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German Pages 355 [357] Year 2015
Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors
Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat / Advisory Board
Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Douglas Hedley (Cambridge) · Johannes Hübner (Halle) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)
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Andreas Gasser
Form und Materie bei Aristoteles Vorarbeiten zu einer Interpretation der Substanzbücher
Mohr Siebeck
Andreas Gasser, geboren 1977; 1999–2007 Studium der Philosophie und Soziologie; seit 2007 Mitarbeit am Projekt Alcuin (www.alcuin.de); seit 2008 Dozent an der Universität Regensburg; 2013 Promotion in Philosophie; derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie der Universität Regensburg.
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) e-ISBN 978-3-16-153715-8 ISBN 978-3-16-153666-3 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2013/14 von der Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der Universität Regensburg angenommen wurde. Mein Dank gilt in erster Linie meinem Doktorvater Professor Rolf Schönberger für sein Vertrauen, seine Geduld und seine vielfältige Unterstützung. Professor Christian Schäfer danke ich für seine bereitwillige Übernahme des Zweitgutachtens. Außerdem möchte ich mich bei Professor Friedrich Hermanni, Professor Axel Hutter, Professor Christoph Schwöbel und besonders bei Professor Thomas Buchheim für die Aufnahme meiner Untersuchung in die Reihe Collegium Metaphysicum bedanken. Mehr als Dank schulde ich meiner Frau Daria, meinen Geschwistern und Eltern. Auch sie haben ihren Anteil an diesem Buch und einen größeren, als sie vielleicht ahnen. Während der Überarbeitung für die Veröffentlichung verstarb mein Großvater Adolf Übelacker nach schwerer Krankheit. Seinem Andenken sei das Buch, so unvollkommen es auch sein mag, gewidmet. Andreas Gasser
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 . Vorbereitende Untersuchung zum Seinsverständnis des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 . Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.1. Zur Echtheit und zum Gegenstand der Schrift . . . . . . 31 3.2. Die Anteprädikamenta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2.1 Die zwei Arten der Prädikation. Erstes Kapitel: 1a 1–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.2.1.1 Homonymität und Synonymität . . . . . . . . . . . 37 3.2.1.2 Paronymität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3.2.1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.2.2 Die vier Klassen des Seienden. Zweites und drittes Kapitel: 1a 20 – 1b 24 . . . . . . . . 45 3.2.2.1 Die Klasse der Gattungen und Formen . . . . . . . 47 3.2.2.2 Die Klasse der individuellen Eigenschaften . . . . . 49 3.2.2.3 Die Klasse der allgemeinen Eigenschaften . . . . . 63 3.2.2.4 Die Klasse des je Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2.2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.3. Die Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Seiendheit im fünften Kapitel der Kategorienschrift . 67 3.3.1 Die Seiendheit als in sich differenzierte Einheit . . . . 68 3.3.1.1 Die beiden Bedeutungen des Ausdrucks οὐσία . . . 68 3.3.1.2 Das Verhältnis der verschiedenen Arten von Seiendheit zueinander und zum restlichen Seienden 72 3.3.1.3 Das Verhältnis der Seiendheit zum Unterschied (διαφορά ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.3.1.4 Das Verhältnis der Seiendheit zu ihren realen Teilen 84
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3.3.2 Die Seiendheit als τόδε τι und ποιόν τι . . . . . . . . . . 87 3.3.2.1 Ein trügerischer Schein bezüglich der Seiendheit . 88 a) Τόδε τι . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Σημαίνειν . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Abschließende Betrachtung des Satzes . . . . . . 98 3.3.2.2 Die Widerlegung dieses Scheins . . . . . . . . . . . 99 3.3.3 Das Verhältnis der Seiendheit zum Wandel . . . . . . . 112 3.3.3.1 Seiendheit und essentieller Wandel . . . . . . . . . . 114 3.3.3.2 Seiendheit und akzidenteller Wandel . . . . . . . . 118 3.3.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft 123 4.1. Die fünffache Bedeutung von Physis (Met. Δ 4, 1014b 16 – 1015a 5) . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.1.1 Physis als Werden des Hervorwachsenden . . . . . . . 135 4.1.2 Physis als Quellgrund des Hervorwachsens . . . . . . 137 4.1.3 Physis als Quellgrund der natürlichen Bewegungen . . 138 4.1.4 Physis als erstes Material . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.1.5 Physis als Seiendheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.2 Form, Materie und die Einheit des Physisbegriffs (Met. Δ 4, 1015a 6–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4.2.1 Die erste und zweite Bedeutungsebene des Ausdrucks „Physis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4.2.2 Die dritte Bedeutungsebene des Ausdrucks „Physis“ . 195 4.2.2.1 Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.2.2.2 Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4.2.2.3 Die Form als Dynamis und Entelechie . . . . . . . 212 a) Dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Entelechie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie als eines Prinzips des Werdens (Phys. A 5–9) . . . . . . . . . 240 4.3.1 Form und Privation als Prinzipien des Werdens . . . . 242 4.3.2 Die Einführung des Materieprinzips . . . . . . . . . . 268 4.3.2.1 Die Notwendigkeit einer dritten Physis neben dem Entgegengesetzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4.3.2.2 Die Binnendifferenzierung des Werdenden und der Seiendheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
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5. Abschließende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 6. Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 7. Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 8. Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
1. Einleitung Das Erscheinen von Werner Jaegers Werk zur Entwicklung des Aristotelischen Denkens1 im Jahr 1923 bedeutet ohne jeden Zweifel einen tiefen Einschnitt in der langen Geschichte der Aristoteles-Rezeption. Zum einen hat sich sein entwicklungsgeschichtlicher Ansatz als wegweisend erwiesen; die Frage der relativen und absoluten Datierung einzelner Werke innerhalb des Gesamtœuvres des Aristoteles ist zu einem zentralen Forschungsanliegen geworden. Zum anderen war aber auch eine neue und intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten die Folge, die zumeist danach strebte, sich von den überkommenen Interpretationsschemata der Scholastik und Neuscholastik zu befreien. Dies führte freilich nicht etwa zur Etablierung eines neuen Paradigmas, sondern ganz im Gegenteil zu einer wahren Lawine konkurrierender Interpretationsansätze in vielen Bereichen des Aristotelischen Denkens. Eines der Zentren, um das diese Auseinandersetzungen kreisen, bilden die sog. Substanzbücher des Aristoteles, also Met. Z, H und Θ, da in diesen, dem „Mount Everest of ancient philosophy“2 , die ganze reife theoretische Philosophie des Aristoteles in höchster Vollendung enthalten ist. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zu dieser nunmehr bereits mehrere Jahrzehnte anhaltenden Debatte über die Substanzbücher und die in ihnen artikulierte Substanztheorie des Aristoteles. Diese Aussage mag angesichts des Umstands, daß man zwischen den Deckeln dieses Buches eine Diskussion von Met. Z, H, Θ vergeblich suchen wird, 1 Vgl. Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923 [21955]. 2 Myles Burnyeat: A Map of Metaphysics Zeta, Pittsburgh 2001, S. 1. Burnyeat bezieht diese Bezeichnung zwar nur auf Met. Z, mir scheint jedoch eine Ausweitung auf die gesamten Substanzbücher angebracht, da zumindest Z und H, aber wohl auch Θ sehr eng zusammengehören und gerade auch die Frage, welches dieser drei Bücher den wirklichen Gipfelpunkt der Ontologie des Aristoteles darstellt und welche sozusagen nur Nebengipfel sind, umstritten ist.
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verwundern. Die vermeintliche Merkwürdigkeit ist jedoch eine Folge der Überzeugung des Verfassers, daß auch das Erklimmen eines solch gewaltigen Berges, um im Bild zu bleiben, nur möglich ist, wenn man zuvor überhaupt erst einmal an seinen Fuß gelangt ist. Mit anderen Worten: Ziel dieser Untersuchung ist es, die den Substanzbüchern zugrundeliegende Problematik und ihre Voraussetzungen im Werk des Aristoteles zunächst einmal – unter expliziter Aussparung der Substanzbücher selbst – genau herauszupräparieren. Das setzt allerdings voraus, daß dies bisher noch nicht in ausreichendem Maße geschehen ist. Eine solche Annahme mag in Anbetracht des schieren Ausmaßes an Veröffentlichungen zu dem Thema leicht als Vermessenheit aufgefaßt werden. Ich hoffe natürlich, daß sich dieser Eindruck, wenn er sich denn einstellen sollte, schließlich als falsch herausstellt. Ein besonderes Problem der Aristoteles-Interpretation stellt seit jeher der Umstand dar, daß zentrale Konzepte und Aussagen an einer Stelle im Werk des Aristoteles denen an anderer Stelle direkt zu widersprechen scheinen. Besondere Bedeutung kommt in dieser Hinsicht der Kategorienschrift zu. Die in dieser für die Rezeptionsgeschichte der Aristotelischen Philosophie besonders wichtigen Schrift enthaltene εἶδος-Lehre nämlich erweckt den Eindruck, mit zentralen Passagen in anderen Schriften, allen voran den besagten Substanzbüchern, vollkommen unvereinbar zu sein. Während die Ansicht, daß die Form etwas Allgemeines sei3 , eine ganz zentrale Rolle in der antiplatonischen Argumentation der Kategorienschrift spielt, wird in Met. Z der Form diese Allgemeinheit gerade mehr oder weniger ausdrücklich abgesprochen.4 Damit einhergeht das Problem, daß der Form wegen ihrer Allgemeinheit in der Kategorienschrift nur der Status einer δευτέρα οὐσία, also einer sekundären Substanz, zuerkannt, das je Einzelne, z. B. Sokrates oder ein bestimmtes Pferd, dagegen als πρώτη οὐσία bezeichnet wird5 , während in Met. Z wiederum die Form ganz eindeutig gerade als πρώτη οὐσία firmiert6 , das je Einzelne dagegen als ein aus Form und Materie Zusam3 Vgl. Cat. 5, 2a 11ff; hier wird zwar nicht die Form explizit als Allgemeines bezeichnet, allerdings wird behauptet, daß sie von vielem, nämlich dem je Einzelnen, prädiziert wird, nur Allgemeines kann aber von vielem ausgesagt werden. 4 Dies ergibt sich aus einer Kombination der Stellen Met. Z 13, 1038b 8f und b 34–37, wo gesagt wird, daß die οὐσία nichts Allgemeines sei, und den zahlreichen anderen Stellen in Met. Z, an denen die Form als πρώτη οὐσία bezeichnet wird (vgl. z. B. Met Z 7, 1032b 1f). 5 Vgl. Cat. 5, 2a 11–19. 6 Vgl. dazu z. B. Met. Z 7, 1032b 1 f.
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mengesetztes offenbar zweitrangig ist.7 Dies sind freilich nur die auffälligsten Gräben zwischen den beiden Texten, viele andere ließen sich noch hinzufügen. Während früher eher versucht wurde, dergleichen Probleme in einer harmonisierenden Deutung abzumildern8 , werden seit Werner Jaeger widersprechende Aussagen wie die genannten zumeist verschiedenen Stadien in der geistigen Entwicklung des Aristoteles zugewiesen, oder es wird gar die Authentizität einer der beiden Aussagen in Abrede gestellt. Letzterer Weg wurde im Falle der Kategorienschrift auch von Werner Jaeger selbst beschritten. Er sprach dieser nämlich ausdrücklich ab, ein authentischer Text des Aristoteles zu sein.9 Das ist auch nicht weiter verwunderlich, ihm blieb wohl in Anbetracht der seiner Interpretation zugrundeliegenden Vorentscheidungen keine andere Wahl. Denn ist man wie er der Ansicht, daß die geistige Entwicklung des Aristoteles praktisch ausschließlich durch eine zunehmende Entfernung von der philosophischen Position seines Lehrers Platon bestimmt ist, der er zunächst als treuer und unselbständiger Schüler angehangen habe, bleibt für die Kategorienschrift auch gar kein sinnvoller Platz mehr.10 Obwohl oder vielleicht auch gerade weil die Mehrheit der Forscher Jaegers Grundanliegen, die Schriften des Aristoteles als Dokumente eines sich entwickelnden und sich auch selbst korrigierenden Denkens aufzufassen, folgte, ja diese Sichtweise in der gegenwärtigen Forschung sogar zu einer nicht weiter begründungsbedürftigen Selbstverständlichkeit absank, regte sich mit der Zeit immer mehr Widerspruch gegen die Weise, wie Jaeger selbst dieses Forschungsprogramm konkret durchführte. Einen der bedeutendsten und einflußreichsten kritischen Beiträge in dieser Hinsicht stellt der 1965 von G.E.L. Owen veröffentlichte Aufsatz The Platonism of Aristotle dar.11 Owen wirft darin Jaeger vor, Vgl. Met. Z 3, 1029a 30–32. Ein Beispiel dafür ist Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt, 2. Teil, 2. Abteilung: Aristoteles und die alten Peripatetiker, Leipzig 1878 u.ö. 9 Vgl. Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin ²1955, S. 45. 10 So explizit Suzanne Mansion: „La doctrine aristotélicienne de la substance et le traité des catégories“, in: Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy (Amsterdam, August 11–18, 1948), hrsg. v. E. W. Beth/H. J. Pos/J. H. A. Hollak, Amsterdam 1949, S. 1097–1100, S. 1100. Zur Diskussion der Authentizität der Kategorienschrift siehe auch ausführlicher Abschnitt 3.1. 11 Vgl. G.E.L. Owen: „The Platonism of Aristotle“, in: Proceedings of the British Academy 51 (1965), S. 125–150. 7 8
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unter dem Schlagwort Platonismus Platons Philosophie zu stark vereinfacht und letztlich dessen geistige Entwicklung vernachlässigt zu haben, um eine einheitliche Negativfolie für Aristoteles’ eigene Entwicklung zu gewinnen. Dabei entwirft er eine Auffassung von der Entfaltung der Aristotelischen Philosophie, die derjenigen Jaegers geradewegs entgegengesetzt ist: Aristoteles habe sich zunächst nicht als treuer und unkritischer Anhänger, sondern gerade als ein radikaler Kritiker Platons hervorgetan, wovon die durchaus authentische Kategorienschrift Zeugnis ablege12 ; er habe sich dann jedoch im weiteren Verlauf seines Denkwegs, vor allem umgetrieben durch das Problem des Dritten Menschen13 , wieder seinem Lehrer angenähert, freilich ohne jemals, weder am Anfang noch am Ende, einfach die Position Platons vertreten zu haben. Diese Annäherung an Platon vollzieht sich nach Owen auf mehreren Ebenen, wovon jedoch in unserem Zusammenhang eine von besonderer Relevanz ist. Owen behauptet nämlich, daß bei Aristoteles ein entscheidender Wandel in der Auffassung der ersten Substanz stattgefunden habe: während Aristoteles darunter zur Zeit der Kategorienschrift noch das je Einzelne verstanden habe, sei er später dazu übergegangen, die Spezies, also die allgemeine Form der Kategorienschrift, als erste Substanz aufzufassen, und zwar weil er nun erkannt habe, daß die erste Substanz (primary subject of discourse) definierbar sein müsse: … if we take any primary subject of discourse and say just what it is, we must be producing a statement of identity, an equation which defines the subject. And this in turn helps to persuade him that the primary subjects of discourse cannot be individuals such as Socrates, who cannot be defined, but species such as man.14
Dies sei so offensichtlich, daß sich weitere Argumente erübrigten: „That this is one thesis that Aristotle takes seriously in Meta. VII needs no arguing …“15 Ähnliche Positionen wurden daraufhin auch von anderen Forschern vertreten, allen voran von M.J. Woods in einem bedeutenden Aufsatz aus dem Jahr 1967.16 Woods begründet und verteidigt darin ausführlich die Vgl. ebenda, S. 139. Vgl. ebenda, S. 133–139. 14 Ebenda, S. 137. 15 Ebenda, S. 137 Fn. 16 Vgl. M.J. Woods: „Problems in Metaphysics Z, Chapter 13“, in: Aristotle. A Collection of Critical Essays, hrsg. v. J.M.E. Moravcsik, Garden City (New York), S. 215–238. 12 13
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Ansicht, daß die Form auch in der Metaphysik mit der Spezies identisch sei. Besonders einflußreich war hierbei seine Einführung zweier verschiedener Arten des Allgemeinen, durch die er seine These mit Met. Z 13 in Einklang zu bringen versuchte: das nur Allgemeine (τὰ καθόλου) und das Allgemeine, das auch allgemein von vielem ausgesagt wird (τὰ καθόλου λεγόμενα).17 Die Spezies-Form sei zwar allgemein, ohne jedoch allgemein ausgesagt zu werden; mit dem in Met. Z 13 ausgesprochenen Verdikt, daß nichts Allgemeines Substanz sei18 , habe Aristoteles aber nur das allgemein Ausgesagte treffen wollen, nicht das auf eine andere Weise Allgemeine. Als allgemein ausgesagt habe Aristoteles wiederum nur das aufgefaßt, was von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, welches auch unter das von ihm Ausgesagte fällt. Das trifft aber nur auf Gattungen zu, nicht auf Formen, da diese streng genommen19 nur von der Materie ausgesagt werden, welche jedoch nicht unter die Form bzw. Spezies fällt (als ein Fall von …), die von ihr ausgesagt wird. Varianten dieser Ansicht werden auch gegenwärtig noch vertreten. So schließen an diese Unterscheidung etwa auch Christof Rapp (ausdrücklich) 20 und Wolfgang Detel (vermittelt über Rapp) 21 an: beide setzen das εἶδος mit der Spezies gleich 22 , unterscheiden aber zugleich zwischen verschiedenen Arten der Allgemeinheit. Gegen Owen und Woods wandte sich 1981 dann John A. Driscoll, der diese von beiden vertretene und ihrer Argumentation zugrunde liegende Ansicht, daß die Spezies der Kategorienschrift gemeint sei, wenn in Met. Z von Form (εἶδος) die Rede ist, in einer sehr gründlichen Auseinandersetzung ebenso gründlich und m.E. auch endgültig widerlegte: If the universal composites distinguished from formal causes at Z, 10, 1035b27– 33 and Z, 11, 1037a5–10 are the entities of the Z ontology which most closely correspond to the species of the Categories, however, then Owen and Woods are Vgl. ebenda, S. 229. Wörtlich heißt es dort (vgl. Met. Z 13, 1038b 8f): „ἔοικε γὰρ ἀδύνατον εἶναι οὐσίαν εἶναι ὁτιοῦν τῶν καθόλου λεγομένων.“ 19 Woods rechnet mit der Möglichkeit, daß zwar der Name einer Spezies von deren Mitgliedern ausgesagt werden könne, nicht jedoch die Spezies selbst; vgl. ders., a.a.O., S. 226. 20 Vgl. Christof Rapp: Identität, Persistenz und Substantialität. Untersuchung zum Verhältnis von sortalen Termen und Aristotelischer Substanz, Freiburg/München 1995, S. 449–453. 21 Vgl. Wolfgang Detel (Hrsg./Komm./Übers.): Aristoteles, Metaphysik. Bücher VII und VIII, Frankfurt a. Main. 2009 (Suhrkamp Studienbibliothek, Bd. 17), S 232. 22 Vgl. Ebenda, S. 16, 317 u.ö. 17 18
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in error when they espouse theses (2), that the same entities called species which were merely secondary substances in the Categories are elevated to the status of primary substances in Z.23
Wenn Aristoteles in Met. Z also z. B. von einem Menschen im allgemeinen spricht, den er in der Kategorienschrift noch mit dem Ausdruck εἶδος bezeichnet hat, dann meint er nun damit etwas aus εἶδος und Materie (ὕλη) Zusammengesetztes im allgemeinen. Denn jeder Mensch, sowohl der je einzelne als auch der im allgemeinen, hat einen Körper. Der Mensch im allgemeinen hat allerdings freilich keinen bestimmten Körper, sondern eben einen Körper im allgemeinen. Der Körper aber ist die (funktionale24) Materie des Menschen. Da der Mensch im allgemeinen, d. h. die Spezies Mensch, also aus Form und Materie zusammengesetzt ist, kann er nicht mit der Form des Menschen so ohne weiteres identisch sein. Mittlerweile ist diese Unterscheidung von allgemeiner Spezies (also z. B. Mensch oder Pferd im allgemeinen) und Form bzw. Formalursache, die beide, wie gesagt, von Aristoteles zu verschiedenen Zeiten als εἶδος bezeichnet wurden, (mit einigen bedeutenden Ausnahmen 25) weithin akzeptiert. Auch die vorliegende Untersuchung schließt sich dieser Sichtweise an, ohne sie jedoch einfach vorauszusetzen. Vielmehr frägt sie insbesondere auch nach den Mängeln der Form-Konzeption in der Kategorienschrift, aus denen heraus die Einführung der Materie als wichtigem Gegenpart der Form verständlich wird. Aus dieser Einführung der Materie wiederum ergibt sich schließlich die Modifikation des Formbegriffs im Übergang von der Ontologie der Kategorienschrift zur reifen Ontologie mit einiger Zwangsläufigkeit, wie noch zu zeigen sein wird. Trotz dieses mittlerweile erreichten weitgehenden Konsenses in der Forschung26 , bleibt freilich weiterhin höchst umstritten, was genau unter der Form zu verstehen ist, denn durch die Unterscheidung zweier Bedeutungen wird ja nur eine mögliche Deutung ausgeschlossen. Das Er23 John A. Driscoll: „ΕΙΔΗ in Aristotle’s Earlier and Later Theories of Substance“, in: Studies in Aristotle, hrsg. v. Dominic J. O’Meara, Washington D.C. 1981 (Studies in Philosophy and the History of Philosophy, Bd. 9), S. 129–159, S. 148. 24 Driscoll selbst unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Materiearten. 25 Vgl. vor allem Rapp: Identität, Persistenz und Substantialität, a.a.O. und Detel, a.a.O. 26 Für eine vor allem gegen Loux und Lewis (siehe dazu weiter unten) gerichtete Kritik der Unterscheidung von Spezies und Form vgl. Christof Rapp: „‚Kein Allgemeines ist Substanz‘ (Z 13, 14–16)“, in: Aristoteles. Metaphysik, Die Substanzbücher (Z, H, Θ), hrsg. v. Christof Rapp, Berlin 1996 (Klassiker Auslegen, Bd. 4), S. 157–191, S. 182 f.
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gebnis dieser Unterscheidung ist also insofern nur negativ: das, was in den Substanzbüchern und überhaupt in der reifen Ontologie des Aristoteles als Form bezeichnet wird, ist nicht die Spezies. Was aber bezeichnet Aristoteles dann mit diesem Wort? Gegenwärtig werden im wesentlichen drei verschiedene Antworten auf diese Frage diskutiert, die ich im folgenden kurz anhand der jeweiligen Hauptvertreter umreißen will, ohne sie ausführlich zu diskutieren. Letzteres ist allein schon deshalb im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht möglich, weil diese die Substanzbücher explizit ausklammert, während so gut wie alle anderen Diskussionsbeiträge zum Thema ihre wesentlichen Thesen gerade in Auseinandersetzung mit den Substanzbüchern entwickeln. Im letzten Abschnitt soll allerdings eine grobe Einordnung der Ergebnisse dieser Untersuchung in den gegenwärtigen Forschungskontext versucht werden, es ist jedoch keine umfassende Evaluierung alternativer Forschungsansätze zu erwartet. Eine solche abschließende Bewertung kann, wie gesagt, nur auf der Grundlage einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Substanzbüchern erfolgen, die ja hier allererst vorbereitet werden soll. Der erste Lösungsansatz nimmt seinen Ausgang besonders von Met. Z 13, 1038b 8f und b 34–37. Aristoteles betont hier mit Nachdruck, daß eine Substanz oder Seiendheit 27 nichts Allgemeines sein könne. Seine Vertreter fassen nun diese Aussage so auf, als werde dadurch die Form indirekt als etwas Einzelnes bezeichnet. Denn, so kann man vielleicht die zugrundeliegende, nicht ganz unplausible Überlegung rekonstruieren, was nichts Allgemeines ist, das muß schließlich etwas je Einzelnes sein. Dieser Ansatz wurde zwar schon 1957 von Wilfrid Sellars28 formuliert, seinen enormen Einfluß auf die Aristoteles-Forschung übte er aber erst durch Michael Frede und Günther Patzig aus29, die in ihrem 1988 Statt des Ausdrucks der Substanz werde ich im folgenden zumeist den der Seiendheit verwenden. Dies hat vor allem zwei Gründe. Zum einen ist Seiendheit die exaktere Übersetzung für das griechische οὐσία und spiegelt so auch besser dessen Kontext und mögliche Bedeutung wieder. Zum anderen versuche ich mich dadurch selbst vor vorschnellen Assoziationen, die mit dem Ausdruck Substanz allzu überreich gegeben sind, zu schützen. 28 Vgl. Wilfrid Sellars: „Substance and Form in Aristotle“, in: Journal of Philosophy 54 (1957), S. 688–699. 29 Diese Position wird mittlerweile in der ein oder anderen Form von sehr vielen Forschern vertreten. Eine besonders interessante Variante findet sich bei Johannes Hübner: Aristoteles über Getrenntheit und Ursächlichkeit, Hamburg 2000 (Paradeigmata, Bd. 20), insbesondere S. 234–243. 27
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erschienenen Kommentar zu Met. Z30 diese Position ausführlich begründeten. Der Kerngedanke lautet in den Worten von Frede und Patzig wie folgt: Entscheidend für unsere Interpretation des Buches Z ist die Annahme, daß Aristoteles hier die reale Existenz von allgemeinen Arten und Gattungen bestreitet und statt dessen individuelle Formen annimmt, Formen, welche dem Gegenstand eigen sind, dessen Form sie sind, ja Formen, die in gewisser Hinsicht den Gegenstand selbst ausmachen.31
Wesentliche Grundlage dieser Ansicht ist die erwähnte Unterscheidung von Spezies und Form, wobei nach Frede und Patzig allerdings Aristoteles in seiner späten Philosophie den Ausdruck εἶδος in beiden Bedeutungen gleichzeitig verwendete.32 Das εἶδος im Sinne der Form wird von den beiden Autoren außerdem, und das bildet den Kern ihrer Interpretation, als individuelle Form eines und nur eines Individuums ausgelegt, wobei mit Individuum hier das je Einzelne gemeint ist.33 Jedes Einzelne hat also eine Form, die nur ihm zukommt, z. B. Sokrates die Form des Sokrates und Kallias die Form des Kallias, so daß auch die Formen selbst etwas je Einzelnes sind. Diese Formen unterscheiden sich freilich nach Frede und Patzig nur numerisch, nicht qualitativ, d. h. die Form des Sokrates unterscheidet sich durch kein benennbares Merkmal von der des Kallias.34 Dadurch scheint diese Interpretation auch Met. Z 8, 1034a 7f gerecht zu werden, denn zwei Dinge, die der gleichen Spezies angehören, unterscheiden sich, wie an dieser Stelle von Aristoteles behauptet, qualitativ eben nur durch ihre jeweilige Materie.35 Dennoch ist Sokrates in 30 Michael Frede/Günther Patzig: Aristoteles ‚Metaphysik Z‘. Text, Übersetzung und Kommentar, 2 Bde., München 1988; eine ausführliche Begründung dieses Interpretationsansatzes findet sich in Bd. 1: Einleitung. Text und Übersetzung, S. 48–57. 31 Frede/Patzig, a.a.O., Bd. 1, S. 48. 32 Vgl. Frede/Patzig, a.a.O., Bd. 1, S. 48 f. 33 Daß bei Aristoteles mit Individuum (ἄτομον) nicht notwendig nur das je Einzelne gemeint ist, wird hoffentlich im Verlauf dieser Untersuchung deutlich werden. 34 Vgl. Michael Frede: „Substance in Aristotle’s Metaphysics“, in: Ders.: Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, S. 72–80, S. 78. Es hat allerdings auch die radikalere Ansicht, daß sich selbst die individuellen Formen derselben Spezies qualitativ unterscheiden, ihre Vertreter gefunden; vgl. hierzu vor allem D.M. Balme: „Aristotle’s biology was not essentialist“, in: Philosophical Issues in Aristotle’s Biology, hrsg. v. Allen Gotthelf/James G. Lennox, Cambridge 1987, S. 291–312. 35 Vgl. Michael Frede: „Substance in Aristotle’s Metaphysics“, in: Aristotle on Nature and Living Things. Philosophical and Historical Studies Presented to David M. Balme on His 70. Birthday, hrsg. v. Allan Gotthelf, Pittsburgh 1985, S. 17–26, S. 23; vgl. dazu auch Met. Z 8, 1034a 5–8.
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gewisser Weise mit seiner Form identisch, denn diese ist ja das, was Sokrates als Sokrates wesentlich ausmacht, und damit in gewisser Weise eben Sokrates selbst. Eine Folge dieser Individualitätstheorie der Form scheint nun allerdings die Merkwürdigkeit zu sein, daß Konkretum und je Einzelnes auseinander treten. Auf der anderen Seite lassen sich auf diese Weise freilich viele problematische Stellen von Met. Z recht gut erklären. Der zweite Lösungsvorschlag dagegen, den vor allem Michael J. Loux ausgearbeitet hat36 , setzt an einer ganz anderen Stelle an, nämlich bei der Aristotelischen Werdensanalyse. Man könnte diesen Ansatz als Akzidenztheorie der Form bezeichnen. Loux nämlich gewinnt aus einer Untersuchung der Werdensanalyse die Unterscheidung zweier grundsätzlich verschiedener Arten von Substanz-Prädikation, die parallel zu der bereits erwähnten Unterscheidung von Form und Spezies verläuft. Diese beiden Arten der Prädikation werden von ihm als Form-Prädikation und Spezies-Prädikation bezeichnet.37 Während durch die Spezies-Prädikation einem Allgemeinausdruck ein je Einzelnes subsumiert werde, werde bei einer Form-Prädikation die Inhärenz einer Form in einem Stück Materie ausgesagt. Nur die Spezies sei daher in dem Sinne allgemein, daß sie von vielem ausgesagt werde, die Form dagegen werde zwar ausgesagt, allerdings bloß akzidentell, und zwar von der Materie. Da die Form der Materie also nur akzidentell zukomme, könne hier das Zugrundeliegende dem, was von ihm ausgesagt wird, nicht subsumiert werden wie ein je Einzelnes unter eine Spezies. Daher sei die Form nicht in dem Sinne allgemein, wie es die Spezies ist, obwohl sie freilich in einem weiteren Sinne durchaus auch als allgemein angesehen werden müsse, da sie ja vielem zukomme.38 Vgl. Michael J. Loux: „Form, Species and Predication in Metaphysics Z, H, and Θ“, in: Mind 88 (1979), S. 1–23 und ders.: Primary Ousia. An Essay on Aristotle’s Metaphysics Z and H, Ithaca (NY) 1991. Zu den weiteren Vertretern dieses Ansatzes bzw. Varianten davon zählen z. B. auch der bereits erwähnte Driscoll, a.a.O. oder Alan Code: „The Aporematic Approach to Primary Being in Metaphysics Z“, in: Canadian Journal of Philosophy. Supplementary Volume 10 (1984), S. 1–20, außerdem insbesondere Frank Lewis: Substance and Predication in Aristotle, Cambridge 1991. 37 Vgl. Loux: „Form, Species and Predication in Metaphysics Z, H, and Θ“, a.a.O., besonders S. 1–11, und ders.: Primary Ousia, a.a.O., insbesondere S. 109–146. 38 Man erkennt hierin leicht die erwähnte Unterscheidung zwischen einem allgemein Ausgesagten und einem auf andere Weise Allgemeinen wieder, die Woods, a.a.O. eingeführt hat. Das unterstreicht noch einmal wie einflußreich dieser Aufsatz war. 36
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Entscheidend für die Interpretation der Form ist also nach Loux ihr Verhältnis zur Materie; dementsprechend ist es nicht möglich die Form unabhängig von der Materie zu verstehen. Dieser Gedanke ist auch und in ganz besonderer Weise wesentlich für den letzten der drei heute vorherrschenden Interpretationsansätze, als dessen Hauptvertreter Mary Louise Gill anzusehen ist.39 Diese dritte Position betont, daß die Form in gewisser Weise mit der Materie identisch sei, nämlich mit der letzten, der proximaten Materie, aus der im eigentlichen Sinne ein vergängliches Einzelding bestehe. Denn diese Materie ist durch ihre jeweilige Funktion in einem Organismus bestimmt, z. B. die Hand durch die Funktion des Greifens; eine abgetrennte Hand ist daher bekanntlich für Aristoteles nicht mehr eine Hand im eigentlichen Sinne, sondern wird nur noch homonym so benannt.40 Aufgrund dessen ist die funktionale Materie durch die Form des Organismus immer schon bedingt, der Organismus insgesamt aber ist als formbestimmtes Ganzes mit der bestimmenden Form in gewisser Weise identisch, weil er das dem Vermögen nach ist, was die Form der Wirklichkeit nach ist.41 Die Materie, aus der etwas wird, und die Gill daher als präexistierende Materie bezeichnet, bleibe dagegen im Prozeß der Entstehung gar nicht erhalten, sondern liege in dem Entstandenen nur noch dem Vermögen nach vor. Dieses Vermögen faßt Gill offenbar als bloß logische Möglichkeit auf, denn es ist nach ihr hier streng genommen gar nichts mehr vorhanden außer gewissen Eigenschaften des Entstandenen, die auf das Ausgangsmaterial zurückgehen und von ihr generische Materie genannt werden, und der Möglichkeit, daß die ursprüngliche Materie bei der Zerstörung des aus ihm Entstandenen wieder zu existieren beginnt.42 Die Form kann daher nach dieser Identitätstheorie der Form, anders als das Loux und die anderen Vertreter des zweiten Lösungsansatzes behaupten, nicht wie ein Akzidenz von der Materie ausgesagt werden. Man könnte statt dessen sogar sagen, daß Gill in gewisser Hinsicht die Akzidenztheorie der Form durch eine Akzidenztheorie der (nicht-funktionalen) Materie ersetzt. Trotz der Beto39 Vgl. Mary Louise Gill: Aristotle on Substance. The Paradox of Unity, Princeton 1989 und dies.: „Aristotle on Substance and Predication“, in: Ancient Philosophy 15 (1995), S. 511–520. Als weiterer wichtiger Vertreter einer Variante dieses Ansatzes sei noch Theodore Scaltsas genannt (vgl. ders.: Substances and Universals in Aristotle’s Metaphysics, Ithaca (NY)/London 1994). 40 Vgl. z. B. Met. Z 10, 1035b 24 f. 41 Vgl. Met. H 6, 1045b 17–19. 42 Vgl. Gill: „Aristotle on Substance and Predication“, a.a.O., S. 518f und dies.: Aristotle on Substance, a.a.O., S. 163 f.
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nung der Identität von Form und funktionaler Materie kommt die Form aber auf der anderen Seite auch nicht exklusiv nur einem einzigen bestimmten Seienden zu, wie dies Frede und Patzig behaupten, denn Formen sind für Gill immer mehrfach instantiierbar, obwohl sie sogar mit Formen unterhalb der Spezies-Ebene rechnet, die sie als individuelle Formen bezeichnet.43 Ein charakteristischer Zug von Gills Interpretation ist es ferner, daß sie von einem fundamentalen Bruch innerhalb der Substanzbücher ausgeht: während in Met. Z und H 1–5 die Interpretation gemäß der Akzidenztheorie der Form tatsächlich angemessen sei, treffe dies nicht mehr auf Met. H 6 und Θ zu, weil Aristoteles hier seine Substanztheorie grundsätzlich neu gefaßt habe.44 Da also die Frage, was unter der Form im Kontext der reifen Ontologie des Aristoteles zu verstehen ist, solch unterschiedliche Antworten erfahren hat, bleibt hier jede Positionierung begründungsbedürftig. Jeder Versuch einer solchen Begründung aber, der sich wie bisher zumeist auf die Substanzbücher stützt, wird nur eine weitere Stimme im dissonanten Chor ihrer Interpreten sein, und zwar vor allem auch gerade aus eben dem Grund, weshalb sich die meisten Forscher bei der Entwicklung ihrer Hauptthesen zumeist auf sie stützen: weil diese drei Bücher der Metaphysik durchaus einen Schlußstein im Gefüge des Aristotelischen Denkens darstellen. Schlußsteine nämlich tragen sich niemals selbst. Der Formbegriff des Aristoteles muß daher bereits vor und unabhängig von einer eingehenderen Untersuchung und Interpretation der Substanzbücher – wenn auch freilich im Hinblick auf diese – zumindest in seinen Grundzügen geklärt werden. Nun unterscheiden sich aber die Kategorienschrift, in der die Auffassung der Form als etwas Allgemeines eine bestimmende Rolle spielt und kaum sinnvoll in Zweifel zu ziehen ist, und die reife Gestalt des Aristotelischen Denkens in mindestens einem wesentlichen Punkt: der Begriff der Materie nämlich taucht in den frühen Schriften nicht auf, und zwar auch dort nicht, wo er sachlich notwendig wäre, ja es gibt im Rahmen der Ontologie der Kategorienschrift für die Materie überhaupt keinen Platz.45 Die Einführung des Materiebe Gill: Aristotle on Substance, a.a.O., S. 33. Vgl. Gill: „Aristotle on Substance and Predication“, a.a.O., S. 514. 45 Dies wird im Abschnitt 3.3 gezeigt. Man kann daher m.E. nicht wie Heinz Happ behaupten, es gebe „… keine frühe Stufe der aristotelischen Schriften, in welcher der Hyle-Begriff noch nicht vorhanden wäre oder fehlen könnte.“ (Heinz Happ: Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff, Berlin/New York 1971, S. 58). 43
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griffs dürfte also, was Loux und Gill ganz richtig gesehen haben, auch für die Neufassung des Formbegriffs durch Aristoteles von entscheidender Bedeutung gewesen sein, schließlich gehören beide Begriffe ja auch eng zusammen. Eingeführt wird dieser Begriff aber im Kontext der Physis-Wissenschaft, deren Grundlagentext die Physik darstellt. Daraus ergibt sich nun der Aufbau der vorliegenden Arbeit. Nach einer Klärung des Formbegriffs in der Kategorienschrift, die den ersten Hauptteil dieser Arbeit bildet, wird im zweiten Hauptteil das Begriffspaar Form und Materie so, wie es im Kontext der Physis-Wissenschaft zum ersten Mal erscheint, einer gründlichen Untersuchung unterzogen. Hier muß zunächst der Begriff der φύσις selbst geklärt werden. Unter Rückgriff auf den ersten Teil von Met. Δ 4 (1014b 16 – 1015a5) werden dazu die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks Physis, zu denen auch Materie und Form selbst gehören, unterschieden. Auf der Grundlage des zweiten Teils (1015a6–19) wird anschließend versucht die hinter dieser Vielheit liegende Einheit der Physis herauszustellen, wobei die bisher freigelegten Bedeutungen weiter präzisiert und auch der zentrale Begriff der ἐντελέχεια und damit zugleich der Begriff der Form geklärt wird. Der zweite Teil wird dann abgeschlossen von einer eingehenden Untersuchung der Einführung des Materiebegriffs im ersten Buch der Physik, in deren Verlauf auch der Begriff der Materie eine Klärung erfährt. Vorangestellt ist der Untersuchung der Kategorienschrift noch eine Interpretation von Met. Δ 7 mit dem Ziel einer vorläufigen Klärung der Aristotelischen Seins-Auffassung, die ich, zunächst aus rein heuristischen Gründen, als Konstante im Denken des Aristoteles betrachte. Wie vielleicht bei der kurzen Darlegung des Aufbaus dieser Arbeit aufgefallen sein dürfte, wird hier nicht streng systematisch von einem Punkt zum nächsten fortgeschritten. Im Zentrum jedes Schritts der Untersuchung steht vielmehr jeweils eine bestimmte Passage aus einem Werk des Aristoteles, um die sich dann der jeweilige Teil der Arbeit organisiert, so daß die einzelnen Teile bis zu einem gewissen Grad wohl auch unabhängig voneinander lesbar sein dürften. Dennoch baut in einer gewissen Weise jeder folgende auf allen vorhergehenden Teilen auf, allerdings, wie gesagt, nicht streng systematisch. Vielmehr umkreist jeder Teil für sich ein und dasselbe Thema, so daß sich statt des Bildes des geradlinigen Fortschreitens eher dasjenige der konzentrischen Kreise anbietet. Diese Form ist nicht von mir gesucht, sondern hat sich mir aufgezwungen. Der Grund ist wohl im hermeneutischen Zirkel zu suchen, der es erforderlich macht, Teil und Ganzes wechselweise durch einander zu
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verstehen, wodurch das Verstehen von selbst in eine Kreisbewegung einschwenkt. Abschließend sei noch ein Wort zur Methode der folgenden Interpretation gesagt. Ihr liegt die Überzeugung zugrunde, daß das Verstehen einer Aussage bzw. der darin sich ausdrückenden Weltsicht gleichbedeutend ist mit der Einsicht in deren Wahrheit oder der Erklärung des Irrtums. Je vollständiger dieses doppelte Ziel erreicht wird, desto besser verstehen wir auch das, was von jemandem gesagt oder geschrieben wurde. Was es bedeutet, die Wahrheit einzusehen, dürfte für den Zweck dieser Methodenerläuterung hinreichend verständlich sein, auch wenn es freilich an sich alles andere als klar ist. Erläuterungsbedürftig mag dagegen das, was ich Erklärung des Irrtums genannt habe, erscheinen. Ich verstehe darunter nicht nur einfach die Erkenntnis, daß etwas Gesagtes oder Geschriebenes, insofern ihm der Charakter einer Aussage zukommt, und es somit einen Wahrheitsanspruch erhebt, falsch ist, sondern auch die Einsicht in die Gründe, die dafür verantwortlich sind, daß jemand irrtümlich von der Wahrheit überzeugt sein konnte. Denn warum jemand von der Wahrheit überzeugt ist, bedarf weiter keiner Begründung, warum dagegen jemand Falsches für wahr hält, ist höchst erklärungsbedürftig. Die möglichen Irrtumsgründe lassen sich allerdings nicht a priori bestimmen, da es sich um empirische Sachverhalte handelt. Die Methode dieser Untersuchung kann daher weder rein historisch noch rein systematisch orientiert sein; nur eine Kombination beider Betrachtungsweisen erlaubt ein wirkliches Verständnis des Textes. Die rein historische Sichtweise nämlich blendet die Wahrheitsfrage aus und nimmt so nicht etwa eine neutrale Perspektive ein, sondern geht ganz im Gegenteil, indem sie nur historische Erklärungen zuläßt, implizit von der Falschheit der zu untersuchenden Aussagen aus. Denn der einzige adäquate Grund, eine Aussage zu affirmieren, ist deren Wahrheit, alle anderen Gründe sind dagegen Irrtumsgründe, zumindest wenn sie wirklich den Anspruch erheben, eine Aussage vollständig zu erklären. Die rein systematische Betrachtungsweise andererseits ignoriert den historischen Kontext, in dem jedes Denken situiert ist und der ihm gewisse Grenzen setzt aber auch Möglichkeiten eröffnet. Daraus erwächst der vorliegenden Untersuchung notwendigerweise eine gewisse Janusköpfigkeit. Aus heuristischen Gründen werde ich dabei zunächst und bis auf weiteres von der Wahrheit des Aristotelischen Denkens ausgehen und die Texte gleichsam mit den Augen eines Schülers lesen, der seinen Lehrer verstehen will. Denn die dabei gegebene Gefahr, zuviel in Aristo-
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teles hineinzulesen, scheint mir bei weitem geringer als die umgekehrte Gefahr, bei zu großer kritischer Distanz zu wenig aus ihm herauszulesen. Das Ziel philosophischer Forschung nämlich ist letztendlich nicht das Verständnis eines einzelnen Menschen, z. B. des Aristoteles, oder einer epochenspezifischen Weltdeutung, was freilich auch würdige und wichtige Forschungsziele sein können, sondern – so pathetisch das auch klingen mag – die Wahrheit. Das historische Verständnis kann hierbei nur immer das vorletzte Wort haben. Alle Übersetzungen griechischer Zitate stammen von mir. Da jede Übersetzung immer auch Interpretation ist, wurde zum Vergleich stets der griechische Originaltext mitangegeben. Welcher Edition dieser entnommen ist, ersehe man aus dem Literaturverzeichnis. Im Falle der Metaphysik, für die dort zwei Ausgaben aufgeführt sind, habe ich mich in der Regel, d. h. wenn nichts anderes angeben ist, für diejenige von W.D. Ross entschieden.
2. Vorbereitende Untersuchung zum Seinsverständnis des Aristoteles Wie bereits erwähnt, wollen wir uns also nun in einem ersten Schritt dem Seinsverständnis des Aristoteles annähern. Wir beginnen damit diese Untersuchung gewissermaßen von ihrem Ende her. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus dem bereits erwähnten Umstand, daß Verstehen immer vom Ganzen zum Teil und zugleich vom Teil zum Ganzen zu gehen und so eine Kreisbewegung zu vollziehen hat. Es kann und soll in diesem ersten Schritt also das Thema noch in keinster Weise erschöpfend dargestellt werden; wir wollen uns vielmehr zunächst nur in dem Ganzen unseres Themas grob orientieren, wozu wir vor allem Met. Δ 7 heranziehen werden. Ebenso wie bei allen anderen Ausdrücken, die Aristoteles im Buch Δ – dem sog. Wörterbuch philosophischer Begriffe – erläutert, so unterscheidet er auch im Falle des Seienden (τὸ ὄν) und des Seins (τὸ εἶναι) dort eine Mehrzahl von Bedeutungen. 1. Zum einen werde das Seiende κατὰ συμβεβηκός ausgesagt.1 2. Zum anderen werde das Seiende auf so viele Arten καθ᾿ αὑτό ausgesagt, wie es Formen der Prädikation (τὰ σχήματα τῆς κατηγορίας) gebe, da diese ebenso viele Arten das Sein (τὸ εἶναι) bezeichnen (σημαίνει).2 (Wir lassen die Ausdrücke κατὰ συμβεβηκός und καθ᾿ αὑτό zunächst unübersetzt, um sie nicht vorschnell festzulegen.) 3. Ferner bezeichne das Sein auch, daß etwas wahr (ἀληθές) ist, das Nicht-Sein entsprechend, daß es falsch (ψεῦδος) ist. 4. Schließlich bedeute es noch einerseits Vermögen (δύναμις).3
Vgl. Met. Δ 7, 1017a 7–22. Vgl. 1017a 22–30. 3 Vgl. 1017a 31 – 1017b 9. 1 2
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2. Vorbereitende Untersuchung zum Seinsverständnis des Aristoteles
5. Andererseits bedeute es aber auch ἐντελέχεια, das wir vorerst mit „Wirklichkeit“ übersetzen wollen.4 Hierbei lassen sich zunächst drei Bedeutungsgruppen unterscheiden, deren Elemente von Aristoteles in einen engeren Zusammenhang gebracht werden: A) Das Seiende als κατὰ συμβεβηκός und καθ᾿ αὑτό Seiendes. B) Das Seiende als Wahres (und das Nicht-Seiende als Falsches). C) Das Seiende als Mögliches und Wirkliches. Die beiden ersten (κατὰ συμβεβηκός und καθ᾿ αὑτό) und die beiden letzten Einteilungsglieder (Vermögen und Wirklichkeit) stehen untereinander also jeweils in einer engeren Beziehung. Dies hat seinen Grund darin, daß jede Bedeutungsgruppe jeweils gleichsam quer zu den beiden anderen liegt, und jedes Sein eines Seienden in allen dreien bestimmt sein muß; innerhalb jeder Gruppe jedoch kann es nur eine der beiden Alternativen annehmen, mit Ausnahme von B, das nur ein Element hat. Ein Seiendes also kann in ein und derselben Hinsicht nur entweder κατὰ συμβεβηκός oder καθ᾿ αὑτό, und entweder der Möglichkeit nach oder der Wirklichkeit nach sein und ausgesagt werden. Für B stellt sich die Alternative etwas anders dar, weil hier nur das Ausgesagtwerden und nicht das Sein in Betracht kommt. Hier gilt, daß das Seiende als das, was es ist, entweder ausgesagt wird oder nicht als solches, sondern als sein (kontradiktorisches oder konträres) Gegenteil. Das Seiende kann aber das, was es ist, sehr wohl zugleich und in derselben Hinsicht καθ᾿ αὑτό und wirklich sein und als solches auch wahr ausgesagt werden, oder κατὰ συμβεβηκός und möglich, u.s.w. Was dagegen ausgeschlossen ist, ist eine Unbestimmtheit in einer der Bedeutungsgruppen. So ist es unmöglich, daß ein Seiendes weder κατὰ συμβεβηκός noch καθ᾿ αὑτό ist, oder weder möglich noch wirklich, und auch, daß es weder wahr noch falsch ausgesagt wird. Statt von Bedeutungsgruppen sollte man also besser von Bedeutungsaspekten des Seins sprechen. Das Sein des Seienden muß also stets hinsichtlich aller drei Bedeutungsaspekte bestimmt sein. Nun ist es aber nicht möglichen, daß alle Kombinationen gleichberechtigt nebeneinander stehen, da ansonsten das Seiende bloß den Namen gemeinsam hätte und es sich im Grunde um gänzlich unabhängige Bedeutungen handeln müßte, die nichts miteinander zu tun hätten und auch gar nicht in eine solche Gegensatzpaare ent Ebenda.
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haltende Matrix, wie oben dargestellt, gebracht werden könnten. Ein einheitliches Bedeutungsfeld, wie es Aristoteles im Sinn hat, ergibt sich nur dadurch, daß auf eine gewisse Weise die unterschiedlichen Kombinationen der Bedeutungsaspekte aufeinander hingeordnet sind, und zwar so, daß sie eine πρὸς ἕν-Struktur bilden, d. h. alle anderen Bedeutungen von einer Hauptbedeutung abhängen, auf die sie als Nebenbedeutungen verweisen.5 Welche der Kombinationen von Bedeutungsaspekten des Seienden übernimmt nun die Funktion dieser Hauptbedeutung und ist somit das Sein im eigentlichsten Sinne? Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir die drei Gruppen jeweils einzeln durchgehen und das Element jeder Gruppe, das einen Hauptbedeutungsaspekt ausdrückt, ermitteln. Die Kombination dieser Hauptbedeutungsaspekte wird die Hauptbedeutung des Seienden ergeben. Beginnen wir mit der zweiten Gruppe, da hier die Entscheidung am leichtesten fällt. Das Sein im Sinne von Wahr-Sein hat nämlich kein Gegenteil im Bereich des Seins, sondern nur im Bereich des Nicht-Seins, das Falsche nämlich ist ein Nicht-Seiendes, das als Seiendes ausgesagt wird. Also ist das Wahr-Sein ein Bedeutungsaspekt jegliches Seienden, der in bestimmten Kontexten in den Vordergrund tritt. Wenn ich z. B. sage: „Es ist so, wie du sagst“, dann spreche ich deiner Aussage, die irgendein Sein aussagt, dieses Sein noch einmal ostentativ zu, und behaupte damit die Wahrheit dessen, was du ausgesagt hast. Sage ich dagegen: „Es ist nicht so“, dann spreche ich dem von dir als Seiendes Ausgesagten das Sein ausdrücklich ab und behaupte seine Falschheit. Wahr-Sein bedeutet, daß sich etwas so zeigt oder gezeigt wird, wie es ist. Unwahr und falsch dagegen ist es, wenn etwas als wahrhaft so seiend gezeigt wird oder sich selbst zeigt, obwohl es nicht so ist, sondern anders. Die Unwahrheit besteht also darin, daß die Wahrheit hinter einer nur scheinbaren Wahrheit verborgen wird. Die Falschheit setzt also Wahrheit stets voraus, denn Falschheit kann nur als Verkehrung oder Vortäuschung einer Wahrheit gedacht werden. Daraus folgt, daß das Wahr-Sein auch dem Sein im eigentlichsten Sinne zukommen muß. Möglichkeit und Wirklichkeit dagegen sind tatsächliche Modi des Seins. Freilich sind auch sie nicht gleichwertig, denn jede Möglichkeit ist die Möglichkeit einer Wirklichkeit, d. h. das, was eine Möglichkeit ist, Zur πρὸς ἕν-Struktur des Seienden vgl. auch Met. Γ 2, 1003a 33 – 1003b 10, wo sie am Beispiel des Gesunden und des Ärztlichen erläutert wird, welche sich jeweils auf die Gesundheit und die Medizin als einheitsstiftende Mitte beziehen. 5
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läßt sich nur mit Verweis auf eine Wirklichkeit erklären und verstehen. Dieses Verhältnis ist nicht umkehrbar, da die Wirklichkeit stets aus sich selbst verstanden werden muß, ein Verweis auf eine Möglichkeit erklärt hier nichts. Also setzt die Möglichkeit in gewisser Weise die Wirklichkeit bereits voraus, weshalb das in Wirklichkeit Seiende im eigentlicheren Sinne ist. Auch das Sein κατὰ συμβεβηκός und das Sein καθ᾿ αὑτό werden wohl nicht gleichrangig sein. Doch was ist damit überhaupt gemeint? Auf welchen Unterschied will Aristoteles hier hinaus? Werfen wir zur Beantwortung dieser Frage einen Blick auf die Erläuterungen zum Sein κατὰ συμβεβηκός im fünften Buch der Metaphysik. Dort unterscheidet Aristoteles zwischen dem Seienden und dem Sein und setzt zugleich beides zueinander in Beziehung. Das Seiende, das κατὰ συμβεβηκός ausgesagt wird, ist nach Aristoteles das, dem etwas, nämlich ein gewisses Sein, z. B. das Kultiviert-Sein, als Eigenschaft zukommt, und weil ihm diese Eigenschaft zukommt, kann auch entweder die Eigenschaft von dem Seienden selbst, oder eine solche Eigenschaft von einer anderen Eigenschaft desselben Seienden, oder aber das Seiende von der Eigenschaft ausgesagt werden. 6 Es gibt nun keinen vernünftigen Grund zu bezweifeln, daß Analoges nicht auch vom Seienden gelten soll, das καθ᾿ αὑτό ausgesagt wird. Ein Seiendes auszusagen (λέγειν) bedeutet dann immer, von einem Seienden ein Sein auszusagen. Das wiederum heißt, daß jedes Seiende, insofern es ausgesagt werden kann, immer ein auf eine bestimmte Art Seiendes ist, denn diese Art seines Seins geben wir an, wenn wir etwas von ihm aussagen. Ein Seiendes ist also allein dadurch Seiendes, daß es etwas ist. Dies sollen auch die Beispiele, die Aristoteles zur Verdeutlichung des Seins καθ᾿ αὑτό verwendet, deutlich machen.7 Allerdings können diese leicht Verwirrung verursachen, worauf auch W.D. Ross in seinem Metaphysik-Kommentar8 hingewiesen hat, denn sie sind sämtlich dem Bereich des Seienden κατὰ συμβεβηκός entnommen, d. h. sie drücken Eigenschaften aus: ein Mensch ist gesund, ein Mensch geht, ein Mensch
6 Vgl. 1017 a 19–22: „τὰ μὲν οὖν κατὰ συμβεβηκὸς εἶναι λεγόμενα οὕτως λέγεται ἢ διότι τῷ αὐτῷ ὄντι ἄμφω ὑπάρχει, ἢ ὅτι ὄντι ἐκεῖνο ὑπάρχει, ἢ ὅτι αὐτὸ ἔστιν ᾧ ὑπάρχει οὗ αὐτὸ κατηγορεῖται.“ 7 Vgl. 1017a 27–30. 8 Vgl. W.D. Ross (Hrsg./Komm.): Aristotle’s Metaphysics. A Revised Text with Introduction and Commentary, 2 Bd., Oxford 1970; hier relevant ist vor allem der Abschnitt Bd. 1, S. 305–309.
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schneidet.9 Es geht Aristoteles hierbei allerdings keineswegs darum, Beispiele für Seiendes zu liefern, das καθ᾿ αὑτό ausgesagt wird, sondern lediglich darum, wie es Ross treffend ausdrückt, zu zeigen, „… that ‚is‘ takes its colour from the terms it connects. ‚The man is walking‘ means nothing more or less than ‚the man walks‘; the kind of being that is implied can be learnt only, and completely, by considering the terms connected by it.“10 Je nachdem also in welchem Zusammenhang das Sein ausgesagt wird, ändert sich seine Bedeutung: Gehen bzw. Gehend-Sein ist eine andere Art des Seins als Mensch-Sein. Ein Sein schlechthin, das allem Seienden gemeinsam wäre, gibt es nach Aristoteles nicht, daher läßt sich auch das spezifische Sein jedes Seienden als durch eine Kopula verbundenes Prädikat von dem Seienden aussagen, wobei die Kopula, die damit bereits keine bloße Kopula mehr ist, das Sein bezeichnet, das Prädikat aber die spezifische Weise dieses Seins. Ob dabei das Sein κατὰ συμβεβηκός oder καθ᾿ αὑτό ausgesagt wird, ändert daran nichts. Anders gewendet: für Aristoteles ist ein Ausdruck wie „A ist“ immer nur eine elliptische Form eines Satzes der Form „A ist B“, wobei A das Seiende bezeichnet und B bzw. „ist B“ dessen Sein, das freilich, insofern auch von ihm wiederum Prädikate ausgesagt werden können, ebenfalls ein Seiendes ist. Unter Sein wird hier also weder die bloß verknüpfende Kopula noch die bloße aussagenlogische Wahrheit verstanden. Was aber dann? Sein ist immer in einem ontologischen Sinne wahr, d. h. es ist immer das und zeigt sich als das, was es ist. Es ist auch primär wirklich im Sinne eines Vollzugs oder einer Tätigkeit (ἐνέργεια) im allgemeinsten Sinne, der auch noch das Erfahren einer Einwirkung umfaßt, denn alles ist dadurch in Wirklichkeit, daß es tätig ist.11 Schließlich ist das Sein, wie sich gezeigt hat, immer ein bestimmtes Sein. Das Sein im eigentlichsten Sinne ist also eine bestimmte Tätigkeit, die sich unmittelbar als das zeigt, was sie ist. Nun bleibt nur noch zu entscheiden, ob das Sein im eigentlichsten Sinne dem Seienden καθ᾿ αὑτό oder κατὰ συμβεβηκός zukommt und was damit jeweils gemeint ist. Um das zu entscheiden, müssen wir jedoch wissen, wodurch das ὂν καθ᾿ αὑτό eindeutig vom ὂν κατὰ συμβεβηκός abgegrenzt werden kann. Leider trägt Ross’ Interpretation des ὂν καθ᾿ αὑτό Vgl. 1017a 27–30. Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. 307. 11 Die Frage nach dem Unterschied der eng zusammengehörigen Begriffe ἐντελέχεια und ἐνέργεια soll hier zunächst ausgeklammert werden; später werden wir darauf zurückkommen. 9
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an dieser Stelle trotz ihres richtigen Ansatzpunktes nicht zu einer Lösung bei, ja sie verunklart die Sache sehr und führt in eine interpretatorische Sackgasse. Doch wollen wir ihn zuerst selbst zu Wort kommen lassen. Seine Ausführungen zur vorliegenden Problematik lauten: Now ‚essential being‘ is said to fall into kinds which are either identical with or correspond to the categories. But propositions of which the subject belongs to one category, the predicate to another, will not readily lend themselves to a classification answering to the categories; nor will the connexion of subject and predicate be in such a case of the most direct, essential kind. Now where the predicate is a property of the subject, subject and predicate may be in different categories, so that it is not propositions of this kind that Aristotle has in view. Again, where the predicate is a differentia of the subject, they may be in different categories – the differentia of a substance, for example, is a quality (1020a 33); so that such propositions are not intended here. And where the predicate is the definition of the subject, the same difficulty arises, so far as the differentia included in the definition is concerned. The only propositions in which from the nature of the case subject and predicate must be unambiguously in the same category are those in which the predicate is the genus of the subject. These, then, are the propositions which Aristotle has in view here.12
Dem ersten Teil seiner Interpretation möchte ich mich noch ausdrücklich anschließen. Da das Sein, wie wir weiter oben sahen, in gewisser Weise immer zweiwertig ist, insofern es nämlich zwei Ausdrücke „verknüpft“, es aber zugleich, wenn es καθ᾿ αὑτό ausgesagt wird, als ganzes jeweils einer Kategorie zugeordnet werden kann, müssen notwendig beide durch das Sein „verknüpften“ Ausdrücke derselben Kategorie korrespondieren. Daher schließt Ross zunächst zu Recht vom ὂν καθ᾿ αὑτό all die Aussagen aus, in denen das Prädikat nur eine für das Zugrundeliegende zufällige Eigenschaft von diesem oder einer seiner anderen Eigenschaften aussagt, denn Eigenschaft und Zugrundeliegendes fallen in verschiedene Kategorien, nämlich das Zugrundeliegende in die erste (οὐσία oder τί ἐστιν) und die Eigenschaften in eine der anderen. Daß die zwei durch das Ist verbundenen Ausdrücke in verschiedene Kategorien fallen, ist nur möglich, wenn das Seiende κατὰ συμβεβηκός ausgesagt wird. Aus all dem kann aber nicht, wie Ross glaubt, ein Kriterium für das Seiende καθ᾿ αὑτό gewonnen werden, denn einer Sache können ja auch z. B. zwei verschiedene Qualitäten zukommen, die dann κατὰ συμβεβηκός voneinander ausgesagt werden können, etwa wenn wir sagen: „Das Weiße ist weich.“ Daß Subjekt und Prädikat in dieselbe Kategorie fallen, kann also Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. 306f (Hervorhebungen von mir).
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nicht das Kriterium abgeben, anhand dessen zwischen Sein κατὰ συμβεβηκός und καθ᾿ αὑτό unterschieden werden kann, sondern ist lediglich eine notwendige Bedingung des καθ᾿ αὑτό. Außerdem betrachtet Ross die διαφοραί, also das, wodurch ein εἶδος als das bestimmt ist, was es ist, ungerechtfertigterweise als Qualität im kategorialen Sinne und schließt es vom Sein καθ᾿ αὑτό aus. Das jedoch würde letztendlich jede Definition unmöglich machen, da das Definierte (z. B. οὐσία) und die Definition, die die διαφορά enthält, vollkommen identisch sein müssen; vollkommen Identisches kann aber nicht in verschiedene Kategorien fallen. Ross stützt sich bei der Behauptung, daß die διαφοραί zu der Kategorie der Qualität gezählt werden müssen, auf die Erörterung der Qualität im 13. Kapitel des fünften Buchs der Metaphysik.13 Aristoteles unterscheidet dort jedoch ausdrücklich zwischen zwei Qualitätsbegriffen: Qualität als Unterschied (διαφορά) der Seiendheit (οὐσία) und Qualität als Eigenschaft (πάθη) des sich Bewegenden (κινούμενα), insofern es sich bewegt, bzw. die Unterschiede (διαφοραί) dieser Bewegungen selbst. Diese Differenzierung des Qualitätsbegriffs ist bereits in der Kategorienschrift präsent, wo εἶδος und γένος der πρώτη οὐσία als Qualitäten (τὸ ποιόν) bezeichnet werden, ohne daß daraus folgte, daß sie unter die Kategorie der Qualität fielen, ganz im Gegenteil: sie werden ebenfalls als οὐσίαι bezeichnet, nämlich als δεύτεραι οὐσίαι.14 Das Kriterium, auf das sich Ross bei seiner Argumentation stützt, greift also nicht. Damit fällt auch seine Schlußfolgerung, daß es sich beim Sein καθ᾿ αὑτό um das γένος handle und das Sein κατὰ συμβεβηκός auch die διαφορά umfasse. Doch was muß dann unter beidem verstanden werden und wodurch unterscheiden sie sich? Die Antwort liegt offenbar so sehr vor Augen, daß sie von Ross nicht bemerkt wurde: beide Arten des Seins unterscheiden sich eben dadurch und sind dadurch charakterisiert, daß das eine von einem Seienden κατὰ συμβεβηκός, und das andere καθ᾿ αὑτό ausgesagt wird, denn gesagt zu werden (λέγεσθαι), bedeutet für ein Seiendes (ὂν) immer, daß dessen Sein (εἶναι) von ihm ausgesagt wird, welches immer ein spezifisches, bestimmtes ist. Das, was ausgesagt wird, ist nicht eine bloße Aussage im Sinne einer Aneinanderreihung von Wörtern, sondern ausgesagt wird das Seiende selbst hinsichtlich seines Seins, d. h. das Seiende wird im Sagen (λέγειν, λόγος) als das, was es ist, sichtbar
Vgl. Met. Δ 13, 1020a 33 – 1020b 14. Vgl. Cat. 5, 3b 10 ff.
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oder offenbar gemacht (δηλοῦν).15 Die Wörter sind also nicht das, was gesagt wird, sondern nur das Mittel dazu, das Seiende zu sagen, und das heißt, es selbst hinsichtlich seines Seins offenbar zu machen. Die Wörter sind also gleichsam eine Brille, durch die hindurch man auf das Ausgesagte zu blicken und es scharf, d. h. als das, was es ist, zu sehen vermag. Das Ausgesagte ist immer das Seiende selbst, das immer ein bestimmtes Seiendes ist. Sagen heißt hier also Offenbaren. Das so offenbar gemachte Sein kann nun, um etwas vorauszugreifen, dem Seienden zukommen, insofern es nur es selbst ist (καθ᾿ αὑτό), oder insofern es noch etwas anderes ist als es selbst, also noch etwas anderes mithinzugekommen ist (κατὰ συμβεβηκός). Doch muß dies erst noch deutlich herausgearbeitet werden. Um dies zu leisten, müssen wir zunächst einen Blick auf Met. Δ 18 werfen, wo Aristoteles zuerst allgemein das καθό und anschließend noch einmal speziell das καθ᾿ αὑτό diskutiert. Das καθό, sagt er dort, kann auf ebenso viele Weisen gesagt werden, wie das, was für etwas verantwortlich gemacht werden kann (αἴτιον). Das, was für etwas verantwortlich ist, wird im Deutschen Grund genannt.16 Mit der Frage καθό; wird also nach dem Grund gefragt, sie läßt sich daher hier übersetzen mit „Aufgrund wessen?“. Diese Übersetzung ist allerdings nicht der letzten von Aristoteles angegebenen Bedeutung angemessen, nämlich der Bedeutung κατὰ θέσιν, in der der ursprüngliche räumliche Sinn von κατά zum tragen kommt. Diese Bedeutung spielt indessen bei Aristoteles weiter keine Rolle.17 Ausgeblendet wird in Met. Δ 18 merkwürdigerweise die im Griechischen und auch bei Aristoteles wohl häufigste Verwendung von κατά, nämlich die zur Angabe einer Hinsicht oder einer Maßgabe (hinsichtlich …, gemäß …). Dies dürfte daran liegen, daß dort, wo es um die Wissenschaft des Seienden als eines Seienden geht, also im Kontext der Ontologie, die Hinsichtenunterscheidung immer eine spezifische Form annimmt. Denn das, gemäß oder hinsichtlich dessen etwas das ist, was es ist, ist der Grund des Seins des Seienden. Vgl. z. B. die Verwendung des Ausdrucks δηλοῦν in Cat. 5, 2b 29 ff. Der Ausdruck „Ursache“, mit dem das griechische αἴτιον normalerweise übersetzt wird, ist zumindest mißverständlich, da in der normalen Umgangssprache Ursache nur als Wirkursache verstanden wird. Die Übersetzung mit „Grund“ scheint mir dagegen wesentlich deutlicher die grundlegende Offenheit des griechischen Ausdrucks αἴτιον wiederzugeben. 17 Sie wird wohl nur deshalb angeführt, weil sie für die Kategorie des Ortes eine gewisse ontologische Relevanz hat. 15 16
2. Vorbereitende Untersuchung zum Seinsverständnis des Aristoteles
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Da es nun aber nach Aristoteles vier Arten von Gründen gibt, muß auch die ihnen korrespondierende Frage vier Hinsichten aufweisen. Mit „Aufgrund wessen?“ kann daher gefragt werden nach der ὕλη, dem εἶδος, dem ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς μεταβολῆς ἡ πρώτη ἢ τῆς ἠρεμήσεως und schließlich noch nach dem τέλος oder οὗ ἕνεκα. Die zwei letzten Arten des καθό werden von Aristoteles nur am Rande erwähnt und interessieren ihn hier offenbar auch nicht weiter. Dies liegt wohl zum einen daran, daß beim natürlichen Seienden, das ihn in erster Linie interessiert, das εἶδος auch die Funktion einer Wirk- (ὅθεν) und die einer Zielursache (οὗ ἕνεκα) mitübernimmt, zum anderen aber auch daran, daß es für sie jeweils eigene Fragewörter gibt, nämlich ebenjenes ὅθεν und οὗ ἕνεκα, durch das sie auch bezeichnet werden. Daher unterscheidet Aristoteles im Grunde nur zwei Bedeutungen und fügt die anderen bloß ergänzend an. Diese zwei Hauptbedeutungen wiederum sind nicht gleichrangig: in erster Linie frägt das καθό nach dem εἶδος und erst in zweiter nach der ὕλη.18 In beiden Fällen darf aber nicht vergessen werden, daß für Aristoteles das Seiende, nach dessen Grund hier gefragt wird, immer ein etwas Seiendes ist, niemals ein Seiendes schlechthin. An einem Beispiel soll dies erläutert werden. Wenn die Frage gestellt wird: „Aufgrund wessen ist der Mensch da weiß?“, so sind darauf mindestens zwei Antworten möglich, entsprechend den zwei Hauptbedeutungen des καθό: einmal kann man antworten, daß er aufgrund seiner Oberfläche weiß ist, wodurch man die „Materialursache“ (ὕλη) angibt, und ein andermal, daß er aufgrund des Weißen selbst weiß ist, wodurch man die „Formursache“ (εἶδος) nennt. Das Weiße selbst nämlich ist in der Oberfläche des betreffenden menschlichen Körpers.19 Was wir soeben in Bezug auf das καθό dargelegt haben, müssen wir nun zum Leitfaden für das Verständnis des καθ᾿ αὑτό und des κατὰ συμβεβηκός machen. Das καθ᾿ αὑτό meint dann das, was aufgrund seiner selbst das ist, was es ist, und zwar entweder als εἶδος oder als ὕλη. So lautet die Antwort auf die Frage, aufgrund wessen der Mensch ein zweibeiniges Lebewesen ist, dahingehend, daß er das aufgrund seiner selbst ist, d. h. dadurch, daß er eben ein Mensch ist. Mit jeder anderen Erwiderung dagegen bliebe man eine Beantwortung der Frage im eigentlichen Sinne schuldig und würde nur entweder immer neue Gegenfragen provozieren 18 Vgl. 1022a 17ff: „τὸ μὲν οὖν πρώτως λεγόμενον καθὸ τὸ εἶδός ἐστι, δευτέρως δὲ ὡς ἡ ὕλη ἑκάστου καὶ τὸ ὑποκείμενον ἑκάστῳ πρῶτον.“ 19 Auf dieses In-etwas-Sein wird weiter unten im Zuge der Untersuchung der Kategorienschrift noch weiter eingegangen.
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oder das Seiende selbst aufheben.20 Auf die Frage dagegen, aufgrund wessen der Mensch weiß ist, kann man zweierlei antworten: Entweder man sagt, er sei dies aufgrund seiner selbst, nämlich aufgrund der Oberfläche seines Körpers, der ja ein Teil des Menschen ist, wodurch man die ὕλη benennt, oder aber man erwidert, dies sei der Fall aufgrund dessen, was sich zufällig21 ergeben hat (κατὰ συμβεβηκός), nämlich aufgrund der Gegenwart des Weißen selbst im Menschen bzw. in der Oberfläche seines Körpers, wodurch man das εἶδος, das Weiße selbst, benennt. Alle Antworten auf die Frage „Aufgrund wessen?“ lassen sich so einer der beiden Gruppen zuordnen, denn alles ist das, was es ist, entweder aufgrund seiner selbst, oder aufgrund dessen, was sich zufällig ergeben hat, weil ein anderes zu ihm mithinzugekommen ist.22 Dabei ist das hinsichtlich der Formursache aufgrund seiner selbst Seiende schlechthin aufgrund seiner selbst, das hingegen, was hinsichtlich der Formursache das, was es ist, nicht aufgrund seiner selbst ist, sondern aufgrund dessen, was sich zufällig ergeben hat, kann dennoch dasselbe hinsichtlich der Materialursache aufgrund seiner selbst sein. Anders gewendet kann man auch sagen, daß, wenn ein Seiendes etwas im Hinblick auf die Materie καθ᾿ αὑτό, also aufgrund seiner selbst ist, es immer noch hinsichtlich der Form κατὰ συμβεβηκός sein kann, andersherum ist dies dagegen nicht der Fall: alles, was in formaler Hinsicht etwas καθ᾿ αὑτό ist, ist dieses in keiner Weise κατὰ συμβεβηκός.23 Die formale Hinsicht ist daher primär 20 Ersteres ist der Fall, wenn man statt eines Seinsgrundes einen Erkenntnisgrund angibt, also z. B. sagt, daß ein Mensch deshalb ein Mensch sei, weil er diese oder jene Eigenschaften habe; dies provoziert nämlich die Frage, warum ihm denn nun diese und keine anderen Eigenschaften zukommen. Durch diese gewissen Eigenschaften erkennen wir nur, daß etwas dies oder jenes ist, nichts aber wird durch sie ursächlich zu irgendetwas, außer eben höchstens hinsichtlich unserer Erkenntnis. Letzteres dagegen ergibt sich, wenn man zwar einen Seinsgrund angibt, jedoch einen, der der Sache selbst äußerlich bleibt, wenn man also z. B. antwortet, ein Mensch sei dadurch ein Mensch, daß Materie von dieser oder jener Art sich zufällig auf diese oder jene Weise zusammenfindet und aufeinander einwirkt; denn alles was hier ist und als Seiendes angesprochen werden kann, ist die Materie, von einem Menschen als einem im substanziellen Sinne Seienden dagegen kann keine Rede sein, da er nur ein spezieller Zustand oder eine Eigenschaft seiner „Teile“ wäre. 21 „Zufällig“ bedeutet hier nur, daß etwas nicht in dem seinen Grund hat, hinsichtlich dessen es eben zufällig ist. Es ist also schlicht der Gegensatz zum Ausdruck „aufgrund seiner selbst“. 22 Dieser Punkt kann hier noch nicht in aller Klarheit erörtert werden, weil dies eine genaue Lektüre der Kategorienschrift voraussetzt, der wir uns im Verlauf dieser Untersuchung erst noch widmen müssen. 23 Ob man in letztem Fall noch sagen kann, daß etwas zugleich auch in materialer
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und wird bei Aristoteles fast durchgängig stillschweigend vorausgesetzt, wenn von καθ᾿ αὑτό und κατὰ συμβεβηκός ohne weitere Einschränkung die Rede ist. Von hier aus können wir nun zu der Frage zurückkehren, wann ein Seiendes etwas aufgrund seiner selbst ist und als das, was es aufgrund seiner selbst ist, ausgesagt, d. h. offenbar gemacht werden kann. Um uns darüber klar zu werden, gehen wir zunächst vom gegenteiligen Fall aus, nämlich einer Aussage, die von einem Seienden ein Sein aussagt, daß ihm nicht aufgrund seiner selbst zukommt. Nehmen wir die Aussage: „Der Mensch ist gesund.“ Gesund ist ein Mensch nicht, insofern er ein Mensch ist, d. h. sein Mensch-Sein macht nicht seine Gesundheit aus, schließlich kann er ja auch krank werden, sondern gesund ist er, insofern die Gesundheit in seinem Körper ist.24 Wird das Seiende jedoch hinsichtlich seiner selbst ausgesagt, so muß ihm das Sein, das von ihm ausgesagt wird, zukommen, insofern es nichts anderes als es selbst ist. Wann aber ist dies der Fall? Darauf ist nur eine Antwort möglich: Dies ist nur dann der Fall, wenn es sich bei der Aussage um eine Definition (ὁρισμός) handelt, oder wenn die Teile einer Definition (γένος und διαφορά) von dem Seienden ausgesagt werden.25 Damit ist zugleich auch die Frage nach der Hauptbedeutung des Seins bei Aristoteles beantwortet, denn das Seiende kann nur dann hinsichtlich eines anderen ausgesagt werden, wenn sowohl es selbst als auch jenes andere hinsichtlich ihrer selbst jeweils bestimmt sind und diese Bestimmtheit von beiden jeweils als Definition ausgesagt werden kann. Hinsicht aufgrund seiner selbst das ist, was es ist, muß hier zunächst offen bleiben. Einigermaßen klar dürfte jedoch sein, daß etwas zugleich in materialer und formaler Hinsicht κατὰ συμβεβηκός sein kann, z. B. wenn man sagt: „Das Weiße spricht“, denn sprechen zu können ist nicht Teil der Materie des Weißen. 24 Hier ist wieder die Unterscheidung zwischen „in etwas sein“ und „von etwas ausgesagt werden“, wie sie in der Kategorienschrift (Cat. 2, 1a 20 – 1b 9) erörtert wird, zentral; sie wird, wie gesagt, erst weiter unten ausführlich erörtert. Die Gesundheit ist freilich nicht der Grund dafür, daß jemand gesund wird, wohl aber dafür, daß er gesund ist, ebenso wie das εἶδος des Menschen, die Menschheit, nicht der Grund dafür ist, daß ein Mensch wird, denn „ein Mensch zeugt einen Menschen“ und nicht die Menschheit tut dies, wohl aber ist sie der Grund dafür, daß ein Mensch ein Mensch ist. Dies ist, wie mir scheint, ein wesentlicher Punkt der Aristotelischen Platonkritik, auf die jedoch an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann. 25 Vgl. dazu die Darstellung der beiden ersten Bedeutungen von καθ᾿ αὑτό in Met. Δ 18, 1022a 25ff: „ἓν μὲν γὰρ καθ᾿ αὑτὸ τὸ τί ἦν εἶναι ἑκάστῳ, οἷον ὁ Καλλίας καθ᾿ αὑτὸν Καλλίας καὶ τὸ τί ἦν εἶναι Καλλίᾳ· ἓν δὲ ὅσα ἐν τῷ τί ἐστιν ὑπάρχει, οἷον ζῷον ὁ Καλλίας καθ᾿ αὑτόν. ἐν γὰρ τῷ λόγῳ ἐνυπάρχει τὸ ζῷον· ζῷον γάρ τι ὁ Καλλίας.“
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Das Sein im eigentlichsten Sinne ist also diejenige Tätigkeit, in der sich das Seiende insofern zeigt und äußert, insofern es nichts anderes als es selbst ist.26 Gegen diese Argumentation könnte eingewandt werden, daß Aristoteles zur Erläuterung des mit dem ὂν καθ᾿ αὑτό gemeinten eben gerade nicht auf die Definition und deren Teile, sondern auf die Formen der Prädikation (σχήματα τῆς κατηγορίας) verweist, die doch mit der Definition zunächst scheinbar gar nichts zu tun haben. Doch läßt sich dieser Umstand leicht erklären: Es geht ihm nämlich hier nicht primär um die Bedeutung des καθ᾿ αὑτό, die er, wie gesagt, in Met. Δ 18, 1022a 25ff behandelt, sondern um die Unterscheidung der Bedeutungen des ὂν und des εἶναι. Er will deutlich machen, daß das Seiende auf so und so viele Arten ausgesagt wird, nämlich einmal hinsichtlich dessen, was sich (zufällig) ergeben hat, und einmal hinsichtlich seiner selbst, wobei letzteres noch einmal unterschieden werden kann hinsichtlich der grundlegenden Aussagearten. Denn entgegen der Behauptung Ernst Tugendhats27, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird, ergibt sich bei Definitionen sehr wohl eine Differenzierung in Kategorien. Sie können nämlich auf das, was diese Aussagearten bezeichnen, zurückgeführt werden, weil es sich dabei um nichts anderes als die obersten Gattungen des Seienden, die gleichsam „Abstammungslinien“ (γένη) begründen, handelt (Seiendheit, Qualität, Quantität, Relation usw.). Ein Mensch z. B. ist ein vernünftiges Tier, ein Tier ein sich von selbst bewegendes Lebewesen, ein Lebewesen eine beseelte Seiendheit und also eine Seiendheit (οὐσία). Rot ist eine bestimmte Farbe, eine Farbe eine bestimmte Qualität und also eine Qualität (ποιόν). Die Verwendung des Artikels im Griechischen ist ein bestimmtes Grammatikwissen, ein Grammatikwissen ist ein bestimmtes Wissen, ein Wissen eine bestimmte Relation und also eine Relation (πρός τι). Wenn man diese Reihen umdreht, ergeben sich sozusagen „Stammbäume“ (des Menschen, der Farbe Rot, des Wissens um die Verwendung des Artikels im Griechischen), die u.a. ihre „Ver-
26 Es ist also nichts falscher, als im Zusammenhang mit Aristoteles von einer Ding-Metaphysik zu sprechen. Prozeß-Metaphysik würde es schon besser treffen, obwohl auch die Vorstellung eines grenzenlosen Fortschreitens, die diese Benennung erwecken könnte, ganz an der Sache vorbeigeht. 27 Vgl. Ernst Tugendhat: „Über den Sinn der vierfachen Unterscheidung des Seins bei Aristoteles (Metaphysik Δ 7)“, in: Ders.: Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, 136–144, S. 138.
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wandtschaft“ mit anderem Seienden angeben.28 Je nachdem welcher Kategorie eine Definition zugeordnet werden kann, bedeutet das Sein, das in dieser Definition ausgesagt wird, daher unbeschadet aller sonstigen Unterschiede, die es sonst noch aufweist und durch die es zu einem bestimmten εἶδος wird, etwas grundlegend anderes. Mensch und Mond haben immer noch etwas gemeinsam, nämlich ihr γένος: sie sind beide οὐσίαι. Bei Mensch und Farbe (oder auch Mensch und Wissen oder Farbe und Wissen) sieht die Sache dagegen ganz anders aus, beide Seienden haben nichts mehr gemeinsam, außer der Analogie nach; das Sein dieser Seienden, das ihnen zukommt, insofern sie nichts anderes als sie selbst sind, d. h. ihre je spezifische Art sie selbst zu sein, ist eben jeweils von gänzlich anderer Art und bedeutet jeweils etwas ganz anderes. Daher kann Aristoteles sagen, daß es so viele Arten des ὂν καθ᾿ αὑτό wie Kategorien gibt. Der bereits erwähnte Ernst Tugendhat freilich gelangt in besagtem Aufsatz zu Met. Δ 7 zu einem ganz anderen Ergebnis. Im folgenden sei daher noch kurz auf seine Interpretation eingegangen. Seine Ansicht bezüglich des Unterschieds des καθ᾿ αὑτό und des κατά συμβεβηκός faßt er folgendermaßen zusammen: Meine Lösung des Problems besteht also darin, daß es sich hier überhaupt nicht um zwei verschiedene Verwendungsweisen des Wortes ‚ist‘ handelt, um zwei verschiedene Weisen seines Vorkommens, sondern das eine ‚ist‘ in dem ontologisch einzig relevanten Standardsatz ‚Dies S ist P‘ ist nach Aristoteles Träger zweier Funktionen, einer Bestimmung eines ὑποκείμενον und einer Verbindung zweier Bestimmungen; das eine ist seine Bedeutung καθ᾿ αὑτό, das andere seine Bedeutung κατὰ συμβεβηκός.29
Es lassen sich in diesen Ausführungen zwei Thesen isolieren und getrennt von einander diskutieren, nämlich zum einen, daß der Satz „Dies S ist P“ die einzige Form der Prädikation sei, die Aristoteles betrachte30 , 28 Hinsichtlich dieser Vorstellung, daß das Seiende sich genealogisch ordnen lasse, steht Aristoteles in einer langen Tradition, die sich über Platon hinaus bis auf Hesiod und wohl auch noch weiter zurückverfolgen läßt. Dies bedeutet freilich nicht, daß diese Vorstellung im Laufe der Zeit nicht charakteristische und tiefgreifende Umgestaltungen erfahren hätte, doch wird die Kontinuität dieses Denkmusters schon allein durch die Begriffswahl deutlich. 29 Ernst Tugendhat: „Über den Sinn der vierfachen Unterscheidung des Seins bei Aristoteles (Metaphysik Δ 7)“, a.a.O., S. 142. 30 Eine ähnliche Ansicht hat 1925 bereits C.M. Gillespie vertreten, allerdings nur hinsichtlich der frühen Schriften des Aristoteles und des zeitgenössischen Diskussi-
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und zum anderen, daß jedes „ist“ in jeder solchen Prädikation zwei Aspekte habe, durch die es zugleich καθ᾿ αὑτό und κατὰ συμβεβηκός sei. Beginnen wir mit der zweiten These. Tugendhat selbst verweist auf den sich bei seiner Interpretation ergebenden Unterschied in der Auffassung des κατὰ συμβεβηκός zwischen Met. Δ 7 und E 2, da nach dieser Interpretation Aristoteles einerseits in Δ 7 jede Verbindung zweier Bestimmungen nach dem Schema „S ist P“ als κατὰ συμβεβηκός verstanden habe, in E 2 dagegen unter diesem Begriff offensichtlich das versteht, was sich zufällig ergeben hat.31 Doch Tugendhat fügt sogleich hinzu: „… die einzige Möglichkeit, sie [diese Schwierigkeit, AG] zu vermeiden, bestünde eben darin, das ὂν καθ᾿ αὑτό als essentielle Prädikation zu verstehen, und das kommt nicht in Frage. Also wird man die Härte in Kauf nehmen müssen, daß Aristoteles in E 2 einen engeren Begriff behandelt als den, den er in Δ 7 ins Auge faßt.“32 Da ich aber soeben, wie ich hoffe, zeigen konnte, daß und wie sich das ὂν καθ᾿ αὑτό doch als essentielle Prädikation verstehen läßt, fällt dieser Einwand weg, so daß sich meine Interpretation als die konsistentere erweist, bei der man keine „Härte“ in Kauf nehmen muß. Der Ausdruck κατὰ συμβεβηκός bedeutet letztendlich immer das, was sich zufällig so ergeben hat, das ὂν καθ᾿ αὑτό dagegen ist niemals zufällig, sondern immer und notwendig das, was es eben als es selbst ist. Somit kann keinem Seienden dasselbe Sein zugleich καθ᾿ αὑτό und κατὰ συμβεβηκός zukommen. Hinsichtlich der ersten These Tugendhats muß ganz einfach festgestellt werden, daß bei Aristoteles offensichtlich nicht nur Sätze der Form „Dies S ist P“, also Aussagen über je Einzelnes, ontologische Relevanz haben, denn andernfalls müßte man auch den Definitionen, die ja keine Aussagen über je Einzelnes sind, bei Aristoteles jegliche ontologische Relevanz absprechen. Definiert wird ja schließlich nicht der einzelne Mensch, der nach Aristoteles’ eigener Aussage gar nicht definierbar ist, weil er Materie enthält33 , sondern der Mensch im allgemeinen. Freilich ist dadurch auch jeder einzelne Mensch bestimmt, dies jedoch nicht dadurch, daß die Definition etwas über jeden einzelnen Menschen ausonsstands in der Akademie, vgl. C.M. Gillespie: „The Aristotelian Categories“, in: Classical Quarterly 19 (1925), S. 75–84. 31 Vgl. Met. E 2, 1026b 31ff: „ὅ γὰρ ἂν ᾖ μήτ᾿ αἰεὶ μήθ᾿ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, τοῦτό φαμεν συμβεβηκὸς εἶναι.“ 32 Ernst Tugendhat: „Über den Sinn der vierfachen Unterscheidung des Seins bei Aristoteles (Metaphysik Δ 7)“, a.a.O., S. 142. 33 Vgl. Met. Ζ 15, 1039b 20 ff.
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sagte, sondern dadurch, daß alle Menschen hinsichtlich ihres gemeinsamen, unteilbaren εἶδος, über das allein hier etwas (indirekt) ausgesagt wird, identisch sind.34 Daß Tugendhat die Aussage über Einzelnes als einzige ontologisch relevante Aussage auffaßt, liegt wohl daran, daß er sich ausschließlich an der frühen und im Vergleich zur späteren Lehre des Aristoteles noch unausgegorenen Ontologie der Kategorienschrift orientiert, in der das εἶδος noch als Allgemeinbegriff aufgefaßt wurde, der vom je Einzelnen abgeleitet und ganz unselbständig ist. Freilich sagt Aristoteles auch in der Kategorienschrift nirgends, daß nur die Aussagen über Einzelnes ontologisch relevant sind, ja er hält offensichtlich auch das Allgemeine für ontologisch relevant, da er γένος und εἶδος ausdrücklich als οὐσίαι bezeichnet. Zudem modifizierte er diese Position später selbst entscheidend, worauf im folgenden ausführlich eingegangen werden soll. Dabei soll aber nicht von der These abgerückt werden, daß die Grundbedeutung des Seins bei Aristoteles als bestimmter, mit sich selbst identischer Vollzug seiner selbst durch alle Phasen seines Denkens hindurch aufrechterhalten wird. Durch ihre Fruchtbarkeit wird sich diese These im Verlauf der Untersuchung selbst rechtfertigen.
Vgl. Met. Ζ 8, 1034a 5–8.
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3. Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift Im folgenden wird keine erschöpfende Interpretation der Kategorienschrift angestrebt. Die Untersuchung ist vielmehr auf das Verständnis der Ausdrücke εἶδος und οὐσία hin ausgerichtet. Da nicht alle Teile der Kategorienschrift in dieser Hinsicht von gleicher Relevanz sind, werden folglich große Teile dieser Schrift nicht die ihnen eigentlich gebührende Beachtung finden. Wir werden die Kategorienschrift also sehr selektiv lesen. Für uns von besonderem Interesse ist dabei zunächst in erster Linie das fünfte Kapitel (2a 11 – 4b 19), das die Begriffe οὐσία und εἶδος zum Gegenstand hat, auf diesem wird daher auch der Schwerpunkt der Untersuchung liegen. Für das Verständnis nicht nur des fünften Kapitels der Kategorienschrift, sondern der gesamten Philosophie des Aristoteles sind aber auch die sog. Anteprädikamenta, d. h. die Kapitel 1–3 (1a 1 – 1b 24), von zentraler Bedeutung; sie werden daher ebenfalls eingehender betrachtet werden müssen. Vorangestellt seien einige Bemerkungen zur Frage der Echtheit und Einheit bzw. Einheitlichkeit der Schrift, die für die nachfolgende Interpretation nicht ganz bedeutungslos ist, denn vor allem ihre Echtheit muß hier, wie sich fast von selbst versteht, vorausgesetzt werden können. Da diese aber in der Vergangenheit gerade bestritten wurde, sind hier einige Bemerkungen nicht fehl am Platze.
3.1. Zur Echtheit und zum Gegenstand der Schrift Da wir also im folgenden von der Echtheit der Kategorienschrift ausgehen werden und auch müssen, wenn nicht dieser Teil der Untersuchung seinen Sinn verlieren soll, die Echtheit aber lange Zeit hindurch umstritten war, werden wir zunächst, wie bereits angekündigt, einige, wenn auch nur kurze und summarische Worte dieser Problematik widmen. Viele Jahrhunderte lang wurde die Echtheitsfrage bezüglich der Kategorienschrift selten gestellt und kaum ausführlich erörtert, erst seit dem
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3. Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift
19. Jahrhundert äußerten Gelehrte im Zuge der philologisch-kritischen Sichtung der antiken Literatur zunehmend Zweifel an der Echtheit der Schrift.1 Zu den Gelehrten, die ihr nun am entschiedensten die Echtheit absprachen, gehörte mit Werner Jaeger einer der einflußreichsten Aristoteles-Forscher des 20. Jahrhunderts, der sie als „… charakteristisch für die Periode des Naturalismus und Empirismus, die nach seinem [des Aristoteles; AG] Tode in seiner Schule anbrach …“2 , betrachtete und dies unter anderem mit der vermeintlichen „… nominalistische[n] Umkehrung der aristotelischen Lehre von der ersten und zweiten οὐσία …“3 , belegte, die er in ihr zu finden können glaubte und die „… sich nicht wegräumen oder -deuten …“4 ließe. Wenn sich auch die Mehrheitsverhältnisse im Verlauf des 20. Jahrhunderts wieder zugunsten der Echtheit verlagert haben mögen, so blieb diese Frage doch bis mindestens in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts weiterhin umstritten.5 So betonte Ende der vierziger Jahre noch einmal Suzanne Mansion, an Werner Jaeger und Eugène Dupréel6 anschließend, die Unvereinbarkeit der Substanzlehre der Kategorienschrift mit jener der Metaphysik. Dabei spitzte sie, indem sie die Entwicklung des Aristoteles im Sinne Jaegers als zunehmende Entfernung von Platon und Verschärfung der Kritik an seiner Ideenlehre auffaßte, das Problem der Echtheit auf die Frage zu, ob sich in der Entwicklung von der Ideenlehre Platons, die die unabhängige Existenz des Allgemeinen behaupte, zur Substanzlehre des Aristoteles, die diese leugne, weil das Allgemeine den Individuen immanent sei, noch Platz für die Substanzlehre der Kategorienschrift finde: „Y a-t-il place à un autre moment de cette pensée [der Immanenz der Formen; AG] et de cette critique du platonisme pour la doctrine de la substance qui est développée dans le Traité des Catégo1 Vgl. Klaus Oehler (Übers./Komm.): Aristoteles, Kategorien, Darmstadt 1984 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 1/1), S. 110 f. 2 Vgl. Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin ²1955, S. 45. 3 Ebenda, Fußnote. 4 Ebenda. 5 Vgl. Bertrand Dumoulin: „Sur l’authenticité des Catégories d’Aristote“, in: Concepts et catégories dans la pensée antique, hrsg. v. P. Aubenque, Paris 1980, S. 23– 32 und ders.: „L’ousia dans les Catégories et dans la Métaphysique“, in: Zweifelhaftes im Corpus Aristotelicum. Studien zu einigen Dubia. Akten des 9. Symposium Aristotelicum, hrsg. v. P. Moraux/J. Wiesner, Berlin/New York 1983, S. 57–72. 6 Vgl. Eugène Dupréel: „Aristote et le Traité des Catégories“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 22 (1909), S. 230–251.
