch die Grundschriften der Berliner Universität heraus (vgl. Spranger 1910b). Sein größtmögliches akademisches Unglück geschieht: Paulsen verstirbt am 14. August 1908. Sprangers Habilitation ist nun ganz unsicher. Die Paulsen gewidmete - Humboldt-Monographie ist damals im Herbst 1908 bereits fertig. Diltheys 75. Geburtstag bringt aber die Gelegenheit zu einer „Versöhnung". Nach sechs Jahren begegnet Spranger Dilthey erstmals „wieder persönlich". „Sein Tiefsinn wirkte mit alter Kraft auf mich", bemerkt er sogleich (Spranger 1978, 41). 8 Dilthey empfiehlt die Arbeit der Fakultät, leitet das Verfahren. „Eine Habilitation in Berlin ist eine so bedeutende Errungenschaft, daß man die sich bietende Gelegenheit festhalten muß", schreibt Spranger am 27. April 1909 an seine platonische Lebensfreundin Käthe Hadlich (Spranger 1978, 43). 9 Damals knüpft sich auch ein glücklicher Kontakt zum Dilthey-Nachfolger Alois Riehl ( 1 8 4 4 - 1 9 2 4 ) und dessen Frau, die Spranger familiär wie einen „Sohn" aufnehmen. Die schwierigen Studienjahre, unklaren Aussichten lösen sich nun plötzlich. Im Sommer 1909 habilitiert sich Spranger mit Unterstützung von Dilthey und Riehl mit seiner Arbeit über Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee (Spranger 1909, vgl. Spranger 1910c), die die Ausformulierung von Humboldts

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Spranger am 8.11.1957 an Albert Schweizer. Brief vom 19.6.1906 an Paulsen. Später bezeichnet Spranger die Pädagogik, die „Theorie der Erziehung", als „wertgeleitete Entwicklungshilfe" mit dem Telos der Erziehung zur „Kulturfähigkeit" (1973d, 22). Zuletzt definiert er: „Erziehung ist bewußte regulierende Einwirkung auf die im jungen Menschen sich bildenden geistigen Regulatoren. [...] Jede Anleitung zur Herrschaft über sich selbst ist gleichbedeutend mit der Konsolidierung des höheren Selbst, das seine Wurzeln im Metaphysischen hat." (1973e, 375).

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Spranger am 29.10.1908 an Käthe Hadlich. Spranger am 20.12.1908 an Käthe Hadlich. Ebd. 43; vgl. auch 41ff; zur Person ausführlich Schraut 2007, 225 ff.

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Humanitätsidee in Psychologie, Ästhetik und Ethik von einer Charakteristik der Person ausgehend beschreibt. Am 12. Mai 1909 reicht Spranger sein Habilitationsgesuch der Fakultät ein. Dilthey gutachtet am 24. Juni ausführlich auf fünf Seiten, woran Riehl am 1. Juli nur wenige Zeilen anschließt; Riehl hat „nichts hinzuzufügen" und verweist nur auf weitere Schriften Sprangers.10 Spranger und Dilthey wählen das Kolloquiumsthema für den 19. Juli 1909 über die Philosophie und Pädagogik der preußischen Reformzeit (Spranger 1910a) mit Rücksicht auf Stumpf, der auf begriffliche Unschärfe und religiöse Überzeugungen geradezu aversiv reagiert. Nach dem Habilitationsvortrag stellt Dilthey die ersten Fragen, „mühsam mit dem Ausdruck ringend". Spranger antwortet: „Ich expliziere mich, wie ich glaube, scharf und glücklich näher darüber. In dem Augenblick, wo das Wort ,Analogie' fällt, fahrt ein glückliches Lächeln über Diltheys Gesicht und er sagt, was ich von ihm noch nie gehört habe: ,Dann sind wir einig.'" Dilthey verspricht sich „bei jedem zweiten Wort", „lächelt glücklich". Riehl „greift einige Einzelheiten heraus, erwartet aber von mir keine Antwort". Als erster gratuliert Stumpf. Dilthey „strahlt über das ganze Gesicht: ,Sie haben es sehr nett gemacht.'" (Spranger 1978, 45)11 Seine Antrittsvorlesung hält Spranger dann über die philosophischen Grundlagen der Pädagogik (Spranger 1973a). Sprangers Bildungsphilosophie steht mit der Habilitationsschrift da. 1910 folgt eine kürzere Darstellung über Humboldt und die Reform des Bildungswesens (Spranger 1910c). Es ist ein institutionenpolitisches Gegenstück zur philosophischen Habilitationsschrift. Dilthey sucht Spranger nun für seine Schleiermacher-Biographie zu gewinnen und bietet ihm gar eine Koautorschaft für den lange geplanten zweiten Band an (vgl. Spranger 1978, 51 ff.). Es kommt aber zu einer neuerlichen Krise. Spranger muss seine Lehre als Privatdozent mitten im Semester aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Im Wintersemester 1910/11 liest er über „Hauptprobleme der Religionsphilosophie" (Spranger 1974, 101-106). Plötzlich ereignet sich erneut eine „völlig unerwartete Errettung" (Spranger 1973c, 345): ein Ruf zum Herbst 1911 an die große Leipziger Universität auf ein Extraordinariat für Philosophie und Pädagogik. Am 1. Oktober 1911 verstirbt Dilthey dann. Spranger hält ihm am 15. März 1912 im Joachimsthaler Gymnasium eine Gedächtnisrede; sie sieht in Diltheys „Ergriffenheit vom Leben" und „Geheimnis der Individualität" den „Einheitspunkt" seines Denkens und in der „Absage an die Metaphysik" und dem „Rückgang vom objektiven Ausdruck zum individuellen lebendigen Ursprungspunkt" die Methode. Diltheys „universales Verständnis" sei ein neuer Standpunkt Jenseits der Systeme", ein neuer Typus der Philosophie (vgl. Spranger 1912). Diesem Standpunkt folgt Spranger fortan weitgehend. In der Leipziger Philosophie lehren damals Wilhelm Wundt und Johannes Volkelt. Ein Jahr später wird auch Spranger Ordinarius. In Leipzig entfaltet er vor großer Hörerschaft eine erfolgreiche Wirksamkeit, befreundet sich mit Theodor Litt und Georg Kerschensteiner. 1912 gibt er die Gesammelten Päda-

10 Vgl. Diltheys Gutachten in: Universitätsarchiv der HUB, Habilitationsakten vom 31.7.1909-8.8. 1920, Phil.Fak. 1231 Bl. 18-21. 11 Brief vom 20.7.1909 an Käthe Hadlich.

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gogischen Schriften Paulsens heraus; 1914 publiziert er in der Festschrift für Riehl die erste Fassung seiner Lebensformen, seines systematischen Hauptwerks. Den Krieg lehnt Spranger ab. „Seit dem 30. Juli 1914 habe ich keine kriegsbegeisternde Rede mehr vor Studenten gehalten, obwohl es vielleicht pädagogisch wirken könnte", schreibt er im Dezember 1915: „Eben weil ich zu tief unter der Kriegswirklichkeit leide." (Spranger 1978, 76)12 Spranger erkrankt erneut über die Belastungen und muss „für ein volles Jahr Urlaub" (Spranger 1973c, 346) nehmen. Seit 1917 ist er dann Berater des preußischen Unterrichtsministeriums. Einen hauptamtlichen Übertritt ins Ministerium lehnt er aber ab, um weiter als Hochschullehrer wirken zu können (vgl. Spranger 1978, 84 ff.).13 Gegenüber Riehl spricht er im Oktober 1918 von einer deutschen Kriegsschuld, beklagt die Jahrelange Irreleitung des Volkes" und hofft auf die neuen Kräfte der Sozialdemokratie (Spranger 1978, 91).14 Er wünscht eine „Synthese des konservativen Staatsgedankens und des sozialistischen", akzeptiert die Veränderungen und erkennt den politischen Wandel auch als Karrierechance. „Es beginnt jetzt allmählich meine Zeit", schreibt er am 29. Oktober 1918 an Käthe Hadlich. Am 27. Dezember 1918 schreibt er an die spätere Gattin Susanne Conrad: „Das Erbe des alten Staates ist völlig verbraucht. Jetzt eine Originalschöpfung, und wir gewinnen noch einmal den Vorsprung [...] Die neuen Herren in Berlin, Unter den Linden, sind ebenso wie der in Dresden meine Gönner und Freunde. Meine Berufung nach Berlin steht näher als jemals." (Spranger 1978, 97)15 Im August 1919 berät die Fakultät über die Nachfolge des alten Riehl. Die Fakultät beabsichtigt die Umwandlung der pädagogischen Abteilung in ein selbständiges Seminar und hofft hier auf Spranger. Im Kommissionsbericht heißt es: „Zwei sachlich bedeutende Abhandlungen aus den jüngsten Jahren beschäftigen sich mit den Problemen der Geschichtswissenschaft. Die Lebensformen stellen, den Gedanken Diltheys von Kultursystemen weiter entwickelnd, typische Auffassungsformen oder Kategorien der Geschichte auf, die Abhandlung: Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie gibt die Umrisse einer Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften, deren Mittelpunkt das Problem des Verstehens bildet." 16 Schon zum Wintersemester 1919 erhält Spranger den „Lehrstuhl von Alois Riehl", zunächst als Interimsordinariat für Philosophie und Pädagogik, 17 das mit dem Ausscheiden Riehls in Sprangers Nachfolge übergeht. Der Minister Carl Heinrich Becker (1876— 1933) teilt den Ruf mit und fügt hinzu: „Wir haben Sie nicht nur an der Universität,

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Spranger am 5.12.1915 an Käthe Hadlich. Sprangers Brief vom 9.1.1918 an den Minister Friedrich Schmitt-Ott. Spranger am 15.10.1918 an „Vater Riehl". Spranger am 27.12.1918 an Susanne Conrad. Universitätsarchiv der HUB, Phil. Fak. 1468, Bl. 179. Zu dieser ungewöhnlichen Regelung vgl. das Schreiben vom Ministerium vom 5.6.1919 (Universitätsarchiv der HUB, Phil.Fak. 1468, Bl. 173).

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sondern wir haben Sie auch als ständigen Berater im Ministerium nötig, und ich hoffe, daß es sich wird ermöglichen lassen, daß Sie die Ihnen angebotene Stelle sobald als möglich antreten." Spranger arbeitet nun eng mit Ernst Troeltsch ( 1 8 6 5 - 1 9 2 3 ) zusammen, der in der Philosophie lehrt und auch parlamentarischer Staatssekretär ist. Umgehend wirft er, einen Titel Beckers (vgl. Becker 1919) variierend, Gedanken über die Lehrerbildung hin, in denen er die Universitäten auf die Ausbildung des „Gelehrten" beschränkt und für die Lehrerausbildung, für den „Geist des Erziehertums" im „Geist von Plato" neu zu schaffende Pädagogische Hochschulen fordert (Spranger 1 9 2 0 ) . Umgehend macht er sich an die monographische Ausarbeitung seiner Lebensformen, um sich als Philosoph in der Nachfolge von Dilthey, Paulsen und Riehl sehen lassen zu können. Seine Berliner Lehrtätigkeit tritt er dann im Sommersemester 1920 innerhalb einer Vorlesung über „Philosophische Grundlegung der Pädagogik" mit programmatischen Worten an. Seinen Hörern sagt er: „Als mir der Lehrstuhl übertragen wurde, von dem ich heute Besitz zu ergreifen die Ehre habe, habe ich ausdrücklich Wert darauf gelegt, daß ihm die Doppelbezeichnung Philosophie und Pädagogik gegeben werde. Nicht nur in dem Sinne, daß beides nebeneinander (stünde), sondern im Sinne eines inneren Zusammenhangs. Die Philosophie im Sinne Diltheys und Riehls als eine aus dem Leben kommende und das Leben gestaltende Macht - nicht als bloße Methodenlehre. Die Pädagogik im philosophischen Sinne, d. h. vom Mittelpunkt aus, wo sie mit dem Sinn des Lebens und mit dem System der Werte zusammenhängt."18

III. Sprangers „Ethik der Persönlichkeit" Die Lebensformen und die anschließende Psychologie des Jugendalters können als Sprangers wichtigste Monographien bezeichnet werden. Beide ergänzen einander als „Theorie des Bildungsideals" und „Theorie der Bildsamkeit" (vgl. Spranger 1920/1973, 271). Die Lebensformen sind eindeutig das philosophische Zentrum (vgl. Spranger 1925b). Spranger plant damals schon seinen völligen Übergang in die Pädagogik. An Edmund Husserl schreibt er im Sommer 1918: „Eine pädagogische Wissenschaft auf dem Boden der Besinnung über die Kulturzusammenhänge zu vollenden, betrachte ich als meine Aufgabe und als meine Möglichkeit; als strengen, ,reinen' Philosophen mich zu fühlen, habe ich schon seit einigen Jahren aufhören müssen." (Spranger 1978, 89)19 Seine Dilthey-Prägung will er freilich noch auf den philosophischen Punkt bringen. Eine starke Stellung in der Fakultät erfordert wenigstens eine große philosophische Leistung. Die Ordinariate werden damals innerhalb weniger Jahre komplett neu besetzt. Carl Stumpf, Alois Riehl und Benno Erdmann (1851-1921) scheiden 1921 aus. Neben Spranger werden Heinrich Maier (1867-1933) und Wolfgang Köhler (1887-1967) 1921 18 Begrüßungsworte Sprangers vom SS 1920 zitiert aus: Nachwort zu: Eduard Spranger, Gesammelte Schriften Bd. II, 430 19 Sprangers Briefentwurf vom 10.8.1918 an Husserl.

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berufen. In der Pädagogik findet Spranger den nationalkonservativen Extraordinarius „Direktor" Ferdinand Jakob Schmidt (1860-1939) vor (vgl. Gerhardt/Mehring/Rindert 1999, 215 ff.). 1923 verstirbt Ernst Troeltsch. Max Dessoir (1867-1947) und Alfred Vierkandt (1867-1953) rücken in ein persönliches Ordinariat auf. Mit den Lebensformen setzt Spranger sich als Erbe Diltheys philosophisch durch. Er pflegt damals innerhalb der Fakultät enge kollegiale Kontakte zu Größen wie Friedrich Meinecke (1862-1954) und Werner Jaeger (1888-1961), dessen „drittem Humanismus" (vgl. Mehring 1999) er nahe steht. Spranger stellt den hohen Anspruch seiner Lebensformen deutlich heraus, spricht von einer „Eingebung" (Spranger 1925b, IX) und „plötzlichen" Intuition (ebd., 33). Es ist sein letztes größeres Werk, seine einzige philosophische Grundlegungsarbeit. Danach geht er mehr zu historischen Studien über. Die Lebensformen sind Alois und Sofie Riehl gewidmet. Spranger nennt sich einen „Schüler" und gar „Sohn" des Dilthey-Nachfolgers Riehl. Immer wieder bezeugt er später: „Alois Riehl war der edelste Mensch, den ich kennengelernt habe." (Spranger 1973c, 344) Über Dilthey finden sich dagegen eher distanzierende Äußerungen. 20 Der Anspruch und die Anlage der Lebensformen antworten auf die Diskussionslage nach Dilthey. Spranger situiert seine Methode im ersten Teil „Geistesphilosophische Grundlagen", nennt sein Werk eine „geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit". Methodisch antwortet er auf die alte Dilthey-Ebbinghaus-Kontroverse um introspektiv „beschreibende" oder elementar „zergliedernde" Psychologie. Schon Dilthey hatte einige Jahre als Schullehrer gearbeitet und Folgerungen seiner „beschreibenden" Psychologie (vgl. Dilthey 1957c) aus dem „Prinzip der inneren Erfahrung" fur die Pädagogik und Ethik gezogen. Er definierte Erziehung als „die planmäßige Tätigkeit, durch welche die Erwachsenen das Seelenleben von Heranwachsenden bilden" (Dilthey 1957a, 69; vgl. auch Dilthey 1958b). Spranger knüpft methodisch und sachlich hier an. Er spricht von einem Gegensatz zwischen einer „elementaren" und einer „Strukturpsychologie", beruft sich auf die Berliner Schule der Gestaltpsychologie (Wolfgang Köhler), mehr noch auf Erich Rudolf Jaensch und spricht von einer Tendenz zur Überwindung der „Zweiteilung der Psychologie hinsichtlich der Methode" (Spranger 1925b, 20). Seine Profilierung der introspektiv-verstehenden Psychologie ist sachlich eine Verteidigung der philosophischen Ich-Perspektive. Spranger spricht auch von einer „Psychologie der Individualität" und „Charakterologie" (ebd., 114).21 Er analysiert die Typen der „Lebensformen" und zielt auf eine „Ethik der Persönlichkeit". Es bedarf kaum der Nachweise, dass dieses Vorhaben heute erneut Beachtung verdient, weil die neuere ethische Diskussion die Alternative um Aristoteles und Kant, Antike und Moderne, eudaimonistische und universalistische Ethik, Ethik des Guten und des Gerechten, Philosophie als „Lebenskunst" und Ethik der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung neu ins Zentrum rückte (vgl. ζ. Β. Seel 1995; Gerhardt 1999).

20 Noch 1955 lehnt Spranger gegenüber dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss eine Würdigung Diltheys im Sammelwerk Große Deutsche ab (vgl. Spranger 1978, 306 [Brief vom 28.11. 1955 an Heuss]). 21 So besonders deutlich bei Utitz 1925; vgl. dazu Mehring 2003a.

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Diltheys große Geistesgeschichte zielte auf eine „Weltanschauungslehre". In der Nachfolge Trendelenburgs typologisierte Dilthey zunächst die Anzahl möglicher Weltanschauungen aus der Beobachterperspektive und suchte in seiner „Philosophie der Philosophie" oder Philosophiegeschichte dann ein „lebensphilosophisches" Verständnis der jeweilige Weltanschauungsoptionen durch Rückgang auf die „Lebensanschauung" der Autoren (vgl. Dilthey 1931; Dilthey 1957b). Eine solche charakterologische Reduktion der Weltanschauungsoptionen findet sich schon bei Piaton, dessen Staat mit einer Charakterologie schloss. Dilthey arbeitete seine „Psychologie" der Weltanschauungen aber nicht aus. Seine Schüler gingen den Weg von der Weltanschauung zur Lebensanschauung weiter. Programmatisch war hier beispielsweise der von Max FrischeisenKöhler herausgegebene Sammelband Weltanschauung (Frischeisen-Köhler 1911), in dem auch Dilthey und Spranger vertreten sind. „Es wird lange dauern, ehe ich von der Diltheyschen Schule zu einem festen Wertbewußtsein komme", ahnt Spranger schon 1907 (Spranger 1978, 37).22 Schritt Dilthey von der Geschichte zur Typologie, so geht Spranger nun von der Typologie aus und beschreibt im zweiten Teil, dem phänomenologisch beschreibenden Hauptteil seiner Lebensformen, die „idealen Grundtypen der Individualität". Der dritte Abschnitt zieht „Folgerungen für die Ethik". Spranger versteht die philosophische Grundlegung nun dezidiert als Aufgabe der „Ethik". Der „Psychologe" tritt als „Ethiker" auf. Er beschreibt die Struktur, „die Dilthey ahnte" (Spranger 1978, 109).23 Typologien wurden nach Dilthey vielfach entwickelt. Akademisch fruchtbar wurde dabei insbesondere Max Webers Weiterentwicklung der Weltanschauungstypologie zur handlungstheoretisch „verstehenden Soziologie". Sprangers Lebensformen sind - weitgehend unthematisch - stark von Weber beeinflusst: insbesondere von dessen Religionssoziologie (vgl. Flitner 1998). Webers Trennung von „Wissenschaft" und „Weltanschauung" allerdings betrachtet Spranger als „Verhängnis", weil die Universität eine „Kulturverantwortung" habe und ein „Ethos der Wahrheitssuche" vermitteln soll (Spranger 1966d, 216-217; vgl. Spranger 1973b). Eine ebenfalls durch Weber hindurchgegangene Weiterentwicklung der Weltanschauungstypologie zur Lebens- und Existenzphilosophie findet sich damals auch bei Karl Jaspers (vgl. Jaspers 1919).24 Zahlreiche weitere Werke wären zu nennen. Sprangers Ausarbeitung seiner Lebensformen steht im breiten Kontext lebensphilosophischer Weiterführungen von Diltheys „Philosophie der Philosophiegeschichte" in Richtung auf eine „soziologisch" informierte Charakterologie. Spranger nimmt dies alles breit und unpolemisch, mit großer Weitsicht und akademischer Ehrerbietung, systematisch klar und entschlossen auf und erklärt seine Untersuchung dabei auch zu einem protestantischen Pendant zu Max Scheler (Spranger 1925b, XIV; vgl. Scheler 1921).25 Spranger teilt mit Scheler damals den Versuch einer wertphilosophischen Überwindung des historischen Relativismus und das besondere religionsphilosophische Interesse am „Heiligen". Seine Überlegung ist es, Idealtypen nicht als subjektive Konstrukte im 22 23 24 25