3.1. Zur Echtheit und zum Gegenstand der Schrift
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ries?“7 Ihre Antwort lautete: „La comparaison des deux doctrine suggère dès l’abord une réponse négative et un examen plus poussé confirme cette impression.“8 Entgegen dieser Ansicht versuche ich zu zeigen, daß eine Entwicklung des Aristotelischen Denkens von der Substanzlehre der Kategorienschrift zur Substanzlehre des siebten Buchs der Metaphysik möglich, ja die Annahme einer solchen Entwicklung für ein adäquates Verständnis sogar notwendig ist; sollte mir dies glücken, so wäre damit zugleich auch erwähnter Einwand Suzanne Mansions und anderer gegen die Echtheit der Kategorienschrift widerlegt, der besagt, daß diese sich nicht in die Entwicklung des Aristotelischen Denkens integrieren lasse. Der Anschein einer (entwicklungsgeschichtlichen) Unvereinbarkeit der οὐσία-Lehren der Kategorienschrift und der Metaphysik scheint mir im übrigen zu großen Teilen nur darauf zu beruhen, daß der Unterschied der Bedeutung des Ausdrucks εἶδος in den beiden Werken nicht beachtet wird, wodurch der Eindruck entsteht, die Bezeichnungen πρώτη οὐσία und δευτέρα οὐσία seien in der Kategorienschrift gegenüber der Metaphysik vertauscht oder gar nicht zueinander in Beziehung zu setzten. Daß dem nicht so ist, wird hoffentlich im Verlauf der Untersuchung klarer werden. Mittlerweile hat sich das Bild jedoch gänzlich gewandelt. Heute ist die Echtheit der Kategorienschrift kaum noch Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Dies geht unter anderem auch auf den Einfluß von Michael Frede zurück, der ihre Echtheit in einem 1983 erschienenen Aufsatz durch sprachliche und inhaltliche Untersuchungen überzeugend begründet hat.9 Er verknüpfte darin auf fruchtbare Weise die Echtheitsfrage mit der Frage nach der Einheit der Schrift. So kann nunmehr m.E. auch als gesichert gelten, daß die Schrift zumindest in weiten Teilen von Anfang an eine Einheit darstellte, wenn auch der Zusammenhang und das eigentliche Thema aufgrund des fragmentarischen Zustands nicht mehr feststellbar sind. Die Kategorien zumindest, wie der aus hellenistischer Zeit stammende Titel nahelegt, waren nicht der 7 Suzanne Mansion: „La doctrine aristotélicienne de la substance et le traité des catégories“, in: Proceedings of the Tenth International Congress of Philosophy (Amsterdam, August 11–18, 1948), hrsg. v. E. W. Beth/H. J. Pos/J. H. A. Hollak, Amsterdam 1949, S. 1097–1100, S. 1100. 8 Ebenda. 9 Michael Frede: „Titel, Einheit und Echtheit der Aristotelischen Kategorienschrift“, in: Zweifelhaftes im Corpus Aristotelicum. Studien zu einigen Dubia. Akten des 9. Symposium Aristotelicum, hrsg. v. P. Moraux/J. Wiemer, Berlin/New York 1983, S. 1–29.
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3. Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift
Gegenstand der Schrift als Ganzer, wenn auch freilich vor allem die sog. Prädikamenta in einem engen Verhältnis zur Kategorieneinteilung stehen. Dabei ist jedoch zwischen zwei Kategorien-Begriffen zu unterscheiden. Der eine, den man mit Prädikation bzw. Weisen der Prädikation übersetzen kann, findet sich in der Topik und liegt auch noch der Kategorienschrift zugrunde.10 Der andere, erweiterte Begriff findet in den anderen hier untersuchten Schriften Verwendung; er begreift unter den Namen der Prädikationsweisen auch und vor allem die diesen zugrunde liegenden Individuen. Für die folgende Untersuchung ist es wichtig, dies zu beachten, da die πρώτη οὐσία nicht als Kategorie im ersten Sinne, also als Prädikation, verstanden werden kann, was von Aristoteles auch ausdrücklich betont wird.11 Daraus folgt aber nicht, daß die πρώτη οὐσία nicht in die Kategorie im erweiterten Sinne fällt. Auch die drei anderen in der Kategorienschrift besprochenen Ausdrücke (ποσόν, πρός τι und ποιότης) bezeichnen nicht ausschließlich Prädikationsweisen, da zumindest beim πρός τι und bei der ποιότης das bestimmte Einzelne zwar in einem Zugrundeliegenden ist, nicht jedoch von diesem (auf synonyme Weise) ausgesagt wird, beim ποσόν kann dies aus der Analogie gefolgert werden.12 Dennoch bezeichnen sie Kategorien im erweiterten Sinne.
3.2. Die Anteprädikamenta Das Verhältnis der ersten drei Kapitel, die traditionellerweise als Anteprädikamenta bezeichnet werden, zu den restlichen Kapiteln, insbesondere den sog. Postprädikamenta (Cat. 10, 11b 15 bis Ende) aber auch den sog. Prädikamenta (Cat. 4, 1b 25 – Cat. 9, 11b 15), ist nicht ganz klar, weshalb es „[v]on jeher … als ein Problem [gilt], wie der Zusammenhang zwischen den ersten drei Kapiteln (Anteprädikamenta) und den folgenden Kapiteln zu denken ist.“13 Doch beschränkt sich das Problem des Zusammenhangs m.E. nicht auf das Verhältnis zwischen den Anteprädi10 Vgl. Michael Frede: „Categories in Aristotle“, in: Studies in Aristotle, hrsg. v. D. J. O’Meara, Washington D. C. 1981 (Studies in Philosophy and the History of Philosophy, Bd. 9), S. 1–24. 11 Vgl. Cat. 5, 3a 36f: „ἀπὸ μὲν γὰρ τῆς πρώτης οὐσίας οὐδεμία ἐστὶ κατηγορία.“ 12 Vgl. Cat. 2, 1a 23–29; vgl. auch Cat. 8, 10a 27 – 10b 11, wo das Verhältnis von ποιότης und der dazugehörigen Kategorie/Prädikation (ποιόν) erläutert wird. 13 Vgl. Oehler, a.a.O., S. 113.
3.2. Die Anteprädikamenta
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kamenta und dem Rest der Kategorienschrift, denn auch wie die einzelnen Abschnitte innerhalb der Anteprädikamenta unter einander zusammenhängen, ist zum Teil nicht offensichtlich. So wird nicht nur der Zusammenhang des ersten Kapitels mit dem Rest der Schrift von Aristoteles nicht deutlich gemacht, sondern es gibt auch keinerlei Überleitung vom ersten zum zweiten Kapitel. Die Anfangszeilen des zweiten Kapitels (Cat. 2, 1a 16–19) wiederum scheinen außerdem eher zum vierten Kapitel zu gehören14 , so daß der Rest des zweiten zusammen mit dem dritten Kapitel, das eng mit dem zweiten Kapitel zusammengehört, wie ein Einschub wirkt, dessen Beziehung nicht nur zum vierten Kapitel und den Anfangszeilen des zweiten, sondern auch zum ersten Kapitel sowie zum
Die Zugehörigkeit der Anfangszeilen des zweiten Kapitels zum vierten Kapitel zeigt sich in der gemeinsamen Perspektive und Begrifflichkeit, die sich sowohl vom Rest des zweiten Kapitels als auch von der Kategorienschrift insgesamt klar abhebt. Im um die Anfangszeilen des zweiten erweiterten vierten Kapitel wird das, was ausgesagt wird, anhand der Unterscheidung κατὰ συμπλοκήν und ἄνευ συμπλοκῆς eingeteilt, womit hier offenbar die Unterscheidung gemeint ist zwischen einer aus verschiedenen Kategorien zusammengesetzten Aussage und einer Aussage, die etwas, was unter eine einzelne Kategorie fällt, einfach nur nennt (vgl. auch Cat. 4, 2a 4–10). Die synonyme Aussage, um die es im ersten und im zweiten Kapitel (ohne besagte Anfangszeilen) geht und die auch im fünften Kapitel eine wesentliche Rolle spielt, liegt dagegen vollkommen quer zu diesem Raster, so wie es hier verwendet wird, und ist darin als Möglichkeit zunächst gar nicht vorgesehen, denn die synonyme Aussage ist weder ein einfaches Nennen noch eine Verflechtung von verschiedenen Kategorien, sondern eine zusammengesetzte Aussage, die als ganze unter eine Kategorie fällt. Das erweiterte vierte Kapitel hebt sich also dadurch deutlich vom Rest der Kategorienschrift ab, daß hier nicht synonyme Aussagen im Zentrum stehen, sondern paronyme, während im (verkürzten) zweiten und im dritten Kapitel ausschließlich und in den nachfolgenden zumindest in erster Linie synonyme Prädikationen betrachtet werden. Daher ist im übrigen auch das Verhältnis des ersten Kapitels der Prädikamenta, also des vierten Kapitels der Kategorienschrift insgesamt, (inkl. der besagten Anfangszeilen des zweiten Kapitels der Kategorienschrift) zum Rest der Schrift aufgrund dieser andersartigen Perspektive vollkommen unklar, was als Problem allerdings bisher noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. Eine solche Würdigung wäre um so dringlicher, als gerade dieses Kapitel wohl der Haupt-, wenn nicht gar der einzige Grund dafür ist, daß die ganze Schrift wie eine Abhandlung über die Kategorien wirkt und denn auch wohl später in diesem Sinne ergänzt und benannt wurde. (Gemeint ist hier der redaktionelle Einschub zwischen dem neunten und zehnten Kapitel (Cat. 9f, 11b 10–16). Daß dieser Einschub vom vierten Kapitel abhängt, ersieht man m.E. auch daraus, daß hier wie dort die gleichen Beispiele für die Kategorien des Habens und des Ortes verwendet werden. Vgl. zur Diskussion über das Ausmaß des Einschubs: Michael Frede: „Titel, Einheit und Echtheit der Aristotelischen Kategorienschrift“, a.a.O., S. 4 f.) 14
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3. Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift
Ganzen der Schrift zudem nicht unmittelbar einsichtiger ist, als dies beim ersten Kapitel der Fall war. Trotz all dieser Unklarheiten jedoch bleiben die sog. Anteprädikamenta unverzichtbar für das Verständnis der Kategorienschrift, und zwar insbesondere auch für ein Verständnis des fünften Kapitels, um das es uns ja hier vor allem geht. Zudem sind sie auch darüber hinaus ein unverzichtbarer Baustein für das Verständnis der gesamten Aristotelischen Philosophie. Daher sollen die ersten drei Kapitel im folgenden genauer betrachtet werden.15
3.2.1 Die zwei Arten der Prädikation. Erstes Kapitel: 1a 1–15 Im ersten Kapitel unterscheidet und bestimmt Aristoteles die drei Begriffe homonym, synonym und paronym, die er wohl von Speusippos übernommen und modifiziert haben dürfte. Speusippos nämlich teilte nach dem Zeugnis des Simplicius, der sich wiederum auf einen Boethos beruft, die Namen (ὀνόματα) in Tautonyme und Heteronyme auf; die Tautonyme unterteilte er weiter in Homonyme und Synonyme, die Heteronyme in eigentliche Heteronyme (ἰδίως ἑτερώνυμα), Polyonyme und Paronyme.16 Vergleicht man beide Einteilungssysteme, so fällt auf, daß Aristoteles zwar beide Formen der Tautonyme bespricht, von den Heteronymen jedoch nur eine, und zwar die, bei der zwischen zwei Namen doch noch eine unabhängig von der Sache erkennbare Beziehung besteht.17 Dies dürfte wohl an der veränderten Perspektive des Aristoteles liegen, wie sie in seinen Definitionen dieser Begriffe zum Ausdruck kommt. Aristoteles nämlich versucht mit ihrer Hilfe eine ontologische Differenzierung vorzunehmen, während es Speusippos wohl nur um eine Art Sprachkritik ging. Sehen wir uns nun zur weiteren Klärung zunächst die Definitionen der beiden ersten Begriffe an, danach wollen wir uns dem dritten zuwenden, der ontologisch gesehen nicht minder interessant ist. 15 Das vierte Kapitel dagegen, das aufgrund der eigentümlichen Perspektive als ziemlich problematisch gelten muß, soll im Rahmen dieser Arbeit nicht gesondert und eingehender Untersuchung werden. 16 Vgl. Fragment 68a in: Leonardo Tarán: Speusippos of Athens. A Critical Study with a Collection of the related Texts and Commentary, Leiden 1981, S. 163 (= Simplicius, In Arist. Cat. 38, 19–24). 17 Boethos warf Aristoteles daher vor, die Polyonyme übergangen zu haben, woraufhin Porphyrius ihn in Schutz nahm, indem er erklärte, diese habe er anderswo behandelt (vgl. Fragment 68c in: Tarán, a.a.O., S. 164).
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3.2.1.1 Homonymität und Synonymität Die ersten beiden Begriffe sind die der Homonymität und Synonymität. Sie werden von Aristoteles folgendermaßen definiert: Ὁμώνυμα λέγεται ὧν ὄνομα μόνον κοινόν, ὁ δὲ κατὰ τοὔνομα λόγος τῆς οὐσίας ἕτερος …18 Homonym wird das genannt, wovon zwar der Name gemeinsam ist, der dem Namen entsprechende λόγος der Seiendheit aber verschieden. συνώνυμα δὲ λέγεται ὧν τό τε ὄνομα κοινὸν καὶ ὁ κατὰ τοὔνομα λογος τῆς οὐσίας ὁ αὐτός …19 Synonym wird das genannt, wovon der Name gemeinsam und zugleich der dem Namen entsprechenden λόγος der Seiendheit derselbe ist.
Da diese Ausdrücke auch heute noch geläufig sind und dazu benutzt werden, um bestimmte Eigenschaften von Worten zu bezeichnen, ja der Ausdruck „synonym“ mittlerweile sogar in unsere Alltagssprache eingedrungen ist, mag es zunächst angebracht sein, hier mit J.L. Ackrill darauf Aufmerksam zu machen, daß diese Ausdrücke – wie im übrigen auch der doch etwas anders geartete Ausdruck „paronym“, dem wir uns weiter unten zuwenden – nicht Eigenschaften von bloßen Worten benennen: „The terms ‘homonymous’ and ‘synonymous’, as defined by Aristotle in this chapter, apply not to words but to things.“20 Unter „Ding“ (thing) versteht Ackrill dabei „… a blanket-term for items in any category.“21 Homonym oder synonym ist nach Aristoteles also das Seiende und nicht das Wort, das das Seiende benennt. So ist nicht der Ausdruck „Schloß“ homonym, sondern homonym sind das Türschloß und das Königsschloß oder der tote Körper und der lebendige Körper. Auch wenn dies noch der Erläuterung bedarf, ist es für die weitere Untersuchung wichtig, sich darüber stets im Klaren zu sein, daß der Aristotelische Gebrauch dieser Ausdrücke, vor allem des zweiten, entscheidend von dem heutigen abweicht. Doch wie ist er denn nun zu verstehen? Sehen wir uns die Aristotelischen Begriffsbestimmungen genauer an. Zunächst fällt die Wendung ὁ κατὰ τοὔνομα λόγος τῆς οὐσίας auf, die ich oben mit „der dem Namen entsprechende λόγος der Seiendheit“ wie Cat. 1, 1a 1 f. Cat. 1, 1a 6 f. 20 J.L. Ackrill (Übers./Komm.): Aristotle’s Categories and De Interpretatione, Oxford 1963, S. 71. 21 Ebenda. 18 19
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dergegeben habe. Die hier vorliegende Verwendung des Ausdrucks οὐσία darf nicht mit dem engeren Begriff der οὐσία als einer der Kategorien verwechselt werden, wie er weiter unten erörtert wird, wenn sie auch davon nicht unabhängig ist. Der Ausdruck οὐσία (Seiendheit) wird hier im weiteren, eher Platonischen Sinne verwendet und bedeutet das, was etwas zu genau diesem etwas macht, das es ist, also der Grund des genau dies und nichts anderes Seins; eine Seiendheit im hier relevanten Sinn hat somit auch z. B. eine Qualität, nämlich insofern sich auf sie die τί εστι-Frage anwenden läßt. Die Antwort auf diese Frage ist dann eben der λόγος τῆς οὐσίας. Gemeint ist also hier der λόγος, der das ὂν καθ᾿ αὑτό22 expliziert, d. h. von einem Seienden das Sein aussagt, das es aufgrund seiner selbst ist, was platonisch gesprochen in einer διαίρεσις bzw. (in der Terminologie des Aristoteles) einem ὁρισμός geschieht. Der Ausdruck ὁ κατὰ τοὔνομα λόγος τῆς οὐσίας bezeichnet also den dem Namen entsprechenden ὁρισμός, also die Bedeutung des Worts, die in der (Real-)Definition der bedeuteten Sache besteht. Synonym sind zwei Seiende somit dann, wenn sie Namen und Definition in einer gewissen Hinsicht gemeinsam haben, wie Rind und Mensch hinsichtlich der Bezeichnung Lebewesen, da es sich in beiden Fällen um Lebewesen im Sinne von beseelten Körpern handelt; synonym ist Seiendes also dann, wenn es hinsichtlich einer gemeinsamen Gattung (γένος) oder eines gemeinsamen Unterschieds (διαφορά) ausgesagt wird, d. h. der hier relevante Name, hinsichtlich dessen es synonym ist, bezeichnet seine Gattung oder seinen Unterschied und ist damit Teil seiner Definition. Natürlich wird auch die Definition selbst von allem, was unter sie fällt, synonym ausgesagt. Synonyme Seiende sind also zum Teil, nämlich hinsichtlich der Definition und ihrer Teile, die die spezifische Weise des Seins der betreffenden Seienden angeben, identisch. Homonym wird Seiendes dagegen dann genannt, wenn nur die Bezeichnung gemeinsam ist, nicht aber die der Bezeichnung jeweils entsprechende Definition bzw. deren Teile. Homonyme „Dinge“ haben also im Gegensatz zu synonymen letztendlich in der Hinsicht, in der sie homonym sind, entgegen dem Anschein nichts unmittelbar miteinander zu tun, obwohl es nach der Benennung so aussehen könnte, als seien sie identisch, wie z. B. das Blatt, das am Baum hängt, und das Blatt, das im Herbst vom Baum auf den Boden gefallen ist.
Zum ὂν καθ᾿ αὑτό vgl. weiter oben, S. 18 ff.
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Bei der Unterscheidung von Homonymität und Synonymität verfolgt Aristoteles also das Ziel, eine ontologisch bedeutsame Anwendung desselben Worts auf verschiedene „Dinge“ von einer ontologisch bedeutungslosen zu unterscheiden. Der Punkt, auf den er hinaus will, ist also offensichtlich der, daß zwar nicht immer, wenn dasselbe Wort von Verschiedenem ausgesagt werden kann, dies eine ontologische Bedeutung hat, aber auch nicht immer bedeutungslos ist, sondern in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen eine wirkliche Gemeinsamkeit in der Sache vorliegt. Die Einteilung des Speusippos dagegen sei, so Leonardo Tarán, der Herausgeber der Fragmente des Speusippos, „… essentially different from Aristotle’s definition in Cat. 1 A 1–2, since it classifies words, not things.“23 Diese Behauptung muß allerdings bei genauerem Hinsehen etwas eingeschränkt werden, schließlich lassen sich bloße Worte, d. h. stimmliche Verlautbarungen, nicht auf die Weise einteilen, wie dies Speusippos tut, denn eine Benennung wie z. B. „gleichnamig“ ist überhaupt nur möglich, wenn etwas da ist, was zwar den gleichen Namen hat, sich aber dennoch unterscheidet, eben weil es nicht das gleiche „Ding“ ist, die Namen bzw. Worte nämlich, nur für sich betrachtet, sind schlicht identisch. Die oben zitierte Aussage weist allerdings insofern in eine richtige Richtung, als für Speusippos im Vergleich zu Aristoteles die Namen offenbar von viel höherer philosophischer Bedeutung waren. Nur so läßt sich erklären, warum er das ganze Feld der möglichen Beziehungen zwischen Namen und Dingen, was auch immer er darunter verstanden haben mag, durchmessen und systematisch ordnen wollte. Dieses Vorhaben muß wohl eng mit seinem ontologischen Konzept, welches das auch immer gewesen sein mag, verknüpft gewesen sein. Für Aristoteles dagegen bestand zu einer solchen vollständigen Durchmusterung offenbar keine Motivation, ihm kam es vielmehr allem Anschein nach einerseits darauf an, die Fälle, in denen ein identisches Wort verschiedene Sachen bezeichnet, zu unterscheiden, um die ontologisch bedeutsamen, in denen wirklich etwas Identisches bezeichnet wird, und die ontologisch bedeutungslosen auseinander zu halten und zugleich die Existenz beider Möglichkeiten zu konstatieren. Die Absicht des Aristoteles bei der Unterscheidung von Synonymität und Homonymität scheint daher zunächst darin bestanden zu haben, 23 Tarán, a.a.O., S. 412; vgl. auch Tarán, a.a.O., S. 406ff, wo eine Rekonstruktion der Speusippischen Definitionen dieser Ausdrücke versucht wird.
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folgendes deutlich zu machen: Wenn zwei Dinge mit demselben Wort bezeichnet werden, kann dies sehr wohl etwas über die Dinge selbst aussagen, aber dies muß durchaus nicht immer der Fall sein; auseinanderhalten lassen sich aber beide Fälle durch ein eindeutiges Kriterium, nämlich anhand der Definition der durch die Worte bezeichneten Dinge. Die Entgegensetzung von Homonymität und Synonymität trat aber wohl schon bald zugunsten derjenigen von Synonymität und Paronymität in den Hintergrund, da allein diese ontologisch bedeutsam ist, insofern sie die Struktur des Seienden selbst aufzeigt.
3.2.1.2 Paronymität Bei dem Ausdruck „paronym“ tritt der ontologische Aspekt von Anfang an viel deutlicher in den Vordergrund, wenngleich auch die Ausführungen zu diesem Ausdruck wohl ursprünglich dem Bemühen entspringen, die Frage zu untersuchen, ob und wann von der Identität zweier Worte auf die Identität der durch sie bezeichneten Dinge geschlossen werden kann. Dennoch unterscheidet sich dieser dritte Begriff, der für die nachfolgende Untersuchung ebenfalls von wichtiger Bedeutung sein wird, von den anderen beiden in mehrfacher Hinsicht. Sehen wir uns zunächst seine Definition an. Sie lautet folgendermaßen: παρώνυμα δὲ λέγεται ὅσα ἀπό τινος διαφέροντα τῇ πτώσει τὴν κατὰ τοὔνομα προσηγορίαν ἔχει …24 Paronym wird all das genannt, was sich von etwas hinsichtlich des Falles unterscheidet und daher eine dem Namen entsprechende Benennung hat.
Sogleich fällt auf, daß der Ausdruck ὁ κατὰ τοὔνομα λόγος τῆς οὐσίας bei dieser Begriffsbestimmung keine Verwendung findet, sondern nur das Verhältnis der Bezeichnungen zueinander betrachtet wird. Außerdem ist das Verhältnis zwischen beiden hier betrachteten Relata im Gegensatz zu den vorherigen nicht symmetrisch: etwas, das als paronym bezeichnet wird, ist von etwas anderem abgeleitet, das selbst nicht paronym genannt wird. Es stellt sich also die Frage, wodurch dies begründet ist und welchem Zweck die Definition dieses Ausdrucks dient. Auch stellt sich darüber hinaus noch die Frage, ob hier ebenfalls von „Dingen“ oder aber nur von Wörtern die Rede ist. Diese Fragen lassen sich nur dadurch klä Cat. 1, 1a 12 f.
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ren, daß wir sowohl auf die Analyse des Begriffs des Seienden in Buch Δ zurück als auch zugleich dieser ganzen Untersuchung etwas voraus greifen. Die folgende Klärung wird also nur vorläufigen Charakter haben und im folgenden erst ihr Fundament erhalten. Wie wir sahen, meint der Ausdruck ὁ κατὰ τοὔνομα λόγος τῆς οὐσίας die Realdefinition. Sind die Realdefinitionen eines auf mehrere verschiedene Dinge beziehbaren Namens in allen relevanten Fällen gleich, bezeichnet der Name ein γένος und ist damit samt seiner Realdefinition Teil der (Real-)Definitionen der jeweiligen nicht weiter rational untergliederbaren εἴδη der Dinge. Synonym Ausgesagtes ist also immer etwas, was aufgrund seiner selbst das ist, als was es ausgesagt wird, also ein ὂν καθ᾿ αὑτό. Wird ein Seiendes aber hinsichtlich dessen ausgesagt, was es nicht aufgrund seiner selbst ist, also als ὂν κατὰ συμβεβηκός, dann ist das Sein, das von ihm ausgesagt wird, nicht Teil seiner Definition. Der Ausdruck, der ein solches Sein bezeichnet, z. B. „Wissender“, kann daher auch nicht als Name für ein „Ding“ aufgefaßt werden, sondern bezeichnet die Gegenwart von etwas, z. B. dem Wissen, in etwas anderem, z. B. der Seele.25 Das bedeutet zugleich aber auch, daß der ein derartiges Sein bezeichnende Ausdruck als solches nicht definiert werden kann, weil hier eben gar nichts unmittelbar, sondern nur vermittelt bezeichnet wird.26 Erst wenn wir in unserem Beispiel beim Wissen oder bei der Seele angekommen sind, die beide durch diesen Ausdruck in eine bestimmte Beziehung zueinander gesetzt werden, können wir uns daran machen zu definieren. Ein Wort oder ein Ding aber, das sich wie „Wissender“ zu „Wissen“ verhält, bezeichnet Aristoteles als paronym.27 Daß also der Verweis auf den λόγος der Seiendheit fehlt, hat seinen Grund darin, daß etwas paronym Bezeichnetes nicht in derselben Hinsicht, in der es so bezeichnet wird, definiert werden kann, denn es enthält nicht in sich selbst den Grund dafür, daß es das ist, als was es ausgesagt wird, sondern wird nur κατὰ συμβεβηκός – also hinsichtlich dessen, was sich dadurch ergeben hat, daß etwas anderes mithinzugekommen ist Auf den Ausdruck „in etwas sein“ wird im Abschnitt 3.2.2 eingegangen. Eine Folge davon ist, daß ein Wissender zu einem Unwissenden werden kann, nämlich dann, wenn er vergißt, d. h. wenn das Wissen nicht mehr in seiner Seele ist. Was sich jedoch verändern kann, kann in der Hinsicht, in der es sich verändern kann, nicht definiert werden, denn eine Definition muß immer wahr sein. Das Wissen selbst z. B. ist immer Wissen und kann unmöglich zu Unwissen werden, ebenso wie das εἶδος des Menschen nicht zu dem eines Pferdes werden kann. 27 Vgl. Cat. 1, 1a 14 f. 25 26
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– danach benannt. Daraus ergibt sich auch der asymmetrische Charakter der obigen Begriffserklärung, denn Paronymes ist nicht von derselben ontologischen Dignität wie das, wonach es paronym benannt ist, sondern wesentlich von diesem abgeleitet: nicht das Wissen ist nach dem Wissenden benannt, sondern umgekehrt der Wissende nach dem Wissen. Ob es sich hierbei primär um die Beziehungen zwischen Wörtern oder zwischen „Dingen“ handelt, läßt sich nicht so leicht beantworten, da beide Aspekte hier auf besondere Weise verflochten sind und im Grunde genommen die Frage hier an der Sache vorbei geht. Obwohl nämlich der Ausdruck „Wissender“ unmittelbar nicht viel mehr als ein Wort ist, das die Gegenwart von etwas in einem Seienden dadurch bezeichnet, daß es von diesem Seienden ausgesagt wird, ist es doch kein leeres Wort, sondern bezeichnet vermittelt über ein Anderes und dessen Gegenwart in dem Seienden, dieses Seiende selbst. Das paronym Ausgesagte ist also zwar ein „Ding“, nämlich z. B. ein Mensch, wird aber nicht als dieses „Ding“, das es ist, angesprochen, sondern durch eine Benennung, die ihn als Träger einer bestimmten, in ihm seienden Beschaffenheit28 kennzeichnet, wobei die Benennung vom Namen der Beschaffenheit grammatikalisch abgeleitet ist, d. h. durch Modifizierung des Wortstamms. Von daher kann man auch, wie Ackrill, sagen: „‘Generosity’ and ‘generous’ introduce the very same thing, generosity, though in different ways, ‘generosity’ simply naming it and ‘generous’ serving to predicate it.“29 Das Paronyme ist also etwas, das nach etwas anderem benannt und dadurch dieses andere von ihm auf eine nicht-identifizierende Weise ausgesagt wird. Es wird stets auf eines hin ausgesagt, wobei derselbe zur paronymen Aussage verwendete Ausdruck auf verschiedene Weise auf dieses Eine verweisen kann (πρὸς ἕν λεγόμενον).30 Wenn ich also sage: Beschaffenheit wird hier im weitesten Sinne verstanden und umfaßt auch Größe, Relation usw. 29 Ackrill, a.a.O., S. 73. 30 Vgl. z. B. Met. Γ 2, 1003a 33ff, wo das πρὸς ἕν λεγόμενον dem homonym Ausgesagten entgegengesetzt wird. Das auf eines hin Ausgesagte, so erklärt er dort, wird zwar wie auch das Homonyme auf vielfache Weise ausgesagt, jedoch so, daß es auf eines hingeordnet ist, indem es auf dieses verweist. Aristoteles verdeutlicht dies im Buch Γ am Beispiel der Gesundheit und der Medizin. Alles was gesund genannt wird, steht in irgendeiner Beziehung zur Gesundheit, indem es sie z. B. hervorbringt (der gesunde Tee), sie anzeigt (die gesunde Gesichtsfarbe) oder sie besitzt (der gesunde Mensch); das gleiche gilt für die Medizin und das Medizinische. Alle diese Aussagen sind zugleich paronym, ohne daß dieser Ausdruck hier verwendet würde. 28
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„Dieser bestimmte Mensch weiß (etwas)“ – was nach Aristoteles identisch ist mit: „Dieser bestimmte Mensch ist ein Wissender“, oder: „Dieser bestimmte Mensch ist wissend“ – so sage ich das Wissen auf eine nicht-identifizierende Weise von diesem bestimmten Menschen aus.
3.2.1.3 Zusammenfassung Aristoteles geht es also auch im Falle der Paronymität, wie bereits bei der Homonymität und der Synonymität, um die Frage, ob und inwieweit von einer Beziehung zwischen Worten auf eine Beziehung zwischen den durch sie bezeichneten „Dingen“ geschlossen werden kann. Er beantwortet diese Frage, durch Unterscheidung dreier Fälle: Homonymität, Synonymität und Paronymität. Diese Fälle lassen sich verschieden Gliedern. 1. Art der Beziehung zwischen den Namen Bei Homonymität und Synonymität ist der Name identisch, bei der Paronymität nur ähnlich. 2. Art der Beziehung zwischen den Dingen Bei Homonymität besteht keine Beziehung zwischen den bezeichneten Dingen, bei Synonymität und Paronymität dagegen besteht eine Beziehung, und zwar bei der Synonymität eine der Identität, bei der Paronymität eine der Inhärenz. 3. Art der Beziehung zwischen Name und Ding Bei Homonymität und Synonymität wird der Name von dem Ding auf identifizierende Weise ausgesagt, bei Paronymität auf nicht-identifizierende Weise. Bei Homonymität ist also der Schluß von der Beziehung zwischen den Namen, welche in diesem Fall die Beziehung der Identität ist, auf eine Beziehung zwischen den Dingen unzulässig. Zulässig ist dieser Schluß dagegen bei Synonymität, und zwar darf hier von der Identität der Namen auf die Identität der Dinge hinsichtlich ihrer Gattung geschlossen werden. Auch bei vorliegender Paronymität ist ein Schluß von der vorliegenden Ähnlichkeit der Namen auf eine Beziehung zwischen den Dingen zulässig, allerdings ist diese nicht wiederum eine der Ähnlichkeit, sondern eine der Inhärenz und damit keine Beziehung zwischen den Dingen hinsichtlich ihrer selbst, sondern lediglich hinsichtlich dessen, was sich zufällig ergeben hat und sich daher auch ändern kann.
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Da die Ausdrücke καθ᾿ αὑτό einerseits und κατὰ συμβεβηκός und (nicht-kategoriales) πρὸς ἕν andererseits31 in der Kategorienschrift noch nicht verwendet werden, zugleich aber sich synonym und paronym Ausgesagtes unter diese Unterscheidung subsumieren läßt oder zumindest damit in engstem Zusammenhang steht, scheint mir die Vermutung nicht ganz abwegig, daß es sich bei letzteren (über den Eigenwert, den sie aufweisen, hinaus) in erster Linie um terminologische Vorstufen zu ersteren handelt. Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß sie im späteren Werk des Aristoteles nur noch sehr sporadisch vorkommen, während sie in der Kategorienschrift, von einigen bereits vorgenommenen Relativierungen abgesehen, noch eine wichtige Rolle spielen. Der Grund dafür ist wiederum darin zu suchen, daß eine Betrachtung der rein lexikalisch-grammatikalischen Ebene zur Zeit der Abfassung der Kategorienschrift, vielleicht unter dem Einfluß des Speusippos, noch eine wesentlich größere Rolle spielte und von der ontologischen Betrachtung noch nicht mit derselben Konsequenz getrennt wurde wie späterhin, obwohl sich, wie gesagt, bereits erste Ansätze zur Überwindung dieser Position zeigen. Aristoteles weist nämlich ausdrücklich darauf hin, daß paronym Ausgesagtes zwar die häufigste Art nicht-identifizierender Aussagen darstellt, aber nicht die einzige.32 Andere Möglichkeiten, etwas auf eine solche Art auszusagen, bestehen darin, entweder einen eigenständigen Ausdruck zu verwenden oder den gleichen; ersteres liegt unter anderem vor, wenn die Beschaffenheit, die ausgesagt werden soll, keinen Namen hat, den zweiten Fall trifft man z. B. bei dem Weißen an, das nach dem Weißen selbst, nämlich der weißen Farbe, benannt ist.33 Das synonym Ausgesagte dagegen steht, wie bereits erwähnt, in engem Zusammenhang mit εἶδος, γένος und διαφορά, denn diese werden nach Aristoteles auf synonyme Weise ausgesagt.34 Wenn wir uns nun des weiteren daran erinnern, daß das synonym Ausgesagte nicht Wörter, sondern „Dinge“ oder Individuen sind, dann wird klar, daß das Konzept 31 Die Ausdrücke κατὰ συμβεβηκός und πρὸς ἕν benennen jeweils verschiedene Aspekte desselben Phänomens, nämlich der nicht-identifizierenden Aussagen. Das πρὸς ἕν hier ist von der Kategorie πρός τι zu unterscheiden. 32 Vgl. vor allem Cat. 8, 10a 27 – 10b 11 aber auch Cat. 5, 2a 27–34. 33 Es handelt sich hierbei nicht um Homonymität, weil diese die Definierbarkeit voraussetzt, das Weiße (z. B. ein weißes Haus) aber nicht als solches definiert werden kann. 34 Vgl. Cat. 5, 3b 7–9: „συνώνυμα δέ γε ἦν ὧν καὶ τοὔνομα κοινὸν καὶ ὁ λόγος ὁ αὐτός. ὥστε πάντα τὰ ἀπὸ τῶν οὐσιῶν καὶ τῶν διαφορῶν συνωνύμως λέγεται.“ Unter οὐσία wird hier offensichtlich nur die zweite verstanden.
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der Synonymität ontologischer Natur ist. Aristoteles vertritt offenbar die Ansicht, daß sich auch allgemeine Ausdrücke wie Mensch, Lebewesen und Zweibeiniges auf Individuen beziehen, aber so, daß sie gerade von der Vielheit der Individuen absehen, abstrahieren. Εἶδος, γένος und διαφορά stellen also jeweils eine eigentümlich Einheit einer Vielheit von Individuen dar, eben eine synonyme Einheit, die der Einheit des πρὸς ἕν λεγόμενον entgegengesetzt werden kann.
3.2.2 Die vier Klassen des Seienden. Zweites und drittes Kapitel: 1a 20 – 1b 24 Wenden wir uns also dem zweiten Kapitel zu. Das erste Wort des betreffenden Abschnitts35 (Τῶν ὄντων36) gibt an, wovon im folgenden gehandelt werden soll, nämlich vom Seienden, also dem, was ist. Wie erläutert, ist für Aristoteles das Seiende stets ein bestimmtes und d. h. ein Etwas-Seiendes. Dieses wird hinsichtlich seines Verhältnisses zu einem ihm Zugrundeliegenden (ὑποκείμενον) in verschiedene Arten unterschieden. Dabei betrachtet Aristoteles einerseits die Relation „X wird von einem Zugrundeliegenden ausgesagt“ (καθ᾿ ὑποκειμένου λέγεται), andererseits die Relation „X ist in einem Zugrundeliegenden“ (ἐν ὑποκειμένῳ εστίν). In diesen beiden Relationen spiegelt sich die im vorhergehenden Kapitel getroffene Unterscheidung von Synonymität und Paronymität: synonym Ausgesagtes wird von etwas ausgesagt, paronym Ausgesagtes ist in etwas. Da diese beiden Kriterien, wenn man ihre jeweilige Negation miteinschließt, auf vier verschiedene Weisen kombinierbar sind, lassen sich so vier Arten von Seiendem unterscheiden, die wir im folgenden genauer betrachten werden. Doch bevor wir uns mit dieser Differenzierung des Seienden befassen, sei noch auf ein wichtiges Detail hingewiesen: Um Verwirrung zu vermeiden, muß nämlich im folgenden unbedingt der Umstand beachtet werden, daß im zweiten Kapitel und dem darauffolgenden dritten Kapitel, mit Ausnahme der erwähnten ersten beiden Sätze des zweiten Kapitels, mit „aussagen“ (λέγεσθαι) immer das identifizierende Aussagen ge35 Von den ersten beiden Sätzen dieses Kapitels (1a 16–19) wird im folgenden abgesehen, da sie, wie bereits erwähnt, eher dem vierten Kapitel zuzurechnen sind und nichts mit dem Rest des zweiten Kapitels zu tun haben. Über den Grund, warum sie an dieser Stelle stehen, könnten nur Mutmaßungen angestellt werden, die ich hier unterlasse. 36 Cat. 2, 1a 20.
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meint ist; paronyme Aussagen werden dagegen im zweiten und dritten Kapitel gänzlich ausgeblendet, anders als das paronym Ausgesagte selbst, das ja gerade als In-etwas-Seiendes thematisiert wird. Das hat seinen Grund offenbar darin, daß Aristoteles sich hier ausschließlich für die verschiedenen Arten des Seienden selbst und ihre Beziehungen untereinander interessiert. Da das Seiende selbst aber und seine genetische Struktur nur durch identifizierende Aussagen expliziert und offenbar gemacht wird, ist hier nur diese Art von Aussage von Belang. Nicht-identifizierende Aussagen dagegen sagen unmittelbar nichts über das Seiende hinsichtlich seiner selbst aus, sondern nur, daß etwas in einem anderen ist. Diese stillschweigende Einschränkung des Begriffs der Aussage auf identifizierende Aussagen ist eines der deutlichsten Unterschiede, durch die sich die erwähnten Abschnitte vom vierten Kapitel (einschließlich der zwei erwähnten Sätze aus dem zweiten Kapitel) unterscheiden, wo λέγεσθαι in weiterem Sinne verwendet wird, also auch und offenbar sogar in erster Linie paronym Ausgesagtes umfaßt. Im Text selbst wird dieser Wechsel nicht kenntlich gemacht.37 Wenn im folgenden also von „aussagen“ die Rede ist, so ist immer ein Offenbarmachen des Seins eines Seienden gemeint, das diesem Seienden hinsichtlich seiner selbst und damit auch aufgrund seiner selbst zukommt (καθ᾿ αὑτό), denn nur dieses wird von allem, was unter dieses Sein subsumierbar ist, synonym ausgesagt. Das synonym Ausgesagte ist, wie erwähnt, in erster Linie das γένος, in zweiter Linie aber auch die dieses von anderen γένη abgrenzenden Unterschiede (διαφοραί), und schließlich noch die aus Gattung und Unterschied bestehende Definition (ὁρισμός). Da jedes solches als Gattung aussagbares Sein durch Angabe dieser Unterschiede und einer höheren Gattung definierbar ist, stellt es auch selbst ein Seiendes dar, von dem in einer Definition ein Sein ausgesagt werden kann, allerdings kein bestimmtes Das-und-das (τόδε τι), sondern ein allgemeines Seiendes, denn eine solche Definition definiert, d. h. bestimmt, nicht vollständig, sondern läßt mögliche weitere Unterscheidungen offen. Auch der letzte Unterschied des im Verfahren der Definition (διαίρεσις bzw. ὁρισμός) bestimmten εἶδος sowie dieser εἶδος selbst werden in der Kategorienschrift 37 Dies könnte ein Indiz dafür sein, daß die Kategorienschrift ursprünglich keine Einheit war, sondern erst von einem Redakteur aus verschiedenen Fragmenten zusammengefügt wurde. Man könnte aber auch vermuten, daß zwischen den einzelnen Kapiteln Teile ausgefallen sind. Genauso gut wäre es jedoch auch denkbar, daß Aristoteles diesen Übergang aus irgendeinem Grund für nicht erwähnenswert hielt, z. B. weil er sich seiner Meinung nach von selbst versteht.
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noch zum synonym Ausgesagten gezählt, eine Einschätzung, von der Aristoteles später jedoch Abstand nimmt, wie in Abschnitt 4 noch zu zeigen sein wird.
3.2.2.1 Die Klasse der Gattungen und Formen Im folgenden wollen wir nun die vier grundlegenden Klassen des Seienden ausgehend von den ziemlich knappen Angaben dazu in der Kategorienschrift etwas genauer aufzuklären versuchen. Daß es sich dabei um verschiedene Klassen des Seienden handelt, diese Ausführungen also einen ontologischen Sinn haben, ersieht man daraus, daß sich Aristoteles stets auf jenes bereits erwähnte τῶν ὄντων zu Beginn des Abschnitts Cat. 2, 1a 20 – 1b 24 bezieht, also aus dem Bereich des gesamten Seienden jeweils eine bestimmte Teilmenge herausgreift. Die erste Klasse des Seienden, die er aus dem Bereich des gesamten Seienden herausgreift, diskutiert Aristoteles im Abschnitt Cat. 2, 1 a 20–22 und bestimmt sie so: Τῶν ὄντων τὰ μὲν καθ᾿ ὑποκειμένου τινὸς λέγεται, ἐν ὑποκειμένῳ δὲ οὐδενί ἐστιν …38 Von dem Seienden wird das eine von einem Zugrundeliegenden ausgesagt, ist aber nicht in einem Zugrundeliegenden.
Als Beispiel dient ihm hier das Prädikat Mensch, das nach Aristoteles zwar von einem bestimmten Menschen ausgesagt wird, aber in keinem ihm Zugrundeliegenden ist. Nun stellt Mensch zwar hier ein Prädikat dar, aber doch nicht ein bloßes prädiziertes Wort, sondern etwas, das ist, wie sich aus dem zuvor Gesagten ergibt; der Mensch (im allgemeinen) nämlich ist ein vernünftiges Lebewesen (einmal angenommen, darin bestehe seine Definition), d. h. darin, ein vernünftiges Lebewesen zu sein und sich als solches zu betätigen, besteht der Vollzug seiner selbst als eines Menschen. Mensch aber kann nicht nur einer Definition zugrunde liegen, sondern selbst von einem Zugrundeliegenden, nämlich den bestimmten einzelnen Menschen, ausgesagt werden, d. h. alle Menschen sind als solche synonym hinsichtlich des Namens „Mensch“, oder anders gewendet: der Name „Mensch“ wird auf synonyme Weise über vieles, nämlich die einzelnen Menschen, ausgesagt. Nach dem weiter oben Gesagten bedeutet das aber zugleich, daß nicht nur der Name, sondern auch Cat. 2, 1a 20 f.
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die Definition (λόγος) von dem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, die Definition aber gibt die Vollzugsweise des Mensch-Seins an; das MenschSein des Menschen im allgemeinen ist also nicht verschieden vom Mensch-Sein des je einzelnen Menschen, sondern mit diesem vollkommen identisch. Ebenso ist z. B. das Lebewesen-Sein die Vollzugsweise der je einzelnen Lebewesen und mit diesen insofern vollkommen identisch, insofern sie eben Lebewesen sind und man von ihren jeweiligen Unterschieden (διαφοραί), die sie zu bestimmten Lebewesen machen, absieht (diese Definitionen sind daher auch, wie bereits erwähnt, notwendig unvollständig, also auch keine Definitionen im eigentlichen Sinne).39 Das In-einem-Zugrundeliegenden-Sein dagegen, auf das weiter unten noch genauer eingegangen wird, schließt Identität mit dem, worin es ist, aus. Dadurch, daß das Prädikat „Mensch“ von einem einzelnen Menschen oder das Prädikat „Lebewesen“ von einem einzelnen Lebewesen ausgesagt wird, wird also diesen nicht eine Eigenschaft zugeschrieben, die man von ihnen irgendwie isolieren könnte und deren Träger sie dadurch wären, daß diese Eigenschaften sich irgendwie in oder an ihnen befänden, sondern, so könnte man sagen, es wird durch diese Prädikation ein wesentlicher Zug der spezifischen, es selbst erst konstituierenden Einheit des jeweiligen Seienden offenbar gemacht, den es mit anderen Seienden teilt. Zwischen dem Seienden, das ausgesagt wird, und dem Seienden, von dem es ausgesagt wird, besteht so ein Verhältnis der Identität. Doch kann man im Falle einer solchen, streng verstandenen Identität, überhaupt von Verhältnis sprechen? Denn eine Relation scheint ja irgendwie zwei unterscheidbare Relata und damit Nicht-Identität vorauszusetzen, insofern Mensch aber von einem einzelnen Menschen ausgesagt wird, wird gerade die Identität behauptet. Hinsichtlich dieser Frage genüge vorerst der Hinweis, daß Mensch im allgemeinen und einzelner Mensch zwar hinsichtlich des Menschseins identisch sind, daß diese Identität aber nicht auch in jeder Hinsicht gilt, denn der einzelne Mensch läßt noch andere Hinsichten zu, im Hinblick auf die er durch eine Aussage nicht als durch einen λόγος faßbare Einheit und Seiendheit bestimmt wird, sondern als Träger von Eigenschaften, dessen Einheit und Seiendheit bereits vorausgesetzt werden muß. Eine solche Aussage ist dann nicht mehr synonym, sondern paronym. Insofern der einzelne Mensch 39 Vgl. Cat. 3, 1b 10–15, insbesondere 1 b 15: „ὁ γὰρ τὶς ἄνθρωπος καὶ ἄνθρωπός ἐστι καὶ ζῷον.“
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also noch andere Hinsichten zuläßt, ist er also mit dem Menschen im allgemeinen nicht identisch, insofern von diesen anderen Hinsichten abgesehen wird dagegen, ist er mit dem Menschen im allgemeinen identisch.
3.2.2.2 Die Klasse der individuellen Eigenschaften Auf die zweite Klasse des Seienden geht Aristoteles im Abschnitt Cat. 2, 1 a 23–29 ein. Er bestimmt es folgendermaßen, wobei hier, wie erwähnt, das τῶν ὄντων hinzu gedacht werden muß: τὰ δὲ ἐν ὑποκεινένῳ μέν ἐστι, καθ᾿ ὑποκεινένου δὲ οὐδενὸς λέγεται …40 Das andere ist zwar in einem Zugrundeliegenden, wird aber von keinem Zugrundeliegenden ausgesagt.
Als Beispiele zur Verdeutlichung des Gesagten dienen ihm das bestimmte Grammatikwissen (ἡ τὶς γραμματική) und das bestimmte Weiß (τὸ τὶ λευκόν). Das τίς/τί, das meist mit „bestimmter“ oder „gewisser“ übersetzt wird, soll dabei zum Ausdruck bringen, daß es sich hier jeweils um etwas handelt, das unteilbar (ἄτομον) und der Anzahl nach eines (ἓν ἀριθμῷ) ist.41 Man spricht daher hier auch von der Klasse der individuellen Eigenschaften, wobei „individuell“ zunächst einfach von der lateinischen Übersetzung des Ausdrucks „ἄτομον“ abgeleitet ist und also zunächst nur „unteilbar“ bedeutet. Aber ist das nicht ein Widerspruch? Kann eine Eigenschaft nicht immer Vielem zukommen, und ist sie daher nicht immer allgemein, also auf vieles aufteilbar und damit teilbar? Wenn dem aber nicht so sein sollte, wie könnte dann der Ausdruck „individuelle Eigenschaften“ verstanden werden? Über diese Fragen kam es zu einer größeren Auseinandersetzung, die wohl immer noch nicht als beigelegt angesehen werden kann.42 Es werden dabei zwei Interpretationsalternativen diskutiert, die sich im Verständnis der hier gemeinten und durch das τίς bzw. τί ausgedrückten Individualität unterscheiden. Die eine Seite vertritt die Ansicht, daß Individualität hier im selben Sinne gemeint sei wie im Falle eines bestimmten Menschen, auf den ja Cat. 2, 1a 23 f. Vgl. Cat. 2, 1b 6–9. 42 Eine überblicksmäßige Darstellung der Auseinandersetzung und der wichtigsten in diesem Zusammenhang vertretenen Positionen findet sich bei Oehler, a.a.O., S. 181–186. 40 41
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auch mit ὁ τὶς ἄνθρωπος43 verwiesen wird; es sei also damit etwas räumlich und zeitlich Lokalisiertes gemeint. Für diese Ansicht scheint auch zu sprechen, daß beides von Aristoteles auch unter demselben Ausdruck, nämlich ἄτομα, zusammengefaßt wird.44 Individuell und raumzeitlich lokalisiert, so die Vertreter dieser Ansicht, seien Eigenschaften dadurch, daß jede solche Eigenschaft jeweils nur einer einzelnen, individuellen und raumzeitlich lokalisierten Substanz zukomme. Das ist aber nur dann der Fall, wenn dieses bestimmte Weiß dadurch dieses bestimmte, individuelle Weiß ist, daß es das Weiß des Sokrates ist, und nicht des Koriskos. Diese traditionelle Interpretation, die bis auf die antiken Kommentatoren zurückreicht45 , wird auch heute noch häufig vertreten, z. B. von J.L. Ackrill46 in seinem einflußreichen Kommentar zur Kategorienschrift aus dem Jahr 1963. Ackrill formuliert jedoch insofern vorsichtiger als die Tradition, als er nicht direkt eine kausale Verbindung zwischen der Individualität der Eigenschaften und der Individualität der Seiendheiten herstellt, so daß die Individualität der Seiendheit auch die Individuierung der Eigenschaften bewirkt, sondern nur behauptet, daß jede individuelle Eigenschaft immer in einem je anderen substantiellen Individuum ist. Diese Position gründet auf einer spezifischen Interpretation des Ausdrucks „in einem Zugrundeliegenden sein“ (ἐν ὑποκειμένῳ εἶναι), auf den daher weiter unten noch genauer eingegangen werden muß. Die Gegenposition hat vor allem G.E.L. Owen in einem Aufsatz aus dem Jahre 1965 vorgebracht.47 Er begründet darin seine Auffassung, daß Bestimmtheit und Individualität, entsprechend dem ursprünglichen Sinn von ἄτομος, hier nichts anderes bedeuten als die Unmöglichkeit einer weiteren Untergliederung. Mit diesem bestimmten Weiß ist nach dieser Interpretation nichts anderes als eine bestimmte Weiß-Schattierung oder gar nur irgendeine bestimmte helle Farbe48 gemeint, denn dies kann eben nicht weiter unterteilt werden. Auch Michael Frede hat sich in einem Aufsatz aus dem Jahr 1978 in diese Richtung geäußert.49 Nicht nur seien, so Frede, allgemeine Eigenschaften in allgemeinen Substanzen und Vgl. z. B. Cat. 2, 1b 4. Vgl. Cat. 2, 1b 6–9. 45 Vgl. Oehler, a.a.O., S. 181 f. 46 Ackrill, a.a.O., S. 74 f. 47 G.E.L. Owen: „Inherence“, in : Phronesis 10 (1965), S. 97–105. 48 Owen weist nämlich darauf hin, daß τὸ λευκόν sowohl das Weiße als auch das Helle bedeuten kann (vgl. Owen: „Inherence“, a.a.O., S. 98). 49 Michael Frede: „Individuen bei Aristoteles“, in: Antike und Abendland 24 (1978), S. 16–39. 43
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individuelle Eigenschaften in individuellen Substanzen, wie es die Tradition will, sondern auch allgemeine Eigenschaften in individuellen Substanzen und individuelle Eigenschaften in allgemeinen Substanzen.50 Wir haben hier also die Frage zu klären, was individuelle Eigenschaften sind, und wodurch sie das sind, was sie sind. Dazu dürfte es aber hilfreich sein, zuvor etwas genauer auf die Problematik des In-Seins einzugehen. Die zentrale Bedeutung dieser Problematik an dieser Stelle allein rechtfertigt sicherlich bereits eine etwas ausführlichere Untersuchung, ja fordert sie sogar, vor allem auch deshalb, weil Aristoteles selbst hier ihre Klärung für das Verständnis dieser Klasse des Seienden für erforderlich erachtet. Darüber hinaus ist eine Klärung aber auch für die gesamte weitere Untersuchung von Belang. Wir wollen also in einer längeren Zwischenbetrachtung der Frage nachgehen, was hier mit dem Ausdruck „in einem Zugrundeliegenden sein“ (ἐν ὑποκειμένῳ εἶναι), der ja bereits bei der Bestimmung der ersten Art des Seienden eine gewisse Rolle spielte, gemeint sein kann, und kommen danach auf die Frage, nach dem adäquaten Verständnis der individuellen Eigenschaften zurück, um diese nach Möglichkeit zu klären. Sehen wir uns also zunächst, die von Aristoteles selbst an dieser Stelle gegebene Erläuterung der Wendung „in einem Zugrundeliegenden“ an. Sie lautet folgendermaßen: ἐν ὑποκειμένῳ δὲ λέγω ὃ ἔν τινι μὴ ὡς μέρος ὑπάρχον ἀδύνατον χωρὶς εἶναι τοῦ ἐν ᾧ ἐστίν …51 In einem Zugrundeliegenden nenne ich, was, obwohl es in etwas nicht als Teil vorliegt, doch nicht getrennt von dem, worin es ist, sein kann.
Dieser Satz wird häufig als Definition des In-Seins schlechthin verstanden.52 Das ist jedoch, wie mir scheint, ein Mißverständnis, denn die Erklärung würde ja dann genau das voraussetzen, was zu erklären ist.53 Ebenda, S. 26. Cat. 2, 1a 24 f. 52 z. B. bei Klaus Oehler (a.a.O., S. 181), aber auch Ackrill (a.a.O., S. 74) und Frede („Individuen bei Aristoteles“, in: a.a.O., S. 29f) scheinen in diese Richtung zu tendieren; Frede zumindest hätte andernfalls nicht befürchten müssen, daß der betreffende Satz durch das doppelte „in“ zirkulär sein könnte, und deshalb das „in“ im definiens durch die Feststellung, daß es „… keinerlei Arbeit leistet …“ (ebenda), auch nicht unschädlich machen müssen. 53 So leicht, wie Frede glaubt (siehe oben), wird man dieses „in“ im definiens nämlich nicht los, zumindest ein Teil ist immer in etwas, nämlich dem Ganzen; außerdem müßte man Aristoteles auch eine ziemlich große Nachlässigkeit unterstellen, 50 51
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Aristoteles sagt nämlich hier von dem In-einem-Zugrundeliegenden-Seienden, daß es zum einen nicht als Teil in etwas vorliegt und zum anderen dennoch nicht von dem getrennt sein kann, worin es ist. Wäre nun das In-einem-Zugrundeliegenden-Sein dasselbe wie das In-Sein überhaupt, so ergäbe sich die Behauptung, daß in etwas das ist, was weder als Teil in etwas ist noch von dem getrennt sein kann, worin es ist. Diese Behauptung aber erklärt nicht nur nichts, weil sie den zu erklärenden Begriff, nämlich das In-Sein, in der Erklärung selbst in Anspruch nimmt, sondern sie ist sogar widersprüchlich, weil den Teilen, die erklärtermaßen in etwas sind, dieses In-Sein zugleich wieder abgesprochen wird. Unmöglich also kann Aristoteles mit diesem Satz das In-Sein überhaupt bestimmen wollen. Wie sich bei genauerem Hinsehen zeigt, werden nun tatsächlich vielmehr zwei Arten des In-Seins voneinander unterschieden, nämlich das In-einem-Zugrundeliegenden-Sein und das In-etwas-alsTeil-Sein. Das In-Sein selbst wird nicht erklärt, sondern als nicht weiter erklärungsbedürftig vorausgesetzt. Wenn dies richtig ist, so müssen wir aber entsprechend den beiden Abgrenzungskriterien nicht nur zwei, sondern sogar drei Arten des In-Seins unterscheiden. Doch zunächst zu den ersten beiden Arten; diese sind das In-Sein 1. eines Teils in einem Ganzen54 , 2. einer Eigenschaft in einem Zugrundeliegenden. Diese ersten beiden Arten können ohne das, worin sie sind, nicht vorkommen; auf sie trifft also das sogenannte inseparability requirement zu.55 Damit die Formulierung dieser Untrennbarkeitsregel56 Sinn macht, muß aber noch eine dritte Art des In-Seins angenommen werden, von der die beiden anderen Arten auf diese Weise abgegrenzt werden. Diese dritte Art ist dadurch gekennzeichnet, daß das, was in etwas anderem ist, auch getrennt von dem sein kann, worin es ist. Diese Forderung wird, wie mir scheint, nur von Dingen erfüllt, die in etwas sind wie z. B. ein Mensch im Haus oder wie ein Bissen im Mund und ein Nagel in der Wand, wenn also das eine der Ort des anderen ist. Die dritte Art des InSeins ist also das In-Sein und das auch noch bei einer deutlich hervorgehobenen Begriffsbestimmung wie dieser, was mir nicht sehr wahrscheinlich erscheint. 54 Vgl. dazu auch Cat. 5, 3a 29–32. 55 Dieser Ausdruck geht zurück auf J.L. Ackrill (a.a.O., S. 74f). 56 So übersetzt Klaus Oehler (a.a.O., S. 181) Ackrills Ausdruck inseparability requirement.
3.2. Die Anteprädikamenta
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3. einer Seiendheit in einem anderen Seienden als seinem Ort. Aristoteles muß daher das In-einem-Zugrundeliegenden-Sein durch Angabe zweier Kriterien nach zwei Seiten hin abgrenzen: es ist zum einen nicht wie ein Teil in etwas, zum anderen aber auch nicht abtrennbar von dem, worin es ist. Was besagt aber dann der Ausdruck „in etwas sein“ ohne nähere Bestimmung? Hat er überhaupt eine allgemeine Bedeutung, oder meint er in jedem der drei Zusammenhänge etwas ganz anderes? Mir scheint nun, daß sich eine solche allgemeine Bedeutung durchaus ausmachen läßt. Das In-Sein bedeutet nämlich immer, daß zwar eine gewisse Einheit (und sei es nur eine räumliche) vorliegt, jedoch ohne jegliche (auch nur teilweise) Identität der vereinigten Instanzen. Letzteres setzt das In-Sein in Opposition zu der Einheit des Von-etwas-(identifizierend-)ausgesagt-Werdens. Auch Mensch und bestimmter Mensch sind nämlich zwar eines, jedoch sind sie dies durch (partielle) Identität, denn ein bestimmter Mensch ist hinsichtlich seines Mensch-Seins vollkommen identisch mit dem Menschen überhaupt, nicht jedoch hinsichtlich seines Bestimmter-Mensch-Seins. Teil und Ganzes (wobei noch zu klären sein wird, was hier unter „Teil“ verstanden werden muß), Eigenschaft und Zugrundeliegendes und Seiendheit und Ort dagegen sind eines ohne jede Identität; denn auch der Teil ist nicht mit dem Ganzen, dessen Teil er ist, identisch, auch nicht teilweise, zumindest insofern das Ganze als Ganzes betrachtet wird.57 Um die Bestimmung des In-einem-Zugrundeliegenden-Seins durchsichtig zu machen, ist nun also noch die Frage zu klären, was Aristoteles im Zusammenhang der Kategorienschrift unter dem Ausdruck „Teil“ (μέρος) versteht. Auch hier werden wieder zwei Alternativen diskutiert: entweder mit dem Ausdruck Teil sind die Teile der Definition gemeint, also Gattung und vor allem Unterschied58 , oder aber die realen Teile des Seienden, wie Hand und Kopf. Letzterem entspricht die traditionelle 57 Die Hand z. B. ist ein Teil des menschlichen Körpers, sie ist jedoch weder ganz noch teilweise mit diesem als einem Ganzen identisch, weil wir weder sagen können: „Die Hand ist ein menschlicher Körper“, noch: „Der menschliche Körper ist eine Hand“. Bestimmter Mensch (z. B. Sokrates) und Mensch dagegen sind teilweise identisch, denn wir können zwar nicht sagen: „Der Mensch (überhaupt) ist Sokrates“, so daß in dieser Hinsicht keine Identität vorliegt, jedoch können wir sehr wohl sagen: „Sokrates ist ein Mensch“; in dieser Hinsicht also liegt Identität vor. 58 Diese Ansicht vertritt z. B. Michael Frede: „Individuen bei Aristoteles“, a.a.O., S. 29 f.
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3. Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift
Auffassung, die hier unter „Teilen“ die physischen Teile versteht.59 Wir müssen also untersuchen, was von beidem nun das angemessene Verständnis von „Teil“ in der Kategorienschrift ist. 60 Sehen wir uns zunächst die Teile der Definition an, also Form (εἶδος), Gattung (γένος) und Unterschied (διαφορά). Alle Teile der Definition haben nun gemeinsam, daß sie von dem Zugrundeliegenden als Ganzem identifizierend (bzw. synonym) ausgesagt werden. 61 Sokrates ist als Ganzes ein Lebewesen, zweibeinig und ein Mensch. Gemäß dem oben Gesagten jedoch gehört der Ausdruck „Teil“, so wie er in der Kategorienschrift verwendet wird, zu dem, was in etwas ist. In-Sein und Identisch-Sein haben sich aber als entgegengesetzt erwiesen. Die Teile der Definition sind also nicht in dem Sinne Teil, wie dieser Ausdruck in der Kategorienschrift verwendet wird. Mit „Teil“ sind also, zumindest in der Kategorienschrift, stets die physischen Teile gemeint. Nun weist auch eine Stelle im siebten Kapitel eindeutig Hand und Kopf, also reale Teile, als Teile der ersten Seiendheit aus. 62 Daß diese hier gemeint sind, wird zudem aus der Ungereimtheit klar, die sich andernfalls ergäbe. Denn wären mit dem Ausdruck „Teil“ hier nicht die realen Teile gemeint, müßten sie gemäß dem oben zitierten Satz geradewegs zur Klasse der Eigenschaften gezählt werden, da sie ja, obwohl sie dann kein Teil mehr von etwas anderem im hier relevanten Sinne wären, dennoch weiterhin in etwas wären, nämlich z. B. das Herz im Körper, und zudem nicht unabhängig von dem bestehen könnten, von dem sie ein realer Teil sind, denn ein Herz ohne Körper ist nur noch dem Namen nach ein Herz, insofern dieses nämlich das Organ ist, das (unserem modernen Verständnis nach) das Blut durch den Körper pumpt. Daraus würde nun folgen, daß die Teile in etwas als einem Zugrundeliegenden sein müßten. Was aber sollte einem realen Teil zugrunde liegen? Das zumindest, wovon er abhängt, nämlich das Ganze mitsamt seinen Teilen, kann ihm nicht zugrunde liegen, weil er ja eben selbst ein realer Teil davon ist, also das, dessen Teil er ist, mitkonstituiert, und sich damit selbst zugrunde Vgl. Oehler, a.a.O., S. 186. Es geht hier ausschließlich um die Bedeutung dieses Ausdrucks in der Kategorienschrift; die Frage nach sämtlichen Bedeutungen, die „Teil“ bei Aristoteles annehmen kann, bleibt dagegen hier außen vor. 61 Auch der Unterschied wird in der Kategorienschrift synonym ausgesagt (vgl. Cat. 5, 3a 21–28). 62 Vgl. Cat. 7, 8a 13 ff. Die realen Teile werden von Aristoteles ebenfalls, wie auch das Ganze, als Seiendheiten betrachtet (vgl. Cat. 5, 3 a 29–32); darauf wird weiter unten noch genauer eingegangen. 59
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und voraus liegen müßte. Das Ganze ohne seine Teile aber wäre nicht mehr das Ganze, von der der Teil ein Teil ist. In einem Zugrundeliegenden zu sein und Teil zu sein, schließt sich also gegenseitig aus. Nichts ist daher ein wie auch immer gearteter Teil dessen, in dem es als einem Zugrundeliegenden ist. Da zugleich alles, was von etwas anderem, mit dem es nicht identisch ist, ontologisch abhängig ist, entweder ein Teil von dem ist, wovon es abhängt, oder diesem inhäriert, kann man die Inhärenz folgendermaßen definieren: In einem Zugrundeliegenden nenne ich, was, obwohl es in etwas nicht als Teil enthalten ist, doch nicht getrennt von dem, worin es ist, sein kann. Und genau genau so wird sie denn auch von Aristoteles definiert. Zu diesen realen Teilen der Seiendheit darf man aber m.E. im Zusammenhang der Kategorienschrift nicht nur, wie traditionellerweise üblich, die körperlichen Teile zählen, sondern auch die Seele müssen wir dazu rechnen, was in einem gewissen Gegensatz zur späteren Seelenlehre des Aristoteles (z. B. in der Metaphysik oder De anima) steht. Dafür spricht erstens die Gegenüberstellung von Seele und Körper in obigem Beispiel und zum anderen, daß die Seele andernfalls im Rahmen der Ontologie der Kategorienschrift überhaupt keinen Platz hätte, denn das εἶδος wird hier ja noch als allgemeine Seiendheit, z. B. Mensch im allgemeinen, aufgefaßt, weshalb die Seele nicht, wie später, eine Form sein kann. In einem Zugrundeliegenden ist also das, was erstens eine Einheit mit einer Seiendheit bildet, von der es zweitens nicht abtrennbar ist, ohne aber drittens ein Teil dieser Seiendheit zu sein. Soweit haben wir bisher das In-einem-Zugrundeliegenden-Sein klären können. Ein letzter, entscheidender Punkt aber ist bisher noch nicht hinreichend klar geworden, nämlich der Sinn, den die Nicht-Abtrennbarkeit, also die sogenannte Untrennbarkeitsregel, in diesem Zusammenhang hat. Was damit gemeint ist, wird jedoch deutlich, wenn wir uns die Beispiele des Aristoteles für ein solches Seiendes, das in etwas als einem Zugrundeliegenden ist, genauer ansehen. οἷον ἡ τὶς γραμματικὴ ἐν ὑποκειμένῳ μέν ἐστι τῇ ψυχῇ, καθ᾿ ὑποκειμένου δὲ οὐδενὸς λέγεται, καὶ τὸ τὶ λευκὸν ἐν ὑποκειμένῳ μέν ἐστι τῷ σώματι, –ἅπαν γὰρ χρῶμα ἐν σώματι,– καθ᾿ ὑποκειμένου δὲ οὐδενὸς λέγεται·63 z. B.: das bestimmte Grammatikwissen ist zum einen in einem Zugrundeliegenden, nämlich der Seele, wird aber zum anderen von keinem Zugrundeliegenden ausgesagt, und das bestimmte Weiß ist zum einen in einem Zugrundelie Cat. 2, 1a 25–29.
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genden, nämlich dem Körper, (denn jede Farbe ist in einem Körper,) wird aber zum anderen von nichts ausgesagt.
Als Beispiele dienen ihm hier also ein bestimmtes Grammatikwissen (ἡ τὶς γραμματική) und eine bestimmte weiße bzw. helle Farbe (τὸ τὶ λευκόν). Das bestimmte Grammatikwissen ist in der Seele, die bestimmte Farbe im Körper (genauer: in der Oberfläche des Körpers). Aristoteles behauptet dagegen nicht, daß dieses bestimmte Grammatikwissen in dieser bestimmten Seele und diese bestimmte Farbe in diesem bestimmten Körper ist, sondern nur, daß dieses bestimmte Grammatikwissen in der Seele (also keiner bestimmten) und diese bestimmte Farbe im Körper (also wieder keinem bestimmten) ist. Dies zeigt ganz klar, daß die Untrennbarkeitsregel nicht so verstanden werden darf, wie dies Ackrill tut, wenn er schreibt: „The inseparability requirement has the consequence that only individuals in non-substance categories can be ‘in’ individual substances.“64 Denn Aristoteles behauptet ja in seinen Beispielen gerade, daß individuelle Eigenschaften in nicht-individuellen Zugrundeliegenden sind, denn ἡ ψυχή und τὸ σῶμα bezeichnen eindeutig allgemeine Seiendheiten. Hätte er dagegen individuelle Seiendheiten gemeint, hätte er es sicher nicht versäumt, der Seele und dem Körper ein τις bzw. τι hinzuzufügen, denn auch ὁ ἄνθρωπος bedeutet nicht den individuellen Menschen, sondern den Menschen im allgemeinen, während der individuelle Mensch stets als ὁ τὶς ἄνθρωπος bezeichnet wird. 65 Das bestimmte Grammatikwissen und die bestimmte Farbe können nun nach der oben untersuchten Bestimmung des In-einem-Zugrundeliegenden-Seins nicht abgetrennt (χωρίς) von der Seele bzw. dem Körper (und zwar im allgemeinen!) sein. Diese Nicht-Abtrennbarkeit betrifft das Sein dieser Eigenschaften, insofern sie nichts anderes sind als sie selbst. Das, was das Sein eines Seienden hinsichtlich seiner selbst offenbar macht, ist nun aber der das Seiende hinsichtlich seiner selbst bestimmende λόγος. Die Untrennbarkeit muß daher m.E. in diesem Zusammenhang dahingehend verstanden werden, daß wir immer, wenn wir z. B. Wissen oder Farbe hinsichtlich ihres Seins erfassen und durch einen λόγος bestimmen wollen, eine Seele bzw. einen Körper als Träger dazu denken müssen, denn der Träger ist das, ohne das es nicht möglich ist, daß Wissen bzw. Farbe überhaupt vorkommen können. Dies ist im üb Ackrill, a.a.O., S. 74. Vgl. z. B. Cat. 5, 2a 16f: „… ὁ τὶς ἄνθτρωπος ἐν εἴδει μὲν ὑπάρχει τῷ ἀνθρώπῳ …“; vgl. auch Frede: „Individuen bei Aristoteles“, a.a.O., S. 27 f. 64 65
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rigen eine auch in eidetischer Variation im Sinne Husserls phänomenologisch klar ausweisbare Notwendigkeit. 66 Keine Farbe ist ohne Körper, bzw. dessen Oberfläche, denkbar, denn eine Farbe ist immer die Farbe irgendeines Körpers, und zwar sowohl die Farbe im allgemeinen als auch jede einzelne, ganz bestimmte Farbe. Ein Körper aber ist immer Teil einer körperlichen Seiendheit. Also ist keine Farbe ohne eine körperliche Seiendheit, also auch nicht ohne eine Seiendheit überhaupt denkbar. Ebenso ist kein Wissen ohne Seele oder, genauer, ohne eine beseelte Seiendheit, also auch nicht ohne eine Seiendheit überhaupt denkbar. Weil Seele und Körper aber auch Teile des Menschen sind67, kann man nun sowohl von dem bestimmten Grammatikwissen als auch der bestimmten Farbe sagen, daß sie im Menschen seien, und zwar wiederum sowohl im Menschen im allgemeinen als auch, zumindest der Möglichkeit nach, in jedem einzelnen, ganz bestimmten Menschen. Das bedeutet jedoch nicht, daß Wissen und Farbe nicht vom Menschen abtrennbar wären, insofern er ein Mensch überhaupt oder dieser bestimmte Mensch ist, denn auch ein Gott weiß etwas und auch ein Stein hat irgendeine Farbe. Dennoch können Eigenschaften nicht ohne bestimmte Aspekte der Seiendheit verstanden werden, auch wenn die jeweilige, bestimmte Form der Seiendheit dabei unbeachtet bleibt; diese Aspekte sind nun offenbar die Teile der Seiendheit, und zwar nicht als diese und jene bestimmten Teile dieser bestimmten Seiendheit, sondern als dieser oder jener Teil einer ansonsten unbestimmten Seiendheit im allgemeinen. Daher muß auch der betreffende Teil (im allgemeinen), ohne den sie nicht sein kann, in gewisser Weise mit in den λόγος der individuellen Eigenschaft eingehen. Eingehen in den λόγος der Eigenschaft kann der allgemeine Teil aber nur hinsichtlich seines eigenen λόγος. Der λόγος des Teiles jedoch bezieht sich wiederum auf eine Seiendheit im allgemeinen, denn auch die Teile zählen ja zu dem, was nicht abtrennbar ist. Jede Seiendheit im allgemeinen ist eine Vielzahl einzelner Seiendheiten, von deren Individualität abgesehen wird. Das Zugrundeliegende ist also einerseits immer etwas Einzelnes, andererseits aber immer auch etwas Allgemeines, denn jedes Einzelne ist teilweise identisch mit einem Allgemeinen und alles Allgemeine vollkommen identisch mit allem Einzelnen, das Zur eidetischen Variation vgl. Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hrsg. v. L. Landgrebe, Hamburg 51976, S. 409– 426. 67 Auch die Seele wird ja, wie gesagt, m.E. in der Kategorienschrift als Teil der Seiendheit aufgefaßt; siehe weiter oben. 66
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unter es fällt, insofern von dessen Besonderheit abgesehen wird. Das Zugrundeliegende ist also einerseits ein je bestimmtes Einzelnes, jedoch nicht als dieses bestimmte Einzelne. Insofern das Zugrundeliegende nämlich einen bestimmten Teil hat, ohne den die Eigenschaft nicht sein kann, und dieser Teil nur als Allgemeines aufgefaßt wird, ist die Eigenschaft, die in diesem Zugrundeliegenden ist, nicht abtrennbar von dem Zugrundeliegenden, insofern es aber dieses je Einzelne ist oder andere allgemeine Aspekte hat, die nicht relevant sind, kann die Eigenschaft gewissermaßen abgetrennt werden. Wir wollen versuchen dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die Größe dieses bestimmten Menschen kann nicht getrennt von dem sein, worin sie ist. Nun ist eine Größe aber nicht insofern in einem Mensch, insofern er dieser bestimmte Mensch ist, und auch nicht insofern er ein Mensch überhaupt ist, sondern ausschließlich insofern dieser körperliche Seiendheit überhaupt ist und also einen Körper hat. Denn jede Größe ist die Größe irgendeines Körpers. Nun ist aber andererseits jeder Körper immer Teil irgendeiner ganz bestimmten und individuellen körperlichen Seiendheit. Daher ist jede Größe auch immer in einem ganz bestimmten Seienden und nicht von diesem abtrennbar, nur eben nicht deshalb, weil es ein ganz bestimmtes Seiendes ist, sondern weil es überhaupt einen Körper hat. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß Aristoteles mittels der Bestimmung des In-einem-Zugrundeliegenden-Seins die inhärierenden Eigenschaften von den konstituierenden Teilen der Seiendheit abgrenzt. Beide können nicht unabhängig von etwas anderem verstanden werden, in dem sie sind, wodurch sie sich von all dem unterscheiden, was zwar auch in etwas ist, jedoch auch getrennt von dem sein kann, in dem es ist. Die Untrennbarkeitsregel erfaßt also alles, was nicht ohne Bezug zu etwas anderem durch einen λόγος erfaßt werden kann, denn die Untrennbarkeit gilt nicht nur für die Eigenschaften, sondern auch für die Teile der Seiendheiten. Dabei besteht allerdings, wie Aristoteles durch die von ihm gebrachten Beispiele zeigt, auch ein gestuftes Verhältnis zwischen Teilen, Eigenschaften und Seiendheiten, insofern die Eigenschaften nicht ohne Bezug zu den Teilen und die Teile nicht ohne Bezug zu den Seiendheiten bestimmt werden können. Die Hand z. B. könnte man beschreiben als Greiforgan des Menschen, das Grammatikwissen als eine bestimmte Relation zwischen Seele und Sprache. Da nun in ihren λόγος immer etwas anderes mit eingeht, können die Eigenschaften im strengen Sinne nicht definiert werden, denn eine Definition (ὁρισμός) macht ein
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Seiendes so offenbar, wie dieses rein aufgrund seiner selbst ist, die Eigenschaften (wie auch die Teile) sind aber rein aufgrund ihrer selbst überhaupt nicht möglich. Zwischen Teil und Eigenschaft besteht jedoch auch ein bedeutender Unterschied: Die Eigenschaften sind in diesem anderen, in dem sie sind, als in einem Zugrunde- und Vorausliegenden, die Teile dagegen als in einem sie selbst miteinschließenden Ganzen. Das Zugrundeliegende ist also ontologisch früher als das, dem es zugrunde liegt, das Ganze dagegen ist nicht früher als seine Teile, weshalb sowohl das Ganze als auch dessen Teile zu den Seiendheiten gezählt werden. 68 Da nun alle Kriterien, nämlich das In-Sein, das Nicht-Teil-Sein und die Untrennbarkeit, für diese Art des Seienden hinreichend klar sind, können wir versuchen, die Frage zu entscheiden, von welcher Art die Bestimmtheit der individuellen Eigenschaften ist, die dafür verantwortlich sein soll, daß sie über kein Zugrundeliegendes mehr ausgesagt werden können. Zwei Alternativen boten sich an: entweder es handelt sich bei diesem Seienden um so etwas wie eine Farbschattierung, also um die jeweils letzten hinsichtlich ihrer selbst möglichen Unterteilungen in den genealogischen Stammbäumen der Eigenschaften, oder aber um so etwas wie z. B. die Farbe des Sokrates, also um Eigenschaften, die nicht hinsichtlich ihrer selbst, sondern durch die Individualität ihrer Träger individualisiert werden. Bringen wir nun aber die beiden Kriterien in Anschlag, so zeigt sich sogleich, daß sie offenbar auf jede Eigenschaft zutrifft, ganz egal auf welcher Stufe der Allgemeinheit oder Individualität sie sich befindet. So trifft es z. B. auf jede Farbe zu, daß sie, obwohl sie nicht als Teil in etwas ist, dennoch nicht von dem getrennt sein kann, worin sie ist: sowohl die Farbe im allgemeinen nämlich als auch jede bestimmte Farbe, sei diese nun so etwas wie eine bestimmte Weißschattierung oder so etwas wie das Weiß des Sokrates, ist in einem Zugrundeliegenden, nämlich dem Körper im allgemeinen, von dem sie weder ein Teil ist noch getrennt werden kann. Nicht das In-einem-Zugrundeliegenden-Sein also gibt ein Kriterium dafür ab, ob eine Eigenschaft eine individuelle Eigenschaft ist. Und das ist, wenn man das ganze zweite Kapitel unvoreingenommen betrachtet, auch wenig überraschend, schließlich unterscheiden sich individuelle und allgemeine Eigenschaften69 gerade nicht hinsichtlich des In-einem-Zugrundeliegenden-Seins, sondern ausschließlich hinsichtlich dessen, daß letztere von einem Zu Vgl. Cat. 5, 3a 29–32. Siehe dazu weiter unten.
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grundeliegenden ausgesagt werden, erstere dagegen nicht. Es ist also im Grunde genommen höchst sonderbar, wie man auf die Idee verfallen konnte, daß sich gerade in dem Kriterium, das allen Eigenschaften, sowohl den allgemeinen als auch den individuellen, gemeinsam ist, der Unterschied zwischen ihnen finden lassen müsse. Individuelle und allgemeine Eigenschaften unterscheiden sich also nicht dadurch, daß sie in einem je anderen Zugrundeliegenden wären, sondern allein dadurch, daß die individuellen Eigenschaften im Gegensatz zu den allgemeinen von nichts identifizierend ausgesagt werden können. Daraus ergibt sich nun, daß es sich bei den individuellen Eigenschaften um die letzten Einteilungsglieder der genealogischen Stammbäume der Eigenschaften überhaupt handelt. Das letzte Einteilungsglied eines solchen Stammbaums ist diejenige Eigenschaft, die sich rein hinsichtlich ihrer selbst nicht weiter aufteilen läßt, weil es kein Unterscheidungsmerkmal mehr geben kann, daß ihr hinsichtlich ihrer selbst zukommt. Die Unterscheidungsmerkmale nun, die das Weiß im Bart des Sokrates von dem im Bart des Platon unterscheidet, ist keines das dem Weißen hinsichtlich seiner selbst zukommt, und dies trifft ebenso auf alle anderen Eigenschaften zu. Daraus folgt nun, daß Eigenschaften nicht durch ihren Träger individualisiert werden. Individuelle Eigenschaften sind also Eigenschaften wie eine bestimmte Farbschattierung, denn diese ist das letzte Einteilungsglied, hinsichtlich dessen sich ein Unterscheidungskriterium angeben läßt, das ihm rein aufgrund seiner selbst zukommt. Verdeutlichen wir uns dies an einem Beispiel, und zwar einer bestimmten Farbschattierung wie RAL 9001 (Cremeweiß): diese ist, wie alle Farben, stets „in“ etwas, nämlich der Oberfläche eines Körpers, und sie wird niemals von etwas anderem wie von einem Zugrundeliegenden, also synonym, ausgesagt, denn das Cremeweiß des Lichtschalters hier und das Cremeweiß der Steckdose dort sind nicht zwei Farben, sondern ein und dieselbe. Cremeweiß unterscheidet sich von Cremeweiß durch überhaupt nichts, denn wer behauptet, es handele sich um zwei Farben, da das eine Cremeweiß eben hier, das andere aber dort sei, der gibt kein Unterscheidungsmerkmal für die Farbe selbst an, sondern nur für die zugrundeliegenden Seiendheiten, in denen diese identische Farbe ist. Denn die räumliche und zeitliche Lokalisiertheit hat nichts mit Farbe zu tun, sie gehört ja noch nicht einmal der Kategorie der Qualität an. Es ist aber auch kein Einwand, daß dann etwas Individuelles in vielem wäre, denn Aristoteles behauptet nirgends, daß das Zugrundeliegende stets
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eines sein müsse und niemals vieles sein könne. Wie ein und dasselbe in vielem sein kann, ist dabei nur für den ein Rätsel, der sich die Eigenschaften insgeheim als räumliche Dinge vorstellt und nicht als das, was sie sind, nämlich eben Eigenschaften. Wollte nun jemand einwenden, daß der Lichtschalter und die Steckdose aus unserem Beispiel vielleicht dennoch unmerklich anders getönt seien, dann stellte sich zunächst die Frage, was denn bei einer Farbe „unmerklich“ bedeuten könne. Ist eine Farbe nicht gerade das, was an einem Ding mittels der Augen merklich ist? Aber selbst wenn es wirklich keine zwei exakt gleich gefärbten Dinge gäbe, wogegen der Augenschein spricht, so würde sich doch dadurch nichts daran ändern, daß die jeweilige Farbschattierung nicht durch die individuelle Seiendheit, der sie inhäriert, individuiert wird, sondern ausschließlich dadurch, daß sie eben eine ganz bestimmte Farbe ist, die als solche zumindest im Prinzip auch anderen Dingen zukommen könnte. Ob es diese Farbe noch ein zweites Mal gibt auf der Welt, ändert daran, daß Farben nicht durch ihren Träger individuiert werden, nicht das geringste. Auch hinsichtlich anderer Eigenschaften ergäben sich Ungereimtheiten, wenn Eigenschaften durch ihren Träger individuiert würden, z. B. bei der Größe. Wenn es nämlich prinzipiell keine zwei gleichen Größen geben könnte, so wäre jede Messung ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Länge eines bestimmten Gegenstandes als Urmeter festzulegen z. B., hätte dann gar keinen Sinn, wenn seine Länge nicht mit anderen verglichen werden könnte; wenn es aber mit anderen Dingen hinsichtlich der Länge verglichen werden kann, und das kann es ja, so muß es auch Dinge geben oder zumindest im Prinzip geben können die gleich groß sind. Denn gibt es Dinge die größer oder kleiner sind, so ist es auch möglich diese zu verkürzen oder zu verlängern; tut man dies in Schritten, die klein genug sind, so werden beide Dinge notwendigerweise irgendwann gleich groß sein. Seiendes, das in einem Zugrundeliegenden ist, zählt also dann zu dem, was unteilbar (individuell oder ἄτομον) und der Anzahl nach eines (ἓν ἀριθμῶ) ist70 , wenn und weil es hinsichtlich seiner selbst nicht von etwas anderem als einem Zugrunde- und Vorausliegenden ausgesagt werden kann.71 Es kann aber dann nicht von einem anderen hinsichtlich seiner Vgl. Cat. 2, 1b 6–9. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Michael Frede (vgl. ders.: „Individuen bei Aristoteles“, a.a.O., S. 31). 70 71
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selbst ausgesagt werden, wenn es keinen ihm hinsichtlich seiner selbst zukommenden Unterschied mehr gibt, hinsichtlich dessen sich eine solche Eigenschaft weiter aufteilen ließe. Obwohl es aber in diesem Sinne unteilbar oder unzerschneidbar (ἄτομον) ist, ist es dennoch nicht unabhängig oder, wie Aristoteles sagt, abtrennbar 72 und kann daher in gewisser Weise doch von etwas anderem, nämlich dem Zugrundeliegenden, ausgesagt werden, allerdings nicht hinsichtlich seiner selbst und schlechthin, sondern nur paronym. Um dies deutlich zu machen, schränkt Aristoteles die Aussage, daß nichts, was unteilbar und der Anzahl nach eines ist, von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden kann, auch durch Voranstellung eines ἁπλῶς (schlechthin) ein.73 Diese Art des Seienden umfaßt so die jeweils letzten Einteilungsglieder in allen Kategorien außer der ersten, also alle individuellen, d. h. nicht weiter aufteilbaren, Eigenschaften, wie eine bestimmte Farbschattierung (z. B. Cremeweiß), eine bestimmte Größe (z. B. fünf Meter), eine bestimmte Relation (z. B. das Wissen, daß vor einem Relativsatz stets ein Komma zu setzen ist) usw. Nichts davon wird durch das Seiende individuiert, dem es inhäriert. Ja, viel näher liegt doch wohl sogar der gegenteilige Schluß, nämlich der, daß nicht die Eigenschaften durch die Seiendheiten, sondern die Seiendheiten durch die Eigenschaften individuiert werden, denn ein bestimmtes Pferd z. B. ist dadurch dieses bestimmte Pferd, daß es zu einer bestimmten Zeit (ποτέ) an einem bestimmten Ort (πού) ist, eine bestimmte Färbung seines Fells (ποιόν) aufweist, Bestimmtes tut (ποιεῖν), bestimmte Einwirkungen erfährt (πάσχειν) usw. Dieser Gedanke ist allerdings der Kategorienschrift offenbar noch fremd, denn Aristoteles stellt hier individuelle Eigenschaften und individuelle Seiendheiten nur nebeneinander, ohne das eine auf das andere zurückzuführen, später jedoch hat er m.E. genau diesen Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, wenn er in Metaphysik Z das Einzelne, das er nun als aus Form und Materie zusammengesetzt auffaßt, durch ihre jeweilige Materie zu je dem Einzelnen werden läßt, das es jeweils ist.74 Dies kann jedoch eingehend erst im Zusammenhang einer Interpretation der Substanzbücher diskutiert werden. 72 Vgl. Cat. 2, 1a 25: „… ἀδύνατον χωρὶς εἶναι …“. Das Gegenteil davon ist daher das Abtrennbare (χωριστόν). 73 Vgl. Cat. 2, 1b 6–9: „ἁπλῶς δὲ τὰ ἄτομα καὶ ἓν ἀριθμῷ κατ᾿ οὐδενὸς ὑποκειμένου λέγεται, ἐν ὑποκειμένῳ δὲ ἔνια οὐδὲν κωλύει εἶναι· ἡ γὰρ τὶς γραμματικὴ τῶν ἐν ὑποκειμένῳ ἐστίν.“ 74 Vgl. Met. Z 8, 1034a 5–8.
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3.2.2.3 Die Klasse der allgemeinen Eigenschaften Wir kommen nun zur dritten Klasse des Seienden nach Aristoteles (Abschnitt Cat. 2, 1a 29 – 1b 3). Sie umfaßt das, was bei den Eigenschaften den γένη, εἴδη und διαφοραί der Seiendheiten analog ist, also alles was von den individuellen Eigenschaften synonym bzw. καθ᾿ αὑτό ausgesagt wird. Aristoteles bestimmt diese Klasse folgendermaßen: τὰ δὲ καθ᾿ ὑποκειμένου τε λέγεται καὶ ἐν ὑποκεινένῳ ἐστίν …75 Wieder anderes wird von einem Zugrundeliegenden ausgesagt und ist zugleich in einem Zugrundeliegenden.
Im Grunde gilt für diese Klasse des Seienden dasselbe wie für die erste (die Klasse der Gattungen, Formen und Unterschiede der Seiendheit), mit dem Unterschied aber, daß das ihr zu Subsumierende nicht unabhängig von einem Zugrundeliegenden ist und also auch nicht unabhängig definiert werden kann, nichts anderes bedeutet hier ja der Ausdruck „in einem Zugrundeliegenden sein“, wie soeben gezeigt wurde. Wissen z. B. ist immer in einem Zugrundeliegenden, nämlich der Seele, d. h. man versteht nicht, was für eine Art von Vollzug Wissen ist, wenn man nicht die Seele mitbedenkt; zugleich wird Wissen von dem bestimmten Wissen ausgesagt, z. B. dem Grammatikwissen, denn dieses ist ja auch ein Wissen.76 Das Zugrundeliegende, worin dieses Seiende ist, kann also niemals mit dem Zugrundeliegenden identisch sein, wovon es ausgesagt wird, denn die beiden Bestimmungen schließen sich aus, wie gezeigt wurde. Zugleich aber muß das, worin dieses Seiende ist, und das, worin die individuelle Eigenschaft ist, von der es ausgesagt wird, notwendig identisch sein, denn sowohl das Wissen also auch das bestimmte Grammatik wissen sind notwendigerweise in der Seele und dem Beseelten im allgemeinen, damit aber zugleich auch notwendigerweise in irgendeiner bestimmten Seele und irgendeinem bestimmten Beseelten, denn alles Allgemeine ist eine Vielheit von Einzelnem77, jedoch nicht notwendigerweise in dieser bestimmten Seele und diesem bestimmten Beseelten, denn nicht alles Beseelte hat dieses bestimmte Grammatikwissen oder auch Wissen im allgemeinen. Somit hängt alles Seiende direkt oder indirekt von einem letzten, grundlegenden Seienden ab, der je bestimmten Seiendheit. Die Klasse dieser bestimmten Seienden, auf die sich also alles Cat. 2, 1a 29 f. Vgl. Cat. 2, 1b 1–3. 77 Siehe die Ausführungen zum Begriff des τόδε τι in Abschnitt 3.3.2. 75 76
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3. Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift
andere Seiende auf eine der zwei Arten beziehen muß, wurde von Aristoteles bisher noch nicht erörtert; dies hat er sich für den letzten Abschnitt des zweiten Kapitels aufgespart.
3.2.2.4 Die Klasse des je Einzelnen Erst zum Schluß (Abschnitt Cat. 2, 1 b 3–9) erläutert Aristoteles also die zentralste Klasse des Seienden, von der alle anderen Arten auf irgendeine Weise abhängen; auf diese Art wird im nächsten Abschnitt, der sich mit dem Begriff der Seiendheit (οὐσία) befaßt, noch genauer eingegangen. Sie wird so bestimmt: τὰ δὲ οὔτε ἐν ὑποκειμένῳ ἐστὶν οὔτε καθ᾿ ὑποκεινένου λέγεται …78 Wieder anderes ist weder in einem Zugrundeliegenden noch wird es von einem solchen ausgesagt.