Spranger am 26.8.1907 an Käthe Hadlich. Spranger am 24.4.1921 an Käthe Hadlich. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919 Vgl. dazu auch die brieflichen Äußerungen (Spranger 1978, 87 u. 98).

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Sinne Webers aufzufassen, sondern quasi platonisch als „ideale Grundtypen" und Werte. Er bezieht sich dafür auch auf Hegel, vergleicht seinen idealistischen Schritt über die historische Wirklichkeit hinaus mit Hegels Schritt vom „objektiven" zum „absoluten" Geist. Terminologisch bezeichnet er diesen „absoluten" Nimbus seiner Grundtypen auch als „normativen Geist" (Spranger 1925b, 17) und spricht von „kulturethischen Direktiven": „Der normative Geist aber bedeutet die kulturethische Direktive, die - der Idee nach - über jeden gegebenen und nur relativ wertvollen Zustand hinaustreibt in der Richtung auf das echt und wahrhaft Wertvolle." (ebd., 17) Später interpretiert er diese Grundtypen im Kontext von Werner Jaegers neoklassischem „dritten Humanismus" klassizistisch (vgl. Spranger 1928b). Wo Weber soziologisch nüchtern aus der Beobachterperspektive konstatiert, dass Idealtypen regelmäßig „auch im praktischen Sinne: vorbildliche Typen" (Weber 1922,199) werden und handlungsleitend wirken, sieht Spranger aus der ethischen Innensicht der Akteursperspektive ein transindividuelles Streben. Er fasst die Grundtypen als „gestaltendes Prinzip" und „geistiges Reich" auf und spricht von „Normalstrukturen" (Spranger 1925b, 114). Das quantitative Hauptgewicht legt er auf die Beschreibung der Grundtypen. Dabei unterscheidet er sechs Grundtypen der Individualität: den „theoretischen", „ökonomischen", „ästhetischen", „sozialen" Menschen, den „Machtmenschen" und den „religiösen Menschen". Auf dem Stand der damaligen Diskussion charakterisiert er diese Grundtypen weltklug und abgeklärt. Dabei geht er stets vom „reinen" Typus aus und nuanciert das Bild durch die wechselseitigen Erhellungen, Mischungen und Brechungen. Als Psychologe legt er den Akzent gerade auf diese „Verschlingungen". Vereinseitigungen in eine Richtung findet er nicht wünschenswert, hält sich aber im beschreibenden Teil mit Wertungen zurück. Zu den einzelnen Charakterisierungen ließe sich einiges anmerken. Philosophisch relevant sind insbesondere Sprangers „Folgerungen für die Ethik" im dritten Hauptteil. Darauf bezieht sich auch der prägnante Titel der Lebensformen. Das Sittliche meint nach Spranger „überhaupt kein gesondertes Lebensgebiet", sondern „nur eine Form des Lebens" (Spranger 1925b, 279): „Sittlichkeit wäre also Selbstbestimmung des persönlichen Seins und Handelns durch den höchsten Wert." (ebd., 282) Durch die individuelle sittliche Entscheidung werden die „idealen Grundtypen" zur „Lebensform". Diese Entscheidung wird vor allem im „Konflikt" erlebt (ebd., 283). Die Ausbildung eines Habitus bringt eine „Lebensform" in die „vorläufige Ruhelage" (ebd., 284). Die Verwirklichung eines Grundtypus durch ein Leben hat einen transindividuellen Gehalt: „Das Sittliche wird also erkennbar als die zu den Wertinhalten des Lebens hinzutretende Form des Sollens. Seinem Gehalt nach aber ist es die persönliche Richtung auf den höchsten objektiven Wert, der uns, indem wir ihn intendieren, zugleich in unserem Wesen vollendet." (ebd., 286) Spranger ordnet den idealen Grandtypen je „einseitige Systeme der Ethik" zu: dem theoretischen Menschen etwa eine „Ethik der allgemeinen Gesetzlichkeit", dem ästhetischen Menschen eine „Ethik der inneren Form". Er zielt dabei auf eine philosophische Relationierung von „kollektiver" und „persönlicher" Moral. Durch die kollektive oder objektive Prägung jeder individuellen Lebensgestaltung ist die „persönliche Moral" zwar sozial gebrochen. Die kollektive Moral wird aber „zuletzt aus der persönlichen Autonomie" (ebd., 307) und „Gewissensentscheidung" in Geltung gesetzt. Spranger hebt die „Ethik der Persönlich-

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keit" über jede einseitige Beschreibung und ethischen Orientierung. Seine „Ethik der Persönlichkeit" fuhrt einen wichtigen Schritt über Dilthey und Weber hinaus. Die ethische Entscheidung wird in ihrer spezifischen Konstellation verständlicher. Spranger interpretiert den „normativen Geist" auch religiös und nennt die „Bezogenheit eines Teilwertes auf das geistige Lebensganze" den Grad an religiöser Bedeutsamkeit, misst die „Rangordnung der Werte" an diesem normativen oder „metaphysischen Gehalt". Die Antwort ergibt sich aus der jeweiligen „Konstellation". Spranger gelangt damit erneut zur „kollektiven Moral" und „Sozialethik", wobei er Diltheys Überlegungen zum „Aufbau der geschichtlichen Welt" weiterfuhrt. Dilthey sprach vom Individuum als „Kreuzungspunkt" der „Kultursysteme" (Dilthey 1958a). Spranger folgt diesem Gedanken und betrachtet die Kultursysteme als den „objektiven Geist", normativen Gehalt und das geschichtliche „Bildungsideal", zu dem das Individuum im Prozess seiner Selbstformung Stellung beziehen muss. In der Geschichte realisieren wir eine besondere „Wertkonstellation" (Spranger 1925b, 413), die transindividuell als objektiver oder normativer „Geist" begegnet. Diese „Normbestimmtheit" unserer sittlichen Selbstauffassung nennt Spranger auch das überpersönliche „dritte Reich" (ebd., 430) des transindividuellen Sinnes. Das „ungelebte Leben" (ebd., 447) dieser Normrichtung sei ein „Sehnsuchtsziel" des Menschen. Spranger verdeutlicht seine „geisteswissenschaftliche Psychologie" und „Ethik der Persönlichkeit" umgehend 1924 in seinem Erfolgsbuch Psychologie des Jugendalters, der Ausarbeitung einer Vorlesung (Spranger 1924; vgl. Spranger 1922). Er schreibt hier ein Stück Entwicklungspsychologie, fasst die philosophische Ich-Perspektive einer „verstehenden Psychologie" als Erlebnisgeschichte und beschränkt sich dabei auf das Jugendalter als „zweite Geburt", „Umbildung" (Spranger 1924, 37) oder formierende Phase der Individuation. Spranger charakterisiert dieses Alter als „Grunderlebnis der Individuation" durch drei Phasen: „Entdeckung des Ich", „allmähliche Entstehung eines Lebensplanes", „Hineinwachsen in die einzelnen Lebensgebiete" (ebd., 38). Er untersucht, mit den titelgebenden Begriffen unserer Festschrift gesprochen, den Schritt zur Selbstbestimmung der Individualität. Das Jugendalter wendet den Blick nach innen und sucht in großer Empfindlichkeit und Reflexivität das eigene „Formgesetz" (ebd., 46), die „Formung der eigenen Seele". Spranger beschreibt diesen „Prozeß der Selbstformung" (ebd., 49) eingehend vom „Phantasieschaffen" ausgehend (vgl. schon Spranger 1911). Er adressiert seine Studie primär an Erzieher und setzt sich korrektiv mit psychologischer und pädagogischer Literatur seit der Jugend- und Wandervogelbewegung auseinander. Die „Psychologie des Jugendalters" ist ihm ein Anwendungsfall seiner verstehenden Psychologie. Die philosophische Korrektur zeitgenössischer Anschauungen und Theorien scheint ihm nötig. Nach Sprangers Auffassung muss man die Psychologie des Jugendalters entwicklungspsychologisch aus der Perspektive des Selbsterlebens verstehen und die Selbsterfahrung des Jugendlichen normativ und ethisch als Prozess der Selbstgestaltung sehen. Schon die Phantasie ist nach Spranger ein Mittel der „Seelenerweiterung" und „Seelenformung" (Spranger 1924, 54). Sie ist „ästhetisch" primär im Sinne der Selbstgestaltung des „ästhetischen Menschen", den die „Lebensformen" charakterisierten. Spranger macht seine „verstehende" Perspektive in seiner Unterscheidung von Sexualität und Erotik für die Beschreibung der jugendlichen Erotik besonders deutlich.