Zunächst fällt auf, daß sie als einzige rein negativ bestimmt wird, und zwar dadurch, daß ihr beide Kriterien, die abwechselnd oder in Kombination die anderen Seinsklassen charakterisierten, abgesprochen werden. Jedoch wird anschließend doch noch ein positives Charakteristikum genannt, denn wie alles, was über kein Zugrundeliegendes ausgesagt werden kann, zählt das Seiende dieser Klasse zu dem, was unteilbar und dar Anzahl nach eines ist.79 Unteilbar bedeutet in diesem Zusammenhang, wie gezeigt, daß nichts mehr unter ein Seiendes dieser Art subsumiert werden kann, es gibt also keine Mehrzahl von Seienden, von denen dieses Seiende synonym ausgesagt wird. Aus demselben Grund ist es auch, im Gegensatz zum Allgemeinen, das über vieles ausgesagt wird und daher auch vieles ist, der Anzahl nach eines. Es hat damit eine grundsätzliche Gemeinsamkeit mit dem Seienden der zweiten Klasse, also den individuellen Eigenschaften. Von diesen unterscheidet es sich jedoch dadurch, daß es, ebenso wie das Seiende erster Art (die Gattungen, Formen und Unterschiede der Seiendheiten) ohne Bezug auf ein anderes Seiendes definierbar und daher, positiv gewendet, in dieser Hinsicht abtrennbar (χωριστόν) ist. Vollkommen abtrennbar sind jedoch, wie sich noch zeigen wird, nur erste Seiendheiten (πρώται οὐσίαι), worunter in der Katego-
Cat. 2, 1b 3 f. Vgl. Cat. 2, 1b 6–9.
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rienschrift ein Seiendes wie dieser bestimmte Mensch verstanden wird, darauf soll aber erst später eingegangen werden.80 Von den Elementen dieser Klasse des Seienden nun werden die entsprechenden Elemente der ersten Klasse auf identifizierende und definierende Weise ausgesagt. Dabei ergeben sich, wie bereits erwähnt, Abstammungslinien, die von dem ersten γένος zu dem γένος dieses ersten γένος, dann zu dem γένος des γένος des γένος usw. bis hinauf zum ersten „Ahnherren“ dieser Abstammungslinie, nämlich hier der Kategorie der Seiendheit (οὐσία), führen. Geht man den umgekehrten Weg von dem ersten „Ahnherren“ hinab zur letzten, individuellen Seiendheit, so werden die γένη zunächst durch die διαφοραί immer weiter aufgespalten, bis keine weitere Aufspaltung mehr möglich ist, wodurch sich das εἶδος ergibt; das εἶδος kann dann wiederum in die einzelnen individuellen Seiendheiten aufgespalten werden, was allerdings offenbar keine logische Operation mehr sein kann.81 Daher können alle höheren und abstrakteren γένη von allen tieferen bis hin zum εἶδος und dem einzelnen Seienden ausgesagt werden, denn ein bestimmter Mensch ist sowohl ein Mensch als auch ein Lebewesen82 und eine Seiendheit (οὐσία) ist er natürlich auch. Aber auch die διαφοραί werden von allen tieferen Ebenen ausgesagt: so ist sowohl ein Mensch als auch ein Lebewesen beseelt. Das εἶδος vereinigt somit alle übergeordneten Unterschiede auf sich und ist durch diese als das, was es ist, bestimmt. 83 Den unterschiedlichen Gattungen (γένη) dagegen entsprechen auch unterschiedliche, die Gattungen ausdifferenzierende Unterschiede, denn nur Seiendheiten z. B. lassen sich in beseelte und unbeseelte unterscheiden, nicht dagegen Qualitäten, Relationen usw. 84 Wo dies doch der Fall zu sein scheint, z. B. bei Lebewesen und Tischen, die sich beide hinsichtlich der Anzahl ihrer Beine unterscheiden lassen, liegt stets ein Irrtum vor, hier z. B. das Übersehen der bloßen Homonymität von Tischbeinen und Beinen von Lebewesen. Daraus folgt, daß jeder Unterschied die Gattung, die er aufspaltet, in sich enthält. Was ein Bein ist, versteht man Siehe ebenfalls die Ausführungen zum Begriff des τόδε τι. Das gilt allerdings nur für die Kategorienschrift, die hierin wohl noch Platonischem Denken verpflichtet ist. Die spätere Philosophie des Aristoteles sieht das Verhältnis zwischen εἶδος und dem Einzelnen ganz anders, vor allem ist hier das εἶδος selbst ein ἄτομον (Individuum); darauf können wir jedoch erst später eingehen (siehe Abschnitt 4). 82 Vgl. Cat. 3, 1b 15: „ὁ γὰρ τὶς ἄνθρωπος καὶ ἄνθρωπός ἐστι καὶ ζῷον.“ 83 Vgl. Cat. 3, 1b 20–24. 84 Vgl. Cat. 3, 1b 16–20. 80 81
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eben nur, wenn man weiß, was ein Lebewesen ist. Da aber jede Gattung aus der nächsthöheren Gattung durch hinzutreten eines entsprechenden Unterschieds hervorgeht, vereinigt jeder Unterschied in sich alle höheren Gattungen und Unterschiede. Das hat wichtige Folgen für das Verständnis des Verhältnisses von Definition (ὁρισμός), Form (εἶδος), Unterschied (διαφορά) und Gattung (γένος), darunter vor allem die Identität von letztem Unterschied und Form.85 Diese Folgerungen werden in der Kategorienschrift allerdings noch nicht explizit gezogen und es muß auch sehr fraglich bleiben, ob sich Aristoteles zum Zeitpunkt ihrer schriftlichen Fixierung über diese Implikationen seines Ansatzes bereits voll im Klaren war, andernfalls hätte er dies wohl, zumindest mit einem kurzen Satz, angedeutet, zumal sich ein solcher Hinweis in diesem Zusammenhang geradezu aufdrängt. Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß der Unterschied in der Kategorienschrift noch so seltsam in der Luft schwebt und keiner Art des Seienden zugerechnet wird.
3.2.2.5 Zusammenfassung Wie wir also gesehen haben, unterteilt Aristoteles den gesamten Bereich des Seienden anhand zweier Kriterien, die einerseits die Definierbarkeit des Seienden betreffen, andererseits seinen Grad an Allgemeinheit bzw. Unterteilbarkeit. Anhand dieser Kriterien läßt sich das Seiende auf zweifache Art gruppieren: – Definierbarkeit Nur Seiendheiten sind unabhängig definierbar. Eigenschaften dagegen sind nicht unabhängig, also im strengen Sinne gar nicht definierbar, wenn eine Definition das Seiende so offenbar machen soll, wie es ausschließlich aufgrund seiner selbst ist. Daraus ergibt sich ein Vorrang der Seiendheiten vor den Eigenschaften hinsichtlich ihrer Intelligibilität. – Allgemeinheit/Individualität Es gibt sowohl individuelle Seiendheiten als auch individuelle Eigenschaften, deren Individualität darin besteht, daß sie nicht weiter hinsichtlich ihrer selbst untergliedert werden können. Sie sind letzte bzw. erste (je nach Standpunkt) Gegebenheiten und innerhalb jeder Kategorie Seiendes im eigentlichsten Sinne. Ihnen gegenüber stehen die allgemeinen Seiendheiten und Eigenschaften, die spezifische Züge des Vgl. Met. Z. 12, 1038a 18–21.
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3.3 Die Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Seiendheit
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Seins des individuellen Seienden benennen und gleichsam ein „Verwandtschaftsnetz“ über dieses ausspannen. Daraus ergibt sich ein Vorrang des individuellen vor dem allgemeinen Seienden hinsichtlich der ontologischen Fundamentalität. Aus der Kombination beider Kriterien scheint sich nun eine klare Vorrangstellung der individuellen Seiendheit gegenüber allem anderen Seienden zu ergeben, denn die Seiendheit hat hinsichtlich des ersten Kriteriums, die Individualität hinsichtlich des zweiten einen höheren Rang. Allerdings ist die individuelle Seiendheit in der Kategorienschrift, worauf bereits hingewiesen wurde, gerade insofern, als sie individuell ist, überhaupt nicht definierbar, denn der Schritt von der Form zum Individuum ist kein definitorischer mehr, alle Menschen sind schließlich Menschen. In definitorischer Hinsicht ist vielmehr bereits die Form individuell, also nicht weiter aufgliederbar. Welcher Art dagegen die Untergliederung der Form sein soll, wird in der Kategorienschrift gar nicht thematisiert, Aristoteles behandelt nur die definitorische Ausdifferenzierung des Seienden durch begriffliche Unterschiede. Was aber die individuellen Seiendheiten derselben Art von einander unterscheidet, wird in keinster Weise erwähnt, sie scheinen daher auch irgendwie nicht recht in das begrifflichen Raster der Kategorienschrift zu passen.
3.3 Die Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Seiendheit im fünften Kapitel der Kategorienschrift Das fünfte Kapitel (2a 11 – 4b 19) ist sicherlich das Herzstück der Kategorienschrift, denn hier wird der Begriff der Seiendheit (οὐσία) erläutert, der das Zentrum der Aristotelischen Ontologie bildet. Es läßt sich auf verschiedene Weisen unterteilen, mir erscheint hier jedoch eine dreifache Gliederung am sinnvollsten. Im ersten so von mir abgeteilten Abschnitt (1b 11 – 3b 9) wird die οὐσία in ihre verschiedenen Teile oder besser Aspekte untergliedert. Im zweiten (3b 10–23) wird die (Platonische) Vorstellung zurückgewiesen, daß Gattung (γένος) und Form (εἶδος) ein τόδε τι seien, wobei dieser nicht ganz einfache Ausdruck zunächst noch bewußt unübersetzt und uninterpretiert bleiben soll; im zweiten Unterpunkt wird darauf dann ausführlich eingegangen werden. Der letzte Abschnitt (3b 24 – 4b 19) befaßt sich mit dem Verhältnis der Seiendheit zum
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Gegensatz. Im folgenden werden diese Abschnitte nun der Reihe nach durchgegangen.
3.3.1 Die Seiendheit als in sich differenzierte Einheit Seiendheit hat nach dem Aristoteles der Kategorienschrift zwei (Haupt)Bedeutungen, die dieser als πρώτη οὐσία (erste Seiendheit) und δευτέρα οὐσία (zweite Seiendheit) bezeichnet, eine Unterscheidung, die so wie sie hier getroffen wird, nur in der Kategorienschrift vorkommt. Der Grund für diese Singularität im Werk des Aristoteles ist m.E. eine grundlegende Weiterentwicklung seiner Ontologie in Form einer Binnendifferenzierung der ersten Seiendheit im Übergang von der Ontologie der Kategorienschrift zur Ontologie der Metaphysik und der damit einhergehenden Einführung des Materie- und Umdeutung des Formbegriffs. Vor allem das Fehlen des Begriffs der Materie aber auch die als Allgemeinbegriff gedachte Form geben der Lehre von der Seiendheit in der Kategorienschrift einen entschieden defizitären Charakter, der bereits über sie hinaus weist. Wir wollen also im folgenden das Faktum, „… daß die Analyse der Substanz gänzlich frei bleibt von der Applikation der Begriffe von Materie und Form, Potentialität und Aktualität“86 , nicht nur bloß registrieren, wie Klaus Oehler, sondern es zum Ausgangspunkt einer Art Entwicklungstheorie des Aristotelischen Denkens machen. Doch kommen wir zurück zum vorliegenden Text. Aristoteles unterscheidet also zwei Seiendheiten, die er erste und zweite nennt. Die zweite Seiendheit nun wiederum gliedert sich nochmals auf in Gattung (γένος) und Form (εἶδος). Auch die die Gattung zur Form ausdifferenzierenden Unterschiede (διαφοραί) stehen, wie bereits erwähnt, in enger, wenn auch ziemlich unklarer und noch genauer aufzuklärender Beziehung zur Seiendheit. Ferner werden von Aristoteles auch die Teile der ersten Seiendheit als Seiendheiten bezeichnet; auch dieser Punkt bedarf weiterer Klärung.
3.3.1.1 Die beiden Bedeutungen des Ausdrucks οὐσία Um die folgende Erörterung auf eine solide Grundlage zu stellen, wollen wir uns zunächst genau ansehen und nachzeichnen, wie Aristoteles mit seinen eigenen Worten die erste und die zweite Seiendheit bestimmt. Oehler, a.a.O., S. 213.
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Denn diese Bestimmung, bei der es sich nicht um eine Definition im strengen Sinne, also um die Angabe von Form, Gattung und Unterschied, handelt, bilden als erste Sätze dieses Kapitels die Grundlage alles dessen, was danach folgt. Eine formal korrekte Definition ist schon allein deshalb nicht zu erwarten, weil die Seiendheit selbst als oberste Gattung von keiner höheren Gattung abstammt, zudem wird der Ausdruck „Seiendheit“ hier eher als Inbegriff aller Seiendheiten verwendet. Beginnen wir unsere Betrachtung also mit der ersten Seiendheit: Οὐσία δέ ἐστιν ἡ κυριώτατά τε καὶ πρώτως καὶ μάλιστα λεγομένη, ἣ μήτε καθ᾿ ὑποκειμένου τινὸς λέγεται μήτε ἐν ὑποκειμένῳ τινί ἐστιν, οἷον ὁ τὶς ἄνθρωπος ἢ ὁ τὶς ἵππος.87 Seiendheit aber, die in entscheidender Weise und in erster Linie und vorzugsweise so genannt wird, ist die, die weder von irgendeinem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in irgendeinem Zugrundeliegenden ist, wie z. B. der gewisse Mensch oder das gewisse Pferd.
Dieser Satz ist alles andere als eindeutig. Meine Übersetzung orientiert sich an der Übersetzung Ackrills88 , weicht jedoch dadurch von dieser ab, daß sie das weibliche Relativpronomen ἣ in 1b 12 auch weiblich übersetzt und nicht sächlich, worin sie Klaus Oehler folgt. Dieser übersetzt jedoch auch noch in einer anderen Hinsicht abweichend von Ackrill, worin ich ihm nicht folge. Er schreibt: „Substanz aber ist die hauptsächlich und an erster Stelle und vorzüglich genannte, die weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird noch in einem Zugrundeliegenden ist …“89 Er faßt also das ἣ in 1b 12 wie ich konsequent als weibliches Relativpronomen auf, bezieht aber ἡ κυριώτατά τε καὶ πρώτως καὶ μάλιστα λεγομένη nicht attributiv auf οὐσία, wie ich das tue, sondern prädikativ. Dies macht nur Sinn, wenn man von zwei unterschiedlichen Begriffen von Seiendheit ausgeht, von denen einer mehr Seiendes umfassen müßte als der anderer. Letzterer meinte dann die Seiendheit, wie sie in der Kategorienschrift erscheint. Denn andernfalls bliebe die Aussage ganz inhaltsleer, sie würde nur besagen, daß die Seiendheit die eigentliche Seiendheit ist, was sich aber von selbst versteht. Eine solche Übersetzung würde also eine Interpretation wesentlich verkomplizieren. Da sie m.E. nicht notwendig ist, habe ich die zwar einfachere, aber immer noch wörtliche Variante gewählt. Der einzige Unterschied zu Ackrill besteht darin, daß 2a 11–14. Vgl. Ackrill, a.a.O., S. 5. 89 Oehler, a.a.O., S. 10. 87
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in meiner Übersetzung bereits vorausgesetzt wird, was als Seiendheit überhaupt in Frage kommt, nämlich die erste und die letzte Klasse des Seienden, und dann nur noch entschieden wird, was davon grundlegender ist, während dies bei Ackrills Übersetzung nicht vorausgesetzt ist. Dadurch nimmt der Satz in meiner Übersetzung eine ganz leichte antiplatonische Färbung an, denn es scheint hier die Frage im Hintergrund zu stehen, was von dem selbständigen Seienden, das nicht in etwas anderem ist, im eigentlichsten Sinne Seiendheit genannt zu werden verdient: das Allgemeine oder das je Einzelne. Aristoteles baut hier also offenkundig auf seiner Unterscheidung der verschiedenen Klassen des Seienden im zweiten Kapitel auf, denn er behauptet hier ja, daß das, was „in entscheidender Weise und in erster Linie und vorzugsweise“ Seiendheit genannt wird, identisch ist mit der vierten und letzten Klasse des Seienden, und dies setzt eine vorherige Bestimmung dieser Klasse voraus. Die Beispiele, die er zur Illustration anführt, stimmen mit den Beispielen aus dem zweiten Kapitel im übrigen exakt überein. Diese erste Seiendheit ist also das individuelle und unabhängig definierbare Seiende. Die von Platon her übernommene Bezeichnung „Seiendheit“ trägt es, weil es, wie sich noch zeigen wird, der letzte Grund des Seins jedes Seienden ist, d. h. weil es das ist, worin letztlich das Sein jedes Seienden auf die eine oder andere Weise wurzelt. Er knüpft damit unmittelbar an die Verwendungsweise dieses Ausdrucks bei Platon an, wenngleich er diese auch deutlich modifiziert.90 Dieses Seiende ist nun, wie Aristoteles hinzusetzt, Seiendheit in entscheidender Weise (κυριώτατα), weil es den Maßstab abgibt für alles, was sich noch Seiendheit nennen will, und in erster Linie (πρώτως), weil es mit diesem Ausdruck bevorzugt gemeint ist, und am meisten (μάλιστα), weil es den Anforderungen an Ursprünglichkeit und Grundsätzlichkeit, die mit dieser Bezeichnung verknüpft sind, am meisten genügt. Sehen wir uns nun auch die Bestimmung der zweiten Seiendheit genauer an. Daran anschließend können wir dann einen ersten Überblick über die Kategorie der Seiendheit gewinnen. δεύτεραι δὲ οὐσίαι λέγονται, ἐν οἷς εἴδεσιν αἱ πρώτως οὐσίαι λεγόμεναι ὑπάρχουσιν, ταῦτά τε καὶ τὰ τῶν εἰδῶν τούτων γένη· οἷον ὁ τὶς ἄνθρωπος ἐν εἴδει μὲν ὑπάρχει τῷ 90 Die Abweichung von Platon ist in dieser Frühphase seiner Philosophie sogar noch deutlicher als in späteren Phasen, weil er hier noch, wie mir scheint, der Ausrichtung gegen Platon Zugeständnisse macht und sich nicht, wie später, ausschließlich an der Sache orientiert.
3.3 Die Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Seiendheit
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ἀνθρώπῳ, γένος δὲ τοῦ εἴδους ἐστὶ τὸ ζῷον· δεύτεραι οὖν αὗται λέγονται οὐσίαι, οἷον ὅ τε ἄνθρωπος καὶ τὸ ζῷον.91 Zweite Seiendheiten aber werden die Formen genannt, in denen die Seiendheiten, die in erster Linie so genannt werden, vorliegen, außerdem die Gattungen dieser Formen; so liegt z. B. der bestimmte Mensch in einer Form, nämlich dem Menschen, vor, Gattung dieser Form aber ist das Lebewesen. Diese werden also nun zweite Seiendheiten genannt, wie z. B. der Mensch und das Lebewesen.
Wieder wird auf die Einteilung des Seienden im zweiten Kapitel Bezug genommen, diesmal jedoch nicht direkt durch Zitierung des entsprechenden Passus, sondern indirekt, denn die Perspektive ist hier in gewisser Weise umgekehrt, nämlich nicht von „oben nach unten“, wie man es nennen könnte, also von Form und Gattung aus auf die erste Seiendheit hinblickend, sondern von „unten nach oben“, also von der ersten Seiendheit aus auf Form und Gattung hinblickend; man könnte die erste auch ganz treffend logische, die zweite dagegen ontologische Perspektive nennen. Aristoteles geht hier also aus von der soeben eingeführten ersten Seiendheit. Diese ist immer etwas Bestimmtes, z. B. ist der einzelne Mensch etwas Bestimmtes, nämlich ein Mensch; wäre dem nicht so, könnte man auch sprachlich gar nicht allgemein auf die erste Seiendheit rekurrieren, sondern nur jeweils auf jedes einzeln durch einen Eigennamen. Diese Gestalten oder Formen (εἴδη), nach denen die ersten Seiendheiten benannt werden, bilden nun zusammen mit den Gattungen (γένη) dieser Formen die Gruppe der zweiten Seiendheiten. Daß diese zweiten Seiendheiten mit dem Seienden der ersten Seinsklasse identisch sind, also mit der Klasse von Seienden, die zwar von etwas ausgesagt werden, aber nicht in etwas sind, ergibt sich daraus unmittelbar, denn der Sachverhalt, daß eine erste Seiendheit in dieser oder jener Form vorliegt, wird sprachlich so expliziert, daß der Name der Form von der nach der Form benannten Seiendheit ausgesagt wird, analoges gilt für die Gattung. Wir sagen also, daß ein einzelner Mensch, z. B. Sokrates, ein Mensch ist, und meinen damit, daß Sokrates menschengestaltig ist. Daß die zweite Seiendheit von der ersten synonym ausgesagt wird, setzt Aristoteles daher auch im folgenden (ab 2a 19) als selbstverständlich voraus. Weil nun das, was der Grund des Seins eines Seienden ist, Seiendheit genannt wird, die Form und die Gattung aber den Grund für das spezifische Sein des Seienden benennen und mithin die erste Seiendheit so bestimmen, wie sie rein aufgrund ihrer selbst ist, darum werden sie von Aristoteles mit unter 2a 14–19.
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die Kategorie der Seiendheit gefaßt; diese Interpretation greift jedoch über die vorliegende Stelle weit hinaus und wird daher im folgenden erst noch genauer zu begründen sein. Auch auf die daraus zu ziehenden weitreichenden Konsequenzen werden wir an späterer Stelle noch ausführlich zu sprechen kommen.92
3.3.1.2 Das Verhältnis der verschiedenen Arten von Seiendheit zueinander und zum restlichen Seienden Wir haben soeben zwei Perspektiven unterschieden, aus welchen sich die Seiendheit betrachten läßt: die ontologische und die logische Perspektive. Da sich nun das Verhältnis zwischen der ersten und der zweiten Seiendheit am leichtesten aus der logischen Perspektive heraus und damit als solches zwischen Zugrundeliegendem und von diesem Ausgesagtem beschreiben läßt, führt Aristoteles in den folgenden Abschnitten (ab 2a 19) die weiteren Analysen hauptsächlich aus diesem Blickwinkel heraus durch, ohne dies weiter zu begründen, ja ohne diesen Perspektivwechsel überhaupt zu erwähnen. Obwohl die nachfolgenden Analysen also hauptsächlich aus der logischen Perspektive heraus angegangen werden, ist es keineswegs gerechtfertigt, die zweiten Seiendheiten als ausschließlich sprachliche oder kognitive Phänomene aufzufassen; sie sind vielmehr von fundamentaler Bedeutung auch in ontologischer Hinsicht, denn sie bezeichnen die Weise, in der das Seiende als je Einzelnes das ist, was es ist. Logische und ontologische Perspektive stehen also bei Aristoteles immer in einer engen Wechselbeziehung, die man als logisch-ontologischen Parallelismus bezeichnen könnte. Der zusammengesetzte λόγος ist nichts als die Explikation des zugrundeliegenden ὄν, das einfache ὄνομα dessen schlichte Vergegenwärtigung. Denn sowohl das Sagen als auch das Sein sind Weisen des Zeigens oder Offenbarmachens: der λόγος zeigt etwas anderes, das ὄν zeigt sich selbst. Für Aristoteles nämlich bedeutet, wie bereits festgestellt wurde, Sein immer zugleich sich zeigen, sich äußern; ein Seiendes, das sich nicht irgendwie äußert, ist nicht möglich.93 Es kann aber nur gezeigt werden, was sich zeigt, und 92 Siehe dazu vor allem das Resümee dieses Abschnitts, das die ontologischen Defizite der Kategorienschrift zusammenfaßt. 93 Siehe dazu die vorgeschaltete Untersuchung zum Seinsverständnis des Aristoteles. Daher erklären sich auch die Ausgedehnten zoologischen Untersuchungen des Aristoteles, in denen er versucht die charakteristischen Lebensäußerungen der Tiere zu erfassen, in diesen Äußerungen nämlich zeigt sich jeweils das Sein des Seienden.
3.3 Die Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Seiendheit
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das, was sich zeigt, auch nur, insofern es sich zeigt, und so, wie es sich zeigt. Dieser Parallelismus wird von ihm also an dieser Stelle als selbstverständlich vorausgesetzt. Dies ist auch der Grund dafür, daß er den an die erste, umrißhafte Darstellung der beiden Seiendheiten anschließenden Abschnitt mit folgenden, rein sprachphilosophisch anmutenden Erläuterungen beginnt, und den Zusammenhang mit der ontologischen Ebene scheinbar ganz außer Acht läßt. Er schreibt nämlich: φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρημένων ὅτι τῶν καθ᾿ ὑποκειμένου λεγομένων ἀναγκαῖον καὶ τοὔνομα καὶ τὸν λόγον κατηγορεῖσθαι τοῦ ὑποκειμένου·94 Aus dem Gesagten ist ersichtlich, daß bei allem, was von einem Zugrundeliegenden gesagt wird, sowohl der Name als auch der λόγος von dem Zugrundeliegenden ausgesagt wird.
Dieser Satz folgt unmittelbar auf die letzten beiden von mir zitierten Stellen und schließt ausdrücklich durch das φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρημένων an diese an, ja, stellt das soeben zitierte sogar als Folgerung aus dem zuvor gesagten dar. Dieser Anschluß wird aber nur unter Berücksichtigung des erwähnten logisch-ontologischen Parallelismus verständlich, denn wie wir gesehen haben, ist freilich unmittelbar zuvor in keinster Weise die Rede davon, daß irgendetwas von etwas anderem ausgesagt wird (λέγεσθαι/κατηγορεῖσθαι), sondern nur davon, daß die ersten Seiendheiten in Formen vorliegen (ὑπάρχουσιν), und daß diese zweite Seiendheiten sind. Beachtet man diesen Zusammenhang nicht, so ist man gezwungen, wie Ackrill eine andere Stelle innerhalb der Kapitel 1–4 zu finden, aus der sich diese Schlußfolgerung ergibt.95 Der Sprung in der Argumentation kann auf diese Weise jedoch nicht geschlossen werden, denn es bleibt weiterhin das Faktum bestehen, daß Form und Gattung zuerst in einer ontologischen Perspektive eingeführt und dann sogleich über sie Aussagen getroffen werden, die ausschließlich die Weise betreffen, wie sie sich im λόγος verhalten. Die einzige sinnvolle Erklärung für diesen Sprung in der Argumentation ist also die soeben gegebene, nämlich die, daß Aristoteles offenbar einen logisch-ontologischen Parallelismus, also eine strenge Entsprechung zwischen ontologischer und logischer Perspektive, als selbstverständlich voraussetzt. Nur so läßt sich verstehen, warum von dem Vorliegen der ersten Seiendheit in bestimm 2a 19–21. Vgl. Ackrill, a.a.O., S. 82.
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ten Formen, also von der Identität dieser ersten Seiendheiten mit den ihnen eigentümlichen Formen, unmittelbar zu der Behauptung übergegangen werden kann, daß diese Formen von den Seiendheiten auf identifizierende Weise ausgesagt werden. Aussagen wird eben von Aristoteles begriffen als Zeigen oder Offenbarmachen. Etwas auf identifizierende Weise aussagen, bedeutet daher, es als es selbst offenbar zu machen, und zwar dadurch, daß man die Form angibt, in der es vorliegt: Εἰκότως δὲ μετὰ τὰς πρώτας οὐσίας μόνα τῶν ἄλλων τὰ εἴδη καὶ τὰ γένη δεύτεραι οὐσίαι λέγονται· μόνα γὰρ δηλοῖ τὴν πρώτην οὐσίαν τῶν κατηγορουμένων·96 In geziemender Weise aber werden nach der ersten Seiendheit als einziges von dem anderen die Formen und die Gattungen zweite Seiendheiten genannt, denn als einziges von dem, was ausgesagt wird, machen sie die erste Seiendheit offenbar.
Die zweiten Seiendheiten werden also von der ersten Seiendheit ausgesagt, und zwar in identifizierender oder, in der frühen Terminologie des Aristoteles, in synonymer Weise; später spricht Aristoteles dann davon, daß etwas aufgrund seiner selbst (καθ᾿ ἁυτό) so oder so genannt wird. Das heißt nichts anderes, als daß sowohl der Name als auch der λόγος (τῆς οὐσίας) von dem Zugrundeliegenden, d. h. dem von der Aussage Offenbargemachten, ausgesagt wird. Der Name zeigt in der Weise der bloßen Vergegenwärtigung, der λόγος in der Weise der Explikation. Dies unterscheidet in logischer Perspektive die zweiten Seiendheiten von den Eigenschaften, die ontologisch betrachtet in dem Zugrundeliegenden sind. Denn die Eigenschaften werden zwar mitunter dem bloßen sprachlichen Ausdruck nach auch von dem Zugrundeliegenden ausgesagt, wie z. B. bei dem Guten, das sowohl die Eigenschaft als solche als auch einen einzelnen Träger dieser Eigenschaft meinen kann, jedoch nie in identifizierender Weise, sondern stets gleichsam paronym oder, nach der späteren Terminologie des Aristoteles, κατὰ συμβεβηκός; es wird also, wenn überhaupt, höchstens ihr Name, d. h. die stimmliche Verlautbarung, die das äußere Zeichen der schlichten Vergegenwärtigung ist, von dem Zugrundeliegenden ausgesagt, nicht jedoch die Definition (der λόγος), die den mit dem Namen bezeichneten Sachverhalt expliziert, indem es ihn in die genealogische Struktur des Seins einfügt und so die Struktur des Seienden selbst erhellt. Denn ein Zeichen kann doppeldeutig sein, nicht jedoch die Stelle, die ein Seiendes im Stammbaum des Seins einnimmt. 2b 29–31.
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Daß sie ohne grammatikalische Veränderung von einem als erste Seiendheit Zugrundeliegenden ausgesagt werden, ist also für Eigenschaften nicht charakteristisch, sondern tritt nur gelegentlich und dann auch nicht in eigentlicher, identifizierender Weise auf. Daher kann man zwei Arten unterscheiden, wie sich Seiendes auf die erste Seiendheit beziehen kann, und diese zwei Arten des Bezugs mit den zwei Arten des Seienden, das nicht erste Seiendheit ist, in Deckung bringen: entweder das Seiende ist eine Eigenschaft (inkl. deren Genealogie) und steht zur ersten Seiendheit im Verhältnis der Inhärenz, oder das Seiende ist eine Form oder eine Gattung und steht zur ersten Seiendheit im Verhältnis der Identität. Eine vierte Art von Seiendem, das keinen Bezug zur ersten Seiendheit hat, kann es nicht geben. Daraus folgt nach Aristoteles, daß jedes Seiende, das keine erste Seiendheit ist, von dieser abhängt in dem Sinne, daß sie erst durch die erste Seiendheit möglich wird: ὥστε μὴ οὐσῶν τῶν πρώτων οὐσιῶν ἀδύνατον τῶν ἄλλων τι εἶναι.97 Und so ist es unmöglich, daß, wenn nicht die ersten Seiendheiten sind, irgendetwas von dem anderen ist.
Warum folgt dies? Bei den Eigenschaften scheint die Antwort klar: ohne einen Träger, dem sie inhärieren, sind sie noch nicht einmal denkbar, denn der Träger geht in gewisser Weise mit in ihre Definition ein, wenn man hier überhaupt noch von Definition (ὁρισμός) sprechen will, da sie hinsichtlich ihres Trägers ja, soweit es nur die Eigenschaft selbst betrifft, immer unbestimmt bleiben muß, also auch keine bestimmte Grenze (ὁρος) angegeben werden kann.98 Der Träger aber muß in letzter Instanz eine einzelne Seiendheit, also eine erste Seiendheit sein, denn wenn die Farbe z. B. nicht in einem einzelnen Körper wäre, dann auch nicht im Körper allgemein.99 Denn der Körper im allgemeinen, von dem die Farbe nicht abtrennbar ist, ist nicht eines, sondern vieles, nämlich viele individuelle Seiendheiten, von deren Vielheit und Individualität zwar gerade abgesehen wird, die aber als unbestimmt individuelle dennoch zugrunde 2b 6b–c. Eine Farbe z. B. ist immer die Beschaffenheit einer Oberfläche eines Körpers, der Teil einer Seiendheit im ersten Sinne ist, und läßt sich auch nur als solche bestimmen; dabei muß aber unbestimmt bleiben, in welchem bestimmten Körper die Farbe ist, ansonsten würde man nicht die Farbe selbst ins Auge fassen, sondern einen gefärbten Körper. 99 Vgl. 2b 1–3: „… το χρῶμα ἐν σώματι, οὐκοῦν καὶ ἐν τινὶ σώματι· εἰ γὰρ μὴ ἐν τινὶ τῶν καθ᾿ ἕκαστα, οὐδὲ ἐν σώματι ὅλως …“. 97
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liegen müssen, da es sonst nichts gäbe, wovon das Allgemeine absehen könnte. Beim Verhältnis der Identität ist die Erklärung offensichtlich schwieriger, obwohl die Richtung der Erklärung durch das weiter oben Gesagte bereits weitgehend vorgezeichnet ist. Die zweiten Seiendheiten machen die Weisen offenbar, in denen die ersten Seiendheiten vorliegen, daher gibt es ohne offenbar zu machende erste auch keine zweite Seiendheit. Logisch gewendet heißt das, daß die Gattung (z. B. Lebewesen) über die Form (z. B. Mensch) ausgesagt wird, und damit zugleich auch über ein bestimmtes geformtes Einzelnes (z. B. einen bestimmten Menschen); würde sie nicht über das bestimmte Einzelne ausgesagt, das ja immer in einer bestimmten Form vorliegt, dann auch nicht über die Form im allgemeinen.100 Dennoch bleibt die Sache weiterhin ziemlich dunkel und bedarf einer eingehenderen Untersuchung. Wir wollen diese jedoch zunächst etwas zurückstellen und erst bei der Untersuchung der Ausführungen zum τόδε τι101 darauf zurückkommen, um dieses Rätsel in jenem Kontext so weit zu klären, wie es die Ontologie der Kategorienschrift zuläßt.102 Es ist jedoch sehr merkwürdig, daß Aristoteles den ontologischen Vorrang der ersten Seiendheit nicht streng beweist, sondern nur durch Beispiele verdeutlicht.103 Vielleicht ist also ein strenger Beweis von Aristoteles gar nicht intendiert und von ihm auch nicht zu erwarten. Durch die Einsicht, daß alles, was keine erste Seiendheit ist, entweder dadurch ist, daß es mit der ersten Seiendheit in gewisser Hinsicht identisch ist, weil es diese als es selbst offenbar macht, oder dadurch, daß es dem ersten Seienden inhäriert, ist freilich nicht nur die Frage, wie genau das Identitäts-, sondern auch die, wie das Inhärenzverhältnis zu denken ist, noch bei weitem nicht zureichend geklärt; Aristoteles ist es aber dadurch immerhin möglich, eine gewisse hierarchische Stufung des Seienden zu begründen.104 Eine solche Abstufung hinsichtlich der ontolo Vgl. 2a 35 – 2b 1. Vgl. 3b 10–23. 102 Siehe Abschnitt 3.3.2. 103 Vgl. 2a 35f: „τοῦτο δὲ φανερὸν ἐκ τῶν καθ᾿ ἕκαστα προχειριζομένων.“ 104 Eine wirkliche Klärung der Frage wird man in der Kategorienschrift vergeblich suchen, und zwar m.E. deshalb, weil hier Aristoteles noch nicht über die begrifflichen Mittel zu ihrer Beantwortung verfügte: was ihm für das Verständnis der Inhärenz von Eigenschaften vor allem fehlte war der Materiebegriff, das Verständnis der Identität von Form und Ding aber scheiterte sowohl daran als auch am unausgereiften Formbegriff selbst, denn mit Einführung der Materie wandelt sich zwangsläufig auch das Verständnis der Form. 100 101
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gischen Grundsätzlichkeit besteht nun aber nicht nur zwischen Eigenschaften, zweiten Seiendheiten und ersten Seiendheiten, sondern auch innerhalb der zweiten Seiendheiten, denn die Form (εἶδος) ist mehr Seiendheit als die Gattung (γένος). Den Maßstab für diese Hierarchisierung innerhalb der zweiten Seiendheiten bildet der Grad der Nähe zur ersten Seiendheit: die Form, so Aristoteles, stehe der ersten Seiendheit näher (ἔγγιον) als die Gattung, weil sie, wenn sie von der ersten Seiendheit ausgesagt wird, das, was die erste Seiendheit ist (τί ἐστι), so offenbar mache, daß man deutlicher erkennen könne, um was es sich dabei handelt (das, scheint mir, will der Ausdruck γνωριμώτερον besagen). Der entsprechende Abschnitt lautet wörtlich: Τῶν δὲ δευτέρων οὐσιῶν μᾶλλον οὐσία τὸ εἶδος τοῦ γένους· ἔγγιον γὰρ τῆς πρώτης οὐσίας ἐστίν. ἐὰν γὰρ ἀποδιδῷ τις τὴν πρώτην οὐσίαν τί ἐστι, γνωριμώτερον καὶ οἰκειότερον ἀποδώσει τὸ εἶδος ἀποδιδοὺς ἢ τὸ γένος· (2b 7–10) Von den zweiten Seiendheiten aber ist die Form mehr Seiendheit als die Gattung, denn sie ist der ersten Seiendheit näher. Wenn man nämlich hinsichtlich der ersten Seiendheit angibt, was sie ist, dann wird man es kenntlicher und spezifischer angeben, indem man die Form als indem man die Gattung angibt.
Der Form nämlich entspricht die vollständige Definition, der Gattung nur eine partielle. Letztere läßt hinsichtlich der Sache selbst immer noch etwas sprachlich einholbares unbestimmt, ersteres nicht, denn der Übergang von der Form zum Einzelnen ist nicht mehr durch einen λόγος (also eine definitorische Aussage) erfaßbar, d. h. die Definition der Form und des Einzelnen ist identisch: z. B. ist sowohl der einzelne Mensch als auch der Mensch überhaupt ein vernunftbegabtes Lebewesen.105 Also wird 105 Ob z. B. ein Mensch hier oder dort geboren ist, bedeutet keinen definitorischen Unterschied, der die Sache rein hinsichtlich ihrer selbst erhellt, weil ansonsten die vermeintliche Form dieses Menschen ein Element aufnehmen müßte, das auch anderen Lebewesen zukommen kann, nämlich in diesem Falle den Geburtsort: an jedem beliebigen Ort können nicht nur Menschen, sondern im Prinzip auch alle anderen Lebewesen geboren werden. Die definitorischen Unterschiede (διαφορά) aber sind für jede Abzweigung der Seinsgenealogie spezifisch und hinsichtlich der resultierenden Form (metaphysisch) notwendig (vgl. 1b 16–20). Der Geburtsort und alles andere, was einen bestimmten Menschen zu diesem bestimmten Menschen macht, ist dagegen (metaphysisch) zufällig (κατὰ συμβεβηκός) und nicht in dem Sinne notwendig (καθ᾿ αὑτό), wie das, was einen Menschen überhaupt zu einen Menschen macht. Ein Mensch nämlich bleibt ein Mensch, ob er nun hier oder dort geboren ist; wäre er aber aufgrund seiner selbst statt vernunftbegabt ausschließlich empfindungsfähig, oder statt zwei-, achtbeinig, könnte man unmöglich in Erwägung ziehen, daß er noch ein Mensch bliebe.
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man, wenn man die Form von etwas Einzelnem aussagt, dieses Einzelne so genau wie definitorisch möglich offenbar gemacht haben. Die Form ist also dem Einzelnen so nah, wie man einer Sache auf streng-logischem Wege, d. h. durch ein etwas als das, was es ist, offenbar machendes Sagen, nur kommen kann.106 Die Gattung dagegen läßt es unbestimmter und bleibt ihm damit sozusagen ferner. Die Aristotelische Seinshierarchie hat also folgende Stufen: Die Grundlage allen Seins und damit die Seiendheit schlechthin ist das je Einzelne. Diesem am nächsten kommt die Form, d. h. das Seiende, das der vollständig durchgeführten Definition (ὁρισμός) entspricht, weil dieses vollständiger Ausdruck aller logisch erfaßbaren Züge des Einzelnen ist. Daran wiederum schließt sich die Gattung an, worunter alle anderen Stufen des dihairetischen Definitionsprozesses fallen. Ganz unten in der Seinshierarchie und damit am weitesten vom Einzelnen entfernt findet sich die Eigenschaft, also alles Seiende, das unter eine der Kategorien mit Ausnahme der ersten fällt, wie z. B. Größe, Beschaffenheit, Ort usw.107 Diese Hierarchie setzt sich auch innerhalb der Gattungen fort, denn je allgemeiner eine Gattung ist, und je mehr Formen sie damit unter sich begreift, desto weiter ist sie damit von dem Einzelnen entfernt, und desto tiefer steht sie in der Seinshierarchie. Ganz unten in der Hierarchie der Gattungen steht folglich die Kategorie der Seiendheit selbst, denn sie umfaßt alles Einzelne, da jedes Einzelne eine Seiendheit ist. Der Kategorie in gewissem Sinne entgegengesetzt dagegen ist die Form, da sie logisch vollkommen bestimmt ist, die bloße Kategorie dagegen (fast) vollkommen unbestimmt.108 Da nun aber der Grad der Bestimmtheit die Seinshierarchie konstituiert, lassen sich die Formen selbst untereinander nicht mehr hierarchisch ordnen: 106 Alles andere, was man sonst noch von einem Einzelnen sagen könnte (Geburtsort, -zeit, Lieblingsessen usw.), hat hinsichtlich der Sache selbst nicht eine definitorische, etwas als etwas offenbar machende Funktion, sondern nur eine hinweisende und steht so zu diesem in einem gewissermaßen äußerlichen Verhältnis. 107 Dies führt zu der bereits erwähnten seltsamen Konsequenz, daß alles, was man angeben könnte, um ein Seiendes im grundlegendsten Sinne, also ein je Einzelnes, von etwas Gleichförmigem zu unterscheiden, von diesem in der Hierarchie des Seins am weitesten entfernt ist; siehe dazu die Zusammenfassung der Defizite der Ontologie der Kategorienschrift weiter unten. 108 Man kann nicht sagen, daß durch Subsumierung unter eine Kategorie ein Seiendes bestimmt würde, denn dann müßte das Seiende selbst eine Gattung sein, und das Sein eine einheitliche Bedeutung bei allem Seienden haben. Eine solche einheitliche Bedeutung von „Sein“ läßt sich aber nach Aristoteles nicht ausmachen.
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αὐτῶν δὲ τῶν εἰδῶν ὅσα μή ἐστι γένη, οὐδὲν μᾶλλον ἕτερον ἐτέρου οὐσία ἐστίν· οὐδὲν γὰρ οἰκειότερον ἀποδώσει κατὰ τοῦ τινὸς ἀνθρώπου τὸν ἄνθρωπον ἀποδιδοὺς ἢ κατὰ τοῦ τινὸς ἵππου τὸν ἵππον.109 Von den Formen selbst aber, die keine Gattungen sind110 , ist keine mehr Seiendheit als die andere, denn nichts Spezifischeres wird man angeben, wenn man bei dem einzelnen Menschen den Menschen angibt oder bei dem einzelnen Pferd das Pferd.
Dasselbe gilt für die ersten Seiendheiten, die jeweils einzelnen Menschen und die jeweils einzelnen Pferde; auch bei diesen ist nicht das eine mehr Seiendheit als das andere111, denn jedes ist jeweils das bestimmte Einzelne, das es ist. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß alle Formen und Einzelwesen in jeder Hinsicht auf gleicher Stufe stehen müssen, denn in einer anderen Hinsicht können die einen dennoch höher stehen, die anderen niedriger, nur eben nicht hinsichtlich des Grades ihres Seins. Und tatsächlich finden wir bei Aristoteles durchaus eine solche Hierarchie des Seienden. So erwähnt Aristoteles z. B. in der Schrift über die Seele eine Stufung der Seelen hinsichtlich der verschiedenen Seelenvermögen (δυνάμεις).112 Hier zeigt sich, daß die Behauptung, daß alles Einzelne und alle Formen jeweils in gleichem Grade Seiendheit sind, einer Hierarchisierung des Seienden in anderer Hinsicht keineswegs entgegensteht. Man könnte aber auch an die Abstufung Sterbliches – Unsterbliches – Unbewegter Beweger im Buch Λ der Metaphysik denken, die ja allesamt Formen und Einzelnes sind. Freilich wäre hier noch zu klären, in welcher von dem Grad der Seiendheit abweichenden Hinsicht genau das Seiende gestuft ist, was jedoch an dieser Stelle unterbleiben soll. Aristoteles hat also nun gezeigt, warum die erste Seiendheit, unter der in der Kategorienschrift immer ein bestimmtes Einzelnes verstanden wird, in entscheidender Weise und in erster Linie und vorzugsweise Seiendheit genannt wird, nämlich deshalb, weil sie, indem sie allem anderen Sein zugrunde liegt (ὑποκείσθαι), sozusagen die Bedingung der Möglichkeit für alles andere ist. Alles andere kann also nur dadurch sein, daß es, wie man Platon vom Kopf auf die Füße stellend sagen könnte, an der 2b 22–26. In gewisser Weise sind auch die Gattungen Formen, denn auch sie machen ja die charakteristische Gestalt eines Dinges offenbar; allerdings machen nur die Formen die Form eines Dinges vollkommen offenbar, so daß sie Formen im eigentlichsten Sinne sind. 111 Vgl. 2b 26–28. 112 Vgl. De an. Β 2, 414a 29 ff. 109 110
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ersten Seiendheit „teilhat“. Nun darf man aber deshalb, weil die erste Seiendheit vor allem anderen Seienden so ausgezeichnet wurde, nicht daran zweifeln, ob denn auch Form und Gattung zu Recht diese selbe Bezeichnung tragen, eine Bezeichnung, die ja eine gewisse Begründungsleistung für das Sein als Ganzes beansprucht. Denn, wie wir bereits weiter oben ausgeführt haben, besteht zwischen Form und Gattung auf der einen und den ersten Seiendheiten auf der anderen Seite das Verhältnis einer eingeschränkten Identität. Form und Gattung machen das Einzelne hinsichtlich dessen, was es an sich selbst und aufgrund seiner selbst ist (καθ᾿ αὑτό), offenbar: μόνα γὰρ δηλοῖ τὴν πρώτην οὐσίαν τῶν κατηγορουμένων.113 Ein Mensch ist nicht dadurch ein Mensch, daß noch etwas Anderes mithinzukäme, z. B. die Idee des Menschen, die dann im Menschen anwesend aber nicht mit diesem identisch wäre, sondern durch die Menschenhaftigkeit, die ihm selbst zukommt, insofern er nichts anderes als er selbst ist. Ein Seiendes, das erst durch ein anderes zu dem würde, was es ist, und das mithin selbst als ein In-Wirklichkeit-Seiendes ganz unbestimmt wäre, das also ein Seiendes schlechthin oder reine, vollkommen unbestimmte Materie wäre, ein solches Seiendes kann es nach Aristoteles nicht geben, weil alles, was in Wirklichkeit ist, immer etwas Bestimmtes ist. Daher sind auch Form und Gattung nicht in einem Seienden, was sie mit der ersten Seiendheit gemeinsam haben.114 Alles andere aber ist in den entsprechenden Seiendheiten, und zwar in den zweiten nicht weniger als in den ersten, denn jede erste Seiendheit hat ihren Ort in der Seinsgenealogie, d. h. sie ist hinsichtlich ihres Seins nach Form und Gattung bestimmt.115 Andererseits ist diese Identität aber auch eingeschränkt, denn das Einzelne ist durch die Form nicht völlig bestimmt, es bleibt ein logisch unbestimmbarer Rest, der das Einzelne zu eben dem Einzelnen macht, das es ist. Nur hinweisend, z. B. durch Angabe charakteristischer Eigenschaften oder durch darauf zeigen mit dem Finger, kann das Einzelne weiter bestimmt werden, nicht jedoch logisch hinsichtlich dessen, was es aufgrund seiner selbst ist. Dies ist der Grund, warum die Form vom Einzelnen unterschieden und von ihm ausgesagt werden kann, ohne daß sich eine Tautologie ergäbe.116 Welcher Art jedoch dieser Rest ist, der das Einzelne zu einem Einzelnen macht, diese Frage wird in der Kategorien Cat. 5, 2b 30 f. Vgl. 3a 7 ff. 115 Vgl. 3a 1 ff. 116 „Sokrates ist ein Mensch“ ist keine Tautologie, denn hier wird die Identität von 113 114
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schrift gar nicht gestellt und dann freilich auch noch viel weniger beantwortet. Daß Aristoteles dieses Problem gar nicht bemerkt hat, wäre zwar möglich, aber auch ziemlich unwahrscheinlich, es liegt ja doch zu sehr am Tage. Mir zumindest scheint es wahrscheinlicher, daß Aristoteles, diese Frage bewußt ausklammerte, weil er sie noch nicht lösen konnte. So oder so bleibt aber in den Erörterungen der Seiendheit eine sehr, sehr große Lücke, die sich auch mit größter interpretatorischer Mühe durch kein anderes Theoriestück der Kategorienschrift stopfen läßt. Diese Lücke läßt sich in der Frage zusammenfassen: Worin genau unterscheiden sich das Einzelne und seine Form? Wie sich hier also bereits andeutet, hat die Ontologie der Kategorienschrift eine bemerkenswerte und verwirrende Eigentümlichkeit. Denn es scheint beinahe so, als ob die Charakteristika der Seiendheit, nämlich Individualität und Unabhängigkeit117, sozusagen auf zwei verschiedene Seiende verteilt seien. In entscheidender Weise individuell nämlich, im Sinne von unteilbar, ist der bestimmte Mensch und das bestimmte Pferd, denn nur diese können nicht weiter unterteilt werden. In entscheidender Weise unabhängig scheinen dagegen nur die Form und die Gattung zu sein, denn man kann sich doch des Eindrucks nicht erwehren, daß das Einzelne irgendwie hinsichtlich seiner Bestimmtheit von anderem Seienden, nämlich seinen Eigenschaften, abhängig ist, zumindest was seine Erkennbarkeit betrifft. Form und Gattung dagegen können ohne Rückgriff auf ein anderes Seiendes definiert werden, die Form sogar vollständig, so daß kein Rest an logischer Unbestimmtheit bleibt. Definieren aber heißt, das Sein eines Seienden, insofern es nur aufgrund seiner selbst ist, offenbar zu machen. Also macht die Definition der Form ein Seiendes soweit offenbar, wie es ohne Bezug auf ein anderes überhaupt nur offenbar gemacht werden kann. Gemäß dem logisch-ontologischen Parallelismus würde daraus folgen, daß die Form all das in sich versammelt, was ein Seiendes unabhängig von anderem und damit nur aufgrund seiner selbst (καθ᾿ αὑτό) ist. Wir wollen jedoch diese Problematik zunächst Unterscheidbarem behauptet. Dagegen wäre „Sokrates ist Sokrates“ durchaus eine, weil sich Sokrates von Sokrates nicht unterscheiden läßt 117 Die Individualität der Seiendheit, die darin besteht, daß sie unteilbar und der Anzahl nach eines ist (ἄτομα καὶ ἓν ἀριθμῷ; 1b 6f), kommt darin zum Ausdruck, daß sie von nichts anderem ausgesagt wird, ihre Unabhängigkeit dagegen darin, daß sie nicht in etwas ist, d. h. unabhängig von anderem es selbst sein kann (χωρὶς εἶναι; 1a 25), also nichts anderes als die eigene Seinsgenealogie in die Bestimmung dessen, was sie ist, d. h. in ihre Definition miteingeht.
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etwas zurückstellen und mit der Untersuchung des fünften Kapitels weiter fortfahren. An die Erörterungen der drei Seiendheiten, nämlich Gattung, Form und Einzelnes, schließen sich kurze Ausführungen zu den διαφοραί, den Unterschieden, (3a 21–28) und den μέρη τῶν οὐσιῶν, den realen Teilen der Seiendheit, (3a 29–32) an. Diese Ausführungen sind sehr bemerkenswert und verdienen es genauer betrachtet zu werden.
3.3.1.3 Das Verhältnis der Seiendheit zum Unterschied ( διαφορά ) Der Unterschied ist ein Teil der Definition (ὁρισμός). Die Definition nämlich geht nach der Topik aus einer Gattung und Unterschieden (hier im Plural!) hervor: „… ὁ ὁρισμὸς ἐκ γένους καὶ διαφορῶν ἐστίν.“118 Die Unterschiede sind das die Seinsgenealogie ausdifferenzierende Element, denn dadurch, daß sie in einer Definition eine Gattung genauer bestimmen (z. B. zweibeiniges Lebewesen), bestimmen sie entweder eine unter die Gattung subsumierbare andere, spezifischere Gattung oder die Form, in der der Definitionsprozeß (διαίρεσις) zum Abschluß kommt. In einer Definition aber wird, um es noch einmal zu sagen, die Seiendheit als das offenbar gemacht, was sie ausschließlich aufgrund ihrer selbst ist. Der Unterschied hängt also auf das Engste mit der Seiendheit zusammen. Dies drückt sich auch darin aus, daß der Unterschied ebenso wie die Seiendheiten nicht in etwas ist, sondern von etwas identifizierend ausgesagt wird: οὐκ ἴδιον δὲ οὐσίας τοῦτο, ἀλλὰ καὶ ἡ διαφορὰ τῶν μὴ ἐν ὑποκειμένῳ ἐστίν·119 Dies ist aber keine Eigentümlichkeit der Seiendheit, vielmehr gehört auch der Unterschied zu dem, was in keinem Zugrundeliegenden ist.
Das wiederum bedeutet, daß nicht nur der Unterschied selbst, d. h. sein Name, sondern auch der λόγος τῆς διαφορᾶς, also die Definition des Unterschieds, von dem Zugrundeliegenden ausgesagt wird: καὶ ὁ λόγος δὲ κατηγορεῖται ὁ τῆς διαφορᾶς καθ᾿ οὗ ἂν λέγηται ἡ διαφορά·120 Auch die Definition des Unterschieds aber wird von dem ausgesagt, wovon der Unterschied ausgesagt wird.
Top. A 8, 103b 15 f. Cat. 5, 3a 21 f. 120 3a 25 f. 118 119
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Die Frage, was unter der Definition eines Unterschieds im Kontext der Kategorienschrift genau zu verstehen ist, ist sehr schwierig zu beantworten. Es läßt sich jedoch ohne weiteres vor allem eine interessante Feststellungen treffen. So fällt auf, daß mit einer Ausnahme alle Beispiele, die Aristoteles für definitorische Unterschiede bringt, auf Teile der Seiendheit verweisen. In den sich mit dem Unterschied befassenden Abschnitten Cat. 3, 1b 16–24 und Cat. 5, 3a 21–28 werden nämlich folgende Beispiele genannt: befußt (πεζόν), geflügelt (πτηνόν), im Wasser lebend (ἔνυδρον) und zweifüßig (δίπουν). Einzig „im Wasser lebend“ scheint hier nicht eindeutig auf Teile der entsprechenden Seiendheit zu verweisen. Vielleicht aber trügt auch dieser Eindruck, denn was im Wasser lebt, muß einen dafür entsprechend ausgestatteten Körper haben, z. B. einen mit Flossen ausgestatteten. Aber auch, wenn dem nicht so ist, bleibt es doch höchst bedenkenswert, daß hier überhaupt und sogar überwiegend auf die Teile der Seiendheit verwiesen wird. Dies ergibt sich offenbar daraus, daß der Gegenstand der Definition der ganze Mensch ist und dieser als solcher auch Teile hat, die daher auch in die Definition mit eingehen müssen; wir kommen darauf weiter unten, wenn wir uns den Teilen der Seiendheit zuwenden, noch einmal etwas ausführlicher zu sprechen. Daneben erhebt sich aber noch eine andere Frage, die mit dem oben Gesagten freilich sehr eng zusammenhängt: Wenn sowohl der Name als auch der λόγος von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, dann handelte es sich bisher stets um eine synonyme Aussage, die dadurch, daß sie ein zugrundeliegendes Seiendes mit einem anderen, allgemeineren Seienden teilweise identifiziert, weshalb sie von uns auch identifizierende Aussage genannt wurde, das Sein dieses zugrundeliegenden Seienden expliziert; daher wird ein Seiendes, das auf eine solche Weise von einer ersten Seiendheit ausgesagt werden kann, ebenfalls als Seiendheit bezeichnet. Kann dasselbe auch in Bezug auf den Unterschied gesagt werden und ist also auch der Unterschied eine Seiendheit? In der Kategorienschrift, zumindest im fünften Kapitel derselben, schließt Aristoteles es noch aus, den Unterschied mit zur Seiendheit zu rechnen, was daran ersichtlich ist, daß er Seiendheit und Unterschied im vorletzten Zitat als zwei unterschiedliche Dinge behandelt; nichtsdestoweniger wird der Unterschied auf identifizierende Weise von der zugrundeliegenden Seiendheit ausgesagt:
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Ὑπάρχει δὲ ταῖς οὐσίαις καὶ ταῖς διαφοραῖς τὸ πάντα συνωνύμως ἀπ᾿ αὐτῶν λέγεσθαι·121 Die Seiendheiten aber und die Unterschiede haben die Eigenschaft, daß alles unter ihnen auf synonyme Weise ausgesagt wird.122
Der Unterschied wird also zwar auf identifizierende Weise von einer Seiendheit ausgesagt, jedoch ohne selbst mit zu den Seiendheiten zu zählen. Eine Erklärung dafür aber bleibt uns Aristoteles schuldig. Da er seine Ansicht zu diesem Punkt zudem späterhin wesentlich änderte, ja eine Kehrtwende vollzog – er setzt bekanntlich in der Metaphysik den letzten Unterschied mit der Form gleich123 –, liegt die Vermutung zumindest nahe, daß ebenso wie das Verhältnis von Form und Einzelnem auch das Verhältnis von Unterschied und Seiendheit für Aristoteles selbst in der Kategorienschrift noch sehr undeutlich war, und er den Unterschied sozusagen vorsichtshalber noch von der Seiendheit unterscheidet, obwohl er an einer anderen Stelle in derselben Schrift bereits Form und Unterschied zumindest in eine große Nähe rückt.124 Dieses Schwanken zeigt die Unsicherheit, mit der Aristoteles zur Abfassungszeit der Kategorienschrift dem definitorischen Unterschied gegenüberstand.
3.3.1.4 Das Verhältnis der Seiendheit zu ihren realen Teilen Während der Unterschied, wie wir gesehen haben, in der Kategorienschrift, zumindest im fünften Kapitel derselben, nicht zu den Seiendheiten zählt, gilt dies für eine andere Art von Seienden, auf die, wie wir gesehen haben, der Unterschied zumindest teilweise verweist, sehr wohl, nämlich für die Teile der Seiendheiten. Diese streift Aristoteles in dem kurzen Absatz, der ihnen in der Kategorienschrift gewidmet ist, aller 3a 33 f. Bei dem τὸ πάντα συνωνύμως ἀπ᾿ αὐτῶν λέγεσθαι muß das ἀπ᾿ αὐτῶν auf das πάντα bezogen und ähnlich einem bloßen Genitiv übersetzt werden, denn es gibt einen Bereich an, aus dem etwas herausgegriffen wird. Ziemlich gewaltsam ist es dagegen, das πάντα ἀπ᾿ αὐτῶν mit „alle von ihnen abgeleiteten Prädikate“ zu übersetzen, wie es Klaus Oehler, a.a.O., S. 13 tut, denn erstens ist von Ableitung hier überhaupt keine Rede, und zweitens werden nach Aristoteles, wie nur einige Zeilen weiter unten deutlich wird, eindeutig Gattung, Form und Unterschied selbst prädiziert und nicht von ihnen abgeleitete Prädikate (vgl. 3a 37ff); ausgesagt wird eben das Seiende selbst, denn Aussagen ist ein (freilich durch die Sprache vermitteltes) Offenbar- und Sichtbarmachen des Seienden selbst. 123 Vgl. Met. Z 12, 1037b 8 – 1038a 35. 124 Vgl. Cat. 13, 15a 4–7. 121
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dings nur und erörtert sie nicht wirklich. Dieser Absatz ist so kurz, daß wir ihn hier vollständig zitieren können. Er lautet: μὴ ταραττέτω δὲ ἡμᾶς τὰ μέρη τῶν οὐσιῶν ὡς ἐν ὑποκειμένοις ὄντα τοῖς ὅλοις, μή ποτε ἀναγκασθῶμεν οὐκ οὐσίας αὐτὰ φάσκειν εἶναι· οὐ γὰρ οὕτω τὰ ἐν ὑποκειμένῳ ἐλέγετο τὰ ὡς μέρη ὑπάρχοντα ἔν τινι.125 Die Teile der Seiendheiten aber sollen uns nicht verwirren, als ob sie in Zugrundeliegenden seien, nämlichen den Ganzheiten; niemals sollen wir genötigt sein zu behaupten, daß sie keine Seiendheiten seien. Denn nicht so wurde das, was in einem Zugrundeliegenden ist, bezeichnet, als etwas, das als Teil in etwas vorliegt.126
Daß es sich, wenn in der Kategorienschrift von Teilen die Rede ist, nicht um die Teile der Definition handelt, wurde bereits geklärt. Es wird aber auch aus erwähntem Gegensatz klar: der Unterschied, der mit zu den Teilen der Definition zählt, ist (zumindest in der Kategorienschrift) eben keine Seiendheit, wenn er auch offenbar zumindest teilweise auf diese verweist. Was hier also gemeint ist, sind Teile einer Seiendheit wie Hand, Kopf, Seele.127 Warum aber können diese Teile hier, wie von Aristoteles Cat. 5, 3a 29–32. Das ὡς in der Partizipialkonstruktion ὡς ἐν ὑποκειμένοις ὄντα τοῖς ὅλοις muß auf das Partizip ὄντα bezogen werden und zeigt an, daß der Grund für die mögliche Verwirrung in einer bloßen (irrigen) Meinung zu suchen ist. Wird dies nicht beachtet und stattdessen das ὡς auf ἐν ὑποκειμένοις bezogen oder ganz ignoriert, wie z. B. bei Oehler (vgl. a.a.O., S. 12) oder Ackrill (vgl. a.a.O., S. 9), dann unterstellt man an dieser Stelle Aristoteles die Behauptung, daß die Teile der Seiendheit in einem Zugrundeliegenden seien, was der Bestimmung des In-einem-Zugrundeliegenden-Seins in Kapitel 2 (1a 24f) diametral entgegengesetzt wäre. Zwar sind auch die Teile in etwas, aber nicht in etwas als einem Zugrundeliegenden. Darauf wird im folgenden noch einmal etwas genauer einzugehen sein. 127 Daß Aristoteles zur Zeit der Abfassung der Kategorienschrift auch die Seele zu den realen Teilen zählte, läßt sich zwar der Kategorienschrift nicht unmittelbar entnehmen, es gibt dafür jedoch Indizien. So wird zum einen, wie um den Unterschied deutlich zu machen zwischen dem, was als Teil in etwas ist, und dem, was in etwas als seinem Zugrundeliegenden ist, in Kapitel 2 (1a 25–29) das bestimmte Grammatikwissen in der Seele verortet, die bestimmte weiße Farbe im Körper. Zum anderen fände die Seele, wenn sie kein realer Teil wäre, überhaupt keinen Platz in der Ontologie der Kategorienschrift, die Form des Menschen nämlich, wie in den späteren Schriften, ist sie in der Kategorienschrift eindeutig nicht, denn dann könnte die Form nicht, wie in der Kategorienschrift behauptet, von dem Einzelnen identifizierend ausgesagt werden: der Satz „Dieser bestimmte Mensch ist, insofern er dieser bestimmte Mensch ist, eine Seele“ ist schlicht falsch. Dem scheint zu widersprechen, daß Aristoteles einen bestimmten Mensch, z. B. Sokrates, durchaus in seiner reifen Ontologie in gewisser Weise mit der Seele gleichsetzt (vgl. Met. Z 11, 1037a 5–10). Er 125 126
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befürchtet, Verwirrung stiften? Aristoteles hat es kurz zuvor als Charakteristikum der Seiendheit bezeichnet, nicht in einem Zugrundeliegenden zu sein. Die Teile eines Lebewesens können nun in diesem Zusammenhang deshalb zu Mißverständnissen Anlaß geben, weil sie scheinbar in einem Zugrundeliegenden sind; das Ganze, z. B. der Mensch als Ganzes, könnte als solch ein Zugrundeliegendes für die Teile, z. B. den Kopf, erscheinen. Ein Zugrundeliegendes ist aber ontologisch früher als das, was in diesem Zugrundeliegenden ist, und läßt sich unabhängig von diesem definieren. Da aber in der Kategorienschrift die Form ein Allgemeines ist, müßte man also, wenn die Teile im Ganzen wie in einem Zugrundeliegenden wären, den Menschen als Ganzes definieren können, ohne auf seinen Körper oder seine Seele zu rekurrieren. Das aber ist unmöglich, da eine Definition immer eine Seiendheit von einer anderen unterscheiden können muß, eine leere Ganzheit sich aber von einer anderen leeren Ganzheit in nichts unterscheidet. Ein Mensch minus Menschen-Körper und Menschen-Seele unterscheidet sich in nichts von einem Rind minus Rinder-Körper und Rinder-Seele: beides sind nur abstrakte, leere Einheiten. Für Aristoteles ist ein Seiendes aber immer ein auf eine bestimmte Art Seiendes, und nur insofern es bestimmt ist, ist es überhaupt. Also können die Teile eines Lebewesens nicht nur im Ganzen als ihrem Zugrundeliegenden inhärieren, sondern müssen mit diesem enger verbunden sein und sogar auf gewisse Weise mit in die Definition eingehen. Gibt man nämlich beim Menschen als Unterschied πεζόν (sich mittels Füßen fortbewegend) an128 , dann verweist man, wie bereits gesagt wurde, auf seine Füße und grenzt ihn ab von Lebewesen, die sich mit Hilfe von Flossen oder Flügeln fortbewegen. Die Seiendheit ist also nicht nur das jeweils Ganze abgetrennt von dessen Teilen, sondern das Ganze zusammen mit seinen Teilen, denn nur dieses kann definiert werden. Wie genau aber ein Fuß gestaltet ist, ob für ihn Schuhe in Größe 37 oder 42 passend sind, das geht freilich nicht in die Definition mit ein, denn es bestimmt nicht die Form, sondern das jeweils Einzelne. Die Größe ist nämlich kein Teil des Menschen, sondern – ebenso wie seine Farbe oder sein Wissen – etwas, das diesem als einem Zugrundeliegenden inhäriert; es gehört daher auch nicht zur Seiendheit, sondern bildet eine eigene Kategorie des Seienden. Die Teile sind also zwar gewistut dies jedoch nicht so, daß er die Seele von dem Menschen identifizierend aussagt. Weiter unten werden wir darauf genauer eingehen. 128 Vgl. Cat. 5, 3a 21 ff.
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sermaßen in dem Ganzen, aber so, daß sie dieses Ganze wesentlich bestimmen, und das bedeutet, daß das Ganze nicht ontologisch früher sein kann als seine Teile. Das Zugrundeliegende dagegen ist ontologisch früher als das, dem es zugrunde liegt. Es bleibt hier natürlich wieder die Merkwürdigkeit der Kategorienschrift: Das je Einzelne ist zwar mehr Seiendheit als die Form, weil es unteilbar und der Anzahl nach eines, die Form dagegen teilbar und der Anzahl nach vieles ist; es ist aber zugleich nur faktisch, zufällig und nicht logisch und definitorisch bestimmt, d. h. das Seiende im grundlegendsten Sinne wird zu dem, was es ist, erst durch Seiendes, dem es eigentlich bereits zugrunde liegen müßte. Es könnte vielleicht als ein Ausweg erscheinen, ein irrationales Substrat anzunehmen, das jedes Einzelne zu dem macht, was es ist, ohne daß der Unterschied angebbar wäre. Aber einen Unterschied anzunehmen, der uns vollkommen unerkennbar wäre, gliche doch schon sehr einer argumentativ unausweisbaren Ad-hoc-Hypothese; denn wenn der Unterschied unerkennbar ist, woher weiß man dann, daß er überhaupt besteht?
3.3.2 Die Seiendheit als τόδε τι und ποιόν τι Nachdem bereits des öfteren im Verlaufe des fünften Kapitel auf das Verhältnis von erster und zweiter Seiendheit eingegangen wurde, wird dieses im Abschnitt 3b 10–23, dem wir uns nun zuwenden wollen, erneut aufgegriffen und zu der größten im Rahmen der Kategorienschrift möglichen Klarheit gebracht. Vor allem muß Aristoteles daran liegen, zu klären, warum das je Einzelne seiner Ansicht nach am meisten Seiendheit ist, Form und Gattung dagegen von diesem abhängen und daher Seiendheit nur in zweiter Linie sind. Denn sein Lehrer Platon vertrat ja bekanntlich die ganz entgegengesetzte Ansicht: gerade das sei in entscheidendster Weise Seiendheit, war Platon überzeugt, was dem je Einzelnen, insofern dieses dem Werden und Vergehen unterworfen ist, als Allgemeines gegenübersteht, nämlich die Ideen; diese seien der Grund des Seins für alles Seiende, also das, worin die Seiendheit alles Seienden gründet. Aus der immensen Bedeutung, die Platon bereits zu Lebzeiten und zumal in der Akademie zukam, kann man nun wohl ohne weiteres schließen, daß jede Äußerung des Aristoteles zum Status der Seiendheit immer und unausweichlich auch die Form einer Auseinandersetzung mit Platon annehmen mußte, selbst wenn dies wie im vorliegenden Ab-
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schnitt nicht explizit gemacht wird. Wir wollen also denn auch den gegenwärtig zu behandelnden Abschnitt als ein solche Auseinandersetzung betrachten.
3.3.2.1 Ein trügerischer Schein bezüglich der Seiendheit Der erste Satz des Abschnitts konstatiert zunächst das Bestehen einer gewissen Plausibilität bezüglich einer von ihm nachfolgend widerlegten Ansicht. Dadurch freilich, daß er sie als eine bloße Plausibilität einräumt, wird sie zugleich auch schon diskreditiert. Soviel läßt sich im Hinblick auf den ersten Satz des Abschnitts ohne weiteres sagen. Um welche Ansicht es sich jedoch genau handelt, die hier zugleich eingeräumt und diskreditiert wird, ist allerdings schon viel schwieriger herauszufinden. Dieser erste Satz des Abschnitts bereitet nämlich dem um ein Verständnis bemühten Leser einige Probleme, die es im folgenden zu lösen gilt. Doch sehen wird uns zunächst den betreffenden Satz selbst an, er lautet: Πᾶσα δὲ οὐσία δοκεῖ τόδε τι σημαίνειν.129
Wir lassen diesen Satz zunächst unübersetzt, um uns einer Übersetzung im folgenden erst langsam dadurch anzunähern, daß wir nach und nach die einzelnen Bestandteile des Satzes zu klären versuchen.
a) Τόδε τι Dreh- und Angelpunkt dieses Satzes wie überhaupt der ganzen folgen den Ausführungen ist dabei der zunächst rätselhafte Ausdruck τόδε τι. „Dieser Terminus gehört“, wie Ernst Vollrath zu recht bemerkt, „zu den am schwierigsten deutbaren im ganzen Werk des Aristoteles.“130 Hinsichtlich dieses Ausdrucks sind wir nämlich (wie im übrigen auch hinsichtlich anderer grundlegender Ausdrücke des Aristoteles) in der mißlichen Lage, daß er von Aristoteles selbst innerhalb seines gesamten überlieferten Werks nicht erläutert, sondern stets als bereits bekannt und klar vorausgesetzt wird. Wie einige andere gehört er obendrein auch noch zu den Wendungen, die wohl eine eigenständige Begriffsprägung des Aristoteles darstellen; somit kann auch zum Zwecke der Klärung Cat. 5, 3b 10. Ernst Vollrath: „Aristoteles: Das Problem der Substanz“, in: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, hrsg. v. Josef Speck, Göttingen 41990, S. 78–122, S. 98. 129 130
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nicht auf Parallelstellen bei anderen Autoren zurückgegriffen werden. Wir müssen also versuchen, die Wendung rein aus den Kontexten heraus, in denen sie erscheint, zu interpretieren. Hinzu kommt aber auch eine weitere grundlegende Schwierigkeit. Die Wendung ist nämlich bereits hinsichtlich des grammatikalischen Zusammenhangs zwischen seinen beiden Bestandteilen (also dem τόδε und dem τι) unklar, und daher bereits die grundlegendste Übersetzung entsprechend umstritten.131 Bei genauerem Hinsehen jedoch wird die Sache wieder etwas weniger verworren. Denn auch wenn die verschiedenen bisher gemachten Übersetzungsvorschläge weit auseinandergehen, so gibt es prinzipiell doch nur zwei Möglichkeiten das τόδε mit dem τι zu verbinden: entweder das erste bestimmt das zweite genauer oder umgekehrt, d. h. entweder das eine wird als substantiviert gedacht oder das andere. Also kann man diesen Ausdruck im großen und ganzen entweder übersetzen mit „dies Etwas da“ oder mit „irgendein/ein gewisses/ein bestimmtes τόδε“, wobei bei der zweiten Möglichkeit das τόδε zunächst auch weiterhin noch unübersetzt bleiben soll.132 Daraus ergeben sich für erwähnten Satz zwei prinzipielle Übersetzungsvarianten: 1) Jede Seiendheit aber scheint dies etwas da zu bezeichnen. 2) Jede Seiendheit aber scheint irgendein/ein gewisses/ein bestimmtes τόδε zu bezeichnen. Die erste Variante scheint allerdings zu implizieren, daß Aristoteles, während er auf irgendetwas zeigt, behauptet, dieses, auf das er zeigt, 131 Die Übersetzung des Ausdrucks z. B., die Vollrath ohne weitere Begründung vorschlägt, (τόδε τι bedeute, so Vollrath, „Gerade-Dies“; vgl. ebenda) läßt sich m.E. nicht wirklich mit dem Griechischen in Einklang bringen. Beliebt ist auch die Übersetzung „Dieses“ bzw. „Dieses-da“, die sich sowohl in der Reclam- als auch der Meiner-Ausgabe findet; das Problem hierbei ist jedoch, daß sie einen Bestandteil des Ausdrucks, nämlich das τι, nicht angemessen berücksichtigt. Vgl. Ingo W. Rath (Hrsg./Übers.): Aristoteles, Die Kategorien. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 1998, S. 21 und Eugen Rolfes (Übers.): Aristoteles, Kategorien u.a., Hamburg 1995 (Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 1), S. 7. Andere wie z. B. Frede und Patzig in ihrer Übersetzung von Met. Z (vgl. z. B. a.a.O., S. 61) übersetzen den Ausdruck nicht im eigentlichen Sinne, sondern ersetzen ihn vielmehr durch einen anderen, nämlich im erwähnten Fall durch „Dieses von der Art“. Auch dieses Vorgehen scheint mir problematisch. 132 Eine Auseinandersetzung mit anderen, zum Teil auch ziemlich abenteuerlichen Übersetzungsvarianten ist hier nicht beabsichtigt. Mir scheint aber, daß in jedem anderen Fall als den beiden von mir genannten das in einer Übersetzung zu tolerierende Ausmaß an Willkür immer mehr oder weniger deutlich überschritten werden muß.
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werde durch jedes Seiende bezeichnet. Einen solchen Unsinn wird jedoch Aristoteles wohl eher nicht behauptet haben. Man ist daher geneigt, die Übersetzung etwas abzuwandeln, indem man den Ausdruck „dies etwas da“ substantiviert: 1a) Jede Seiendheit aber scheint ein Dies-etwas-da zu bezeichnen. Da das Griechische keinen unbestimmten Artikel kennt und dazu tendiert, alles Mögliche zu substantivieren, scheint dies zunächst durchaus denkbar. Jedoch drückt das τις/τι, zumal wenn es substantivisch verwendet wird, eher Unbestimmtheit aus, obwohl es freilich, wie in der Wendung ὁ τὶς ἄνθρωπος133 („der gewisse/bestimmte Mensch“), auch Bestimmtheit zum Ausdruck bringen kann, allerdings sozusagen in der Form einer unbestimmten Bestimmtheit, so als sagte man: „ich brauche den Menschen nicht zu nennen und kann ihn unbestimmt lassen, denn wir wissen ja aus dem Kontext, um wen es sich handelt“; Aristoteles will durch das τις in ὁ τὶς ἄνθρωπος nämlich zum Ausdruck bringen, daß es sich zwar um einen bestimmten Menschen handelt, dieser aber hinsichtlich seiner Bestimmtheit unbestimmt bleibt. Das paßt aber gar nicht mit der deiktischen Funktion zusammen, die dem τόδε als Demonstrativpronomen zukommt. Mit τόδε wird nämlich im Gegensatz zum τοῦτο meist auf etwas noch Unbekanntes aber unmittelbar Vorliegendes verwiesen; das τοῦτο dagegen verweist meist auf etwas schon Bekanntes. Mit dem τόδε wird also in der Regel etwas Neues eingeführt, das nicht schon Teil des Kontextes ist, daher läßt es das, worauf es sich bezieht, gerade nicht unbestimmt, ja noch nicht einmal eine fiktive Unbestimmtheit (nach dem Motto: „ihr wißt schon, was ich meine“), wie sie in Verbindung mit einem τοῦτο noch denkbar wäre, läßt es zu, denn diese setzt den Bezug zu einem Kontext voraus. Aber vielleicht, so könnte man einwenden, ging es Aristoteles hier gerade um die logische Unbestimmtheit im Gegensatz zur körperlich-räumlichen Bestimmtheit, denn dadurch, daß ich auf etwas mit dem Finger zeige, habe ich es ja noch in keinster Weise als es selbst offenbar gemacht. Das, worauf ich zeige, denn das τόδε ist ja gleichsam ein sprachlicher Ausdruck für den Akt des Zeigens, bleibt hinsichtlich seiner selbst noch verborgen und wird nur als etwas überhaupt eingeführt. Man müßte dann das τόδε τι ungefähr übersetzen mit: „ein Diesda, was immer es auch ist“, oder: „ein Dies-unbestimmte-etwas-da“. Dadurch aber würde Vgl. z. B. 1b 4 oder 2a 13.
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der ganze erste Satz des von uns hier untersuchten Absatzes wieder unsinnig, denn er müßte lauten: „Jede Seiendheit aber scheint ein Dies-unbestimmte-etwas-da zu bezeichnen“. Die Aussage wäre dann, daß jede Seiendheit etwas noch Unbestimmtes, nicht Sag-, sondern nur Zeigbares ist, was ganz und gar nicht im Sinne des Aristoteles sein kann, für den ja jede Seiendheit immer schon formal bestimmt ist. Außerdem würde Aristoteles dann behaupten, daß die Form, also der Inbegriff der Bestimmtheit, etwas Unbestimmtes zumindest zu sein scheint; dies ist jedoch ganz ungereimt, denn wie soll etwas zugestandenermaßen Bestimmtes als unbestimmt erscheinen? Aus eben diesem Grund kann man auch nicht von der „… Unbestimmtheit, d. h. … [dem] hyletische[n] Charakter des τόδε τι …“134 sprechen, wie dies Ernst Tugendhat tut. Denn wie soll das vollkommen Definierbare, nämlich die Form, als etwas auch nur erscheinen, dem wesentlich der Charakter der Unbestimmt zukommt? Man könnte die Widersinnigkeit dieser Übersetzungsvariante auch noch durch eine grammatische Überlegung zu stützen versuchen. So zieht im Griechischen, zumindest in der Prosa, ein Demonstrativpronomen vor einem nachfolgenden Substantiv normalerweise den bestimmten Artikel nach sich, so daß es also, wenn das τι substantivisch gedacht wäre, ebensogut τόδε τό τι heißen können müßte. Ergänzt man jedoch die Wendung auf diese Weise, so springt das Befremdliche an dieser Interpretation erst recht ins Auge. Eine Übersetzung in der Art von „Das da, keine Ahnung was es ist“ oder „Das da, das ich nicht nennen mag“ drängt sich hier geradezu auf. Zu all dem gesellt sich noch ein weiteres Indiz, das gegen diese Übersetzungsvariante spricht. Das τόδε τι scheint nämlich eine Parallelkonstruktion zu ποιόν τι, εἶδός τι usw. darzustellen.135 Bei diesen aber ist das τι eindeutig adjektivisch gebraucht. Zwar könnte man hier als vermeintliches Gegenargument auf den Ausdruck πρός τι verweisen, bei dem das τι ebenso eindeutig substantivisch gebraucht wird, letzteres wird jedoch dem τόδε τι nie so entgegengesetzt wie ja z. B. das ποιόν τι gerade auch in vorliegendem Textabschnitt.136 Nachdem sich also die erste prinzipielle Möglichkeit, diese Wendung grammatikalisch zu interpretieren, als Sackgasse erwiesen hat, müssen Ernst Tugendhat: ΤΙ ΚΑΤΑ ΤΙΝΟΣ. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg/München 52003, S. 26. 135 Vgl. dazu z. B. Hermann Weidemann: „tode ti / ein Das-und-das“, in: Aristoteles-Lexikon, hrsg. v. Otfried Höffe, Stuttgart 2005, S. 601–603. 136 Cat 5, 3b 10–23, u. insb. 15–21. 134
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wir uns nun der zweiten zuwenden, um so dem angemessenen Verständnis und einer angemessenen Übersetzung auf die Spur zu kommen. Wir wollen also im folgenden das τόδε selbst als substantiviert auffassen und das τι als Adjektiv darauf beziehen. Sehen wir uns zunächst das τι an und fragen uns, was es auf diese Weise zum Ausdruck bringen kann. Hier eröffnen sich nun wiederum zwei Möglichkeiten, die wir bereits kurz erwähnt haben: entweder es drückt eine einfache Unbestimmtheit („irgendein“) oder aber eine unbestimmt gelassene Bestimmtheit („ein gewisses“) aus. Da sich die erste Seiendheit nach Aristoteles gerade durch ihre Bestimmtheit von der zweiten unterscheidet, und die Bestimmtheit im vorliegenden Abschnitt, wie wir noch sehen werden, auch als Merkmal des τόδε τι betrachtet wird, liegt es nahe, letzteres anzunehmen. Wir wollen also im folgenden davon ausgehen, daß das τι die unbestimmte Bestimmtheit des τόδε ausdrückt. Der erste Satz des vorliegenden Abschnitts will demnach also, wenn denn unsere Annahme richtig ist, zum Ausdruck bringen, daß jede Seiendheit ein bestimmtes τόδε zu bezeichnen scheint. Im folgenden müssen wir nun noch klären, was mit dem Ausdruck τόδε gemeint und wie er zu übersetzen ist. Einen wertvollen Hinweis darauf, in welcher Richtung eine Lösung zu suchen ist, gibt uns hier Ernst Tugendhat, der das τόδε τι als Antwort auf die Frage „τί ἐστι;“ begreift.137 In dieser Allgemeinheit behauptet, führt der Zusammenhang jedoch zu Widersprüchen. Eine Antwort auf die „Was ist …?“-Frage stellen nämlich auch die Gattung (γένος) und die Form (εἶδος) dar, so daß dann Gattung und Form beide ein τόδε τι sein würden. Gerade die Form aber und die Gattung sollen in der Kategorienschrift kein τόδε τι sein. Nichtsdestoweniger stehen τί ἐστι und τόδε τι freilich ohne Zweifel in einer sehr engen Beziehung, was schon allein die häufig verwendete Doppelphrase τί ἐστι καὶ τόδε τι138 deutlich macht; gerade aber in dieser Wendung zeigt sich auch, daß hier nicht eine Frage durch ihre spezifische Antwort ergänzt wird, denn zum einen kommt dergleichen bei anderen Kategorien, bei denen es doch auch möglich wäre, nicht vor, zum anderen wäre so eine Verdopplung auch ganz überflüssig. Eine solche Ergänzung würde dagegen dann Sinn machen, wenn der erste Teil, nämlich das τί ἐστι, nicht eindeutig wäre und der zweite Teil deshalb als klärender Zusatz, der die Bedeutung des ersten Teils spezifiziert, hinzugezogen Vgl. Tugendhat, a.a.O., S. 24f. Vgl. z. B. Met. Z 1, 1028a 11 f.
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würde. Nun ist aber eine solche Mehrdeutigkeit bei der „Was ist es?“-Frage tatsächlich festzustellen. Denn erstens wird durch sie nicht nur nach der Seiendheit gefragt, vielmehr läßt sich auch hinsichtlich der anderen Kategorien jeweils danach Fragen, was es ist; und zweitens sind, wie eben bereits erwähnt, auch noch im Hinblick auf die Kategorie der Seiendheit sowohl die erste Seiendheit als auch die zweiten Seiendheiten, also Form und Gattung, als Antworten möglich. Da in der Kategorienaufzählung der Topik der Ausdruck τί ἐστι noch die alleinige Benennung der ersten Kategorie war, konnte sie dieser Mehrdeutigkeit entsprechend auch zugleich auf alle anderen Kategorien angewendet werden.139 In der Topik stellten die Kategorien nämlich noch keine Einteilung des Seienden dar, sondern nur eine Einteilung der Weisen, wie etwas von etwas anderem ausgesagt werden kann.140 Die Seiendheit wurde aber schon insofern mit der ersten Kategorie verknüpft, als diese im Gegensatz zu allem anderen, was nicht Seiendheit ist, ausschließlich in die erste Kategorie fällt, alles andere dagegen in zwei. Wenn man nämlich von etwas dieses selbst oder seine Gattung aussagt, dann fällt diese Aussage in die erste Kategorie, wenn man dagegen etwas von etwas anderem aussagt, dann fällt sie in eine der anderen.141 Denn wenn man z. B. sagt, daß etwas Weißes weiß oder eine Farbe ist, dann sagt man, was es ist (τί ἐστι), wenn man dagegen sagt, daß ein Mensch weiß ist, dann sagt man, wie er beschaffen ist (πόιος). Da nun die Seiendheit von nichts anderem ausgesagt wird, fällt sie nur unter die erste Kategorie. Diese Mehrdeutigkeit jedoch, so bedeutend sie auch ist, spielt im vorliegenden Textabschnitt der Kategorienschrift keine Rolle, denn es ist hier ja ausschließlich und erklärtermaßen von der Seiendheit die Rede. Wenn also τόδε τι tatsächlich eine Spezifizierung des τί ἐστι ist, dann muß diese in Richtung einer möglich Sonderung von Form, Gattung und dem je Einzelnen (bzw. zweiter und erster Seiendheit) zu suchen sein. Und darum genau geht es ja auch in dem Textabschnitt, den wir gerade besprechen. Der Ausdruck τόδε τι ist also eine Antwort auf die Was-ist-Frage, allerdings eine solche, die das mit dieser Frage gemeinte Vgl. Top. A, 103b 27 ff. Deshalb spricht Aristoteles in der Topik auch nur von γένη τῶν κατηγοριῶν (vgl. Top. A, 103b 20 f.). 141 Vgl. Top. A, 103b 36–39: „ἕκαστον γὰρ τῶν τοιούτων, ἐάν τε αὐτὸ περὶ αὑτοῦ λέγηται ἐάν τε τὸ γένος περὶ τούτου, τί ἐστι σημαίνει· ὅταν δὲ περὶ ἑτέρου, οὐ τί ἐστι σημαίνει ἀλλὰ ποσὸν ἢ ποιὸν ἤ τινα τῶν ἄλλων κατηγοριῶν.“ 139 140
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weiter hinsichtlich dessen spezifiziert, ob es eine Form (resp. Gattung) oder ein je Einzelnes und damit eine erste Seiendheit ist. Die Wendung τόδε τι soll also in der Form einer Antwort auf die „Was ist es?“-Frage etwas benennen, was als Seiendheit ausschließlich unter die erste Kategorie im Sinne der Topik fällt, und zwar so, daß dieses zugleich als erste Seiendheit kenntlich wird. Deshalb darf die Antwort nicht etwas Bestimmtes nennen, sondern muß auf allgemeine Weise einen gemeinsamen, charakteristischen Zug dieser grundlegenden Art von Seiendheit herausstellen. Um dies leisten zu können, muß die Antwort zweigliedrig sein: ein Teil muß eine Art von Variable sein, die jede mögliche Antwort auf die Frage vertritt, der andere muß diese Variable auf einen bestimmten Bereich möglicher Antworten einschränken. Eine mögliche Antwort auf die Frage „τί εστι;“ ist „τόδε“. Man wird jedoch dieses Wort hier nicht mit „dies da“ übersetzen können, denn dann wäre die nötige Allgemeinheit nicht gewährt. „Dies da“ ist eben immer genau das, worauf ich gerade tatsächlich oder im übertragenen Sinne zeige, und nichts anderes. Es wird also besser sein, dieses Wort mit „das und das“ zu übersetzen, womit wir ganz allgemein auf alles verweisen, wonach man mit „Was?“ fragen kann. Verschiedene Stellen in den Schriften des Aristoteles legen zudem die Vermutung nahe, daß τόδε im Griechischen genau so verwendet werden konnte, wie unsere Wendung „das und das“.142 Das τι wird dann also die einschränkende Funktion übernehmen. Wir haben seine Bedeutung in diesem Kontext bereits dahingehend bestimmt, daß es eine unbestimmte Bestimmtheit ausdrückt. Daraus ergibt sich uns nun die Übersetzung. Die Wendung τόδε τι läßt sich Wiedergeben als: ein bestimmtes Das-und-das. Was damit gemeint ist, wollen wir uns anhand eines Beispiels verdeutlichen. Ein Pferd z. B. ist ein bestimmtes Lebewesen, also in gewissem Sinne auch ein bestimmtes Das-und-das, denn auf die Frage „Was ist ein Pferd?“ kann man antworten: „Ein bestimmtes Lebewesen.“ Rosinante wiederum ist ein bestimmtes Pferd, also ebenfalls ein bestimmtes Dasund-das, denn auf die „Was ist es?“-Frage kann man nun antworten: „Ein bestimmtes Pferd.“ Auf diese Weise ergibt sich somit eine Reihe, in der jeweils das Bestimmtere im Verhältnis zum Allgemeineren ein bestimmtes Das-und-das ist. Die Reihe läßt sich jedoch nicht beliebig fortsetzen, sondern endet z. B. mit dem bestimmten Pferd namens Rosinante. Was also von der Art ist wie Rosinante, das ist im eigentlichen Sinne Vgl. z. B. Phys. A 7, 190a 26–29.
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und schlechthin ein bestimmtes Das-und-das. Denn alles andere ist ein bestimmtes Das-und-das nur im Hinblick auf das noch Allgemeinere, nicht jedoch im Hinblick auf das Bestimmtere, das je Einzelne dagegen ist in jeder Hinsicht ein bestimmtes Das-und-das, denn ein noch Bestimmteres gibt es nicht. Allgemein kann man also sagen, daß mit τόδε τι das bezeichnet wird, was nicht wiederum von etwas anderem identifizierend ausgesagt werden kann, also das, was im Bereich der Seiendheit nicht als Antwort auf die „Was ist es?“-Frage dienen kann. Das τόδε τι ist somit dadurch charakterisiert, daß es weder von etwas anderem ausgesagt wird noch in etwas anderem ist, und daß zugleich alles andere entweder in ihm ist oder von ihm ausgesagt wird. Darauf weist auch die Wendung ἄτομον καὶ ἓν ἀριθμῷ hin143 , denn das, was von anderem ausgesagt wird, wie z. B. Pferd, wird von vielem ausgesagt, neben Rosinante z. B. auch von Jolly Jumper und Fallada, und ist insofern teilbar und selbst auch in gewisser Weise vieles. Die erste Seiendheit ist nun deshalb etwas erstes, weil sie allem anderen zugrunde liegt und es nichts mehr gibt was ihr selbst zugrunde läge; das aber wiederum bedeutet nichts anderes, als daß sie eben deshalb das grundlegendste Seiende ist, weil sie gerade ein τόδε τι, also ein bestimmtes Das-und-das ist und insofern keine weitere Differenzierung zuläßt. Der Ausdruck τόδε τι erfüllt also zwei Aufgaben: zum einen ordnet es durch das τόδε das so Bezeichnete in die erste Kategorie ein, zum anderen charakterisiert es dieses durch das τι als nicht weiter prädizierbar. Es handelt sich also bei dem Begriff τόδε τι um einen reinen Relationsbegriff, der zunächst noch nicht inhaltlich auf irgendetwas Bestimmtes festgelegt ist. In gewisser Weise kann man zwar auch sagen, daß es das je Einzelne in der Kategorie der Substanz bezeichnet, muß dann aber sogleich herausstreichen, daß das je Einzelne hier nur als Gegenbegriff zum Allgemeinen gemeint ist, also im Sinne des nicht weiter Prädizierbaren in der ersten Kategorie, und es ganz offen bleibt, was dieses nicht weiter Prädizierbare denn ist: ob der konkrete, sinnlich wahrnehmbare Gegenstand oder etwas anderes. Im Rahmen der Kategorienschrift freilich versteht Aristoteles unter dem τόδε τι noch wie selbstverständlich das Einzelne, dies muß jedoch nicht auch für die anderen Phasen seines Denkens gelten.
Vgl. Cat. 3b 12.
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b) Σημαίνειν Nachdem wir nunmehr den Ausdruck τόδε τι soweit geklärt haben, daß sein Zusammenhang mit dem Kontext der Kategorienschrift einigermaßen klar wird, sei ein weiterer „Übersetzungsversuch“ des ersten Satzes (3b 10) gewagt: 2a) Jede Seiendheit aber scheint ein bestimmtes Das-und-das zu bezeichnen (σημαίνειν). Zunächst scheint es hier keine Probleme zu geben. Nehmen wir jedoch diesen Satz noch etwas genauer unter die Lupe, so stoßen wir auf weitere Verständnisschwierigkeiten. Neben dem τόδε τι fällt dann nämlich zunächst auf, daß Aristoteles nicht etwa sagt: „Jede Nennung einer Seiendheit …“, sondern einfach nur von der Seiendheit spricht. Warum tut er das? Handelt es sich hier wirklich nur um eine sprachliche Nachlässigkeit, wie Ackrill144 versichert? Damit zugleich wird man wohl aber auch im Hinblick auf die Bedeutung des Ausdrucks σημαίνειν, die ja zunächst auch dem unbefangensten Leser nicht weiter problematisch scheinen dürfte, nunmehr etwas unsicher werden, zumal er bisher im ganzen vorausgehenden Text nur einmal und zudem nur am Rande vorkam.145 Allerdings könnte man ja andererseits der Ansicht sein, daß es keine Rolle spielt, ob jemand an einer Stelle nachlässig formuliert oder nicht, solange nur der Sinn klar erkennbar ist. Und da man mit der These der nachlässigen Formulierung einen einigermaßen sinnvollen Satz zustande bringt, braucht man sich nicht länger um ihn zu kümmern. Wer so denkt, scheint mir, täuscht sich jedoch sehr. Es ist nämlich im Gegenteil höchst bedeutsam, wie genau und sorgfältig jemand formuliert, denn im allgemeinen korrelieren die Genauigkeit des Denkens und des Schreibens direkt proportional: jemand der nachlässig schreibt, denkt meist auch nachlässig. Die Ansicht, daß derjenige, der große Gedanken denkt, im Detail ruhig ein wenig ungenau sein darf oder sogar muß, ist meist nicht mehr als ein Vorwand für Aufschneider, sich mit relativ geringer Mühe den Philosophenmantel anzumaßen. Die billige Methode, bei Interpretationsschwierigkeiten dem Aristoteles schnell Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit zu unterstellen, ist also alles andere als geeignet,
Ackrill, a.a.O., S. 88: „It is careless of him to speak as if it were substances (and not names of substances) that signify.“ 145 Cat. 4, 1b 26. 144
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sein Denken im großen und ganzen zu würdigen; sie diskreditiert vielmehr den ganzen Denker als solchen. Ackrill jedoch geht, wie gesagt, von einer Nachlässigkeit aus, was ja auch zugegebenermaßen prima facie einer gewissen Plausibilität nicht entbehrt, zumindest wenn man σημαίμειν als „bezeichnen“ übersetzt. Vielleicht aber ist ja auch gerade diese Übersetzung mangelhaft, obwohl sich freilich im Wörterbuch keine wesentlich bessere Übersetzung finden läßt.146 Jedoch pflegen Sprachen sich selten nach Wörterbüchern zu richten, sondern neigen dazu aus einer relativ allgemeinen und vagen Grundbedeutung neue Bedeutungsvarianten zu bilden; bei manchen Wörtern ist dies häufiger der Fall, bei anderen seltener. Nun läßt sich auch, wie man m.E. leicht in einem Wörterbuch überprüfen kann, hinsichtlich des Wortes σημαίνειν eine solche allgemeine Bedeutung ausmachen, denn es meint im Grunde genommen zunächst einmal jedes Machen, Gebrauchen oder Sein eines Zeichens (σῆμα/σημεῖον). Es bedeutet also ganz allgemein, etwas mittels eines Zeichens sichtbar zu machen und zu zeigen, wobei das Verhältnis des Zeichens zum Zeigenden offen und damit die Frage unentschieden bleibt, ob das Zeigende das Zeichen macht, gebraucht oder ist. Diese recht vage und in vielfältiger Weise durch den Kontext auslegbare Grundbedeutung kann außerdem verschieden akzentuiert und dadurch variiert werden, woraus sich dann, wie mir scheint, alle Bedeutungen und Verwendungsweisen dieses Wortes mehr oder weniger zwanglos ergeben. Das kann man zwar nicht im strengen Sinne beweisen, jedoch läßt es sich m.E. leicht dadurch hinreichend plausibel machen, daß man die Einträge eines Wörterbuchs in diesem Sinne zu deuten versucht, welche Aufgabe ich aber jedem Leser selbst überlasse, um den Text nicht unnötig aufzublähen. Angenommen nun, man würde die Zeichenhaftigkeit des Zeigensaktes und damit den Unterschied zwischen Zeichen und Gezeigtem nur sehr schwach betonen, so könnte mit σημαίνειν auch überhaupt jedes Darstellen zum Ausdruck gebracht werden, denn auch die Darstellung ist ja in gewisser Weise ein Zeichen des Dargestellten, das letzterem aber so ähnlich ist, daß die Darstellung selbst das Original in gewissen Grenzen simulieren kann (z. B. simuliert ein Bauplan das zu bauende Haus, wenn es um die Planung der Zimmereinteilung geht). Schwächt man diesen Unterschied zwischen Darstellung und Dargestelltem noch weiter ab, wie es ja auch im Deutschen üblich ist, z. B. wenn wir sagen, daß das Verhalten der Vgl. z. B. LSJ 1592 f.
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Person xy eine Frechheit darstellt, so wäre es durchaus denkbar, daß σημαίνειν gelegentlich in die Nähe eines einfachen εἶναι rückt. Übertragen wir nun diese Überlegungen auf den in Frage stehenden Satz, so erhalten wir: 2b) Jede Seiendheit aber scheint ein bestimmtes Das-und-das darzustellen. Betrachtet man die Sache auf diese Weise, so löst sich auch die besagte Schwierigkeit und der Satz wird klar verständlich, ohne daß wir Aristoteles Nachlässigkeit unterstellen müssen.
c) Abschließende Betrachtung des Satzes Der erste Satz des vorliegenden Abschnitts stellt also einen gewissen Schein fest, der im Bereich der Seiendheit obwaltet. Der Schein suggeriert, daß jede Seiendheit ein bestimmtes Das-und-das wäre. Ein bestimmtes Das-und-das zu sein, bedeutet, daß es von nichts anderem mehr ausgesagt wird und auch in nichts anderem ist. Das bestimmte Das-und-das liegt also allem anderen zugrunde und ist somit gleichsam die Bedingung der Möglichkeit jedes anderen Seins, also die Seiendheit jedes Seienden, die macht, daß es, unabhängig davon, was es sonst noch ist, überhaupt erst einmal ein Seiendes ist. So ist z. B. etwas ein Mensch-Seiendes nur, insofern es ein bestimmter Mensch ist, und ein Kultiviertes nur, insofern es ein Mensch und zwar wiederum ein bestimmter Mensch ist. Nun sollen aber gerade auch die Form und die Gattung zumindest den Anschein erwecken, ebenso wie das je Einzelne ein bestimmtes Dasund-das zu sein. Sie scheinen also nach Aristoteles ein letztes Zugrundeliegendes zu sein, dessen Sein von keinem anderen Seienden mehr abhängt. Nun ist es sicherlich kein Zufall, daß gerade sein Lehrer Platon den Ideen, worunter auch Form und Gattung fallen, ein solches selbständiges Sein zusprach, ja sie sollten sogar in höherem Maße sein als das je Einzelne. Denn die Ideen seien ewig, erklärt Platon, das je Einzelne dagegen wandelt sich und ist das, was es ist, überhaupt nur durch Teilhabe an den Ideen bzw. durch Anwesenheit der Ideen in ihnen. Wenn wir also den Ausdruck des Zugrundeliegens hier anwenden, so können wir sagen, daß nach Platon nicht das je Einzelne dieses letzte Zugrundeliegende darstellt, sondern gerade Gattung und Form. Das Zugrundeliegen darf dann allerdings nicht viel mehr bedeuten als selbständiges Sein,
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denn faßt man es im Aristotelischen Sinne auf, hat man bereits den ersten Schritt zu einer Kritik der Platonischen Auffassung getan. Der erste Satz leitet also eine Auseinandersetzung mit der Position Platons ein, indem er allem, was als Seiendheit in Frage kommt, zunächst einmal attestiert, daß ihm zumindest der Anschein von selbständiger Existenz zukommt. Von diesem Punkt ausgehend kann eine Widerlegung der Position Platons erfolgen. Wie Aristoteles hierbei vorgeht, werden wir nun in einem nächsten Schritt untersuchen.
3.3.2.2 Die Widerlegung dieses Scheins Allem Anschein nach stellt der Abschnitt 3b 10–23 also eine Auseinandersetzung mit der Position Platons dar. Wenn dem aber so ist, dann kann man das ἀναμφισβήτητον im zweiten Satz, der die Behauptung aufstellt, daß die ersten Seiendheiten bestimmte Das-und-das darstellen, keinesfalls mit „unbestritten“ übersetzen, wie dies Ingo W. Rath in der Reclam-Ausgabe tut147, denn das war diese Behauptung ja gerade nicht. Platon wäre es nicht im Traum eingefallen, dem Einzelnen eine derartige Selbstgenügsamkeit zuzuschreiben. Schon wesentlich besser ist die Übersetzung von Klaus Oehler und Eugen Rolfes mit „zweifellos“148 , aber auch sie scheint mir noch zu schwach zu sein, denn wer hier zweifelt und wer nicht, bleibt dabei ganz offen. Diese Übersetzung erweckt daher leicht den Eindruck, als besage der Satz nur, daß Aristoteles selbst daran nicht zweifelt und dies nun auch von seinen Hörern erwartet. Eine Beteuerung der eigenen Überzeugtheit als Argument für die Wahrheit einer Sache vorzubringen, wird jedoch schwerlich jemals irgendeinem einigermaßen vernünftigen Menschen in den Sinn kommen. Da ich nun durchaus Aristoteles für einen solchen einigermaßen vernünftigen Menschen halte, würde ich für den fraglichen Satz folgende Übersetzung vorschlagen: ἐπὶ μὲν οὖν τῶν πρώτων οὐσιῶν ἀναμφισβήτητον καὶ ἀληθές ἐστιν ὃτι τόδε τι σημαίνει· ἄτομον γὰρ καὶ ἓν ἀριθμῷ τὸ δηλούμενόν ἐστιν.149 Bei den ersten Seiendheiten nun ist es unbestreitbar und wahr, daß sie ein bestimmtes Das-und-das darstellen, denn unteilbar und der Anzahl nach eines ist das, was offenbar gemacht wird. Vgl. Rath, a.a.O., S. 21. Vgl. Oehler, a.a.O., S. 13 und Rolfes, a.a.O., S. 7. 149 3b 10–13. 147
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Aristoteles will also zum Ausdruck bringen, daß seiner Behauptung nicht widersprochen werden kann. Faktisch kann man zwar jeder Behauptung widersprechen, darum geht es hier aber nicht. Gemeint ist vielmehr der begründete Widerspruch. Er ist also der Ansicht, daß gegen das, was er in diesem Satz behauptet, kein begründeter Widerspruch möglich ist, und das bedeutet zugleich auch, daß es jedem faktisch vorgebrachten Widerspruch an überzeugenden Gründen mangeln muß, z. B. also auch dem zu erwartenden Widerspruch eines Platon, der ja zur Zeit der Abfassung der Kategorienschrift noch gelebt haben und diese dann wohl auch gelesen oder ihren Vortrag gehört haben dürfte. Wenn man das so betrachtet, dann muß doch der selbstbewußte und entschiedene Ton überraschen; allerdings wissen wir nicht wirklich, welcher Ton bei den internen Diskussionen der Akademie üblich war, so daß wir auch nicht beurteilen können, ob Aristoteles’ Äußerung hier nun als besonders forsch oder als ganz normal empfunden wurde. Immerhin war die Meinungsvielfalt an der Akademie jedoch beträchtlich und Widerspruch, auch gegen Platon, dürfte wohl alltägliche Praxis gewesen sein. Doch betrachten wir den Satz etwas genauer, so fällt uns ein weiterer Punkt auf, der nach einer Klärung verlangt. Welche Bedeutung hat hier der zunächst etwas merkwürdige Verweis auf das δηλούμενον, also auf das, was offenbar gemacht wird? Wer macht hier was offenbar? In eine ganz falsche Richtung würde es nun führen, als das Offenbarmachende hier die erste Seiendheit anzusehen, und als das Offenbargemachte das bestimmte Das-und-das.150 Besonders die Übersetzung von σημαίνειν als „bezeichnen“ verleitet zu dieser Mißdeutung. Dadurch jedoch würde gerade, neben anderen sich daraus ergebenden Ungereimtheiten, das die Aussage stützende Argument unterschlagen, und so die ganze vorgeblich unbestreitbare Tatsache zu einer letztlich unbegründeten, bloßen Behauptung, die wir dann einfach so zu schlucken hätten. Das, was offenbar gemacht wird, ist nun jedoch sicherlich nicht ein von der ersten Seiendheit unterschiedenes τόδε τι, denn damit würde ja die erste Seiendheit ihren grundlegenden Charakter als erste Seiendheit unumgänglich einbüßen; das was offenbar gemacht wird, ist vielmehr die erste Seiendheit selbst. Wodurch wird dann aber die erste Seiendheit offenbar gemacht? Die erste Seiendheit wird durch die zweiten Seiendheiten offenbar gemacht, wie Aristoteles bereits weiter oben ausgeführt 150 In diese Richtung scheint mir z. B. auch die im Reclam-Verlag erschienene und damit weitverbreitete Übersetzung von Ingo W. Rath zu gehen; vgl. a.a.O.
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hat.151 Die Aussage des Satzes lautet also, daß das, was durch die zweiten Seiendheiten offenbar gemacht wird, und zwar hinsichtlich dessen, was es an sich selbst ist, unteilbar und der Anzahl nach eines ist. Unteilbar und der Anzahl nach eines zu sein, bedeutet, von nichts anderem mehr ausgesagt zu werden.152 Das also, was durch alles andere, was im Bereich der Seiendheit auf identifizierende Weise ausgesagt wird, offenbar gemacht wird, darf von nichts anderem mehr ausgesagt werden können, muß also unteilbar und der Anzahl nach eines sein. Denn gäbe es diesen letzten Bezugspunkt aller Aussagen nicht, dann wäre in dem etwas als es selbst offenbar machenden Sagen letztlich nichts gesagt. Die erste Seiendheit, also das je Einzelne, ist nun dieser letzte Bezugspunkt, denn von diesem wird alles andere ausgesagt. Somit ist die erste Seiendheit etwas, dem nichts anderes mehr zugrunde liegt, das also ein bestimmtes und nicht weiter bestimmbares Das-und-das darstellt. Als solches kommt ihr ein unabhängiges Sein zu, d. h. sie ist nicht nur deshalb, weil etwas anderes ist, sondern bedarf keines weiteren Grundes, um zu sein. Ein Rotes beispielsweise ist, weil es etwas gibt, das rot ist, ein bestimmter Mensch aber ist an sich selbst. Das, was hier in Anspruch genommen wird, ist jedoch gerade der eigentliche Streitpunkt: nämlich daß das als erste Seiendheit verstandene Einzelne an sich selbst ist und an sich selbst eines ist, Form und Gattung dagegen, wie später noch zu sehen sein wird, vieles sind. Gerade das würde Platon ja bestreiten: nicht die Form ist vieles, sondern gerade das Einzelne, denn die Idee des Menschen z. B. ist bei allen einzelnen Menschen dieselbe, also eines; der bestimmte Mensch dagegen ist an sich selbst vieles, nämlich ein ausgedehnter Körper, und nur dadurch, daß er ein Mensch ist, ihm also, wie dies Platon versteht, die eine Menschheit durch Teilhabe zukommt, ist er auch selbst eines. Im Grunde genommen wird also das Entscheidende – und zwar nicht nur hier, sondern in der ganzen Kategorienschrift, – als bereits zugestanden vorausgesetzt, nämlich daß Sein nicht Teilhabe ist, sondern eine Tätigkeit (ἐνέργεια), die dem Seienden zukommt, insofern es nichts anderes ist als es selbst. Das Sein des Seienden ist also reiner Selbstvollzug. Aristoteles verstand demnach allem Anschein nach unter dem Sein bereits zur Zeit der Abfassung der Kategorienschrift, also bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt, etwas ganz anderes als Platon, und es bestätigt sich an dieser Stelle die be Vgl. Cat. 5, 2b 30 f. Vgl. Cat. 2, 1b 6 f.
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reits vermutete Kontinuität des grundlegenden Seinsverständnisses, welches sich von seiner frühen Philosophie bis hin zu reifen Philosophie durchhält. Nur wenn dieses Seinsverständnis vorausgesetzt wird, ergibt sich, daß das je Einzelne als letzter Bezugspunkt alles Aussagens unteilbar und der Anzahl nach eines sein muß, und daß es dies nicht durch eine von ihm abtrennbare Form sein kann, an der das Einzelne nur teilhätte, und die demnach in höherem Maße eines wäre. Denn ein solcher Selbstvollzug153 kann nicht von Außen in etwas hinein gelangen.154 Nun müßte eigentlich in einem nächsten Schritt geklärt werden, wie Aristoteles zu diesem vom Platonischen abweichenden Seinsverständnis gelangte. Als ihre Quelle wird sich die Seinsauffassung der vorsokratischen Naturphilosophen herausstellen. Dies kann jedoch an dieser Stelle noch nicht gezeigt werden. Wir werden aber auf diese Frage später wieder zurückkommen und die oben gegebene Antwort begründen.155 Aristoteles hat also ein älteres Seinsverständnis wiederbelebt, ohne deshalb auch die Position der vorsokratischen Naturphilosophen ganz zu übernehmen. Vielmehr scheint sich Aristoteles zwischen den Naturphilosophen und Platon positioniert zu haben, um so die Wahrheit beider Auffassungen zu bewahren. Das Seinsverständnis des Aristoteles ist aber nicht nur für die ersten Seiendheiten, die sich ja vor diesem Hintergrund überhaupt erst als etwas Erstes und als Seiendheiten begreifen lassen, von Bedeutung, sondern es wird wohl auch, soviel gibt das Gesagte bereits mehr oder weniger deutlich zu erkennen, für die zweiten Seiendheiten von einiger Bedeutung sein. Denn daß sie von vielen Zugrundeliegenden ausgesagt werden können, bedeutet nun nicht mehr, daß das viele Zugrundeliegende und das zugrundeliegende Viele an ihnen Anteil hat und sie umgekehrt in diesen als Grund ihres Seins und der Einheit anwesend sind, vielmehr muß nun die Form als das verstanden werden, was das Seiende 153 Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es sehr wichtig hier Selbstvollzug klar von Selbstbewegung zu unterscheiden, wie sie der Seele bei Platon zukommt; Selbstbewegung meint ein Sich-selbst-zur-Veränderung-Bestimmen, wohingegen Selbstvollzug, so wie der Ausdruck hier gemeint ist, gänzlich ohne Veränderung gedacht werden muß: das Ziel und die Vollendung dieser Tätigkeit liegen nicht außerhalb ihrer selbst, denn das Ziel und die Vollendung der Tätigkeit ist die Tätigkeit selbst. 154 Diese teilweise Verursachung von Außen ist im übrigen bei der Platonischen Selbstbewegung nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, weil hier das Ziel und die Formbestimmtheit der Tätigkeit nicht mit der Tätigkeit selbst identisch ist, also von Außen kommen muß. 155 Siehe S. 165 f.
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selbst, d. h. die je einzelnen Selbstvollzüge, unter dem Aspekt ihrer allgemeinen Beschaffenheit offenbar macht. Diese essentielle Beschaffenheit muß allerdings, soll sie wirklich essentiell und nicht nur eine weitere hinzukommende Eigenschaft sein, von dem Selbstvollzug identifizierend ausgesagt werden, und das bedeutet, daß das, worin der Selbstvollzug offenbar wird, selbst in gewisser Weise ein Selbstvollzug sein muß. Denn das, was auf diese Weise identifizierend ausgesagt wird, muß ja mit dem, wovon es ausgesagt wird, in jeder Hinsicht identisch sein; umgekehrt gilt dies allerdings nicht, weil das, wovon ausgesagt wird, also das Zugrundeliegende, nur insofern mit dem Ausgesagten identisch sein muß, insofern das Ausgesagte selbiges offenbar macht. Die Form jedoch zumindest ist vollkommen identisch mit dem Zugrundeliegenden, da die Form von allem, was das je Einzelne als dieses bestimmte Einzelne ausmacht, gerade absieht. Es handelt sich dabei also um eine Beschaffenheit eigener Art, die von den kategorialen Beschaffenheiten, wie z. B. den Farben, unterschieden werden muß, weil in letzterem Falle, im Gegensatz zu ersterem, keine definitorische Identität zwischen dem Ausgesagten und dem Zugrundeliegenden besteht. Doch nicht so schnell. Sehen wir uns zur Bestätigung und weiteren Klärung dieses Sachverhalts zunächst genauer an, was Aristoteles selbst dazu ausführt. Im Anschluß an das zuvor Zitierte fährt er nämlich fort: ἐπὶ δὲ τῶν δευτέρων οὐσιῶν φαίνεται μὲν ὁμοίως τῷ σχήματι τῆς προσηγορίας τόδε τι σημαίνειν, ὅταν εἴπῃ ἄνθρωπον ἢ ζῷον· οὐ μὴν ἀληθές γε, ἀλλὰ μᾶλλον ποιόν τι σημαίνει, –οὐ γὰρ ἕν ἐστι τὸ ὑποκείμενον ὥσπερ ἡ πρώτη οὐσία, ἀλλὰ κατὰ πολλῶν ὁ ἄνθρωπος λέγεται καὶ τὸ ζῷον·– οὐχ ἁπλῶς δὲ ποιόν τι σημαίνει, ὥσπερ το λευκόν· οὐδὲν γὰρ ἄλλο σημαίνει τὸ λευκὸν ἀλλ᾿ ἢ ποιόν, τὸ δὲ εἶδος καὶ τὸ γένος περὶ οὐσίαν τὸ ποιὸν ἀφορίζει, –ποιὰν γάρ τινα οὐσίαν σημαίνει.156 Bei den zweiten Seiendheiten aber scheint zwar durch die äußerlichen Charakteristika der Nennung ebenso ein bestimmtes Das-und-das darzustellen, z. B. wenn man Mensch oder Tier sagt; nur wahr freilich ist das nicht, vielmehr stellt sie eher ein auf eine bestimmte Weise Beschaffenes dar, denn das Zugrundeliegende ist nicht eines, wie es die erste Seiendheit ist, sondern von vielem wird z. B. der Mensch ausgesagt oder das Tier. Nicht schlechthin aber stellt ein auf eine bestimmte Weise Beschaffenes dar, wie das Weiße, denn nichts anderes bezeichnet das Weiße als ein irgendwie Beschaffenes; die Form aber und die Gattung grenzen im Bereich der Seiendheit die Beschaffenheit ab, denn sie stellen eine auf eine bestimmte Art beschaffene Seiendheit dar. Cat. 5, 3b 13–21.
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Aristoteles gesteht hier den zweiten Seiendheiten zwar zu, zumindest den Anschein zu erwecken, ein bestimmtes Das-und-das zu sein, so daß die Meinung Platons nicht jeder Grundlage entbehrt. Dieser Anschein ist jedoch nichts weiter als ein bloßer Schein, der sich lediglich aus der Weise ergibt, wie die zweiten Seiendheiten sprachlich repräsentiert werden. Denn bei genauerem Hinsehen auf die Sache selbst zeigt sich, daß sie im Grunde genommen eher ein auf eine bestimmte Weise Beschaffenes in seinem Wie des Beschaffen-Seins darstellen. Die zweiten Seiendheiten haben daher einerseits mit der Beschaffenheit im eigentlichen Sinne eine gewisse Ähnlichkeit, die es erlaubt, auch jene bis zu einem gewissen Grade zu den Beschaffenheiten zu rechnen; andererseits unterscheiden sie sich aber auch deutlich von dem, was im eigentlichen Sinne Beschaffenheit genannt wird, und gehören daher trotz aller Ähnlichkeit nicht der Kategorie der Beschaffenheit, sondern der der Seiendheit an. Da für das Verständnis des Verhältnisses von Form und Einzelnem in der Kategorienschrift eine eingehendere Betrachtung und ein tieferes Verständnis dieser Ähnlichkeit/Unähnlichkeit von entscheidender Bedeutung ist, wollen wir uns diesem Punkt im folgenden noch etwas eingehender widmen. Worin besteht also die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen der zweiten Seiendheit und der Beschaffenheit im kategorialen Sinne? Einen entscheidenden Hinweis liefert uns hier die Gegenüberstellung von ποιόν τι und ποιά τις οὐσία. Aristoteles will dadurch offenbar zum Ausdruck bringen, daß das eine unmittelbar nur ein auf eine gewisse Art Beschaffenes hinsichtlich des Wie seines Beschaffen-Seins repräsentiert und nichts darüber hinaus, weil es das Zugrundeliegende nicht hinsichtlich seiner selbst, sondern nur als Träger einer gewissen Beschaffenheit offenbar macht; mittelbar freilich ist jedes irgendwie Beschaffene auch immer irgendeine Seiendheit, nämlich im Hinblick auf das, was sich zufällig ergeben hat. Demgegenüber macht die zweite Seiendheit unmittelbar eine auf eine gewisse Art beschaffene Seiendheit hinsichtlich ihrer selbst offenbar, nämlich als Seiendheit von der und der Art; dadurch aber ragt die zweite Seiendheit weit über den Rahmen der kategorialen Beschaffenheit hinaus. Dennoch bleibt es dabei, daß beide in einem gewissen Sinne Beschaffenheiten benennen. Denn beide machen etwas als ein auf eine gewisse Weise Beschaffenes offenbar, wenn sie von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. Der Unterschied besteht jedoch in der Art und Weise, wie die Beschaffenheiten ausgesagt werden und wie sie sich dementspre-
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chend auf das Zugrundeliegende beziehen. Die eine nämlich wird in der Regel paronym ausgesagt, die andere synonym. Da allerdings zwar die meisten, nicht jedoch alle Beschaffenheiten paronym im eigentlichsten, rein grammatikalischen Sinne des Wortes ausgesagt werden, versucht Aristoteles bereits in der Kategorienschrift die grammatikalische Ausdrucksweise zu überwinden und das Gemeinte auf eine allgemeinere, man könnte auch sagen, „ontologischere“ Weise zu fassen. Wir haben weiter oben zu ebendiesem Zweck und um das von Aristoteles Gemeinte noch deutlicher zu kennzeichnen, die Ausdrücke nicht-identifizierende und identifizierende Aussage eingeführt. Mit dieser allgemeineren Ausdrucksweise können wir nun die gesuchte Ähnlichkeit und Unähnlichkeit genauer umreißen. Unterschieden sind beide dadurch, daß die kategoriale Beschaffenheit nur nicht-identifizierend von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden (meist indem das Zugrundeliegende mit Blick auf die Beschaffenheit paronym benannt wird), die zweiten Seiendheiten dagegen identifizierend. Die Weisheit z. B. kann von einem Menschen nur nicht-identifizierend ausgesagt werden, denn ein Weiser ist zwar ein Mensch, das jedoch, was es heißt weise zu sein, und das, was es heißt ein Mensch zu sein, unterscheidet sich von einander. Das Weise-Sein besteht in der Anwesenheit der Weisheit in einem Mensch (bzw. dessen Seele), es kommt einem Menschen also nur im Hinblick auf etwas anderes zu, nämlich im Hinblick auf die Weisheit; käme dem Menschen das Weise-Sein dagegen hinsichtlich seiner selbst zu, so müßten alle Menschen, insofern sie Menschen sind, auch weise sein, was nicht der Fall ist. Das Mensch-Sein dagegen kommt jedem bestimmten Menschen sehr wohl rein hinsichtlich seiner selbst zu, denn damit irgendetwas in einem bestimmten Menschen sein kann, muß zuvor dieser bestimmte Mensch selbst sein; sein jedoch kann er nur als Mensch. Der Unterschied besteht also darin, daß die zweiten Seiendheiten, indem sie identifizierend ausgesagt werden, das Zugrundeliegende so offenbar machen, wie es rein aufgrund seiner selbst ist, wohingegen die schlechthinnigen Beschaffenheiten, indem sie nicht-identifizierend ausgesagt werden, etwas nur so zeigen, wie es gerade nicht aufgrund seiner selbst ist, sondern eben aufgrund der Anwesenheit dieser Beschaffenheit in dem Zugrundeliegenden. Auf der anderen Seite gleichen sich die Beschaffenheiten und die zweiten Seiendheiten darin, daß sie von einem Zugrundeliegenden, das in letzter Instanz immer eine erste Seiendheit ist, hinsichtlich der Möglichkeit ihres Seins abhängen und daher von diesem Zugrundeliegenden als
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seine Bestimmungen ausgesagt werden. Was aber bedeutet diese Ähnlichkeit nun? Sehen wir uns zunächst die kategoriale Beschaffenheit an. Sie gehört zu dem, was in einem Zugrundeliegenden ist, d. h. sie kann nicht im eigentlichen Sinne definiert werden, weil ihr Sein etwas anderes, das nicht sie selbst ist, miteinschließt. Die weiße Farbe z. B. kann nur in irgendeiner Oberfläche sein, die wiederum Teil eines Körpers ist, welcher abermals Teil einer je einzelnen Ganzheit ist, d. h. einer ersten Seiendheit als einem Ganzen; also ist jede Farbe in einem Körper im allgemeinen und damit zugleich in irgendeiner ersten Seiendheit, d. h. einem je Einzelnen.157 Was eine Farbe ist, kann man nun nicht verstehen, wenn man nicht das, in dem sie ist, mitbedenkt; eine Farbe ist nämlich immer wesentlich die Farbe von irgendetwas. Und das bedeutet, daß das Sein der Farbe immer ein anderes Seiendes, das nicht sie selbst ist, voraussetzt und daher auch in gewisser Weise miteinschließt. Wie kann dann aber Farbe überhaupt als ein Seiendes gedacht und allgemein vorgestellt werden? Dies ist nur möglich durch Abstraktion, d. h. dadurch, daß von dem vielen Weißen, insofern es ein je Einzelnes ist, abgesehen wird, so daß nunmehr ein bloßes, unbestimmt-bestimmtes X dem durch diesen Abstraktionsakt allererst konstituierten Seienden zugrunde liegt. Die weiße Farbe, nach der das Weiße paronym benannt wird, ist dann das, was allem Weißen als der Grund seines Weiß-Seins gemeinsam ist, was auch immer das Weiße selbst sein mag. Daraus, daß eine Beschaffenheit erst durch einen solchen speziellen Abstraktionsakt als Seiendes konstituiert wird, folgt nun allerdings nicht, daß sie notwendig etwas Allgemeines ist. Vielmehr kann sie auch genau das Gegenteil sein, nämlich unteilbar und der Anzahl nach eines, z. B. wenn es sich um einen bestimmten Weißton handelt, denn alles, was auf diese Weise gefärbt ist, hat ja ein und dieselbe Farbe.158 Das Verhältnis von Allgemeinheit und Bestimmtheit bezeichnet nämlich im eigentlichen Sinne die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem Ausgesagten und dem Zugrundeliegenden nur beim identifizierenden Aussagen, nicht jedoch beim nicht-identifizierenden. Die Beschaffenheit ist aber auch nicht schon allein deshalb, weil die Abstraktion konstituierend mit in sie eingeht, etwas frei Erfundenes oder Eingebildetes, denn diese Abstraktion fügt dem Seienden nichts hinzu und nimmt von ihm selbst nichts weg, sondern blendet vielmehr bloß alles aus, was nicht zu ihm selbst Vgl. 1a 28: „ἅπαν γὰρ χρῶμα ἐν σώματι.“ Vgl. dazu 1b 6–9.
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gehört, d. h. sie macht das Seiende gerade als es selbst offenbar. Als es selbst ist es allerdings freilich wesentlich defizient, da es nur sein kann, wenn etwas anderes ist, an dessen Sein es, ja man muß es wohl so sagen, teilhaben kann. Das, was sich also im Falle der Beschaffenheit (oder auch aller anderen Kategorien mit Ausnahme der ersten) in dem sie offenbar machenden Sagen zeigt, zeigt sich zwar als es selbst, aber nicht rein aufgrund seiner selbst, sondern auch aufgrund des offenbar machenden Sagens, das von allem absieht und abstrahiert, was die Beschaffenheit zwar als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzt, was aber nicht zur Beschaffenheit selbst gehört, nämlich von dem, wovon die Beschaffenheit jeweils eine Beschaffenheit ist. Wie stellt sich aber nun die Abhängigkeit vom jeweils Einzelnen bei der zweiten Seiendheit dar? Auch diese wird ja vom jeweils Einzelnen als dessen Beschaffenheit ausgesagt, allerdings nicht auf paronyme, sondern auf identifizierende Weise. Genau dies will Aristoteles mit den bereits weiter oben zitierten Worten sagen, die hier der Eindeutigkeit halber noch einmal angeführt werden sollen: … τὸ δὲ εἶδος καὶ τὸ γένος περὶ οὐσίαν τὸ ποιὸν ἀφορίζει, –ποιὰν γάρ τινα οὐσίαν σημαίνει.159 … die Form aber und die Gattung grenzen im Bereich der Seiendheit die Beschaffenheit ab, denn sie stellen eine auf eine bestimmte Art beschaffene Seiendheit dar.
Es ist also die Seiendheit selbst als Seiendheit, die durch Form und Gattung zur Sprache kommt, weshalb diese beiden auch als einziges, wie Aristoteles betont, neben den ersten Seiendheiten noch als Seiendheit, nämlich als zweite Seiendheit, bezeichnet werden können.160 Form und Gattung grenzen die Beschaffenheit der Seiendheit ab und bestimmen sie dadurch als das, was sie von sich her ist, so daß die Seiendheit hinsichtlich ihrer selbst offenbar wird. Die schlechthinnige Beschaffenheit dagegen bestimmt zwar auch, wenn sie (paronym) ausgesagt wird, die erste Seiendheit, jedoch nicht hinsichtlich dessen, was sie rein aufgrund ihrer selbst ist, sondern hinsichtlich dessen, was sie aufgrund der in oder an ihr seienden Beschaffenheit ist. Dennoch besteht eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen zweiter Seiendheit und Beschaffenheit. Denn auch das Offenbarmachen der zweiten Seiendheit ist, ebenso wie das der 3b 19–21. Vgl. 2b 29–31.
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Beschaffenheit, verbunden mit einer Abstraktion. Im Gesagt-Werden nämlich zeigen sich beide nicht rein aufgrund ihrer selbst als sie selbst, sondern dadurch, daß dieses Sagen selbst mit in die Konstitution des Seienden eingeht. Dies geschieht dadurch, daß es alles ausblendet, was nicht zu dem Seienden selbst gehört. Mensch z. B. ist immer ein bestimmter, einzelner Mensch, ähnlich wie weiß immer nur etwas je einzelnes Weißes ist. Es gibt ebensowenig den Menschen schlechthin, der hier unter uns herumlaufen würde, wie die weiße Farbe schlechthin, auf die ich inmitten all dessen, was weiß ist, noch einmal unabhängig stoßen könnte. Sowohl das eine wie das andere bezieht sich auf eine unbestimmte Vielzahl von ersten Seiendheiten, allerdings freilich mit dem bereits erwähnten Unterschied, daß dieser Bezug das eine Mal durch eine identifizierende Aussage hergestellt wird, das andere Mal durch eine nicht-identifizierende. Jede identifizierende Aussage drückt nun aber immer eine vollständige und schlechthinnige Identität des Ausgesagten mit dem Zugrundeliegenden unter der Bedingung der Abstraktion aus. Der Mensch überhaupt z. B. enthält in seiner Definition nichts, was nicht jedem einzelnen Menschen ohne Einschränkungen voll und ganz zukäme, denn jeder einzelne Mensch ist ja in gewisser Weise ein Mensch überhaupt, wenn man von allem anderen absieht. In dem, was den Menschen überhaupt ausmacht, findet sich nichts, was nicht auch jedem einzelnen Menschen zukommen würde. Das Mensch-Sein, d. h. das spezifische einem Menschen als Menschen zukommende Sein, ist also für den Aristoteles der Kategorienschrift, hierin noch ein treuer Schüler seines Lehrers Platon, mit dem Menschen im allgemeinen gleichzusetzen, was für ihn allerdings nicht mehr bedeutet, daß das Allgemeine im eigentlicheren Sinne ist. Dies ist ein wesentlicher Punkt, den Aristoteles dadurch zum Ausdruck bringen will, daß er den zweiten Seiendheiten Unteilbarkeit und Einheit abspricht und sie damit für teilbar und vieles erklärt. Teilbar darf hier allerdings nicht in dem Sinne verstanden werden, wie ein Kuchen aufgeteilt werden kann, sondern eher im Sinne der Teilbarkeit einer Almende: jedem Zugrundeliegenden gehört die Form ganz. Kennzeichen dieser Teilbarkeit und Vielheit ist die Vielheit dessen, wovon die zweiten Seiendheiten ausgesagt werden161, und zwar deshalb, weil dieses Aussagen identifizierend ist. Auch wenn die einzelnen Menschen nämlich hinsichtlich der Form des Menschen vollkommen identisch sind, so sind sie Vgl. Cat. 5, 3b 16 f.
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doch untereinander nur teilweise identisch, nämlich eben hinsichtlich ihres Mensch-Seins; die einzelnen Menschen unterscheiden sich ja bekanntlich von einander, obwohl sie freilich alle weiterhin Menschen sind. Die einzelnen Menschen müssen also jeweils noch durch irgendetwas anderes charakterisiert sein, das nicht in ihrem Mensch-Sein gründet. Dieses ist der zweite wesentliche Punkt, der darin, daß den zweiten Seiendheiten Unteilbarkeit abgesprochen wird, zum Ausdruck kommt. Von diesem Irgendetwas nun, hinsichtlich dessen sich das je Einzelne von einander unterscheidet, muß im Sagen und Aussagen der zweiten Seiendheit abgesehen werden. Sowohl zweite Seiendheit als auch Beschaffenheit sind also nur durch einen abstrahierenden Akt erfaßbar, und dies zumindest haben sie gemeinsam. Sie sind also hinsichtlich ihres Seins und Sich-Zeigens in einer doppelten Hinsicht abhängig: einmal von dem abstrahierenden Sagen, zum anderen von dem, wovon sie abstrahiert werden. Sie unterscheiden sich aber auch wesentlich, und zwar hinsichtlich dessen, wovon hier jeweils abstrahiert wird. Um die Beschaffenheit zu erfassen, muß von einem von ihr verschiedenen Träger abstrahiert werden, in welchem allein die Beschaffenheit sein kann. Die zweite Seiendheit dagegen wird durch die Abstraktion von etwas erfaßt, das mit dieser zweiten Seiendheit in der soeben beschriebenen Weise identisch ist. Dieser Unterschied hat auch zur Folge, daß die zweiten Seiendheiten immer ein allgemeines Seiendes sind, das von Vielem identifizierend ausgesagt wird und daher auch selbst der Anzahl nach vieles sein muß. Die Beschaffenheiten dagegen können auch ein einzelnes Seiendes sein, also eines, das unteilbar und der Anzahl nach eines ist, z. B. eine bestimmte Weißschattierung. Sowohl zweite Seiendheiten als auch die Beschaffenheit sind also durch eine wesentliche Leerstelle gekennzeichnet, die die erste Seiendheit vertritt. Dies haben sie jedoch nicht nur untereinander gemein, sondern auch mit allen anderen Kategorien. Muß also der zweiten Seiendheit und der Beschaffenheit noch etwas gemeinsam sein, was sie von allen anderen Kategorien unterscheidet? Dies wäre nur dann der Fall, wenn hier mit dem ποιόν tatsächlich auf die Kategorie der Beschaffenheit verwiesen würde. Dies ist jedoch nicht notwendig der Fall, da man in einem gewissen Sinne alle Kategorien mehr oder weniger angemessen als Beschaffenheiten bezeichnen kann. Man kann z. B. auf die Frage, wie etwas beschaffen ist, z. B. ein Tisch, mit der gleichen Berechtigung antworten, daß er so und so hoch ist, wie man darauf antworten kann, daß er so und so gefärbt ist. Ob man also die Größe einer Sache nennt oder die Farbe,
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beide Male gibt man ihre Beschaffenheit an, freilich nicht die Beschaffenheit im kategorialen Verständnis. Das Verhältnis zwischen der kategorialen Beschaffenheiten und den anderen Arten von Beschaffenheit dürfte dabei wohl in gewisser Weise dem zwischen der Frage „Was ist es?“, insofern diese auf die Kategorie der Seiendheit verweist, und derselben Frage, insofern diese auf alle anderen Kategorien angewandt werden kann, ähneln. Die eine Bedeutung ist die primäre, alle anderen demgegenüber sekundär, und zwar deshalb, weil sie in einem gewissen Sinne defizitär sind: nur im Rahmen der ersten Kategorie ist eine wirkliche Definition und damit auch eine vollständige Antwort auf die „Was ist es?“-Frage möglich. In einem solchen sekundären Sinne scheint mir nun auch hier von Beschaffenheit die Rede zu sein. Dabei ist es noch einmal eine ganz andere, wenn auch sicherlich nicht unbedeutende Frage, warum gerade diese Kategorienbezeichnung auch auf eine so unspezifische Weise verwendet werden kann und worin die Ähnlichkeit und die Unähnlichkeit (also das „Defizit“) in Bezug auf die kategorialen Verwendungsweise gründet. So interessant es aber auch wäre, dieser Frage detailliert nachzugehen, so wollen wir diese Untersuchung hier doch zurückstellen, um nicht zu weit von unserem Thema abzuschweifen. Ich möchte mich stattdessen hier damit begnügen, eine m.E. nicht ganz unplausible Vermutung zu äußern. Die Ähnlichkeit zwischen der kategorialen Beschaffenheit und den zweiten Seiendheiten scheint nämlich in nichts anderem als darin zu gründen, daß beide von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden, unähnlich sind sie sich dagegen darin, daß dieses Zugrundeliegende einmal mit dem Ausgesagten identisch ist, einmal nicht. Doch wie dem auch sei, festzuhalten bleibt in jedem Falle das Ergebnis, daß hier, wenn die zweite Seiendheit als Beschaffenheit bezeichnet wird, diese Bezeichnung in einem nicht-kategorialen Sinne verwendet wird. Kommen wir also noch einmal auf des Verhältnis von erster zu zweiter Seiendheit zurück. Wie sich uns soeben ergeben hat, sind die je einzelnen Seiendheiten hinsichtlich ihrer Form vollkommen identisch. Dennoch unterscheiden sie sich auch und müssen demnach, wie bereits gesagt, durch ein Irgendetwas charakterisiert sein, das nicht in ihrer Form gründet. Die einzelnen Menschen z. B. müssen sich durch irgendetwas voneinander unterscheiden, das nicht zu dem gehört, was ihr Mensch-Sein ausmacht. Was also ist dieses unbekannte X? Am naheliegendsten ist zunächst sicherlich die Vermutung, es handele sich hierbei um die akzidentellen Bestimmungen, die einer ersten Seiendheit zukommen, also
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um alle Kategorien mit Ausnahme der ersten. So könnte man z. B. sagen, daß ein Mensch dadurch ein bestimmter Mensch ist, daß er zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ist, die und die Eigenschaften hat usw. Diese zunächst scheinbar so einleuchtende Erklärung jedoch kann unmöglich der Ansicht des Aristoteles entsprochen haben. Denn die erste Seiendheit fällt eben gerade hinsichtlich ihrer selbst nicht in irgendeine andere Kategorie als allein der ersten. Nur so kann sie der ihr zugedachten Begründungsfunktion gerecht werden. Die ersten Seiendheiten müßten sich also hinsichtlich ihrer selbst unterscheiden, d. h. die Unterschiede müßten identifizierend ausgesagt werden können. Nun ist aber der letzte auf diese Weise aussagbare Unterschied derjenige, der die Formen von einander im Hinblick auf die Gattung abgrenzt. Das je Einzelne dagegen ist nicht definierbar, und das wiederum bedeutet, daß sich die ersten Seiendheiten hinsichtlich ihrer selbst nicht unterscheiden können. Auch die Teile der Seiendheiten, die ja nach dem Aristoteles der Kategorienschrift ebenfalls Seiendheiten sein sollen, können hier keine Lösung bringen, da sich in ihrem Falle, insofern sie ja eben auch Seiendheiten sind, genau das gleiche Problem stellt: auch ihre letzte Bestimmtheit ist hinsichtlich ihrer selbst nicht definierbar, sie können also nur akzidentell, also hinsichtlich anderem, als je Einzelnes bestimmt sein, hinsichtlich ihrer selbst aber wären sie, wie alle anderen Seiendheiten, von einander nicht unterscheidbar und damit bloße Form plus X. Doch auch wenn wir annehmen, die Teile wären auf welche Weise auch immer hinsichtlich ihrer selbst als je Einzelnes bestimmt, dann könnte dies immer noch keine Erklärung für die Bestimmtheit der Seiendheit sein, deren Teile sie sind. Denn auch wenn alle Teile eines Menschen auf diese Weise bestimmt wären, so wäre dadurch der Mensch noch nicht hinsichtlich seiner selbst, d. h. als Mensch, bestimmt. Daß z. B. eine Nase diese bestimmte Nase ist, fügt dem Mensch-Sein eines Menschen keine weitere Bestimmung hinzu, das aber heißt nichts anderes, als daß die konkrete Bestimmtheit der Nase gegenüber dem Mensch-Sein des Menschen akzidentell ist. Hier eröffnet sich also eine tiefgreifende Aporie, die unter der Oberfläche der Kategorien verborgen liegt. Sie ist im Rahmen der Kategorienschrift nicht lösbar und verweist daher auf einen ebenso tiefgreifenden Mangel in ihrer ontologischen Grundkonzeption. Dieser Mangel konnte Aristoteles nicht verborgen bleiben, und damit zugleich auch nicht die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neufassung des Verhältnisses von
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Form und Einzelnem. Dieser Aufgabe stellte er sich dann im Zuge der Ausarbeitung seiner reifen Ontologie.
3.3.3 Das Verhältnis der Seiendheit zum Wandel Im letzten Abschnitt des fünften Kapitels der Kategorienschrift (Cat. 5, 3b 10 – 4b 19) betrachtet Aristoteles das Verhältnis der Seiendheit zum Gegensatz. Wohl eine der ersten Fragen, die sich hier aufdrängt, ist die nach dem Grund: Warum tut er das? Und warum räumt er diesem Punkt zudem noch so breiten Raum ein, daß er ihn in Zusammenhang mit jeder Kategorie, die im Rahmen der Kategorienschrift erörtert wird, thematisiert? Es muß sich hierbei doch, möchte man meinen, um einen sehr wichtigen Punkt handeln, der Entscheidendes zum Verständnis des Seienden beiträgt. Warum also hielt Aristoteles die Frage nach dem Verhältnis der Kategorien zum Gegensatz für so wichtig? Auch wenn diese Frage nicht abschließend zu beantworten ist, so dürfte dabei wohl die Absicht eine Rolle gespielt haben, daß das Kriterium des Gegensatzes eine Entscheidung über die Kategorienzugehörigkeit eines Seienden ermöglicht. So nutzt es Aristoteles z. B. in seinem Dialog Eudemos dazu, zu beweisen, daß die Seele nicht die Harmonie eines Körpers ist, sondern eine Seiendheit.162 Der Gegensatz spielt aber auch im Hinblick auf die Frage, wie Wandel möglich und logisch bzw. sprachlich erfaßbar ist, eine entscheidende Rolle, obwohl freilich die Ausführungen in der Kategorienschrift nicht den Eindruck erwecken, als wäre sich Aristoteles dieses Umstandes zu diesem Zeitpunkt schon voll bewußt. Ob dieser Eindruck nun täuscht oder nicht: wir wollen im folgenden unabhängig davon der Frage nachgehen, inwieweit die Ausführungen der Kategorienschrift zu diesem Thema ein Verständnis des Wandels eher ermöglichen oder aber eher verbauen. Wandel und Gegensatz nämlich hängen deshalb eng zusammen, weil Wandel nur möglich ist, wenn etwas, das ist, auch nicht sein kann und umgekehrt, sei es hinsichtlich seiner selbst oder im Hinblick auf das, was sich für etwas zufällig ergeben hat. Das Sein und Nicht-Sein von etwas ist nämlich die grundlegendste Form der Entgegensetzung und des Gegensatzes; jeder Gegensatz spannt sich nach Aristoteles zwischen diesen beiden auf, auch wenn es manchmal freilich noch Zwi-
Vgl. Philoponos, In De anima 141, 23–25.
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schenstufen gibt.163 Wandel also vollzieht sich immer im Rahmen von Gegensatzstrukturen. Daß Wandel und Gegensatz bei manchen Veränderungsprozessen untrennbar zusammengehören, ist nun zwar keine Erkenntnis, zu der er erst in späterer Zeit durchdrang, schließlich wird dies von Aristoteles bereits in der Kategorienschrift vorausgesetzt, z. B. wenn es um den Nachweis geht, daß jeder Veränderungsprozeß nicht nur der Ruhe, sondern auch einem anderen Veränderungsprozeß, nämlich dem in entgegengesetzter Richtung verlaufenden, entgegengesetzt ist.164 Ob aber Aristoteles auch schon zur Zeit der Kategorienschrift der Ansicht war, daß sich jede Veränderung stets zwischen Gegensätzen vollzieht, das darf mit Recht bezweifelt werden. Die Frage nach der Erklärung von Veränderung und Wandel nahm nun bekanntlich bei Aristoteles später einen sehr breiten Raum ein, so daß die Frage, wie sich denn dazu seine früheren Ansichten zum Gegensatz verhalten, mehr als berechtigt ist. Die Frage nach der Möglichkeit und der Erklärbarkeit von Veränderungen weist aber auch weit über Aristoteles hinaus auf eines der tiefsten Probleme der an tiefen Problemen ja nicht gerade armen Philosophie. Denn wenn alles sich ständig veränderte und keine aus diesem Fluß heraustretende Einheit möglich wäre, dann wäre nicht nur jede Erkenntnis unmöglich, sondern auch schon das bloße sprechen.165 Wenn sich dagegen nichts veränderte, weil alles eines ist und es keine Vielheit gäbe, dann würden wir durch unsere Sinne ständig betrogen, denn diese zeigen uns ja, daß sich dies und jenes wandelt. Wenn man also sowohl dem Augenschein sein Recht zukommen lassen will als auch dem Verlangen nach Einsicht, dann muß man darlegen, wie Wandel und Bestand zugleich möglich sind. Aristoteles löst dieses Dilemma spätestens in der Physik dadurch, daß er ein bleibendes Zugrundeliegendes annimmt, das gegensätzliche Bestimmungen annehmen und sich dadurch wandeln kann, und zwar von einer hin zur anderen der jeweils gegensätzliche Bestimmungen. Um diese Frage nach Möglichkeiten und Grenzen des Wandels hinsichtlich der Seiendheit zu klären, kann sie nun nach zwei Seiten hin betrachtet werden: einmal hinsichtlich ihrer selbst, einmal hinsichtlich des von ihr abhängigen Anderen, der Eigenschaften im weitesten Sinne. Diese zwei Hinsichten finden wir auch bei der Darstellung des Gegen Vgl. Phys. A 5, 188a 19 – 189a 9. Vgl. Cat. 14, 15b 1–16. 165 Vgl. Theait. 183b. 163
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satzes im Rahmen der Kategorienschrift und insbesondere auch in dem uns hier interessierenden Abschnitt wieder. Wir wollen also im folgenden Untersuchen, was das dort Gesagte für Konsequenzen für ein mögliches Verständnis von Veränderungsprozessen hat.
3.3.3.1 Seiendheit und essentieller Wandel Im ersten Schritt, dem wir uns hier zuwenden wollen, wird die Seiendheit selbst im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Entgegensetzung betrachtet. Wenden wir darauf die Frage an, welche Bedeutung die in diesem Zusammenhang dargelegten Ansichten des Aristoteles für ein Verständnis des Wandels haben, dann steht hier demnach nicht weniger als das Werden und Zugrundegehen der Seiendheiten und damit auch des je Einzelnen zur Debatte. Aristoteles teilt seine Betrachtung in zwei Abschnitte, die sich zwei unterschiedlichen Aspekten dieses Gesamtproblems widmen, nämlich einmal dem Gegensatz und dann noch dem Mehr und Weniger; wir werden uns im folgenden vor allem auf den ersten, allgemeineren Aspekt konzentrieren. Zunächst nun stellt Aristoteles im Abschnitt 3b 24–32 ganz allgemein fest, daß der Seiendheit nichts entgegengesetzt ist, ohne die Art der Entgegensetzung weiter zu differenzieren: Ὑπάρχει δὲ ταῖς οὐσίαις καὶ τὸ μηδὲν αὐταῖς ἐναντίον εἶναι.166 Den Seiendheiten kommt aber auch zu, daß ihnen nichts entgegengesetzt ist.
Es gibt also keinen Gegensatz zu Lebewesen, Mensch oder Sokrates. Während diese Feststellung bei anderen Kategorien, denen Aristoteles diese Charakteristik ebenfalls zuspricht, z. B. dem ποσόν167, durchaus erläuterungsbedürftig ist, scheint das hier in den Augen des Aristoteles nicht der Fall zu sein. Vielmehr scheint klar, daß einem Sokrates weder ein Aristoteles noch ein Platon entgegengesetzt ist. Dabei ist es alles andere als klar, was hier der Ausdruck „entgegengesetzt“ eigentlich bedeutet. Eine Definition dieses Ausdrucks sucht man in der Kategorienschrift vergebens. Folgendes Zitat dürfte jedoch vielleicht zumindest einen Hinweis geben, in welcher Richtung die Bedeutung dieses Ausdrucks zu suchen ist:
Cat. 5, 3b, 24 f. Vgl. Cat. 5, 5b, 11 ff.
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ἔτι ἐπὶ μὲν τῶν ἐναντίων ὑπάρχοντος τοῦ δεκτικοῦ δυνατὸν εἰς ἄλληλα μεταβολὴν γενέσθαι, εἰ μή τινι φύσει τὸ ἓν ὑπάρχει, οἷον τῷ πυρὶ τὸ θερμῷ εἶναι·168 Zudem ist es bei dem Entgegengesetzten möglich, weil es hier das Aufnehmende gibt, daß ein Wandel des einen ins andere geschieht, außer irgendeiner Sache kommt von Natur eines der Gegensatzglieder zu, wie z. B. dem Feuer das, worin für ein Warmes das Sein besteht.
Das hier genannte Kriterium, daß ein Wandel ins Gegenteil möglich ist, grenzt den Gegensatz von Beraubung bzw. Privation (στέρησις) und Haben (ἕξις) einer zur Natur einer Sache gehörigen Bestimmung ab.169 Der Gedanke dabei scheint zu sein, daß ein Wandel zwischen Gegensätzen möglich ist, weil es hier etwas von den Gegensätzen Verschiedenes gibt, das diesen zugrunde liegt, während ein Wandel zwischen Beraubung und Haben nur sehr eingeschränkt möglich ist, weil hier die fragliche Eigenschaft mit zur Natur des Zugrundeliegenden gehört und insofern dieses vom Wandel mitbetroffen ist.170 Die genannte Einschränkung, daß kein Glied des Gegensatzes einer Sache seiner Natur nach zukommen darf, besagt dabei nicht, daß manche Gegensätze keinem möglichen Wandel zugrunde lägen, sondern nur, daß sie keinen Wandel ermöglichen, insofern sie einer Sache von Natur zukommen. Insofern sie einer Sache jedoch nicht von Natur zukommen, ermöglichen sie dagegen sehr wohl den Wandel in ihr Gegenteil. Denn warm ist nicht nur das Feuer, das nicht kalt sein kann, sondern auch sehr viele andere Dinge, wie z. B. Wasser, das sowohl kochen als auch gefrieren kann. Beraubung und Haben dagegen können ausschließlich dem zukommen, dessen Natur sie betreffen. Wird dies nun so betrachtet, dann ist klar, daß eine Seiendheit keinen Gegensatz haben kann, denn dies würde voraussetzen, daß es etwas Zugrundeliegendes gäbe, dem sie zukäme; da sie jedoch selbst das Zugrundeliegende ist, kann sie sozusagen per definitionem keinen Gegensatz haben. Aber auch eine Beraubung im Sinne der Kategorienschrift kann einer Seiendheit nicht gegenüber liegen, weil diese immer auf eine Natur bezogen ist. Aristoteles definiert sie nämlich so:
Cat. 10, 17–20. Hier ist auch der Vergleich mit dem späteren Denken des Aristoteles interessant; dort wird nämlich jeder Gegensatz, der einem Wandel zugrunde liegt, als Gegensatz von Form und Beraubung aufgefaßt; siehe Abschnitt 4.3. 170 Vgl. Cat. 10, 12a 26–31 und 13a 31–34. 168 169
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ἐστερῆσθαι δὲ τότε λέγομεν ἕκαστον τῶν τῆς ἕξεως δεκτικῶν, ὅταν ἐν ᾧ πέφυκεν ὑπάρχειν καὶ ὅτε πέφυκεν ἔχειν μηδαμῶς ὑπάρχῃ·171 Daß es aber beraubt wurde, sagen wir dann von jedem unter dem, das das Haben aufnehmen kann, wenn etwas in dem, in dem es von Natur vorhanden zu sein pflegt, und zu dem Zeitpunkt, wenn man es von Natur zu haben pflegt, in keiner Weise vorhanden ist.
Die Natur einer Sache also gibt den Maßstab für die Beraubung vor. Ein Neugeborenes, das noch nicht sprechen kann, ist nicht des Sprachvermögens beraubt und somit stumm, denn stumm ist nur ein Mensch, der nicht sprechen kann, obwohl er bereits das Alter erreicht hat, in dem Menschen im allgemeinen, soweit es also ihre Menschen-Natur betrifft, über diese Fähigkeit verfügen. Daraus folgt unmittelbar, daß dann, wenn die Menschen-Natur selbst aufgehoben wird, kein Maßstab mehr vorliegt, der es erlauben würde, von einer Beraubung zu sprechen. Wenn etwas kein Mensch ist, dann kann es nicht seiner Menschen-Natur beraubt sein. Also liegt der Seiendheit, die ja die Natur einer Sache ausmacht, keine Beraubung gegenüber. Da klar ist, daß die Seiendheit nicht zu den beiden letzten Typen des Gegenüberliegenden zählen kann, nämlich der Relation und der Behauptung und Verneinung172 , so können wir also feststellen, daß für den Aristoteles der Kategorienschrift der Seiendheit sowohl im engeren also auch im weiteren Sinne nichts entgegengesetzt ist. Auch der Abschnitt 3b 33 – 4a 9 scheint in diese Richtung zu deuten. Hier betont er nämlich, daß die Seiendheiten auch keine Intensitätsgrade kennen: Δοκεῖ δὲ ἡ οὐσία οὐκ ἐπιδέχεσθαι τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον·173 Es scheint aber die Seiendheit das Mehr und das Weniger nicht anzunehmen.
Von dieser Frage nach der Intensität muß unbedingt die Frage nach der Hierarchie der Seiendheiten abgegrenzt werden. So ist es zwar möglich zu sagen, daß die ersten Seiendheiten mehr Seiendheit sind als die zweiten, jedoch nicht daß z. B. ein Mensch mehr Mensch ist als ein anderer.174 Wenn es nun aber bei der Seiendheit keine Grade der Intensität gibt, dann ist ihr auch in dieser Hinsicht nichts entgegengesetzt.
Cat. 10, 12a 29–31. Vgl. Cat. 10, 11b 17–19. 173 Vgl. Cat. 5, 3b, 33 f. 174 Vgl. Cat. 5, 3b, 34–36 und 2b, 7 f. 171
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Die anscheinend so unproblematische Feststellung, daß einer Seiendheit nichts entgegengesetzt sei, entpuppt sich also als sehr anspruchsvoll; sie steht offenbar in einem komplexen Kontext. In diesem Zusammenhang ist es im übrigen auch nicht ohne Bedeutung, daß Aristoteles später, z. B. in der Physik175 , nicht mehr davon spricht, daß einer Seiendheit nichts entgegengesetzt sei, sondern nur davon, daß einer Seiendheit keine andere Seiendheit entgegengesetzt sei, was durchaus nicht dasselbe besagen muß. Sehen wir genauer hin, so finden wir denn auch in der Physik ausdrücklich die Aussage, daß durchaus einer Seiendheit etwas entgegengesetzt ist, nämlich die Ungestaltheit (ἀσχημοσύνη). Doch dazu mehr am entsprechenden Ort.176 Die Konsequenzen zudem, die besagte, anscheinend so unverfängliche Feststellung für das Verständnis des Wandels nach sich zieht, sind ebenfalls sehr komplex und schwierig zu beurteilen. Wenn nämlich jeder Wandel sich zwischen Gegensätzen vollzieht, Sokrates jedoch keinen Gegensatz hat, dann, scheint es, kann er auch nicht in diesen umschlagen, d. h. er dürfte sich hinsichtlich seiner selbst überhaupt nicht verändern können, und somit auch weder geboren worden noch gestorben sein. Nun ist jedoch genau dies eingetreten: Sokrates wurde geboren und er starb. Soll sich jedoch nicht jeder Wandel zwischen Gegensätzen vollziehen, sondern z. B. das Werden der ersten Seiendheit ganz ohne Gegensatz auskommen, so müßte die Beschreibung eines solchen Werdens doch sehr weit von dem abliegen, was wir als Aristotelische Argumentationsweisen ansonsten kennen. Nun wird von Aristoteles das ganze Problemfeld des Wandels vor Abfassung des ersten Buchs der Physik leider so gut wie nicht thematisiert, es ist also praktisch unmöglich abschließend zu entscheiden, ob und auf welche Weise Aristoteles zur Zeit der Abfassung der Kategorienschrift Werden und Zugrundegehen der Seiendheit als solcher zu erklären versuchte. Die beinahe einzige Richtung, in der eine mögliche Erklärung zu suchen sein könnte, scheint mir die zu sein, die die Teile der Seiendheit mit in Rechnung stellt. Die Seiendheiten scheinen ja für Aristoteles zusammengesetzt zu sein, und was zusammengesetzt ist, kann sich auflösen. Doch denke ich, daß auch dieser Weg nicht allzu weit führen dürfte, denn die Teile der Seiendheit sind für Aristoteles selbst auch wiederum Seiendheiten, was also für das Ganze gilt, muß auch für die Teile gelten. Vgl. z. B. Phys. A 1, 188b 8–26. Siehe Abschnitt 4.3.1.
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Man kann demnach die Seiendheit nicht als Zusammensetzung auffassen, die sich auflösen kann, denn dann müßte ja alles zusammengesetzt sein, d. h. es dürfte letztendlich überhaupt keine Teile geben, von denen die Zusammensetzung ausgehen könnte. Außerdem hätte dann die Seiendheit einen Gegensatz, nämlich eben die Auflösung. Wie dem nun aber auch immer sei, so können wir doch festhalten, daß eine Theorie des Wandels, wie sie Aristoteles später formulierte, mit dem begrifflichen Instrumentarium der Kategorienschrift noch nicht möglich war. Das Problem des Wandels dürfte denn auch, neben dem Problem des Verhältnisses von Form und je Einzelnem, bei der Weiterentwicklung der Aristotelischen Philosophie eine zentrale Rolle gespielt haben.
3.3.3.2 Seiendheit und akzidenteller Wandel Nun kann sich Seiendes aber nicht nur hinsichtlich seiner selbst Wandeln, sondern auch hinsichtlich all dessen, was in einer Seiendheit ist und nur nicht-identifizierend von ihr ausgesagt werden kann. Da auch dieser Wandel eine Gegensatzstruktur voraussetzt, stellt sich demnach ferner die Frage, wie Aristoteles das Verhältnis von Gegensatz und Seiendheit in dieser Hinsicht versteht. Dieser Frage wendet er sich im Abschnitt 4a 10 – 4b 19 zu, wo er es für ein Charakteristikum der Seiendheit erklärt, daß sie für das Entgegengesetzte aufnahmefähig ist: Μάλιστα δὲ ἴδιον τῆς οὐσίας δοκεῖ εἶναι τὸ ταὐτὸν καὶ ἓν ἀριθμῷ ὂν τῶν ἐναντίων εἶναι δεκτικόν·177 Das Eigentümlichste aber der Seiendheit scheint zu sein, daß etwas, das dasselbe und der Anzahl nach eines ist, aufnahmefähig für das Entgegengesetzte ist.
Hinsichtlich dessen also, was die Seiendheit nicht aufgrund seiner selbst, sondern aufgrund eines anderen ist, ist demnach auch Wandel möglich und mit der Begrifflichkeit der Kategorienschrift in gewissen Grenzen erklärbar: was jetzt krank ist, z. B. ein Mensch, kann später gesund sein, weil es auch das Gegenteil annehmen kann. Diese Möglichkeit beruht auf dem spezifischen Verhältnis der Seiendheit zu den anderen Kategorien, die ja nur und ausschließlich in einer Seiendheit sein können; die Seiendheit ist somit nicht nur durch sich selbst bestimmt, was wiederum in ihrem Doppelcharakter als erster und zweiter Seiendheit gründet. 4a, 10 f.
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3.3 Die Unterscheidung zweier verschiedener Arten von Seiendheit
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Möglicherweise also ist der Grund dafür, daß Aristoteles die Seiendheit in dieser Weise konzipiert, wie Ernst Vollrath behauptet, in seinem Bemühen zu sehen, Wandel sprachlich faßbar zu machen: „Die Doppelheit der Substanzialität der Substanz, die in der Kategorienschrift als die 1. und 2. Substanz analysiert worden ist, ergibt sich aus der angedeuteten Problematik: alles Zukommen von etwas, das in einer der anderen kategorialen Seinsweisen vorliegt, zu einem substanziell Zugrundeliegenden (1. Substanz) verändert gerade nicht den Charakter dessen, was dieses als es selbst sachhaltig ist (2. Substanz). Das Grünwerden des Baumes macht nicht aus dem Baum ein sachhaltig anders zu bestimmendes Seiendes, einen Nicht-Baum. So ist es die spezifische Leistung der Substanzinterpretation des Aristoteles, in der Kategorienschrift im Doppelcharakter der Substanzialität der Substanz von einer neu bestimmten Seinsthese her den Grund für Bewegung und Veränderung, die Natur der Natur einsichtig gemacht zu haben.“178 Ich würde hier allerdings ein größeres Fragezeichen anfügen: war Aristoteles denn mit der Begrifflichkeit der Kategorienschrift auch tatsächlich fähig, die „Natur der Natur“ wirklich einsichtig zu machen? Denn erstens bleibt das weiter oben herausgearbeitete Problem des Verhältnisses von Form und je Einzelnem sowie das Problem des substantiellen Wandels weiterhin bestehen. Zweitens aber gesellt sich nun noch eine weitere zentrale Frage hinzu: Wie ist das möglich, daß etwas, das dasselbe und der Anzahl nach eines ist, Entgegengesetztes aufnehmen und sich so wandeln kann? Oder anders gefragt: Wo genau wird denn dieses Entgegengesetzte aufgenommen, und wo in der Seiendheit sind dann die Eigenschaften, die ja in der Seiendheit sein sollen? Sicherlich sind sie nicht in der Form, insofern sie Form ist, denn die Form ist nur das, was sie ist, d. h. sie „enthält“ nur essentielle Bestimmungen; wenn dem aber so ist, dann sind die Eigenschaften auch nicht im je Einzelnen, zumindest so lange nicht, solange es in der Weise der Kategorienschrift verstanden wird, denn auch ein bestimmter Mensch ist ja ein Mensch überhaupt, und alles was in einem bestimmten Menschen sein kann, müßte auch in einem Menschen überhaupt sein können, also in der Form. Eine Antwort auf diese Fragen bleibt Aristoteles in der Kategorienschrift schuldig. Es ist aber auch, wie mir scheint, im Rahmen dieser Schrift gar keine mögliche Lösung absehbar, weil die erste Seiendheit noch von der Form abgegrenzt wird und der Materie- und Möglichkeits Vgl. Vollrath, a.a.O., S. 107.
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begriff offenbar noch gar nicht entwickelt ist. Von einer Binnenstruktur dessen, was hier erste Seiendheit genannt wird, nämlich des je Einzelnen, so wie später im Kontext der reifen Gestalt seiner Ontologie, ist noch gar nicht die Rede, damit fehlt aber, um es einmal etwas salopper auszudrücken, einfach der Platz für die akzidentellen Eigenschaften. Wäre der Materiebegriff zum Zeitpunkt der Abfassung der Kategorienschrift bereits entwickelt gewesen, hätte Aristoteles ihn nämlich gerade in diesem Zusammenhang zumindest erwähnen müssen, weil andernfalls eben überhaupt nicht verständlich wird, wie etwas sukzessive verschiedene Bestimmungen annehmen kann. Außerdem wäre es nach Einführung des Materiebegriffs nicht mehr möglich, das gesamte Einzelne als erste Seiendheit zu bezeichnen, wie es doch in der Kategorienschrift geschieht, sondern nur noch das in das Einzelne mithineingenommene εἶδος, da ohne dieses weder Materie noch das ganze Einzelne möglich wären.
3.3.4 Resümee Die Lehre von der οὐσία in der Kategorienschrift weist, wie wir sahen, einige Defizite auf, die Aristoteles nicht verborgen bleiben konnten. Vor allem zwei ontologische Aporien bleiben ungelöst. So behauptet Aristoteles zum einen, wie bereits gesagt, daß alles, was gemäß anderer Kategorien als der ersten von dem Einzelnen paronym oder auf eine andere nicht-identifizierende Weise ausgesagt werden kann, in diesem Einzelnen ist; er erläutert aber in keiner Weise, wie das möglich sein soll. Das gleiche Problem stellt sich, wenn er behauptet, das wichtigste Charakteristikum der ersten οὐσία sei es, daß sie Entgegengesetztes aufnehmen kann, nicht gleichzeitig zwar, aber nacheinander, was bei allem anderen nicht möglich ist – die weiße Farbe kann nicht heller oder dunkler werden, sondern nur ein Körper kann das. Auch hier bleibt letztlich ganz unverständlich, wie dies möglich sein soll. Aber damit nicht genug, daß er das Problem nicht erörtert, es scheint auch mit den begrifflichen Mitteln der Kategorienschrift gar nicht lösbar zu sein, weil das je Einzelne als erste Seiendheit aufgefaßt wird und so keine Hinsichtenunterscheidung mehr zulassen kann, ansonsten müßte man ja wiederum die Frage danach stellen, welche Hinsicht den Primat hat; die erste Seiendheit müßte dann aber diese primäre Hinsicht sein und nicht das je Einzelne als Ganzes. Man muß also sagen, daß das klassische Problem der Philosophie ungelöst bleibt, nämlich die Frage nach der Möglichkeit dessen, daß eines zugleich vieles ist, und zwar nicht nur in synchroner, sondern
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auch in diachroner Hinsicht, weshalb auch das Problem des Wandels hierher gezählt werden muß. Die grundlegende und entscheidende Aporie dieser frühen Lehre des Aristoteles ist jedoch das ungeklärte Verhältnis von Definition (τί ἐστι) und Selbständigkeit (τόδε τι), die beide das Wesen der Seiendheit (οὐσία) ausmachen. Das primär Seiende, so der Aristoteles der Kategorienschrift, ist das als τόδε τι verstandene je Einzelne; dieses kann jedoch, insofern es dieses je Einzelne ist, nicht definiert werden, sondern nur hinsichtlich der Form ist dies möglich. Die Form aber ist nichts vollkommen Selbständiges, sondern als Allgemeines nur etwas durch einen abstrahierenden Erkenntnisakt konstituiertes. Diese Abstraktion geschieht dadurch, daß von den Einzelaspekten der Einzeldinge, durch die sich eines vom anderen gleicher Form unterscheidet, abgesehen wird; übrig bleibt dann die bloße Form in Sinne eines allgemeinen Seienden. Daraus ergibt sich, daß sich das ontologisch selbständige und damit primäre Sein als solches letztendlich der Erkenntnis prinzipiell entzieht und also im Bereich des Irrationalen angesiedelt ist, denn auf rational erfaßbare Weise ist es nicht durch sich selbst bestimmt, sondern nur durch Eigenschaften, die in ihm sind. Ja, man kann diesen Sachverhalt sogar zu dem paradoxen Satz komprimieren, daß das ontologisch Selbständige, das allem anderen voraus und zugrunde liegt, ganz unselbständig ist, weil es das, was es ist, nur aufgrund von anderem ist. Die vollkommen durch sich selbst bestimmte Form dagegen soll zwar ontologisch unselbständig sein, weil sie allgemein und der Anzahl nach Vieles ist und als ein Eines und vom je Einzelnen Unterschiedenes erst durch den korrespondierenden Abstraktionsakt konstituiert wird; sie könnte durchaus aber, und vielleicht mit mehr recht, auch als ontologisch selbständig angesehen werden, weil die erste Seiendheit ihr aus sich selbst heraus nichts hinzuzufügen vermag als ein unbestimmtes X, das als das, wovon abstrahiert wird, sowieso schon Teil der abstrahierten Form ist. Damit aber wird der Versuch des Aristoteles fraglich, dem Platonischen Seinsverständnis, das das Sein des Einzelnen als Teilhabe am Sein des Allgemeinen versteht, sein eigenes entgegenzusetzen, das das primäre Sein als sich äußernden Selbstvollzug auffaßt, denn Aristoteles kann nicht klar machen, auf welcher Ebene dieser Selbstvollzug angesiedelt ist: Auf der Ebene der ersten Seiendheit? Aber diese ist, was sie ist, nicht durch sich selbst. Auf der Ebene der zweiten Seiendheit? Diese ist von der ersten abhängig, weil sie von ihr abstrahiert wird. Diese Aporie bildet eines der Kernprobleme, deren Lösung die späte Ontologie des
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3. Form ohne Materie in der frühen Ontologie der Kategorienschrift
Aristoteles bestimmen; sie liegt auch dem Gipfelpunkt der Aristotelischen Philosophie, nämlich Met. Z, zugrunde.179 Dieser Text unterscheidet sich von der Kategorienschrift nun aber vor allem in der Existenz des Begriffs der Materie und einem grundlegenden Auffassungswandel bezüglich der Form. Es dürfte daher wohl auch auf die Klärung dieser Fragen abzielen, wenn Aristoteles im ersten Buch der Physik den Begriff der Materie (ὕλη) einführt und im Zuge dessen den Begriff der Form (εἶδος) grundlegend neu faßt. Das Ergebnis ist eine Binnendifferenzierung des je Einzelnen, die über die bloße Konstatierung der Zusammengesetztheit aus Teilen hinaus geht, denn das εἶδος, also das, wodurch etwas das ist, was es ist, wird nun nicht mehr als etwas bloß Allgemeines, vom je Einzelnen Abstrahiertes aufgefaßt, vielmehr tritt es nun als das vom Allgemeinen zu unterscheidende spezifische Sein eines Seienden in Gegensatz zur Materie und wird so mit in das je Einzelne hineingenommen. Dadurch eröffnet sich eine Möglichkeit zu erklären, wie eines vieles sein und sich verändern kann, denn die Materie ist der Möglichkeit nach vieles.180 Auch die Frage nach der Ebene, auf der das Sein im primären Sinne zu suchen ist, kann nun, wie noch zu zeigen sein wird, eindeutig beantwortet werden: es ist das εἶδος. Das mit in die erste Seiendheit hineingenommene εἶδος wird dadurch wieder, wie schon bei Platon, als Einheitsprinzip verstanden, ohne Vielheit und Werden von dem im eigentlichen Sinne Seienden auszuschließen, das als ganzes dadurch in gewisser Hinsicht zu einem σύνθετον181, einem aus Form und Materie Zusammengesetzten, wird.
179 Vgl. Alan Code: „The Aporematic Approach to Primary Being in Metaphysics Z“, in: Canadian Journal of Philosophy. Supplementary Volume 10 (1984), S. 1–20, S. 7. Met. Z selbst ist allerdings nicht mehr, wie Code glaubt, aporetisch, sondern arbeitet durchaus eine Lösung des Problems heraus. Obwohl diese Lösung freilich erst im Zusammenhang einer Untersuchung von Met. Z abschließend dargestellt werden kann, so werden doch die folgenden Ausführungen bereits die Richtung, in der die Lösung zu suchen ist, hoffentlich einigermaßen deutlich machen. 180 Darauf wird im folgenden noch ausführlich einzugehen sein; wir belassen es daher hier bei diesen allgemeinen Andeutungen. 181 Vgl. z. B. Met. Δ 24, 1023a 31 f.
4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft Im folgenden wollen wir uns nun der reifen Ontologie des Aristoteles zuwenden. Diese ist m.E. durch die Einführung eines ganz neuen Konzeptes charakterisiert, nämlich des Konzeptes der Materie.1 Diese Einführung ging einher mit einem veränderten Verständnis der Form. Da jedoch eine vollständige und erschöpfende Behandlung der Problematik Form und Materie sicherlich überaus umfangreich würde, beschränke ich mich hier auf einige zugegebenermaßen ergänzungsbedürftige Überlegungen zu ausgewählten Texten. Nun handelt es sich bei diesen Texten allerdings durchaus um solche, die für die Aristoteles-Interpretation von zentraler Bedeutung sind, so daß damit die Auswahl einigermaßen gerechtfertigt wird. Vor allem zwei Texte spielen dabei im folgenden eine besondere Rolle, nämlich das fünfte Buch der Metaphysik und das erste Buch der Physik. Insbesondere das erste Buch der Physik nimmt im Werk des Aristoteles eine zentrale Scharnierstelle ein, da es den für sein ganzes Denken bestimmenden Begriff der Materie in grundlegender Weise einführt, ohne allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, schon das Wort im Sinne eines Terminus technicus zu verwenden.2 Eine solche grundlegende Er1 Zwar wird das Materiekonzept des Aristoteles meist in Kontinuität zu Platons Überlegungen im Timaios oder zum vorsokratischen Denken gesehen, diese Betrachtungsweise scheint mir aber etwas zu oberflächlich zu sein und gerade das radikal Neue an dem Gedanken des Aristoteles zu übersehen. Dieses radikal Neue besteht, wie noch zu zeigen sein wird, in der Einsicht, daß es zwischen Sein und NichtSein noch ein Drittes gibt und somit das Werden nicht einfach dem Nicht-Sein zugeschlagen werden kann. 2 Ich gehe also im Gegensatz zu Heinz Happ (vgl. a.a.O.) nicht davon aus, daß die ὕλη νοητή, die vor allem in Met. Z erwähnt wird, Wesentliches zum Verständnis der Materie als das der Veränderung Zugrundeliegende beiträgt, das Verhältnis dürfte vielmehr gerade andersherum sein. Die große Bedeutung, die Happ der ὕλη νοητή beimißt, paßt nämlich nicht recht zu dem seltenen Vorkommen dieses Ausdrucks in den Schriften des Aristoteles.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
örterung zu dem Thema, die nicht schon sowohl den Begriff als auch das Wort Materie voraussetzen würde, finden wir an keiner anderen Stelle im Werk des Aristoteles. Zudem scheint das erste Buch ursprünglich ein selbständiges Werk gewesen zu sein, das dem Inhalt entsprechend den Titel περὶ ἀρχῶν (Über Prinzipien) trug und offenbar für so wichtig gehalten wurde, daß es, vielleicht noch von Aristoteles selbst, der Physik vorangestellt wurde.3 Sowohl der Rest der Physik als auch die gesamte Metaphysik und auch viele anderen Schriften des Aristoteles greifen die dort etablierte Unterscheidung zwischen Entgegengesetztem und Zugrundeliegendem auf, ohne diese Begründungsleistung noch einmal zu wiederholen. Diese Unterscheidung ist aber ein ganz wesentliches Element dessen, was wir heute unter dem Stichwort Hylemorphismus als Grundlage des Aristotelischen Denkens ansehen. Wir können daher durchaus sagen, daß die gesamte spätere Philosophie des Aristoteles auf die im ersten Buch der Physik eingeführte Dreiheit aufbaut, für deren Glieder sich (wohl nicht allzuviel) später die Bezeichnungen Form, Privation und Materie einbürgern.4 Bevor wir uns nun jedoch dem Text zuwenden, wollen wir uns noch die Frage erlauben, worum es Aristoteles denn eigentlich im ersten Buch der Physik geht, d. h. in welchem Zusammenhang die Materie eingeführt wird. Nur wenn wir dies verstehen, dürfen wir wohl hoffen, auch dem Sinn des Begriffs der Materie bei einer Untersuchung des ersten Buchs der Physik näherzukommen. Der Zweck der Untersuchung wird nun
3 Vgl. W.D. Ross (Hrsg./Komm.): Aristotle’s Physics. A Revised Text with Introduction and Commentary, Oxford 1936; hier relevant vor allem S. 5 –7. 4 Dazu paßt auch die relativ frühe Datierung des Werkes bei Ross, der es, wie überhaupt den Großteil der Physik, der späten Akademiezeit des Aristoteles zuordnet; vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 9 f. Dieser frühen Datierung schließt sich auch Hans Wagner an; vgl. Hans Wagner (Übers./Komm.): Physikvorlesung, Berlin 51995 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Band 11), S. 286. Da die Kategorienschrift zwar noch keine Spuren des Hylemorphismus aufweist, dennoch aber bereits durch eine gehörige Eigenständigkeit gegenüber Platon und den anderen Altvorderen der Akademie, wie z. B. Speusippos, geprägt ist, wird sie wohl zu einer noch früheren Zeit verfaßt worden sein, die man mittlere Akademiezeit nennen könnte, und in der dann wohl auch die Topik verfaßt wurde. Die frühe Akademiezeit wäre dementsprechend die Zeit seiner Ausbildung im engeren Sinne, in der er noch nicht schriftstellerisch tätig war. Man wird aber nun hoffentlich nicht erwarten, daß ich hier Jahreszahlen nenne, außer der des Jahres 347 freilich, in dem Aristoteles Athen zum ersten Mal verließ und damit zugleich seine Zeit als Mitglied der Akademie im engeren Sinne beendete.
4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
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gleich im ersten, doch einigermaßen bekannten Satz der Physik thematisiert: Ἐπειδὴ τὸ εἰδέναι καὶ τὸ ἐπίστασθαι συμβαίνει περὶ πάσας τὰς μεθόδους, ὧν εἰσὶν ἀρχαὶ ἢ στοιχεῖα, ἐκ τοῦ ταῦτα γνωρίζειν (τότε γὰρ οἰόμεθα γιγνώσκειν ἕκαστον, ὅταν τὰ αἴτια γνωρίσωμεν τὰ πρῶτα καὶ τὰς ἀρχὰς τὰς πρώτας καὶ μέχρι τῶν στοιχείων), δῆλον ὅτι καὶ τῆς περὶ φύσεως ἐπιστήμης πειρατέον διορίσασθαι πρῶτον τὰ περὶ τὰς ἀρχάς.5 Da sich das Wissen und das Sich-auf-etwas-Verstehen bei allen Untersuchungen, zu denen Prinzipien oder Ursachen oder Elemente gehören, daraus ergibt, diese kenntlich zu machen (denn wir glauben dann jedes jeweils zu erkennen, wenn wir die ersten Ursachen kenntlich machen und die ersten Prinzipien und bis hin zu den Elementen vordringen), ist klar, daß auch von der Wissenschaft von der Natur versucht werden muß, zunächst das, was die Prinzipien betrifft, zu bestimmen.
Es geht Aristoteles im ersten Buch der Physik also, was ja auch wenig überraschend ist, um die Wissenschaft (ἐπιστήμη) von der φύσις. Die Prinzipien (ἀρχαί) 6 des Gegenstands dieser Wissenschaft, also der φύσις, sollen bestimmt werden, um der Wissenschaft selbst auf diese Weise eine Grundlage zu verschaffen, ja sie überhaupt erst als Wissenschaft zustande zu bringen, denn Wissen ergibt sich überall dort, wo Prinzipien im Spiel sind, daraus, daß diese erkannt werden. Das erste Buch der Physik erfüllt also die Aufgabe der Grundlegung der Physis-Wissenschaft, und zwar nicht als Wissenschaft überhaupt, sondern ganz konkret als einer Wissenschaft von der φύσις. Das zentrale Thema des ersten Buchs der Physik ist damit also vor allem die φύσις selbst, da die Grundlagen ihrer wissenschaftlichen Erfaßbarkeit, also ihre Prinzipien, wohl nur in ihr selbst gesucht werden können. Wenn der Begriff der Materie nun aber gerade in diesem Kontext eingeführt wird, dann ist zu vermuten, daß er mit der φύσις in engstem Zusammenhang steht. Darauf deutet auch die explizite Benennung dessen, was jeder Veränderung zugrunde liegt (also der Materie), als ὑποκειμένη φύσις hin.7 Es wird also unumgänglich sein, sich vor einer Untersuchung des Materie Phys. A 1, 184a 10–16. Genaugenommen sollen hier die ersten Prinzipien erkannt werden. Diese Wendung scheint eine Art weißer Schimmel zu sein, denn Prinzipien sind ja immer etwas erstes. Doch bei der Lektüre des ersten Buchs der Physik wird, wie mir scheint, recht deutlich, daß Aristoteles mit der Bezeichnung erste Prinzipien die allgemeinsten Prinzipien meint; dies wird in Abschnitt 4.3.2 nochmals eine Rolle spielen. 7 Phys. A 1, 191a 8. 5 6
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
begriffs selbst zunächst der φύσις zuzuwenden, um den Sinn dieses Ausdrucks zu klären. Hierbei kommt nun der zweite bereits erwähnte Text ins Spiel, nämlich Met. Δ; denn an dieser Stelle und zwar im vierten Kapitel wird die Physis ausführlich besprochen. Nur so dürfte eine Basis für die angemessene Erörterung der Materie und damit auch der Form zu gewinnen sein. Bei dieser Untersuchung des Ausdrucks φύσις werden wir aber wiederum auf die Begriffe von Form und Materie stoßen, so daß wir notwendigerweise den späteren genaueren Untersuchungen schon vorgreifen müssen; wir werden uns also gleichsam von verschiedenen Richtungen aus dem gleichen Ziel nähern und so abermals in eine Kreisbewegung einschwenken.
4.1. Die fünffache Bedeutung von Physis (Met. Δ 4, 1014b 16 – 1015a 5) Zunächst also müssen wir die Bedeutung des für Aristoteles (wie für das Denken der Antike insgesamt) so zentralen Begriffs der φύσις8 klären, was jedoch kein ganz leichtes Unterfangen ist. Zwar ist der Ausdruck bei Aristoteles und auch schon davor recht häufig, ja Aristoteles bemüht sich sogar an etlichen Stellen seines Werks explizit um eine Erläuterung, jedoch muß man hier immer aufpassen, daß man Angaben von der Art „φύσις ist …“ nicht vorschnell als eine Definition auffaßt, die festlegt, was dieses Wort bedeutet. Daß diese Erklärungen keine Definitionen sind, ersieht man nämlich eindeutig daraus, daß das angebliche definiendum meist im definiens in der einen oder anderen Form wieder auftaucht, z. B. in der Erklärung die φύσις sei „ἡ τῶν φύσει ὄντων οὐσία“9. Zugleich kann man aber auch nicht einfach sagen, daß die φύσις, wie gelegentlich behauptet wird10 , die Gesamtheit der natürlichen Dinge bezeichnet; bisher wurde nämlich noch von niemandem ein auch nur einigermaßen stichhaltiges Beispiel für diese Verwendung genannt (vermutlich, weil es keines gibt) und auch im Liddell/Scott/Jones findet sich 8 Im Zuge der Klärung der Bedeutung von φύσις werden wir es zunächst vermeiden, dieses Wort mit „Natur“ zu übersetzen, um einer vorschnellen Einengung der Bedeutung im Sinne des modernen Naturbegriffs vorzubeugen. 9 Met. Δ 4, 1014b 36. 10 Vgl. dazu z. B. Ross: Physics, a.a.O., S. 20 oder auch einen Beitrag aus neuerer Zeit wie Jochen Althoff: „physis / Natur, Wesen“, in: Aristoteles-Lexikon, hrsg. v. Otfried Höffe, Stuttgart 2005, S. 455–462, S. 455.
4.1. Die fünffache Bedeutung von Physis
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keine solche Bedeutung.11 Jedoch können uns auch Wörterbücher hier nicht mehr als einen ersten Anhaltspunkt bieten, weil die dort zumeist genannten Äquivalente sich ja nur teilweise und in bestimmten Situationen als Übersetzung für φύσις eignen, also in toto auch nicht den gleichen Sinn haben wie dieses Wort; das deutsche Äquivalent mag zwar jeweils unter gewissen Bedingungen ähnlich verwendet werden wie der griechische Ausdruck, der sprachliche Kontext jedoch muß sich durch solche „Übersetzungen“ notwendigerweise komplett ändern und damit zugleich auch die Weise, in der das, was bezeichnet wird, aufgefaßt wird. Diese Auffassungsweise der Sache ist es aber gerade, die uns hier interessiert. Nun steht jedoch glücklicherweise das Substantiv φύσις nicht isoliert da, sondern fügt sich in ein ganzes Netz von stammverwandten Wörtern ein, darunter auch die Verben φύειν und φύεσθαι. Bei letzterem scheint es sich zwar nur um die Passivform des ersteren zu handeln, in Wahrheit jedoch ist die intransitive Bedeutung, die im Präsens die passive Form annimmt, älter, ursprünglicher und zudem auch bei weitem vorherrschend.12 Da nun m.E. kaum ein Weg dahin führt, die Bedeutung des Substantivs direkt zu klären, sei hier ein Umweg über das Verb eingeschlagen, von dem es wohl abgeleitet sein dürfte.13 Freilich ist auch hierbei ein Blick ins Wörterbuch nützlich, es kann uns jedoch nicht mehr als einen ersten Anhaltspunkt bieten, von dem ausgehend es möglich wird, das Bedeutungsnetz, in das dieses Wort eingewoben ist, sichtbar zu ma Vgl. LSJ 1592 f. Vgl. hierzu und im folgenden die Ausführungen zum Stichwort „φύομαι“ in Hjalmar Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2 : Κρ – Ω, Heidelberg 1970, S. 1052–1054. 13 Vgl. ebenfalls Frisk: Etym. Wörterb., Bd. 2, a.a.O. Ross zieht das unter Verweis auf Burnet in Zweifel (vgl. Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. 296); Jochen Althoff dagegen spricht sich für eine solche Ableitung aus (vgl. Althoff, a.a.O., S. 455). Auch Aristoteles selbst stellt diesen Zusammenhang ganz offenbar her, wie seine Ausführungen im vierten Kapitel von Met. Δ deutlich machen. In Anbetracht der Tatsache, daß wir alle im Gegensatz zu Aristoteles keine altgriechischen Muttersprachler sind, sollten wir ihm in diesem Punkt nicht ohne Not widersprechen. Daß eine solche Notlage nicht besteht, wird im folgenden hoffentlich deutlich werden. Zudem sollte man bedenken, daß auch eine im Hinblick auf die zeitliche Entwicklung einer Sprache falsche Etymologie dennoch in gewisser Weise richtig sein kann, dann nämlich, wenn sie dem Sprachverständnis der kompetenten Sprecher entspricht. Auch wenn also, was ja alles andere als erwiesen ist, das Substantiv φύσις ursprünglich nicht von dem Verb φύω abgeleitet gewesen sein sollte, kann es dennoch später von diesem (gewissermaßen nachträglich) abgeleitet oder, was auf dasselbe hinausläuft, als davon abgeleitet aufgefaßt werden. 11
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chen. Um im hier vorliegenden Fall diesen ersten Anhaltspunkt allerdings zu finden, müssen wir, wie mir scheint, zunächst unseren Begriffshorizont noch etwas über das Stichwort φύω oder φύομαι hinaus erweitern, und zwar dadurch, daß wir im nächstbesten Wörterbuch von diesem ausgehend einige Stichwörter nach oben wandern; dort stoßen wir auf die griechische Bezeichnung für „Pflanze“, nämlich φυτόν. Diese Bezeichnung nun entspricht der neutralen Form des auf -τός/-τή/-τόν endenden Verbaladjektivs von φύεσθαι. Dem nächstbesten Wörterbuch ist zudem noch zu entnehmen, daß die Bedeutung von φύεσθαι selbst im weiteren Umkreis von Wachstum und Fortpflanzung zu suchen ist.14 Dies ist aber gerade der Bereich, in dem das Leben der Pflanzen fast restlos aufgeht. Die Pflanzen werden offenbar in einem besonderen Maße als Ergebnis der mit φύεσθαι bezeichneten Tätigkeit angesehen. Wenn wir also der Bedeutung des Ausdrucks φύσις auf die Spur kommen wollen, müssen wir einen beträchtlichen Umweg nehmen. Dieser Umweg führt uns über das Verb φύεσθαι zum Substantiv φυτόν und erst von dort können wir hoffen, wieder zurück zu der gesuchten Bedeutung von φύσις zu gelangen. Als nächstes müssen wir demnach also die Frage klären, wodurch φυτά, also Pflanzen, wesentlich charakterisiert sind. Nach Klärung dieser Frage können wir dann versuchen auf die Bedeutung von φύεσθαι und von dieser wiederum auf die Bedeutung von φύσις zurückzuschließen. Zur Beantwortung der Frage, was die Pflanzen als solche ausmacht, wollen wir ein kleines Gedankenspiel wagen. Stellen wir uns vor, wir würden Samen in einen Blumentopf säen und sie dann mit Erde bedecken. Wenn das geschehen ist, können wir erst einmal nichts mehr tun, was unmittelbar mit dem Wachstum der Pflanzen selbst zu tun hätte. Wir können uns nur noch bemühen, die optimalen Bedingungen für das Gedeihen der Pflanze herzustellen und zu erhalten, ansonsten müssen wir warten. Und während wir warten, schieben sich erst kleinere, dann immer größer werdende Triebe aus der Erde. Wir tun also hier rein gar nichts, können also das Geschehen auch nicht uns selbst zuschreiben. Die Ursache dafür besteht aber offenbar auch nicht darin, daß sich etwas in den Samen geändert hätte, sondern geändert hat sich ausschließlich die Umgebung, in der sie sich befinden. Die Tätigkeit des Wachstums selbst jedoch geht nicht von der Umgebung aus, sonst könnte diese ja auch 14 Vgl. z. B. (wenn man nicht gerade das nächstbeste Wörterbuch nehmen will) LSJ 1966 f.