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Er konstatiert eine Inkongruenz zwischen körperlicher und seelischer Reifung, die zwischenzeitlich zu einer Trennung von Sexualität und Erotik fuhrt und die jugendliche Erotik als Bildungsmittel gewinnt. Das Leben zielt auf das „Geheimnis der Erzeugung eines neuen Lebens". Der Jugendliche erfasst den schönen Leib aber zunächst erst als „Ausdruck einer Seele" und Ideal erotischer Verehrung. Er ahnt seine Unreife und konzentriert sich auf die ästhetische oder erotische Liebe als Bildungsmittel. Spranger beschreibt die „Problematik" sexueller Identitätsfindung in kritischer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Autoren wie Sigmund Freud und Hans Blüher. Er richtet sich gegen eine einseitige Thematisierung der „Ordnung der ganzen Seele" (Spranger 1924, 138), beschreibt die Entwicklungsprobleme und Krisen des Jugendalters vom normativen Konzept reifer, gelungener Individuation und Persönlichkeitsentwicklung her. Spranger schildert dann das „Hineinwachsen des Jugendlichen in die Gesellschaft": in das Moral- und Rechtsbewusstsein, die Politik und den Beruf. Konflikt, Krise, Loslösung und Verneinung betrachtet er als notwendig. Die Jugend ist nur Durchgangsstadium. Sie soll eine Jugendkultur ausbilden, aber keine „ewige" Jugend pflegen. „Personwerdung" (ebd., 188) ist das Entwicklungsziel. Spranger lässt das jugendliche Philosophieren zwar typischerweise nicht als wissenschaftliche Philosophie gelten, betont aber die faktische und notwendige „Entfremdung von der Religion der Umgebung" für die Ausbildung einer „eigenen religiösen Überzeugung" (ebd., 295). In der modernen, säkularen Gesellschaft reduziert sich Religiosität oft auf ein „Ringen um den Zentralsinn" und die persönliche „Sinnerfahrung" (ebd., 323). Spranger spricht von einer „Art von unentfalteter Philosophie" (ebd., 277) und charakterisiert zuletzt, ausgehend von Dilthey, einige „Typen des jugendlichen Lebensgefuhls" oder Weltanschauungsausdrucks. Das zentrale Sinnerlebnis der Jugend beschreibt er als geistige „Wiedergeburt" der Individualität. Die Jugendbewegung habe diese Erweckungserfahrung, dieses „Wiedergeburtserlebnis" als „Individualitätskultur" (ebd., 332) stilisiert und organisiert (vgl. Nohl 1933/1949). Autobiographisch nennt Spranger sich rückblickend den „Hölderlintypus" (Spranger 1924, 347; vgl. Spranger 1928d, 99 ff.), der die ästhetische Stilisierung im „Wege bewußtester Selbstprüfung" mühsam distanziert habe. „Und doch", schreibt er: „wer darf sagen, daß er Hölderlin in sich ganz überwunden habe?" (Spranger 1924, 347) Methodisch ist sein Jugenderlebnis in den zitierten belletristischen Quellen noch präsent. Spranger schöpft nicht zuletzt aus dem neuhumanistischen Bildungskanon. Für das Erlebnis jugendlicher Wiedergeburt, Selbstentdeckung und Gestaltung verweist er auf Dantes vita nuova und auf den platonischen Eros. Spranger macht Piatons Eros als individuelle Erlebnis-, Erweckungs- und Bildungsmacht fruchtbar (vgl. Spranger 1958a und 1939/1972). Er profiliert seinen Ansatz damals vor 1933 in zahlreichen Vorträgen und Abhandlungen, die er auch in zwei Bänden sammelt. Unter dem Titel Kultur und Erziehung erscheinen die Weimarer Zeit hindurch gesammelte Aufsätze zur Pädagogik (Spranger 1925a), die Grundfragen und diverse Erziehergestalten (wie Luther, Comenius, Rousseau, Goethe, Hölderlin) würdigen und bildungspolitische Grundfragen erörtern. Spranger optiert für eine „differenzierte Einheitsschule", gegen Egalitarismus für Bildungsaristokratismus, geht aber nicht ins institutionelle Detail. Eine zweite Aufsatzsammlung Volk, Staat, Erziehung (Spranger 1932) stellt das Bildungsideal des Neuhumanismus in

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den Zusammenhang „politischer Volkserziehung". Spranger schlägt hier nationale und preußische Töne an, beschwört den Nationalstaat und die idealistische Tradition der „Opferethik" (Spranger 1932, 107 ff.), orientiert das „Staatsethos" (ebd., 89) aber auch am „wirklichen Staat", feiert Stresemann und Hindenburg, zieht dem Staatsabsolutismus „Grenzen" aus der Instanz religiöser Gewissensfreiheit. Spranger erteilt der diktatorischen „Gestalt des Parteien-Staates" (ebd., 167) 1932 eine deutliche Absage. Er wünscht eine Rückkehr der „legalen Diktatur" (ebd., 167) des Präsidialsystems zur „parlamentarischen Demokratie" und hofft dabei auf die staatsbildenden Kräfte des Beamtentums und Heeres (ebd., 198) sowie auf die „Frontkämpfergeneration als Erziehergeneration" (ebd., 210). Spranger ist ein typischer Kulturprotestant und konservativer Vernunftrepublikaner, der überall konstruktive Bildungskräfte sucht und sich deshalb auch ausgleichend, um Gerechtigkeit bemüht, neuen Entwicklungen öffnet. Philosophischen oder politischen Radikalismus lehnt er ab. Spranger orientiert die „Theorie der Bildsamkeit" an einer „Theorie des Bildungsideals" (Spranger 1928c, 180) in „geschichtsphilosophischer Beleuchtung". Seine Typenlehre nähert sich dabei, über Dilthey hinausgehend, Troeltschs Auffassung an, dass die Überwindung des Historismus von einer religiös und „existentiell" interpretierten Kultursynthese zu erwarten sei (vgl. Spranger 1966c, 164-165). Spranger mustert die Weltanschauungslehren und religiösen Bewegungen der Gegenwart auf ihre Beglaubigung eines Bildungsideals hin durch, arbeitet namentlich die protestantische Theologie der Weimarer Zeit auf und führt seine kulturphilosophische Erörterung des gegenwärtigen Bildungsideals, ähnlich wie Troeltsch, als kulturprotestantisch inspirierte Religionssoziologie durch. Ein Ertrag ist eine religiöse Problematisierung des „Immanenzgefuhls" der „Weltfrömmigkeit" (so schon Spranger 1928a, 35 ff.) bei methodologischer Orientierung an der relativen Selbständigkeit der Philosophie gegenüber dem Radikalismus der dialektischen Theologie und des Existentialismus (vgl. Spranger 1926, 1929, 1931). Als Kulturphilosoph betont Spranger die Bedeutung religiöser Bewegungen für die geschichtliche Entdeckung eines Bildungsideals. Neben Dilthey, Hegel und dem Neuhumanismus steht hier auch eine starke Orientierung an Goethe. Spranger versammelt einige Reden und Aufsätze in einem Büchlein Goethes Weltanschauung. Er orientiert sich dabei am späten Goethe. Dessen „Weltanschauung" begreift er ausgehend vom „Jugendmythos" als eine neuplatonische Mystik, die auf die „sittliche Metamorphose" (Spranger 1946, 67; vgl. auch Spranger 1967) des Menschen sann. Indem Goethe sein Leben als Bildungsprozess verstand, entdeckte er die Psychologie der Lebensalter. In weiser Einsicht in metaphysische Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. Spranger 1967, 225-226) des Menschen sah Goethe seine Weltanschauung als „metaphysische Offenbarung". Spranger begreift „Goethes Allreligiosität" als „Offenheit für letzte Erschließungen" der „Gehalte des Lebens". Diltheys Weltanschauungslehre hob zuletzt auf die „Mehrseitigkeit" des „Rätsels des Lebens" ab (Dilthey 1931, 69-70) und bekannte die eigene „Ratlosigkeit" gegenüber der „Relativität der Antworten auf das Lebensrätsel" (ebd., 198). Auch Spranger zweifelt unter dem Eindruck des katastrophalen Geschichtsgangs immer mehr an der Eigenmacht philosophischer Normbegründung und versteht sich religiös.

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IV. Nach der Grundlegung An der Berliner Universität entfaltet Spranger bis 1933 eine große Wirksamkeit. Er wird Dekan, wird Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Er ist eine zentrale Gestalt des damaligen bildungspolitischen Diskurses, nimmt großen Anteil an Fragen der Lehrerbildung. Seine Pädagogik ist nicht intellektualistisch und gymnasialzentriert. Spranger engagiert sich stärker für die Volksschulen und Volksschullehrerausbildung. Für den Fall einer nationalsozialistischen Machtübernahme erwägt er schon im Dezember 1932, nach dem „Preußenschlag", einen „Rückzug ins Privatleben" (Spranger 1978, 147).26 Nach dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, ersten Ausschreitungen und dem - politisch wie „rassisch" diskriminierenden - „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April geht Spranger mit anderen Kollegen zum Vizekanzler Franz von Papen, um zur Besonnenheit zu mahnen. Alfred Baeumler (1887-1967) wird der Fakultät damals als „politischer Pädagoge" oktroyiert. Spranger beantragt nun angesichts der „Entwicklung der Verhältnisse an den preussischen Universitäten" 27 unter Berufung auf sein Gewissen seine Entpflichtung. Gleichzeitig gibt er der Deutschen Allgemeinen Zeitung eine scharfe Erklärung ab. Er erwartet damals eine solidarische Gemeinschaftsaktion der Hochschullehrer. Spranger bemüht sich um einen Termin beim Minister, bei Hitler persönlich gar, wird aber nicht mehr vorgelassen. „Höchstens drei Kollegen bezeugten mir im Stillen ihre Sympathie." (Spranger 1973c, 351) Statt seiner Emeritierung mit vollem Pensionsanspruch betreibt das Ministerium seine Entlassung, die erst eine persönliche Intervention Papens verhindern kann. Spranger sieht sich nun zur „Kapitulation gezwungen" (ebd.) und erklärt dem Minister in privater Audienz seinen politischen „Irrtum". Er darf seine Professur behalten, muss sein Gesuch aber öffentlich demütigend zurückziehen. Formal ist er nie zurückgetreten. Später leistet er auch den persönlichen Diensteid auf Hitler. „Wofür ich gelebt und gekämpft habe, ist nicht mehr da", schreibt er am 10. Mai 1933 an seine alte Vertraute Käthe Hadlich (Spranger 1978, 153). Er findet nun seine akademische Welt und die rechtsstaatlichen Verhältnisse gänzlich negiert. 28 Spranger hat diese Vorgänge wiederholt geschildert und dabei die Ohnmacht und Folgelosigkeit seines Protestes betont: „In der Form des Kampfes war also nichts mehr zu erreichen. Ich mußte versuchen, der Idee von Wissenschaft und Hochschulerziehung zu dienen, indem ich an der Universität blieb [...] Mein Einfluß in der Universität und Fakultät war natürlich zu Ende." (Poliakov/Wulf 1959, 93-94) 29 Mit einem Artikel „März 1933" (Spranger 1933c) will Spranger seinen kurzen Protest damals wieder vergessen machen. Sein Kollege