4.1. Die fünffache Bedeutung von Physis
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ohne Samen Pflanzen hervorbringen; sie geht aber auch nicht vom Samen aus, denn dieser wird ja von der entstehenden Pflanze zerstört: wenn wir später die Pflanze ausgraben, findet sich normalerweise vom Samen keine Spur mehr. Wie wollen wir uns also dieses geheimnisvolle Geschehen erklären? Für uns moderne Menschen liegt es hier natürlich nahe, auf irgendwelche biochemischen Prozesse im Inneren der Samen zu verweisen. Doch damit hätten wir bereits die Betrachtungsebene gewechselt, weil ja kein biochemischer Prozeß mit dem Ganzen der Pflanze identisch ist. Entweder wir behaupten dann noch zusätzlich, daß es ein solches Ganzes überhaupt nicht gebe, sondern es sich bei der Pflanze nur um so etwas wie eine unserer mangelnden Sehschärfe geschuldete optische Täuschung handle, oder wir betrachten die biochemischen Prozesse nur als Teile eines Ganzen, nämlich als Teile der Pflanze. Die erste Möglichkeit würde letztlich, wenn man sie verallgemeinerte, zu einer vollkommen Vernichtung der Welt führen, wie sie uns alltäglich erscheint.15 Bei der zweiten Möglichkeit dagegen bliebe die Frage nach dem Grund des Geschehens als eines Ganzen immer noch offen, denn die chemischen Prozesse sind ja dann nur Teile des Ganzen, des Gesamtgeschehens; ein Ganzes geht aber niemals in seinen Teilen auf.16 Die Frage bleibt daher: was ist es, das dieses Geschehen zu genau einem Geschehen, nämlich zum Wachstum einer Pflanze macht? Nur ein Zweck, auf den hin alle Prozesse ausgerichtet sind, kann diese Einheit stiften, denn jede Wirkursache von Prozessen könnte nur wieder ein Prozeß unter anderen und damit nicht das Ganze sein. Ein Zweck jedoch kommt alleine nicht vor, es bedarf immer eines Strebenden, dessen Streben auf den Zweck als sein Ziel ausgerichtet ist, und demgegenüber sich die biochemischen oder sonstigen Prozesse, die während des Wachstums ablaufen, als bloße Mittel verhalten. Wollen wir also das Wachstum der Pflanze als ein einheitliches Geschehen betrachten, wie wir das alle für gewöhnlich tun, dann müssen wir ihm ein Streben und dem Streben ein Strebendes zugrunde legen. Was könnte nun dieses Strebende und damit der Grund des Wachstums der Pflanze sein? Hier gibt es wieder zwei Möglichkeiten: entweder der Grund des Wachstums liegt außerhalb der Pflanze oder nicht. Liegt er außerhalb der Pflanze, dann wäre die Pflanze in gewisser Weise ein Artefakt, wenn auch freilich kein menschliches, sondern wohl ein göttliches. Liegt der Grund aber nicht außerhalb der Pflanze, dann Was freilich streng genommen nicht bedeutet, daß sie falsch ist. Wer das behauptet, landet wieder bei der Leugnung des Ganzen als solchem.
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muß er mit der Pflanze selbst identisch sein, weil er ansonsten ein bloßer Teil wäre und ein Teil nicht die Ursache des Ganzen sein kann, dessen Teil er ist.17 Nur unter dieser Voraussetzung ist aber ein nicht-artifizielles Werden überhaupt denkbar. Wenn wir also annehmen, daß es ein solches Werden tatsächlich gibt, dann wäre die Pflanze in ihrem Wachstum selbst als ein Strebendes tätig und ihre Tätigkeit über die chemischen Prozesse nur vermittelt. Solange der Samen nicht austreibt, läge die Pflanze als solche in ihm noch irgendwie verborgen, erst wenn der Samen in die richtige Umgebung versetzt wird, beginnt die Pflanze sich zu manifestieren, und diese Selbstmanifestation müßte man gerade als Zweck des Strebens der Pflanze betrachten. Die Pflanze selbst also strebt nach oder besser drängt18 zur Selbstentfaltung. Da die Samen nicht austrieben, solange sie noch nicht ausgesät wurden, sie sich aber auch nach der Aussaat nicht änderten, muß einerseits zwar dieses Drängen auch schon in den Samen angenommen werden, andererseits muß dort das Drängen durch das Fehlen der Erde zugleich gehemmt worden sein, weil sie ein notwendiges Mittel für die Selbstmanifestation der Pflanze darstellt. Wenn wir dies nun zugestehen, so haben wir die Pflanze bereits in zwei Schichten geteilt: eine unsichtbare, aus der der Drang zur Entfaltung quillt, und eine sichtbare, in der sich das Unsichtbare enthüllt.19 Setzen wir dies nun in Verbindung zu den oben genannten griechischen Ausdrücken, da sich diese ja, wie wir annehmen, insbesondere auf das beziehen, was das Pflanze-Sein ausmacht. Dieses der Pflanze Wesentliche kann nicht ihre sicht- und tastbare Gestalt sein, weil diese nicht der Zielpunkt ihres Strebens ist. Das Werden der meisten und unter anderem auch gerade der für uns Menschen wichtigsten Pflanzen zielt vielmehr eindeutig auf die Produktion des Samens oder der Früchte ab; sind diese reif, geht die Pflanze deshalb häufig auch zugrunde, wie wir das z. B. beim Getreide sehen können. Das Wesentliche ist also nicht die Herstellung irgendeines Endzustandes, sondern das je spezifische Aussich-selbst-hervorwachsen-Lassen selbst. Es liegt daher nahe, in dem 17 Ansonsten müßte der Teil, der die Ursache des Ganzen ist, sich selbst verursachen. Eine solche causa sui kann es – zumindest bei Geschehen, das unter den Bedingungen der Zeit steht – nicht geben. 18 Drang ist hier wohl der bessere Ausdruck, da Streben immer ein Bewußtsein zu implizieren scheint, was man bei einer Pflanze freilich nicht unterstellen kann. 19 Auf diesen Doppelaspekt des Sich-Verbergens und Entbergens verweist auch Martin Heidegger: „Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1“, in: Ders.: Wegmarken, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm Herrmann, Frankfurt a. M. 2004 (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 9), S. 239–301.
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Aus-sich-selbst-hervorwachsen-Lassen das zu erblicken, was der Ausdruck φύειν bzw. φύεσθαι zum Ausdruck bringen will. Daher ist das Wort φυτόν, das auf den sichtbaren Anteil der Pflanze verweist, auch von dem Verb abgeleitet, und nicht umgekehrt die Bezeichnung der Tätigkeit vom ihrem Resultat. Wenden wir unseren Blick nun wieder Aristoteles zu, um auf dieses vorläufige Ergebnis weiter aufzubauen. Aristoteles befaßt sich mit der Bedeutung des Verbs φύεσθαι im Zusammenhang mit der Darlegung der verschiedenen Bedeutungen von φύσις in Met. Δ 4, auf die wir dann im Anschluß genauer eingehen werden. Die uns interessierende Stelle findet sich genau zwischen den Ausführungen zur dritten und vierten Bedeutung von Physis. Warum sie gerade dort eingeschaltet wird, ist nicht so leicht zu sagen. Das Verb φύεσθαι kommt weder in der unmittelbar zuvor noch in der unmittelbar danach erläuterten Bedeutung von φύσις vor, dafür aber in den ersten beiden Bedeutungen. Man könnte also zunächst den Eindruck haben, als wäre hier eine an den Rand oder zwischen die Zeilen geschriebene Bemerkung zu dem in den ersten beiden Bedeutungen genannten φύεσθαι, die dennoch durchaus von Aristoteles selbst stammen mag, in den Text integriert worden und dabei nicht ganz an die passende Stelle geraten. Vielleicht ist diese Deutung jedoch etwas voreilig. Die Einfügung könnte ja auch an das Ende eines Sinnabschnitts gesetzt sein und damit eine Zäsur zwischen der dritten und vierten Bedeutung von Physis markieren. Dadurch würden dann zwei Gruppen von Bedeutungen entstehen, nämlich einmal die Bedeutungen eins bis drei und einmal die Bedeutungen vier und fünf. Auf diese Frage der Zweiteilung werden wir zum Abschluß unserer Untersuchung zum Physisbegriff des Aristoteles nochmals eingehen müssen; bis dahin wollen wir sie zurückstellen. Wenden wir uns also nun zunächst dem Verb φύεσθαι zu, um das damit gemeinte deutlicher zu verstehen. Zwar handelt es sich dabei rein grammatikalisch um die Passivform des Verbs φύειν, so daß man nach dem oben Gesagten auf die Idee kommen könnte, es müßte auch ein Erleiden darin ausgedrückt werden, nämlich etwa das Erleiden des Aus-sich-selbst-hervorwachsen-Lassens. Wie jedoch bereits erwähnt wurde, ist es hier die (zudem weit geläufigere) Passivform, die in gewisser Weise ursprünglicher ist. Beide Präsensformen nämlich gehen zurück auf den Aorist ἔφυν bzw. φῦναι, von dem auch alle anderen auf den entsprechenden Stamm aufbauenden Formen abgeleitet sind; dieser Aorist hat intransitive Bedeutung, welche allein in der Passivform des Präsens
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(φύεσθαι) bewahrt ist, wohingegen deren Aktivform (φύειν) eine transitiv-faktitive Bedeutung hat.20 Dies ist auch der Grund dafür, daß Aorist, Perfekt und Plusquamperfekt zu φύεσθαι die aktive Form haben, es also z. B. φῦναι oder πεφυκέναι heißt. Das Wort φύεσθαι wurde also, obwohl es grammatikalisch ein Passiv ist, nicht als Passiv im eigentlichen Sinne, d. h. als Bezeichnung eines Erleidens aufgefaßt; durch die Passivform sollte vielmehr der intransitive Sinn des Aorists und Perfekts im Präsens wiedergeben werden. Wir dürfen es dementsprechend auch nicht mit der Wendung „von etwas aus sich selbst hervorwachsen gelassen werden“ übersetzen, was zudem auch sehr schwerfällig und unschön wäre, sondern wählen statt dessen im Deutschen eine aktive, aber intransitive Form und übersetzen schlicht mit „hervorwachsen“. Dabei muß jedoch beachtet werden, daß hier Wachstum nicht ohne weiteres, der primären Bedeutung des deutschen Wortes entsprechend, mit einem schlichten Größenwachstum und einer bloßen Vermehrung gleichgesetzt, ja eigentlich noch nicht einmal in besonderer Weise damit verbunden werden darf. Denn freilich werden Pflanzen, wenn sie aus dem Samen herauswachsen, auch größer; dieses Größerwerden ist jedoch lediglich ein Nebeneffekt der Entfaltung der Pflanze und kann zum Teil auch fast oder ganz fehlen, z. B. wenn sich eine Blüte öffnet. Gemeint ist hier eher ein Aus-sich-selbst-Hervorquellen, jedoch ohne die Konnotation der Unförmigkeit, die wir mit dem Wort „quellen“ verbinden; man könnte es demnach vielleicht in etwa umschreiben als das Aus-sich-selbst-hervorquellen-Lassen der verborgenen Gestalt seiner selbst. Es gibt also streng genommen gar kein deutsches Pendant zu φύεσθαι und den Abwandlungen dieses Verbs, und unsere „Übersetzung“ gleicht eher einem Straßenschild, daß zwar die Richtung zu einer Ortschaft anzeigt, aber nicht die Ortschaft selbst ist.21 Was vor allem im Deutschen kaum wiederzugeben ist, ist das Lassen, das, wie wir weiter oben gesehen haben, mit diesen Worten immer mitgemeint ist. Denn φύεσθαι ist wesentlich eine Form des Lassens. Das Drängen der Pflanzen nach Selbst-Entfaltung und ihr Wachstum sind nicht irgendein ominöses Handeln in oder an den Pflanzen (Pflanzen handeln schließlich nicht, Vgl. Frisk: Etym. Wörterb., Bd. 2, a.a.O. Der Frage, wie so etwas möglich ist, können wir hier nicht nachgehen. Eine Antwort dürfte sich wohl nur über ein eingehendes Verständnis des Wesens der Sprache eröffnen. Daß Sprache jedoch kein neutrales Medium der Welterschließung ist, kann man, wenn man die Unübersetzbarkeit von Worten zugesteht, nicht mehr leugnen. 20 21
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das tun nur Menschen), sondern gerade das Gegenteil: ein Nicht-Handeln und Sich-dem-eigenen-Sein-Überlassen. Als Sich-dem-eigenen-Sein-Überlassen weist φύεσθαι eine große Nähe zum Sein überhaupt auf, mit dem einzigen Unterschied, daß im ersten Fall noch eine Tendenz mitgedacht wird. Diese von jeher bestehende Nähe erklärt wohl auch die Verwandtschaft dieses Wortes mit dem deutschen „bin“ und „bist“, dem englischen „to be“, dem lateinischen „fuit“ usw. Es ist folglich auch eine spezifische Art von Freiheit, die in φύεσθαι zum Ausdruck kommt, und die mit den verschiedenen Arten von Freiheit, die das moderne Freiheitsverständnis kennt22 , nichts zu tun hat. Wir müssen daher dieser prinzipiellen Unübersetzbarkeit im weiteren Verlauf der Untersuchung eingedenk bleiben. Aristoteles schreibt nun dazu folgendes: φύεσθαι δὲ λέγεται ὅσα αὔξησιν ἔχει δι᾽ ἑτέρου τῷ ἅπτεσθαι καὶ συμπεφυκέναι ἢ προσπεφυκέναι ὥσπερ τὰ ἔμβρυα· διαφέρει δὲ σύμφυσις ἁφῆς, ἔνθα μὲν γὰρ οὐδὲν παρὰ τὴν ἁφὴν ἕτερον ἀνάγκη εἶναι, ἐν δὲ τοῖς συμπεφυκόσιν ἔστι τι ἓν τὸ αὐτὸ ἐν ἀμφοῖν ὃ ποιεῖ ἀντὶ τοῦ ἅπτεσθαι συμπεφυκέναι καὶ εἶναι ἓν κατὰ τὸ συνεχὲς καὶ ποσόν, ἀλλὰ μὴ κατὰ τὸ ποιόν.23 Man sagt aber, daß all das hervorwächst, was Vermehrung durch anderes dadurch unterhält, daß es dieses berührt und mit ihm sich vereinigend hervorgewachsen ist oder zu ihm sich hinzugesellend wie die Embryonen. Es unterscheidet sich aber das Sich-vereinigend-Hervorwachsen von der Berührung, denn dort darf es neben der Berührung nichts anderes geben, in dem dagegen, was sich mit dem anderen vereinigend hervorgewachsen ist, gibt es etwas Eines als dasselbe in beiden, das macht, daß es, anstatt nur zu berühren, mit ihm vereinigt hervorgewachsen ist, und es eines ist im Hinblick auf das Zusammenhängende und Irgendwie-Große, nicht jedoch im Hinblick auf das Irgendwie-Beschaffene.
Daß es sich bei diesen Ausführungen nicht um eine Erläuterung des Ausdrucks φύεσθαι im engeren Sinne handelt, ergibt sich schon allein daraus, daß Abwandlungen dieses Ausdrucks auch in dessen vermeintlicher Erklärung auftauchen, nämlich die Perfektformen συμπεφυκέναι 22 Man kann hier z. B. das Verständnis von Freiheit als Willensfreiheit oder Handlungsfreiheit anführen; Pflanzen haben weder einen Willen noch Handeln sie. Aber auch die verbreitete Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit („Freiheit von x“ und „Freiheit zu x“) läßt sich auf diese Art der Freiheit nicht anwenden, weil diese Unterscheidung immer einen Referenzpunkt x voraussetzt, im Verhältnis zu dem jemand oder etwas frei ist; die Freiheit des φύεσθαι dagegen besteht gerade darin, daß diese Tätigkeit keines äußeren Referenzpunktes bedarf, auch nicht den eines Autonomie gebietenden Sollens. 23 Met. Δ 4, 1014b 20–26.
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und προσπεφυκέναι sowie das Substantiv σύμφυσις. Aristoteles geht es hier vielmehr um die Abgrenzung des Hervorwachsens von der bloßen Vermehrung und dem Größerwerden. Es mag nämlich dem, der nicht genau hinsieht, so erscheinen, als ob eine Pflanze einfach nur größer werde. Nun kann aber auch eine Wassermenge größer werden. Die Einheit einer bestimmten Wassermenge besteht jedoch nur im Zusammenhängen, d. h. in der Berührung seiner gleichartigen Teile, die so ein Kontinuum bilden. Bei dem, was hervorwächst, dagegen gibt es zusätzlich zur Berührung der Teile, die auch vorhanden sein muß, noch ein organisierendes Zentrum, das die Teile zu einem Ganzen integriert und von dem die Vermehrung auch aufrechterhalten wird (αὔξησιν ἔχει). Da die Einheit nicht auf der Gleichartigkeit der Teile beruht, ist es möglich, daß sich die Teile im Hinblick auf ihre Beschaffenheit unterscheiden und dennoch, obwohl sie also heterogen und nicht homogen sind, einen ausgedehnten Körper bilden. Mit diesem organisierenden Zentrum ist bereits ein Hinweis auf die Hauptbedeutung des Wortes φύσις gegeben, wie wir später noch sehen werden. Durch die Perfektformen συμπεφυκέναι und προσπεφυκέναι im übrigen soll, wie mir scheint, nur zum Ausdruck gebracht werden, daß sich die Integration des zunächst nur Berührten immer nur ex post konstatieren läßt, weil ja, solange der Integrationsprozeß noch im Gange ist, beide noch nicht im strengen Sinne eines sind, sie sich also noch in nichts von zwei Dingen, die sich nur berühren, unterscheiden. Von diesem φύεσθαι bzw. φῦναι dürfte nun auch das Wort φύσις, um das es uns ja hier geht, abgeleitet sein. Um die Bedeutung dieses Wortes, wie wir uns vorgenommen haben, zu klären, ist es nun hilfreich, zusätzlich zu obigen Überlegungen auch die entsprechenden Ausführungen des Aristoteles in dem Text heranzuziehen, den man sein Wörterbuch philosophischer Begriffe nennen könnte, also den bereits erwähnten Abschnitt Met. Δ 4, 1014b 16 – 1015a 19. In diesem Abschnitt lassen sich zwei Teile unterscheiden; im ersten (1014b 16 – 1015a 5) werden die verschiedenen Bedeutungen des Wortes φύσις aufgefächert, im zweiten (1015a 6–19) diese verschiedenen Bedeutungen zu Materie und Form in Beziehung gesetzt. Da wir den Begriff der Materie noch nicht erörtert haben, werden wir diesen zweiten Teil zunächst ausklammern und uns ganz auf den ersten konzentrieren; der zweite Teil wird dann das Zentrum von Abschnitt 4.2 bilden. Aristoteles nennt nun im ersten Teil fünf Bedeutungen von φύσις. Wir wollen uns diese im folgenden eine nach der anderen genauer ansehen.
4.1. Die fünffache Bedeutung von Physis
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4.1.1 Physis als Werden des Hervorwachsenden Als erste Bedeutung des Ausdrucks φύσις nennt Aristoteles das Werden des Hervorwachsenden: Φύσις λέγεται ἕνα μὲν τρόπον ἡ τῶν φυομένων γένεσις, οἷον εἴ τις ἐπεκτείνας λέγοι τὸ υ …24 Physis wird auf eine Weise das Werden des Hervorwachsenden genannt, wie wenn man das y gedehnt ausspräche …
Ross bezweifelt im bereits erwähnten Kommentar zu der Stelle25 nicht nur allgemein, daß das Wort φύσις von φύειν abgeleitet ist, sondern auch insbesondere, daß dieses Wort je die Bedeutung „Werden des Hervorwachsenden“ hatte, die ihm Aristoteles hier zuspricht. Er muß das tun, wenn er die Ableitung von φύειν überhaupt in Zweifel ziehen will, denn wenn diese Bedeutung dem Wort φύσις ursprünglich zugekommen ist, dann dürfte es auch von φύειν (genauer gesagt von φῦναι) 26 abgeleitet sein; diese Ableitung würde im übrigen auch ganz den Regeln der griechischen Wortbildung entsprechen, wenn man einmal von dem kurz ausgesprochenen υ, auf das Aristoteles ja auch selbst hinweist, absieht. Zur Stützung seiner These führt er Textausschnitte aus Homer und Empedokles an, in denen dieses Wort vorkommt und zudem von anderen Forschern in dem von Aristoteles im obigen Zitat genannten Sinne übersetzt wurde; diesen Übersetzungen hält er dann seine eigene alternative Übersetzung entgegen. Wir wollen auf diesen Versuch nicht weiter eingehen. Es muß ja schließlich nicht jede Verwendungsweise eines Wortes in den überlieferten antiken Texten konserviert sein, und das trifft insbesondere auf die vorplatonische Zeit zu, aus der uns ja sowieso nur und insbesondere zum Thema Wachstum und Natur äußerst spärliche Reste überliefert sind. Zwar waren um die Zeit des Aristoteles herum zum Teil auch, vorsichtig gesagt, recht abenteuerliche etymologische Herleitungen üblich, jedoch scheint das im vorliegenden Fall ausgeschlossen zu sein, denn Aristoteles nennt diese Bedeutung zwar als erstes, reiht sie aber ansonsten als zunächst vollkommen gleichwertig unter die restlichen Bedeutungen ein; ja die Bedeutung, die sich später als die wichtigste herausstellt, nennt er sogar als letzte, nämlich die der Seiendheit der natürlichen Dinge. Die etymologische Herleitung von Ausdrücken sollte da Met. Δ 4, 1014b 16 f. Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. 296. 26 Siehe weiter oben. 24
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gegen nicht die Anzahl der Bedeutungsalternativen – letztlich ganz unnötig – vermehren, sondern gerade im Gegenteil ein Wort eindeutig bestimmen. Wenn wir uns also auf die Behauptung des Aristoteles einlassen und ihr glauben schenken, dann könnte man φύσις, die griechische Wortbildung nachahmend, mit dem zugegebenermaßen nicht gerade eleganten Ausdruck „Hervorwachsung“ übersetzen. Jedoch hatte sich zur Zeit des Aristoteles der Vokal des Stammes, der hier, den Regeln der griechischen Wortbildung entsprechend, eigentlich gedehnt sein müßte, bereits seit langem verkürzt27, was wohl eine Folge dessen ist, daß der Ausdruck eine gewisse Eigenständigkeit erlangt hatte, wie es ja typisch ist für Wörter, die häufig benutzt werden. Im Deutschen kann man da z. B. an das Adjektiv „lieb“ und das Substantiv „Liebe“ denken, die zwar für jeden deutschen Muttersprachler noch etwas miteinander zu tun haben und von denen auch relativ leicht ersichtlich ist, daß letzteres von ersterem abgeleitet wurde (und zwar offensichtlich ähnlich wie „Schwärze“ von „schwarz“), die aber zugleich doch auch seit langem weitgehend eigenständig sind und auch sehr unterschiedliche Konnotationen haben. Es scheint allerdings so zu sein, daß sich φύειν, φύεσθαι und φύσις deutlich weniger weit auseinander entwickelt haben als in unserem Beispiel „lieb“ und „Liebe“, weil im Falle der griechischen Wörter diese immerhin noch eindeutig in ein und denselben Bereich fallen, nämlich den des Wachstums und der Fortpflanzung, was bei unserem deutschen Beispiel hier nicht mehr in jeder Hinsicht der Fall ist. Die erste Bedeutung von φύσις ist also die, daß es den Vollzug des Hervorwachsens bezeichnet. Jedes Hervorwachsen aber ist ein Werden, denn dieser Prozeß bezeichnet ja gerade das Hervortreten dessen in die Offenbarkeit des Seins, was etwas, z. B. eine Pflanze, schon immer seinem Wesen nach in der Verborgenheit ist. Mit dieser ersten Bedeutung sind also schon eine Reihe weiterer Aspekte mitgegeben, die wohl auch von Anfang an mit dem Wort φύσις, wenn auch weniger deutlich, mitgemeint waren, da sie ja mit dem Hervorwachsen aufs engste verbunden sind; später aber gewannen diese Aspekte wohl auch leicht, man wird sich darüber nicht wundern, eine gewisse Selbständigkeit. Aus dieser Wurzel dürften sich also mehr oder weniger zwanglos die anderen Be Oder vielleicht hatte sich auch das υ in φύσις nicht wie das υ in φῦναι und φύεσθαι gedehnt, wenn die Entwicklung die andere Richtung nahm; auf jeden Fall jedoch haben sich beide Wörter relativ unabhängig voneinander weiterentwickelt. 27
4.1. Die fünffache Bedeutung von Physis
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deutungen ergeben haben. Man könnte auch sagen, daß die verschiedenen Aspekte der φύσις als Hervorwachsung zu weiteren Bedeutungsaspekten des Wortes selbst wurden. Daß diese Deutung richtig ist, muß sich im folgenden jedoch erst noch erweisen.
4.1.2 Physis als Quellgrund des Hervorwachsens Der wichtigste Einzelaspekt am Vorgang der Hervorwachsung ist nun sicherlich der, daß das Hervorwachsende aus sich selbst, d. h. indem es sich seinem Sein überläßt, und nicht, indem es durch etwas anderes gezwungen wird, hervorwächst. Der Quell des Hervorwachsens ist also das Hervorwachsende selbst, insofern dieses noch unentfaltet ist und zur Entfaltung drängt oder sich im Zustand der Entfaltung erhält. Dieser Aspekt der φύσις im ersten Sinne wurde nun mit demselben Ausdruck bezeichnet, gleichsam totum pro parte, so daß sich daraus folgende Erläuterung ergibt: … ἐξ οὗ φύεται πρώτου τὸ φυόμενον ἐνυπάρχοντος·28 aus welchem Ersten als einem darin Enthaltenen das Hervorwachsende hervorwächst.
Der Ausdruck φύσις bezeichnet also auch dieses Erste, den Quellgrund des Hervorwachsens, der nicht von außen auf des Hervorwachsende einwirkt, denn in dem Falle wäre es vielmehr entweder ein Zufalls- oder ein Kunstprodukt, sondern im Hervorwachsenden selbst enthalten ist. Die Erklärung, die Ross zu dieser Stelle gibt, ist dagegen m.E. ungenügend. Er schreibt nämlich: „What is referred to here is the inherent starting-point of growth (ἐξ οὗ φύεται), and Bz.29 is probably right in supposing that the seed is meant.”30 Zunächst muß man hier schon bemängeln, daß nicht genügend zwischen Wachstum als Größenzunahme und Wachstum als Hervorwachsen unterschieden wird. Ferner ist aber auch der Samen kein inhärenter Anfangspunkt des Wachstums, denn der Samen ist ja in keiner Weise in dem Wachsenden enthalten, sondern das Wachsende wächst aus dem Samen heraus und zerstört ihn dabei als Samen. Schließlich ist auch klar, daß es sich bei dem ἐξ οὗ gar nicht um einen lokalisierbaren und zugleich inhärenten Ausgangspunkt des Wachs Met. Δ 4, 1014b 17 f. D. h. Bonitz; vgl. Hermann Bonitz: Aristotelis Metaphysica, Bd. 2 : Commen tarius, Bonn 1849, S. 229. 30 Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd 1, S. 296. 28 29
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tums handeln kann, wie auch immer man diesen charakterisieren möchte; dies folgt schon alleine daraus, daß es so einen Ausgangspunkt schlicht und einfach nicht gibt, denn eine Pflanze oder ein Tier wachsen entweder als Ganzes oder zwar hinsichtlich eines ihrer Teile, diese jedoch dann wiederum als Ganzes. Was als Ganzes wächst aber, wächst in allen seinen Teilen gleichzeitig, es kann also auch keinen Ausgangspunkt dieses Wachstums geben. In De generatione et corruptione stellt Aristoteles diesen Sachverhalt ausdrücklich fest: φαίνεται δὴ τοῦ αὐξανομένου ὁτιοῦν μέρος ηὐξῆσθαι …31 Es scheint nun offenbar von einem Wachsenden jedweder Teil gewachsen zu sein …
Das ἐξ οὗ πρώτου ἐνυπάρχοντος muß also etwas sein, was im Größenwachstum des Wachsenden nicht involviert ist. Daß es im Hervorwachsenden enthalten ist (ἐνυπάρχον), kann demnach nicht heißen, daß es einen körperlichen Teil des Hervorwachsenden darstellt. Das einzige, das als Ausgangspunkt des Hervorwachsens zwar auf eine gewisse Weise in dem Hervorwachsenden ist, ohne aber zugleich ein körperlicher Teil desselben zu sein, ist das, was von uns soeben als Quellgrund des Hervorwachsens bezeichnet wurde.32 Auf die berechtigte Frage, was dieser Quellgrund denn nun sein könnte, geht Aristoteles an dieser Stelle nicht ein, er will ja zunächst nur die verschiedenen Bedeutungen klären.
4.1.3 Physis als Quellgrund der natürlichen Bewegungen Die dritte Bedeutung stellt in gewissem Sinne, wie wir sehen werden, eine Verallgemeinerung der zweiten Bedeutung dar. Aristoteles bestimmt sie so: ἔτι ὅθεν ἡ κίνησις ἡ πρώτη ἐν ἑκάστῳ τῶν φύσει ὄντων ἐν αὐτῷ ᾗ αὐτὸ ὑπάρχει·33 Außerdem , woher die erste Bewegung in jedem der von Natur (Physis) Seienden, und zwar in ihm selbst, insofern es es selbst ist, den Ausgang nimmt.
Im Hintergrund dieser Bestimmung von φύσις steht wohl die Ausdehnung des Begriffs von den bloßen Wachstumsprozessen von Pflanzen Gen. corr. A 5, 321a 2 f. Das ἐξ οὗ ist also hier im Sinne der zweiten Bedeutung des ἔκ τινος εἶναι gemeint; vgl. Met. Δ 24, 1023a 29–31. 33 Met. Δ 4, 1014b 18–20. 31
32
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und Tieren auf alle Lebensäußerungen, die nicht durch äußerlichen Zwang oder durch eine sonst wie geartete Einflußnahme von etwas, das nicht das Lebewesen selbst ist, initiiert werden. Zugrunde liegt die Einsicht, daß es im Prinzip keinen Unterschied macht, ob etwas sich dem eigenen Sein überlassend hervorwächst oder sich auf diese Weise auf irgendeine andere Art bewegt oder überhaupt verändert.34 Diese Bestimmung der φύσις wird auch im ersten Kapitel des zweiten Buchs der Physik aufgegriffen, wo in Bezug auf die Pflanzen, Tiere und einfachen Körper (Erde, Feuer, Luft und Wasser) und deren gemeinsames Unterscheidungsmerkmal, das sie von den künstlich hergestellten Dingen abgrenzt, folgendes zu lesen ist: τούτων μὲν γὰρ ἕκαστον ἐν ἑαυτῷ ἀρχὴν ἔχει κινήσεως καὶ στάσεως, τὰ μὲν κατὰ τόπον, τὰ δὲ κατ᾿ αὔξησιν καὶ φθίσιν, τὰ δὲ κατ᾿ ἀλλοίωσιν· κλίνη δὲ καὶ ἱμάτιον, καὶ εἴ τι τοιοῦτον ἄλλο γένος ἐστίν, ᾗ μέν τετύχηκε τῆς κατηγορίας ἑκάστης καὶ καθ᾿ ὅσον ἐστὶν ἀπὸ τέχνης, οὐδεμίαν ὁρμὴν ἔχει μεταβολῆς ἔμφυτον, ᾗ δὲ συμβέβηκεν αὐτοῖς εἶναι λιθίνοις ἢ γηΐνοις ἢ μικτοῖς ἐκ τούτων, ἔχει, καὶ κατὰ τοσοῦτον, ὡς οὔσης τῆς φύσεως ἀρχῆς τινὸς καὶ αἰτίας τοῦ κινεῖσθαι καὶ ἠρεμεῖν ἐν ᾧ ὑπάρχει πρώτως καθ᾿ αὑτὸ καὶ μὴ κατὰ συμβεβηκός …35 Von diesen nämlich hat jedes in sich selbst einen Ursprung der Bewegung und des Stillstands, einiges hinsichtlich des Orts, einiges hinsichtlich des Wachstums und Schwunds, einiges hinsichtlich des Andersbeschaffenwerdens. Ein Bett dagegen und ein Mantel, und was es sonst noch für andere derartige Gattungen von Gegenständen gibt, das hat, insofern es der jeweiligen Bezeichnung teilhaftig und insoweit es durch Kunstfertigkeit ist, keinen eingeborenen Drang zur Veränderung, insofern es sich diesem aber so ergeben hat, daß es steinern oder irden oder aus diesen gemischt ist, hat es einen solchen Drang, und auch in genau dem Maße, wie dies zutrifft, und zwar deshalb, weil die Physis ein gewisser Ursprung und Grund des Sich-Bewegens und Ruhens dessen ist, in dem sie in ursprünglicher Weise hinsichtlich seiner selbst und nicht hinsichtlich dessen, was sich so ergeben hat, vorhanden ist …
Hier wird das Größenwachstum, das neben der Ausdifferenzierung der einzelnen Teile wesentlich mit zum Hervorwachsen der Pflanzen gehört, als eine Bewegungsart neben anderen aufgefaßt, wobei „Bewegung“ zunächst ganz allgemein jede Art von Veränderung bezeichnet. Man könnte κίνησις also auch mit „Veränderung“ übersetzen. Alle diese Ver Möglicherweise verlief die Entwicklung aber auch in die andere Richtung: zunächst wurden φύω und φύεσθαι allgemeiner verwendet, und dementsprechend auch das davon abgeleitete φύσις, später dann aber auf bloße Wachstumsprozesse eingeschränkt. 35 Phys. B 1, 192b 13–23. 34
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änderungen treten ohne äußere Ursache und damit in gewisser Weise von selbst an Dingen auf, die nicht hergestellt wurden, also vor allem den Lebewesen, nicht dagegen an Artefakten. So bewegen sich Tiere von einem Ort zum anderen, ohne daß man sie (zumindest in der Regel) stoßen oder ziehen müßte. Sie bewegen sich also aus einem inneren Drang heraus, der sich auf irgendein Objekt richtet, z. B. eine Beute. Denn die Beute ist ja nicht der erste Grund, der die Bewegung des Raubtiers auslöst, schließlich ist sie rein für sich genommen noch nicht einmal eine Beute, sondern nur im Auge des Räubers ist sie das; jede Beute würde es auch, wenn sie dazu fähig wäre, weit von sich weisen, den Räuber zum Angriff zu zwingen, sie wünscht sich diesen vielmehr möglichst weit weg von sich und flieht vor ihm. Genau genommen richtet sich das Streben eines Raubtiers auch gar nicht auf die Beute selbst, sondern darauf, sie zu fangen und zu fressen. Dies wiederum wurzelt im Drang, sich im Dasein zu erhalten und zu entfalten, also in der vegetativen Lebensfunktion, die ja gerade auch, der Name sagt es schon, das Leben der Pflanzen regiert. Artefakte dagegen haben einen solchen Drang nur, insofern sie nicht Artefakte sind. Alles nämlich, was hergestellt wird, bedarf zu seiner Herstellung eines ersten Materials, z. B. Holz, Ton oder Stein. Aus nichts kann schließlich auch nichts hergestellt werden. Dieses Material nun kann nicht wiederum hergestellt sein, sonst ergäbe sich ein infiniter Regreß und die Tätigkeit der Herstellung hätte nichts, an dem sie als etwas Erstem ansetzen könnte. Wenn es also überhaupt eine Herstellung von irgendetwas geben können soll, dann müssen die ersten Materialien von selbst und ohne menschliches Zutun sein. Daß etwas von selbst ist, bedeutete aber für Aristoteles, daß es, insofern es von selbst ist, auch einen aus nichts anderem als es selbst hervorquellenden Drang zur Entfaltung ähnlich einer Pflanze hat. Denn durch irgendetwas muß dieses Erste ja charakterisiert sein, es muß ja irgendeine Eigenschaft haben und kann nicht vollkommen unbestimmt sein. Diese Eigenschaft kann nur in dem Ersten selbst wurzeln, denn wenn sie von außen ihm aufgezwungen worden wäre, wäre es nichts erstes, sondern etwas irgendwie schon Verändertes, sei es durch einen Herstellungsprozeß oder etwas diesem Analoges. Eine Eigenschaft wiederum muß sich irgendwie äußern, ansonsten wäre sie nicht konstatierbar. Jede Äußerung ist eine Tätigkeit, und wenn sie sich in etwas Veränderlichem als einem solchen zeigt, auch eine Bewegung im weitesten Sinne. Jede Eigenschaftsäußerung eines Veränderlichen als einem solchen, die in nichts anderem als dem Veränderlichen
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selbst seinen Quell hat, insofern dieses einfach es selbst ist, muß daher eine Bewegung sein, die den Ursprung des Sich-Bewegens so in sich selbst trägt, wie dies bei Pflanzen hinsichtlich ihres Hervorwachsens der Fall ist. Was soll man sich unter diesem Drang nun vorstellen, was ist damit konkret gemeint? Nun, Aristoteles begreift darunter schon allein die Tatsache, daß alle festen Materialien nach unten fallen, und zwar unabhängig davon, ob sie irgendwie bearbeitet sind, weil sie nämlich einen natürlichen Ort haben, zu dem sie sich ihrer Physis nach hinbewegen, und dieser Ort unten ist.36 Zwar fällt auch ein Tisch, aber nicht deshalb, weil er ein Tisch ist, sondern, so die Erklärung des Aristoteles, deshalb, weil er z. B. aus Holz ist, Holz aber Erde enthält, die seine Festigkeit ausmacht, und der natürliche Ort der Erde, zu dem diese stets strebt, unten ist. Hierher zählen überhaupt alle natürlichen Phänomene, z. B. auch schlicht die Festigkeit der Erde selbst und auch die Flüssigkeit des Wassers, die Hitze des Feuers usw. All das sind Beispiele für den aus einem in den Dingen verborgenen Quell entspringenden Drang, sich im Dasein als das, was etwas jeweils ist, zu erhalten und zu entfalten. Denn Festes setzt dem Versuch, seine Form zu ändern, einen Widerstand entgegen, Flüssiges paßt sich jedem Ort an, der es enthält, und Heißes erhitzt anderes. Erde, Wasser und Feuer sind aber hinsichtlich ihrer selbst fest, flüssig und heiß. Aus dieser Perspektive heraus gesehen, erscheint das Hervorwachsen der Pflanze also nur noch als ein, wenn auch besonders augenfälliger, Sonderfall einer allgemeinen in den Dingen wohnen Kraft, die den Dingen zukommt, insofern diese nicht hergestellt sind. Es ist daher nur konsequent, daß die Bezeichnung für den Quellgrund dieses Dranges in den Pflanzen schließlich auch auf den Quellgrund aller anderen nicht-hergestellten und dennoch veränderlichen Dinge ausgedehnt wurde. In erster Linie sind hier sicherlich die Bewegungen, das Wachstum und die alltäglichen Stoffwechselprozesse von Tieren gemeint, aber eben auch Dinge, denen wir heute im allgemeinen als etwas Leblosem kein Streben zugestehen, z. B. die vier Elemente oder die Planeten.
Cael. A 7, 276a 8–17.
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4.1.4 Physis als erstes Material Der Textabschnitt, in dem die vierte der von Aristoteles genannten Verwendungsweisen des Ausdrucks Physis dargestellt wird, ist aufgrund einer kleinen aber entscheidenden Textunsicherheit nicht sehr einfach zu interpretieren. Bevor ich jedoch auf diese eingehe und meine Auffassung begründe, sei zunächst der betreffende Abschnitt in der von mir als korrekt erachteten Form, d. h. von einer kleinen Abweichung abgesehen nach dem Manuskript Ab zitiert: ἔτι δὲ φύσις λέγεται ἐξ οὗ πρώτου ἢ ἔστιν ἢ γίγνεταί τι τῶν μὴ φύσει ὄντων, ἀρρυθμίστου ὄντος καὶ ἀμεταβλήτου ἐκ τῆς δυνάμεως τῆς αὑτοῦ, οἵον ἀνδριάντος καὶ τῶν σκευῶν τῶν χαλκῶν ὁ χαλκὸς φύσις λέγεται, τῶν δὲ ξυλίνων ξύλον … 37 Zudem wird Physis genannt, woraus als einem Ersten etwas von dem, was nicht von Natur (Physis) her ist, entweder besteht oder wird, und das ohne Ebenmaß ist und im Umwandlungsprozeß nicht von seinem eigenen Vermögen abgebracht wurde, so wie z. B. von einer Statue, ja von den bronzenen Artefakten überhaupt die Bronze Physis genannt wird, von den hölzernen Artefakten aber das Holz …
Das Hauptproblem bei diesem Textabschnitt ist nun, zumindest solange man nur den Wortlaut des Textes selbst und noch nicht dessen Interpretation betrachtet, das μὴ in der Wendung τῶν μὴ φύσει ὄντων. Die beiden ältesten, jedoch zur selben Familie gehörigen Manuskripte E und J aus dem zehnten Jahrhundert haben dieses μὴ nicht, ebenso fehlt es in Alexanders Kommentar. Dagegen findet sich das μὴ in dem aus dem zwölften Jahrhundert stammende Manuskript Ab. Dieses für Ab scheinbar ungünstige Altersverhältnis wird jedoch dadurch relativiert, daß es wohl auf eine Vorlage zurückgeht, die älter sein dürfte als die, die den Manuskripten EJ zugrunde liegt: „And, while EJ are older than Ab, Ab presents more traces of uncial corruption and other evidence which points to an original older than that of EJ.“38 Es deutet sogar viel darauf hin39, daß bereits zur Zeit Alexanders drei voneinander unabhängige und hinsichtlich ihrer Korrektheit ungefähr gleichwertige Textversionen existierten, von denen jeweils EJ, Ab und der zusammen mit dem Alexanderkommentar überlieferte Text abstammen; alle drei Manuskripte und Manuskriptgruppen dürften sich also mehr oder weniger gleichwertig gegen überstehen. Met. Δ 4, 1014b 26–30. Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. CLXI. 39 Vgl. ebenda, S. CLXIII. 37
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Es stellt sich also die Frage, welche Lesart hier zu bevorzugen ist. Ross folgt an dieser Stelle dem Mehrheitsprinzip, aus der grundsätzlichen Überzeugung heraus, daß ihn diese Vorgehensweise so nah wie möglich an den ursprünglichen Text heranführen werde.40 Das ist eine durchaus sinnvolle Methode, erscheint es doch im allgemeinen als ziemlich unwahrscheinlich, daß zwei Schreiber unabhängig voneinander exakt den gleichen Fehler machen. Unter gewissen Umständen allerdings dürfte ein solches Szenario durchaus möglich, ja manchmal vielleicht sogar wahrscheinlich sein, nämlich dann, wenn eine häufig verwendete und daher eingeschliffene Wendung in der Vorlage zwar nur leicht, aber doch entscheidend variiert wird. Genau dieser Fall liegt jedoch hier vor. Die Wendung τὰ φύσει ὄντα ist überaus häufig und ein feststehender terminus technicus, der zudem noch im selben Abschnitt bereits einmal vorkam; der Ausdruck τὰ μὴ φύσει ὄντα ist dagegen sehr, sehr selten und ungewöhnlich. Genau dies sind die besten Voraussetzungen für einen Schreiber, um zuerst falsch zu lesen und dann auch falsch zu schreiben, vor allem, wenn man sich den Text in der damals üblichen Form, d. h. in Majuskeln geschrieben und ohne Wortzwischenräume, vorstellt. Das Herausfallen des μὴ aus dem Text dürfte also nicht unwahrscheinlicher sein als seine Hinzufügung, auch wenn das bloße Mehrheitsvotum scheinbar 2:1 für letzteres spricht. Außerdem ist es nicht unmöglich, daß sich die Manuskript-Gruppen auch untereinander beeinflußt haben. Will man demnach diesen Fall entscheiden, muß man den Text in den beiden Versionen jeweils auf inhaltliche Konsistenz auch in Bezug auf den weiteren Kontext überprüfen. Hier spricht nun sehr viel für das μὴ. Zunächst sind hier die durch οἷον eingeleiteten Beispiele oder Vergleiche41 zu nennen, nämlich die Statue und die Artefakte, die eindeutig aus dem Bereich der nicht-natürlichen Dinge genommen sind, und denen, obwohl sie Nicht-Natürliches, also Künstliches, sind, laut Aristoteles doch eine Physis zukommen soll. Hätte Aristoteles also in diesem Abschnitt von φύσει ὄντα gesprochen, so hätte er durch seine Beispiele oder Vergleiche noch eine weitere Bedeutung von φύσις gleichsam unter der Hand eingeführt, womit doch nicht zu rechnen ist. Vgl. ebenda. Ob es sich um Beispiele oder um Vergleiche handelt hängt wesentlich von der hier verhandelten Frage ab. Spricht Aristoteles hier von μὴ φύσει ὄντα, dann handelt es sich um Beispiele, da ja bronzene und hölzerne Artefakte spezielle Fälle von μὴ φύσει ὄντα sind, andernfalls muß es sich um Vergleiche handeln, wobei hier offen bleiben kann, worauf genau der Vergleich abzielen würde. 40 41
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Die scheinbare Parallelstelle Phys. B 1, 193a 9–12 zudem, die von manchen, darunter auch Ross, als Indiz für das ursprüngliche Fehlen des μὴ angesehen wird, hat in Wahrheit eine ganz andere Zielrichtung, es soll nämlich hier gerade nicht eine von Aristoteles auch als berechtigt eingeräumte Verwendungsweise des Ausdrucks genannt werden, sondern eine Meinung anderer Denker, die Aristoteles als gerade nicht ganz, sondern nur teilweise berechtigt ansieht. Diese Meinung anderer wird im übrigen auch in dem uns hier interessierenden Abschnitt aufgegriffen, wenn es dort heißt: τοῦτον γὰρ τὸν τρόπον καὶ τῶν φύσει ὄντων τὰ στοιχεῖά φασιν εἶναι φύσιν …42 Und auf diese Weise nun sagen sie ja auch, daß auch von dem, was von Natur (Physis) ist, die Elemente Physis seien …
Obwohl wir Detailfragen der Interpretation zunächst ausklammern wollen, so ist doch eines klar: hier wird durch das καὶ („auch“) der Ausdruck τῶν φύσει ὄντων eindeutig etwas anderem entgegengesetzt, bei dem es sich nur um das daher auch weiter oben anzunehmende τῶν μὴ φύσει ὄντων handeln kann. Wenn nämlich zum einen etwas auch von X gilt, dann muß es mindestens ein Y geben, von dem die Aussage ebenfalls gilt. Da nun aber zum anderen dieses X alles Seiende abzüglich der menschengemachten Dinge umfaßt, so kann das Y nur in diesem ausgeklammerten Bereich zu suchen sein. Folglich kann das gesuchte Y nur ein Artefakt sein, entweder im allgemeinen oder irgendein besonderes. Diese Entgegensetzung geht nun aber nur dann nicht ins Leere, wenn zu Beginn des Abschnitts τῶν μὴ φύσει ὄντων angenommen wird. Werner Jaeger, der das μὴ in seiner Edition ebenfalls als bloße Konjektur eines Schreibers ansieht, scheint in seiner im Rahmen der Oxford Classical Texts erschienen Edition eine scharfsinnige Lösung für diese Probleme anzubieten. Er bringt nämlich zusätzlich noch ein anderes Argument für die Lesart ohne das μὴ: Das τῶν φύσει ὄντων sei nicht auf das τι, sondern auf das ἐξ οὗ zu beziehen. Das μὴ dagegen sei in Ab nur eingefügt worden, weil ein Schreiber das τῶν φύσει ὄντων irrtümlich auf das τι bezog und dieses wiederum mit den Beispielen verband, die den später (noch einmal) erwähnten φύσει ὄντα entgegengesetzt sind. Berücksichtigt man nun diese Deutung, dann wäre der Satz in etwa so zu übersetzen:
Met. Δ 4, 1014b 32 f.
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Zudem wird Physis genannt, woraus unter dem, was von Natur (Physis) her ist, als einem Ersten etwas entweder besteht oder wird …
Dieser Vorschlag klingt zunächst recht überzeugend. Die Physis in dieser Bedeutung wäre dann nur dahingehend bestimmt, daß irgendetwas aus ihr wird, egal ob Artefakt oder Natürliches; und zusätzlich würde nur noch erwähnt, daß sie selbst unter die φύσει ὄντα fällt. Eine gewisse Verwunderung über die für diesen Fall anzunehmende merkwürdig verwirrende Wortstellung kann jedoch nicht so leicht abgeschüttelt werden; der Vorschlag wirkt bei aller Plausibilität doch auch irgendwie konstruiert, so als würde man bei dem deutschen Satz „Zudem wird Physis genannt, woraus als einem Ersten etwas unter dem, was von Natur ist, entweder besteht oder wird“ behaupten, hier sei die Wendung „unter dem, was von Natur ist“ auf das „woraus“ zu beziehen, und nicht auf das „etwas“ hinter dem es nur zufälligerweise stehe. Zudem ergibt bzw. verschärft sich dadurch ein Problem hinsichtlich der Stelle in der Physik, die auch Jaeger als Parallelstelle ansieht und in diesem Sinne im kritischen Apparat als Beleg für die Lesart ohne μὴ anführt. Denn soviel ist klar, daß die entsprechenden Zeilen in der Physik, folgt man dem Vorschlag Jaegers, noch viel weniger als Parallelstelle angesehen werden können als zuvor; hier werden nämlich die φύσει ὄντα ohne jeden Zweifel mit dem identifiziert, was aus der Physis als einem ersten Bestandteil besteht, während Jaeger ja gerade vorschlägt, Aristoteles habe in der Metaphysik die φύσις selbst unmittelbar den φύσει ὄντα zuschlagen wollen. Um dies zu verdeutlichen, ist es vielleicht ganz hilfreich, die entsprechende Stelle aus der Physik einmal kurz hierher zu setzen; sie lautet: δοκεῖ δ᾿ ἡ φύσις καὶ ἡ οὐσία τῶν φύσει ὄντων ἐνίοις εἶναι τὸ πρῶτον ἐνυπάρχον ἑκάστῳ …43 Die Physis und die Seiendheit dessen, was von Natur (Physis) ist, scheint aber für einige das erste in jedem jeweils Enthaltene zu sein …
Das also, was in allem als etwas Erstes enthalten ist, ist (nach Meinung einiger) die Physis. Die Wendung τῶν φύσει ὄντων wird hier m.E. nicht unmittelbar mit dem Ausdruck φύσις verknüpft, obwohl auch das rein grammatikalisch evtl. denkbar wäre, sondern bezieht sich auf οὐσία, offenbar mit dem Ziel, diese weiter zu bestimmen. Die Physis wird hier und im Rahmen des zweiten Buches der Physik sogar nur hier explizit als Seiendheit des von Natur Seienden bestimmt. Aber auch dann, wenn sich Phys. B 1, 193a 9–11.
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τῶν φύσει ὄντων auch auf φύσις bezöge, würde aus Phys. B 1, 193a 9–12 keine Parallelstelle zu Met. Δ 4, 1014b 26f, schon gar nicht, wenn man der Interpretation Jaegers folgen sollte. Warum aber an dieser Stelle Aristoteles diesen Doppelausdruck ἡ φύσις καὶ ἡ οὐσία τῶν φύσει ὄντων44 wählte, ist keine leichte Frage; da sie zudem schon in den Bereich der inhaltlichen Interpretation gehört, soll sie hier zunächst zurückgestellt werden. Trotz der genannten Einwände könnte man aber der Interpretation Jaegers immer noch einen gewissen Plausibilitätsvorsprung attestieren. Sie führt jedoch noch zu einem weitaus größeren Problem, welches sich gerade auch bei einem Blick in die Physik ergibt. Es scheint nämlich für Aristoteles terminologisch unmöglich zu sein, die φύσις zu den φύσει ὄντα zu rechnen, weil letztere φύσει gerade dadurch sind, daß sie φύσις haben, zumindest dann, wenn es sich um Seiendheiten handelt.45 Die φύσις aber ist Prinzip und Ursache (ἀρχὴ καὶ αἰτία) von Bewegung und Ruhe in dem, dem die φύσις zukommt.46 Wenn nun die φύσις selbst ein φύσει ὄν wäre, dann müßte also auch die φύσις selbst eine φύσις haben. Und da außerdem die φύσις ein Prinzip und eine Ursache von Bewegung und Ruhe ist, müßte es entweder ein Prinzip des Prinzips des Prinzips usw. ad infinitum geben, was unmöglich ist, oder diese Reihe würde zwar irgendwann enden; dann wäre aber diese letzte φύσις zum einen die einzig wahre φύσις, denn Prinzip ist ja gerade das, wovon her etwas seinen Anfang nimmt, zum anderen wäre sie kein φύσει ὄν mehr, denn sie hat ja selbst wiederum keine grundlegendere φύσις, weil sie die erste ist. Gerade darauf baut im übrigen auch die Argumentation im Abschnitt 193a 9–28 auf, die wir weiter unten noch genauer betrachten wollen. Gegen diesen Punkt kann man nun aber nicht einwenden, daß doch gerade die einfachen Körper, die Aristoteles zu Beginn des zweiten Buchs der Physik ausdrücklich zu den φύσει ὄντα rechnet47, an den genannten Stel-
44 Im ganzen restlichen Buch B, mit Ausnahme des Abschnitts 193a 9–28, der sich mit dem uns hier interessierenden Physisverständnis beschäftigt, kommt sogar der Ausdruck οὐσία alleine nur noch einmal vor (nämlich 192b 33), dort jedoch bezeichnenderweise gerade nicht bezogen auf die Physis selbst, sondern auf das, dem die Physis zukommt, also die φύσει ὄντα. Im Abschnitt 193a 9–28 dagegen trifft man ihn dreimal an, davon zweimal in Form des erwähnten Doppelausdrucks. 45 Vgl. Phys. B 1, 192b 32 – 193a 1. 46 Vgl. Phys. B 1, 192b 21–23. 47 Vgl. Phys. B 1, 192b 10 f.
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len in der Physik48 und der Metaphysik49 ebenso ausdrücklich φύσις genannt werden, denn an diesen Stellen referiert Aristoteles ja nur die Ansichten anderer und gibt keine Darstellung seiner eigenen Position. Worin diese Position besteht, gilt es freilich erst noch herauszufinden. Die Textgrundlage dürfte m.E. somit mittels des Ausschlußverfahrens geklärt sein: die Variante ohne μὴ führt zu keinen tragfähigen Ergebnissen, es bleibt also nur noch die Variante mit μὴ übrig. Inwiefern es jedoch möglich ist, die Lesart τῶν μὴ φύσει ὄντων nachvollziehbar in den Kontext zu integrieren muß erst noch gezeigt werden. Im folgenden wollen wir uns nun einmal den ersten Teil des hier zu klärenden Abschnitts im Zusammenhang ansehen, um ihn im Anschluß noch etwas genauer zu untersuchen: ἔτι δὲ φύσις λέγεται ἐξ οὗ πρώτου ἢ ἔστιν ἢ γίγνεταί τι τῶν μὴ φύσει ὄντων, ἀρρυθμίστου ὄντος καὶ ἀμεταβλήτου ἐκ τῆς δυνάμεως τῆς αὑτοῦ, οἵον ἀνδριάντος καὶ τῶν σκευῶν τῶν χαλκῶν ὁ χαλκὸς φύσις λέγεται, τῶν δὲ ξυλίνων ξύλον·50 Zudem wird Physis genannt, woraus als einem Ersten etwas von dem, was nicht von Natur (Physis) her ist, entweder besteht oder wird, und das ohne Ebenmaß ist und im Umwandlungsprozeß nicht von seinem eigenen Vermögen abgebracht wurde, so wie z. B. von einer Statue, ja von den bronzenen Artefakten überhaupt die Bronze Physis genannt wird, von den hölzernen Artefakten aber das Holz.
Aristoteles greift hier offenbar eine zu seiner Zeit gebräuchliche Ausdrucksweise auf, gemäß der die jeweiligen ersten Materialien (ἐξ οὗ πρώτου ἢ ἔστιν ἢ γίγνεταί) dessen, was von Menschen hergestellt wird, (τῶν μὴ φύσει ὄντων) jeweils als φύσις dieses Gegenstandes bezeichnet wurden. Es ist hier also eine bestimmte Art von Materialien gemeint, nämlich die Materialien, die noch nicht dergestalt bearbeitet wurden, daß sie eine sinnvolle Struktur aufweisen, die also in diesem Sinne noch ohne „Ebenmaß“ (ἀρρυθμίστου ὄντος) sind. Unter „sinnvoller Struktur“ soll dabei hier auf menschliche Bearbeitung zurückgehende, funktionale Formung des Materials verstanden werden. Der Ausdruck φύσις bezeichnet also weder Materialien schlechthin, noch auch bloß die noch völlig unbearbeiteten Ausgangsgegebenheiten, von denen der Produktionsprozeß anhebt, z. B. das (womöglich sogar noch im Berg schlummernde) Erz51 oder der im Urwald stehende Baum, sondern dasjenige, Phys. B 1, 193a 9–28. Met. Δ 4, 26–35. 50 Met. Δ 4, 1014b 26–30. 51 Obwohl χαλκός zum Teil auch durch den Ausdruck „Erz“ übersetzt werden 48 49
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was zwar schon eine Bearbeitung erfahren hat, jedoch ohne daß das bereits mit einer im Kontext menschlicher Kultur sinnvollen Formgebung verbunden gewesen wäre, ohne daß also das Produkt dieser Bearbeitung bereits etwas ist, das aus dem Zweckgefüge menschlicher Kultur heraus seine wesentliche Bestimmung erfährt. So ist zum einen Physis in dem hier gemeinten Sinne nicht von menschlicher Tätigkeit gänzlich unberührt: Erz muß zuerst aus dem Felsen gebrochen, verhüttet und die verschiedenen daraus entstehenden Metalle evtl. noch legiert werden, ehe man das Material zur Herstellung von Statuen gewinnt, nämlich Bronze. Ebenso muß zuerst ein Baum gefällt, entrindet und entastet werden, ehe der Schreiner das Material für einen Tisch erhält. Zum anderen darf die Bearbeitung aber auch noch nicht so weit gegangen sein, daß diese Materialien bereits eine Formgebung erfahren haben, die ihnen irgendeine Zweckdienlichkeit im weitesten Sinne mitteilen: Das erste, grundlegende Material des Tisches sind nicht die Bretter, sondern das Holz; so sagt man auch, wenn man einen Tisch hinsichtlich seines Materials charakterisieren will, nicht „ein bretterner Tisch“, sondern „ein hölzerner Tisch“, obwohl ja auch in gewisser Weise Bretter, Latten u.ä. in Hinblick auf den Tisch als Material bezeichnet werden können, nur eben nicht als erstes Material. Die Bretter nämlich sind bereits funktional geformtes Holz. Wenn demnach also die so verstandene Physis der Artefakte nie gänzlich unbearbeitet ist, so stellt sich die Frage, warum sie überhaupt mit einem Ausdruck bezeichnet wird, der aus dem Bereich des Hervorwachsens der Pflanzen entlehnt ist und dadurch einen Bezug zum freien Sichaus-sich-selbst-heraus-Entfalten aufweist. Bei allen anderen bisher untersuchten Bedeutungen erwies sich dieser Bezug ja stets als wesentlich. Sollte das hier nicht der Fall sein? Das wäre doch sehr seltsam. Um zu verstehen, was das erste Material der Artefakte ist, dürfte es hilfreich sein, eine bisher nicht beachtete Wendung genauer zu bedenken. In dem zuletzt zitierten Abschnitt heißt es nämlich auch, daß dieses Material nicht von seinem eigenen Vermögen abgebracht wurde (ἀμεταβλήτου ἐκ τῆς δυνάμεως τῆς αὑτοῦ). Auf den ersten Blick erscheint es zwar auch möglich, diesen Teil mit „nicht veränderbar aus eigener Kraft“ zu übersetzen, ich folge in meiner Übersetzung jedoch einem kann, ist dies hier nicht sinnvoll, und zwar deshalb, weil ein Erz ein metallhaltiges Gestein ist, und man aus einem solchen Gestein normalerweise keine Statuen herstellt, sondern es verhüttet.
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Hinweis von Ross: 52 Aristoteles liefert nämlich im zweiten Buch der Physik für die von einigen älteren Philosophen behauptete Ewigkeit und also Unveränderlichkeit der Elemente eine der obigen sehr ähnlichen Formulierung: καὶ τούτων μὲν ὁτιοῦν ἀΐδιον (οὐ γὰρ εἶναι μεταβολὴν αὐτοῖς ἐξ αὑτῶν), τὰ δ᾿ ἄλλα γίγνεσθαι καὶ φθείρεσθαι ἀπειράκις.53 Und von diesen sei ein jedes ewig (denn ihnen kommt keine Veränderung aus sich selbst zu), das Andere aber wird und geht zugrunde wieder und wieder.
Es ist hier ausgeschlossen die μεταβολὴ ἐξ αὑτῶν mit „aus sich selbst entspringender Veränderung“ zu übersetzen, da sich ja damit keinesfalls die Ewigkeit der Elemente begründen ließe. Dies läßt nur die Deutung zu, daß die Wendung eine Veränderung meint, durch die etwas von dem abgebracht wird, was es selbst ist, also eine Veränderung hinsichtlich des wesentlichen Charakters der Elemente; abgegrenzt wäre der Ausdruck damit gegenüber den akzidentellen Veränderungen, also Veränderungen hinsichtlich des Ortes, der Lage usw. Diese zudem noch reichlich ungewöhnliche Formulierung in der Physik und die oben erwähnte nicht minder ungewöhnliche in der Metaphysik sind sich nun aber einfach viel zu ähnlich – sie sind ja so gut wie identisch –, als daß man von einem bloßen, bedeutungslosen Zufall ausgehen könnte. Wollte man nun aber trotz alledem ἐκ τῆς δυνάμεως τῆς αὑτοῦ als Urheberangabe verstehen und die ganze Wendung deshalb mit „aus eigener Kraft unveränderlich“ übersetzen, ergäben sich zudem noch andere Probleme. Zum einen würde sich dann ein Widerspruch zur weiter oben zitierten Aussage aus der Physik ergeben, nach der Materialien wie Stein oder Ton sehr wohl ein Drang innewohnt, der ein Vermögen zur Veränderung darstellt. Zum anderen hat Vermögen bei Aristoteles nicht nur eine aktive, sondern auch eine korrespondierende passive Seite,54 leidensfähig aber sind die Materialien doch auf jeden Fall, sonst könnten sie ja nicht verarbeitet werden. Den Ausdruck δύναμις kann man nämlich sowohl mit Kraft als auch mit Vermögen übersetzen, wobei der Ausdruck Kraft vielleicht noch deutlicher macht, daß es sich hier nicht um eine bloß neutrale Möglichkeit handelt, sondern immer auch um einen Drang, der nach Verwirklichung strebt. Das passive Vermögen dagegen als pas Vgl. Ross, Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. 297. Phys. B 1, 193a 26–28. 54 Vgl. Met. Δ 12, 1019a 15 ff. 52 53
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sive Kraft zu bezeichnen, mag etwas seltsam klingen, es ist aber vielleicht dennoch angemessen, weil ja auch das Erfahren einer Einwirkung eine Fähigkeit ist, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, und diese Fähigkeit zudem eine Art von Bereitschaft darstellt, eine Einwirkung zu empfangen; eine solche Bereitschaft ist vielleicht nicht ohne ein gewisses Streben denkbar. Doch kommen wir zurück zu unserem eigentlichen Thema. Alle Gründe der Wahrscheinlichkeit sprechen also für die von mir oben gewählte Übersetzung, wobei das Verbaladjektiv ἀμετάβλητον in perfektivischem Sinne aufzufassen ist und nicht als Bezeichnung einer Möglichkeit; schließlich ist z. B. auch Holz u.a. durch Verbrennen hinsichtlich seiner selbst veränderbar. Was besagt nun aber diese Wendung in dem hier untersuchten Kontext? Wenn man einen Baum fällt, so geht er (normalerweise) seines Vermögens zu wachsen und sich zu entfalten verlustig. Wenn man Erz verhüttet, so kann man das Ergebnis dieser Prozedur nicht mehr mit einem Hammer zu Staub zerschlagen, weil es sich dann nämlich unter den Hammerschlägen wohl höchstens noch plastisch verformen dürfte. In diesem Sinne wird durch den Prozeß der Verarbeitung eine Ausgangsgegebenheit von dem ihr eigenen Vermögen abgebracht. Gleiches gilt indes nicht von dem Material, das aus dieser primären Bearbeitung entsteht. Auch ein hölzerner Tisch ist brennbar und z. B. ein guter elektrischer Isolator, wohingegen eine bronzene Statue weiterhin, wie bereits der ungeformte Bronzeklumpen, schmelzbar und elektrisch leitfähig ist. Zwar kann ich auch hier noch weitere Umwandlungen vornehmen, indem ich z. B. das Holz des Tisches verbrenne, wodurch sich auch eindeutig das Vermögen des betreffenden Stoffes ändert, weil es dann nämlich kein Holz mehr sein wird, sondern Kohle oder Asche. Weder Kohle noch Asche jedoch sind Bestandteil eines Tisches, ebensowenig wie ein Baum Bestandteil eines Tisches ist, auch wenn der Produktionsprozeß von Tischen (zumindest von Holztischen) in gewisser Weise beim Baum seinen Ausgang nimmt. Mit der Wendung ἀμετάβλητον ἐκ τῆς δυνάμεως τῆς αὑτοῦ wird also das erste Material, aus dem ein Artefakt besteht, von den Ausgangsgegebenheiten des Produktionsprozesses im weiteren Sinne abgegrenzt. Durch die Kennzeichnung als ἀρρύθμιστον erfolgt dagegen die Abgrenzung gegenüber den weiteren Verarbeitungsstufen, die auf die Gewinnung des ersten Materials folgen.55 Das Holz z. B. markiert also gerade den Um Der Ausdruck πρώτη ὕλη scheint also zunächst nichts mit der später so genann-
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schlagspunkt, wo die Zerstörung eines Baumes übergeht in die Entstehung eines Tisches, wobei das Holz selbst und das ihm eigentümliche Vermögen im weiteren Produktionsprozeß auf eine bestimmte, später noch näher zu bestimmende Weise erhalten bleiben. Daß die Entstehung des Tisches im eigentlichen Sinne mit dem Holz anfängt, macht das Holz zu etwas Erstem, nämlich zum ersten Ausgangspunkt der Entstehung des Tisches; weil das Holz bei der Entstehung des Tisches auf eine gewisse Weise erhalten bleibt, deshalb wird der Tisch nicht nur aus dem Holz, sondern ist auch aus ihm. Warum aber wird das erste Material nun gerade als Physis bezeichnet, obwohl es das Material von Artefakten ist? Der Ausdruck φύσις bezog sich doch bisher immer auf das, was wir „Hervorwachsen“ nannten, also auf selbsttätige und in diesem Sinne freie Veränderungsprozesse. Die Produkte menschlicher Kunstfertigkeit unterscheiden sich aber gerade darin von all dem, was von Natur ist, daß keine Eigenschaft, die ihnen als Kunstprodukte zukommt, Ausdruck eines ihnen innewohnenden Dranges nach Verwirklichung, einer ihnen innewohnenden Kraft ist; stets sind nämlich ihre wesentlichen Eigenschaften Ausdruck und Produkt eines äußeren Zwanges. Geschmolzene Bronze z. B. strebt danach, sich in der Horizontalen nach allen Richtungen hin auszubreiten, damit jedes seiner Teile möglichst weit nach „unten“ gelangt; daran jedoch hindert sie die Gußform, und zwar so lange, bis sie dieses Streben durch Abkühlen wieder verloren hat. Das spezifische aktive und passive Vermögen der Bronze jedoch bleibt sowohl während des Entstehungsvorgangs als auch danach erhalten; es beschreibt den Rahmen, innerhalb dessen sich die künstliche Formgebung ausschließlich bewegen kann. Somit beruht jedes Artefakt auf dem ursprünglichen Vermögen, der ursprünglichen Kraft eines ersten Materials, aus dem es dadurch hervorgeht, daß dessen eigentümliches Vermögen des Hervorwachsens im weitesten Sinne in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. In diesem ersten Material bleibt allerdings weiterhin der Quellgrund seines Hervorwachsens und damit also die so verstandene Physis wirksam56 ; in der erreichten Form und Gestalt erfüllt sich nämlich nicht das Streben des ersten ten prima materia zu tun zu haben, sondern vielmehr einer Analyse von Produkten menschlicher Kunstfertigkeit zu entspringen. Die Übersetzung als erstes Material erweist sich hier somit als dem Sinn dieses Ausdrucks durchaus angemessen. 56 Diese Wirksamkeit hat freilich bei allem, was als Grundlage für Artefakte infrage kommt, nur einen vergleichsweise bescheidenen Umfang, da es sich ja hierbei immer nur um Nicht-Lebendiges und damit Möglichkeitsarmes handeln kann.
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Materials, da die Form als eine künstliche diesem gewissermaßen von außen aufgezwungen ist. Dies scheint Aristoteles mit der Wendung ἀμετάβλητον ἐκ τῆς δυνάμεως τῆς αὑτοῦ ausdrücken zu wollen. Der Ausdruck δύναμις meint hier also offenbar die φύσις in der zweiten und dritten Bedeutung, nach der sie den Quellgrund des Hervorwachsens bezeichnet. Das erste Material der Artefakte heißt also Physis, weil in diesem die als Quellgrund des Hervorwachsens verstandene Physis weiterhin aktiv ist. Nun ist es aber auch möglich, das, was von Natur ist, in Analogie zu den Produkten menschlicher Kunstfertigkeit zu betrachten und dann auch das, woraus diese hervorgehen und wohinein sie wieder zugrunde gehen, ebenfalls als Physis in dem soeben erläuterten Sinne zu bezeichnen. Und genau dieser Weg wurde auch von einigen Vorsokratikern beschritten. Darauf verweist Aristoteles im zweiten Teil des Abschnitts, dessen ersten Teil wir soeben untersucht haben. Er lautet folgendermaßen: ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων· ἐκ τούτων γάρ ἐστιν ἕκαστον διασωζομένης τῆς πρώτης ὕλης· τοῦτον γὰρ τὸν τρόπον καὶ τῶν φύσει ὄντων τὰ στοιχεῖά φασιν εἶναι φύσιν, οἱ μὲν πῦρ οἱ δὲ γῆν οἱ δ᾿ ἀέρα οἱ δ᾿ ὕδωρ οἱ δ᾿ ἄλλο τι τοιοῦτον λέγοντες, οἱ δ᾿ ἔνια τούτων οἱ δὲ πάντα ταῦτα.57 Auf die gleiche Weise aber verhält sich dies auch bei allem anderen. Denn aus diesen besteht jedes deshalb, weil das erste Material58 erhalten bleibt. Und auf diese Weise nun sagen sie ja auch, daß auch von dem, was von Natur (Physis) ist, die Elemente Physis seien, wobei manche Feuer, manche Erde, manche Luft, manche Wasser, manche etwas anderes derartiges nennen, und manche wiederum nennen einiges davon, andere aber dies alles. Met. Δ 4, 1014b 30–35. Ich wähle hier zunächst diesen Begriff, der ziemlich genau der vorphilosophischen Bedeutung des Ausdrucks ὕλη entspricht, anstelle des sonst üblichen der Materie, um die jahrtausendealte mit dem Ausdruck der Materie verbundene Würde und Geschichte ein wenig abzuschütteln, da dies einer Deutung im Wege stehen kann; sie verfälschen nämlich den Kontext, in dem dieser Ausdruck bei Aristoteles steht, bis zur Unkenntlichkeit: für Aristoteles war ὕλη schließlich ein einfacher Ausdruck der Alltagssprache, den er in einen philosophischen Kontext übernommen hatte. Dadurch, daß der Ausdruck Material von Materie abgeleitet ist, behält er aber zugleich immer noch einen Verweischarakter auf diese lange Geschichte und wird nicht ganz davon abgelöst, was ja ebenso fatal wäre. Nachdem wir den Begriff der ὕλη erst einmal geklärt haben, können wir jedoch dafür getrost wieder die gewöhnliche Übersetzung verwenden (die im übrigen streng genommen eigentlich gar keine Übersetzung ist, und schon gar keine ins Deutsche); es besteht ja dann keine akute Gefahr mehr, daß sie unsere Deutung fehlleitet. 57
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Die Argumentation ist hier etwas verwickelt und muß erst entwirrt werden. Im Gegensatz zu vielen anderen verstehe ich das ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων nicht im Sinne eines zu den vorausgehenden Beispielen gehöriges „und so weiter“, das die beliebige Fortsetzbarkeit der Beispiele zum Ausdruck bringen will. Daß nämlich die Beispiele nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen und eben nur Beispiele sind, muß Aristoteles an dieser Stelle nicht mehr betonen, weil es bereits durch das den Beispielen vorangestellte οἵον hinreichend klar ist. Natürlich wäre eine solche Redundanz im Prinzip durchaus möglich, wenn auch recht ungewöhnlich59, das nachfolgende zweite γὰρ ist jedoch nur dann erklärbar, wenn man diesen elliptischen Satz von den Beispielen abkoppelt und das ἐπὶ τῶν ἄλλων nicht den Beispielen gegenüberstellt, sondern den Artefakten überhaupt: so, wie sich das bei den Artefakten verhält, so verhält es sich auch bei allem anderen, also bei dem Natürlichen, den φύσει ὄντα. Kompliziert wird die ganze Sache dadurch, daß nun die Begründung für diese Feststellung auf eine recht unsystematische, ja verwirrende Weise hinterhergeschoben wird. Zum einen nämlich wird das logische Verhältnis zwischen den beiden folgenden Sätzen nicht nur nicht deutlich, man ist sogar versucht wegen des zweimaligen γὰρ die beiden folgenden Sätze als Begründung für den jeweils vorausgehenden Satz aufzufassen, was freilich nicht den geringsten Sinn ergibt. Licht in den logischen Zusammenhang der Sätze kommt erst dadurch, daß man beide γὰρ auf den ὁμοίωςSatz bezieht; das zweite γὰρ markiert also keine begründende Kraft des entsprechenden Satzes in Bezug auf den vorausgehenden Satz. Der logische Zusammenhang ist vielmehr gerade umgekehrt: der erste γὰρ-Satz begründet den zweiten, beide zusammen jedoch liefern die Begründung für den ὁμοίως-Satz. Die zweite Schwierigkeit ergibt sich durch das ἐκ τούτων, das man versucht ist, auf das vorausgehende τῶν ἄλλων zu beziehen. Dann müßte damit aber ein Material gemeint sein, und zwar entweder das der Arte59 Die scheinbar ganz ähnliche Stelle in Phys. B 1, 193a 19f ist in Wahrheit ganz anders gelagert; hier liegt nämlich genau genommen gar keine Redundanz vor, vielmehr soll durch die Wendung ὁμοίως δὲ καὶ τῶν ἄλλων ὁτιοῦν, die sich an eine beispielhafte Aufzählung anreiht, zum Ausdruck gebracht werden, daß alles ohne Ausnahme auf einen Grundstoff oder eine handvoll Grundstoffe zurückgeführt werden kann. Denn nur wenn die Grundstoffe allem zugrunde liegen, sind sie überhaupt Grundstoffe. Im Gegensatz zur Stelle in der Metaphysik hat die Wendung in der Physik also trotz aller Ähnlichkeit eine ganz andere Funktion, die sich nicht einfach in einem „und so weiter“ erschöpft. Weiter unten werden wir auf diese Physikstelle zurückkommen.
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fakte oder das des von Natur Seienden. Wenn ersteres angenommen wird, dann haben wir wieder das bereits erwähnte Problem, daß der zweite γὰρ-Satz nicht erklärt werden kann, wenn aber letzteres, dann ergibt sich das Problem, daß Aristoteles auf etwas verweist, was weder erwähnt wurde noch aus dem vorausgehenden Kontext irgendwie erschlossen werden kann, weil ja an dieser Stelle noch gar nicht ersichtlich ist, daß es nicht nur ein Material der Artefakte, sondern auch des Natürlichen gibt. Das τούτων verweist also nicht auf das ἄλλων, sondern auf das Material der Artefakte überhaupt, das im ersten Teil des Abschnitts als eine weitere Bedeutung von Physis erwähnt wurde. Wenn man nun noch den Genitiv des Partizips kausal auffaßt, dann läßt sich der zweite γὰρ-Satz hinreichend erklären. Er beschreibt das Verhältnis zwischen Artefakt und Material in verallgemeinernder Art und Weise, so daß es auf Nicht-Artifizielles übertragen werden kann. Der Satz besagt also: Daß etwas aus etwas ist, bedeutet, daß es etwas gibt, was in diesem Werdeprozeß erhalten bleibt, nämlich das jeweils erste Material. Mit πρώτη ὕλη ist hier also nicht die prima materia im Sinne der reinen Möglichkeit gemeint, sondern das erste Material in dem weiter oben bestimmten Sinne. 60 Damit ist nun die Grundlage geschaffen für den zweiten γὰρ-Satz. Dieser greift das Verhältnis zwischen erstem Material und Artefakt auf und zeigt, daß dieses einer von manchen vertretenen Ansicht nach auch bei dem Natürlichen anzutreffen ist. Denn auch das, was von Natur ist, besteht aus etwas, was erhalten bleibt und vom Werden und Vergehen nicht berührt wird, nämlich die στοιχεῖα. Diese Ansicht dürfte aber wohl nicht unbedingt allgemein verbreitet gewesen sein, so daß sie auch der Durchschnittsgrieche vertrat. Aristoteles hat hier vielmehr offenbar bestimmte andere Philosophen im Sinn, und zwar all jene, die einen oder mehrere Körper als Prinzip alles Seienden ansehen, z. B. Thales, Heraklit oder Empedokles. Solche Denker werden von ihm in der Physik und anderswo als φυσικοί bezeichnet61, also als Personen die sich mit der 60 Insofern haben Hugh R. King und all diejenigen, die ihm hierin gefolgt sind, bis zu einem gewissen Grade recht, wenn sie die πρώτη ὕλη des Aristoteles in einer ähnlichen Weise von der traditionellen prima materia unterscheiden, wie wir das hier getan haben (vgl. Hugh R. King: „Aristotle without Prima Materia“, in: Journal of the History of Ideas 17 (1956), S. 370–389. Daraus allerdings die weitergehende Schlußfolgerung zu ziehen, daß damit auch die tiefste Schicht des Aristotelischen Materiebegriffs erreicht sei, scheint mir etwas voreilig zu sein; siehe S. 201 und Abschnitt 4.3.2.2. 61 Vgl. z. B. Phys. A 4, 187a 12 ff.
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φύσις befassen und sich auf sie verstehen. Gemeinsam ist ihnen bei aller Unterschiedlichkeit, daß sie die στοιχεῖα dessen, was von Natur ist, in genau dem gleichen Sinne als Physis verstehen, wie die ersten Materialien der Artefakte gemeinhin als Physis der Artefakte angesehen werden. Unter στοιχεῖον ist dabei das zu verstehen, „… ἐξ οὗ σύγκειται πρώτου ἐνυπάρχοντος ἀδιαιρέτου τῷ εἴδει εἰς ἕτερον εἶδος …“62 , d. h. das, aus dem etwas zusammengesetzt ist als einem ersten Bestandteil, der nicht in etwas von anderer Art teilbar ist. Das στοιχεῖον, das wir im folgenden in traditioneller Weise mit „Element“ übersetzen wollen, ist also im hier relevanten Kontext dasjenige, was übrigbleibt, wenn man einen Körper so lange in seine Bestandteile zerlegt, bis keine weitere Zerlegung mehr möglich ist, zumindest keine mehr, bei der das Ergebnis der Zerlegung von dem, was zerlegt wird, der Art nach unterschieden werden kann. Wasser z. B. ist (zumindest für Aristoteles) nur in Wasser teilbar; wenn es nun etwas gibt, das u.a. aus Wasser zusammengesetzt ist, dann wäre Wasser davon eines der Elemente. Als allgemein verbreitet kann diese Auffassung von der φύσις der natürlichen Dinge deshalb gelten, weil sie den damaligen Mainstream repräsentierte. Nur die Eleaten tanzten hier aus der Reihe. In ähnlicher Weise scheint auch Antiphon zu argumentieren, zumindest nach dem, was Aristoteles von ihm im ersten Kapitel des zweiten Buchs der Physik berichtet. Da die Argumentation dort zudem wesentlich ausführlicher ist als an der soeben besprochenen Stelle, dürfte es wohl sinnvoll sein, die Antiphon-Paraphrase in der Physik nachfolgend etwas genauer zu untersuchen. Sehen wir uns zunächst die Stelle im Überblick an: δοκεῖ δ᾿ ἡ φύσις καὶ ἡ οὐσία τῶν φύσει ὄντων ἐνίοις εἶναι τὸ πρῶτον ἐνυπάρχον ἑκάστῳ, ἀρρύθμιστον 63 καθ᾿ ἑαυτό, οἷον κλίνης φύσις τὸ ξύλον, ἀνδριάντος δ᾿ ὁ χαλκός. σημεῖον δέ φησιν Ἀντιφῶν ὅτι, εἴ τις κατορύξειε κλίνην καὶ λάβοι δύναμιν ἡ σηπεδὼν ὥστε ἀνεῖναι βλαστόν, οὐκ ἂν γενέσθαι κλίνην ἀλλὰ ξύλον, ὡς τὸ μὲν κατὰ συμβεβηκὸς ὑπάρχον, τὴν κατὰ νόμον διάθεσιν καὶ τὴν τέχνην, τὴν δ᾿ οὐσίαν οὖσαν ἐκείνην ἣ καὶ διαμένει ταῦτα πάσχουσα συνεχῶς. εἰ δὲ καὶ τούτων ἕκαστον πρὸς ἕτερόν τι ταὐτὸ τοῦτο πέπονθεν (οἷον ὁ μὲν χαλκὸς καὶ ὁ χρυσὸς πρὸς ὕδωρ, τὰ
Met. Δ 3, 1014a 26 f. Wurde von Ross eingefügt unter Hinweis auf die weiter oben zitierte Stelle aus der Metaphysik. Die Notwendigkeit einer solchen Einfügung erschließt sich mir zwar nicht, weil aber auch freilich nichts dagegen spricht, lasse ich sie stehen. 62
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δ᾿ ὀστᾶ καὶ ξύλα πρὸς γῆν, ὁμοίως δὲ καὶ τῶν ἄλλων ὁτιοῦν), ἐκεῖνο τὴν φύσιν εἶναι καὶ τὴν οὐσίαν αὐτῶν.64 Die Physis und die Seiendheit dessen, was von Natur (Physis) ist, scheint aber für einige das erste in jedem jeweils Enthaltene zu sein, das ohne Ebenmaß ist hinsichtlich seiner selbst, so wie von einem Bett Physis das Holz ist, von einer Statue aber die Bronze. Dies zeige sich darin, sagt Antiphon, daß, wenn man ein Bett eingrübe und die Fäulnis die Kraft erlangte, daß ein Trieb aufgehen kann, nicht ein Bett entstehen würde, sondern Holz, da das eine auf die Weise dessen, was sich so ergeben hat, vorliege, nämlich die von Menschen festgelegte Anordnung und das durch Kunstfertigkeit hervorgebrachte Werk, die Seiendheit aber jenes sei, was auch dann Bestand habe, wenn ihm dergleichen unaufhörlich widerführe. Wenn aber auch von diesen wiederum jedem jeweils in Bezug auf etwas Anderes dies selbige widerfahren sei (z. B. der Bronze und dem Gold in Bezug auf Wasser, den Knochen und dem Holz in Bezug auf Erde, auf die gleiche Weise aber auch jedwedem anderen), dann sei jenes ihre Physis und ihre Seiendheit.
Die hier paraphrasierte Argumentation des Antiphon dürfte wohl aus dem ersten Buch seiner Schrift Über die Wahrheit stammen. 65 Aristoteles ist jedoch offenbar der Ansicht, daß in dieser Argumentation etwas zum Ausdruck kommt, was grundlegend ist für alle jene Denker, die die Physis als ersten Bestandteil des Seienden auffassen, und daß dieser wesentliche Punkt daher auch von allen wenigstens implizit vorausgesetzt werden muß; schließlich soll ja der Auszug aus Antiphon eine soeben vorgestellte und unter Philosophen verbreitete Verwendung des Ausdrucks Physis allgemein plausibel machen. 66 Wir werden uns also deshalb hier auch nicht mit den speziellen Problemen der Deutung Antiphons befassen, etwa indem wir den Zusammenhang dieses Zitats mit anderen Fragmenten aufzeigen, um so einer Gesamtinterpretation seines Denkens näher zu kommen67 ; vielmehr wollen wir ausgehend von diesem Zitat „nur“ die allgemeine Frage zu beantworten versuchen, was ge Phys. B 1, 193a 12–21. Vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 503 (Kommentar zu 193a 12–14). 66 Nebenbei gesagt zeigt dies deutlich, daß es zur Zeit des Aristoteles noch ganz und gar nicht selbstverständlich war, in der Weise den Ausdruck der Physis zu verwenden, wie dies die vorsokratischen Naturphilosophen taten, nämlich als erstes Material dessen, was von Natur ist. Diese Verwendungsweise des Ausdrucks muß also von einer ursprünglicheren abgeleitet sein. Nimmt man nun aber an, daß Physis nicht auch das erste Material der Artefakte bezeichnen konnte, und daß diese Verwendungsweise ursprünglicher ist als die der vorsokratischen Naturphilosophen, dann dürfte die Ableitung der letzteren wohl unmöglich sein. 67 Für weitere Informationen zu Antiphon siehe Gerard J. Pendrick (Hrsg./ 64 65
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nau die von Aristoteles sog. φυσικοί unter der Physis verstanden. Davon ausgehend dürften wir dann ja auch das Physis-Verständnis des Aristoteles weiter klären können, denn auch Aristoteles ist offenbar der Ansicht, daß hier ein wichtiger Aspekt der Wahrheit zur Sprache kommt, ansonsten würde er wohl kaum ohne Widerlegung so ausführlich diese Argumentation referieren. Wie geht Antiphon hier also vor? Zunächst beginnt er mit einem Beispiel oder einem Gedankenexperiment, das vorderhand reichlich abwegig anmutet: Wenn man ein hölzernes Bett eingrübe, so sagt er, und es der σηπεδών, womit im Griechischen alle Prozesse der Dekomposition organischer Materialien, also Fäulnis, Verrottung etc., gemeint sind, gelänge, in dem Holz wieder die ursprüngliche Lebendigkeit zu wecken, dann würde ja wohl daraus kein Bett als Trieb hervorgehen, sondern wenn irgendetwas, dann doch Holz. Unwillkürlich stellt man sich sogleich die Frage, ob denn Aristoteles diese Ausführungen wirklich ernst nehmen konnte. Wollte er sich hier womöglich über Antiphon lustig machen? Doch gemach! Dieses Gedankenexperiment wird vielleicht doch noch als ein sinnvolles Argument verstehbar, wenn man es in einen gewissen Kontext einbettet, nämlichen denjenigen, den wir zu Anfang als Ausgangspunkt für unsere Deutung der Physis genommen haben. Wir gingen ja aus von der Bezeichnung der Pflanzen als φυτόν; aus dieser Bezeichnung der Pflanzen schlossen wir, daß der Ausdruck φύσις wesentlich mit den Pflanzen und den pflanzlichen Lebensäußerungen verbunden sein muß. Das Leben der Pflanzen aber vollzieht sich in der Weise des Wachstums und der Entfaltung einer zunächst gleichsam eingefalteten Gestalt. Seinen Ausgang nimmt dieses Leben der Pflanze in gewisser Weise beim Samen. 68 Aber auch Ableger von Pflanzen oder andere Pflanzenteile können, wenn sie eingegraben werden, einen Trieb aus sich hervorgehen lassen, ähnlich wie Samen; ja, es ist sogar grundsätzlich tatsächlich möglich, wenn auch sehr selten, daß das Holz eines Bettes
Übers./Komm.): Antiphon Sophista (Antiphon the Sophist), The Fragments, Cambridge 2002. 68 Genausogut kann man freilich auch (und vielleicht sogar noch mit mehr Recht) die voll entwickelte und Samen tragende Pflanze als diesen Ausgangspunkt betrachten, weil ja das, was ein Samen ist, nur im Hinblick auf die voll entwickelte Gestalt sinnvoll beschrieben werden kann. Dieses Problem soll aber hier nicht diskutiert werden. Vgl. dazu Phys. B 1, 193a 28 ff.
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unter gewissen Voraussetzungen (Klima, Art und Alter des Holzes, Fruchtbarkeit des Bodens usw.) austreibt. 69 Antiphon fordert uns also auf, uns vorzustellen, wir würden ein Bett wie einen Samen oder einen Ableger in die Erde bringen, und es würde der – ohne Zweifel überaus seltene – Fall eintreten, daß daraus ein Trieb hervorginge. Was hat das aber mit Fäulnis zu tun? Vergrübe man nämlich tatsächlich ein hölzernes Bett, so würde es zwar früher oder später mit ziemlicher Sicherheit verrotten, jedoch deshalb noch lange nicht austreiben. Samen, Ableger oder auch ein aus welchem Grund auch immer noch keimfähiges Stück Holz dagegen würden, wenn man sie in dieselbe Lage brächte, normalerweise70 austreiben und zu einer Pflanze werden, höchstwahrscheinlich jedoch ohne daß wir an ihnen Anzeichen der Fäulnis entdecken könnten. Das Keimen und das Verrotten haben also allem Anschein nach nichts miteinander zu tun. Das scheint aber nur unsere Sicht der Dinge zu sein. Denn zumindest etliche der nachdenklicheren antiken Schriftsteller waren offenbar durchaus der Meinung, daß auch und gerade der Ausgangspunkt des Werdeprozesses (also Samen, Ableger oder z. B. auch die Erde selbst) in der Erde (oder wo auch immer etwas entstehen mag) im Zuge des Werdens einem Zersetzungsprozeß nach Art der Verrottung unterworfen ist71 ; dabei mögen manche Denker diesen Zusammenhang bei allen Werdeprozessen angenommen haben, andere nur bei einigen, in beiden Fällen jedoch wurde die Verrottung mit Entstehung in Zusammenhang gebracht. Auch Aristoteles selbst schloß sich offenbar zumindest im Hinblick auf manche Tiere ausdrücklich der Ansicht an, daß sie aus einem Zersetzungsprozeß heraus entstehen.72 Ja, sogar über den Kreis der Philosophie hinaus scheint die Ansicht in der antiken Welt verbreitet gewesen zu sein, wie der von Paulus vorgebrachte Vergleich in 1. Kor. 15, 36–37 zeigt.73 Davon berichtet z. B. auch Theophrast, vgl. HP II 1.2. Wenn sie nicht beschädigt sind oder irgendetwas anderes sie daran hindert. 71 Vgl. Platon, Phaid. 96b. Auch der Autor der Schrift De carnibus (Περὶ σαρκῶν) aus dem Corpus Hippocraticum vertritt die Ansicht, daß einer Entstehung (in diesem Fall der von Menschen) ein Zersetzungsprozeß (σηπεδών) zugrunde liegt; vgl. De carn. 3, 8.584–588 (Paginierung nach Littré). Diese Ansicht hat ferner auch Spuren im Werk De causis plantarum (Περὶ φυτῶν αἰτιῶν) von Theophrast hinterlassen, z. B. in CP I 1.2, wo von σῆψις (Verrottung, Fäulnis) im Zusammenhang mit dem spontanen Wachstum von Pflanzen die Rede ist. 72 Aristoteles, Hist. an. V 31, 556b 24–28. 73 Paulus schreibt an dieser Stelle: „ἄφρων, σὺ ὃ σπείρεις, οὐ ζῳοποιεῖται ἐὰν μὴ ἀποθάνῃ· καὶ ὃ σπείρεις, οὐ τὸ σῶμα τὸ γενησόμενον σπείρεις ἀλλὰ γυμνὸν κόκκον εἰ 69
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Ganz so verwunderlich, wie uns das zunächst vorkommen mag, ist dieser Gedanke freilich nicht, wird er doch in gewisser Weise bereits durch den Augenschein nahegelegt, zumindest bei manchen Arten der Entstehung: Ein keimender Samen z. B. geht ja immer auch irgendwie kaputt, weil er nicht als Samen erhalten bleibt; der Samen selbst wächst ja nicht, sondern die Pflanze wächst aus dem Samen heraus und wenn man die aus dem Samen emporgewachsene Pflanze später ausgräbt, findet man meist vom Samen selbst keine Spur mehr. Außerdem wächst z. B. aus verfaulenden Lebensmitteln oft Schimmel heraus oder es entwickeln sich Maden in verdorbenem Fleisch. Sicherlich scheint es auf den ersten Blick absurd zu sein, bei einem keimenden Samen von Fäulnis und Verrottung (σηπεδῶν) zu sprechen und auch Paulus tut das ja z. B. nicht. Doch kann man Fäulnis und Verrottung auch als einen allgemeinen Titel für einen Dekompositionsprozeß überhaupt verstehen, so daß man dann sagen kann: jedem oder zumindest manchem Werdensprozeß liegt ein Zersetzungsprozeß zugrunde oder geht mit ihm einher. Diesen Sachverhalt kann man nun auf verschiedene Arten deuten. Eine mögliche und vielleicht auch in gewisser Weise nicht ganz abwegige Deutung ist die, daß die Zersetzung des Samens und dessen Keimung identisch sind. Selbiges muß dann freilich auch von allen anderen Prozessen gelten, die man dem Keimen eines Samens als analog erachtet. Eine solche Betrachtungsweise scheint nun den Ansichten mehrerer vorsokratischer Denker zugrunde zu liegen, die einen so gearteten Zusammenhang zwischen Werden und Zersetzung auch auf andere Entstehungsprozesse übertrugen, z. B. die Entstehung des Menschen oder gewisser Insekten.74 Zur Überzeugungskraft dieser Theorie hat vielleicht auch beigetragen, daß man mit ihr erklären konnte, warum z. B. ein Samen erst zu keimen beginnt, wenn er in der Erde ist, und nicht schon vorher, während er noch in der Scheune lagert: Fäulnis ist eben auf bestimmte Voraussetzungen angewiesen, nämlich vor allem auf Feuchtigkeit und Wärme, deren Eintreten man in einer Scheune oder einer Vorratskammer ja gerade zu verhindern versucht. Freilich muß man dann auch erklären, warum nicht alles, was fault, auch auszutreiben anfängt, z. B. indem man das Austreiben auch noch an bestimmte innere und äußere Voraussetzungen τύχοι σίτου ἤ τινος τῶν λοιπῶν·“ Übersetzung nach Luther: „Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem.“ 74 Vgl. nochmals die soeben genannten Stellen bei Platon, Pseudo-Hippokrates und Aristoteles.