26 Eduard Spranger am 2.12.1932 an Käthe Hadlich. 27 Schreiben Sprangers vom 25.4.1933 an den Minister Rust (Universitätsarchiv der HUB, Phil. Fak. 1477, Bl. 144); zu Sprangers Begründung vgl. 1933b; vgl. auch Spranger 1978, 149 ff., sowie 1938/1972 u. 1939/1972. 28 Dies betont Tenorth, 1990; vgl. Henning/Leschinsky 1991. 29 Ein weiteres Motiv war die Rentenfrage: „Ich hörte aber, daß der Minister entschlossen sei, mich ohne Pension zu entlassen, wenn ich das Rücktrittsgesuch nicht zurücknähme." (Spranger 1973c, 351).

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Wolfgang Köhler dagegen legt seine Professur aus Solidarität mit seinen zahlreichen jüdischen Schülern und Kollegen definitiv nieder. Vom „nationalen Aufbruch" lässt auch Spranger sich vorübergehend etwas blenden, ohne seine grundsätzliche Ablehnung des Staatstotalitarismus je zu korrigieren. In einem Überblick über „Die Epochen der politischen Erziehung in Deutschland (Spranger 1938, 162 flf.)30 rechnet er es der Wehrmacht und Hitler positiv zu, dass die „Arbeiterschaft wieder national" gesinnt sei. Spranger fürchtet jedoch, dass der nationale „Aufbruch" auch ein weltanschaulicher „Umbruch" sei (vgl. Spranger 1933a), und geht erneut auf christliche Distanz. In einer großen Abhandlung Umrisse der philosophischen Pädagogik erinnert er an den christlichen „Geist der Liebe" als „höchste Norm" und „Sinoffenbarung" (Spranger 1933/1973, 53). „Es riecht sehr nach Krieg", schreibt er schon im Oktober 1933 (Spranger 1978, 155).31 Anfang 1934 scheitert ein geplanter Wechsel nach Zürich. Spranger zieht sich „auf das historische Gebiet zurück" und heiratet Susanne Conrad, die er schon in seiner Leipziger Zeit als seine Studentin kennenlernte. Die Ehe bleibt kinderlos. Seinem Kollegen in der theoretischen Philosophie, Nicolai Hartmann, gesteht Spranger nun ein „zunehmendes Gefühl der Vereinsamung" (Spranger 1978, 161)32. Der Lehrbetrieb scheint gestört. Der Jugendfreundin schreibt er im Juni 1934: „In meinem Seminar ist ein Stoßtrupp aktiv geworden. Ich habe ihn ernst genommen [...], und ich werde von jetzt an die Lage als Kampfsituation betrachten und durchhalten" (Spranger 1978, 158 f.) 33 . Der Zeitschrift Die Erziehung gehen damals die Autoren aus. Spranger publiziert in den nächsten Jahren vor allem einige Akademieabhandlungen über Pestalozzi, Fröbel und Hegel, Schiller und den „Philosophen von Sanssouci". Im Oktober 1936 wechselt er für ein Jahr nach Tokio als Austauschprofessor und Leiter des dortigen deutsch-japanischen Kulturinstituts. Seine Abkömmlichkeit begründet er in einem ausführlichen Schreiben an den Minister auch mit einem erheblichen Rückgang des Bedarfs infolge der „Abschaffung der planmäßigen Prüfung bei der Promotion zum Dr. phil." 34 Spranger empfiehlt Rudolf Odebrecht als seinen Vertreter. Zum Wintersemester 1937 kehrt er nach Berlin zurück. Am 2. Dezember nimmt er seine Vorlesungen wieder auf. Bei Kriegsbeginn wird er für drei Monate als „Heerespsychologe" eingezogen und genießt nun die Zugehörigkeit zur Wehrmacht als „Schutz gegen die Partei" (Spranger 1973c, 353). Er lehrt aber weiter an der Universität, unternimmt Vortragsreisen nach Schweden, Ungarn und anderswo, erhält Ehrendoktorwürden der Universitäten Budapest, Athen und Padua. Eine 1944 noch genehmigte Reise nach Athen sagt er aus gesundheitlichen Gründen ab. Seit 1934 ist Spranger in der Berliner Mittwochs-Gesellschaft (vgl. Scholder 1998), der auch Generaloberst Beck und andere Verschwörer des 20. Juli 1944 angehören. Vier

30 Eduard Spranger, Die Epochen der politischen Erziehung in Deutschland, in: Die Erziehung 13 (1938), 137-164, bes. 162 ff. 31 Brief v. 19.10.1933 an Käthe Hadlich. 32 Brief v. 9.10.1934 an Nicolai Hartmann. 33 Brief v. 26.6.1934 an Käthe Hadlich. 34 Spranger am 19. Mai 1936 an den Wissenschaftsminister, in: Universitätsarchiv der HUB, PA Spranger, S 224 II Bl. 2426.

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Mitglieder werden hingerichtet. Ziemlich spät, am 8. September 1944, als andere schon gemordet sind, wird auch Spranger als Mitglied der Mittwochgesellschaft unter Verweis auf Goerdeler und Generaloberst Beck verhaftet. Er wird im Gefängnis Moabit inhaftiert und erst nach vier Wochen Haft erstmals verhört. Nach Intervention des japanischen Botschafters kommt er dann einige Wochen später glücklich frei. „Von den seelischen Qualen der Haft, wie gerade ich sie empfunden habe, läßt sich schwer ein Bild geben", schreibt er damals an die Jugendfreundin Käthe Hadlich: „Denke Dir einen Menschen, der schwindelig ist, auf einer Turmspitze ohne Geländer gefesselt - so ungefähr steht man am Abgrund." (Spranger 1978, 222) 35 Bis zum 31. Januar 1945 liest Spranger noch in den Trümmern der Berliner Universität. Sechzig Nächte verbringt er dann im Keller. Die Eroberung Berlins durch die Russen ist schrecklich. Nur dem Klavierspiel verdankt er „vermutlich die Rettung unseres Lebens" (Spranger 1973c, 356). Der Ägyptologe Grapow übergibt ihm damals das Amt als kommissarischer Nachkriegsrektor der Universität. Spranger nimmt aus „innerer Verpflichtung" an und wird bald darauf vom kommunistischen Stadtrat für Volksbildung, Otto Winzer, bestätigt. Im Amt gerät er in Konflikt mit der russischen Verwaltung. Sieben Tage wird Spranger auch, eher zufällig, von den Amerikanern in einem Camp am Wannsee inhaftiert. Sein Plan einer Verlegung der zerbombten Universität in das unzerstörte Olympiagelände im Westsektor wird nicht in seiner strategischen Bedeutung erkannt. Als die Universitätsverwaltung vom Berliner Magistrat an die Ostzonenregierung übergeht, wird er im Oktober 1945 seines Amtes enthoben. An der Wiedereröffnung der Universität im Januar 1946 ist er nicht mehr beteiligt. Am 29. Januar 1946 wird er aber noch vom Präsidenten der Deutschen Verwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone als Ordentlicher Professor bestätigt. Für das Wintersemester 1946/47 kündigt er Vorlesungen an. Im Juli 1946 wechselt er aber, an mehrere Universitäten gleichzeitig berufen, auf Initiative seines Berliner Nachbarn Theodor Heuss als ordentlicher Professor fur Philosophie nach Tübingen. 36 Am 3. August setzt er Berlin bereits aus Tübingen von seinem Wechsel in Kenntnis. 37 1 95 0 wird er emeritiert, hält aber noch bis 1953 Veranstaltungen ab. Nachdem 1942 eine erste Festschrift erschien, erhält Spranger zum 75. Geburtstag 1957 gleich zwei weitere Festschriften. Auch nach 1946 publiziert er rege. 38 Die Ehrungen sind kaum zu zählen. Ein Versuch, ihm die Ehrenbürgerschaft Berlins zu erteilen, scheitert aber. Im September 1963 verstirbt Spranger in Tübingen nach kurzer Krankheit. Er liegt dort nahe Hölderlin begraben. Nach seinem Tod wird eine elfbändige Ausgabe Gesammelter Schriften veranstaltet. Sie dokumentiert die ganze Spannweite und den Tiefgang des Werkes auch durch einige unveröffentlichte Vorlesungsmanuskripte. Ihr Erscheinen

35 Eduard Spranger am 18.11.1944; zu den näheren Umständen der Verhaftung - Spranger war näher mit Generaloberst Beck bekannt - vgl. auch Sprangers Brief vom 19.1.1946 an Käthe Hadlich (Spranger 1978, 239 f.). 36 Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone, Schreiben vom 14.9.1946, in: Universitätsarchiv der HUB, PA Spranger 224, Bd. II, Bl. 66-70. 37 Spranger am 3.8.1946 an den Rrektor Johannes Stroux, in: Universitätsarchiv der HUB, PA Spranger, S 224 II Bl. 70 38 Vgl. Spranger 1947, 1949, 1951a, 1951b. 1 9 5 3 , 1 9 5 4 , 1 9 5 5 , 1 9 5 8 a , 1962a, 1962b und 1963.

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trifft aber bereits in eine Zeit, der der Zusammenklang von Philosophie und Pädagogik fremd geworden ist.

V. Aktualität Gewiss trägt auch Sprangers politisches Denken zeitgebundene Züge. Es wäre aber doch abwegig, einen nationalkonservativen Preußen, der sich der Weimarer Republik öffnete und gegen den Nationalsozialismus erklärte, der verhaftet wurde und im akademischen Habitus ein Muster an protestantischer Ethik und Rechtschaffenheit gab, ex post zu beckmessern. An Spranger ging die Weimarer Republik nicht unter. Seine ausgleichende Umsicht vermisst man heute in manchen bildungspolitischen Debatten. Man könnte sein Werk nun breiter darstellen, die Umsetzung der Bildungsphilosophie in die Schulund Bildungspolitik näher würdigen und auch die zahlreichen historischen Studien etwa zur Volksschule erörtern. Wichtig wäre auch eine Würdigung des akademischen Lehrers. Sprangers Fakultätskorrespondenz, seine Gutachten zeigen den klugen und weitsichtigen Lehrer von großer Seriosität, Verlässlichkeit und Urteilskraft. Spranger war kein verquaster Schöngeist. Er formulierte glasklar, orientierte seine Vortragsrhetorik allerdings am Adressaten. Seine Hauptwerke sind nicht vage und erbaulich. Sprangers akademische Bedeutung liegt nicht nur in der breiten Wirksamkeit: in der Personalunion des Lehrers, Forschers, Verwalters, Bildungspolitikers und Erben einer Tradition. Spranger fuhrt die Diskussionen nach Dilthey in eine Richtung, zur Ethik der Lebensformen, in der sich die philosophische Diskussion heute, teils modisch und populär, im Zeichen der „Lebenskunst" erneut versammelt. Oft erreicht sie dabei nicht die komplexe, konstellative Lokalisierung der individuellen Entscheidung, um die sich Spranger bemühte. Spranger will die individuelle moralische Entscheidung in ihrer historischen Bedingtheit und ihren „normativen" Möglichkeiten erhellen: den Ort der Entscheidung zwischen Vergangenheit und Potentialität gleichsam. Er sucht die humanen Möglichkeiten in ihrer historischen Bedingtheit auf und fasst sie mit christlichem Akzent normativ als „ewige" oder „ideale Grundtypen". Insbesondere an der Psychologie des Jugendalters verdeutlicht er, wie sehr der Punkt der Entscheidung, das Potential sittlicher Selbstgestaltung, durch ein komplexes Bedingungsgefuge geformt ist. So erhellt er die Spannung von Individualität und Selbstbestimmung, die mit dem Titel unserer Festschrift auch das Werk des Jubilars bezeichnet. Wir werden als Individuen in ein komplexes Bedingungsgefuge hinein geboren, wachsen darin auf, bevor wir uns reflektierend aus der Perspektive eines Selbstentwurfs dazu verhalten können. Die Selbstbestimmung ist durch unser Leben prädeterminiert (vgl. dazu Gerhardt 2000, 2001 und 2004). Wir entwerfen uns nicht frei aus der Zukunft unendlicher Möglichkeiten, sondern „teleologisch" als Gestalten unserer Individualität. Die Individualität steht uns nicht frei, sondern wir gestalten sie im Rahmen ihrer - biologischen und psychosozialen - Bedingtheit. Gewiss weiß man heute über das Geflecht und Wechselspiel dieser Bedingtheit - angefangen beim genetischen Code - im Detail sehr viel mehr als zu Sprangers Zeiten. Und doch hat Spranger - in den Spuren Diltheys - große Verdienste für die Beschreibung der Individuation als Wechselspiel gegebener Individualität und aufgegebener Selbstbestim-

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mung. Und auch hier mag Piatons Heuristik des Menschen gelten: Den praktischen Wert und Nutzen philosophischer Kategorienbildung erkennt man in der politischen Institutionalisierung, am Makroanthropos, bisweilen plastischer. Spranger las zwar über Philosophische Pädagogik. Er verzichtete aber nach seinen Grundlegungsschriften, den Lebensformen und der Psychologie des Jugendalters, auf einen weiteren monographischen Ausbau seines Ansatzes. Seine Kategorien sollten sich in der Praxis und im bildungspolitischen Reformwerk bewähren. Spranger wollte das Schul- und Hochschulsystem humanisieren. Dabei verengte er die Erziehung nicht auf ein kopflastiges Ausbildungssystem. Ihm war es mit der Persönlichkeitsbildung ernst. Die „Ethik der Persönlichkeit" bezeichnete ihm ein Ideal freier Individualität, über die narzisstische Variante eines „ästhetischen Humanismus" hinaus, wie er sie am Aristokraten Humboldt kritisierte. Nicht zuletzt in den großen Erzieherpersönlichkeiten sah er dieses Ethos wirken: im pädagogisch beseelten Grundschullehrer oft mehr als im kollegial geschätzten Erziehungswissenschaftler. Auf den Primat der Persönlichkeitsbildung suchte er das Erziehungssystem auszurichten. Man sollte sich heute dieses Primats gelegentlich erinnern, um den Preis zu ermessen, den die Wendung von der Bildung zur Ausbildung und vom Individuum zum Primat der Gesellschaft, zu kurzatmiger Ökonomie der Gesellschaft gar kostet. Der Niedergang der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik", für die Spranger neben Hermann Nohl, Theodor Litt und manchem anderen steht, mag auch hausgemacht sein. Der philosophische Kern des Bildungsbegriffs mag in dieser Linie oder Schule mitunter verschlissen worden sein. Das gilt aber kaum für Spranger; er dachte und wirkte als Pädagoge im „Geist Piatos". In der vielfaltigen und disparaten Betriebsamkeit des heutigen pädagogischen Reformismus könnte es hilfreich sein, den integralen Sinn seines Bildungsbegriffs erneut zu erinnern. Spranger, der letzte Erbe der Berliner Tradition vor 1945, ist gewiss kein schlechtes Medium der Erinnerung des Bildungsgedankens. Unsere Studien zum Berliner Geist schrieben ihn deshalb auch als Erben und „Epigonen" - positiv im Sinne von Jacob Burckhardts und Max Webers Epigonenbewusstsein 39 - in diese Tradition hinein. Volker Gerhardt hat diese Tradition in seiner Berliner Zeit seit 1992 universitätspolitisch erinnert und revitalisiert. Der „Mythos" Humboldt war ihm ein universitätspolitisches Argument und Reformkonzept gegen die Hypotheken der Sowjetisierung und der DDRGeschichte. Spranger erlebte diese Sowjetisierung als erster Rektor der Übergangszeit 1945 noch. Sein Name steht auch fur den Untergang der Berliner Tradition in der deutschen Geschichte. Zehn Jahre ist es nun her, dass unsere Studie Berliner Geist als ein erster, gewiss flüchtiger und fehlerhafter Versuch historischer Standortbestimmung erschien. Die universitätspolitische Strategie eines „Neubeginns durch Anpassung" (vgl. Schluchter 1996; Mehring 2000) war damals gerade in Berlin ideenpolitisch wie institutionell sinnvoll. Sie wurde aber bald durch die umwälzenden Veränderungen des „Bologna"-Prozesses überholt und geriet in andere hochschulpolitische Frontlagen. Es hat symbolische Be39 Dazu nur die berühmten Worte von Jacob Burckhardt über historische Größe: „Unseren Ausgang nehmen wir von unserem Knirpstum, unserer Zerfahrenheit und Zerstreuung. Größe ist, was wir nicht sind." (Burckhardt 1956, 151)

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deutung, dass die Nachfolgekonferenz für „Bologna" im September 2003 in Berlin stattfand. Besuchten die Teilnehmer damals auch die alte Humboldt-Universität? Kirchen werden gerne auf alten Tempeln erbaut. Die Humboldt-Rhetorik wird heute von einer neuen Bologna-Rhetorik verdrängt. Die Hochschulen werden verschult, die „akademische Freiheit" verändert ihren Sinn. Eine „Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden" gibt es immer weniger. Die Humboldtsche „Trias von Forschungsfreiheit, Lehrfreiheit und Lernfreiheit" zerbricht. Lehr- und Lernfreiheit werden da zum verfassungsrechtlichen Problem. Lernfreiheit beschränkt sich zunehmend auf die Freiheit der Hochschulwahl (vgl. Glaser 2008; Spranger 1961). Sie ist auch ökonomisch bedrängt. Das Hochschulsystem entwickelt sich zum Klassensystem mit besonders geförderten „Eliteuniversitäten" und abgehängten Ausbildungsmühlen. Viele Bologna-Blütenträume sind heute zerplatzt. Manche Änderungen waren gewiss nötig und sinnvoll. Insgesamt scheint die Philosophie aber zu den Verlierern im Bologna-Prozess zu gehören. Eine polemische Konfrontation von „Humboldt" und „Bologna" kann dabei nicht das letzte Wort sein. Auch Volker Gerhardt ist manche Änderungen vorsichtig mitgegangen. Dabei weiß er sich der Berliner Tradition verpflichtet. Seine Berliner Wirksamkeit lässt sich in manchen Zügen mit dem Werk Eduard Sprangers vergleichen. Wenn man den „Berliner Geist" in seiner Hauptlinie von Hegel und Schleiermacher über Dilthey zu Spranger sieht, so steht sein Werk heute hochschulpolitisch wie philosophisch in dieser Linie, auf diesen Schultern. Es ist eine Auszeichnung und ein Glück, ein Erbe dieser Philosophie, dieses hochschul- und bildungspolitischen Geistes zu sein, dem Spranger dienen wollte. Die heutige Pädagogik hat sich von ihren philosophischen Wurzeln weitgehend emanzipiert. Pädagogik und Psychologie werden nicht mehr, wie an der Friedrich-Wilhelms-Universität noch, unter einem Dach gelehrt. An den Lehrstuhlbezeichnungen ist dies ablesbar. Der Versuch der Dilthey-Schule, Philosophie und Psychologie erneut zusammenzuführen und als philosophische Psychologie zu vertreten, ist weitgehend historisch. Die Psychologie hat sich paradigmatisch und institutionell emanzipiert und als empirische Leitwissenschaft für die Erziehungswissenschaften etabliert. Philosophische Orientierungen spielen heute für die Erziehungswissenschaften keine zentrale Rolle mehr. Eine philosophische Synthese pädagogischer Arbeit im Zeichen des Bildungsbegriffs wird kaum noch erwartet. Die akademische „Profilbildung" scheint überhaupt aus den Händen einer Leitdisziplin in Publicitypolitik überzugehen. „Leitbildkommissionen" sind hier zwiespältige Einrichtungen. Die pädagogische Psychologie hielt zwar lange mit ihrer psychoanalytischen und entwicklungspsychologischen Orientierung noch ein „geisteswissenschaftliches" Paradigma fest. Seit einigen Jahren läuft sie aber zur „härter" fundierten Neurobiologie über. Die psychologische Grundlegungsarbeit etabliert sich damit vollends als empirische Wissenschaft. Parallel beobachtet man einen Bedeutungswandel des BildungsbegrifFs in der didaktischen Diskussion. An der Humboldt-Universität wurde unlängst unabhängig vom „Institut für Erziehungswissenschaften" ein „Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen" gegründet, das die Normierung und weitere Erforschung von „Bildungsstandards" zur Aufgabe hat. Deren Einschätzung ist heute noch offen. Zwar bringt der Bologna-Prozess eine vielfach unbefriedigende und falsche Verschulung der Lehre mit sich. Auch in den Schulen aber wird die Lehre durch zentralisierte Bildungsstandards allein noch nicht zum Paukboden.