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knüpft. Auch Antiphon muß man wohl zu den Denkern zählen, die im Großen und Ganzen eine solche Ansicht vertraten, wie immer er sich auch im Detail positioniert haben mag. Lebendiges geht also – entweder zur Gänze oder doch zumindest unter anderem – aus Dekompositionsprozessen hervor. Diese Ansicht vertraten, wie gesagt, neben Antiphon auch viele andere Philosophen seiner Epoche, darunter z. B. der Verfasser der bereits erwähnten hippokratischen Schrift De carnibus und zumindest im Hinblick auf die Entwicklung mancher Tiere wie Floh, Wanze und Laus sogar Aristoteles selbst. Das Beispiel des durch einen Zersetzungsprozeß austreibenden Holzes war für Aristoteles also ganz und gar nicht abwegig, vor allem wenn man bedenkt, daß das Austreiben eines verarbeiteten Holzstückes unter gewissen Voraussetzungen ja auch tatsächlich vorkommen kann75 , sondern entsprang dem damaligen philosophisch-wissenschaftlichen Diskurs. Wir dürfen uns also in der Bewertung der Argumentation nicht dem ersten, negativen Eindruck überlassen, den sie auf uns haben mag, sondern müssen anerkennen, daß ihr auch Aristoteles selbst zumindest einen gewissen Anteil an der Wahrheit nicht absprechen konnte und wollte. Nun nahm aber Antiphon, wie es scheint, des weiteren an, daß auch alles andere Nicht-Artifizielle ebenfalls prinzipiell zu etwas dem Keimen und Austreiben der Pflanzen Analogem fähig ist, denn er betrachtete das Beispiel des austreibenden Holzes eines Bettes als Muster für natürliche Umwandlungsprozesse schlechthin, in dem er darauf mit ταὐτὸ τοῦτο verweist: 76 dieses selbige – nämlich Fäulnis (σηπεδών) und das Aufgehen eines Triebes – habe auch anderes erfahren, z. B. Gold und Bronze. Mit σηπεδών muß hier also etwas Umfassenderes gemeint sein als das, was wir normalerweise mit dem Ausdrücken wie Fäulnis, Verrotten, Verwesen usw. bezeichnen. Die Identifizierung von σηπεδών mit der Keimung bzw. dem Austreiben einer Pflanze hilft uns hier jedoch ebenfalls nicht weiter, denn auch um Keimung im eigentlichen Sinne geht es hier ja gar nicht mehr, wenn z. B. von Bronze, Gold, Wasser und Erde die Rede ist.77 Was also verstand Antiphon hier unter Fäulnis und Keimung, daß es ihm möglich war, diese Prozesse auch bei Unbelebtem festzustellen? Zur Klärung dieser Frage können wir uns nun leider nicht auf Antiphon stüt Solche Fälle erwähnt, wie gesagt, auch Theophrast, siehe weiter oben. Vgl. Phys. B 1, 193a 18. 77 Vgl. Phys. B 1, 193a 18–20. 75 76
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zen, da von ihm hierzu nichts überliefert ist; wir wollen im folgenden daher zu heuristischen Zwecken davon ausgehen, daß auch andere Autoren der Epoche Fäulnis und Keimung auf ähnliche Weise auffaßten, so daß wir diese zum Zwecke einer weiteren Klärung konsultieren können. Eine Ähnlichkeit des Denkens im Hinblick auf solche Phänomene, die aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die jeweilige Weltdeutung nicht oder selten explizit problematisiert werden, ist aber auch bei Menschen derselben Epoche sehr wahrscheinlich; eine Epoche konstituiert sich ja gerade durch denselben Hintergrund von Selbstverständlichkeiten, von denen Leben und Denken auch der tiefsten Köpfe ihren Ausgang nehmen, wenn diese sich vielleicht auch manchmal von dieser oder jener Selbstverständlichkeit zu emanzipieren vermögen. Wie nun aus der bereits erwähnten Stelle der hippokratischen Schrift De carnibus und der ebenfalls bereits erwähnten Stelle bei Aristoteles ersichtlich ist78 , wurde Fäulnis oder Verrottung offenbar als eine Art Trocknungsprozeß aufgefaßt und somit auf das Element des Feuers zurückgeführt79, denn, so könnte man ergänzen, die Ursache der Trocknung ist die Wärme und als Ursprung der Wärme kann man das Feuer ansehen, weil es nicht kalt sein kann, die Wärme also zu seiner Natur gehört.80 Was aber ist die Ursache dafür, daß die Fäulnis als Trocknung aufgefaßt wurde? Hier bleiben uns nur Vermutungen, die wir allerdings nicht allzu weit treiben wollen, weil unser Thema einer Klärung dieser Frage, wie mir scheint, nicht unbedingt bedarf. Daß man die Zersetzungsprozesse bei organischen Substanzen mit dem Phänomen der Trocknung zusammenbrachte, mag etwas damit zu tun haben, daß auch solche Zersetzungsprozesse bevorzugt bei Wärme auftreten, weshalb wir ja auch heutzutage verderbliche Lebensmittel in den Kühlschrank stellen. Wärme liegt aber auch dem Leben zugrunde, denn Pflanzen wachsen nur, wenn es warm ist, außerdem sind lebende Tiere warm, tote Vgl. De carn. 3, 8.584–588 und Hist. an. V 31, 556b 24–28. Vgl. insbesondere Pseudo-Hippokrates, De carn. 3; hier wird das Feuer im übrigen auch als Gott angesehen, so daß das Hervorgehen der Menschen aus einem Feuerpartikel, das man dann wohl mit der Seele gleichsetzen muß, auch interessante theologische Implikationen hat. 80 Warum die Fäulnis als Trocknung angesehen wurde, müssen wir hier in diesem Zusammenhang nicht klären, was auch wohl kein ganz leichtes Unterfangen sein dürfte. So bleiben uns hier nur die Vermutungen, daß der Grund dafür in der Ähnlichkeit von Verbrennung und Verrottung zu suchen ist: beides sind schließlich Zersetzungsprozesse und beide haben mit Wärme zu tun. Denn damit etwas verrotten kann, muß es warm genug sein. 78
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dagegen kalt. Wenn wir zusätzlich noch bedenken, daß so gut wie alle Lebewesen regelmäßig Wasser benötigen, welches also offenbar ebenso regelmäßig den Körper verläßt, und kochendes Wasser mit der Zeit weniger wird, dann ist es vielleicht nur noch ein kleiner Schritt dahin, auch das Wachsen und Gedeihen mit einem Trocknungsprozeß in Verbindung zu bringen.81 Wenn man nun bei der Trocknung, die ja immer auch auf Feuchtigkeit angewiesen ist, den Aspekt der Wärme in den Vordergrund rückt, dann kann sie durchaus auch als Muster für alle anderen Umwandlungsprozesse angesehen werden, bei denen Wärme irgendeine Rolle spielt, also für fast alle Umwandlungsprozesse, die für den Menschen Bedeutung haben: so schmilzt z. B. Kupfer nicht nur unter Hitzeeinwirkung, sondern wird auch mittels des Feuers aus dem Erz gewonnen, das Essen wird über einer Flamme gekocht, die Keramik im Ofen gebrannt. Das Verfaulen und Verrotten ist also somit nur noch ein Spezialfall eines Umwandlungsprozesses im allgemeinen, so daß der Ausdruck σηπεδών hier also, gewissermaßen im Sinne eines pars pro toto, allgemein für alle Wandlungsprozesse stehen kann, in denen etwas nicht nur in seiner äußeren Form oder seinen äußeren Relationen, sondern hinsichtlich seiner selbst anders wird, wobei möglicherweise implizit unterstellt wird, daß bei solchen Wandlungsprozessen Wärme immer eine Rolle spielt. Letzteres ist aber sicherlich kein wesentlicher Bestandteil der Argumentation, da dies der von Aristoteles unterstellten allgemeinen Gültigkeit widersprechen würde, sondern höchstens der grundsätzlichen Überzeugung Antiphons geschuldet, daß sich dies so verhält. Der Ausdruck σηπεδών bezeichnet also eine bestimmte nicht-akzidentelle Veränderung, die paradigmatisch für nicht-akzidentelle Veränderung im allgemeinen steht. Wenden wir uns, nachdem wir also den Ausgangspunkt von Antiphons Argumentation zumindest ein wenig verständlicher machen konnten, wieder dem Gang seiner Argumentation selbst zu. Antiphon will ja beweisen, daß die Physis das ist, was in allem als erster Bestandteil enthalten ist. Es handelt sich dabei zum einen um eine Verallgemeinerung einer bestimmten Verwendungsweise des Ausdrucks Physis, nämlich als Bezeichnung des ersten Materials von Artefakten.82 Diese Verall81 Wie das neben Aristoteles und Pseudo-Hippokrates z. B. auch Theophrast tut, vgl. CP I 5.2. 82 Nur in diesem Sinne lassen sich auch hier die Beispiele deuten, die Aristoteles anführt, wobei diese Stelle hier im Vergleich zu der Stelle in der Metaphysik sogar
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gemeinerung wird, wie wir noch sehen werden, dadurch erreicht, daß diese speziellere Verwendungsweise zurückgeführt wird auf die grundlegendere Bedeutung von Physis als Ursprung der natürlichen Seienden (φύσει ὄντα), also auf Physis im Sinne eines Quellgrunds des Hervorwachsens. 83 Der Ursprung eines Seienden, also das, woher ein Seiendes sein Sein hat, kann aber auch andererseits als seine Seiendheit, also auf Griechisch seine οὐσία, verstanden werden, so wie auch ein Rot-Seiendes, z. B. ein Buch, sein Rot-Sein von der ihm zukommenden Rot-Seiendheit hat, nämlich der Röte des jeweiligen Seienden. Als Seiendheit nämlich bezeichnet Aristoteles im Anschluß an Platon das, worin das Sein eines Seienden gründet, also das, wodurch ein Seiendes überhaupt seiend ist.84 Nur vor dem Hintergrund einer Kombination dieser beiden Aspekte wird nun die weitere Argumentation Antiphons verständlich. Sehen wir uns diesen Zusammenhang näher an und beginnen dazu mit einer genaueren Betrachtung der bereits erwähnten Doppelwendung ἡ φύσις καὶ ἡ οὐσία τῶν φύσει ὄντων. Das καὶ ist hier offenbar explikativ zu verstehen; es soll also das, was mit dem Ausdruck φύσις an dieser Stelle gemeint ist, durch das ἡ οὐσία τῶν φύσει ὄντων genauer bestimmt werden. Diese Bestimmung weicht von der zuvor gegebenen85 deutlich ab, ohne daß die eine zur anderen in Beziehung gesetzt oder die neue Bestimmung irgendwie anders gerechtfertigt würde. Einige Zeilen weiter unten jedoch wird zudem innerhalb des Antiphon-Zitats auch die frühere Bestimmung indirekt wieder aufgegriffen. Das Holz des Bettes nämlich, das im Gedankenexperiment wieder auszutreiben beginnt, nachdem es vergraben wurde, ist offensichtlich etwas, das das Prinzip der Veränderung in sich selbst hat, denn aus dem Holz geht wiederum Holz hervor; die Art des hier auftretenden Werdens des Holzes, in diesem Fall des noch eindeutiger ist, weil die Physis hier mit der οὐσία τῶν φύσει ὄντων gleichgesetzt wird, es sich bei den Beispielen aber um die Physis von Artefakten handelt, und somit die Physis im zweiten Sinne nicht unmittelbar auf die Physis im ersten Sinne zurückgeführt werden kann. 83 Gemeint sind vor allem die zweite und dritte Bedeutung des Ausdrucks φύσις, wie sie in Met. Δ 4 erläutert werden; auf diese wurde auch bereits in Phys. B 1, 192b 20–23 explizit verwiesen, wobei hier die beiden Bedeutungen zu einer zusammengefaßt wurden: „… ὡς οὔσης τῆς φύσεως ἀρχῆς τινὸς καὶ αἰτίας τοῦ κινεῖσθαι καὶ ἠρεμεῖν ἐν ᾧ ὑπάρχει πρώτως καθ᾿ αὑτὸ καὶ μὴ κατὰ συμβεβηκός …“. 84 Diese allgemeinere Verwendungsweise des Ausdrucks οὐσία τῶν φύσει ὄντων muß von der spezielleren in Met. Δ 4, 1014b 36 unterschieden werden, auf die wir weiter unten als fünfte Bedeutung von φύσις noch genauer eingehen werden. 85 Vgl. nochmals Phys. B 1, 192b 20–23.
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Wachstums, wird somit durch das Holz selbst bestimmt. Die erste Bestimmung wird also nicht einfach fallen gelassen, sondern in noch zu untersuchender Weise mit der zweiten zusammengeführt. Die erste Bestimmung bezieht dabei den Ausdruck Physis auf das Werden, die zweite auf das Sein: Physis ist also hier zugleich Prinzip des Werdens wie auch des Seins. Als Prinzip des Seins heißt die Physis auch Seiendheit (οὐσία). Diese Doppelbedeutung von Physis finden wir jedoch, wenn wir genauer hinsehen, bereits in der ersten Bestimmung enthalten, da hier ausdrücklich vom Prinzip der Veränderung und des Bestands bzw. der Ruhe die Rede ist.86 Insofern nämlich etwas ist, verändert es sich nicht, sondern ruht, wenn es auch deshalb freilich noch lange nicht untätig zu sein braucht87 ; und insofern sich etwas verändert und damit gewissermaßen in Bewegung ist (κινεῖσθαι), ist es nicht im eigentlichen Sinne, sondern wird. In gewisser Hinsicht ist freilich gleichwohl auch das, was in Bewegung ist, denn nichts von dem, was schlechthin nicht ist, kann sich ja verändern. Wenn wir also sagen, daß es in Bewegung ist, dann hat das seinen guten Grund, weil es nämlich zwar ist, jedoch nicht in der Hinsicht, in der es sich verändert, denn das ergäbe ja einen Widerspruch: wer z. B. erst klug wird, kann nicht schon klug sein. Das Denken des Werdens selbst erfordert also eine Ergänzung durch das Sein, und somit auch das Prinzip des Werdens eine Ergänzung durch ein Prinzip des Seins, eine Seiendheit. Doch kehren wir zurück zum Gedankenexperiment Antiphons. Hier ergibt sich nämlich nun eine Schwierigkeit daraus, daß Holz offensichtlich nur etwas ist, was ein solches Prinzip des Werdens hat, nicht dieses Prinzip selbst, denn Prinzipien sind ja hinsichtlich ihrer selbst nicht dem Werden unterworfen, wie es das Holz zu sein scheint. Antiphons Perspektive ist hier jedoch zunächst eine ganz andere. Er betrachtet nicht das Holz, sondern das Bett als Subjekt der Veränderung. Das Bett wird eingegraben und beginnt sich im Zuge der eintretenden Fäulnis zu verändern. Die hier eintretende Veränderung des Bettes bedeutet seine Zerstörung; die Zerstörung ist jedoch zugleich auch ein Werden, nämlich von Holz. Die Ursache dafür, daß aus dem Bett nicht wieder ein Bett hervorgeht, sondern Holz, ist das Material des Bettes: weil das Bett aus Vgl. Phys. B 1, 192b 14: „ἀρχὴν … κινήσεως καὶ στάσεως“ und 192b 21f: „ἀρχῆς τινὸς καὶ αἰτίας τοῦ κινεῖσθαι καὶ ἠρεμεῖν“. 87 Als Beispiel für eine in sich ruhende Tätigkeit kann das Sehen dienen: insofern wir sehen, haben wir auch immer schon gesehen, d. h. das Sehen ist in seinem Vollzug schon vollendet da; vgl. Met. Θ 6, 1048b 18–34; Θ 8, 1050a 30 – 1050b 3. 86
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Holz ist, deshalb wird aus dem Bett im Zuge des Zersetzungsprozesses nicht wieder ein Bett, sondern Holz. Denn, so führt Antiphon laut Aristoteles aus, die Form eines Bettes ist etwas, was dem Holz von außen aufgezwungen wurde, sie gehört dem Bereich der menschlichen Vereinbarungen und Festsetzungen an, der von den Denkern des fünften Jahrhunderts v. Ch. νόμος genannt wurde, und ist daher immer auf etwas anderes angewiesen, an dessen Sein es nur gewissermaßen partizipiert, denn eine cratio ex nihilo ist zumindest dem Menschen – nach antikem Verständnis aber auch grundsätzlich – unmöglich. Der Grund des Seins des Bettes oder, was wie gesagt gleichbedeutend ist, dessen Seiendheit ist also nicht das Bett selbst, sondern etwas anderes, nämlich das, was im Werden und Vergehen des Bettes unverändert erhalten bleibt und dem das Bett-Sein nur äußerlich und gleichsam aufgezwungen ist. Dieses Andere ist das Holz. Das Holz ist also in dieser Hinsicht das Prinzip des Seins und somit die Seiendheit des Bettes, denn es begründet das, was im Veränderungsprozeß Bestand hat. Es hat aber nicht nur einfach Bestand, sondern ist selbst der Grund einer Verwirklichung, die im Gegensatz zu dem Werden eines Bettes nicht dem Bereich der menschlichen Macht angehört, sondern dem Bereich der ursprünglichen Freiheit des Aus-sichselbst-Hervorwachsens, also der φύσις. Das Werden des Holzes ist ein Sichtbar-Werden einer ursprünglichen in der Physis selbst liegenden Kraft, die wiederum mit der Physis in der zweiten und dritten Bedeutung identisch ist. Eine solche Differenzierung unterbleibt hier jedoch, weil die Kraftäußerung und der verborgene Grund der Kraftäußerung als identisch mit dem als Physis bezeichneten Seienden aufgefaßt werden: aus Holz wird Holz aufgrund seines Holz-Seins, wobei das Werden selbst gerade auch der Vollzug des Holz-Seins ist. Sein wird also hier nicht als ein bloßes Vorhandensein aufgefaßt, sondern als ein aus sich selbst entspringender und in sich selbst zurückkehrender Prozeß, in dem das Seiende selbst restlos aufgeht. Oder anders ausgedrückt: Sein wird aufgefaßt als Selbstvollzug des Seienden. Dies aber hat sich gerade auch als das Seinsverständnis des Aristoteles erwiesen.88 Damit löst sich also das Rätsel um den Ursprung des Aristotelischen Seinsverständnisses.89 Allerdings wollte er freilich nicht einfach nur die Philosophie der vorsokratischen Naturphilosophen wiederherstellen; seine Absicht dürfte es
Siehe Abschnitt 2. Siehe S. 102.
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aber sehr wohl gewesen sein, die relative Wahrheit des vorsokratischen Denkens zu bewahren. Der Gedankengang der Antiphonischen Argumentation scheint also ungefähr der folgende zu sein: These: Die Physis im Sinne der Seiendheit des von Natur (Physis) Seienden ist das erste Material eines jeden Seienden, welches selbst das im eigentlichen Sinne Seiende ist; diese Bedeutung von Physis entspricht damit der Weise, wie auch bei den Artefakten von Physis die Rede ist. Daran schließt sich die Begründung an: 1. Begründungsschritt: Bei den Artefakten wird das Physis genannt, was in allem Werden und Vergehen als Ausgangs- und Zielpunkt des Prozesses erhalten bleibt. Denn aus Holz entsteht ein Bett und aus einem Bett kann bei günstigen Bedingungen wieder Holz entstehen, niemals jedoch ein Bett. Diese Identität von Ausgangs- und Zielpunkt macht die Physishaftigkeit des Holzes aus.90 Zudem bleibt das Holz auch im Bett erhalten, so daß eine durchgehende Kontinuität besteht, die, auch wenn sich das Werden und Vergehen beliebig oft in derselben Weise wiederholt, nicht unterbrochen wird.91 Das Bett ist demgegenüber nur etwas Ephemeres, das kein wahrhaftes, in sich selbst gegründetes Sein hat, und zwar deshalb, weil es sein Sein dem Menschen und damit etwas ihm Äußerlichem verdankt; es ist also auch kein wahrhaft Seiendes, denn wahrhaft seiend ist nur das, was hinsichtlich seiner selbst weder entstehen noch vergehen kann. 2. Begründungsschritt: Das gleiche Verhältnis wie zwischen Artefakt und Material findet sich aber auch wiederum zwischen ebendiesen Materialien und einem Anderen, das den Materialien und allem Seienden überhaupt so zugrunde liegt, wie die Materialien den Artefakten. Die wahre Physis und das wahrhaft Seiende überhaupt ist daher also das, was diesem ebenso wie allem anderen zugrunde liegt. Die Identität von Ausgangs- und Zielpunkt der Veränderung, auf die Antiphon hier hinaus will, ist offenbar auch der Grund dafür, warum er nicht zwischen totem und lebendigem Holz unterscheidet, wie man es erwarten würde. Wesentlich ist hier allein, daß Holz zu einer solchen Kontinuität fähig ist, ein Bett dagegen nicht. 91 Vgl. Phys. B 1, 193a 16f: „… ἣ καὶ διαμένει ταῦτα πάσχουσα συνεχῶς.“ 90
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Setzt man dies voraus, so läßt sich auch die Perfektform πέπονθεν in 193a 18 erklären: Da Ausganspunkt und Zielpunkt des Werdens- und Vergehensprozesses identisch sind und jeder Zielpunkt zugleich Ausgangspunkt eines neuen Kreislaufs von Werden und Vergehen ist, denn gerade das macht ja die Kontinuität der Physis als Seiendheit aus, muß dieser Prozeß als immer wieder von neuem ablaufend vorgestellt werden; er ist also auch schon immer abgelaufen und wiederholt sich nur immer wieder. Die Physis ist daher auch ewig und kann niemals von sich selbst abgebracht werden, weil die ursprüngliche Kraft, deren Äußerung die Physis ist, mit der Physis selbst identisch ist. Alles andere dagegen wird und vergeht wieder und wieder ohne Ende.92 Deutlicher wird das Gemeinte, wenn man auch die Beispiele in 193a 18–20 vor diesem Hintergrund interpretiert. Erwähnt werden Bronze, Gold, Knochen und Holz, bei denen es sich um potentielle Materialien von Artefakten handelt. Bronze und Gold zum einen werden im Prozeß ihrer Verarbeitung geschmolzen, d. h. sie werden flüssig, wozu im übrigen ebenso wie bei der Fäulnis Wärme nötig ist. Als Ursache des Flüssigseins wurde das Wasser angesehen, und zwar wohl deshalb, weil dieses nicht nur vorübergehend flüssig ist, wie z. B. eben Bronze oder Gold, sondern das Flüssigsein den normalen, natürlichen Zustand des Wassers darstellt, ähnlich wie der natürliche „Zustand“ des Holzes das Wachstum ist. Im geschmolzenen Metall also zeigt sich die Kraft des Wasser, so wie sich im austreibenden Bett die Kraft des Holzes zeigt. Das aber, worin sich diese Kraft zeigt, ist seinem Wesen nach nichts anderes als das, in dessen Sein sich die Kraft ursprünglich verwirklicht, so daß daher alles Schmelzbare z. B. als Wasser bezeichnet werden konnte93 , weil alles Geschmolzene flüssig ist und das Flüssigsein mit dem Wassersein identifiziert wurde. Aber auch das Holz selbst ist entstanden, denn nicht jedes Gehölz wächst aus einem vergrabenen Stück Holz. Dies kommt im zweiten Beispielpaar zum Ausdruck. Holz und Knochen entstehen nämlich aus Erde94 und vergehen auch wieder zu Erde, außerdem dürfte wohl ihre Festigkeit auf die Erde als deren Ursache zurückgeführt worden
Vgl. Phys. B 1, 193a, 23–28. Vgl. Met. Δ 4, 1015a 10: „… εἰ πάντα τὰ τηκτὰ ὕδωρ …“. 94 Dies war wohl zur Zeit des Aristoteles die vorherrschende Meinung; vgl. insbesondere zur Entstehung der Knochen aus Erde nochmals Pseudo-Hippokrates, De carn. 3; übrigens wird auch in diesem Zusammenhang wieder die Wärme bzw. das Feuer erwähnt. Die Entstehung des Holzes stellte man sich wohl ähnlich vor. 92 93
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sein, nach derselben Denkweise, nach der das Flüssigsein auf das Wasser und die Wärme auf das Feuer als Ursache zurückführt wurde. Dieser Gedankengang, so fügt nun Aristoteles in 193a 20–23 hinzu, sei der Grund dafür, warum eines oder mehrere oder alle der vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft von den vorsokratischen Naturphilosophen als Physis und Seiendheit alles Seienden aufgefaßt wurden. Aristoteles zitiert die Argumentation Antiphons also offenbar deshalb, weil er diese für einen besonders deutlichen Ausdruck der grundsätzlichen Denkweise aller dieser Naturphilosophen hält. Das bedeutet jedoch weder, daß Aristoteles dieser Position vorbehaltlos zugestimmt, noch, daß er sie vollkommen abgelehnt hätte. Er greift vielmehr die Bestimmung der Physis auf als das, woraus ein Seiendes ist oder wird, und das im Verlauf des Werdens nicht von seinem eigenen Vermögen abgebracht wurde. In einem Punkt mußte er jedoch viel deutlicher als die Vorsokratiker zwischen zwei Aspekten dieser Materialien differenzieren, wenn man unterstellt, daß sein Denken einigermaßen konsistent ist. Er mußte nämlich der Gleichsetzung der Physis mit einem einzelnen natürlichen Seienden (φύσει ὄν) entgegentreten, denn zum einen ist dieses, wie bereits erwähnt wurde, nur dadurch ein φύσει ὄν, daß es eine φύσις hat, zum anderen liegt jedem φύσει ὄν immer ein Material (ὕλη) und damit eine φύσις in der hier behandelten Bedeutung zugrunde, aus dem es ist: φύσει μὲν οὖν τὸ ἐξ ἁμφοτέρων τούτων ἐστίν, οἷον τὰ ζῷα καὶ τὰ μόρια αὐτῶν·95 Von Natur (Physis) nun zum einen ist das aus diesen beiden Bestehende, wie die Lebewesen und deren Teile.
Mit „diesen beiden“ können hier nämlich nur die ὕλη und das im Anschluß noch zu besprechende εἶδος gemeint sein. Wenn man also die Physis unter die natürlichen Seienden zählte, so müßte für Aristoteles jede Physis wiederum eine Physis haben, und zwar ad infinitum! Damit wäre aber die Physis keinesfalls ein Prinzip, eine ἀρχή. Gerade das aber soll die Physis nach Aristoteles sein.96 Die vorsokratischen Naturphilosophen unterschieden dagegen offenbar nicht zwischen Physis und Seiendem, denn sie verstanden die Frage nach der Physis als Frage nach einem bestimmten Seienden, das allem Werden und Vergehen gerade dadurch enthoben ist, daß es ihm zugrunde liegt. Aristoteles erkannte also das Physis-Verständnis der Vorsokra Met. Δ 4, 1015a 6 f. Vgl. Phys. B 1, 192b 21–23.
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tiker bis zu einem gewissen Grade an, nämlich bis zur Einsicht in die Notwendigkeit, daß es etwas geben muß, was sich im Werden und Vergehen als Identisches durchhält. Dementsprechend verstand Aristoteles auch die Hyle, also das Material des jeweils Seienden, als Physis, und zwar u.a. gerade auch die Hyle in Form der vier Elemente97, worin man die Übernahme eines zentralen Aspekts der Lehre des Empedokles erblicken kann. Die vier Elemente wiederum zählte er sogar, um die Verwirrung perfekt zu machen, zu Beginn des zweiten Buchs der Physik ausdrücklich zu den φύσει ὄντα! 98 Vor dem Hintergrund seiner Prinzipientheorie ist es jedoch, wie gezeigt wurde, undenkbar, daß er den vorsokratischen Naturphilosophen tatsächlich auch bei der Identifizierung der so verstandenen Physis mit irgendwelchen φύσει ὄντα folgte. Hier besteht also noch ein Problem, das seiner Aufklärung harrt. Dennoch wird dies alles von Aristoteles an den soeben untersuchten Stellen nicht ausdrücklich thematisiert. Über den Grund dafür können wir nur spekulieren. Vielleicht wollte er darauf nicht eingehen, weil dies sehr schwierige und verwickelte Fragen nach sich gezogen hätte, die an den betreffenden Stellen gleichsam im Vorbeigehen zu erörtern, er für unpassend erachtete. Vielleicht hielt er seine Ausführungen aber auch einfach für hinreichend klar, weil er das Problem der Materie bereits ausführlich bedacht und mit Freunden diskutiert hatte und diesen Diskussionsstand nun implizit voraussetzte. Eine andere Möglichkeit wollen wir freilich auch nicht ausschließen, vielleicht ist sie sogar die wahrscheinlichste: es könnte nämlich auch sein, daß sich Aristoteles selbst über die Schwierigkeiten, die mit dem Begriff der Materie verbunden sind, erst allmählich klar wurde, wodurch sich sicherlich manche Lücke und vielleicht auch die eine oder andere Inkonsistenz ergeben haben könnte. Wie dem aber auch sei, so bleibt doch das Problem, ob und wie diese verschiedenen und scheinbar widersprüchlichen Aussagen in eine konsistente Deutung zu integrieren sind. Obwohl nun das Materieproblem hier noch nicht wirklich gelöst werden kann, sei im folgenden nun dennoch zumindest der Versuch gewagt, bereits die Richtung anzudeuten, in der eine Lösung m.E. zu suchen ist. Dazu wollen wir uns zuerst einmal die Frage stellen, was denn übrig bliebe, wenn man das Seiende von dem Physis-Verständnis der Vorsokratiker abzöge. Das Holz hatte, wie wir sahen, als Physis aufgefaßt drei Aspekte: Vgl. z. B. Met. Δ 4, 1015a 9 f. Vgl. Phys. B 1, 192b 8–11.
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1. das spezifische Vermögen oder die spezifische Kraft, 2. das Seiende selbst und 3. dessen Sein. Hierbei war nun aber das Sein die Äußerung der im Seienden verborgenen Kraft, während das Seiende hinsichtlich seiner selbst restlos in seinem Sein aufging. Zieht man also das Seiende ab, so muß man auch dessen Sein abziehen. Es bleibt dann einzig das Vermögen oder die Kraft und damit die Physis im Sinne von Bedeutung zwei und drei übrig; diese ist aber wiederum gerade das Seiende und das ihm wesentlich zukommende Sein, allerdings nun freilich gleichsam im Modus der Einfaltung und Verborgenheit. Man darf sich hier jedoch noch nicht am Ziel wähnen, in der Meinung den Aristotelischen Materiebegriff damit vollkommen erklärt zu haben, denn ein Vermögen gibt es ja niemals rein für sich selbst, gleichsam freischwebend; es bedarf immer eines Seienden, das dieses Vermögen, diese Kraft hat. Nun darf das Seiende jedoch nicht alleine aus dem Vermögen als der Quelle seines Seins entspringen, denn das Vermögen wäre ansonsten identisch mit dem Seienden, und zwar deshalb, weil das Vermögen als bloßes Vermögen, wie gesagt, nur das Seiende im Modus der Einfaltung ist, das Seiende sich aber immer schon entfaltet hätte. Das Vermögen behielte also keine Möglichkeit zurück und wäre damit auch kein Vermögen im eigentlichen Sinne mehr, sondern könnte unter dem Titel eines unbegrenzten Vermögens nur noch als Moment der prinzipiellen Unzerstörbarkeit und Ewigkeit des Seienden aufgefaßt werden, da es unmittelbar im Vollzug des Seienden selbst, also in dessen wesentlichem Sein, aufginge. Die drei Momente können bei einem so gearteten Seienden damit nur gleichsam im Rückblick unterschieden werden, und zwar im Rückblick von einem Seienden aus, bei dem diese Momente wirklich verschieden sind. Damit nun demnach Vermögen, Sein und Seiendes, wie gefordert, nicht vollkommen identisch sind, müßte folglich zwischen dem Vermögen und dessen Realisierung eine Lücke bestehen, so daß zur Konstituierung eines Seienden neben dem Vermögen immer noch eine weitere Bestimmung hinzukommen muß, die nicht aus dem Vermögen, also der Physis im hier relevanten Sinne, entspringt. Und dies ist auch tatsächlich bei den Materialien und den Elementen der Fall, wenn man das aristotelische Verständnis des Seienden, wie es bereits in der Kategorienschrift zum Ausdruck kommt, heranzieht. Denn das Seiende im eigentlichsten Sinne ist für Aristoteles das je Einzelne, weshalb es in der Kategorien-
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schrift auch als erste Seiendheit bezeichnet wird. Alles andere Seiende bezieht sich notwendig auf ein je Einzelnes, und zwar entweder so, daß es als Allgemeines von einem je Einzelnen abstrahiert ist, oder in der Weise, daß das je Einzelne als unbestimmte Seinsgrundlage immer implizit in dem Seienden mitgedacht ist; z. B. ist ein Rotes oder Rot-Seiendes immer auch irgendetwas Einzelnes und dasselbe gilt auch für ein So-und-so-Großes, wobei allerdings jeweils offen bleibt, um welches Einzelne genau es sich dabei handelt. Wegen dieser „Leerstelle“ sind auch die Röte und die bestimmte Größe hinsichtlich ihres Seins immer abhängig von dem je Einzelnen, ohne deshalb etwas Allgemeines zu sein; denn wenn man z. B. das Sein der Röte explizieren und d. h. die Röte definieren will, muß man immer auf eine Fläche und damit auch auf einen Körper rekurrieren, und zwar deshalb, weil Röte eben eine auf eine gewisse Weise bestimmte Fläche ist, und eine Fläche, insofern sie wirklich und nicht nur mathematisch-abstrakt ist, immer die Oberfläche eines Körpers darstellt.99 Die ersten Materialien und Elemente sind nun jedoch kein solches je Einzelnes, da sie nämlich in mit sich selbst Gleiches teilbar sind; ein je Einzelnes kann aber nicht zugleich an zwei Orten sein. Holz z. B. ist sowohl dieses Stück Holz hier wie jenes Stück Holz dort. Ein Seiendes im Sinne der ersten Seiendheit sind daher höchstens die Holzstücke, nicht das Holz selbst. Ebenso sind Wasser, Erde, Feuer und Luft nichts in Wirklichkeit Seiendes, sondern nur Seiendes der Möglichkeit nach, d. h. Physis im Sinne von Kraft oder Vermögen. Erst der Wassertropfen, der Erdklumpen, die Flamme oder dieser konkrete Windhauch sind wirkliches Seiendes. Die Quelle ihres je spezifischen Seins ist die Physis, die jedoch nicht mit dem Seienden selbst identisch ist, weil dieses erst durch etwas anderes, nämlich eine zwar zufällige und äußerliche, aber nichtsdestoweniger je bestimmte Form, zu etwas je Einzelnem wird. Obwohl nun aber das erste Material bzw. die Materie kein je Einzelnes ist, läßt sie sich auch nicht einer der aus der Kategorienschrift bekannten anderen Klassen des Seienden zuweisen, weder nämlich gehört es zu dem, was in einem anderen ist, noch zu dem, was von einem anderen ausgesagt wird. Ja, es gehört vielmehr trotz alledem zu der Klasse dessen, was nicht in einem anderen ist und auch nicht von einem anderen ausge99 Auch die Existenz von farbigen Lichtkegeln ist im übrigen kein Einwand dagegen, daß Farbe immer ein Oberflächenphänomen ist, weil das farbige Licht ja nur dort erscheinen kann, wo eine Oberfläche, und sei sie auch nur sehr klein, das Licht reflektiert, z. B. die Oberflächen von Staub- oder Nebelpartikeln.
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sagt wird, also zu der Klasse, die Aristoteles mit dem je Einzelnen gleichgesetzt hatte, ohne freilich ein je Einzelnes zu sein. Aristoteles hatte also in der Kategorienschrift die vierte Klasse des Seienden vorschnell auf das je Einzelne, also auf die einzelne Seiendheit eingeengt. Dies möge vorerst genügen, auch wenn freilich damit die Schwierigkeiten des Materie-Begriffs noch bei weitem nicht gelöst sind. Wir werden darauf aber bei der genaueren Lektüre des ersten Buchs der Physik zurückkommen, in der Hoffnung in diesem Zusammenhang weiteres Licht in das Rätsel der Materie bringen zu können. Zuvor müssen wir jedoch noch auf die fünfte und letzte in Met. Δ 4 aufgeführte Bedeutung von Physis eingehen, die freilich für Aristoteles auch die wichtigste ist.
4.1.5 Physis als Seiendheit Wir kommen also zur fünften Bedeutung von Physis. Diese wird folgendermaßen bestimmt: ἔτι δ᾿ ἄλλον τρόπον λέγεται ἡ φύσις ἡ τῶν φύσει ὄντων οὐσία, οἷον οἱ λέγοντες τὴν φύσιν εἶναι τὴν πρώτην σύνθεσιν, ἢ ὥσπερ Ἐμπεδοκλῆς λέγει ὅτι “φύσις οὐδενὸς ἔστιν ἐόντων, ἀλλὰ μόνον μῖξίς τε διάλλαξίς τε μιγέντων ἔστι, φύσις δ᾿ ἐπὶ τοῖς ὀνομάζεται ἀνθρώποισιν”. διὸ καὶ ὅσα φύσει ἔστιν ἢ γίγνεται, ἤδη ὑπάρχοντος ἐξ οὗ πέφυκε γίγνεσθαι ἢ εἶναι, οὔπω φαμὲν τὴν φύσιν ἔχειν ἐὰν μὴ ἔχῃ τὸ εἶδος καὶ τὴν μορφήν.100 Zudem wird auf eine weitere Weise die Seiendheit des von Natur (Physis) Seienden Physis genannt, wie die, die sagen, daß die Physis die erste Zusammensetzung sei, oder wie es Empedokles sagt: „eine Physis gibt es von nichts unter dem Seienden, sondern nur Mischung und Trennung101 des Gemischten gibt es, Physis aber wird es bei den Menschen genannt“. Deshalb sagen wir auch, daß all das, was von Natur (Physis) her ist oder wird, wiewohl bereits vorhanden ist, woraus es naturgemäß wird oder ist, noch nicht die Physis hat, solange es nicht die Form und die Gestalt hat.
Zunächst fallen hier zwei Punkte auf. Zum einen die in grammatikalischer Hinsicht doch recht seltsame Weise, wie hier die Beispiele an die Bestimmung der fünften Bedeutung angefügt werden, zum andern die Verwendung des Ausdrucks οὐσία, der uns zwar schon im Zusammenhang der vierten Bedeutung begegnete (wenn auch nicht unmittelbar im Text von Met. Δ 4, sondern im sich teilweise mit der gleichen Thematik Met. Δ 4, 1014b 35 – 1015a 5. Vgl. zur Übersetzung von διάλλαξις Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. 298.
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befassenden zweiten Buch der Physik), dort jedoch offenbar eine andere Bedeutung hatte, insofern er gerade die Materie charakterisierte. Der erste Punkt läßt sich m.E. relativ leicht klären, wenn man annimmt, daß sich das λέγει nach Ἐμπεδοκλῆς auch auf die λέγοντες bezieht, obwohl es sich im Numerus aufgrund der Nähe ausschließlich nach Ἐμπεδοκλῆς richtet. In meine Übersetzung ist diese Überlegung eingegangen. Die zweite Schwierigkeit ist nicht so leicht aus der Welt zu schaffen, auch wenn freilich klar ist: wenn hier ebenso wie in der weiter oben untersuchten Physikstelle von der Seiendheit die Rede ist, dann bedeutet das nicht, daß beide Male auch das gleiche damit gemeint sein muß. Damit ist nämlich das Problem nicht gelöst, sondern nur genauer gefaßt; denn es bleibt ja zum einen noch ganz offen, was es nun mit der hier einschlägigen Bedeutungen von Seiendheit auf sich hat, und zum anderen steht auch noch eine Klärung der Frage aus, ob diese beiden Ousia-Begriffe nun etwas miteinander zu tun haben, und wenn das der Fall sein sollte, wie genau sie mit einander verbunden sind, oder ob sie etwa, was zugegebenermaßen bereits prima facie recht unwahrscheinlich ist, gar nichts miteinander zu tun haben und schlicht homonym sind. Kommen wir zunächst zur Frage nach der Bedeutung von Seiendheit an der oben zitierten Stelle. Unter Seiendheit wird dort, wie wir aus 1015a 5 ersehen können, „Form und Gestalt“ (εἶδος καὶ μορφή) verstanden. Damit dürfte wohl, wie bereits in der Kategorienschrift mit dem alleinstehenden Ausdruck Form (εἶδος), in etwa das gemeint sein, was den Dingen hinsichtlich ihrer selbst zukommt. Warum Aristoteles aber an dieser Stelle diese auch ansonsten des öfteren gebrauchte Doppelformel verwendet, ist damit noch nicht ohne weiteres klar, weshalb auch das damit gemeinte nicht als endgültig geklärt angesehen werden kann. Zunächst scheint es sich zwar einfach um eine Doppelung synonymer Ausdrücke zu handeln, eine solche rein rhetorische Doppelung von Synonymen wäre allerdings zum einen für Aristoteles vollkommen ungewöhnlich, und zum anderen würde auch ihre Wiederholung an anderen Stellen des Corpus Aristotelicum nicht verständlich.102 Nun schlägt Martin Heidegger zwar im Rahmen seiner Interpretation des Physis-Begriffs auch eine Deutung dieser Doppelformel vor, die ihr durchaus einen Sinn abringt, nämlich den, daß sie die Bedeutung von μορφή als „Gestellung in das Aussehen“103 expliziere; allerdings scheint mir diese Deu Vgl. z. B. Met. B 4, 999b 16; Δ 8, 1017b 25f; Ι 1, 1052a 22. Vgl. Martin Heidegger: „Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1“, a.a.O., S. 276. 102 103
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tung doch etwas zu gewaltsam zu sein, auch wenn m.E., d. h. soweit ich das beurteilen kann, die Interpretation der Physis insgesamt in die richtige Richtung geht. Eine etwas schlichtere Deutung ist nun aber, wie mir scheint, durchaus möglich, wenn man auch die geistesgeschichtliche Situation mitbedenkt, in der Aristoteles dachte und schrieb: die Platonische Akademie, deren Mitglied Aristoteles zudem lange war, beeinflußte massiv den philosophischen Diskurs der Zeit. Vor allem das Denken Platons selbst war sicherlich von kaum zu unterschätzendem Einfluß, und zwar vor allem auch auf die Prägung und Durchsetzung bestimmter philosophischer Begriffe. Zu diesen Begriffsprägungen gehörte nun aber bekanntlich auch der Begriff des εἶδος, bei dem es sich immerhin um einen der zentralen Kondensationspunkte des Platonischen Denkens handelte. Aristoteles mußte also befürchten, daß er mißverstanden wird, wenn er gerade diesen Ausdruck in einer signifikant anderen Bedeutung als Platon gebraucht. Daraus ergibt sich natürlicherweise das Bedürfnis, beide Begriffe von einander abzugrenzen. Es ist daher m.E. nicht unwahrscheinlich, daß die Doppelformel genau aus diesem Bedürfnis heraus gebildet wurde, Aristoteles also durch sie seinen eigenen von dem platonischen Begriff des εἶδος abgrenzen wollte. Denn während der Ausdruck εἶδος zur Zeit des Aristoteles bereits ein philosophischer und zudem durch Platon eindeutig festgelegter Fachterminus war, mit dem die von den Einzeldingen unterschiedenen Ideen bezeichnet wurden, hatte wohl der Ausdruck μορφή immer noch die ursprüngliche alltagssprachliche Bedeutung; er bezeichnete also einfach die äußere Gestalt eines Dinges. Durch diese Doppelformel konnte Aristoteles somit das von ihm Gemeinte zum einen an die platonischen Ideen anschließen und zugleich von ihnen abgrenzen; beides scheint Aristoteles wichtig gewesen zu sein. Es dürfte sich also um eine Art extrem kurz gefaßter Revision der Platonischen Ideenlehre handeln. Die dahinterstehende Aussage könnte daher in etwa die folgende sein: Das mit dieser Doppelwendung Gemeinte ersetzt zum einen die platonischen Ideen und bezeichnet wie diese das Wesentliche der Dinge, es ist aber im Gegensatz zu den Ideen nicht von den Dingen abtrennbar, sondern gehört zu ihnen wie ihre äußere Gestalt. Die Doppelformel bezweckt also eine Präzisierung des Aristotelischen Formbegriffes durch die Abwehr eines platonischen Mißverständnisses. Wir können also als Ergebnis dieser Überlegungen festhalten: Als Seiendheit wird hier die von den Dingen nicht real abtrennbare Wesensform bezeichnet.
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Dieses Verständnis von Seiendheit tritt jedoch nun auf spannungsvolle Weise neben den weiter oben thematisierten Begriff der Seiendheit. Im Zusammenhang mit der vierten Bedeutung von Physis wurde Seiendheit nämlich als erstes Material (πρώτη ὕλη) verstanden. Diese anscheinend verschiedenen Begriffe von Seiendheit werden aber in Met. Z auch durchaus zusammen aufgegriffen, wobei hier zusätzlich, wie bereits in der Kategorienschrift, das einzelne Seiende als weitere Bedeutung des Ausdrucks Seiendheit gekennzeichnet wird.104 Bereits weiter oben stellten wir ja zudem fest, daß auch auf das erste Material bzw. die Materie genau die Bestimmungen passen, die nach dem Aristoteles der Kategorienschrift allein auf das je Einzelne zutreffen sollten: beides ist weder in einem anderen noch wird es von einem anderen ausgesagt. Da aber alles, was nicht in einem anderen ist, zur Kategorie der Seiendheit gehört, war offensichtlich die Zweiteilung der Kategorienschrift in allgemeine und einzelne Seiendheit, d. h. in die Form und das Unteilbare und numerisch Eine, unzureichend. Diese drei Bedeutungen stehen nun jedoch, wenn man genauer hinsieht, nicht einfach nur nebeneinander, sondern beschreiben eine dreifache Struktur der einen Seiendheit. Sie entsprechen nämlich offenbar den weiter oben herausgearbeiteten drei Strukturaspekten des vorsokratischen Verständnisses von Seiendheit als Element alles Seienden: das erste Material bzw. die Materie entspricht der Kraft oder dem Vermögen, die Form dem Sein und das je bestimmte Einzelne dem Seienden selbst. Die Vorsokratiker faßten dabei jedoch – wohl unreflektiert, wenn auch nicht ohne Grund, – alle drei Strukturaspekte als bloße Momente eines einheitlichen energetisch-dynamischen Phänomens auf, das ihnen als Seiendheit und damit als Seiendes im eigentlichsten Sinne galt. Der Grund dafür scheint mir in folgendem zu liegen: Da die Elemente der Vorsokratiker das einzige wahrhaft Seiende sein sollten, durfte der Übergang von Seinsvermögen zu Seinsverwirklichung nicht durch etwas Anderes vermittelt sein, was nur gewährleistet war, wenn das Sein dem Vermögen nach und das Sein der Verwirklichung nach zum einen untereinander und zum anderen auch jeweils mit dem, was da einmal dem Vermögen nach und einmal der Verwirklichung nach ist, vollkommen in eins fällt. Wenn also z. B. das Feuer als letztes, irreduzibles Element betrachtet wurde, so wurde es nicht aufgefaßt als ein Vermögen, sich auf eine bestimmte Art zu äußern, z. B. zu brennen, das einem ein Vgl. Met. Z 3, 1029a 1–7.
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zelnen Seienden, z. B. dieser bestimmten Flamme, zukommt und dieses wesentlich konstituiert; denn dann könnte es sich ja auch evtl. gar nicht äußern, wäre somit vergänglich und bedürfte einer weiteren Ursache seines Seins, die nicht schon im Vermögen enthalten wäre. Auch die Annahme weiterer Elemente ändert daran nichts, denn ein bloßes Vermögen kann niemals Ursache einer konkreten Verwirklichung sein, und zwar deshalb, weil jedes Vermögen nur insofern ein Vermögen ist, insofern es auch ein Vermögen zum Gegenteil darstellt.105 Aus diesem Grund wurde das „Vermögen“ selbst als etwas aufgefaßt, das sich immer schon verwirklicht hat und nie aufhört sich zu verwirklichen, und das auch keiner weiteren Ursache bedarf, weil es als wirkliches Seiendes selbst Ursache seines Seins ist. Vermögen und Verwirklichung fallen also in einem einheitlichen energetisch-dynamischen Phänomen zusammen und der im eigentlichen Sinne dynamische Aspekt wird auf bloße äußerliche und akzidentelle Modifikationen reduziert. Dieses Vorgehen der vorsokratischen Naturphilosophen geht notwendigerweise mit einer radikalen Abwertung aller nicht-elementaren Erscheinungen in der Welt einher. Die Elemente sind nicht nur das einzige Unvergängliche, sondern das einzige im eigentlichen Sinne Seiende überhaupt, wie man es auch in der von Aristoteles zitierten Empedokles-Passage ausgedrückt findet.106 Alles Nicht-Elementare ist letztlich, insofern es als eigenständiges Seiendes erscheint, eine bloße Illusion oder eine Art von illusionärem Oberflächenphänomen. Dies ist notwendig, weil es ansonsten einer weiteren und somit nicht-elementaren Ursache bedürfte, die das von den Elementen dann unterschiedene Sein des vergänglichen Seienden begründete. Da die Ursache des Seins eines Seienden dessen Seiendheit genannt wird, könnten somit die Elemente nicht, wie vorausgesetzt, die einzige Seiendheit sein.107 Betrachten wir in diesem Zusammenhang nun die im obigen Zitat genannten Beispiele für das, was Aristoteles unter dem Ausdruck Seiend105 Das Vermögen, auf eine bestimmte Art geformt zu sein, muß auch ein Vermögen sein, auf eine andere Art geformt zu sein, das Vermögen, überhaupt zu sein, auch das Vermögen überhaupt nicht zu sein. Andernfalls würde der Ausdruck Vermögen jede Bedeutung verlieren. 106 Vgl. Met. Δ 4, 1014b 35 – 1015a 5; siehe auch weiter oben. 107 Hier liegt, wie mir scheint, die Vermutung nahe, daß diese Konsequenz gerade das Motiv dieser ganzen Denkrichtung ist, denn zusammen mit dem Vergänglichen wird auch der Tod als Illusion erwiesen. Die implizite Absicht dieses Denkens bestand also womöglich darin, die Angst vor dem Tod durch den Nachweis zu überwinden, daß es so etwas wie den Tod eigentlich gar nicht gibt.
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heit hier verstanden wissen will.108 Die entscheidenden Begriffe, nämlich εἶδος und μορφή, hält Aristoteles ja, wie gesagt, zunächst noch zurück, erst ganz am Ende des Abschnitts werden Sie fast beiläufig und ohne weitere Erläuterung genannt. Statt dessen verweist er zur Erklärung des Gemeinten zunächst auf zwei Position innerhalb der vorsokratischen Naturphilosophie: gemäß der ersten ist die Physis zusammengesetzt, gemäß der zweiten zusammengemischt. Mit denen, die die Physis als erste Zusammensetzung (πρώτη σύνθεσις) auffassen, sind hier wahrscheinlich die Atomisten gemeint, denn nach diesen bilden verschiedene, an sich unsichtbare Atome dadurch, daß sie zu einer Einheit zusammengesetzt werden, einen sichtbaren Gegenstand inklusive dessen charakteristischen Eigenschaften, welche den Grund seines So-und-so-beschaffenSeins, d. h. seine Seiendheit im Sinne der Wesensform, ausmachen. Die Zusammensetzung der Atome muß hierbei freilich gegenüber den von Menschen produzierten Zusammensetzungen abgegrenzt werden, denn letztlich wird durch den Atomismus alles mit Ausnahme der Atome selbst zu einem Analogon der Artefakte.109 Diese Abgrenzung geschieht dadurch, daß die Zusammensetzung der Atome zu einem auf diese Weise erst sichtbar werdenden Gegenstand als erste Zusammensetzung von einer zweiten und damit sekundären Zusammensetzung von bereits vorliegenden sichtbaren Gegenständen zu Artefakten unterschieden wird. Wenn freilich die sichtbaren, natürlichen Gegenstände nur Zusammensetzungen sind, dann können sie, insofern sie nichts anderes als sie selbst sind, im eigentlichen Sinne gar keine Physis und Seiendheit haben, denn sie sind ja auch nichts Unabhängiges und damit im eigentlichen Sinne Seiendes, sondern nur Modifikationen oder Akzidenzien eines Seienden, nämlich der Atome. Der Satz, daß die Physis die erste Zusammensetzung ist, hat also eine kritische Absicht: was man so gemeinhin Physis nennt, so die Aussage, sei eigentlich gar keine Physis, sondern nur eine rein äußerliche Modifikation von ewigen und an sich unveränderlichen Atomen, die damit die einzige, wahre Physis darstellen. Vorausgesetzt ist hierbei der im Zusammenhang mit der vierten Bedeutung von Physis dargestellte Physisbegriff der vorsokratischen Naturphilosophen. Auch der Atomismus hat also vermutlich dieselbe Zielrichtung wie die anderen vorsokratischen Physis-Theorien. Die Aussageabsicht des ersten Vgl. 1014b 36 – 1015a 3. Gerade diese Gleichstellung von natürlichen und artifiziellen Gegenständen durch den Atomismus dürfte wohl auch für das Wiederaufblühen dieser Idee am Beginn der Neuzeit verantwortlich sein. 108 109
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Beispiels stimmt daher auch mehr oder weniger mit dem überein, was Empedokles an der von Aristoteles im Anschluß zitierten Stelle behauptet. Hier wird zwar „Zusammensetzung“ durch „Mischung“ ersetzt, dies berührt jedoch das in diesem Kontext Wesentliche nicht, weil es hier ja nur um die Relativierung einer bestimmten Bedeutung von Physis geht. Sieht man sich zudem die ursprüngliche Form der von Aristoteles nicht ganz korrekt zitierten Verse des Empedokles an, dann bestätigt sich, daß auch Empedokles Physis in der gleichen Weise verstand, wie Antiphon, denn statt ἐόντων steht eigentlich ἁπάντων θνητῶν,110 wodurch die Vergänglichkeit alles Seienden mit Ausnahme der vier Elemente der Permanenz der eigentlichen Physis, nämlich eben jener vier Elemente, in allem Werden und Vergehen entgegengesetzt wird.111 Die Weise, wie Aristoteles diese fünfte Bedeutung belegt und erläutert, ist offenbar nicht ganz frei von Hintergedanken, denn es wäre sicher naheliegender gewesen, hierzu einfach auf den allgemeinen Sprachgebrauch zu rekurrieren, wie er es ja sowieso später tut112 ; stattdessen verweist er jedoch gerade auf die Behauptung der vorsokratischen Naturphilosophen, daß die Bezeichnung der Form von Seiendem, welches dem Werden und Vergehen unterworfen ist, als Physis eine bloße und unsachgemäße Redeweise der Menschen sei, der keine Entsprechung in der Realität korrespondiere. Er faßt also die Kritik an der allgemeinen Verwendung des Ausdrucks Physis zur Bezeichnung der charakteristischen Form eines Seienden als Beleg für die Existenz einer solchen allgemeinen Redeweise auf. Und diesen Beleg wiederum betrachtet er offensichtlich als hinreichenden Nachweis einer weiteren Bedeutung von Physis, die ontologisch von gleicher Relevanz ist wie alle anderen, ja die sogar, wie sich später113 zeigt, die wichtigste Bedeutung darstellt. Warum geht er hier auf diese Weise vor? Die Tatsache, daß es eine solche allgemein verbreitete Redeweise gibt, wird ja von niemandem bestritten, denn auch die Kritiker dieser Redeweise erkennen ihre Existenz an. Aber auch zur Erläuterung des hier mit Physis Gemeinten tragen diese Ausführungen nichts bei, weil sie ja gerade ein Argument darstellen, dieser vermeintlichen Physis die Physishaftigkeit abzusprechen und sie als Illusion zu erweisen.114 Vielleicht aber ist gerade dies der Punkt, Vgl. DK 31 B 8. Vgl. auch Phys. Β 1, 193a 27f: „… τὰ δ᾿ ἄλλα γίγνεσθαι καὶ φθείρεσθαι ἀπειράκις.“ 112 Vgl. Met. Δ 4, 1015a 3–5. 113 Vgl. Met. Δ 4, 1015a 13 ff. 114 Wenn die Physis des vergänglichen Seienden nichts anderes wäre als eine be110 111
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den Aristoteles zeigen will: daß auch diejenigen den allgemeinen Sprachgebrauch anerkennen, die ihn als täuschend ablehnen. Dahinter könnte die Überzeugung stecken, daß keine ernsthaft geäußerte Meinung und sei es die dem allgemeinen Sprachgebrauch inhärente, also die Meinung der Masse (οἱ πολλοί), je vollkommen in die Irre gehen kann. So schreibt der Autor von Met. α, welches mir trotz fraglicher Autorschaft zumindest in diesem Punkt einen authentischen und zudem grundlegenden Gedanken des Aristoteles auszusprechen scheint: Ἡ περὶ τῆς ἀληθείας ξεωρία τῇ μὲν χαλεπὴ τῇ δὲ ῥᾳδία. σημεῖον δὲ τὸ μήτ᾽ ἀξίως μηδένα δύνασθαι θιγεῖν αὐτῆς μήτε πάντας ἀποτυνγχάνειν, ἀλλ᾽ ἕκαστον λέγειν τι περὶ τῆς φύσεως καὶ καθ᾿ ἕνα μὲν ἢ μηθὲν ἢ μικρὸν ἐπιβάλλειν αὐτῇ, ἐκ πάντων δὲ συναθροιζομένων γίγνεσθαί τι μέγεθος·115 Die Betrachtung der Wahrheit ist einerseits schwer, andererseits leicht. Dies zeigt sich darin, daß sie weder irgendjemand in der ihr gebührenden Weise erfassen kann, noch auch alle sie verfehlen können, sondern jeder etwas Entscheidendes über die Natur sagt und er einzeln genommen zwar entweder nichts oder wenig zur Wahrheit beiträgt, daraus aber, daß man alle versammelt, etwas von beträchtlicher Bedeutung entsteht.
Dieser Gedanke ist offenbar überhaupt das der Methode von Met. Δ zugrundeliegende Prinzip. Vor diesem Hintergrund ließe sich nun, wie mir scheint, der Nachweis, daß auch diejenigen Philosophen den allgemeinen Sprachgebrauch bezüglich des Ausdrucks Physis in gewisser Weise anerkennen, die ihn zumindest in der hier relevanten Hinsicht vollkommen ablehnen, als eine ironische Kritik an der eingeschränkten Perspektive und Willkür der betreffenden Denker verstehen, weil diese nicht bereit sind, auch dieser breit vertretenen Meinung einen gewissen Anteil an der Wahrheit zuzugestehen.116 stimmte Art der Zusammensetzung oder Mischung von Unvergänglichem, dann gäbe es eben in Wahrheit gar keine solche Physis, weil sich dann nämlich ein vergängliches Seiendes insofern in nichts von einem Artefakt unterschiede, als bei beiden die Ursache und das Prinzip ihres Seins nicht in ihnen selbst läge; dies aber ist genau der Grund, warum es auch keine Physis des Artefakts gibt, insofern es ein Artefakt ist, sondern nur insofern es aus einem sich im Werden und Vergehen identisch durchhaltenden Material besteht. 115 Met. α 1, 993a 30 – 993b 2. 116 Es ließe sich daraus, scheint mir, das Erkenntnisprinzip ableiten, daß man nicht eine ganze Klasse von Phänomenen pauschal zur Illusion erklären darf. Einzelne, konkrete Phänomene mögen Täuschungen sein, eine ganze Art von Phänomenen, z. B. das wandelbare und vergängliche Seiende, zur Täuschung zu erklären dagegen ist absurd. Denn eine Illusion besteht ja gerade darin, daß etwas als etwas anderes
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Der eigentliche Kritikpunkt dürfte aber in der Bezeichnung der Form als Seiendheit durch Aristoteles liegen, denn Seiendheit, also der Grund des Seins alles Seienden, war für die vorsokratischen Naturphilosophen gerade die Materie. Dem widerspricht nun der allgemeine Sprachgebrauch, der erst dann davon spricht, daß etwas die Physis hat (τὴν φύσιν ἔχειν), wenn es die Form und Gestalt (τὸ εἶδος καὶ ἡ μορφή) hat.117 Mit der Doppelwendung Form und Gestalt ist, wie weiter oben dargelegt wurde, das von dem Seienden nicht abtrennbare Wesentliche des Seienden selbst gemeint, also das Sein, das dem Seienden rein hinsichtlich seiner selbst zukommt. Solange nun ein Seiendes das es als dieses spezifische Seiende konstituierende Sein noch nicht hatte, d. h. aufwies, sagte man auch nicht, daß es seine Physis schon hatte, obwohl das, woraus das Seiende wird oder besteht, bereits vorlag („… ἤδη ὑπάρχοντος ἐξ οὗ πέφυκε γίγνεσθαι ἢ εἶναι …“118). Dabei setzt Aristoteles die Physis implizit mit der Seiendheit gleich. Wenn Physis aber tatsächlich den Quellgrund des Hervorwachsens des wesentlichen Seins eines Seienden in die Offenbarkeit meint, dann ist dies nicht weiter verwunderlich. Daß etwas seine Physis hat, bedeutet dann also, daß das Sein, welches ihm rein hinsichtlich seiner selbst zukommt, aus der Verborgenheit in die Offenbarkeit getreten ist und dieses Sein zugleich als Grund des Offenbar-Werdens seiner selbst angesehen wird. Der Grund des Aufgehens eines Samens z. B. ist sein verborgenes Pflanze-Sein. Als Samen hat das Seiende das Pflanze-Sein aber noch nicht, was eben bedeutet, daß das Pflanze-Sein an ihm noch nicht offenbar ist. Sobald die Pflanze jedoch vollständig aus dem Samen hervorgewachsen ist, hat sie auch das Pflanze-Sein, und zwar dasjenige der jeweiligen spezifischen Pflanze, die sie ist, denn sie ist ja nun eine solche Pflanze. Mit Physis konnte also sowohl der verborgene Quellgrund alles Seienden und somit seine je spezifische Kraft zur Entfaltung als auch das erscheint; es wird also das mögliche Sein dieses anderen immer schon vorausgesetzt. Da aber jede Ontologie alles mögliche Seiende erfassen muß, wenn sie nicht unzureichend sein will, wird sie inkonsistent, wenn sie ein Phänomen pauschal zu einer Illusion erklärt, denn damit wäre das Phänomen zugleich als mögliches Seiendes zugestanden und negiert. Dieses Erkenntnisprinzip scheint mir von nicht zu unterschätzender Bedeutung zu sein. Man könnte es in den Imperativ fassen: Jedes Phänomen muß philosophisch als Seiendes eigenen Ranges ernst genommen werden! Bei jeder Ontologie, die dies verhindert, kann man sich bereits vor einer genaueren Prüfung sicher sein, daß sie zumindest teilweise falsch ist. 117 Vgl. Met. Δ 4, 1015a 3–5. 118 Met. Δ 4, 1015a 3 f.
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jeweils charakteristische, offenbare Sein des Seienden inklusive der typischen äußeren Erscheinung gemeint sein. Bei den vorsokratischen Naturphilosophen kam fast ausschließlich die erste Bedeutung zur Geltung, wenn man von den Elementen selbst absieht, bei denen, wie weiter oben ausgeführt wurde, die erste und zweite Bedeutung als untrennbare Einheit aufgefaßt wurden. Die Vorsokratiker übersahen dabei jedoch, daß die vermeintlichen Elemente dennoch eines externen Grundes bedürfen, um zu sein: sie sind nämlich nicht hinsichtlich ihrer selbst eines. So ist z. B. das Wasser teilbar und damit vieles, denn ich kann einen Krug Wasser auf viele Gläser aufteilen, ohne daß das Wasser aufhört, Wasser zu sein. Dasselbe gilt für das Feuer, die Erde und die Luft. Im Gegensatz dazu kann ich z. B. einen Menschen nicht in viele Menschen zerteilen, und zwar deshalb, weil ein Mensch hinsichtlich seiner selbst jeweils eine unteilbare Einheit ist. Nun muß aber alles Seiende, insofern es ist, auch eines sein.119 Also bedürfen auch die Elemente eines Grundes der Einheit, der aber nicht in ihnen selbst liegt, denn hinsichtlich ihrer selbst sind sie ja teilbar und damit vieles. Dieser Grund ist nun nichts anderes als gerade die von den Vorsokratikern mißachtete Form. Bei den Elementen und allen anderen Materialien im weitesten Sinne besteht die Form in der Einheit des Ortes und dem kontinuierlichen Zusammenhang. Zum Beispiel ist das Wasser in einem Glas dadurch eines, daß es sich als kontinuierlich Zusammenhängendes an einem bestimmten Ort befindet, nämlich eben in dem Glas. Und nur dadurch kann es ein Seiendes genannt werden und Träger von Akzidenzien sein. Zwar äußert sich auch die Materie und ist daher auch als das, was sie ist, andernfalls würde es ja auch keinen Sinn machen, überhaupt von Materie zu sprechen. Denn was sich nicht auf irgendeine Weise, sei es direkt oder indirekt, äußert und sich zeigt, darüber läßt sich auch nicht sprechen. Jedoch kann das Sein der Materie nicht aus sich heraus ein Seiendes und damit ein Phänomen konstituieren. Die Materie ist also insofern bloß ein Seiendes der Möglichkeit nach.120 Die das Material als Einheit und damit als Seiendes der Wirklichkeit nach konstituierende Form nämlich bleibt dem Seienden selbst stets äußerlich und bestimmt es nicht hinsichtlich dessen, was es an sich selbst ist; andernfalls könnte man einen Holzscheit nicht mehr schlechthin als Holz bezeichnen, so wie ja auch ein Holzbett ein Bett ist und nicht einfach Holz. Im Gegensatz zu Vgl. Met. Γ 1, 1003b 23–36; Z 16, 1040b 16–19. Vgl. z. B. Met. Z 7, 1032a 20–22; Z 16, 1040b 5–9.
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einem Holzscheit-Sein scheint ein Holzbett-Sein also ein Seiendes nicht nur äußerlich zu bestimmen. Da aus dem Holzbett jedoch, wenn es einen Trieb aus sich hervorgehen lassen sollte, nicht ein Bett entstünde, sondern allenfalls Holz, glaubten die frühen Naturphilosophen, die Form von Artefakten mit den zufälligen, akzidentellen Formen gleichsetzen zu können. Schließlich dehnten sie diese Gleichsetzung auch auf alle Formen überhaupt und auch alle nicht elementaren Materialien aus, denn aus alledem geht im Dekompositionsprozeß (also dem Analogon des Verfaulens eines Holzbettes in der Erde) ihrer Meinung nach eines der Elemente hervor. In dem nun, was bei einem solchen spontanen Prozeß entsteht, glaubten sie schließlich die wahre Physis im Sinne des Quellgrunds all dessen, was wird und ist, zu erkennen und damit das, was allem vergänglichen Seienden hinsichtlich seines Seins zugrunde liegt, d. h. seine Seiendheit. Für Aristoteles konnten die Elemente jedoch nicht die einzige Seiendheit sein, da sie nicht fähig sind, eine numerische Einheit zu konstituieren, wie sie für das je einzelne Seiende wesentlich ist. Aristoteles akzeptiert allerdings die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren, als Kennzeichen der Physis, folgerte daraus jedoch gerade die Physishaftigkeit der Form. ἔτι γίγνεται ἄνθρωπος ἐξ ἀνθρώπου, ἀλλ᾿ οὐ κλίνη ἐκ κλίνης· διὸ καί φασιν οὐ τὸ σχῆμα εἶναι τὴν φύσιν ἀλλὰ τὸ ξύλον, ὅτι γένοιτ᾿ ἄν, εἰ βλαστάνοι, οὐ κλίνη ἀλλὰ ξύλον. εἰ δ᾿ ἄρα τοῦτο φύσις, καὶ ἡ μορφὴ φύσις· γίγνεται γὰρ ἐξ ἀνθρώπου ἄνθρωπος.121 Zudem einsteht ein Mensch aus einem Menschen, aber nicht ein Bett aus einem Bett. Deshalb sagen sie auch, daß nicht die äußere Erscheinung die Physis ist, sondern das Holz, weil, wenn austriebe, nicht ein Bett entstünde, sondern Holz. Wenn also nun aber dies Physis ist, dann ist auch die Gestalt Physis, denn aus einem Menschen entsteht ein Mensch.
Wenn man genauer hinsieht, erkennt man nun auch, daß das hier noch einmal aufgegriffene Argument der vorsokratischen Naturphilosophen einen entscheidenden Fehler enthält. Denn streng genommen würde aus einem vergrabenen Bett, wenn es austriebe, nicht Holz entstehen, sondern eine bestimmte Art von Baum. Das Baum-Sein ist jedoch ebenso eine Form wie das Mensch-Sein. Der entscheidende Quellgrund des Hervorwachsens ist also nicht die Materie, sondern die Form, und zwar nicht nur hinsichtlich der Effektivursache, wie es nach dem obigen Zitat Phys. B 193b 8–12; zitiert nach der Textverbesserung von Ross.
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scheinen könnte; die Form ist auch ein internes Prinzip des Werdens, wie wir sogleich noch sehen werden. Hier ergibt sich nun allerdings ein Problem, denn weiter oben hatten wir den Quellgrund gerade mit der Materie und dem Vermögen, die Form dagegen mit dem Sein identifiziert. Dies erweist sich nun als nicht ganz zutreffend und erfordert eine Präzisierung. Es gibt nämlich offenbar zwei Arten des Quellgrunds und damit der Physis. Sehen wir uns dazu noch den an das obige Zitat anschließenden Abschnitt an, er lautet: ἔτι δ᾿ ἡ φύσις ἡ λεγομένη ὡς γένεσις ὁδός ἐστιν εἰς φύσιν. οὐ γὰρ ὥσπερ ἡ ἰάτρευσις λέγεται οὐκ εἰς ἰατρικὴν ὁδὸς ἀλλ᾿ εἰς ὑγίειαν· ἀνάγκη μὲν γὰρ ἀπὸ ἰατρικῆς οὐκ εἰς ἰατρικὴν εἶναι τὴν ἰάτρευσιν, οὐχ οὕτω δ᾿ ἡ φύσις ἔχει πρὸς τὴν φύσιν, ἀλλὰ τὸ φυόμενον ἐκ τινὸς εἰς τὶ ἔρχεται ᾗ φύεται. τί οὖν φύεται; οὐχὶ ἐξ οὗ, ἀλλ᾿ εἰς ὅ. ἡ ἄρα μορφὴ φύσις.122 Des weiteren ist die im Sinne eines Werdens ausgesagte Physis ein Übergang in eine Physis. Denn diese verhält sich nicht so wie die Heilung, die nicht ein Übergang in die Heilkunst genannt wird, sondern in die Gesundheit. Es ist nämlich zwar notwendigerweise so, daß die Heilung ausgehend von der Heilkunst nicht in die Heilkunst mündet; nicht ebenso verhält sich aber die Physis im Hinblick auf die Physis, vielmehr geht das Hervorwachsende aus etwas in etwas über, insofern es hervorwächst. Was wächst nun hervor? Keineswegs das Woraus, sondern das Wo-hinein. Also ist die Gestalt Physis.
Der Unterschied zwischen einem artifiziellen Werdeprozeß und einem natürlichen liegt also darin, daß das, wovon der Prozeß ausgeht, einmal etwas von dem Werdenden Unterschiedenes ist, nämlich im artifiziellen Werdeprozeß, und einmal das Werdende selbst, nämlich im natürlichen Werdeprozeß (φύσις), den wir auch mit Hervorwachsen übertragen haben. Das, wovon der Prozeß des Hervorwachsens ausgeht, also die φύσις im Sinne des Quellgrunds, ist also das Werdende selbst; das Werdende ist aber in diesem Fall das Hervorwachsende (φυόμενον). Wenn man also wissen will, was die Physis ist, dann muß man die Frage klären, was das Werdende im Prozeß des Hervorwachsens ist, und genau diese Frage stellt nun Aristoteles, um gleich darauf die Antwort zu geben: das Hervorwachsende und damit das, wovon der Prozeß des Hervorwachsens ausgeht, ist nicht das, womit das Hervorwachsen zeitlich seinen Anfang nimmt, sondern das, womit es endet. Das, womit es endet, ist aber die vollendete Gestalt und Form des Hervorwachsenden. Wie bereits weiter oben angedeutet wurde, erscheint hier also die Form als Ausgangspunkt Phys. B 193b 12–18.
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des natürlichen Werdens nicht mehr nur als äußeres, sondern gerade auch als internes Prinzip. Diese Schlußfolgerung stützt Aristoteles offenbar auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch: wir sagen nicht, daß ein Samen wächst, sondern z. B. eine Blume oder ein Baum; der Samen dagegen wächst gerade nicht, sondern geht als Samen im Prozeß des Wachstums zugrunde.123 Dennoch muß man sagen, daß auch das, woraus etwas wird oder ist, der Quellgrund eines Hervorwachsens sein kann, wenn auch auf etwas andere Weise. Aristoteles bezweifelt ja nicht, daß z. B. Kupfer beim schmelzen flüssig und somit in gewisser Weise Wasser wird, bzw. die Gestalt des Wassers hier zum Vorschein kommt. Und wenn ein Lebewesen stirbt und sich sein Körper zersetzt, so geschieht auch das von Natur aus. Ja, es ist sogar so, daß bei der Entstehung eines Menschen auch Fleisch und Knochen entstehen, die sich von Natur aus auch auf eine bestimmte Weise verhalten, obwohl sie im eigentlichen Sinne keine Formen sind, denn sie bestimmen kein je einzelnes Seiendes hinsichtlich seiner selbst. Auch das erste Material, d. h. die Materie, ist also Physis im Sinne eines Quellgrunds des Hervorwachsens. Es stellt sich hier nun die Frage, in welchem Verhältnis Sein und Quellgrund zueinander stehen. Wir hatten beides ja weiter oben einander entgegengesetzt. Dies war offenbar, wie sich nun herausstellt, nicht ganz korrekt. Das wesentliche Sein eines nicht-artifiziellen Seienden ist auch der Quellgrund des Werdens dieses Seienden, und das nicht nur im Hinblick auf die äußere Effektivursache, welche im vorletzten Zitat thematisiert wurde, sondern auch im Hinblick auf das interne Prinzip des Werdens. Hier ergibt sich nun ein Problem. Das, was wächst, ist das vollendete Seiende, welches aber, da es ja erst werden muß, noch gar nicht ist: wie kann aber etwas, was nicht ist, Prinzip eines Werdens sein? Vollendet ist das Seiende, wenn es verwirklicht, was es hinsichtlich seiner selbst ist, und d. h. wenn es seine Form hat.124 Es gibt hier also zwei Arten des Seins. Das eine Sein ist die Form selbst, also das Wesentliche eines Seienden, das als Physis eines natürlichen Seienden auch für das Werden dieses Seienden verantwortlich ist, das andere ist das Haben dieser Form beim vollendeten Seienden. So kann auch eine Pflanze z. B., die erst noch Für Aristoteles hat ja der gewöhnliche Sprachgebrauch, wie weiter oben bereits betont wurde, immer auch Anteil an der Wahrheit, wenn er freilich auch nicht dazu fähig ist, für sich allein genommen schon die Wahrheit vollständig zu enthüllen. 124 Vgl. Met. Δ 4, 1015a 3–5. 123
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aus der Erde emporwachsen muß, schon als Pflanze bezeichnet werden, nicht nämlich weil sie das jeweilige bestimmte Pflanze-Sein, das ihr zukommen wird, schon jetzt vollständig hätte, sondern weil sie das Streben oder den Drang zu diesem Pflanze-Sein hat. Das Streben rein für sich genommen ist eine bloße Kraft, ein Vermögen, allerdings eine Kraft, die auf eine bestimmte Form bezogen ist, dadurch nämlich, daß sie von ihr bestimmt wird. Was ist nun der Unterschied zur Materie? Auch die Materie ist als eine Kraft auf ein bestimmtes Sein und damit in gewisser Weise auch auf eine (wenn auch defizitäre) Form bezogen, nämlich z. B. das Wasser auf das Wasser-Sein; es kann aber rein aus sich selbst heraus kein Seiendes konstituieren, daß durch dieses Sein als je Einzelnes bestimmt ist. Die Form im eigentlichen Sinne dagegen konstituiert ein je Einzelnes.125 Ein Mensch ist z. B. bereits rein aufgrund seines Mensch-Seins ein unteilbares Einzelnes, ein Individuum. Freilich ist ein Mensch nicht schon aufgrund seines Mensch-Seins dieses bestimmte und abzählbare einzelne Individuum, z. B. Sokrates, sondern nur ein unteilbares Einzelnes im allgemeinen. Ein Individuum wie der Mensch wird allererst durch die Materie zu einem bestimmten Einzelnen, und zwar deshalb, weil die Materie teilbar und dadurch als formal identische doch an verschiedenen Orten sein und so das Einzelne numerisch unterschieden werden kann.126 Das Verhältnis zwischen Form und einzelnem Individuum ist daher nicht analog dem zwischen Materie und konkreter Realisierung dieser Materie, denn durch das Wasser-Sein ist eben im Gegensatz zum Mensch-Sein keine unteilbare Einheit vorgegeben. Die Einheit jedes einzelnen, bestimmten Menschen gründet allein in seinem Mensch-Sein, die Einheit einer bestimmten einzelnen Wasseransammlung dagegen gründet gerade nicht in ihrem Wasser-Sein.127 Vgl. dazu auch die Unterscheidung von kontinuativen und sortalen Termen bei Christof Rapp: Identität, Persistenz und Substantialität, a.a.O., S. 188 ff. Die Form darf jedoch nicht einfach, wie das Rapp tut, mit einem sortalen Term gleichgesetzt werden. Nicht die sortalen Terme selbst sind der Grund dafür, daß etwas ein zählbares Einzelding ist, denn sortale Terme entsprechen dem, was traditionell Spezies genannt wird. Die Spezies ist jedoch von der Form zu unterscheiden: erstere ist das Konkretum im allgemeinen, letzteres das Sein, das einem konkreten Seienden rein hinsichtlich seiner selbst zukommt und es allererst als das Seiende konstituiert, das es ist. Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird das hoffentlich noch deutlicher werden. 126 Vgl. Met. Z 8, 1034a 5–8. 127 Es ist in diesem Zusammenhang noch zu beachten, daß eine gewisse Unschär125
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Damit haben wir aber noch nicht das Verhältnis geklärt, in dem die beiden Arten von Quellgrund zueinander stehen. Betrachten wir zur Klärung dieser Frage einmal das Hervorwachsen einer Pflanze. Hier zeigt sich, daß immer beide Arten von Quellgrund letztlich ineinander verwoben sind: Ein Samen ist eine Pflanze dem Vermögen nach, weil der Quellgrund der Pflanze, also ihre Physis, darin wirksam ist. Der Quellgrund ist das vollendete Sein der Pflanze im Zustand der Kraft und Verborgenheit; dieses drängt auf seine Verwirklichung. Ein Samen ist aber nicht bloßes Vermögen, bloße Kraft, denn dann könnten wir ihn nicht anfassen und aussähen. Ein Samen ist auch immer schon etwas Verwirklichtes und im Zustand der Offenbarkeit, jedoch nicht, insofern er eben eine Pflanze und damit Form dem Vermögen nach ist. In welcher Hinsicht aber dann? Ein Samen ist immer auch schon realisierte Materie, allerdings eine Materie besonderer Art. Die normale Materie bleibt hinsichtlich ihrer selbst immer im Zustand des Vermögens oder der Kraft, da sie aus sich heraus keine endgültige Gestalt annehmen kann. Der Samen als Materie dagegen ist dazu fähig, und zwar dadurch, daß er einfach seiner eigenen Entwicklungstendenz folgt. Ein Samen ist also eine Materie, deren Verwirklichung teilweise den Status der Materie überschreitet. Dieser Übergang findet aber eben nur teilweise statt, denn auch die entwickelte Pflanze ist in mancher Hinsicht noch teilbar, wenn auch freilich nicht hinsichtlich ihres Pflanze-Seins.128 Wenn ich z. B. einen Baum fälle, wird der abgetrennte Teil (normalerweise) nicht wieder austreiben; dieser Materie kommt also das Baum-Sein als Möglichkeit nicht länger zu. Dennoch konnte er geteilt werden, und zwar hinsichtlich des Holz-Seins. Dies wirft natürlich die Frage auf, in welchem Verhältnis beide Aspekte zueinander stehen. Diese Frage kann hier noch nicht ge-
fe in der Terminologie des Aristoteles herrscht. Unter Materie wird nämlich bei ihm offenbar zweierlei verstanden: einmal das in wesentlicher Hinsicht unvollständig bestimmte Seiende, z. B. das jeweilige bestimmte Blut und Fleisch eines Menschen, und zum anderen das materielle Vermögen selbst, also z. B. Blut oder Fleisch überhaupt. 128 Vielleicht könnte man aber auch sagen, daß das Pflanze–Sein vieler Pflanzen zwischen der bloßen Materie und der Wesensform anzusiedeln ist. Denn die Möglichkeit z. B. aus bestimmten Teilen vieler Pflanzen wieder vollständige Pflanzen hervorgehen zu lassen, deutet darauf hin, daß zumindest solche Pflanzen keine wirklichen Individuen sind. Sie sind aber auch nicht beliebig teilbar wie die reine Materie.
4.1. Die fünffache Bedeutung von Physis
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klärt werden; sie wird aber später noch einer genaueren Untersuchung unterworfen.129 Kein Individuum also, das entsteht und vergeht, ist unteilbar. Dies scheint auf den ersten Blick paradox zu sein, denn ein Individuum ist ja gerade, das sagt bereits der Name, etwas Unteilbares. Die Einführung einer Hinsichtenunterscheidung löst diese vermeintliche Paradoxie jedoch auf. Hinsichtlich des Seins, das es als Individuum konstituiert, ist das individuelle Seiende unteilbar, hinsichtlich des Seins jedoch, das ihm zwar auch auf eine gewisse, noch genauer zu klärende Weise zukommt, jedoch keine konstitutive Funktion bezüglich seiner Individualität erfüllt, ist es teilbar. Darin liegt auch die Vergänglichkeit des Individuums begründet.130 Zusammenfassend kann man also sagen, daß die Physis das wesentliche Sein eines Seienden ist, also seine Seiendheit, jedoch nicht nur im Zustand der Entfaltung, sondern sozusagen der „Einfaltung“. Das erste nennt Aristoteles, wie bereits erwähnt, das Haben der Physis, das zweite den Mangel oder die Privation der Physis (στέρησις). Dies betrifft Materie und Form gleichermaßen. Die Entfaltung der Physis im Sinne der Materie kann jedoch nicht aus sich heraus die Einheit eines Seienden konstituieren, wozu die Entfaltung der Physis im Sinne der Form dagegen fähig ist. Die materielle Physis kann daher rein hinsichtlich ihrer selbst den Zustand des Vermögens nicht verlassen; es bedarf zu seiner Verwirklichung immer einer irgendwie gearteten äußeren Form, die sie selbst nicht begründen kann. Die formale Physis ist dazu jedoch in der Lage, sie kann sich in einem Seienden daher aus sich selbst heraus und damit auch hinsichtlich ihrer selbst verwirklichen. Im Zustand des bloßen Vermögens sind die materielle und die formale Physis dagegen noch nicht zu unterscheiden, d. h. auch die formale Physis ist als Vermögen oder, wie man auch sagen kann, im Zustand seiner Privation das Vermögen einer Materie. Ein Vermögen kann nämlich nur als Vermögen eines Seienden existieren, es gibt kein gleichsam „freischwebendes“ Vermögen. Das bedeutet, daß jedes Vermögen immer auf ein bereits vorliegendes Seiendes angewiesen ist, um als Vermögen wirklich zu sein. Das materielle Vermögen ist dabei das Vermögen eines Sei Siehe Abschnitt 4.3.2.2. Man muß die Individualität so, wie ich diesen Ausdruck hier verwende, von der Konkretion unterscheiden. Die Individualität meint allein, wie der Name schon sagt, die Eigenschaft der Unteilbarkeit, die Konkretion dagegen die der numerischen Identität. 129 130
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enden, das nur eine zufällige Einheit ist, nämlich der Materie. Die zufällige Einheit ist Privation (στέρησις) der Form, weil die Form dem Seienden gar nicht hinsichtlich seiner selbst zukommt; es fehlt der Materie dementsprechend immer die eigentümliche vollständige Verwirklichung in einem Seienden im eigentlichen Sinne, und das heißt für Aristoteles in einem bestimmten räumlich und zeitlich abgegrenzten Individuum. Dennoch muß man die Verwirklichung der Materie, auch wenn sie niemals vollständig ist, als eine Art unvollständiger Form ansehen, denn immerhin bestimmen sie ja ein Seiendes (also ein Individuum) hinsichtlich seiner selbst, wenn auch nicht vollständig. Auch das formale Vermögen muß von einer solchen Materie ausgehen, sie tritt jedoch gleichsam zu einem derartigen unvollständig bestimmten Seienden hinzu und „überformt“ es dadurch, daß es sich entfaltet. Dadurch erhält das Seiende eine wesentliche Form und wird Seiendes im eigentlichen Sinne. Wie dies genau geschieht, werden wir später noch eingehender untersuchen.
4.2 Form, Materie und die Einheit des Physisbegriffs (Met. Δ 4, 1015a 6–19) Nachdem die verschiedenen Bedeutungen von Physis bestimmt wurden, mag man sich die Frage stellen, worin denn nun die Einheit des Physisbegriffs besteht und was mithin „Physis“ eigentlich bedeutet. Eine bloße Aufzählung von Bedeutungen genügt ja für ein wirkliches Verständnis der Sache nicht. Es ist daher zunächst die Struktur des Abschnitts Met. Δ 4, 1014b 16 – 1015a 5 noch genauer zu untersuchen. Wie bereits angedeutet wurde und sogleich noch genauer gerechtfertigt wird, läßt sich dieser Abschnitt in zwei Teile gliedern: der erste Teil umfaßt die Bedeutungen 1–3, der zweite die Bedeutungen 4 und 5. Getrennt werden beide Teile durch die Bestimmung des Verbs φύεσθαι in 1014b 20–26, die in gewisser Weise, worüber noch zu sprechen sein wird, auch als Abschluß des ersten Teils angesehen werden kann. An diesen zweigliedrigen Abschnitt schließt sich dann innerhalb von Met. Δ 4 noch ein weiterer Abschnitt an, nämlich 1015a 6–19, der die verschiedenen Bedeutungen explizit systematisch zueinander in Beziehung setzt und die ihnen gemeinsame Benennung als Physis rechtfertigt. Auf diesen Abschnitt sind wir bisher noch nicht eingegangen; er bildet nun das Zentrum der folgenden Ausführungen. Mit der Interpretation
4.2 Form, Materie und die Einheit des Physisbegriffs
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dieses letzten Abschnitts wird die Frage nach der Einheit und der Hauptbedeutung von Physis abschließend beantwortet.
4.2.1 Die erste und zweite Bedeutungsebene des Ausdrucks „Physis“ Die Aufteilung der oben besprochenen Bedeutungen in zwei Gruppen wird durch zwei Beobachtungen nahegelegt. Zum einen kann der Einschub zur Bestimmung des Verbs φύεσθαι nach der dritten Bedeutung nur als ein Abschluß oder zumindest ein Einschnitt in der Aufzählung verstanden werden, weil er ansonsten an dieser Stelle gar keinen Sinn machen würde – im vorausgehenden Satz ist ja von einem Hervorwachsen, auf das sich der Einschub irgendwie beziehen könnte, gar keine Rede. Zum anderen, und dieser Grund ist der entscheidende, werden im zweiten Abschnitt von Δ 4 nur die Bedeutungen 4 und 5 aufgegriffen, wobei offensichtlich vorausgesetzt wird, daß damit alle Bedeutungen von Physis erschöpft seien: φύσει μὲν οὖν τὸ ἐξ ἀμφοτέρων τούτων ἐστίν, οἷον τὰ ζῷα καὶ τὰ μόρια ἀυτῶν· φύσις δὲ ἥ τε πρώτη ὕλη … καὶ τὸ εἶδος καὶ ἡ οὐσία· τοῦτο δ᾽ ἐστὶ τὸ τέλος τῆς γενέσεως.131 Von Natur (Physis) einerseits ist nun das, was aus diesen beiden hervorgegangen ist, wie die Lebewesen und ihre Teile. Physis andererseits ist sowohl das erste Material132 … als auch die Form und die Seiendheit; diese aber ist das Ziel des Werdens.
Die Bedeutungen 4 und 5 reihen sich also nicht einfach an die Bedeutungen 1–3 an, da die Bedeutungen 4 und 5 offenbar für sich allein schon die möglichen Bedeutungen von Physis erschöpfen sollen. Daraus ergibt sich nun freilich zwangsläufig die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Bedeutungsreihen eigentlich zueinander stehen, wenn denn bereits eine davon die ganze Bedeutungsbreite von Physis abdeckt, die andere jedoch offenbar von Aristoteles nicht als überflüssig erachtet wurde. Die Vermutung liegt nahe, daß die erste Bedeutungsreihe, also die Bedeutungen 1–3, die Physis in einer anderen Hinsicht unterteilen als die Bedeutungen 4 und 5. Diese Vermutung erhält Unterstützung, wenn man die Weise betrachtet, wie Aristoteles zu Beginn von Met. Δ 4, 1015a 6–11. Mit „erstem Material“ wird hier wieder, wie schon weiter oben, der Ausdruck πρώτη ὕλη wiedergegeben; dies soll das Mißverständnis dieses Ausdrucks als prima materia verhindern, was bei der Übersetzung mit „erste Materie“ nicht gleichermaßen gewährleistet wäre. 131
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
Phys. B vorgeht. Hier wird zunächst die Physis bestimmt als Prinzip von Bewegung und Ruhe in dem, was ein solches Prinzip in sich selbst hat.133 Und obwohl ausdrücklich betont wird, daß damit gesagt sei, was Physis ist134 , setzt Aristoteles in 193a 9 noch einmal neu an mit einer Untersuchung der Bedeutung von Physis, die auf die Unterscheidung von εἶδος und ὕλη hinausläuft. Das Vorgehen in Phys. B 1 entspricht also überraschend genau dem in Met. Δ 4, wenn man die Bedeutungen 2 und 3 zu einer zusammenfaßt und die erste Bedeutung zunächst nicht berücksichtigt.135 Aber auch die erste Bedeutung fehlt in der Physik nicht gänzlich, sondern wird ebenfalls erwähnt, wenn auch eher am Rande. Im Zuge seiner Bemühungen die Vorrangigkeit der Form vor der Materie zu erweisen, führt Aristoteles als Beleg unter anderem auch die Physis an, die im Sinne eines Werdens ausgesagt wird, also gerade die erste Bedeutung von Physis in Met. Δ 4. Obwohl diese Stelle bereits weiter oben ausführlich zitiert und diskutiert wurde, sei hier der entscheidende Satz noch einmal wiedergegeben: ἔτι δ᾿ ἡ φύσις ἡ λεγομένη ὡς γένεσις ὁδός ἐστιν εἰς φύσιν.136 Des weiteren ist die im Sinne eines Werdens ausgesagte Physis ein Übergang in eine Physis.
Die Physis als Werden sei also ein Weg in die Physis, so daß Physis wesentlich auf den Zielpunkt hingeordnet ist und von daher seine Benennung erhält. Die grammatische Abhängigkeit wird hier also offenbar als Hinweis auf zugrundeliegende prinzipielle, in der Sache selbst liegende Abhängigkeit verstanden. Der Zielpunkt des eigentlichen Werdens ist aber nun die Form der Sache, die da jeweils wird, also das, was die Sache hinsichtlich ihrer selbst ist, wenn auch zunächst nur der Möglichkeit nach. Damit unterscheidet sich dieses nicht-artifizielle Werden ganz wesentlich vom artifiziellen; denn letzteres wird nicht nach dem dem Werdenden inhärierenden Ziel benannt, sondern nach der das Werden von außen bewirkenden Ursache.137 So ist z. B. die Heilung nach der Heilkunst benannt, also nach dem Ausgangspunkt des Werdens und nicht Vgl. Phys. B 1, 192b 20–23. Vgl. Phys. B 1, 193a 1 f. 135 Es wurde ja schon weiter oben gezeigt, daß die dritte Bedeutung nur eine Verallgemeinerung der zweiten ist. 136 Vgl. Phys. B 1, 193b 12 f. 137 Vgl. Phys. B 1, 193b 13 ff. 133
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nach dem Endpunkt, nämlich der Gesundheit. Prinzip und Ursprung des Werdens ist also jeweils etwas anderes: einmal die Zielursache, die mit der Form und damit dem, was das Werdende als es selbst eigentlich ist, gleichgesetzt wird, und einmal die Wirkursache, die der Form des Werdenden im eigentlichen Sinne entgegengesetzt wird. Denn das Heil-Werdende ist nicht die Heilkunst, sondern der Mensch; ebenso ist das Tisch-Werdende nicht der Tisch selbst, sondern das Holz, weil ja der Tisch im Grunde nur eine Modifikation des Holzes ist. Ganz anders verhält sich dagegen das physishafte Werden. Das, was wird, ist hier z. B. die Pflanze selbst, wobei das, was die Pflanze hinsichtlich ihrer selbst ist, also ihre Form, zugleich den Zielpunkt des Werdens bezeichnet. Aus der grammatischen und ontologischen Struktur der als eine Art von Werden aufgefaßten Physis, welche der ersten Bedeutung von Physis in Met. Δ 4 entspricht, folgert Aristoteles also die Vorrangigkeit der Form vor der Materie bei allen physishaften Veränderungen; die Form sei daher eher als die Materie die als Prinzip verstandene Physis, welche offenbar wiederum mit der zweiten (und dritten) Bedeutung von Physis in Met. Δ 4 identisch ist. Innerhalb dieser zwei Bedeutungsreihen finden sich also, wenn man genau hinsieht, nicht nur zwei, sondern drei aufeinander aufbauende Bedeutungsebenen von Physis: 1. Physis als Werden dessen, was das Prinzip des Werdens in sich selbst hat. 2. Physis als Prinzip des Werdens in dem, was dieses Prinzip in sich selbst hat. 3. Physis als Materie und Form, wobei die Form mehr Physis ist als die Materie. Wenn wir nun danach fragen, wie diese Bedeutungsebenen aufeinander aufbauen, und welche die erste ist, dann müssen wir zunächst, ganz im Sinne des Aristoteles, zwischen dem für uns Ersten und dem schlechthin Ersten unterscheiden. Das für uns Erste ist die Physis als Werden, denn was wir zunächst unterscheiden, ist eine bestimmte Art von Prozessen, die vor allem die Pflanzen im besonderen Maße auszeichnen, nämlich eben diejenigen Prozesse, die auf griechisch φύεσθαι heißen, was wir behelfsweise mit „Hervorwachsen“ übersetzt haben und wovon das Substantiv φύσις abgeleitet ist. Diese Prozesse zeichnen sich zunächst nur dadurch aus, daß wir für sie keine äußere Ursache feststellen können, ganz im Gegensatz z. B. zur Entstehung eines Hauses oder irgendeines
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anderen Artefaktes. Ausgehend von diesen zunächst nur negativ charakterisierten Prozessen fragte der Mensch dann zurück nach deren Ursache, denn daß sie irgendeine Ursache haben müssen, die sich durchhält, und nicht nur dem bloßen Zufall entspringen können, ergibt sich daraus, daß sie eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen: aus den Dinkelsamen wächst immer Dinkel empor, aus den Hirsesamen immer Hirse. Da dieses Hervorwachsen jedoch keine äußere Ursache hat, muß sie eine innere haben, die wir weiter oben auch als Quellgrund des Hervorwachsens bezeichnet haben. Damit wären wir dann also bei der zweiten Bedeutungsebene von Physis angekommen. Nun können wir jedoch auch feststellen, daß auch bei anderen Prozessen keine äußeren Ursachen beobachtbar sind, obwohl sie ebenso wie die genannten eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen, nämlich z. B. die meisten Bewegungen von Tieren und Menschen, das Emporflackern der Flamme usw. Diese Prozesse fallen also offenbar in dieselbe Kategorie wie die natürlichen Wachstumsprozesse, müssen also auch eine innere Ursache haben. Wir können aber nicht nur Veränderungsprozesse hier einordnen, sondern auch bestimmte Arten des Ruhens, nämlich dann, wenn das Ruhen einer Sache ohne äußere Ursache regelmäßig auf eine bestimmte Weise erfolgt; denn auch dieses Ruhen muß dann eine innere Ursache haben, die für das So-und-so-in-RuheSein verantwortlich ist. Offensichtlich hat ja auch diese Art des Ruhens einen prozessualen Charakter, denn wenn eine Sache, der ein solches Ruhen zukommt, aus dem Ruhezustand gebracht wird, kehrt sie typischerweise nach dem Wegfall der die Ruhe störenden Ursache in den ursprünglichen Ruhezustand zurück. Die Ruhe ist also nicht nur etwas faktisch Vorliegendes, sondern etwas durch die Sache selbst Erstrebtes, und zwar offenbar etwas jederzeit und immer Erstrebtes, da sich nur die äußeren Umstände ändern, nicht jedoch die Sache selbst. Auch die Ruhe muß also als eine Art Prozeß oder Tätigkeit verstanden werden, die ihr Ziel allerdings immer schon erreicht hat. Wir haben nun die zweite Bedeutungsebene durchschritten; fassen wir also zusammen. Grundlage des Physisbegriffs ist die Beobachtung einer Regelmäßigkeit bei gleichzeitigem Fehlen einer beobachtbaren Verursachung; solches regelmäßige, nicht äußerlich verursachte Werden wurde als Physis bezeichnet in Anlehnung an den paradigmatischen Fall des freien, von keinem äußerlichen Zwang geleiteten Hervorwachsens der Pflanzen. Das fehlen eines äußeren Grundes führte zu der Annahme eines inneren Grundes, aus dem dieses Hervorwachsen gleichsam her-
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vorquillt. Auch dieser Grund wurde nun als Physis bezeichnet, und zwar wohl deshalb, weil er als Prinzip des physishaften Werdens das in sich bündelt, was diesem Werden wesentlich ist. Zweierlei wird dabei jedoch implizit vorausgesetzt: zum einen, daß jede Ordnung einer Ursache bedarf, die für die Ordnung verantwortlich ist, und zum anderen, daß es nicht nur äußere Ursachen gibt, sondern auch so etwas wie innere Ursachen. Beide Annahmen dürften sich heute wohl für die meisten Menschen nicht unbedingt von selbst verstehen. Dem steht nämlich die heute, wie mir scheint, weithin als plausibel erachtete Vorstellung entgegen, daß der schiere Zufall aus sich heraus Ordnung generieren könne. Diese Ansicht wurde indessen auch schon zur Zeit des Aristoteles vertreten, weshalb er sich in Phys. B 4–6 mit Zufall und Schicksal (τὸ αὐτόματον und τύχη) ausführlich auseinandersetzt. Gänzlich fremd war Aristoteles dagegen noch der Gedanke, daß jede Ordnung immer eine äußere und somit im Prinzip auch beobachtbare Ursache haben müsse, es also keine inneren, unbeobachtbaren Ursachen geben könne – ein Gedanke der, wie mir scheint, ursprünglich eng mit der Annahme eines Schöpfergottes zusammenhing, sich aber später von ihm vollkommen löste. Ist also die Ansicht des Aristoteles, daß es innere Ursachen gibt und diese immer dann anzunehmen sind, wenn etwas gemäß einer Ordnung geschieht, ohne daß eine äußere Ursache beobachtbar ist, voraussetzungsreicher und damit schwächer als die beiden anderen Positionen? Diese Vermutung liegt ja heute nahe. Sehen wir uns das also kurz an. Ich erwähnte bereits, daß der Gedanke von der Unmöglichkeit innerer Ursachen m.E. eng mit dem Konzept einer Schöpfung der Welt durch einen allmächtigen Schöpfergott zusammenhängt. Die Schöpfung der Welt wurde nämlich offenbar irgendwann – vielleicht aber auch von Anfang an, das tut hier nichts zur Sache – im Sinne einer voraussetzungslosen Verursachung aufgefaßt. Wenn nun aber das Gott-Sein Gottes gerade auch darin besteht, daß er alles Seiende, insofern es ist, geschaffen und d. h. eben verursacht hat, dann gerät die Vorstellung von inneren Ursachen zunächst in den Geruch der Blasphemie, um später dann vielleicht – nach einer gewissen Eingewöhnungsphase – zu einer selbstverständlichen Absurdität zu werden, wie das mit neuen, das Denken einer ganzen Epoche prägenden Vorstellungen wohl nicht so selten geschieht. Zwar wurden bis in die Neuzeit hinein allgemein noch innere Ursachen angenommen, diese verdankten ihre Existenz aber nun einer äußeren Ursache, nämlich der Schöpfung Gottes, wodurch sie ihrer Prinzipien-
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haftigkeit im eigentlichen Sinne beraubt und somit gewissermaßen entschärft waren. Dagegen scheint mir die Annahme, daß Ordnung aus dem Zufall hervorgehen könne, gewissermaßen nur eine Modifikation der anderen zu sein, daß es überhaupt nur äußere Ursachen gibt, zumindest insofern diese Annahme heute vertreten wird, zur Zeit des Aristoteles dürfte sie wohl einen anderen Ursprung gehabt haben. Ein Grund für diese Annahme in der Antike könnte gerade darin gelegen haben, den Kosmos als vergängliches und vollkommen sinnloses Gebilde zu erweisen, deren Ordnung letztlich nur Schein ist, wodurch der Kosmos vollkommen entwertet wird; zusammen mit dem Kosmos, der nunmehr selbst zum Vergänglichen zählt, beraubte man so nämlich zugleich auch alles Leiden, alle Angst und Schuld, ja selbst den Tod inklusive der Unterwelt ihrer Bedeutung, weil diese als Teile eines sinnlosen Ganzen auch selbst sinnlos und somit bedeutungslos wurden. Zusätzlich war es dadurch möglich, den Blick weg von den Wechselfällen des Lebens auf das Jenseits des Vergänglichen zu richten, z. B. auf die Ewigkeit der vier göttlichen Elemente, mit denen sich Empedokles offenbar sogar selbst unmittelbar identifizierte.138 Auch die Atomistik scheint eine solche vergleichgültigende Funktion gehabt zu haben, wie man noch deutlich bei Epikur erkennen kann, dem es darum ging, jeden objektiven Maßstab des Lebens zugunsten des rein subjektiven Gutes der Lust zu verabschieden. In der Moderne dagegen muß diese selbe Annahme aus einem anderen Motiv hervorgegangen sein, weil eine Entwertung und Vergleichgültigung der Welt, wie sie Folge dieser Ansicht ist, der Grundintention der Moderne, die nämlich gerade in der vollkommenen Hinwendung zur Welt besteht, eigentlich gänzlich zuwiderläuft.139 Möglicherweise ist die Ablehnung von den Dingen innewohnenden Prinzipien in der Neuzeit nur ein unausweichliches Nebenprodukt, das seinen Grund in der erwähnten Hinwendung zur Welt und der damit verbundenen gleichzeitigen Abwendung von einem allmächtigen Gott hat, denn diese führt zu einem enorm gesteigerten Kontrollbedürfnis gegenüber der Welt, weil diese nun eine ungeheuer große Bedeutung für das Glück des Menschen 138 Vgl. Oliver Primavesi: Empedokles Physika I. Eine Rekonstruktion des zentralen Gedankenganges, Berlin/New York 2008 (Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete, Beiheft 22), S. 47–57. 139 Daß m.E. auch Epikur als vermeintlicher Erzhedonist letztlich der Welt gleichgültig gegenüberstehen und sich also auch in gewisser Weise von ihr abwenden wollte, ist ganz und gar kein Widerspruch, wie man an dem stark asketischen Grundzug seines Hedonismus sieht.
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gewinnt. Das aber, was man kontrollieren will, darf möglichst kein Eigenleben haben, sonst ist eine vollkommene Kontrolle nicht möglich; also ist damit eine Rückkehr zur Annahme von inneren Prinzipien abgeschnitten. Die sich hier aufdrängenden Fragen, wie nun die Hinwendung zur Welt mit der Verabschiedung eines allmächtigen Gottes genau zusammenhängt, und was die Gründe für diese nicht nur geistesgeschichtliche Umwälzung waren, sind offenbar sehr schwierig zu beantworten, so daß ich in dieser Hinsicht noch nicht einmal Vermutungen anstellen will. Mit dem soeben Gesagten soll weder die Aristotelische Annahme von inneren Ursachen gerechtfertigt noch die beiden anderen Ansichten in ihrer Genese tatsächlich abschließend geklärt werden; das einzige Ziel war es, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Positionen dadurch herzustellen, daß folgende Aussage ein wenig wahrscheinlich wird: Die Annahme innerer Ursachen ist genauso viel oder wenig voraussetzungsreich und ebenso lebensweltlich verankert wie die anderen Positionen, auch wenn sie uns heute womöglich fremd geworden ist. Jeder theoretischen Position dürfte wohl etwas, was man eine existentielle Grundentscheidung nennen könnte, zugrunde liegen. Diese kann nicht wieder theoretisch gerechtfertigt werden, weil sie überhaupt erst den Rahmen des Plausiblen absteckt; ob aber diese Grundentscheidung nicht vielleicht Gründe anderer als theoretischer Art kennt, muß hier offen bleiben. Diese Relativität alles Denkens festzustellen, scheint mir deshalb besonders wichtig, weil andernfalls eine solche Untersuchung, wie wir sie hier durchführen, rasch eine bloß nostalgische Spielerei zu werden droht. Insofern jedoch jedem Denken eine solche existentielle Grundentscheidung zugrunde liegt, erweist es sich in dieser Hinsicht stets als eine wirkliche Alternative. Es bleibt nicht etwas nur Befremdliches und schlicht Falsches, sondern wird in seiner wesentlichen Fremdheit erfaßt als ein zwar ganz anderes aber dennoch gleich mögliches Inder-Welt-Sein.
4.2.2 Die dritte Bedeutungsebene des Ausdrucks „Physis“ Doch kehren wir zu unserem eigentlichen Gegenstand zurück. Es bleibt nämlich noch übrig, die dritte Bedeutungsebene an die soeben besprochene zweite anzuschließen, denn dies muß möglich sein, wenn es sich hier wirklich um aufeinander aufbauende Bedeutungsebenen handelt. Physis bezeichnet, wie wir sahen, zunächst eine Art des Werdens, so-
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
dann aber auch das Prinzip dieses Werdens. Es handelt sich dabei um ein Werden, dessen Ursache und Prinzip im Werdenden selbst zu suchen ist. Was heißt hier aber nun „im Werdenden selbst“? Es kann nur bedeuten, daß es mit dem Werdenden selbst oder einem konstitutiven Teil davon identisch ist, und zwar deshalb, weil alles andere streng genommen dem Werdenden als solchem äußerlich bliebe. Dieses ohne äußere Ursache Werdende, also das Hervorwachsende, weist nun zwei Aspekte auf, die ihm wesentlich sind: zum einen das erste Material, zum anderen die Form. Beides ist in gewisser Weise der Ausgangspunkt des Hervorwachsens und damit die als Prinzip und Quellgrund verstandene Physis.
4.2.2.1 Materie Beginnen wir zunächst mit dem ersten Material bzw. der ersten Materie.140 Diese wird von Aristoteles weiter unterteilt, so daß es streng genommen zwei Arten von erster Materie gibt, eine absolut und eine relativ erste Materie.141 Sehen wir uns dazu den im Zitat weiter oben ausgelassenen Einschub an: … (καὶ αὕτη διχῶς, ἢ ἡ πρὸς αὐτὸ πρώτη ἢ ἡ ὅλως πρώτη, οἷον τῶν χαλκῶν ἔργων πρὸς αὐτὰ μὲν πρῶτος ὁ χαλκός, ὅλως δ᾿ ἴσως ὕδωρ, εἰ πάντα τὰ τηκτὰ ὕδωρ) …142 … (und dieses auf zweifache Weise : entweder als das in Bezug auf ein Jeweiliges143 erste oder das schlechthin erste, so wie z. B. von den bronzenen Produkten das in Bezug auf diese Erste die Bronze ist, das schlechthin Erste dagegen vielleicht das Wasser, falls alles Schmelzbare Wasser ist) …
140 Mit diesem Ausdruck ist hier, wie gesagt, nicht das gemeint, was traditionellerweise prima materia genannt wird. 141 Diese Unterscheidung darf nicht mit der von generischer und präexistierender Materie von Mary Louise Gill in Verbindung gebracht werden, da sich letztere auf einen ganz anderen Aspekt des Werdensprozesses beziehen. Als präexistierende Materie bezeichnet Gill ein bestimmtes Stück Materie (z. B. ein Holzscheit), das Ausgangspunkt eines Werdens ist, in dessen Verlauf es aber als ein bestimmtes Seiendes gerade zerstört wird. Das, was hier relativ und absolut erste Materie genannte wird, fällt bei Gill beides unter den Begriff der generischen Materie. Vgl. Gill: Aristotle on Substance, a.a.O., S. 163 f. 142 Met. Δ 4, 1015a 7–10. 143 Im Prinzip könnte man das πρὸς αὐτὸ auch auf das φύσει ὄν beziehen, das ja im vorausgehenden Satz definiert wird (vgl. 1015a 6); dann könnte allerdings bei keinem Artefakt davon die Rede sein, daß ihm eine Materie zukommt, außerdem wäre das Beispiel dann (wieder einmal) sehr unpassend gewählt.
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Unter dem Material, das nicht ein schlechthin erstes ist, sondern nur ein relativ erstes, versteht Aristoteles offensichtlich alles, woraus als einem Ersten etwas von dem, was nicht von Natur (Physis) her ist, entweder besteht oder wird, und das ohne Ebenmaß ist und im Umwandlungsprozeß nicht von seinem eigenen Vermögen abgebracht wurde.144 Als Beispiel verweist Aristoteles wieder auf die bronzenen Artefakte, wobei er wohl vor allem an Bronzeplastiken denken dürfte, die ja zu seiner Zeit sehr verbreitet waren. Wie sich gezeigt hat, ist das relativ erste Material dadurch gekennzeichnet, daß es einerseits noch keine spezifische Formung erfahren hat, andererseits aber auch in seiner spezifischen Charakteristik erhalten bleibt. Angenommen bei einer großen Bronzestatue werden z. B. Rumpf, Extremitäten und Kopf jeweils einzeln gegossen; diese Teile sind somit auch ein Material, aus dem die Statue zusammengesetzt wird, jedoch nicht das erste Material, denn die Teile sind bereits spezifisch geformte Bronze, welche im weiteren Prozeß der Produktion der Statue unverändert erhalten bleibt. Nun ist jedoch auch die Bronze nicht einfach, sondern aus etwas anderem hervorgegangen, z. B. dem Erz, also einem Gestein, oder, wenn man ein bloßes Mineral-Aggregat verständlicherweise nicht als einheitliches Seiendes anerkennen will, aus einer Flüssigkeit, nämlich der geschmolzenen Bronze.145 Da das Flüssig-Sein eine wesentliche Eigenschaft des Wassers ist, scheint in der verflüssigten Bronze das Wasser seine Charakteristika zu verwirklichen, so daß die Annahme naheliegt (zumindest für einen antiken Menschen), daß in der Bronze Wasser enthalten ist, denn wie sollte die Bronze sich wässerig verhalten können, wenn nicht Wasser darin seine Natur entfaltet? Alles Schmelzbare scheint daher, weil es sich eben wie Wasser verhalten kann, in gewisser Weise auch Wasser zu sein. Es handelt sich hierbei allerdings wohlgemerkt nicht in erster Linie um die Theorie irgendeines Philosophen, sondern, wie gesagt, um einen durch die allgemeine antike Weltdeutung nahegelegter Eindruck, der von verschiedenen Philosophen philosophisch gedeutet wurde. Insofern ist der alleinige Verweis von Ross auf Platons Timaios, wo diese Ansicht vertreten werde146 , 144 Met. Δ 4, 1014b 27f: „… ἐξ οὗ πρώτου ἢ ἔστιν ἢ γίγνεταί τι τῶν μὴ φύσει ὄντων, ἀρρυθμίστου ὄντος καὶ ἀμεταβλήτου ἐκ τῆς δυνάμεως τῆς αὑτοῦ …“; siehe dazu auch die Ausführungen zur vierten Bedeutung von Physis (Physis als erstes Material) in Abschnitt 4.1.4 und insbesondere S. 147 ff, wo speziell dieses Zitat interpretiert wird. 145 Bronze ist nämlich wesentlich fest; im flüssigen Zustand hat sie sich daher nach antiker Auffassung schon wesentlich verändert. 146 Vgl. Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 1, S. 298.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
zu einseitig; dies zeigt allein schon ein Blick auf die weiter oben ausführlich besprochene Stelle Phys. B 1, 193a 9–28, wo die Ansicht, daß Bronze aus Wasser besteht, auch Antiphon zugeschrieben wird. Ob dieser Eindruck und seine philosophische Wendung richtig sind, will Aristoteles an dieser Stelle offenbar nicht beurteilen, obwohl freilich auch die demonstrative Zurückhaltung bereits ein Urteil enthält. Für Aristoteles selbst sind nämlich, wie er in De generatione et corruptione ausführt, alle nicht elementaren ersten Materialien unterschiedliche Mischungen der Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft.147 Allerdings ist für ihn eine Mischung etwas prinzipiell anderes als für uns heute. Wir verstehen unter einer Mischung etwas, in dem die einzelnen gemischten Stoffe immer noch als sie selbst erhalten bleiben, diese Erhaltung aber nicht mehr wahrnehmbar ist. Für Aristoteles dagegen ist eine Mischung kein solches gleichmäßiges Ineinander von Stoffen, sondern ein einheitliches, homoiomeres Seiendes je eigener Art, das auf den Skalen flüssig-fest und warm-kalt, welche auch die Elemente konstituieren, zwischen den sich mischenden Elementen steht. Diese Ansicht finden wir ebenfalls in De generatione et corruptione formuliert: φαμὲν δὲ δεῖν, εἴπερ μέμικται, τὸ μιχθὲν ὁμοιομερὲς εἶναι, καὶ ὥσπερ τοῦ ὕδατος τὸ μέρος ὕδωρ, οὕτω καὶ τοῦ κραθέντος·148 Wir sagen aber, daß das Gemischte, wenn es ja doch gemischt ist, gleichteilig (homoiomer) sein muß, und wie vom Wasser jeder Teil Wasser ist, so auch von dem Gemischten.
Eine genauere Untersuchung dieser interessanten Ansicht ist im Rahmen dieser Arbeit leider nicht möglich.149 Festzuhalten ist aber, daß die relativ erste Materie immer eine Mischung von Elementen ist, wobei unter „Mischung“, wie gesagt, etwas vollkommen Einheitliches zu verstehen ist und nicht nur so etwas wie ein fein gemischter Haufen aus zwei oder mehr Partikeln. Dennoch ist aus diesem Grund die relativ erste Materie nichts vollkommen erstes, denn ihr Sein setzt das Sein von etwas anderem voraus, nämlich dasjenige der Elemente. Daher ist das schlechthin erste Material identisch mit den Elementen der vorsokratischen Naturphilosophen, wobei an dieser Stelle zunächst die Frage, wieviele Elemente es gibt und welche es sind, offen bleibt. Aristoteles hat freilich Vgl. z. B. De gen. et. corr. B 8, 334b 31 ff. Gen. corr. A 10, 328a 10–12. 149 Vgl. aber dazu Gen. corr. A 10, 327a 30 – 328b 22. 147
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4.2 Form, Materie und die Einheit des Physisbegriffs
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auch diese Frage für sich längst entschieden, und zwar dahingehend, daß er Empedokles in seiner Vier-Elemente-Lehre folgt. Auch mit dem schlechthin ersten Material sind wir also noch nicht bei der klassischen prima materia angelangt. Ob es eine solche bei Aristoteles überhaupt gibt, werden wir zwar erst weiter unten klären150 , daß jedoch das hier als schlechthin erstes Material Bezeichnete für Aristoteles wohl nicht unbedingt schon die unterste Schicht der Materie darstellen dürfte, wird in De generatione et corruptione deutlich151 ; diese entscheidende Stelle werden wir weiter unten noch genauer betrachten.152 Aus dem Gesagten ergibt sich also ein differenziertes Bild des ersten Materials. Es lassen sich bei ihm mindestens zwei Ebenen unterscheiden: das schlechthin erste und das relativ erste Material. Hinzu kommt noch das bereits gestaltete Material, zu denen die Organe und die aus diesen bestehenden Körper der Lebewesen zählen. Hier ergibt sich jedoch ein kleines terminologisches Problem, denn auch die Organe werden von Aristoteles zwar ganz folgerichtig als ὕλη bezeichnet, wenn auch nicht als πρώτη ὕλη.153 Übersetzt man nun ὕλη grundsätzlich mit „Materie“, dann erweckt dies leicht den Eindruck, die Organe von Lebewesen stünden auf derselben oder einer ähnlichen ontologischen Ebene wie die gleichteilige Materie. Dieser Effekt rührt daher, daß der griechische Ausdruck ὕλη zwar ein alltagssprachlicher Terminus ist, der Ausdruck „Materie“ dagegen ein philosophischer und speziell ein ontologischer Fachterminus. In Wahrheit ist jedoch eine solche funktional geformte Materie wie ein Organ überhaupt nichts Eigenständiges, nicht einmal in dem eingeschränkten Sinne eines ersten Materials, denn nur die lebendige Hand ist im eigentlichen Sinne eine Hand, d. h. das, was sie wesentlich ist, wird nur durch die Funktion bestimmt, die sie im Ganzen und für das Ganze des lebendigen Organismus und seiner Lebensvollzüge erfüllt. Die Knochensubstanz dagegen erfüllt zwar auch eine Funktion für den Organismus im Ganzen, sie ist aber nicht dadurch bestimmt, sondern durch bestimmte intrinsische Eigenschaften wie z. B. Härte, weiße Farbe usw. Es ist daher bei der Rede von der Materie dieser Unterschied immer genau im Blick zu behalten. Um ihm gerecht zu werden, wollen wir im folgenden in Abgrenzung von der relativ ersten und der absolut Siehe Abschnitt 4.3.2.2. Vgl. Gen. corr. B 1, 329a 24–35. 152 Siehe S. 256. 153 Vgl. dazu Gen. an. A 1, 715a 8–11. 150 151
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
ersten Materie von der funktional strukturierten Materie oder auch kurz der funktionalen Materie sprechen.154 Daß nun freilich vieles von dem, was Aristoteles zu den Homoiomeren zählte, z. B. das Fleisch, für uns heute durchaus strukturiert ist und damit zur funktional strukturierten Materie zu zählen wäre, müßte hinsichtlich der daraus sich ergebenden Konsequenzen sicherlich noch genauer bedacht werden. Eigentlich können wir ja heute sogar auf Basis der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Theorien gar nichts mehr als homoiomer anerkennen, weil alles, wie allgemein angenommen wird, aus Elementarteilchen bestehe. Was allerdings ein Elementarteilchen wirklich ist, traut sich andererseits mittlerweile wohl kein einigermaßen nachdenklicher Zeitgenosse mehr zu sagen. Jedenfalls ist es weder elementar (denn es kann entstehen und vergehen, z. B. als virtuelles Teilchen im Zusammenhang der sog. Vakuumfluktuation) noch ein Teilchen (denn es kann sich auch wie eine Welle verhalten, ist also hinsichtlich seiner selbst offenbar weder ein Teilchen noch eine Welle). Was also die Materie ist, scheint heute wieder ganz offen zu sein. Damit sollten aber auch die prinzipiellen Überlegungen des Aristoteles eigentlich wieder an Aktualität gewinnen, was sich jedoch, soweit ich das beurteilen kann, in den gegenwärtigen philosophischen Diskursen nicht widerspiegelt. Einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Thema sind aber auch zugegebenermaßen sehr hohe Hürden gesetzt, da man sowohl in der Philosophie als auch in der modernen Physik über eingehende Kenntnisse verfügen müßte, was fast unmöglich ist. Ein möglicher Ansatzpunkt könnte jedoch dessen ungeachtet darin liegen, das Seiende nicht länger als ein bloß Vorliegendes zu verstehen, sondern wie Aristoteles als etwas gewissermaßen Tätiges, dessen Sein im Vollzug seiner selbst liegt. Ergänzend müßten dann aber auch die Phänomene wieder als ein Seiendes, das sich zeigt, ernst genommen werden, und zwar alle, nicht nur die unter Laborbedingungen erzeugten; das hätte u.a. zur Folge, daß die Materie nicht länger als das Seiende schlechthin angesehen und überhaupt erst als Materie, d. h. als erstes Material des Seienden, wiederentdeckt werden kann. Ein solches neuerliches Bedenken der Materie unter modernen Bedingungen bleibt aber wohl leider zur Zeit (und wohl auch noch in Zukunft) weitgehend ein Desiderat.
154 Diese naheliegende Bezeichnung verwendet auch Gill (vgl. dies.: Aristotle on Substance, a.a.O., S. 128–130).
4.2 Form, Materie und die Einheit des Physisbegriffs
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Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Hinzu kommt nämlich nun zu den drei besprochenen Materiearten ferner noch eine grundsätzlichere Ebene, die von Aristoteles ebenfalls als „Materie“ bezeichnet wird, ja vielleicht sogar streng genommen die eigentliche Materie ist. Wir wollen sie, um sie von den anderen Materiearten zu unterscheiden, im folgenden virtuelles Material bzw. virtuelle Materie nennen. Es handelt sich dabei um das, was den von Aristoteles angenommenen Umwandlungsprozessen der Elemente ineinander zugrunde liegt. Wir werden uns dieser Materie und der Frage, ob sie vielleicht mit der traditionellen prima materia identisch ist, ausführlich weiter unten widmen.155 Auf diese Stelle sei daher hier verwiesen. Damit sei der Überblick über die verschiedenen Ebenen der Materie abgeschlossen. Es stellt sich im Zusammenhang der Materie jedoch noch eine weitere Frage, nämlich die, worin die Einheit der Materie besteht, wenn diese doch vier verschiedene Bedeutungen hat. Die Antwort fällt nicht allzu schwer. Denn offenbar besteht diese darin, daß nichts von dem, was unter den Begriff der Materie fällt, für sich allein ein vollständiges Seiendes zu konstituieren vermag: die zuletzt erwähnte Materie kommt, wie Aristoteles explizit sagt, unabhängig von der absolut ersten Materie gar nicht vor156 , die erste Materie ist niemals eines, sondern stets in Gleiches teilbar, und der funktional strukturierten Materie kommt nur im Rahmen eines Gesamtorganismus ihre spezifische Funktion und damit ihr Sein zu. Zu diesen vier primären Bedeutungen von Materie gesellen sich in den Schriften des Aristoteles jedoch noch weitere, nämlich das den verschiedenen akzidentellen Veränderungsprozessen jeweils Zugrundeliegende. Es gibt dementsprechend noch die Materie der Ortsbewegung, der Beschaffenheit usw. Ferner tritt neben diese auch noch die ὕλη νοητή, die nur gedacht und nicht wahrgenommen wird.157 Diese Bedeutungen sind jedoch, wie immer sie sonst zu beurteilen sind, dem ursprünglichen, auf die Seiendheit und das damit verbundene Werden und Vergehen bezogenen Materiebegriff auf jeden Fall eindeutig nachgeordnet und auf diesen als die Hauptbedeutung bezogen.158 Wenn man daher verstehen will, um was es sich bei der Materie handelt, muß man deshalb auch nicht erst diese anderen Bedeutungen untersuchen, z. B. die ὕλη νοητή. Es dürfte Siehe Abschnitt 4.3.2.2. Vgl. Gen. corr. B 1, 329a 25 f. 157 Vgl. Met. Z 10, 1036a 8–12. 158 Vgl. Gen. corr. A 4, 320a 2–5. 155
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vielmehr gerade umgekehrt sein: nur auf der Grundlage einer gründlichen Untersuchung der Materie im Bereich der Seiendheit kann man verstehen, warum Aristoteles diesen Begriff auch in anderen Kontexten verwendet und was er dort genau durch diese Bezeichnung mit der ursprünglichen Materie in Analogie setzen will. Als Physis jedoch, und dies ist von besonderer Wichtigkeit, werden in Met. Δ 4 nur die absolut und die relativ erste Materie bezeichnet. Die funktional strukturierte Materie dagegen wird explizit ausgenommen159, die virtuelle Materie überhaupt nicht thematisiert. Vor diesem Hintergrund gilt es nun die Frage zu klären, inwiefern die Materie Physis und damit ein Prinzip des Werdens in dem Werdenden selbst ist. Hier stoßen wir nun in den Schriften des Aristoteles auf zwei Erklärungen. Eine findet sich im zweiten Buch der Physik: κλίνη δὲ καὶ ἱμάτιον, καὶ εἴ τι τοιοῦτον ἄλλο γένος ἐστίν, ᾗ μέν τετύχηκε τῆς κατηγορίας ἑκάστης καὶ καθ᾿ ὅσον ἐστὶν ἀπὸ τέχνης, οὐδεμίαν ὁρμὴν ἔχει μεταβολῆς ἔμφυτον, ᾗ δὲ συμβέβηκεν αὐτοῖς εἶναι λιθίνοις ἢ γηΐνοις ἢ μικτοῖς ἐκ τούτων, ἔχει, καὶ κατὰ τοσοῦτον, ὡς οὔσης τῆς φύσεως ἀρχῆς τινὸς καὶ αἰτίας τοῦ κινεῖσθαι καὶ ἠρεμεῖν ἐν ᾧ ὑπάρχει πρώτως καθ᾿ αὑτὸ καὶ μὴ κατὰ συμβεβηκός ….160 Ein Bett dagegen und ein Mantel, und was es sonst noch für andere derartige Gattungen von Gegenständen gibt, das hat, insofern es der jeweiligen Bezeichnung teilhaftig und insoweit es durch Kunstfertigkeit ist, keinen eingeborenen Drang zur Veränderung, insofern es sich diesem aber so ergeben hat, daß es steinern oder irden oder aus diesen gemischt ist, hat es einen solchen Drang, und auch in genau dem Maße, wie dies zutrifft, und zwar deshalb, weil die Physis ein gewisser Ursprung und Grund des Sich-Bewegens und Ruhens dessen ist, in dem sie in ursprünglicher Weise hinsichtlich seiner selbst und nicht hinsichtlich dessen, was sich so ergeben hat, vorhanden ist ….
Stein und Erde werden hier deshalb (indirekt) als Physis bezeichnet, weil dem durch sie (teilweise) konstituierten Seienden ein Drang zur Veränderung rein hinsichtlich seiner selbst innewohnt. Bei diesem Drang denkt Aristoteles in dem konkreten Fall vielleicht z. B. daran, daß steinerne und irdene Gegenständen nach unten fallen, sobald man sie losläßt. Diese Erklärung verbindet also die Materie unmittelbar mit der zweiten Bedeutungsebene des Ausdrucks „Physis“. Die Materie erscheint hier also unmittelbar als eine Instantiierung des allgemeinen Physisbegriffs. Vgl. Met. Δ 4, 1014b 27f: „ἀρρυθμίστου ὄντος“. Phys. B 1, 192b 16–23.
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Auf die zweite Thematisierung der Frage, warum die Materie eine Physis ist, stoßen wir im fünften Buch der Metaphysik, und zwar in dem zentralen Abschnitt Met. Δ 4, 1015a 13–19, der in seiner Bedeutung zwar m.E. nicht leicht überschätzt werden kann, in der bisherigen Forschung jedoch merkwürdigerweise kaum beachtet wurde. Er befaßt sich genau mit der Frage nach dem Zusammenhang der einzelnen bisher thematisierten Aspekte der Physis und beantwortet diese dadurch, daß er die einzelnen Aspekte in eine Pros-hen-Struktur einordnet. Eine Pros-henStruktur ist dadurch gekennzeichnet, daß die verschiedenen Bedeutungen eines Ausdrucks weder einfach nur homonym nebeneinander stehen noch identisch sind, sondern in charakteristischer Weise auf eine Hauptbedeutung hingeordnet sind. Aristoteles erläutert dies paradigmatisch am Beispiel der Ausdrücke „gesund“ und „ärztlich“.161 Gesund z. B. kann ganz verschiedenes sein: ein Mensch, ein Medikament, ein Spaziergang usw. Jedes ist auf eine andere Weise gesund, ein Mensch anders als ein Medikament und dieses wieder anders als ein Spaziergang. Dennoch stehen diese Bedeutungen nicht nur einfach nebeneinander, vielmehr sind sie auf eines (πρὸς ἕν) hingeordnet, nämlich auf die Gesundheit des Körpers. Auf dieselbe Weise verhält es sich nun auch mit dem Ausdruck „Physis“, zumindest behauptet dies Aristoteles. Ich werde nun den Abschnitt, in dem er aufzuzeigen versucht, daß die verschiedenen Bedeutungen von Physis eine Einheit im Sinne einer solchen Pros-hen-Struktur aufweisen, im folgenden zunächst nicht zusammenhängend zitieren und diskutieren, weil er nämlich auch schon die Form thematisiert, die wir erst im Anschluß genauer besprechen wollen. Wir müssen hier aber dennoch schon etwas vorgreifen, um unsere Überlegungen zur Materie zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen. Ein strenges Einhalten der Gliederung ist hier auch, wie m.E. in der Ontologie überhaupt, kaum möglich, weil die einzelnen Teile einfach zu sehr ineinandergreifen, ja gleichsam ineinander verwoben sind. Der hier einschlägige Satz des gleich noch genauer zu besprechenden Abschnitts lautet also: ἡ γὰρ ὕλη τῷ ταύτης δεκτικὴ εἶναι λέγεται φύσις …162 Das Material nämlich wird Physis genannt, weil es für diese aufnahmefähig ist … Met. Γ 2, 1003a 33 – 1003b 4. Met. Δ 4, 1015a 13–19.
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ταύτης verweist hier auf „die Seiendheit dessen, was den Ursprung von Bewegung in sich selbst, insofern es es selbst ist, hat“, wie sich eindeutig aus dem Kontext ergibt.163 Daß mit diesem Ausdruck wiederum die Form gemeint ist, geht aus dem Abschnitt 1014b 35 – 1015a 5 ebenso eindeutig hervor. Die entscheidende Frage für die Interpretation dieses Satzes scheint daher „nur“ noch die zu sein, was unter „aufnahmefähig“ (δεκτική) hier zu verstehen ist. Was bedeutet es, daß das Material bzw. die Materie aufnahmefähig ist für die Form? Allerdings ist bei genauerem Hinsehen auch noch nicht ganz klar, von welcher Form hier überhaupt die Rede ist. Beginnen wir mit der letzten Frage. Zwei Möglichkeiten bieten sich hier an: entweder die gemeinte Form umfaßt auch die unvollständige Form der Materie selbst, oder sie ist auf die Form des im eigentlichen Sinne Seienden beschränkt, also auf das, was hinsichtlich seiner selbst eine unteilbare Einheit, ein Individuum ist. Die erste Möglichkeit erscheint zunächst nicht sehr wahrscheinlich, denn dann müßte mit „Materie“ hier ja die virtuelle Materie gemeint sein, die im Rest von Met. Δ 4 nicht nur nicht thematisiert wird, sondern offenbar noch nicht einmal implizit eine Rolle spielt. Ist also mit „Form“ hier ausschließlich die Wesensform der Individuen gemeint? Könnte mit ὕλη hier vielleicht nicht doch die virtuelle Materie und mit οὐσία die Form im weiteren Sinne gemeint sein? Die Frage scheint nicht ohne weiteres beantwortbar zu sein. In der Hoffnung, daß sich diese Frage im folgenden noch entscheiden lassen wird, wenden wir uns daher nun der anderen Frage zu, nämlich der danach, was es heißt, daß die Form (was immer nun darunter verstanden werden muß) von der Materie aufgenommen wird. Auch „aufnehmen“ kann nun allerdings, wie mir scheint, zwei Bedeutungen haben: Entweder es bedeutet, daß die Materie die Form beherbergt, unabhängig davon, ob letztere dem Vermögen oder der Verwirklichung nach vorliegt; oder es bedeutet ausschließlich das Beherbergen der Form der Verwirklichung nach, also gleichsam ein überformt sein. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Der Samen einer Pflanze beherbergt die dem Vermögen nach vorliegende Form und ist zugleich durch den Mangel an Form formal bestimmt, das Material dagegen, aus dem die fertige Pflanze besteht (also beispielsweise Holz, Wasser, Blätter), beherbergt die verwirklichte Form dadurch, daß das aus diesem Material bestehende Seiende die Form hat. Das allerdings, was beim Hervorwachsen der Pflanze Siehe das vollständige Zitat des Abschnitts auf S. 172.
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die Kontinuität zwischen Samen und fertiger Pflanze gewährleistet, was immer das auch sein mag, beherbergt beides, sowohl die Form als ein Vermögen betrachtet als auch die Form als Verwirklichung verstanden.164 Der letzte Satz von Met. Δ 4 scheint nun in dieser Frage den entscheidenden Hinweis zu liefern. Er lautet: καὶ ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως τῶν φύσει ὄντων αὕτη ἐστίν, ἐνυπάρχουσά πως ἢ δυνάμει ἢ ἐντελεχείᾳ.165 Und der Ursprung der Bewegung des von Natur (Physis) Seienden ist diese , indem sie darin entweder dem Vermögen nach oder der Verwirklichung nach in gewisser Weise „vorhanden“ ist.
Der Ursprung der Bewegung des von Natur Seienden zu sein, ist das, was gerade die Physishaftigkeit der Physis ausmacht.166 Die Seiendheit und damit die Form ist also die Physis und insofern auch der Ursprung der nicht äußerlich verursachten Bewegung, wobei Bewegung hier wohl als Veränderung überhaupt verstanden werden muß. Wie kann die Seiendheit aber eine solche Ursache sein? Auch darauf gibt Aristoteles eine Antwort: die Seiendheit ist Ursache von Veränderungen, indem sie sowohl dem Vermögen als auch der Verwirklichung nach in einem Seienden vorhanden sein kann und, das muß man wohl ergänzen, das Vermögen eine Tendenz zu seiner Verwirklichung hat. Das Vermögen strebt danach, sich zu verwirklichen, ansonsten wäre es kein Vermögen, keine Kraft, sondern eine bloße Denkmöglichkeit. Die Physis ist daher sowohl der Quellgrund des Hervorwachsens als auch die Seiendheit des verwirklichten Seienden, und zwar deshalb, weil beides nur verschiedene Erscheinungsweisen der Seiendheit sind. Die Materie ist also Physis, weil sie aufnahmefähig ist für die Form. Daß die Materie neben der Form eine Art zweiter Physis darstellt, kann nur bedeuten, daß sie in gewisser Weise auch ein Quellgrund des Hervorwachsens ist, nicht jedoch, daß sie schon das im eigentlichen Sinne Seiende wäre, wie das die vorsokratischen Naturphilosophen dachten. Denn das im eigentlichen Sinne Seiende ist für Aristoteles das natürliche einzelne Individuum, die Materie ist aber weder ein Individuum noch etwas Einzelnes (nichts nämlich, was in der Teilung identisch erhalten 164 Diese Zusammenhänge werden weiter unten noch genauer beleuchtet; siehe Abschnitt 4.3. 165 Met. Δ 4, 1015a 17–19. 166 Vgl. Phys. B 1, 192b 21–23.
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bleibt, kann etwas Einzelnes und damit etwas räumlich Lokalisierbares sein). Ein Quellgrund des Hervorwachsens ist die Materie nun dadurch, daß sie einerseits ein Seinsvermögen und damit die Seiendheit dieses Seins dem Vermögen nach in sich aufnehmen kann und andererseits auch fähig ist die verwirklichte Seiendheit zu beherbergen. Denn dadurch kann sie den Übergang zwischen dem Vermögen und der Verwirklichung bzw. die Verwirklichung des Vermögens vermitteln, wobei wir die Frage, wie das genau geschieht, zunächst noch ausklammern wollen. Das Problem nämlich, das die Materie löst, scheint mir darin zu bestehen, daß ein Vermögen nicht für sich selbst vorliegen kann, sondern immer das Vermögen von etwas sein muß. Dadurch nun, daß die Materie nur gleichsam in akzidenteller Hinsicht etwas ist, kann sie zum einen das Vermögen beherbergen, denn sie ist ja schließlich etwas, also ein Seiendes, zum anderen aber auch von der Verwirklichung überformt werden, da sie gerade hinsichtlich ihrer selbst kein vollständiges Seiendes ist und damit gleichsam Platz läßt für eine individualisierende Form. Daher ist es vielleicht nicht notwendig, Aristoteles hier einen stillschweigenden Übergang von dem Verständnis der Materie als erstem Material zu dem Verständnis derselben als einem virtuellen Material zu unterstellen. Aristoteles könnte hier einfach auch ganz allgemein von der Materie als dem, was natürlichen Veränderungen als eine Art Material zugrunde liegt sprechen. Aber auch wenn er hier noch ausschließlich an das absolut und relativ erste Material gedacht haben sollte, so ist doch bereits eindeutig der Weg zum virtuellen Material vorgezeichnet. Hierzu muß man nur den Formbegriff weiter fassen, so daß er auch noch die unvollständige Form der Materie selbst mitumfaßt. Die paradigmatische Grundlage bleibt aber immer der aus der Analyse der vorsokratischen Naturphilosophie gewonnene Materiebegriff, den wir weiter oben ausführlich dargestellt haben. Wird bei Aristoteles also die Materie als Physis bezeichnet, so können damit zwei Aspekte gemeint sein: zum einen der ihr selbst hinsichtlich ihrer selbst eigentümliche Drang, der freilich nur in einem eingeschränkten Sinne Physis ist, weil er sein Ziel, ein Seiendes zu konstituieren, nicht aus eigener Kraft erreichen kann, und zum anderen ihre Rolle im Prozeß des Hervorwachsens von etwas anderem, mit dem sie nicht identisch ist. Vermittelt werden beide Aspekte erst durch die Einführung einer virtuellen Materie, denn diese hat hinsichtlich ihrer selbst keine Tendenz mehr und stellt nur noch ein aufnehmendes Prinzip dar. Jedes Streben und Vermögen kann somit auf die Anwesenheit eines formalen Prinzips
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zurückgeführt werden, das sich im Modus der Verborgenheit bzw. des Vermögens befindet und nach Entfaltung verlangt.
4.2.2.2 Form Kommen wir nun zu dem, was Aristoteles, wie wir gleich sehen werden, als Physis im eigentlichen Sinne bezeichnet, nämlich der Form. Bereits in 1015a 11 wurde diese in entscheidender Weise als Ziel des Werdens charakterisiert: τοῦτο δ᾽ ἐστὶ τὸ τέλος τῆς γενέσεως.167 Diese aber ist das Ziel des Werdens.
Unter Form versteht Aristoteles also das Sein eines Seienden, das ihm rein hinsichtlich seiner selbst zukommt und es allererst zu dem Seienden macht, das es ist; es entspricht der vollendeten Gestalt des Seienden als eines reinen Vollzugs seiner selbst. Solange dieses wesentliche Sein einem Seienden noch nicht der Wirklichkeit nach zukommt, d. h. solange es dieses Sein noch nicht tatsächlich vollzieht, ist es mangelhaft und bedarf der weitergehenden Entfaltung seines Seins; käme ihm dieses Streben nicht auf irgendeine Weise zu, könnte man nicht davon sprechen, daß es ein durch dieses Sein bestimmtes Seiendes ist, denn das einzige, was vorerst das Seiende mit dem ihm wesentlichen Sein verbindet, ist eben dieses Streben. Das noch unentfaltete und insofern mangelhafte Seiende muß also erst noch zu dem werden, was es vorerst nur dem Vermögen nach ist. Hat es dann aber sein wesentliches Sein verwirklicht, dann kann man nicht länger davon sprechen, daß es noch nach etwas verlangt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß damit auch die Tätigkeit des Seienden erlöschen müßte. Seine Tätigkeit ist dann nämlich in jedem einzelnen Moment Ausdruck seines wesentlichen Seins, ja sie ist nichts anderes als dieses Sein, das es eben zu dem Seienden macht, das es ist. Dies nun ist, wie mir scheint, gemeint, wenn Aristoteles die Form als Ziel oder besser Vollendung168 des Werdens bezeichnet. Vgl. Met. Δ 4, 1015a 11. „Vollendung“ ist vielleicht sogar die bessere Übersetzung für den griechischen Ausdruck τέλος, weil mit „Ziel“ zu stark die Vorstellung eines zu erreichenden Ortes verbunden ist (wie z. B. bei dem Ziel eines Wettlaufs oder einer Wanderung); „Ziel“ verbindet man daher unwillkürlich meist mit der Vorstellung einer rein äußerlichen, der Sache an sich gleichgültigen, also akzidentellen Veränderung. „Vollendung“ dagegen ist wesentlich das Erreichen eines in der Sache selbst angelegten Ziels 167
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Die so verstandene Form nun, erklärt Aristoteles, sei auch die Physis – also der Quellgrund des Hervorwachsens – im eigentlichsten Sinne, d. h. die Form stelle die Hauptbedeutung dar, auf die sich alle anderen Bedeutungen in Gestalt einer Pros-hen-Struktur beziehen; und dies, so schickt er voraus, ergebe sich aus dem zuvor gesagten. Bevor wir uns nun mit dieser Aussage genauer befassen, werfen wir einen Blick auf die betreffende Passage in ihrem ganzen Zusammenhang, wir schließen also auch die bereits weiter oben besprochenen Teile mit ein. Diese Passage lautet wie folgt: ἐκ δὴ τῶν εἰρημένων ἡ πρώτη φύσις καὶ κυρίως λεγομένη ἐστὶν ἡ οὐσία ἡ τῶν ἐχόντων ἀρχὴν κινήσεως ἐν αὑτοῖς ᾗ αὐτά· ἡ γὰρ ὕλη τῷ ταύτης δεκτικὴ εἶναι λέγεται φύσις, καὶ αἱ γενέσεις καὶ τὸ φύεσθαι τῷ ἀπὸ ταύτης εἶναι κινήσεις. καὶ ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως τῶν φύσει ὄντων αὕτη ἐστίν, ἐνυπάρχουσά πως ἢ δυνάμει ἢ ἐντελεχείᾳ.169 Wie sich also aus dem Gesagten ergibt, ist die erste Physis, d. h. das in ausschlaggebender Weise Physis Genannte, die Seiendheit dessen, was den Ursprung von Bewegung in sich selbst, insofern es es selbst ist, hat. Das Material nämlich wird Physis genannt, weil es für diese aufnahmefähig ist, und die Werdeprozesse, d. h. das Hervorwachsen, weil sie von dieser ausgehende Bewegungen sind. Und der Ursprung der Bewegung des von Natur (Physis) Seienden ist diese, indem sie darin entweder dem Vermögen nach oder der Verwirklichung nach in gewisser Weise „vorhanden“ ist.
Diese Passage ist, was man leicht übersehen kann, überaus komprimiert und dicht. Wir werden sie daher im folgenden Schritt für Schritt erörtern müssen, wobei man insgesamt vier Einzelaussagen unterscheiden kann: 1. Wie sich also aus dem Gesagten ergibt, ist die erste Physis, d. h. das in ausschlaggebender Weise Physis Genannte, die Seiendheit dessen, was den Ursprung von Bewegung in sich selbst, insofern es es selbst ist, hat. 2. Das Material nämlich wird Physis genannt, weil es für die Seiendheit aufnahmefähig ist, 3. und die Werdeprozesse, d. h. das jeweilige Hervorwachsen, weil sie von der Seiendheit ausgehende Bewegungen sind. 4. Und auch der Ursprung der Bewegung des von Natur (Physis) Seienden ist die Seiendheit, indem sie in dem von Natur Seienden irgendund trifft damit, wie mir scheint, sehr gut das, was Aristoteles meinte, wenn er vom τέλος sprach. 169 Met. Δ 4, 1015a 13–19.
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wie entweder dem Vermögen nach oder der Verwirklichung nach vorhanden ist. Dieser Gliederung werden wir in der weiteren Erörterung folgen; einige Punkte werden aber kürzer abgehandelt werden können als andere, weil sie bereits weiter oben ausführlich besprochen wurden. Daß sie nicht einfach ausgelassen werden können, hängt damit zusammen, daß sie auch für das Verständnis der Form von Bedeutung sind. Der erste Satz behauptet zunächst, daß sich das folgende auf offensichtliche Weise (der Aspekt des Offensichtlichen schwingt immer im Wörtchen δὴ mit, auch wenn es wie hier mit „also“ übersetzt wird) aus dem zuvor gesagten ergibt. Zuvor wurde aber nur auf den allgemein verbreiteten und den philosophischen Sprachgebrauch rekurriert. Aristoteles ist also der Ansicht, daß sich die wahre Bedeutung von Physis allein aus dem genauen Hören auf den Sprachgebrauch ergibt. Dahinter dürfte wieder die bereits diskutierte170 Überzeugung stehen, daß kein λόγος, insofern er wirklich ein λόγος ist und nicht ein bloßes Aneinanderreihen von Wörtern, die Wahrheit ganz verfehlen kann.171 Die Aufgabe des Philosophen ist es daher, aus den versammelten λόγοι heraus die Wahrheit ans Licht zu heben. Dies tut nun Aristoteles, wenn er sagt, daß die Seiendheit des Seienden, das den Ursprung von Veränderung in sich selbst hat, die erste Physis sei. Erstes ist sie im Sinne der Hauptbedeutung einer Pros-hen-Struktur, was Aristoteles dadurch deutlich machen will, daß er der Wendung „erste Physis“ die Ergänzung „d.h. das in ausschlaggebender Weise Physis Genannte“ (ἡ πρώτη φύσις καὶ κυρίως λεγομένη) hinzufügt. Inwiefern folgt dies aus dem zuvor Gesagten? Die Begründung liefert der Rest der Passage, also die Punkte zwei bis vier. Hier wird nämlich gezeigt, wie sich die anderen Bedeutungen von Physis jeweils auf die erste beziehen. Sehen wir uns das genauer an. Die Materie werde Physis genannt, behauptet Aristoteles, weil sie für die Form aufnahmefähig ist. Was damit gemeint ist, haben wir zwar schon besprochen, der Vollständigkeit halber wollen wir es hier aber dennoch noch einmal rekapitulieren. Daß die Materie aufnahmefähig ist Siehe S. 147 ff. Vielleicht könnte man diese Überzeugung auch aus dem Wesen des λόγος heraus begründen. Dieses Wesen des λόγος nämlich besteht im Offenbarmachen des Seienden; darin besteht die Wahrheit des λόγος. Wäre nun ein λόγος vollkommen falsch, dann würde ihm auch das Wesen des λόγος fehlen, er wäre also gar kein λόγος mehr, sondern bloß eine Ansammlung leerer Worte. Es gäbe hier also auch gar nichts mehr zu verstehen und auch nichts zu widerlegen. 170 171
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für die Form, ergibt sich allein schon daraus, daß die Materie eben Materie und d. h. Material ist. Jedes Material muß schließlich der Formung zugänglich sein, sonst wäre es kein Material. Daß speziell das erste Material formbar ist, hat seinen Grund darin, daß es hinsichtlich seiner selbst nicht ein einzelnes Individuum konstituiert, was sich z. B. in seiner Teilbarkeit manifestiert. Der tiefere Grund dafür ist in der Unvollständigkeit der Form zu suchen, die der Materie hinsichtlich ihrer selbst zukommt; diese hat nämlich gerade keine wahre Einheit und läßt so die räumlichen Grenzen des Seienden und seine innere Struktur unbestimmt. Warum aber soll nun dies dafür verantwortlich sein, daß die Materie Physis genannt wird? Unter Physis verstand man zur Zeit des Aristoteles, wie wir gesehen haben, insbesondere den Quellgrund des Hervorwachsens, d. h. des freien Aus-sich-selbst-hervorgehen-Lassens. Das, was hervorwächst, muß aber jeweils ein individuelles Seiendes sein, denn nur dieses ist nach Aristoteles im eigentlichen Sinne und kann somit das letzte Ziel eines Werdens sein, wenn denn das Werden immer auf ein Sein abzielt; nur das Individuelle ist nämlich im vollen Sinne des Wortes eines und damit ein Seiendes im vollen Sinne des Wortes, da Einheit und Seiendheit untrennbar zusammen gehören.172 Weil aber das, was hervorwächst, den Grund seines Werdens, der mit dem Ziel des Werdens identisch ist, in sich selbst haben muß, kann das erste Material nicht ein solcher Quellgrund und damit Physis sein. Denn das erste Material ist zwar in gewisser Weise formal bestimmt, da es hinsichtlich seiner selbst auf eine bestimmte Weise ist; diese Form ist jedoch unvollständig und bestimmt daher kein individuelles Seiendes. Der der Materie innewohnende Drang, auf den sich Aristoteles zu Beginn des zweiten Buchs der Physik bezieht173 , entspringt daher streng genommen nur einer Physis im eingeschränkten Sinne. Physis im vollen Wortsinne kann es nur genannt werden, insofern es dadurch der Ausgangspunkt eines vollen physishaften Werdens sein kann, daß es eine ein individuelles Seiendes konstituierende Form entweder dem Vermögen oder der Verwirklichung nach beherbergt. In gewisser Weise kann aber freilich auch die formale Bestimmtheit des ersten Materials Physis genannt werden, was, wie gesagt, bereits auf die als virtuelles Material verstandene Materie vorausdeutet, die nur noch ein aufnehmendes Prinzip ist.
Vgl. Met. Γ 1, 1003b 23–36; Z 16, 1040b 16–19. Vgl. Phys. B 1, 192b 18.
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Nun gibt es aber neben der Hauptbedeutung „Quellgrund des Hervorwachsens“ noch eine andere Bedeutung von Physis, nämlich die erste: Physis als Prozeß des Hervorwachsens. Dieser wird nach Aristoteles deshalb Physis genannt, weil er von dem Quellgrund ausgeht. Dies ist wohlgemerkt keine etymologische These, sondern eine, die sich auf die Rolle dieser Bedeutung in der Pros-hen-Struktur bezieht. Aristoteles will also nicht sagen, daß das Wort φύσις zuerst nur den Quellgrund bezeichnete und erst später auch auf den daraus entspringenden Prozeß des Hervorwachsens angewandt wurde. Das Einzige, was Aristoteles hier behauptet, ist, daß beides deshalb mit dem gleichen Wort bezeichnet wird, weil das eine aus dem anderen hervorgeht. Zu einigem Nachdenken kann in diesem Zusammenhang allerdings die Wortwahl des Aristoteles Anlaß geben. Er gebraucht hier nämlich drei Ausdrücke: γένεσις (im Plural), φύεσθαι und κίνησις (ebenfalls im Plural). Ich habe dies, wie aus der obigen Übersetzung ersichtlich, so verstanden, daß die Werdeprozesse (γενέσεις) durch das φύεσθαι auf eine bestimmte Art von Werdeprozessen eingeschränkt werden sollen, nämlich auf das eigentliche Werden, bei dem wirklich etwas wird, was vorher nicht da war. Unter die Werdeprozesse fällt nämlich auch das artifizielle und das zufällige Werden, z. B. das Werden eines Tisches oder einer Pfütze; diese jedoch gehen beide nicht von einer Physis im Sinne eines Quellgrunds des Hervorwachsens aus und generieren auch kein wirklich neues Seiendes, sondern sind eher Modifikationen von bereits Bestehendem. Aristoteles spricht hier also, wie mir scheint, nicht von den Werdeprozessen im allgemeinen, sondern nur von denen, die in der Art des Hervorwachsens ablaufen; diesen Sachverhalt nun will er, wenn diese Interpretation richtig ist, durch das Hinzufügen von φύεσθαι klarstellen. Die Frage, warum er dann aber schließlich noch einmal einen anderen Ausdruck, nämlich κίνησις, wählt, läßt sich dagegen m.E. recht einfach erklären: κίνησις ist der gegenüber dem Werden allgemeinere Begriff und dient hier demnach als eine Art genus proximum für die Bestimmung des eigentlichen Werdens: Werden (im eigentlichen Sinne) ist eine von der Form des werdenden Seienden selbst ausgehende Bewegung. „Bewegung“ verwendet Aristoteles hier (wie auch anderswo) im Sinne einer Veränderung überhaupt. Wie es möglich ist, daß eine Bewegung von dem ausgeht, was das Sich-Bewegende hinsichtlich seiner selbst ist, klärt Aristoteles im nächsten Schritt.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
4.2.2.3 Die Form als Dynamis und Entelechie Wir kommen nun also zur vierten und letzten Aussage der Passage. Zur Erinnerung sei sie noch einmal hier angeführt: καὶ ἡ ἀρχὴ τῆς κινήσεως τῶν φύσει ὄντων αὕτη ἐστίν, ἐνυπάρχουσά πως ἢ δυνάμει ἢ ἐντελεχείᾳ.174 Und der Ursprung der Bewegung des von Natur (Physis) Seienden ist diese , indem sie darin entweder dem Vermögen nach oder der Verwirklichung nach in gewisser Weise „vorhanden“ ist.
Dieser Satz ist sicherlich der am schwersten zu interpretierende. Die Probleme beginnen bereits damit, daß nicht recht klar ist, wie er sich an die vorausgehenden anschließt. Rein grammatikalisch gesehen übernimmt zwar die Konjunktion καὶ die Funktion der Verknüpfung, doch damit ist nicht viel gewonnen, weil das καὶ keinen Hinweis auf die Funktion des Satzes im Kontext der ganzen Passage enthält. Gehört dieser Satz noch zu der Begründung der Priorität der Form? Dies scheint so zu sein, zumindest wird hier nichts anderes behauptet. Dennoch haben wir es hier mit einer ganz anderen Art der Begründung zu tun. Die Aussagen zwei und drei nämlich begründeten die Priorität durch den Nachweis, daß die anderen Bedeutungen von Physis hinsichtlich ihrer jeweiligen Physishaftigkeit auf die Form bezogen und von dieser abhängig sind. Diese Aussage hier bezieht sich jedoch nicht auf eine weitere, der primären nachgeordnete Bedeutung von Physis, deren Nachrangigkeit gerade gezeigt werden soll; mit den Aussagen zwei und drei sind bereits alle anderen Bedeutungen abgehandelt. Vielmehr tritt hier gerade die primäre Bedeutung von Physis ins Blickfeld, auf die die beiden anderen Bedeutungen bezogen sind, nämlich die Physis als ἀρχὴ τῆς κινήσεως τῶν φύσει ὄντων, also als Ursprung der Bewegung (im weitesten Sinne) von solchem Seienden, das diesen Ursprung in sich selbst hat. Die Form wird hier also bezogen auf die Physis im Sinne der Bedeutungen zwei und drei, und zwar wird dieser Bezug durch eine Identitätsaussage hergestellt: Die Form ist identisch mit der Hauptbedeutung von Physis, auf die sich die anderen Bedeutungen beziehen.
Met. Δ 4, 1015a 17–19.
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a) Dynamis Doch damit kann es Aristoteles noch nicht bewenden lassen. Es stellt sich nämlich noch die Frage, wie die Form – also das, was ein Seiendes rein hinsichtlich seiner selbst ist – eine solche Ursache von Veränderung sein kann. Denn man könnte ja einwenden, daß ein Seiendes immer das sei, was es eben ist, daher könne die Form nicht die Ursache von Veränderungen im Sinne des Hervorwachsens sein. Denn wenn es ist, was es ist, gibt es für das Seiende hinsichtlich seiner selbst kein Defizit, das es durch ein aus sich selbst entspringendes Streben überwinden müßte; es muß ja hinsichtlich seiner selbst nichts mehr werden, weil es hinsichtlich des Seins, das es eben gerade ist, schon „vollkommen“ ist, ja es würde sogar jedes Werden die Form zerstören. Kann es sich aber nicht trotzdem noch aus sich selbst heraus hinsichtlich dessen verändern, was es nicht aufgrund seiner selbst ist, d. h. in akzidenteller Weise? Nein, auch das ist nicht möglich, zumindest nicht aufgrund der Form, denn diese behält ja nichts sozusagen zurück, wenn sie sich verwirklicht hat, aus dem dann anderes Sein hervorgehen könnte; die Form ist eben das wesentliche Sein des Seienden und nichts weiter. Akzidentelles Sein kann auch immer nur durch akzidentelles Werden entstehen. Diese prima facie so harmlose Ansicht, daß jedes Seiende das ist, was es eben ist, scheint nun gerade die typisch neuzeitliche und moderne Ansicht zu sein. Aus ihr folgt jedoch das gar nicht mehr so harmlose Resultat, daß es gar kein wesentliches, nicht von außen erzwungenes und somit freies Werden geben kann. Alles, was es noch geben kann, ist ein akzidentelles Werden und das einzige Streben des Seienden, das ihm hinsichtlich seiner selbst noch verbleibt, ist das beharren in seiner Form, und zwar jeweils der, die es zufälligerweise gerade hat, woraus sich dann z. B. unmittelbar das Trägheitsprinzip ergibt. Aristoteles jedoch weist den Satz, daß alles ist, was es ist, zurück, oder besser gesagt: er differenziert hier. Der Fehler dieser Ansicht besteht nämlich darin, daß sie nicht zwischen dem Sein der Möglichkeit nach und dem Sein der Wirklichkeit nach unterscheidet. Ein Seiendes kann also sehr wohl sein, was es nicht ist, nämlich dann, wenn es etwas nur der Möglichkeit nach ist. Ein keimender Samen z. B. ist zwar noch kein Baum der Wirklichkeit nach, doch sehr wohl ist er dergleichen schon der Möglichkeit nach. Diese hier gemeinte Möglichkeit darf allerdings weder als bloße Denkmöglichkeit bzw. logische Möglichkeit noch als das, was
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Nicolai Hartmann „Realmöglichkeit“ nennt175 , mißverstanden werden. Denkmöglich ist alles, was keinen logischen Widerspruch in sich schließt, real möglich dagegen ist nur das, bei dem (zusätzlich zur logischen Widerspruchsfreiheit) auch alle realen Bedingungen der Verwirklichung erfüllt sind. Aber auch mit den beliebig vielen Zwischenstufen, die man zwischen diesen beiden Extremen annehmen kann, ist δύναμις nicht gleichzusetzen. So ist damit, daß ein Samen der Möglichkeit nach ein Baum ist, noch nichts darüber gesagt, ob es auch faktisch möglich ist, daß aus ihm ein Baum wird. Ein Samen z. B., der niemals mit Wasser in Berührung kommt, ist gleichwohl der Möglichkeit nach ein Baum, wenn er (als dieser einzelne Samen betrachtet) auch unmöglich zu einem Baum werden kann. Dementsprechend grenzt Aristoteles im sechsten Buch der Metaphysik den Möglichkeitsbegriff, der sich auf die Widerspruchsfreiheit bezieht, explizit gegen den ab, der sich auf das Werden und Vergehen und überhaupt auf Veränderungen bezieht. Er unterscheidet sie dahingehend, daß die eine Möglichkeit sich nicht auf ein Vermögen oder eine Kraft bezieht, die andere dagegen sehr wohl. Er schreibt daher: καὶ ἀδύνατα δὴ τὰ μὲν κατὰ τὴν ἀδυναμίαν ταύτην λέγεται, τὰ δὲ ἄλλον τρόπον, οἷον δυνατόν τε καὶ ἀδύνατον, ἀδύνατον μὲν οὗ τὸ ἐναντίον ἐξ ἀνάγκης ἀληθές …· τὸ δ᾽ ἐναντίον τούτῳ, τὸ δυνατόν, ὅταν μὴ ἀναγκαῖον ᾖ τὸ ἐναντίον ψεῦδος εἶναι … τὸ μὲν οὖν δυνατὸν ἕνα μὲν τρόπον, ὥσπερ εἴρηται, τὸ μὴ ἐξ ἀνάγκης ψεῦδος σημαίνει, ἕνα δὲ τὸ ἀληθές [εἶναι], ἕνα δὲ τὸ ἐνδεχόμενον ἀληθὲς εἶναι. … ταῦτα μὲν οὖν τὰ δυνατὰ οὐ κατὰ δύναμιν·176 Und unmöglich wird demnach das eine im Hinblick auf dieses Unvermögen genannt, das andere aber auf eine andere Weise, wie möglich und unmöglich, unmöglich das ist, wovon das Gegenteil mit Notwendigkeit wahr ist …; das diesem Entgegengesetzte aber, das Mögliche, , wenn es nicht notwendig ist, daß das Gegenteil falsch ist … Somit bedeutet das Mögliche auf eine Weise, wie gesagt, das nicht mit Notwendigkeit Falsche, auf eine Weise ferner das, was wahr ist177, auf noch eine weitere Vgl. Nicolai Hartmann: Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin 1938, S. 49 f. Met. Δ 12, 1019b 21–35. 177 Ich folge hier nicht dem Vorschlag von Ross, das in allen Manuskripten vorkommende εἶναι zu streichen und somit „auf eine Weise ferner das Wahre“ statt „das, was wahr ist“ zu übersetzen. Denn das Mögliche bedeutet niemals das Wahre, was ja heißen würde, daß das Mögliche die Bedeutung von Wahr-Sein hätte, sondern nur das, was wahr ist. Letzteres ist nämlich dann der Fall, wenn es das dem Unmöglichen Entgegengesetzte bezeichnet, denn das Gegenteil des Unmöglichen ist notwendigerweise wahr. 175 176
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Weise das, was wahr sein kann. … Dies also ist das nicht im Hinblick auf ein Vermögen Mögliche.
Das Mögliche in diesem Sinne ist also das, was sich auch anders verhalten kann und insofern dem Unmöglichen, das sich nur anders verhalten kann, entgegengesetzt ist. Unter dem Unmöglichen nämlich versteht Aristoteles das, dessen Gegenteil mit Notwendigkeit wahr ist. Notwendig ist aber der Grundbedeutung nach das, was sich nicht anders verhalten kann.178 Nicht anders verhalten kann sich nur das Unwandelbare und Ewige. Wenn nun das Gegenteil von etwas notwendig wahr ist, dann muß es selbst notwendig falsch sein, d. h. es muß hinsichtlich dessen, was keine zeitliche Bestimmung annehmen kann, falsch sein. Das Mögliche kann aber dem Unmöglichen auf zwei Arten entgegengesetzt sein: entweder nur der Definition nach oder auch der Sache nach. Daraus ergeben sich dann die weiteren Bedeutungsunterscheidungen des Möglichkeitsbegriffs. Denn das ihm der Definition nach Entgegengesetzte ist das, was nicht mit Notwendigkeit falsch ist. Das, was nicht Notwendig falsch ist, kann aber sowohl etwas sein, was einem Unmöglichen auch der Sache nach entgegengesetzt und daher (notwendig) wahr ist, als auch etwas, das vielleicht wahr ist, dessen Gegenteil aber ebensogut wahr sein könnte. Letzteres ist dem Unmöglichen nicht der Sache nach entgegengesetzt, denn die entgegengesetzten Sachen sind beide gleich möglich. Diese Möglichkeit kann man nun aber Denkmöglichkeit nennen, auch wenn dieser Ausdruck bei Aristoteles nicht vorkommt. Denn man kann sich bezogen auf die von Aristoteles angegebene Bestimmung dieser Möglichkeit noch eine Frage stellen, die sich Aristoteles selbst merkoder besser denkwürdigerweise gerade nicht stellt: Warum wird das, was sich nicht anders verhalten kann, unmöglich und das, was sich durchaus anders verhalten kann, möglich genannt? Anders gefragt: genügt es wirklich, einfach zu behaupten, daß es sich hier um einen Spezialfall des Möglich-Seins handelt, der sich nicht wie alle anderen Bedeutungen von „möglich“ auf ein Vermögen bezieht? Dies ist m.E. unplausibel. Auch diesem Möglich-Sein muß ein Vermögen, ein Können zugrunde liegen, sonst könnte der Ausdruck ja schließlich nicht die Bedeutung des Anders-sein-Könnens haben. Gleichwohl ist richtig, daß dieses Können nicht in dem Bereich des Seienden zu suchen ist, denn möglich sind ja auch Sachverhalte, denen gar kein einzelnes Seiendes zugrunde liegen 178 Vgl. Met. Δ 5, 1015a 33–36: „ἔτι τὸ μὴ ἐνδεχόμενον ἄλλως ἔχειν ἀναγκαῖόν φαμεν οὕτως ἔχειν· καὶ κατὰ τοῦτο τὸ ἀναγκαῖον καὶ τἆλλα λέγεταί πως ἅπαντα ἀναγκαῖα …“
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muß; so ist es z. B. möglich, daß ein Dreieck rechtwinklig ist, wobei „Dreieck“ hier ein bloßes Abstraktum darstellt, dem kein bestimmtes wirkliches Seiendes entspricht. Wo findet sich hier also ein Können? Doch nur im menschlichen Geist, der sich eben das eine so gut wie das andere innerhalb eines gewissen Kontextes ohne Widersprüche vorstellen kann. Möglichkeit bedeutet hier also konsistente Vorstellbarkeit und damit Denkmöglichkeit. Denken kann ich mir aber alles, dessen formale Bestimmungen sich nicht widersprechen, denn die Formen sind ewig und unveränderlich, d. h. sie können sich nicht anders verhalten und damit auch nicht von uns modifiziert werden.179 Der Unterschied zwischen der Denk- und der (Hartmann’schen) Realmöglichkeit besteht also nur in der Frage, womit das als „möglich“ gekennzeichnete jeweils konsistent vorstellbar sein soll, allein mit sich selbst oder auch mit dem Rest der (nach Hartmann vollkommen deterministischen) Welt.180 Weder die Denkmöglichkeit noch die Realmöglichkeit jedoch können mit dem gleichgesetzt werden, was Aristoteles im eigentlichen Sinne als δύναμις bezeichnet, denn es handelt sich beim Aristotelischen Möglichkeitsbegriff nicht um irgendeine Art von Vorstellbarkeit.181 Was hier statt dessen gemeint ist, sollte man vielleicht, wie ich es auch weiter oben schon getan habe, besser mit Vermögen oder, noch etwas deutlicher den Aspekt des Strebens und der Aktivität betonend, mit Kraft übersetzen. Gerade der Begriff der Kraft bietet aber auch wie179 Vgl. z. B. Phys. A 6, 189a 22–26: Da alle Veränderung zwischen formalen Gegensätzen geschieht, die Gegensätze selbst aber nicht aufeinander einwirken und sich so aus sich selbst heraus bewegen können, sind die Formen unveränderlich und ewig und man bedarf zur Erklärung der Veränderung eines dritten Prinzips. 180 Nur das zu einem Zeitpunkt t als wirklich (also hier: vorhanden) Vorgestellte, das zu diesem Zeitpunkt t auch tatsächlich wirklich (vorhanden) ist, stellt nämlich eine Vorstellung dar, die mit dem Rest der Welt vollkommen konsistent ist, und zwar insbesondere dann, wenn man auch noch ein deterministisches Weltbild vertritt wie Hartmann. 181 An der impliziten Einschränkung aller Möglichkeit auf bloße konsistente Vorstellbarkeit scheint mir Nikolai Hartmanns Aristoteleskritik hauptsächlich zu kranken. Wenn nämlich alles, was nicht wirklich, sondern nur möglich ist, tatsächlich bloß etwas Vorgestelltes sein könnte und sich dementsprechend alles Seiende auf ein bloß Vorhandenes reduzieren würde, dann hätte er ja durchaus recht: der Aristotelischen δύναμις käme ein bloßes „Gespensterdasein“ (Hartmann, a.a.O., S. 6) zu und sie wäre ein nur „Halbseiendes“ (ebenda u.ö.). Denn eine Möglichkeit, die eine eigene Art von Ursächlichkeit in der Welt wäre, käme ja dann einer Vorstellung gleich, die sich vom Vorstellenden unabhängig macht und ein Eigenleben als nicht vorhandenes Seiendes führt; etwas Gespenstischeres läßt sich in der Tat kaum denken.
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der seine eigenen Anreize zum Mißverständnis182 , weshalb man noch das Wörtchen „spezifisch“ hinzusetzen und von der spezifischen Kraft sprechen könnte, deren Quelle in gewisser Weise zugleich ihr Ziel ist. Wie dem aber auch sei: festzuhalten ist auf jeden Fall, daß das der Möglichkeit nach vorliegende Ziel und das Vermögen in gewisser Weise nicht nur möglich sind, wenn die Möglichkeit als konsistente Vorstellbarkeit verstanden wird, sondern in gewisser Weise auch wirklich, nämlich insofern die Wirklichkeit der bloßen Vorstellung entgegengesetzt wird; freilich ist beides wirklich nur als Vermögen oder spezifische Kraft und (noch) nicht als eine ein Seiendes hinsichtlich seines Seins bestimmende Form. Diese Hauptbedeutung von δύναμις bestimmt nun Aristoteles selbst in Met. Δ folgendermaßen: δύναμις λέγεται ἡ μὲν ἀρχὴ κινήσεως ἢ μεταβολῆς ἡ ἐν ἑτέρῳ ἢ ᾗ ἕτερον, οἷον ἡ οἰκοδομικὴ δύναμίς ἐστιν ἣ οὐχ ὑπάρχει ἐν τῷ οἰκοδομουμένῳ, ἀλλ᾽ ἡ ἰατρικὴ δύναμις οὖσα ὑπάρχοι ἂν ἐν τῷ ἰατρευομένῳ, ἀλλ᾽ οὐχ ᾗ ἰατρευόμενος.183 Vermögen wird zum einen der Ursprung von Bewegung oder Umwandlung genannt, der in einem anderen oder , insofern es ein anderes ist, ; so ist z. B. die Baukunst ein Vermögen, das nicht in dem vorhanden ist, was erbaut wird, dagegen mag die Heilkunst, die ein Vermögen ist, wohl in dem vorhanden sein, was geheilt wird, nicht jedoch insofern es geheilt wird.
Das Vermögen ist also ein Ursprung, ein Prinzip von Bewegung und Umwandlung. Der Ausdruck „Bewegung“ bezieht sich hier wohl wieder auf Veränderungen im weitesten Sinne, wohingegen „Umwandlung“ wohl soviel bedeuten soll wie Entstehung. Eine Ursache von Veränderung und Entstehen ist aber auch die Physis, allerdings mit einer Einschränkung und einem (scheinbar) wesentlichen Unterschied. Die Einschränkung besteht darin, daß die Physis nur die Ursache zweier bestimmter Arten von Veränderung ist, nämlich einmal des Hervorwachsens im eigentlichen Sinne und einmal der natürlichen Bewegung, die man auch als Hervorwachsen im weiteren Sinne bezeichnen könnte. Unter das Hervorwachsen im engeren Sinne fallen alle Prozesse des natürlichen Entstehens, insbesondere von Pflanzen und Tieren.184 Zu dem Hervor182 So denkt man beim Ausdruck „Kraft“ z. B. meist an Druck, Stoß und dergleichen äußerliche Einwirkungen auf einen Gegenstand; solche Assoziationen sind hier ganz fern zu halten. 183 Met. Δ 12, 1019a 15–18. 184 Dies wurde im Zusammenhang mit der zweiten Bedeutung von Physis erörtert; siehe Abschnitt 4.1.2.
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wachsen im weiteren Sinne kann man alle anderen Arten der natürlichen Veränderung zählen, die unmittelbar aus dem natürlichen Seienden selbst entspringen: ἔτι ὅθεν ἡ κίνησις ἡ πρώτη ἐν ἑκάστῳ τῶν φύσει ὄντων ἐν αὐτῷ ᾗ αὐτὸ ὑπάρχει·185 Außerdem , woher die erste Bewegung in jedem der von Natur (Physis) Seienden, und zwar in ihm selbst, insofern es es selbst ist, den Ausgang nimmt.
Damit wären wir auch schon bei dem (scheinbar) wesentlichen Unterschied angelangt. Während nämlich das Vermögen als eine Ursache in einem anderen oder zwar in demselben, aber insofern es ein anderes ist, bezeichnet wird, charakterisiert Aristoteles die Physis als Ursache in dem sich Verändernden selbst, insofern es es selbst ist. Physis und Vermögen scheinen sich also in dieser Hinsicht entgegengesetzt zu sein. Daraus würde jedoch folgen, daß die Physis kein Vermögen sein und somit auch nicht dem Vermögen nach in etwas vorliegen kann, wie es Aristoteles an der weiter oben zitierten Stelle186 freilich gerade behauptet. Denn daß etwas in etwas dem Vermögen nach ist, scheint ja zu bedeuten, daß es dieser Sache als Vermögen zukommt. Läßt sich dieser Widerspruch auflösen? Mir scheint, das ist möglich, wenn man mitbedenkt, was jeweils als Referenzpunkt für die Angaben „in einem anderen oder , insofern es ein anderes ist“187 bzw. „in ihm selbst, insofern es es selbst ist“ dient. Der Blickwinkel, von dem aus hier Seiendes als „es selbst“ oder „anderes“ bezeichnet wird, ist nämlich jeweils ein anderer. Im Falle der Physis bezieht sich die Angabe „in ihm selbst“ auf das durch die Physis bestimmte Seiende. Der Samen eines Baumes z. B. hat insofern den Ursprung seines Hervorwachsens in sich selbst, insofern er der Möglichkeit nach ein Baum ist. Der Samen wird hier also hinsichtlich seines BaumSeins betrachtet. Das Subjekt des Hervorwachsens ist nämlich nicht der Samen, sondern der Baum: ἔτι δ᾿ ἡ φύσις ἡ λεγομένη ὡς γένεσις ὁδός ἐστιν εἰς φύσιν. οὐ γὰρ ὥσπερ ἡ ἰάτρευσις λέγεται οὐκ εἰς ἰατρικὴν ὁδὸς ἀλλ᾿ εἰς ὑγίειαν· ἀνάγκη μὲν γὰρ ἀπὸ ἰατρικῆς οὐκ εἰς ἰατρικὴν εἶναι τὴν ἰάτρευσιν, οὐχ οὕτω δ᾿ ἡ φύσις ἔχει πρὸς τὴν φύσιν, ἀλλὰ τὸ
Met. Δ 4, 1014b 18–20. Siehe S. 212. 187 Siehe S. 217. 185
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φυόμενον ἐκ τινὸς εἰς τὶ ἔρχεται ᾗ φύεται. τί οὖν φύεται; οὐχὶ ἐξ οὗ, ἀλλ᾿ εἰς ὅ. ἡ ἄρα μορφὴ φύσις.188 Des weiteren ist die im Sinne eines Werdens ausgesagte Physis ein Übergang in eine Physis. Denn diese verhält sich nicht so wie die Heilung, die nicht ein Übergang in die Heilkunst genannt wird, sondern in die Gesundheit. Es ist nämlich zwar notwendigerweise so, daß die Heilung ausgehend von der Heilkunst nicht in die Heilkunst mündet; nicht ebenso verhält sich aber die Physis im Hinblick auf die Physis, vielmehr geht das Hervorwachsende aus etwas in etwas über, insofern es hervorwächst. Was wächst nun hervor? Keineswegs das Woraus, sondern das Wohinein. Also ist die Gestalt Physis.
Anders verhält es sich mit dem Bezugspunkt bei der Angabe „in einem anderen“. Hier ist mit dem Anderen nicht das gemeint, was im Hinblick auf das durch die Form bestimmte Seiende ein Anderes ist. Das Andere ist hier vielmehr das im Hinblick auf die Materie Andere; dieses Andere aber ist gerade die Form. Dies wird in den beiden Beispielen deutlich, die dem Bereich menschlicher τέχνη189 entnommen sind. Das, was sich verändert, ist hier die Materie, nämlich einmal das, was gebaut, und einmal das, was geheilt wird; Ursprung und Prinzip der Veränderung ist die τέχνη, die selbst wiederum, wie Aristoteles an anderer Stelle erklärt, in gewisser Weise mit der Form identisch ist.190 Daß die Beispiele aus dem Bereich menschlicher Produkte (im weitesten Sinne) entnommen sind, darf nun freilich nicht zu der Annahme verleiten, die δύναμις sei auf diesen Bereich beschränkt. Wenn Aristoteles nämlich die Beispiele aus diesem Bereich wählt, so nur deshalb, weil die Zusammenhänge dort für uns bekannter sind als bei dem natürlichen Seienden, das ja gerade in seinem Sein und Werden allererst verstanden werden soll; man muß nämlich nach Aristoteles in der philosophischen Forschung immer von dem Bekannteren zum Unbekannteren fortschreiten, und nicht etwa umgekehrt.191 Daß dieses Fortschreiten von Aristoteles hier als möglich erachtet wird, liegt in der von ihm vorausgesetzten analogen Struktur alles Seienden begründet. Diese Voraussetzung kann man, wie mir scheint, nur dann in Zweifel ziehen, wenn man die rationale Struktur der Welt grundsätzlich bestreitet oder zumindest als ungewiß ansieht; damit Phys. B 193b 12–18. Den Sinn des griechischen Ausdrucks τέχνη scheint mir der englische Ausdruck Know-how ganz gut zu treffen. Da es jedoch wenig Sinn macht in einem deutschen Text ein griechisches Wort mit einem englischen zu übersetzen, behalte ich den Ausdruck τέχνη bei. 190 Vgl. Met. Λ 3, 1070a 29f: „ἡ γὰρ ἰατρικὴ τέχνη ὁ λόγος τῆς ὑγιείας ἐστίν.“ 191 Vgl. Phys. A 1, 184a 16–18. 188 189
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würde sich jedoch die Philosophie selbst aufheben und in einen radikalen Skeptizismus übergehen.192 Will man dies vermeiden, dann muß man auch das Vorgehen des Aristoteles als grundsätzlich zulässig erachten; die Kritik kann sich also dann nur noch auf die Art und Weise richten, wie die Analogie hier jeweils in Anschlag gebracht wird. Im Prozeß des schlechthinnigen Werdens wird also immer zweierlei: einmal wird das, was entsteht, und zwar schlechthin, und einmal auch das, woraus es entsteht, allerdings nicht schlechthin, sondern nur im Sinne eines Anders-Werdens. Das, woraus es wird, hat zwar das Vermögen, daß dies aus ihm entstehen kann, jedoch kommt ihm dieses Vermögen hinsichtlich seiner selbst nur in einem passiven Sinne zu: es kann eben eine so und so geartete Veränderung erfahren. Das aktive Vermögen dagegen liegt jeweils in einem anderen begründet. Bei den Produkten menschlicher Kunst ist dies vollkommen einsichtig, bei den natürlichen Seienden dagegen scheint es sich anders zu verhalten. Sieht man sich allerdings das zweite Beispiel im obigen Zitat genauer an, dann kann man daraus einen Hinweis darauf entnehmen, wie dieses Verhältnis auch bei den natürlichen Seienden in analoger Weise vorliegen kann. Der Arzt nämlich kann sich zwar auch selbst heilen, nur ist er hierbei nicht in derselben Hinsicht Heilender und Geheilt-Werdender. Das, was verändert wird, und das, was die Veränderung bewirkt, sind nicht vollkommen identisch. Der Arzt ist nämlich Heilender, insofern er das ärztliche Wissen hat, und Geheilt-Werdender, insofern er ein organischer, lebendiger Körper ist. Das ärztliche Wissen ist ein Wissen um die Gesundheit eines menschlichen organischen und lebendigen Körpers. Das ärztliche Wissen ist also der λόγος der (menschlichen) Gesundheit; der λόγος einer Sache ist aber das Offenbarmachen dessen, was die Sache rein hinsichtlich ihrer selbst ist, also gerade die Form (im weiteren Sinne) 193 der Sache. Daher ist die τέχνη in gewisser Weise die Form des Seienden, auf das sie sich bezieht. Wie nun aber die Heilkunst in gewisser Weise die Form der Gesundheit ist, so ist der lebendige, organische Körper in gewisser Weise 192 Denn jedes Seiende, sei es künstlich oder natürlich, muß, insofern es bloß als Seiendes betrachtet wird, die gleichen dem Seienden rein als Seiendem zukommenden Charakteristika aufweisen wie jedes andere Seiende. Würde dies in Zweifel gezogen, wäre nicht nur die Ontologie, sondern auch jede andere Erkenntnis unmöglich, weil keine Aussage jemals verallgemeinert werden dürfte. 193 Die Form ist eigentlich nur das Sein, das einem jeweils Einzelnen rein hinsichtlich seiner selbst zukommt. In einem weiteren Sinne kann aber alles, was ein Seiendes hinsichtlich seiner selbst offenbar macht, als Form bezeichnet werden, egal unter welche Kategorie das jeweilige Seiende fällt.
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das Material der Gesundheit, denn der Körper kann sowohl gesund als auch nicht gesund sein, die Gesundheit verwirklicht sich aber dadurch, daß sie einen Körper auf eine gewisse Weise bestimmt. Es liegt hier also ein Analogie zur Entstehung eines Bettes z. B. vor: das Holz kann so oder so geformt und so oder so zusammengefügt werden, das Bett aber verwirklicht sich nur dadurch, daß es Holz auf eine gewisse Weise in seiner äußeren Form und Kombination bestimmt. Der Arzt heilt sich also selbst, wenn die in gewisser Weise mit der Heilkunde identische Form der Gesundheit sich in seinem Körper als der Materie der Gesundheit verwirklicht. Dies ist aber nur möglich, wenn die Form bereits zuvor in dem Seienden, nämlich dem Arzt, anwesend war, denn er soll sich ja selbst heilen. Bis hierhin ist der Fall also dem eines hervorwachsenden natürlichen Seienden analog. Die Art, wie die Gesundheit im Arzt anwesend ist, kann jedoch nicht zu der Weise, wie die Form in dem natürlichen Seienden anwesend ist, parallel gesetzt werden. Die Form ist nämlich in Gestalt eines Wissens, d. h. eines λόγος, im Arzt anwesend, und dieses Wissen macht allererst einen Menschen zum Arzt. Das Arzt-Sein gehört also zu dem, was sich so ergeben hat, denn es setzt ein zugrundeliegendes Seiendes, nämlich den Menschen, voraus. Die Gesundheit also ist ein Akzidenz des Menschen und kann daher auch aus einer akzidentellen Bestimmung des Menschen hervorgehen. Die Form jedoch, die Physis eines Seienden sein soll, muß dieses Seiende hinsichtlich seiner selbst bestimmen, es kann daher auch nicht dadurch, daß es als Wissen oder auf irgendeine andere akzidentelle Weise in dem Seienden selbst anwesend ist, der Ursprung des Werdens dieses Seienden sein. Das Seiende selbst soll ja erst werden, und nicht nur etwas, was sich für das Seiende selbst so ergeben hat. Die entscheidende Frage lautet also: Wie kann die Form eines Seienden in dem Seienden selbst anwesend sein, ohne daß es dieses schon hinsichtlich seines Seins bestimmt? Darauf müssen wir antworten, daß sie als spezifische, ein Streben nach der Verwirklichung der Form generierende Kraft in dem Seienden anwesend ist. Daran schließt sich jedoch sofort eine weitere Frage an: Wie kann die Form eine spezifische Kraft und damit der Quellgrund eines solchen Strebens sein, welches ja zu allem Überfluß gerade auf die Form selbst gerichtet ist? Sehen wir uns dazu ein Beispiel an. Wir haben gesagt, daß aus einem Samen ein Baum hervorwächst, weil der Samen in gewisser Weise ein noch unentfalteter Baum ist. Die Form des Baumes ist zwar im Samen schon, jedoch so, daß sie irgendwie noch verborgen bleibt; sie tritt erst im Zuge des Werdens so in
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Erscheinung, daß sie das Seiende hinsichtlich seines Seinsvollzugs tatsächlich bestimmt. Das Sein ist jedoch wesentlich ein Sich-Äußern, ein φαίνεσθαι, ebenso wie das Seiende als Seiendes ein φαινόμενον ist194 , denn das Sein wird, wie wir weiter oben herausgearbeitet haben, von Aristoteles als ein Vollzug bzw. eine Tätigkeit (ἐνέργεια) gedacht, durch die sich das Seiende als das, was es ist, äußert. Sich äußernd tritt das Seiende in die Offenbarkeit des Seins. Daher ist das Seiende, insofern es ein Seiendes ist, immer auch wahr, ἀληθές, d. h. unverborgen. Ein verborgenes Sein widerspricht also gewissermaßen seinem eigenen Wesen, es ist defizitär. Ein solch defizitäres Sein nennt Aristoteles στέρησις, was man auf Deutsch Beraubung und auf Lateinisch privatio nennt. Von Beraubung spricht man alltagssprachlich nur bei Dingen, derer man bedarf. Dieses Bedürfnis äußert sich in einem Streben, z. B. einem sehnenden Verlangen, nach dem Ding, dessen man beraubt ist. Das Sein bedarf des SichÄußerns. Auch dieses Bedürfnis äußert sich in einem Streben, nämlich dem Hervorwachsen. Der Widerspruch des privativen Seins mit sich selbst wird so durch ein bzw. in einem Streben aufgehoben. Das privativ bestimmte Seiende kann aber hinsichtlich seines Seins nicht schlechthin verborgen bleiben, denn dann wäre es gar nicht; etwas, was nicht ist, kann aber auch nicht streben. Es muß sich also auf irgendeine Weise äu Daraus folgt nicht, daß jedes Erscheinende auch ein Seiendes ist, denn ein Erscheinendes kann auch so, wie es erschient, ein Nicht-Seiendes und damit falsch und d. h. täuschend sein. Ein falscher Mensch z. B. ist als derjenige, als der er erscheint, ein Nicht-Seiendes, denn er erscheint nur bspw. als gutmütig, in Wahrheit ist er jedoch ganz anders, z. B. intrigant; er ist daher eben falsch, d. h. sich verbergend, sich verstellend und täuschend: ψεῦδος. Umgekehrt dagegen ist jedes Seiende, insofern es ist, wahr, d. h. unverborgen: ἀληθές. Denn Sein und Sich-Äußern sind, wie gesagt, in gewisser Weise dasselbe. Daraus folgt aber, daß auch das falsche, da es nicht schlechthin nichts sein kann, irgendwie wahr sein und sich als es selbst äußern muß. Mit diesem Problem hat sich Aristoteles, wie mir scheint, nicht befaßt. Man muß jedoch wohl sagen, daß sich die Wahrheit des Falschen in sich abkapselt und so verbirgt. Das Falsche ist also dadurch falsch, daß es sich nicht mehr offen als es selbst äußert, sondern irgendwie nur noch im Verborgenen. So weiß der Lügner um seine Lüge und ist insofern sich selbst zumindest unverborgen. Da das Wahre aber immer für alles andere da sein muß, denn es äußert sich als Wahres ja gleichsam ohne Vorbehalt, kann das Falsche nur darin bestehen, daß es nicht mehr für alles andere als es selbst da ist, sondern, im Extremfall, nur noch für sich selbst. Da jedoch das Wahre jeden Vorbehalt ausschließt und alles Seiende als Seiendes wahr sein muß, bedeutet dies zugleich, daß das Falsche allem, für das es sich nicht als es selbst äußert, implizit den Status des Seins absprechen muß, um seine eigene Wahrheit und damit sein eigenes Sein zu bewahren. Die zahlreichen Probleme, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, insbesondere die Frage nach der Stellung der Aussagenwahrheit, wollen wir hier allerdings nicht weiter ausführen. 194
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ßern. Hinsichtlich des Seins, als das sich das privativ bestimmte und daher strebende Seiende äußert, ist es strebende Materie, denn dieses Sein darf das Seiende noch nicht als Individuum bestimmen. Würde es sich nämlich bereits als Individuum äußern, bedürfte es hinsichtlich seiner selbst keiner Ergänzung mehr. Nun scheint eine solche Materie wie ein Pflanzensamen hinsichtlich ihres Seins jedoch bereits dadurch bestimmt, daß sie nach der Verwirklichung einer individuellen Form strebt. Zudem scheint ein Samen ja doch irgendwie bereits ein Individuum zu sein, denn wenn man ihn teilt, entsteht daraus keine Pflanze mehr. Die Lösung, die wir allerdings erst im Zuge der Untersuchung von Phys. A genauer erörtern können195 , scheint mir in folgendem zu suchen zu sein: Die Materie ist in zweifacher Weise δύναμις. Zum einen ist sie fähig, eine Einwirkung zu erfahren; ausschließlich in diesem Sinne ist die virtuelle Materie eine δύναμις. Zum andern strebt sie auch selbst danach, sich auf eine bestimmte Weise zu äußern; dies betrifft alle anderen Materiearten. Die Quelle dieses Strebens, also die δύναμις im aktiven Sinne, ist dabei entweder eine individuelle Form, z. B. das Pflanze-Sein, oder etwas einer solchen Form analoges, z. B. das Bronze-Sein. Das Strebende ist dagegen niemals das Bronze-Sein selbst, sondern immer die Bronze, insofern ihr eine nur passive δύναμις zukommt; analoges gilt für das Pflanze-Sein. Da aber eine Materie von der Art eines relativ oder absolut ersten Materials nicht selbst ein Seiendes konstituieren kann, bleibt eine solche Materie hinsichtlich ihrer selbst immer im Zustand des Strebens nach Verwirklichung, sie hat nämlich gleichsam einen konstitutionellen Mangel an formaler Bestimmtheit. Daher kann auch der formale Aspekt hier als Materie, d. h. als Material für ein Seiendes im eigentlichen Sinne (eine erste Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift), bezeichnet werden, denn selbst konstituiert es eben kein solches Seiendes, da dieses immer ein einzelnes Individuum ist; das erste Material dagegen ist teilbar und nicht eines in dem vollen Sinne, in dem ein einzelnes Individuum als numerisch eines bezeichnet werden kann. Der Samen einer Pflanze oder ähnliches dagegen ist zwar auch Materie, allerdings nur im Hinblick auf das passive Vermögen, ein Streben nach dem Pflanze-Sein aus sich hervorgehen zu lassen, nicht im Hinblick auf das Samen-Sein, denn dieses ist als Beraubung einer bestimmten individuellen Form auch selbst individuell und numerisch eines. Siehe Abschnitt 4.3.