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„Bildungsstandards" werden heute als „Kompetenzen" beschrieben. Der schulische „Stoff' meint - für die Politikdidaktik gesprochen - ein „konzeptuelles Deutungswissen" 40 : erworbene Fertigkeiten, kein eingetrichtertes Faktenwissen und keine außerschulischen Fähigkeiten. Oxen sichert noch kein Lernen. Wie steht die Philosophiedidaktik in diesem Wandel? Muss man hier von einem revolutionären Bruch sprechen? Was für die Politikdidaktik gilt, kann auch der Philosophie nicht ganz fremd sein: Auch sie legt den Bildungsbegriff nicht einfach ab. Von Hegel bis Arthur Liebert (vgl. Mehring 2006) brachte die Berliner Tradition Pioniere der Philosophiedidaktik hervor. Schon Hegel beklagte die „moderne Sucht" der Philosophiedidaktik, „daß man ohne Inhalt philosophieren lernen soll" (Hegel 1812/1970, 410). Ein solches „unsystematisches Philosophieren" erreiche das Gegenteil des Gewollten. Nichts bleibt ohne System und Methode hängen. Zwar klingen manche philosophiedidaktische Äußerungen Hegels nach dem Trichtermodell. Letztlich betont aber schon Hegel den philosophischen Zwang zur „Umbildung" des Stoffes nach jeweiligem systematischen Stand; er richtet sich nur gegen eine polemische Konfrontation des Lernstoffes mit dem „Selbstdenken" (1816/ 1970, 422). 4 1 Hegel plädiert für eine systematische Aneignung des historisch überlieferten Stoffes. Seine Philosophiegeschichte ist das hohe Muster einer „philosophierenden" Philosophiegeschichtsschreibung. „Bildungsstandards" sind für sich genommen noch keine Katastrophe. Sie allein verwandeln den philosophischen Unterricht nicht in Gebetsmühlen. Die Empirisierung von Kompetenzkatalogen zieht zwar viele praktische Umsetzungsprobleme nach sich. Die Verschulung und Ökonomisierung der „Bildung" ist ein verbreiteter Trend. Der Versuch, „Bildung" als Kompetenzen zu fassen, aufzufächern, abzutesten, einzuüben, muss aber nicht grundsätzlich falsch sein. Vielleicht ist er sogar gangbar. Eine polemische Konfrontation von „Bildung" und „Ausbildung", wonach gebildet ist, wer nichts kann, lag jedenfalls nicht im Sinne Sprangers, der Bildung als Kompetenz der „Kulturfähigkeit" definierte. Man muss also nicht bildungspolitische Kassandra spielen. Die alte Idee der „Persönlichkeitsbildung" hat es heute dennoch in der pädagogischen Theorie und Praxis schwer. Es bleibt die Aufgabe philosophischer Pädagogik, das Erziehungssystem unter dieser Idee zu sehen und zu gestalten.

4 0 So die Formulierung der GPJD (Gesellschaft fur Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung), Nationale Bildungsstandards fur den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf, Schwalbach 2 0 0 4 ; dazu Wolfgang Sander, Vom , S t o f f zum ,Konzept'. Wissen in der politischen Bildung, in: Polis Heft 4 ( 2 0 0 7 ) , 19-24; vgl. auch Georg Weißeno, Standards für die politische Bildung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Heft 12 ( 2 0 0 5 ) , 3 2 - 3 8 41 Georg W. F. Hegel, Über den Vortrag der Philosophie auf Universitäten, 1816, in: Theorie-Werkausgabe, Frankfurt 1970, Bd. IV, 4 1 8 - 4 2 4 , hier: 4 2 2

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REINHARD MEHRING

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Spranger, Eduard (1958b): Mein Lehrer Friedrich Paulsen. In: Universitas 13,1243-1246. Spranger, Eduard (1961): Akademische Lehrfreiheit. In: Ders.: Hochschule und Gesellschaft. Gesammelte Schriften. Bd. X . Tübingen: Niemeyer, 406-413. Spranger, Eduard (1962a): Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung. Heidelberg: Quelle & Meyer. Spranger, Eduard (1962b): Der Philosoph von Sanssouci. Heidelberg: Quelle & Meyer. Spranger, Eduard (1963): Menschenleben und Menschheitsfragen. München: Piper. Spranger, Eduard (1966a): Aus der Chronik der Friedrichstraße. In: Ders.: Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen. Tübingen: Wunderlich, 20-28. Spranger, Eduard (1966b): Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen. Tübingen: Wunderlich. Spranger, Eduard (1966c): Das Historismusproblem an der Universität Berlin seit 1900: Wilhelm Dilthey, Ernst Troeltsch, Friedrich Meineke. In: Ders.: Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen. Tübingen: Wunderlich, 147-183. Spranger, Eduard (1966d): Die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. In: Ders.: Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen. Tübingen: Wunderlich, 188-220. Spranger, Eduard (1966e): Was mein Leben bestimmte. In: Ders.: Berliner Geist. Aufsätze, Reden und Aufzeichnungen. Tübingen: Wunderlich, 184-187. Spranger, Eduard (1967): Goethe. Seine geistige Welt. Tübingen: Wunderlich. Spranger, Eduard (1972a): Erzieher zur Humanität. Gesammelte Schriften. Bd. X . Tübingen: Niemeyer 1972. Spranger, Eduard (1972b): Wilhelm Dilthey. Erzieher zur Humanität. In: Ders. Gesammelte Schriften. Bd. XI. Tübingen: Niemeyer, 376-388. Spranger, Eduard (1973a): Grundlagen der Pädagogik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II. Tübingen: Niemeyer, 222-231. Spranger, Eduard (1973b): Der Universitätslehrer als Erzieher. In: Ders.: Hochschule und Gesellschaft. Gesammelte Schriften. Bd. X . Tübingen: Niemeyer, 391-405. Spranger, Eduard (1973c): Ein Professorenleben im 20. Jahrhundert. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. X . Tübingen: Niemeyer, 342-360. Spranger, Eduard (1973d): Grundfragen der philosophischen Pädagogik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II. Tübingen: Niemeyer, 208-221. Spranger, Eduard (1973e): Umrisse der philosophischen Pädagogik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II. Tübingen: Niemeyer, 7-61. Spranger, Eduard (1973Í): Vom Wissenschaftscharakter der Pädagogik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II. Tübingen: Niemeyer, 365-376. Spranger, Eduard (1974): Hauptprobleme der Religionsphilosophie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. IX. Tübingen: Niemeyer, 101-161. Spranger, Eduard (1978): Briefe 1901 - 1963. Gesammelte Schriften. Bd. VII. Tübingen: Niemeyer. Tenorth, Heinz-Elmar (1990): Eduard Sprangers hochschulpolitischer Konflikt 1933. Politisches Handeln eines preußischen Gelehrten. In: Zeitschrift für Pädagogik 36, 573-596. Tenorth, Heinz-Elmar (2000): Geschichte der Erziehung. Eine Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung. 3. Aufl. Weinheim: Juventa-Verlag. Tenorth, Heinz-Elmar (2001): Sprangers Erziehungsphilosophie - ihre Bedeutung für Pädagogik und Erziehungswissenschaft. In: Gerhard Meyer-Willner (Hg.): Eduard Spranger. Aspekte seines Werkes aus heutiger Sicht. Bad Heilbrunn: Klinckhardt, 16-29. Tenorth, Heinz-Elmar (2002): Pädagogik fur Krieg und Frieden. Eduard Spranger und die Erziehungswissenschaft an der Berliner Universität. In: Klaus Peter Horn/Heidemarie Kemnitz (Hg.): Pädagogik

„BERLINERGEIST" ALS „LEBENSFORM": EDUARD SPRANGER ( 1 8 8 2 - 1 9 6 3 )

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unter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Franz Steiner, 191-226. Utitz, Emil (1925): Charakterologie. Berlin: Heise. Weber, Max (1919/1992): Wissenschaft als Beruf. In: Max-Weber-Gesamtausgabe, Bd. XVII. Tübingen: Mohr Siebeck, 71-111. Weber, Max (1922): Die .Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr Siebeck. Weißeno, Georg (2005): Standards für die politische Bildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 12, 32-38.

Beiträgerinnen und Beiträger

DOROTHEA FREDE ist Professorin für Philosophie an der University of California, Berkeley CHRISTOPH GESTRICH ist Professor em. für Systematische Theologie/Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin CARL F. GETHMANN ist Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Duisburg-Essen und Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT ist Professorin fur Philosophie am Institut fur Philosophie der Fernuniversität Hagen JAN-CHRISTOPH HEILINGER ist wissenschaftlicher Koordinator der Arbeitsgruppen Humanprojekt und Funktionen des Bewusstseins der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften BEATRIX HIMMELMANN ist Professorin für Philosophie an der University of Illinois at Urbana Champaign OTFRIED HÖFFE ist Professor für Philosophie am Seminar für Philosophie der Universität Tübingen HASSO HOFMANN ist Professor em. für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin WOLFGANG KERSTING ist Professor für Philosophie und Direktor am Philosophischen Seminar an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel COLIN G KING ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftlicher Koordinator des August-Boeckh Antike-Zentrums. JOHN M. KROIS ist api. Professor für philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin

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BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER

HUBERT MARKL ist Professor em. an der Fakultät für Biologie der Universität Konstanz REINHARD MEHRING ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg THOMAS MEYER ist Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund. JÜRGEN MITTELSTRASS ist Professor em. für Philosophie an der Universität Konstanz CHRISTIAN MÖCKEL ist api. Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin JULIAN NIDA-RÜMELIN ist Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität München HENNING OTTMANN ist Professor für Politische Theorie und Philosophie am GeschwisterSchöll Institut der Ludwig-Maximilian-Universität München ROBERT PIPPIN ist Professor in the Committee on Social Thought und am Institut für Philosophie an der Universität Chicago RENATE RESCHKE ist Professorin am Seminar für Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin RICHARD SCHRÖDER ist Professor em. für Philosophie am Seminar für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin JOSEF SIMON ist Professor em. für Philosophie am Institut für Philosophie der FriedrichWillhelms-Universität Bonn ULRICH STEINVORTH ist Professor em. am Institut für Philosophie der Universität Hamburg und Professor für Philosophie an der Bilkent Universität in Ankara DIETER STURMA ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn, Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik sowie des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften, Bonn MARCUS WILLASCHEK ist Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Frankfurt/Main HÉCTOR WITTWER ist Wissenschaftlicher Assistent und Privatdozent am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin

Personenverzeichnis

Adorno, T. 309 Apel, Κ.-O. 187 Aristophanes 45 Aristoteles, 24, 48, 55, 58, 77, 81, 91, 114, 125-142,145, 147, 151, 187, 190, 227, 270f., 275, 305, 308, 326, 333,346f„ 363, 366, 386 Augustinus 271,305 Austin, J. 197,272 Bacon, F. 205 Baeumler, A. 392 Baumgarten, A. G 285 Beccaria, C. 215 Beck, L. 144,146,150 Becker, C. H. 384f. Becker, O. 31, 339f., 344, 354, 356f. Bentham, J. 227 Berlin, I. 313 Bittner, R. 84-86,88 Bonaventura 55 Bonner, J. T. 120 Brentano, C. 300 Burckhardt, J. 396 Bush, G.W. 265 Cassirer, E. 26, 167-180, 352, 35f„ 358, 362 Changeux, J.-P. 116 Cicero 135,271 Cohen, H. 171f., 178, 180 Comenius, J. A. 390 Conrad, S. 384,393 Descartes 21, 25, 36, 58, 69f„ 92, 143, 147149, 151-153, 341 Dewey, J. 362 Dilthey, W. 158, 341, 343f„ 347, 381-387, 389-391, 395, 397

Duns Scotus 55 Engels, F. 309 Fechner, G. T. 382 Fest, J. 119 Fichte, J.G. 21,59,171 Florenskij, P. 315 Fontana, L. 364f. Foucault, M. 226 Frankfurt, H. 333,337 Franklin, R. 369f. Frege, G. 73 Freud, S. 22, 80, 83f„ 99,235, 274, 380, 390 Friedell, E. 285 Friedrich II. 130 Fröbel, F. 393 Gallagher, S. 372 Gauguin, P. 326-332 Gehlen, A. 274,344,353 Gerhardt, V. 11, 13-20, 2 2 f , 25-28, 30-32, 63,91-93, 95-97, 105-110, 113-115, 157, 168,174,193,202,237,250,252,277, 281, 303, 379f„ 396f. Gibbard, A. 194f. Gierke, O. 25,157-163,175 Goerdeler, C. F. 394 Goethe, J. W. 17,167f„ 285, 287, 375, 390f. Goodman, N. 362f. Gottsched, J. 285 Grapow, H. 394 Griffin, D. 117 Habermas, J. 187f., 197,199,260, 265 Hadlich, K. 381-384,392,394 Harnack, A. v. 381 Hartmann, N. 393

408

PERSONENVERZEICHNIS

Hayek, F. 154 Head, H. 372 Hegel, G. W. F. 21f„ 27, 30, 60, 66f., 69, 75, 86, 154, 160, 169, 171, 199, 205f„ 214f„ 217, 221, 281-284, 290,296-300, 308-310, 388, 391,393, 397f. Heidegger, M. 31f., 58, 86,174, 179, 339358, 362, 366 Herder, J. G. 262, 282, 285f. Hesiod 295 Heuss, T. 386,394 Hintze, O. 381 Hirsch, A. v. 215f. Hitler, A. 392f.

Laski, H. 161 Lasson, A. 381 Leibniz, G. W. 21, 56-58, 148, 151, 169, 171 Lessing, G. 285 Lewis, D. 197 Liszt, F. v. 214,381 Litt, T. 380,383,396 Locke, J. 147Í, 283, 315 Lorenz, K. 55-57,59,358 Lorenzen, P. 187 Luckner, A. 339f. Luther, M. 305,318,333,390 Lyotard, J.-F. 59,272

Hobbes, T. 220, 272f., 276, 283 Hölderlin, F. 390,394 Homer 128, 270, 285, 287, 293, 295, 299 Horkheimer, M. 309 Hörnle, T. 215f. Huber, W. 305,314 Humboldt, Willhelm v. 71, 157, 382f., 396f. Hume, D. 72, 147Í, 250 Huntington, S. 258,265 Husserl, E. 58, 174, 273, 341f„ 346-348, 351, 385

Marx, K. 235,298,309 Meier, G. F. 285 Mensching, S. 300f. Mill, J. S. 201,313

James, H. 88 Janich, P. 340,358 Jaspers, K. 341-344,387 Jonas, H. 317,363

Odebrecht, R. 393 Ovid 99, 149

Kamlah, W. 32, 187, 340, 353-358 Kandinsky, W. 375 Kane, R. 93-95,97,104,109 Kant, I. 14f„ 20-25, 27, 58-60, 63-75, 93, 98-106,108-110, 143-154,170f., 173, 185, 190, 193, 198f., 201, 214f., 217, 220f., 227, 235f., 245, 252, 283, 292, 305, 309, 312f., 317Í, 326, 329-331, 334-337, 341345, 347, 354, 362, 372, 379, 386 Kerschensteiner, G. 383 King, B. G. 204 Klee, P. 363 Köhler, W. 385-387,393 Laband, P. 25, 158f., 161f. La Mettrie, J. de 116 Lamprecht, Κ. 381

Nagel, T. 248,329-334 Natorp, P. 201 Nelson, L. 201 Nietzsche, F. 17, 20, 22, 30, 71f, 77-90, 193, 282, 290, 331 f., 379 Nohl, H. 380,390,396

Palucca, G. 375 Papen, F. v. 392 Pauer, G. 364f. Paulsen, F. 380-382, 384f. Paulus 120, 305f., 310-313, 318f. Peirce, C. 187 Pestalozzi, J. H. 393 Piaget, J. 380 Platon, Plato 20, 37-53, 59, 92, 150, 169, 175, 183, 185, 190, 213, 219, 270f., 273, 276, 305, 347, 361-363, 376, 379, 385, 387, 390 Plessner, H. 344,353 Popper, K. 154 Rawls, J. 190,245 Rickert, H. 381 Riehl, A. 382-386 Roethe, G. 381 Rousseau, J.-J. 200, 247, 290, 382, 390

PERSONENVERZEICHNIS

Salisbury, J. 276 Sartre, J. 86,357 Satterthwaite, M. 194f. Scheler, M. 317,341-344,387 Schelling, F. W. J. 60, 160,163,297, 347 Schelsky, H. 274 Schiller, F. 290f., 295, 307, 393 Schlegel, A. W. 297 Schlegel, F. 297 Schmidt, E. 381 Schmidt, F.J. 386 Schmitt, C. 275 Schmoller, G. 381 Schopenhauer, A. 347 Schwemmer, O. 340, 352, 357f. Simmel, G. 17, 23, 105f., 381 Skinner, B. F. 23, 93-101, 103, 110, 271f. Smith, A. 99,201,306 Sokrates 37-39,41,43-50, 56, 59,92,150, 183, 185, 187, 270 Sousa, R. de 244 Spranger, E. 32f., 379-398 Stumpf, C. 380-383,385 Surowiecki, J. 115 Taylor, C. 28, 243, 245, 247, 266, 314 Thomas von Aquin 55,219,305

Tödt, H. 305 Tolstoi, L. 334-336 Tocqueville, A. de 274 Valentin, C. 304 Voegelin, E. 269 Volkelt, J. 383 Wagner, A. 381 Watson, J. 98,370 Weber, M. 226,261, 317, 379, 387-389, 396 Welsch, W. 262 Wieland, C. 285 Wilamowitz, U. v. 381 Wilde, O. 185 Williams, B. 31,326-334 Winch, P. 272 Winckelmann, J. 30,281-296,299 Windelband, W. 381 Winzer, O. 394 Wittgenstein, L. 59, 86, 190, 272, 362 Wolff, C. 169,285 Wölfflin, H. 366 Wundt, W. 383 Zimbardo, P. 119f.