195
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b) Entelechie Der Form als in dem Seienden vorhandene Kraft entspringt also, wie wir gesehen haben, das Hervorwachsen im engeren Sinne, z. B. das Aufgehen einer Pflanze aus einem Samen kraft der im Samen bereits vorhandenen Pflanzenseele.196 In Met. Δ 4, 1015a 17–19 ist jedoch nicht nur davon die Rede, daß die Form als dem Vermögen nach in einem φύσει ὄν Vorhandenes Ursprung von Bewegung ist, sondern auch als der Verwirklichung nach (ἐντελεχείᾳ) Vorhandenes: „… ἐνυπάρχουσά πως ἢ δυνάμει ἢ ἐντελεχείᾳ.“197 Die Form kann also noch auf eine andere Art Ursprung von Bewegung sein, wobei hier unter Bewegung, wie gesagt, immer Veränderung im allgemeinen zu verstehen sein dürfte. Mit Bewegung kann hier jedoch dann nicht das Hervorwachsen im eigentlichen Sinne gemeint sein, also die zweite Bedeutung von Physis, sondern nur die dritte Bedeutung, nämlich die natürliche Bewegung im weiteren Sinne, z. B. das Jagen eines Löwen oder das freie Handeln eines Menschen.198 Denn Hervorwachsen kann schließlich nur das, was noch nicht verwirklicht ist. Die gesuchte natürliche Bewegung bezieht sich also auf ein Seiendes nicht insofern, als es gerade das ist, was es rein hinsichtlich seiner selbst ist. Folglich kann sie sich auf ein Seiendes nur insofern beziehen, insofern es auch noch anderes ist, nämlich etwas, was sich so für das Seiende ergeben hat: die natürliche Bewegung ist also immer eine bloß akzidentelle Veränderung. Wie kann nun aber die Form Ursache akzidenteller Veränderungen sein? Ist das nicht ein Widerspruch? Dies ist die entscheidende Frage, mit der wir uns im folgenden befassen werden. Der Schüssel zur Lösung dieses Rätsels scheint mir in dem Ausdruck ἐντελέχεια zu suchen zu sein, der bisher stets mit Wirklichkeit oder Verwirklichung übersetzt wurde. Doch ob diese traditionellen Übersetzungen wirklich angemessen sind, muß erst noch genauer geprüft werden. Bei dieser Prüfung ist nun freilich eine beträchtliche Hürde zu überwinden, denn das Wort ἐντελέχεια stellt eine eigentümliche Prägung, ja gar eine Erfindung des Aristoteles dar199, die er zudem an keiner einzigen Stelle seines Werks erläutert. Diese Umstände dürften den Ausdruck ἐντελέχεια wohl zu dem merkwürdigsten unter den zentralen ter196 Auch Alexander von Aphrodisias versteht das δυνάμει in diesem Sinne; vgl. Alexander, In Metaphysica 360, 11–13. 197 Met. Δ 4, 1015a 18 f. 198 Vgl. dazu noch einmal Alexander von Aphrodisias, a.a.O. 199 Vgl. Hjalmar Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1: Α – Κο, Heidelberg 1960, S. 524.
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mini technici der Aristotelischen Philosophie machen, wenn man einmal von dem mindestens ebenso rätselhaften τὸ τί ἦν εἶναι absieht. Im Gegensatz zu letzterem hat der Ausdruck ἐντελέχεια aber offenbar in der Frühform der Aristotelischen Ontologie, wie man sie vor allem in der Kategorienschrift aber auch in den anderen Schriften des sogenannten Organons findet, noch keine Rolle gespielt; zumindest taucht er im gesamten Organon nicht auf.200 Dieser Umstand scheint bereits darauf hinzudeuten, daß es sich um einen zentralen Begriff speziell der reifen Gestalt der Aristotelischen Philosophie handeln muß, in dem daher wohl auch das Charakteristische dieser Philosophie in besonderem Maße zum Ausdruck kommen dürfte. Eine Klärung dieses Begriffs ist also dringend nötig. Nun sind aber vor allem aufgrund der Tatsache, daß es sich bei ἐντελέχεια um ein Kunstwort des Aristoteles handelt, alle Versuche, die Bedeutung ausschließlich aus dem Kontext heraus zu erraten, ganz unzureichend, denn der Grund dafür, daß Aristoteles ein neues Wort erfand und daß er es so konstruierte, wie er es konstruierte, dürfte mit der Bedeutung des Wortes auf das Engste verbunden sein. Ohne begründete Vermutungen darüber, wie und warum Aristoteles dieses Wort erfand, wird also jede noch so akribische Auswertung des Kontextes unzureichend bleiben. Sehen wir uns also demnach dieses merkwürdige Wort etwas näher an. Man kann es zunächst in drei Wortwurzeln plus Endung zerlegen, nämlich: 1. ἐν2. -τελ3. -εχ4. -εια Die Wortwurzeln haben, wie man nicht allzu schwer erkennen kann, die Bedeutungen in (1.), Ziel oder Vollendung (2.) und haben (3.). Die Endung (4.) ist typisch für ein von einem Adjektiv mit der Endung -ής/-ές abgeleitetes Substantiv, z. B. ἀσθενής (schwach, kraftlos) – ἀσθένεια (Schwäche, Kraftlosigkeit). Ein dem Substantiv ἐντελέχεια entsprechendes Adjektiv ἐντελεχής gibt es jedoch nicht (nur als falsa lectio für ἐνδελεχής begegnet es gelegentlich).201 Was hat dieser Umstand zu bedeuten? Hjalmar Frisk ist der Ansicht, daß der Ausdruck als Zusam Vgl. Hermann Bonitz: Index Aristotelicus, Graz ²1955, S. 253 f. Vgl. Stichwort „ἐντελέχεια“, in: LSJ 575.
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mensetzung von ἐντελής und ἔχειν in Analogie zu νουνέχεια und συνέχεια gebildet wurde.202 Aristoteles wollte also aus ἐντελής und ἔχειν ein Substantiv bilden, kombinierte daher ἐντελ+εχ und fügte dann, weil eben auch bei anderen Substantiven auf ein -εχ- ein -εια folgt, diese Endung -εια an. Ein solches Vorgehen ist nun zwar nicht von vornherein auszuschließen, zum Verständnis des Wortes wäre es jedoch noch nötig, den Grund dafür aufzuzeigen, warum Aristoteles eine solche Analogiebildung wählte, und das dürfte schon etwas schwieriger werden.203 Zunächst ist jedoch bereits unklar, aus welchen Bestandteilen Aristoteles seinen Neologismus tatsächlich zusammensetzte, ja ob er ihn überhaupt zusammensetzte oder nicht eher ein bereits bestehendes Wort abwandelte, nämlich das verbreitete ἐνδελέχεια, das ungefähr ununterbrochene Fortdauer bedeutet. Tatsächlich wurden nämlich ἐντελέχεια und ἐνδελέχεια bereits in der Antike häufig miteinander verwechselt, ja Cicero etwa scheint überhaupt nur den Ausdruck ἐνδελέχεια zu kennen.204 Ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Worten wird zwar mittlerweile von praktisch allen, die darauf überhaupt eingehen, zurückgewiesen 205 , die Frage muß aber schon erlaubt sein, warum Aristoteles ein Wort erfindet, daß einem anderen zum Verwechseln ähnelt, und dennoch es nicht für nötig erachtet, beide von einander abzugrenzen. Denn eine solche Abgrenzung findet sich nirgendwo in seinem Werk. Dies läßt m.E. nur die Schlußfolgerung zu, daß ihm die Verwechslungsgefahr zumindest gleichgültig war, denn übersehen wird er sie wohl nicht haben, dazu liegt sie einfach viel zu sehr am Tage. Gleichgültig könnte ihm die Verwechslungsgefahr gewesen sein, weil die uns überlieferten Texte, in denen dieser Ausdruck verwendet wird, nicht für die Allgemeinheit, sondern für seinen Schüler- und Kollegenkreis bestimmt waren, und diese über seine Grundbegriffe ausreichend informiert waren; schließlich erläutert Aristoteles ja auch andere Grundbegriffe seines Denkens nicht, z. B. das berühmte τί ἦν εἶναι. Es bleibt aber auch dann, wenn dies zugestanden wird, weiterhin das Problem bestehen, warum Aristoteles ein Wort nicht nur übernimmt oder aufgreift, sondern tatsächlich und buchstäblich erfindet, das einem anderen zum Verwechseln ähnlich ist. Die Verwechslungsgefahr war zudem zur Zeit des Aristoteles, als man Vgl. Frisk: Etym. Wörterb., Bd. 1, a.a.O. Wir werden auf diese Frage weiter unten noch einmal zurückkommen. 204 Vgl. Cicero, Tusculanae disputationes I, 22. 205 Ralf Elm: „entelecheia“, in: Aristoteles-Lexikon, hrsg. v. Otfried Höffe, Stuttgart 2005, S. 188–193. 202 203
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Texte vor allem hörte und weniger las206 , wohl noch bedeutend höher. Hätte er in Anbetracht dieser Problematik nicht dasselbe, was er mit dem Wort ἐντελέχεια sagen wollte, auch auf eine eindeutigere Weise ausdrücken können? Hat er etwa das Wort gerade so konstruiert, weil er den Anklang an ἐνδελέχεια, wenn schon nicht um jeden Preis suchte, so doch wenigstens begrüßte? Diese Fragen kann nun freilich niemand mit hinreichender Sicherheit beantworten. Wenn sich jedoch bei der weiteren Analyse herausstellen sollte, daß nicht nur eine klangliche, sondern auch eine gewisse inhaltliche Nähe zwischen den beiden Ausdrücken besteht, warum sollte man dann diese Annahme nicht ernsthaft erwägen? Doch nicht etwa deshalb, weil ein solcher Umgang mit Worten unter der Würde des gebildeten Aristoteles wäre und ihn zu einem schnöden Barbaren machen würde, wie z. B. Diels beklagt? 207 Damit unterstellt man nämlich unter der Hand, daß gewisse Standards von Wissenschaftlichkeit und Seriosität, die heute gelten mögen, auch in anderen Epochen der Geistesgeschichte dasselbe Ansehen genossen haben; dies ist aber nichts als ein Vorurteil im schlechten Sinne dieses Wortes, d. h. ein voreiliges Urteil, denn es geht der Untersuchung nicht nur als Hypothese voraus, sondern engt diese ein. Unmittelbar aus der bloßen klanglichen Ähnlichkeit zwischen beiden Ausdrücken irgendwelche Schlüsse zu ziehen, ist jedoch ebenfalls unzulässig, wenn man nicht wilden Spekulationen Tür und Tor öffnen will, denn auch einem solchen Schluß fehlt jede auch nur annähernd stichhaltige Grundlage. Lassen wir daher diese Frage bis auf weiteres auf sich beruhen und wenden wir uns wieder dem Ausdruck ἐντελέχεια selbst zu, indem wir zunächst versuchen die Frage zu klären, ob er aus zwei oder drei Bestandteilen plus Endung zusammengesetzt ist. Ist er also aus ἐν+τελ+εχ+εια oder aus ἐντελ+εχ+εια zusammengestückelt? Hier dürfte wohl letzteres wahrscheinlicher sein. Denn ἐντελής war, obwohl bei Aristoteles nur einmal belegt, dennoch ein durchaus gängiges Wort zu seiner Zeit208 , weshalb wohl die Lautfolge ἐντελ- als Bestandteil von ἐντελέχεια von seinen Zeitgenossen als unmittelbar zusammengehörig empfunden worden sein dürfte; es handelt sich dabei im übrigen um die Vgl. z. B. den Titel der Physik: φυσικὴ ἀκρόασις. Vgl. Hermann Diels: „Etymologica“, in: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen 47 (1916), S. 193–210 und insbesondere S. 200–203. 208 Vgl. Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 2, S. 246. 206 207
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Ableitungsvariante, die auch letztlich Diels, Ross und Frisk vertreten.209 Wie mir aber scheint, kann und muß man sogar noch darüber hinaus gehen, indem man auch die Endung mit zu diesem ersten Bestandteil der Aristotelischen Wortneuschöpfung zählt; ἐντελέχεια wäre dann also aus ἐντέλεια durch Einschub der Wortwurzel von ἔχειν hervorgegangen. Denn daß Aristoteles die Endung -εια unmittelbar in Analogie zu νουνέχεια und ähnlichen Wörtern an seine Erfindung angefügt hat, wie Frisk und ähnlich auch Ross mutmaßen,210 ist deshalb m.E. wenig wahrscheinlich, weil alle nach diesem Schema gebildeten Substantive notwendig ein auf -ής/-ές endendes Adjektiv voraussetzen, von dem sie abgeleitet sind, es jedoch ein Adjektiv ἐντελεχής/-ές einfach zur Zeit des Aristoteles nicht gab, wie auch beide Autoren zugestehen; dieses Adjektiv wurde offenbar erst viel später211 aus ἐντελέχεια „zurückgebildet“. Warum aber hätte Aristoteles ein Substantiv von einem inexistenten Adjektiv ableiten sollen? Nur wenn man wie Diels212 trotz des fehlenden Vorkommens eines Adjektivs ἐντελεχής annimmt, daß Aristoteles das Abstraktum doch im Ausgang von einem solchen, wenn auch nicht überlieferten Adjektiv gebildet hat, könnte man, wie mir scheint, eine solche analoge Ableitung in Erwägung ziehen; daß es dieses Adjektiv jedoch vor dem Substantiv ἐντελέχεια gegeben hat, dürfte wohl, wie gesagt, ausgeschlossen sein. Es wäre ja auch äußerst seltsam, daß Aristoteles das Adjektiv nie gebrauchte, obwohl es vorhanden und für ihn von entscheidender Bedeutung gewesen sein müßte, da er schließlich einen seiner zentralen und für ihn charakteristischen Fachausdrücke daraus ableitete. Nun ergibt sich aber eben ohne alle Verrenkungen eine ganz sinnvolle Ausgangsbasis213 für die gesamte Wortneuschöpfung inklusive Endung, wenn man einfach das -εχ- als eingeschoben betrachtet. Dagegen bleibt bei der Annahme einer angehängten Endung entweder eine Erklärungslücke, da man keinen Grund nennen kann, warum er so vorging, oder Aristoteles hätte eine reine Äußerlichkeit nachgeahmt, was mir in Anbetracht der Wichtigkeit des Ausdrucks für seine gesamte Philosophie doch allzu 209 Vgl. Diels, a.a.O.; Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 2, S. 245f; Frisk: Etym. Wörterb., Bd. 1, a.a.O. 210 Ebenda. 211 Nach Ross, a.a.O. erscheint das Adjektiv zuerst bei Philon von Alexandria, der mehr als 300 Jahre nach dem Tod des Aristoteles geboren wurde. 212 Vgl. Diels, a.a.O. 213 Das Wort ἐντέλεια ist zwar erst bei späteren Autoren belegt, die Wortbildung ist jedoch so gewöhnlich und naheliegend, daß dies wohl eher ein Zufall sein dürfte, zumal es insgesamt selten ist.
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Nachlässig oder Unbekümmert erschiene. Aus heutiger Perspektive mag die hier vorgeschlagene Ableitung zwar vielleicht wie ein Art von „Wortbastelei“ aussehen, wenn man sie jedoch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen etymologischen Methode betrachtet, die sich vornehmlich auf Ähnlichkeiten zwischen Worten hinsichtlich Klang und Schriftbild stützte und die auch von Aristoteles selbst verschiedentlich angewandt wurde214 , zeigt sich recht deutlich, wie mir scheint, daß Aristoteles diese Methode in vorliegendem Fall nur gleichsam umgedreht und zur Bildung eines neuen Wortes benutzt hat. Als Ausgangsbasis für ἐντελέχεια wollen wir also ἐντέλεια annehmen. Im nächsten und entscheidenden Schritt müssen wir nun versuchen, auf dieser Grundlage die Bedeutung von ἐντελέχεια zu rekonstruieren. Das Wort ἐντέλεια ist nun aber, wie bereits gesagt wurde, wiederum von dem Adjektiv ἐντελής abgeleitet, was in etwa vollendet, vollkommen, vollständig bedeutet. Demnach bedeutet ἐντέλεια also in etwa Vollendung oder besser Vollendetheit.215 Welchen Sinn kann nun hier die Verbindung mit ἔχειν haben? Dieses Verb hat, von ein paar Ausnahmen abgesehen, ähnliche Bedeutungen wie die deutschen Wörter haben und halten. Zumeist wird angenommen, daß ἔχειν als Bestandteil von ἐντελέχεια in transitivem Sinne zu verstehen sei.216 Dies Ergäbe eine Bedeutung, die in die Richtung von „das Haben der Vollendetheit“ ginge. Das Haben der Vollendetheit ist jedoch einfach das Vollendet-Sein, und Vollendet-Sein wiederum bedeutet im großen und ganzen dasselbe wie Vollendetheit. Die Hinzufügung der Wortwurzel -εχ- wäre also letztlich vollkommen überflüssig, weil sie die Bedeutung des zugrundeliegenden Wortes in keiner wesentlichen Weise verändert. Da auch die intransitive Bedeutung von ἔχειν, nämlich „sich (so und so) verhalten“ hier keinen Sinn ergibt, scheint also -εχ- überhaupt nicht auf die Aktivform ἔχειν zu verweisen, wie wir bisher stets stillschweigend angenommen hatten. Wir müssen daher also prüfen, ob nicht vielleicht die Mediumform ἔχεσθαι hier mehr Sinn macht. Dieses Medium kann nun u.a. „sich an etwas halten“, „an etwas festhalten“, „bei etwas bleiben“ bedeuten, aber auch „standhalten“, z. B. in einem Kampf. Ziehen wir die erste Übersetzung heran, so ergibt 214 Vgl. z. B. die bekannte Erklärung von τὸ αὐτόματον in Phys. B 6, 197b 29f: „οὕτω δὴ τὸ αὐτόματον καὶ κατὰ τὸ ὄνομα ὅταν αὐτὸ μάτην γένηται …“ 215 Der Ausdruck Vollendung ist mehrdeutig, Vollendetheit bezeichnet dagegen eindeutig die Eigenschaft des Vollendet-Seins. 216 Vgl. z. B. wieder Diels, a.a.O.; Ross: Metaphysics, a.a.O., Bd. 2, S. 245f; Frisk: Etym. Wörterb., Bd. 1, a.a.O.
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sich als Bedeutung von ἐντελέχεια in etwa: „Das Festhalten an der Vollendetheit“. Dies ergibt durchaus einen Sinn, weil es der Vollendetheit ein Streben nach ihrer Aufrechterhaltung hinzufügt. Aber auch die Übersetzung mit „standhalten“ würde einen ganz ähnlichen Sinn ergeben, nämlich „Das Standhalten in der Vollendung“, insbesondere wenn man εν und τελ wieder als getrennte Elemente betrachten würde. Die ἐντελέχεια ist also nicht etwas statisch bloß Vorliegendes, sondern eine Tätigkeit, also ἐνέργεια, und zwar eine solche, die in gewisser Weise sich selbst als Ziel hat. Das Sein selbst aber ist, wie wir weiter oben ausgeführt haben 217, für Aristoteles nichts anderes als ein Vollzug, eine Tätigkeit, also wiederum ἐνέργεια. Mit ἐντελέχεια wird also die Vollendetheit eines Seienden, d. h. seine Form, als ἐνέργεια charakterisiert und damit die Vorstellung zurückgewiesen, dem Vollendeten sei die Tätigkeit so äußerlich, wie das Verfertigen irgendeinem Werkstück, mit dem man nach getaner Arbeit eben fertig ist und es beiseitelegen kann. Dies ist nach Aristoteles deshalb eine falsche Vorstellung, weil das je spezifische Sein eines Seienden, dessen Ausdruck die Form ist, immer Vollzug und Tätigkeit ist, allerdings keine Tätigkeit, die auf ein Ziel hinstrebt wie das Werden, denn das Ziel bzw. die Vollendetheit ist ja schon erreicht, sondern sich eben in diesem Ziel hält. Daß das Sein auch nur dem Vermögen nach einem Seienden zukommen kann, bildet hiergegen keinen Einwand, weil das dem Vermögen nach Seiende, wie weiter oben ausgeführt wurde, immer auf das der Tätigkeit nach Seiende verweist und dieses voraussetzt.218 Das Sein ist nur als wirkliche, sich äußernde Tätigkeit eines Seienden ganz das, was es ist, als bloßes Vermögen, könnte man sagen, steht es zu sich selbst gewissermaßen im Widerspruch. Aufgrund der Spannung dieses Widerspruchs entspringt denn auch aus dem Vermögen das Streben nach Auflösung der Spannung und d. h. nach Verwirklichung der Form. Nun muß man jedoch noch bedenken, daß ἐντελέχεια kein substantiviertes Verb ist, wie dies von den genannten versuchsweisen Übersetzungen suggeriert wird, sondern nach dem Schema einer abstrakten Eigenschaftsbezeichnung gebildet ist. Ein solches Abstraktum benennt oft das, aufgrund dessen von einer Sache die Eigenschaft, von der das Abstraktum abgeleitet ist, prädiziert werden kann. Die Ableitung der Substantive auf -εια von den Adjektiven auf -ής/-ές ist insofern der Ableitung Siehe Abschnitt 2. Siehe ebenda.
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des Ausdrucks οὐσία von ὄν ganz analog. Im Deutschen benutzen wir zum selben Zweck u.a. die Endungen -heit und -keit: die Tätigkeit z. B. bezeichnet das, was jemand tut und aufgrund dessen er tätig genannt wird, und die Seiendheit das, wodurch etwas seiend ist. Mit diesen abgeleiteten Substantiven wird also eine gewisse Art von Ursache und zwar eine Formursache bezeichnet. So wie also die οὐσία, die Seiendheit, das bezeichnet, wodurch etwas überhaupt ein Seiendes ist, wofür nach Aristoteles in erster Linie die Form des Seienden verantwortlich ist, so könnte also auch mit ἐντελέχεια nicht nur das Sich-in-der-VollendungHalten als Vollzug, sondern auch die Ursache des Sich-in-der-Vollendung-Haltens benannt sein, genauso wie man mit Vollendetheit sowohl den Zustand als auch die Form des Vollendet-Seins benennen kann und zwar deshalb, weil beides letztlich identisch ist. Diese Ursache setzt nun Aristoteles offenbar mit der Vollendetheit desjenigen Seienden gleich, das sich in der Vollendung hält, denn nur so kann man wohl dem Umstand rechnung tragen, daß ἐντελέχεια aus ἐντέλεια gebildet wurde. Dahinter scheint nämlich die Aussage zu stehen: die ἐντέλεια ist eine ἐντελέχεια. Die Vollendetheit eines Seienden ist aber seine Form (εἶδος). Denn wenn ein Seiendes seine Form hat, dann ist es vollendet. Die Form im eigentlichen Sinne ist nun wiederum das Sein, das einem Seienden rein hinsichtlich seiner selbst zukommt, und daher auch dieses Seiende als das Seiende, das es ist, konstituiert. Die Form ist also das, was ein Seiendes zu einem Seienden macht, es ist insofern die Ursache des Seiend-Seins; diese Ursache wird von Aristoteles Seiendheit (οὐσία) genannt.219 Daraus folgt also, daß das Sein ein Sich-in-der-VollendungHalten und die formale Seiendheit die Ursache des Sich-in-der-Vollendung-Haltens ist. Die Vollendung oder Vollendetheit eines Seienden aber ist die formale Seiendheit selbst. Also ist die formale Seiendheit die Ursache dessen, daß sich das Seiende in dem Sein erhält, das es als Seiendes konstituiert, also in der formalen Seiendheit. Die formale Seiendheit ist nämlich auch selbst ein Sein, und zwar dasjenige Sein, das einem Seienden rein hinsichtlich seiner selbst zukommt. Daher ist es nicht nur Ursache des Sich-in-der-Vollendung-Haltens, sondern auch selbst eine Tätigkeit im Sinne des Sich-in-der-Vollendung-Haltens. Beide Bedeutungsaspekte, die durch ein auf diese Weise abgeleitetes Substantiv aus Daß auch die Materie und das je Einzelne Seiendheiten sind, tut dem keinen Abbruch, denn auch diese sind, wenn auch in anderen Hinsichten, Ursache des Seins des Seienden. 219
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gedrückt werden können, kommen also der Seiendheit zu, so daß schlechthin gilt: „ἡ δ᾽ οὐσία ἐντελέχεια.“220 Nun wird der Ausdruck ἐντελέχεια von Aristoteles jedoch nicht nur in Bezug auf die Seiendheit gebraucht, sondern auch in allen anderen Zusammenhängen, in denen er ebensogut von ἐνέργεια sprechen könnte, daher kann dieser Ausdruck letztlich in Bezug auf jede Gattung des Seienden, d. h. in Bezug auf alle Kategorien gebraucht werden. Dies hat seinen Grund darin, daß auch alle anderen Gattungen des Seins ein Seiendes bestimmen und insofern als Form angesehen werden können; jedes Sein wird schließlich von einem Seienden als Sein dieses Seienden ausgesagt. Sie sind jedoch, wie bereits gesagt wurde, nicht Form im eigentlichen Sinne, und zwar deshalb, weil sich nur die Seiendheiten wirklich definieren lassen und somit ihr Logos angegeben werden kann. Bei dem, was unter die anderen Seinsgattungen fällt, dagegen ist dies nicht möglich, da diese einem Seienden immer nur akzidentell zukommen, d. h. es immer ein Zugrundeliegendes geben muß, in dem sie sind und so an dessen Sein gleichsam partizipieren. Die Form ist aber der Logos des Seienden, d. h. das Offenbarmachen des Seienden hinsichtlich seines Seins, also ist das, was unter die anderen Kategorien fällt, nicht im eigentlichen Sinne Form, sondern nur der Form analog. Aristoteles neigt aber dazu, auch das bloß Analoge mit der Bezeichnung zu benennen, die dem zukommt, dem das Analoge analog ist. Ähnliches trifft z. B. auch auf die ὕλη zu, die ja eigentlich aus dem handwerklichen Bereich kommt, von Aristoteles aber auf alle analogen Sachverhalte übertragen wurde. Ein weiteres Beispiel wäre nun auch der Ausdruck ἐντελέχεια, der ebenfalls in Bezug auf die akzidentellen Kategorien angewandt wird, jedoch dort nur etwas zur eigentlichen ἐντελέχεια Analoges benennt. Denn auch das Rot-Seiende ist, insofern es rot ist, als Rot-Seiendes vollendet und hält sich in dieser Vollendung, solange es rot bleibt, weil das Rot-Sein in gewisser Weise auch eine sich äußernde Tätigkeit ist; das Rot-Sein des Seienden ist seine Röte, welche zugleich die Ursache davon ist, daß das Rot-Seiende eben rot ist. Das Rot-Seiende ist jedoch rein hinsichtlich seiner selbst, d. h. insofern es überhaupt ein Seiendes ist, niemals rot, weil die Röte niemals selbst ein Seiendes konstituieren kann, sondern immer eines Zugrundeliegenden bedarf, an dessen Sein es gewissermaßen partizipiert. Ebenso ist auch das Sich-in-der-Vollendung-Halten des Rot-Seienden niemals schlechthin ein Sich-in-der-Vollendung-Halten, weil es De an. B 1, 412a 21.
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immer das Sich-in-der-Vollendung-Halten voraussetzt, das ein Seiendes weiterhin das Seiende sein läßt, das es rein hinsichtlich seiner selbst ist. Doch kehren wir zurück zu unserem eigentlichen Thema, nämlich der Physis, indem wir uns der Frage zuwenden, in welchem Sinne nun die Form eines Seienden Physis genannt werden kann. Ist die Form im strengen Sinne, also ein bestimmtes, rein für sich ein Seiendes konstituierendes Sein, zwar in einem Seienden, bestimmt dieses aber noch nicht, so nimmt es die Gestalt einer Kraft in diesem Seienden an und zeitigt ein Streben, dessen Ziel es ist, die Form dieses Seiende hinsichtlich seines Seins zu bestimmen. Dieses Streben wiederum setzt sich unmittelbar in Tätigkeit um, wenn kein Hindernis dazwischen tritt. Die spezifische Tätigkeit, die aus dem Streben entspringt, ist das φύεσθαι (Hervorwachsen) und die Form daher die Ursache des Hervorwachsens, also φύσις. Wenn nun aber das Streben und die Tätigkeit ihr Ziel erreicht haben und die Form das Seiende hinsichtlich seiner selbst als das und das Seiende bestimmt, dann würde damit alle Tätigkeit enden, und die Form würde aufhören Physis zu sein, wenn die Form ein statisches Gebilde wäre, wenn also die Vollendetheit des Seienden ein bloßer Abschluß wäre. Das natürliche Seiende würde dann gerade im Moment seiner Vollendung gleichsam sterben. Die Erfahrung widerspricht dem allerdings, denn wir sehen erwachsene Menschen herumlaufen und sogar Eintagsfliegen leben immerhin mindestens eine paar Minuten. Die Form, die als eine offenbare Form die Vollendetheit des Seienden ausmacht, kann also kein bloßer Abschluß sein, sondern muß selbst auch eine Tätigkeit bei sich führen. Nun kann diese Tätigkeit jedoch kein Ziel jenseits der Form haben, denn dann wäre die Form eben nicht die Form und Vollendung des Seienden. Das Ziel der Tätigkeit muß demnach auch beim vollendeten Seienden immer noch die Vollendetheit sein. Folglich zielt die Tätigkeit des Seienden als einem Seienden darauf, sich selbst in seinem eigenen spezifischen Sein, insofern ihm dieses rein hinsichtlich seiner selbst zukommt, zu halten. Die Form ist daher auch Ursache des Sich-in-derVollendung-Haltens. Sie ist also nicht nur die ἐντέλεια, sondern die ἐντελέχεια des Seienden und als solche bleibt sie φύσις des φύσει ὄν, auch wenn dieses schon vollständig zu dem geworden ist, was es zuvor nur dem Vermögen und der in ihm wirkenden spezifischen Kraft nach war. Diese Tätigkeit kann aber nicht ein schlechthinniges Werden eines Seienden hinsichtlich seiner selbst (καθ᾽ αὑτόν), also ein Entstehen sein, denn das Seiende ist ja hinsichtlich seiner selbst bereits das, was es in dieser Hinsicht eben jeweils ist. Wenn also das Sich-in-der-Vollendung-
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Halten eine Veränderung zeitigen soll, wie Aristoteles an der weiter oben zitierten Stelle behauptet, und wie dies auch bereits die Benennung der Form als Physis impliziert, dann kann es sich dabei demnach nur um eine solche Veränderung handeln, die das Seiende hinsichtlich dessen betrifft, was sich für dieses so ergeben hat (κατὰ συμβεβηκός). Und in der Tat sind ja alle natürlichen Seienden oder zumindest alle Lebewesen auf akzidentelle Veränderungen angewiesen, um sich im Sein und d. h. in der Vollendetheit zu halten. Raubtiere etwa müssen auf die Jagd gehen, Pflanzenfresser Schutz vor ihren Feinden suchen; die Beispiele ließen sich hier beliebig vermehren. Ein der Form entspringendes Sich-in-derVollendung-Halten zeitigt also bei Seiendem, das vergehen und sterben kann oder überhaupt auf irgendeine Art bedürftig ist, notwendigerweise akzidentelle Veränderungen (z. B. Laufen, Fressen, Kämpfen), die dieser Bedürftigkeit abhelfen. Aber das In-der-Vollendung-Halten bedarf nicht nur der akzidentellen Veränderung als einer conditio sine qua non. Auch im Hinblick auf die Vollendung des Seienden selbst sind akzidentelle Veränderungen unabdingbar. Wenn das Seiende nämlich überhaupt akzidentelle Veränderungen annehmen kann, dann darf es durch die essentielle Form nicht in jeder Hinsicht bestimmt sein. Die spezifische Unbestimmtheit eines Seienden gehört daher mit zu seiner spezifischen Bestimmtheit. Ein Mensch z. B. ist dadurch bestimmt, daß er umher gehen kann und also als Mensch hinsichtlich seines Aufenthaltsortes unbestimmt ist; würde das Mensch-Sein des Menschen dagegen auch darin bestehen, daß er sich an dem und dem Ort befindet, wie das z. B. bei dem essentiellen Sein der Sterne und Planeten für Aristoteles in gewisser Weise der Fall ist, dann könnte der Mensch diesen Ort unmöglich verlassen. Die Unbestimmtheit der essentiellen Form eines veränderlichen Seienden ist dabei von der Unbestimmtheit der Materie dadurch unterschieden, daß die Materie auch hinsichtlich der individuellen Einheit unbestimmt ist, die essentielle Form dagegen nicht, denn sie konstituiert ein Individuum. Die spezifische Unbestimmtheit ist jedoch kein bloßes Nichtvorhandensein einer Bestimmung, sondern wesentlich eine Bestimmbarkeit und damit ein Vermögen auf eine gewisse Art bestimmt zu werden. Dieses Vermögen ist allerdings kein Vermögen der Form, denn der Form selbst kommt kein Vermögen zu, sie ist ja Entelechie. Daher ist eine solche Form, die ein Seiendes nicht vollständig bestimmt, immer auf eine Ergänzung angewiesen, nämlich auf die Materie, die wesentlich Vermögen ist, und zwar auf eine bestimmte Materie, die die Unbestimmtheit der Form gewissermaßen „paßgenau“ mit Vermögen „unter-
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füttert“. Da nun diese Unbestimmtheit mit zur Bestimmtheit und damit zur Vollendung des Seienden gehört, muß sich das Sich-in-Vollendung-Halten auch darauf beziehen. Dieser Zusammenhang zwischen Form und Materie bildet den Hintergrund jener berühmt-berüchtigten Stelle in Phys. Γ, an der das Wesen der Veränderung bestimmt wird; ohne Berücksichtigung dieses Hintergrunds kann sie nicht adäquat verstanden werden: διῃρημένου δὲ καθ᾽ ἕκαστον γένος τοῦ μὲν ἐντελεχείᾳ τοῦ δὲ δυνάμει, ἡ τοῦ δυνάμει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνησίς ἐστιν …221 Nachdem wir aber im Hinblick auf jede Gattung einerseits das, was der Entelechie nach ist, andererseits das, was dem Vermögen nach ist, unterschieden haben, ist Bewegung222 die Entelechie des dem Vermögen nach Seienden, insofern es ein derartiges ist …
Aristoteles geht hier von der allgemeineren, auch die analogen Fälle umfassenden Verwendungsweise des Ausdrucks ἐντελέχεια aus, die der allgemeineren Verwendungsweise des Ausdrucks εἶδος korrespondiert. Jede solche Form ist eine Entelechie, d. h. der Grund und der Vollzug eines Sich-in-der-Vollendung-Haltens. z. B. hält sich das So-und-sogroß-Seiende in seinem So-und-so-groß-Sein, solange es eben so und so groß ist. Nun kann man aber auch eine besondere Art von Sein von einem Seienden aussagen, nämlich das Vermögend-Sein, wobei es nicht nur eine Art des Vermögend-Seins gibt, sondern so viele, wie es Arten des Seienden und des Seins gibt, da sich jedes Vermögen auf ein spezifisches Sein bezieht und insofern ein spezifisches Vermögen ist, z. B. bezieht sich das Vermögen zur Ortsveränderung auf das An-einem-bestimmten-Ort-Sein. Da nun also das Vermögend-Sein ein bestimmtes Sein ist, welches wiederum ein bestimmtes Seiendes charakterisiert, nämlich das Vermögend-Seiende (τὸ δυνατόν), so muß es auch selbst eine Form (im erweiterten, d. h. analogen Sinne) sein, dem damit auch ein Sich-in-der-Vollendung-Halten, also eine Tätigkeit, die sich selbst zum Ziel hat, entspricht. Das dem Vermögen nach Seiende ist aber nicht das, was es zu sein vermag, sonst wäre es ja nicht mehr dem Vermögen nach, daher ist auch das Sein, das einem solchen Seienden zukommt, nicht das, was das dem Vermögen nach Seiende zu sein vermag, sondern etwas anderes. Nach Aristoteles nun ist dieses Sein das Werden dessen, was das Phys. Γ 1, 201a 9–11. Unter Bewegung versteht Aristoteles hier wieder, wie bereits gesagt wurde, Veränderung im allgemeinen. 221
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Seiende zu sein vermag.223 Dies entspricht dem, was wir weiter oben bei der Erörterung des δύναμις-Begriffs festgestellt haben, daß nämlich das Vermögen, das nicht eine bloße Möglichkeit, sondern eine Kraft ist, sich in einem Streben äußert, denn ein ungehindertes Streben ist ein freies und gerichtetes Werden. Daß auch das Werden ein Sein ist, wird schon aus dem Sprachgebrauch heraus klar, denn wir können sagen, daß das, was wird, werdend ist. Das Werden bzw. das Werdend-Sein ist also das Sein und damit der Grund und Vollzug des Sich-in-der-VollendungHaltens des dem Vermögen nach Seienden, insofern es ein solches ist. Der letzte Zusatz jedoch, der eine bestimmte Hinsichtnahme betont, macht zugleich deutlich, daß ein dem Vermögen nach Seiendes niemals nur dem Vermögen nach ist, denn ein schlechthin und ausschließlich Mögliches gibt es nach Aristoteles nicht; ein dem Vermögen nach Seiendes muß vielmehr immer auch der Tätigkeit bzw. der Entelechie nach sein, wenn es überhaupt ist. Nun ist zwar das Werden die Entelechie des dem Vermögen nach Seienden, das Werden kann jedoch kein Seiendes konstituieren, sondern setzt ein Werdendes und damit etwas dem Werden Zugrundeliegendes voraus. Die Entelechie, d. h. das Sich-in-derVollendung-Halten, des dem Vermögen nach Seienden ist daher nicht die Entelechie des Seienden schlechthin; das aber bedeutet, daß das Werden auch nicht schlechthin Entelechie ist, denn unter Entelechie ist der Grund und Vollzug des Sich-in-der-Vollendung-Haltens zu verstehen, das Werden jedoch kann sich rein aus sich selbst heraus nicht in der Vollendung halten. Das Werden als relative Entelechie verweist also auf die absolute Entelechie eines Seienden schlechthin, welche in der essentiellen Form gründet bzw. mit dieser identisch ist. An diesem essentiellen Sichin-der-Vollendung-Halten partizipiert das Werden nur gleichsam. In der zweiten Fassung der Definition der Veränderung kommt dieser Zusammenhang vielleicht noch etwas deutlicher zum Ausdruck: ἡ δὲ τοῦ δυνάμει ὄντος , ὅταν ἐντελεχείᾳ ὂν ἐνεργῇ οὐχ ᾗ αὐτὸ ἀλλ᾽ ᾗ κινητόν, κίνησίς ἐστιν.224
223 Genau genommen dreht Aristoteles die Blickrichtung um, denn um was es ihm im ersten Kapitel des dritten Buches der Physik in erster Linie geht, ist ja nicht das Sein des Vermögend-Seienden, sondern das Wesen des Werdens bzw. der Veränderung. Die Richtung der Argumentation spielt jedoch für die gegenwärtige Überlegung keine Rolle. 224 Phys. Γ 1, 201a 27–29; Ergänzung nach Ross.
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Bewegung ist die Entelechie des dem Vermögen nach Seienden, wenn es als ein der Entelechie nach Seiendes, nicht insofern es es selbst, sondern insofern es beweglich ist, tätig ist.
Die Entelechie des dem Vermögen nach Seienden ist also die Tätigkeit eines vollendeten und sich in der Vollendung haltenden Seienden, wenn dieses nicht insofern tätig ist, als es es selbst, sondern als es veränderlich (im weitesten Sinne) ist. Das, was das Seiende hinsichtlich seiner selbst ist, ist seine essentielle Form, die mit der absoluten Entelechie und damit dem schlechthinnigen und voraussetzungslosen Sich-in-der-Vollendung-Halten identisch ist. Insofern das Seiende vollendet ist, verändert es sich nicht. Verändern kann es sich nur, insofern es nicht vollendet ist. Nicht vollendet ist nicht das Seiende selbst hinsichtlich seiner selbst, sondern das Seiende, insofern sich für es ein Sein ergeben hat (κατὰ συμβεβηκός). Damit sich aber für das Seiende überhaupt ein Sein ergeben kann, d. h. damit ihm ein Sein zukommen kann, durch das es nicht schon allein deshalb bestimmt ist, weil es das Seiende ist, das es ist, darf es durch die Form nicht vollkommen bestimmt werden, aber auch nicht einfach vollkommen unbestimmt sein, wie z. B. ein Mensch hinsichtlich seiner Flügelspannweite. Vielmehr darf das Seiende nur noch unbestimmt sein, das aber heißt, daß es bestimmbar sein muß. Die Bestimmbarkeit ist aber ein Vermögen. Das Seiende kann dann als Seiendes nicht einfach unbestimmt bleiben, wenn ihm die Gattung einer Bestimmung zukommt. Wenn z. B. ein Mensch als Mensch ein Körper ist, aber nicht ein so und so großer Körper, dann kann und muß der Mensch hinsichtlich der Größe bestimmt werden. Ihm muß also das Vermögen zukommen, eine bestimmte Größe anzunehmen. Dieses Vermögen entspringt zwar nun nicht der Form, dennoch gehört das Sein des Vermögens mit zum Sich-in-der-Vollendung-Halten der Form. Denn ein Seiendes kann als so und so formal bestimmtes Seiendes sich nur dann in der Vollendung halten, wenn es sich insgesamt in der Vollendung hält, denn das essentielle Sich-in-der-Vollendung-Halten ist das Sich-in-der-Vollendung-Halten des ganzen Seienden. Daher muß ein Seiendes auch hinsichtlich dessen sein und tätig sein, was ihm nicht insofern zukommt, als es es selbst ist. Diese Tätigkeit ist nun die Veränderung und das Werden. Denn ein Seiendes z. B., das anders beschaffen werden kann, wird nur vollendet sein, wenn es sich auch tatsächlich hinsichtlich seiner Beschaffenheit verändert; ein solches Seiendes nämlich bedarf zu seiner Vollendung des Anders-beschaffen-Werdens, welches also dann auch zu sei-
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
nem Sich-in-der-Vollendung-Halten gehören wird, denn dies macht eben das Seiende zu dem Seienden, das es ist. Auf diese Weise also kann die Form, obwohl sie ein Seiendes rein hinsichtlich seiner selbst bestimmt, dennoch Ursache akzidenteller Veränderungen sein. Man könnte dies vielleicht auch so ausdrücken: Die Form eines veränderlichen Seienden hat gewissermaßen Spiel. Die Form bestimmt aber ein Seiendes nur dann, wenn dieses Spiel auch gespielt wird. So haben auch die Regeln des Schachspiels Spiel: sie legen neben der Anzahl und Art der Spielfiguren, der Anfangsaufstellung und dem Ziel nur allgemein fest, wie jede Figur ziehen und andere Figuren schlagen kann. Diese Regeln machen die Form des Schachspiels aus. Damit die Form aber tatsächlich auch ein „Seiendes“, nämlich das Schachspiel (wenn man das hier einmal als Seiendes gelten lassen will), bestimmen kann, muß das Schachspiel auch gespielt werden. Gespielt werden kann es aber nur, wenn ein gewisses Material, nämlich die Spielfiguren und das Spielfeld, zur Verfügung stehen, in denen sich das Schachspiel gleichsam verkörpern kann. Jedoch ist kein einzelnes Schachspiel, d. h. keine Partie, mit dem Schachspiel schlechthin identisch, denn keine Partie kann den Spielraum, den das Schachspiel eröffnet, erschöpfen. Daher muß das Schachspiel sich auch immer wieder in neuen Partien verkörpern, um Bestand zu haben. Der Bestand und das Sich-in-der-Vollendung-Halten des Schachspiels bedarf also der Veränderung, die allerdings nicht die Regeln des Schachspiels, also seine Form betreffen, sondern die Materie, in der es sich verkörpert. Hieran ließen sich nun noch viele weitere Überlegungen anschließen. Insbesondere müßte noch die Frage geklärt werden, ob sich das Sich-inder-Vollendung-Halten in akzidentellen Veränderungen erschöpft oder nicht. Hier mögen einige Hinweise genügen, obgleich es diese Frage verdiente, viel weiter ausgeführt zu werden. Daß es sich nicht darin erschöpft, wird aus Met. Λ deutlich, denn auch der unbewegte Beweger ist und lebt, ja er lebt sogar im höchsten Sinne.225 Dennoch kommt ihm, wie schon sein Name sagt, keinerlei Veränderung zu. Das Tätig-Sein ist aber für Aristoteles nicht an Veränderungen gebunden, denn gerade die höchsten Formen von Tätigkeiten ruhen in sich selbst, wie z. B. das Sehen: wenn man sieht, hat man zugleich immer schon gesehen, d. h. das Sehen ist in jedem Moment, in dem man sieht und daher auch tätig ist, als Sehen
Vgl. Met. Λ 7, 1072b 26–30.
225
4.2 Form, Materie und die Einheit des Physisbegriffs
239
schon vollendet.226 Daher kann auch ein unbewegter Beweger tätig sein, obwohl er sich nicht verändert; freilich sieht er nicht, denn das Sehen ist ja immer noch auf etwas veränderliches angewiesen, sondern denkt.227 Und auch ein Mensch vollzieht im Hinblick auf die höchste Tätigkeit, derer er fähig ist, nämlich der Theorie, eine solche unbewegte Tätigkeit. Diese Tätigkeit ist die ἀρετή des Menschen, d. h. seine spezifische Vollkommenheit228 ; indem er also diese Tätigkeit vollzieht, hält er sich in entscheidender Weise in der Vollendung. Zum Schluß wollen wir nochmals kurz auf eine andere Frage zurückkommen, nämlich auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen ἐντελέχεια und ἐνδελέχεια. Läßt sich zu ihrem Verhältnis mittlerweile mehr sagen? Mir scheint, das ist möglich. Die ἐντελέχεια hat sich ja als Ursache und Vollzug des Sich-in-der-Vollendung-Haltens erwiesen, das Sich-in-der-Vollendung-Halten aber stellt gerade das fortdauernde und kontinuierliche (ἐνδελεχῶς) Sein des Seienden dar. Also ist die ἐντελέχεια des Seienden zugleich seine ἐνδελέχεια, insofern sie das Sein des Seienden ist, welches dem Seienden hinsichtlich seiner selbst zukommt. Der Analogie nach kann man freilich auch bei dem anderen einem Seienden zukommenden Sein, nämlich dem akzidentellen Sein, von der ἐντελέχεια sprechen, denn auch dieses Sein bestimmt in gewisser Weise fortdauernd und kontinuierlich das Seiende, nur eben nicht hinsichtlich seiner selbst. Dies ändert nichts daran, daß die ἐντελέχεια im eigentlichen Sinne die Seiendheit und d. h. die Form eines natürlichen Seienden ist, und zwar insbesondere dann, wenn es dieses Seiende auch hinsichtlich seiner selbst wirklich bestimmt, d. h. wenn die Form und Entelechie auch der Entelechie nach in dem Seienden gleichsam vorhanden ist.229 Ähnliches gilt auch für das Sein, das einem nicht-natürlichen Seienden hinsichtlich seiner selbst zukommt, denn auch dieses kann zwar als ἐντελέχεια bezeichnet werden, ist der ἐντελέχεια im eigentlichen Sinne jedoch nur analog, weil es bei Artefakten dieselbe Funktion übernimmt, die die Entelechie im eigentlichen Sinne, d. h. die Physis, bei natürlichem Seienden innehat. Daß Analoges mit demselben Ausdruck bezeichnet wird, ist, wie gesagt, durchaus ein verbreitetes Phänomen bei Aristoteles. Nun kann man zwar immer noch behaupten, diese Überlappung der beiden Begriffe sei ein reiner Zufall, doch wird man es mir verzeihen, wenn ich erkläre, daß Vgl. Met. Θ 6, 1048b 18–34; Θ 8, 1050a 30 – 1050b 3. Vgl. Met. Λ 7, 1072b 18–30. 228 Vgl. EN K 7, 1177a 12–18. 229 Vgl. Met. Δ 4, 1015a 17–19. 226 227
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
ich an solche Zufälle nicht glaube. Vielmehr erscheint es mir am wahrscheinlichsten, daß Aristoteles diese Ähnlichkeit beabsichtigte, ja daß er gerade deshalb das Wort ἐντελέχεια in der Weise bildete, wie er das tat. Warum hätte er das aber tun sollen? Er tat es, weil er dadurch das ein Seiendes (in akzidenteller oder wesentlicher Hinsicht) bestimmende Sein auf eine bestimmt Weise charakterisieren wollte: Sein ist für Aristoteles eine Tätigkeit deren Ziel und Vollendung die Tätigkeit selbst ist. Da die Hauptbedeutung von Sein und damit das Sein im eigentlichen Sinne das essentielle Sein darstellt, also das Sein, das das Seiende selbst hinsichtlich seiner selbst ist, kann man auch sagen, daß das Sein im eigentlichen Sinne der kontinuierliche und sich in der Vollendung haltende Selbstvollzug des Seienden ist; als Selbstvollzug ist das Sein im eigentlichen Sinne daher mit dem Seienden selbst identisch.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie als eines Prinzips des Werdens (Phys. A 5–9) Aristoteles hat an den bisher untersuchten Stellen das, was er unter Materie versteht, stets nur an Beispielen sachlicher oder philosophiehistorischer Art demonstriert, seine Ansicht jedoch nicht systematisch begründet.230 Es findet sich jedoch in seinem Œuvre eine (und nur eine) Stelle, an der er dies tut, und zwar im ersten Buch der Physik. Dieses dürfte wohl, wie bereits erwähnt wurde, genau auf der Grenze zwischen der mittleren und der späten Akademiezeit des Aristoteles stehen.231 Denn mit dieser Schrift, bzw. dem später sogenannten Hylemorphismus, den sie, soweit es den begrifflichen Gehalt angeht, einführt, ändert sich das denkerische Koordinatensystem des Aristoteles auf eine solche Weise, die man nur als entscheidenden Durchbruch bei dem Versuch begreifen kann, Sein als Selbstvollzug zu verstehen. Alle anderen Änderungen im Leben des Aristoteles dürften demgegenüber intellektuell kaum von Bedeutung sein, das Verlassen Athens und der Akademie ebenso wie die 230 Warum er an diesen Stellen so vorgeht, mag eine interessante und vielleicht nicht ganz unwichtige Frage sein; sie soll jedoch hier ausgeklammert werden. 231 Unter der mittleren Akademiezeit verstehe ich, wie ebenfalls bereits erwähnt, die Phase, in der Aristoteles die vom Begriff der Materie noch freie Ontologie der Kategorienschrift vertrat, unter der späten dagegen die Phase seines Denkens, in der er bereits den Materie-Begriff entwickelt aber noch nicht die Akademie verlassen hatte.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
241
Rückkehr mit der Gründung der eigenen Schule. Der wirkliche, über bloße Datierungsfragen hinausgehende Fehler Werner Jaegers232 besteht ja in der vollkommen ungerechtfertigten Gleichsetzung von äußerer und intellektueller Biographie. Mag beides bei manchen Denkern auch bis zu einem bestimmten Grade koinzidieren, bei Aristoteles zumindest scheint dies nicht der Fall zu sein; er war wohl schon längst ein eigenständiger Denker, der das Feld seiner Forschungen schon abgesteckt hatte, als er Athen in Richtung Assos verließ. Wir wollen uns also daher im folgenden mit diesem systematischen und wohl auch chronologischen Grenzstein des Aristotelischen Denkens befassen, der die frühe Ontologie der Kategorienschrift von der reifen Ontologie trennt, d. h. mit dem ersten Buch der Physik. Denn es ist zu vermuten, daß durch Betrachtung der systematischen Begründung des Materiebegriffs und seines Verhältnisses zu den Begriffen der Form und der Privation sich das bisherige Ergebnis unserer Überlegungen zum einen überprüfen, zum anderen aber auch vertiefen lassen dürfte. Nun zerfällt das erste Buch der Physik wiederum grob in zwei Teile: einen historisch-polemischen und einen systematischen. Der erste Teil erstreckt sich über die ersten vier Kapitel (184a 10 – 188a 18), der zweite über die restlichen fünf (188a 19 – 192b 4). Wir wollen im folgenden den ersten, historisch-polemischen Teil ausklammern und uns ganz auf den zweiten, also den systematischen, konzentrieren. In diesem geht Aristoteles in zwei großen Schritten vor: zunächst zeigt er im fünften Kapitel, daß jeder Wandel zwischen zwei Polen stattfindet, die einander entgegengesetzt sind, und daß dies auch zumindest implizit alle zugestehen, die bisher versucht haben, Wandel zu erklären. Im zweiten Schritt (Kapitel 6–8) führt er dann noch ein drittes Prinzip ein und entfaltet es, welches noch keiner seiner Vorgänger deutlich erfaßt hatte: die zugrundeliegende Natur, die er erst im neunten Kapitel eindeutig als Materie bezeichnet. Dieses neunte Kapitel schließlich scheint mir nun zwar eine spätere Hinzufügung zu sein, die die Aristotelische Dreiheit (Form, Privation und Materie) von der Platonischen Dreiheit (das Eine, das Große und das Kleine) abgrenzen soll, indem beide Konzepte als tatsächlich radikal verschieden erwiesen werden, und zugleich gezeigt wird, daß nur das Aristotelische eine wirkliche Dreiheit behauptet und damit konsistent 232 Vgl. Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin ²1955.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
ist. Für diese Sonderstellung des neunten Kapitels spricht vor allem die selbstverständliche Verwendung des Materiebegriffs als allgemein bekanntem ontologischen Terminus technicus, während der ansonsten im ersten Buch im übrigen selten verwendete Ausdruck Materie in den anderen Kapiteln entweder eine spätere Hinzufügung darstellt oder seine alltagssprachliche Bedeutung als Material oder Baustoff behält, wie noch zu zeigen sein wird. Außerdem wird im neunten Kapitel auch völlig unvorbereitet mit dem Strebenden und dem Göttlichen eine ganz neue Begrifflichkeit eingeführt, die zudem in ihrem Tonfall in einem deutlichen Kontrast zu dem Rest des ersten Buchs steht. Aber auch, wenn es erst später angehängt worden sein sollte, so ist es doch für das Verständnis der Materie von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da es einen Aspekt behandelt, der ansonsten von Aristoteles eher vernachlässigt wird, nämlich den des Strebens der Materie. Daher soll auch das neunte Kapitel im folgenden Berücksichtigung finden, auch wenn es nicht mehr im eigentlichen Sinne in den Zusammenhang der systematischen Einführung des Materiebegriffs gehört.
4.3.1 Form und Privation als Prinzipien des Werdens Wir beginnen also unsere Untersuchung des ersten Buchs, wie bereits angekündigt, mit dem fünften Kapitel (204a 8 – 206a 8). In diesem wird dargelegt, daß es zwei Prinzipien des Werdens geben muß, die einander entgegengesetzt sind, nämlich, wie er allerdings erst später erklärt, Form und Privation. Bei dieser Untersuchung werden wir uns die Freiheit nehmen, teilweise weit über den gegenwärtigen Kontext hinauszugreifen, um uns so einem ersten umfassenderen Verständnis des Gegensatzes anzunähern, an das wir dann später wieder anknüpfen können. Aristoteles beginnt das fünfte Kapitel, das nach dem historischen und polemischen Teil in den vier vorhergehenden Kapiteln den Beginn der systematisch-konstruktiven Untersuchung markiert, zunächst damit zu konstatieren, daß offenbar auch alle seine Vorläufer Entgegengesetztes als Prinzipien angenommen haben, was auch Sinn mache, da ja zwei Prinzipien immer gleich ursprünglich sein müssen und dies nur bei Entgegengesetztem gewährleistet sei.233 Der Grund dafür ist wohl darin zu sehen, daß für Aristoteles alles immer nur das ihm Ähnliche bewirken kann, weil es sonst zu einem Werden aus nichts käme, welches nach An Vgl. Phys. Α 5, 188a 19–30.
233
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
243
sicht der gesamten antiken Philosophie unmöglich ist. Denn daß Feuer erwärmt, ist unproblematisch, da es selbst ebenfalls warm ist, würde man nun aber behauptet wollen, daß es auch abkühlt, dann würde sich die Frage stellen, woher die Kühle kommt; da das Feuer nun jedoch als Warmes dem Kalten entgegengesetzt und somit seiner Natur nach ausschließlich warm ist, müßte die Kühle aus nichts entstanden sein, was nicht möglich ist.234 Daß Entgegengesetztes nicht auseinander hervorgehen kann, gilt allerdings nur, wie er später einschränkt, für eine ein Sein ausdrückende formale Bestimmung wie Helligkeit und Dunkelheit, nicht jedoch für Seiendes wie Helles und Dunkles, denn letztere können sich ineinander umwandeln 235 ; bei entgegengesetzten Prinzipien muß dies allerdings ausgeschlossen sein, weshalb auch nur einander entgegengesetzte Arten des Seins und nicht einander entgegengesetztes Seiendes Prinzipien des Werdens in diesem Sinne sein können. Doch begnügt sich Aristoteles nicht mit dem Verweis auf die Tradition und dem Nachweis, daß es ganz plausibel war, wenn seine Vorläufer unter der Voraussetzung, daß es zwei Prinzipien gibt, diese zu Entgegengesetztem machten. Er will auch argumentativ (ἐπὶ τοῦ λόγου) 236 darlegen, daß alles Werden aus Entgegengesetztem hervorgehen muß. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung: ληπτέον δὴ πρῶτον ὅτι πάντων τῶν ὄντων οὐθὲν οὔτε ποιεῖν πέφυκεν οὔτε πάσχειν τὸ τυχὸν ὑπὸ τοῦ τυχόντος, οὐδὲ γίγνεται ὁτιοῦν ἐξ ὁτουοῦν, ἂν μή τις λαμβάνῃ κατὰ συμβεβηκός·237 Zunächst nun gilt es zu begreifen, daß von allen Seienden keines zu bewirken pflegt, was sich gerade so trifft, oder eine Einwirkung zu erfahren von dem, was sich gerade so trifft, und es wird auch nicht Beliebiges aus Beliebigem, so man denn dies nicht im Hinblick auf das, was sich so ergeben hat, versteht.
Das Verb πεφυκέναι, das hier mit „pflegen“ übersetzt wurde, ist eigentlich die Perfektform von φύεσθαι, hat aber auch eine gewisse Eigenständigkeit gewonnen und im Zuge dessen eine Bedeutungsabschwächung erfahren, vor allem wenn es mit einem Infinitiv kombiniert wird. Es kann dann auch einfach bedeuten, daß das mit dem Infinitiv Bezeichnete 234 Daß man auch ganz anders an diesen Zusammenhang herangehen kann, zeigt Hesiod, der offenbar auch den Gegensatz als erzeugendes Prinzip ansah, zumindest geht bei ihm der Himmel aus der Erde und der Tag aus der Nacht hervor; vgl. Hesiod, Theogonia, v. 123–128. 235 Vgl. Phys. A 6, 189a 18–20. 236 Vgl. Phys. A 5, 188a 31. 237 Phys. A 5, 188a 31–34.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
für gewöhnlich zu geschehen pflegt.238 Aristoteles will hier jedoch wohl nicht bloß zum Ausdruck bringen, daß das Seiende sich relativ häufig so und so verhält oder aus welchem Grund auch immer dazu tendiert, sich so und so zu verhalten. Vielmehr ist anzunehmen, daß er aus dem Wort vor allem auch den Bezug zur Physis heraushört, um die es ihm ja in der Physik geht.239 Allerdings schließt dies die schwächere Bedeutung auch nicht völlig aus, denn alles, was von Natur aus geschieht, ereignet sich nicht mit strenger Notwendigkeit, sondern in der Regel (ἐπὶ τὸ πολύ). Mit πέφυκεν will Aristoteles daher hier wohl auch darauf verweisen, daß das, was ein Seiendes bewirkt oder was einem Seienden widerfährt, insofern nicht beliebig ist, insofern das Geschehen in der Natur des Seienden gründet, ohne daß deshalb bereits die Wirkung oder das Widerfahrnis notwendig eintreten müßten. Denn natürlich kann ein Feuer nicht nur etwas erwärmen, sondern auch als Signal jemanden sowohl warnen als auch beruhigen und insofern Beliebiges bewirken. Diese Wirkung gründet jedoch nicht in der Natur des Seienden, sondern in irgendwelchen Übereinkünften oder anderen Einflüssen, die dem Seienden äußerlich sind, weshalb solche Wirkungen selbst dem Seienden nicht hinsichtlich seiner selbst zukommen, sondern hinsichtlich dessen, was sich so ergeben hat (κατὰ συμβεβηκός), d. h. akzidentell. Nun spricht Aristoteles hier aber nicht nur von dem natürlichen Seienden (φύσει ὄν) und auch nicht nur von dem Seienden, insofern dieses es selbst ist, sondern von allem Seienden (πάντων τῶν ὄντων) ohne Einschränkung. Und die Beispiele im Anschluß an die zitierte Stelle beziehen sich auch auf Seiendes in akzidenteller Hinsicht, nämlich auf etwas Helles (λευκόν) und etwas Kultiviertes (μουσικόν).240 Er denkt hier also offenbar nicht nur an die Physis im eigentlichen Sinne, sondern dehnt die Betrachtung hier implizit auch auf das der Physis Analoge aus. Denn die Physis im eigentlichen Sinne ist, wie wir weiter oben gesehen haben, die Form und Entelechie eines natürlichen Seienden, welche ihm rein hinsichtlich seiner selbst zukommen. Alles einem Seienden zugesprochene Sein jedoch ist der Form und der Entelechie im eigentlichen Sinne Analog und kann deshalb von Aristoteles mitunter ebenfalls mit diesen Ausdrücken bezeichnet werden. Insofern also jedes Sein der Form im eigentlichen Sinne analog ist, ist jedes Sein auch der Physis analog. Die Analo Vgl. z. B. den entsprechenden Absatz im LSJ. Vgl. Phys. A 1, 184a 1–16. 240 Vgl. Phys. A 5, 188a 35 ff. 238 239
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
245
gie besteht darin, daß jedes Sein ein Seiendes hinsichtlich seines Seins bestimmt und insofern in gewisser Weise Ursache von Wandel und Bestand in diesem Seienden ist. Der Unterschied demgegenüber liegt freilich darin, daß das Sein, das der Form, Entelechie und Physis im eigentlichen Sinne nur analog ist, kein Seiendes schlechthin aus sich selbst heraus konstituieren kann, sondern immer auf ein anderes Seiendes angewiesen sind, nämlich entweder als ein akzidentelles Sein auf ein zugrundeliegendes Seiendes oder als ein artifizielles Sein auf ein herstellendes Seiendes. Nur die Physis selbst, und nicht das ihr bloß Analoge, ist vollkommen autark und deshalb im eigentlichen Sinne Prinzip und Ursache des Sich-Bewegens und Ruhens in dem Seienden, dessen essentielles Sein sie darstellt.241 Entsprechend ist in dem obigen Zitat auch die Wendung κατὰ συμβεβηκός nicht in ihrer engeren Bedeutung zu verstehen, nach der sie sich auf alles bezieht, was einem Seienden nicht so zukommt, daß es das Seiende als Seiendes überhaupt allererst konstituiert. Es ist hiermit also nicht das Akzidentelle im strengen und absoluten Sinne gemeint, vielmehr wird diese Bezeichnung hier ebenfalls auf analoge Fälle ausgedehnt. Denn eigentlich wären ja auch das Helle und das Kultivierte nur insofern hell und kultiviert, insofern es sich für etwas anderes so ergeben hat. Insofern jedoch auch das eigentlich akzidentelle Sein ein Seiendes bestimmt, wenn auch freilich nicht so, daß es dadurch allererst konstituiert würde, kann man auch z. B. von etwas Hellem sagen, daß es hinsichtlich seiner selbst hell ist; insofern es nämlich ein Hell-Seiendes ist, ist es hinsichtlich seiner selbst hell, nicht jedoch schlechthin. Demgegenüber hat sich das Kultiviert-Sein für das Hell-Seiende nur so ergeben, kommt ihm also gewissermaßen akzidentell zu, jedoch ebenfalls nicht schlechthin, sondern insofern es ein Hell-Seiendes ist. Denn schlechthin hat es sich nicht für das Hell-Seiende ergeben, daß es kultiviert ist, sondern für einen Menschen, für den es sich außerdem ergeben hat, daß er auch hell ist. Am Beispiel des Hellen und des Kultivierten weist Aristoteles im Anschluß an den oben zitierten Satz den dort behaupteten Sachverhalt nach. Dabei tritt allerdings das Bewirken, das im obigen Zitat noch sehr hervorgehoben ist, ganz in den Hintergrund, denn Aristoteles geht es hier offensichtlich allein um das Werden. Die Feststellung, daß kein Bewirkendes und Leidendes, insofern es dies ist, beliebiges bewirkt und erleidet, dient wohl nur dazu, die Nicht-Beliebigkeit des Werdens in einen Vgl. die Definition in Phys. B 1, 192b 20–23.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
größeren Kontext einzubetten und dadurch die Plausibilität des Arguments zu steigern. Zufall und Beliebigkeit, so die Aussage, ist im gesamten Bereich des Nicht-Akzidentellen ausgeschlossen, und so denn auch im Falle des nicht-akzidentellen Werdens. Beispiele, an denen dies einsichtig wird, liefert Aristoteles allerdings nur für das Werden. Diese Beispiele dürften wohl als eine ἐπαγωγή242 zu verstehen sein, nicht als eine bloße Erläuterung. Es geht ihm durchaus darum allererst nachzuweisen, daß es sich so verhält, wie er zuvor behauptet hatte. Denn daß das zuvor Behauptete selbstverständlich wäre, kann man nicht gerade sagen, schließlich vertraten etliche der vorsokratischen Naturphilosophen genau die entgegengesetzte Auffassung. So kann z. B. für Anaxagoras alles aus allem hervorgehen, weil alles in allem enthalten ist; dasselbe gilt für alle anderen Philosophen, die der Ansicht sind, daß alles aus einem hervorgehe. Im folgenden führt Aristoteles nun aus, daß Helles nicht aus Kultiviertem werden kann, es sei denn das Kultivierte wäre zugleich ein Nicht-Helles. Denn nur das Nicht-Helle kann hinsichtlich seiner selbst hell werden, da es bereits hinsichtlich seiner Helligkeit bestimmbar ist. Allerdings ist auch das Kultivierte in gewisser Weise etwas Nicht-Helles, es ist schließlich nichts Helles. Hier ist jedoch nicht jedes beliebige Nicht-Helle gemeint, sondern dasjenige, das dem Hellen entgegengesetzt ist. Dies trifft nicht auf das Kultivierte zu, sondern ausschließlich auf das Dunkle. Das Dunkle ist dem Hellen entgegengesetzt, und zwar deshalb, weil es wesentlich ein Nicht-Helles ist. Es handelt sich aber um einen konträren Gegensatz, der Zwischenstufen zuläßt, nämlich die Farben, so ist z. B. Rot dunkler als Gelb und Gelb heller als Rot; beide aber befinden sich zwischen dem Maximum an Helligkeit, nämlich Weiß, und dem Maximum an Dunkelheit, nämlich Schwarz.243 Daher kann das Helle auch aus diesen Zwischenstufen werden, z. B. aus etwas Rotem etwas Weißes. Weiter geht Aristoteles hier nicht auf die Natur dieser das Werden ermöglichenden Gegensätze ein. Für das Verständnis des Textes wäre eine etwas ausführlichere Erörterung jedoch wünschenswert. Um dem nachzukommen, wollen wir im folgenden etwas über den gegenwärtigen Text Die ἐπαγωγή hat nichts mit einer Induktion im modernen Sinne zu tun, sondern meint das Heranziehen eines guten Beispiels, anhand dessen man einen allgemeinen Sachverhalt unmittelbar und mit Gewißheit erkennen kann. 243 Im Griechischen gibt es für Hell und Weiß sowie Dunkel und Schwarz nur jeweils ein Wort: λευκός und μέλας. 242
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
247
hinausgreifen. Es ist kein Zufall, daß Aristoteles das Dunkle auch als Nicht-Helles bezeichnet, nicht jedoch das Helle als ein Nicht-Dunkles. Denn dieser Gegensatz, der dem Werden zugrunde liegt, ist nicht gleichwertig, wie z. B. der Gegensatz von Links und Rechts, bei dem jedes Glied jeweils relativ auf das andere bestimmt ist. Nur die Dunkelheit nämlich ist relativ bestimmt, denn sie ist nichts anderes als ein (vollständiger) Mangel (ἔλλειψις) an Helligkeit, wohingegen die Helligkeit nicht relativ auf etwas anderes bestimmt ist, sondern im Gegensatz zum Mangel die Fülle (ὑπεροχή) bezeichnet, d. h. die Vollständigkeit oder Vollkommenheit.244 Gemeint ist hier jedoch nicht die Vollkommenheit schlechthin, sondern die Vollkommenheit des Seins, das für Aristoteles immer ein spezifisches Sein ist: das spezifische Sein des Seienden enthüllt sich in der Fülle vollkommen hinsichtlich seiner Bestimmtheit, d. h. hinsichtlich dessen, was es jeweils für ein Sein ist. In der Fülle ist das Sein daher ganz mit sich identisch, die Fülle ist deshalb die ein Seiendes bestimmende Form. Der Mangel wird von Aristoteles auch als Beraubung oder Privation (στέρησις) bezeichnet, da das, dessen ein Seiendes hinsichtlich seines Seins bedarf, hier gerade fehlt; das Sein bedarf aber der Offenbarkeit seiner selbst, d. h. es muß sich als es selbst äußern, denn ansonsten ist das Seiende, dem das Sein zukommt, nicht das, was es ist. Die Privation liegt also vor, wenn sich ein Seiendes hinsichtlich dessen, was es ist, verbirgt. So ist z. B. die Schwärze zwar die Bestimmung eines Seienden hinsichtlich seiner Helligkeit, allerdings so, daß das Seiende hinsichtlich seiner Helligkeit als etwas bestimmt wird, das der Helligkeit gerade ermangelt. Ebenso ist die Unkultiviertheit eine Bildung, die der Bildung ermangelt, denn vollkommen unkultiviert ist nicht der, der einfach kein musisches Wissen hat (dies aber weiß), sondern der, der kein musisches Wissen hat, dies aber gerade nicht weiß, sich also einbildet kultiviert zu sein.245 Desgleichen ist auch die Privation des Arztes nicht der medizinische Laie, sondern der Kurpfuscher (ἀνίατρος).246 Denn wer Vgl. Phys. A 6, 189b 10 f. Vgl. dazu Platons Ausführungen zum Gegensatz zwischen μουσικός und ἄμουσος im ersten Buch der Politeia (Rep. I 349d–e). Platon führt hier aus, daß der Unkultivierte sowohl den Kultivierten als auch die anderen Unkultivierten in musischen Belangen (bei Platon wird als Beispiel das Stimmen der Lyra gewählt) übertreffen will, was nur Sinn macht, wenn der Unkultivierte nicht nur kein musisches Wissen hat, sondern sich darüber hinaus auch noch einbildet, in musischer Hinsicht besonders gebildet zu sein. An dieser Stelle findet sich außerdem auch das Beispiel des Arztes, das dem des Kultivierten ganz parallel läuft. 246 Vgl. Phys. A 8, 191b 4–6. 244 245
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
eine Sache zwar nicht weiß, jedoch um sein Nichtwissen dieser Sache weiß, dem mangelt das Wissen in Bezug auf diese Sache nicht vollkommen. Wer jedoch noch nicht einmal weiß, daß er nichts weiß, der ist wirklich vollkommen unwissend, weshalb auch Sokrates durch das Wissen seines Nichtwissens allen anderen hinsichtlich des Wissens überlegen ist.247 Der Mangel oder die Privation ist also kein bloßes, schlichtes Nichtvorhanden-Sein, sondern ein Sein, dem das ermangelt, was es als Sein ausmacht, d. h. ein Nicht-Sein im eigentlichen Sinne, das als Sein eines Seienden diesem tatsächlich zukommt und es bestimmt, und nicht nur durch einen negierenden Denkakt gleichsam von außen an ein Seiendes herangetragen wird. Denn wenn man sagt, daß ein Mensch flugunfähig ist, dann hat man dadurch den Menschen selbst nicht bestimmt, sondern ihn nur gegenüber anderen Lebewesen, mit denen man ihn vergleichend zusammenhält, abgegrenzt; denn diese Negativität besteht nur zwischen Seienden im Hinblick auf das sie jeweils konstituierende Sein, d. h. ihre Seiendheit, und ist eine gewisse Art von externer Relation, die erst durch das Denken hergestellt wird. Seiendheiten sind nämlich keine Relationen und an sich einander nicht entgegengesetzt248 , da keine, insofern sie Seiendheit ist, Negativität enthält. Wenn man einen Menschen aber beispielsweise als blind bezeichnet, dann kommt die dadurch ausgedrückte Negativität dem Menschen selbst zu und bestimmt sein Sein. Die Negativität der Privation ist nämlich eine Art interner Relation, die offenbares Sein und Seiendes zu einander in Gegensatz stellt. So ist der blinde Mensch hinsichtlich seines Sehens als etwas bestimmt, das nicht sehen kann. Daß der Mensch überhaupt hinsichtlich seines Sehens bestimmt werden kann, liegt daran, daß das Sehvermögen zum Mensch-Sein gehört; wird nun das Sehvermögen negiert, so wird auch das Mensch-Sein und damit die Form des Seienden teilweise negiert, obwohl das Seiende weiterhin durch diese Form bestimmt bleibt. Desgleichen besteht auch die Schwärze, um auf dieses Beispiel zurückzukommen, darin, daß in einem Seienden, das und insofern es der Helligkeit nach bestimmt ist, alle Helligkeit negiert wird. Wie ist das aber möglich, daß etwas zugleich so und so bestimmt und nicht bestimmt sein kann? Ist das nicht eine Absurdität? Wenn es sich beim Mangel um eine schlichte Negation, d. h. eine einfache Verneinung, Vgl. dazu z. B. auch Apol. 20c ff. Vgl. Cat. 5, 3b 24 ff.
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4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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handeln würde, wäre eine solche interne Relation wohl durchaus etwas Absurdes, denn nichts kann einem Seienden in ein und derselben Hinsicht zugleich zu- und abgesprochen werden. Es muß hier also eine Hinsichtenunterscheidung durchgeführt werden: Das Schwarze ist zwar hell, aber nur dem Vermögen nach, der Wirklichkeit nach ist es dagegen nicht-hell. Ebenso ist der blinde Mensch zwar als Mensch sehend, jedoch nur dem Vermögen nach. Die Privation vernichtet also die Form, d. h. das Sein des Seienden, nicht vollständig, sondern drängt sie gewissermaßen nur aus der Offenbarkeit in die Verborgenheit; da aber das Sein für Aristoteles seinem Wesen nach ein Erscheinen und Sich-Zeigen ist, wird das Seiende dadurch dennoch in gewisser Weise des Seins beraubt. Dies bedeutet allerdings nicht, daß es damit vollständig vernichtet wäre; gerade das darf vielmehr nicht eintreten, weil zusammen mit dem Negierten auch die Negation vernichtet würde. Also muß das Seiende in einer gewissen Weise sein und zugleich in einer gewissen Weise nicht sein. Dies ist der Fall, wenn das Seiende sich zwar äußert und erscheint, allerdings nicht als es selbst, sondern als Streben. Das Seiende ist in diesem Fall nicht mehr der Wirklichkeit nach, sondern nur dem Vermögen nach, d. h. es ist nur als eine spezifische Kraft, deren Ziel die Verwirklichung des Seienden durch das Offenbarwerden des Seins des Seienden ist. Privation und Vermögen sind also korrelative Begriffe, da die Privation eine Negation ist, die das Sein eines Seienden so negiert, daß es zugleich als Vermögen (oder spezifische Kraft) erhalten bleibt.249 Die Schwärze ist daher, um dieses Beispiel wieder aufzugreifen, das Nicht-hell-Sein eines dem Vermögen nach Hellen, insofern es ein solches ist. Wie mir scheint, muß man hier aber zum Verständnis des Ausdrucks Privation auch noch eine weitere Differenzierung vornehmen, die freilich von Aristoteles so ausdrücklich nirgends vollzogen wird; der Sache nach jedoch scheint sie mir notwendig zu sein. Denn Vermögen kann ja zweierlei bedeuten: einmal das aktive und einmal das passive Vermögen.250 Treffen aktives und passives Vermögen in ein und demselben Seienden zusammen, so verschmelzen beide Vermögen gleichsam zu einem einzigen Vermögen und verwirklichen sich durch einen Prozeß des Werdens in der Form, dessen Vermögen sie sind; dies dürfte bei allen natürlichen Seienden der Fall sein, da diese das Prinzip des Werdens in sich 249 Dies scheint vielleicht manchem der Aussage zu widersprechen, daß das Vermögen die Materie ist, und diese im Übergang von der Privation zur Form erhalten bleibt. Die Materie jedoch ist nur das passive Vermögen. 250 Vgl. Met. Δ 12, 1019a 15–23.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
selbst haben. Sind aktives oder passives Vermögen dagegen nicht in einem Seienden vereint, kommt es nicht notwendigerweise zu einem Werden, sondern nur dann, wenn beide kontingenterweise zusammentreffen. Da es nun also zwei verschiedene Arten von Vermögen gibt und da, wie wir gesehen haben, Vermögen und Privation korrelative Begriffe sind, scheint es somit auch zwei Arten von Privation geben zu müssen, je nachdem welche Art von Vermögen ihr jeweils korrespondiert. Privationen können aber auch noch anders eingeteilt werden. Denn eine Privation kann einerseits relativ dauerhaft, andererseits aber auch ein bloßer Ausgangspunkt für Veränderungen sein, je nachdem ob das ihr korrespondierende aktive oder passive Vermögen für gewöhnlich mit dem passiven oder aktiven Gegenstück vereinigt ist oder nicht. Im einen Fall wird die Privation genau genommen ein bloßes Noch-nicht-Sein darstellen, z. B. das Noch-nicht-Mensch-Sein einer befruchteten Eizelle, um ein modernes Beispiel zu wählen, während die Privation im anderen Falle im engeren Sinne ein Nicht-Sein darstellt, z. B. das Nicht-hell-Sein der Nacht oder das Nicht-sehend-Sein eines Menschen.251 Vor diesem Hintergrund kann man im übrigen auch die Erörterung der Privation im fünften Buch der Metaphysik (Δ) neu einordnen, denn diese betrifft offenbar nicht alle Privationsarten, sondern im wesentlichen nur eine, nämlich diejenige, die dem aktiven und zugleich isolierten Vermögen korrespondiert.252 Berücksichtigt man nun diese Differenzierung nicht, so ergäbe sich ein Widerspruch zwischen dem fünften Buch der Metaphysik und anderen Stellen im Werk des Aristoteles, darunter auch dem ersten Buch der Physik, an denen das Werden als Übergang zwischen Privation und Form dargestellt wird, denn an der erstgenannten Stelle wird die Privation in einer Weise bestimmt, die sich nicht mit allen Arten des Werdens deckt. Die angesprochene Stelle in der Metaphysik lautet:
251 Auch der Endpunkt eines Vergehensprozesses dürfte wohl unter das NichtSein im engeren Sinne fallen, denn dem Nicht-mehr-Sein kommt als Ende eine ähnliche Dauerhaftigkeit zu wie dem schlichten Nicht-Sein. 252 Genau genommen ist jedoch in einer weiteren dort unterschiedenen Bedeutung von Privation (Met. Δ 22, 1022b 24–27) vielleicht auch das Noch-nicht-Sein mit eingeschlossen, allerdings wird dies nicht explizit gemacht. Die anderen von Aristoteles in Met. Δ erörterten Bedeutungen von Privation sind in ontologischer Hinsicht nicht von Bedeutung.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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ἔτι ἂν πεφυκὸς καὶ ὅτε πέφυκεν ἔχειν μὴ ἔχῃ· ἡ γὰρ τυφλότης στέρησίς τις, τυφλὸς δ᾽ οὐ κατὰ πᾶσαν ἡλικίαν, ἀλλ᾽ ἐν ᾗ πέφυκεν ἔχειν, ἂν μὴ ἔχῃ.253 Zudem , wenn nicht hat, obwohl es natürlicherweise zu haben pflegt, und zwar dann, wenn es dies natürlicherweise zu haben pflegt. Denn die Blindheit ist eine bestimmte Beraubung, blind aber ist man nicht im Hinblick auf jedes Alter, sondern wenn man in dem, in dem man natürlicherweise zu haben pflegt, dieses nicht hat.
Der Grund dafür, daß man etwas natürlicherweise zu haben pflegt, ist die Physis, die sich als ein bestimmtes Sein auf eine bestimmte Weise äußert. So äußert sich das Mensch-Sein u.a. darin, daß ein Mensch zu sehen vermag. Offensichtlich geht nun Aristoteles jedoch davon aus, daß es zu einer gewissen Zeit normal ist, nichts oder nur schlecht zu sehen, etwa wenn man sehr jung oder sehr alt ist. Als blind aber im eigentlichen Sinne werden diese Menschen nach Aristoteles nicht bezeichnet, sondern offenbar nur solche, bei denen das Nicht-sehen-Können kein bloß vorübergehender Zustand ist. Daß ein Hundertjähriger nicht mehr sehen kann, macht ihn also nach Aristoteles nicht zu einem Blinden. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, daß diese Art des Nicht-sehen-Könnens teil des Vergehens des Mensch-Seins überhaupt ist. Blind ist man dagegen im eigentlichen Sinne nur, wenn man nicht sehen kann, obwohl das Mensch-Sein selbst voll entwickelt ist. Die hier gemeinte Art der Privation ist also gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie in der Regel nicht Ausgangspunkt eines Werdens ist, sondern ganz im Gegenteil fortdauert. Sie ist also durch eine gewisse Dauerhaftigkeit gekennzeichnet. Diese (relative) Dauerhaftigkeit der so gearteten Privation kann m.E. nur durch das Auseinandertreten von aktivem und passivem Vermögen erklärt werden. Der blinde Mensch aus dem obigen Beispiel ist zwar dem Vermögen nach sehend, allerdings nur dem aktiven Vermögen nach, d. h. insofern er als Mensch die Form des Menschen hat, die zugleich die Physis des Menschen ist, und das Sehvermögen 254 zum Menschsein gehört; dem passiven Vermögen nach ist das nicht der Fall, denn sein Körper kann das Sehvermögen, das ihm als Mensch zukommt, nicht aufnehmen und in die korrespondierenden körperlichen Strukturen und Vorgänge umsetzen, z. B. weil die Augen so stark verletzt sind, daß sie sich nicht Met. Δ 22, 1022b 27–29. Das Sehvermögen ist in diesem Kontext als Entelechie aufzufassen, nämlich als erste Entelechie; vgl. De an. B 1, 412a 22 f. 253
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
regenerieren können. Ein ähnlicher Fall, zumindest soweit es die Frage der Dauerhaftigkeit betrifft, liegt aber auch vor, wenn das aktive Vermögen fehlt. Das Dunkle z. B. ist zwar dem passiven Vermögen nach etwas Helles, nicht jedoch dem aktiven, denn das, was dunkel ist, könnte zwar die Helligkeit aufnehmen, die Helligkeit dem aktiven Vermögen nach jedoch fehlt gerade, also das, was erhellen kann. Da somit in beiden Fällen der jeweils komplementäre Vermögensaspekt fehlt, wird kein Werden in Gang gesetzt, wenn dieser nicht noch von außen hinzutritt; das Werden geschieht daher in diesen Fällen nur, wenn und so lange dieses äußere Vermögen und damit das, wo das erste Prinzip der Umwandlung oder des Ruhens herrührt (ὅθεν ἡ ἀρχὴ τῆς μεταβολῆς ἡ πρώτη ἢ τῆς ἠρεμήσεως) 255 , gegenwärtig ist. Dies trifft auch auf die Beispiele für das schlechthinnige Werden zu, da diese dem Bereich der menschlichen τέχνη entnommen sind. Ein Haus entsteht nur, wenn und solange der Bauleiter (und die Bauarbeiter) auf der Baustelle anwesend sind; eine Statue entsteht nur durch die Anwesenheit eines Bildhauers. Sowohl Bauleiter als auch Bildhauer sind hier Träger des aktiven Vermögens, die Baumaterialien sowie der Marmor sind dagegen Träger des passiven Vermögens. Man sieht also, daß das passive Vermögen dem ersten Material, also z. B. Holz und gebrannter Ton beim Haus, Marmor bei der Statue, zukommt, das erste Material einer Sache ist aber ihre Materie256 ; das aktive Vermögen dagegen kommt der Form zu, insofern sich diese erst zu verwirklichen strebt. Bei natürlichem Seienden verhält sich dies nun aber offenbar etwas anders, denn der Vater ist zwar das, wo das erste Prinzip der Umwandlung oder des Ruhens herrührt 257, das Kind entwickelt sich aber auch ohne die Anwesenheit des Vaters. Hier treten also das, wo das erste Prinzip der Umwandlung oder des Ruhens herrührt, d. h. die Wirkursache, und das aktive Vermögen auseinander. Denn während das erste Prinzip des Werdens bei den Artefakten mit dem, wo das erste Prinzip des Werdens herrührt, identisch ist, ist dies bei dem natürlichen Seienden nicht der Fall, da ja das natürliche Seiende das erste Prinzip des Werdens in sich selbst hat. Es kann dieses Prinzip aber nur in sich selbst haben, wenn in ihm aktives und passives Vermögen beisammen sind. Bei vielen Tieren, u.a. auch beim Menschen, geschieht dies nach Aristoteles z. B. dadurch, daß der Samen des männ255 Das bedeutet, daß das aktive Vermögen hier mit der Wirkursache identisch ist; vgl. zur Wirkursache Phys. B 3, 194b 29–32. 256 Auf die Materie werden wir weiter unten noch genauer eingehen. 257 Vgl. nochmals Phys. B 3, 194b 29–32.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
253
lichen Tieres sich mit dem Menstruationsblut des weiblichen vereint, wobei der Samen die Seele (d.h. die Form des Tieres) dem Vermögen nach ist und das Menstruationsblut der durch die Form bestimmte Körper dem Vermögen nach, d. h. das erste Material bzw. die Materie des jeweiligen Tieres.258 Ein Tier wird jedoch weder aus dem männlichen Samen noch aus dem weiblichen Menstruationsblut allein, sondern aus der ersten Mischung der beiden, dem κύημα.259 Bei Pflanzen dagegen ist das κύημα bereits mit deren Samen identisch.260 Die soeben durchgeführten Unterscheidungen werden zu einem späteren Zeitpunkt noch von Wichtigkeit sein.261 Zunächst wollen wir jedoch zum Text des fünften Kapitels des ersten Buchs der Physik zurückkehren und ihm weiter folgen. Hier hat Aristoteles von solchen Differenzierungen bisher noch nichts erwähnt, sondern nur durch die von ihm geschilderten Beispiele gezeigt, daß jedes Werden (und ebenso jedes Zugrundegehen) zwischen Gegensätzen geschieht, und zwar einer ganz bestimmten Art von Gegensätzen, nämlich, wie er freilich erst später262 erklärt, zwischen Fülle und Mangel und d.h., was wiederum allerdings erst im siebten Kapitel explizit gemacht wird, zwischen Form (auch im erweiterten Sinne) und Beraubung oder Privation.263 Was aber unter Privation zu verstehen ist, haben wir soeben umrissen. Man könnte nun allerdings daran anschließend die Frage stellen, warum Aristoteles, obwohl es ihm doch um die Physis im eigentlichen Sinne und damit insbesondere um das schlechthinnige Werden geht, zunächst seine Betrachtung so allgemein anlegt und alles Werden überhaupt betrachtet. Den Grund finden wir etwas weiter unten im Text, wo er im Anschluß an die Beispiele erklärt:
Vgl. Gen. an. A 20, 729a 32f und B 3, 737a 16–18, 22–24. Vgl. Gen. an. A 20, 728b 34. 260 Vgl. Gen. an. A 20, 738b 32–34. Aristoteles scheint aber nicht immer genau zwischen Tier- und Pflanzensamen bzw. zwischen Samen und κύημα zu unterscheiden, so spricht er in Phys. A davon, daß der Samen das dem Werden Zugrundeliegende ist, aus dem Pflanzen und Tiere werden; mit Samen kann er hier wohl nur das meinen, was er in De generatione animalium als κύημα bezeichnet, da nur dieses dem Werden zugrunde liegt, nicht jedoch der Samen der Tiere, der dem Vermögen nach nur die Form ist (vgl. Phys. A 7, 190b 3–5: „ἀεὶ γὰρ ἔστι ὃ ὑποκείται, ἐξ οὗ τὸ γιγνόμενον, οἷον τὰ φυτὰ καὶ τὰ ζῷα ἐκ σπέρματος“). 261 Siehe Abschnitt 4.3.2. 262 Vgl. Phys. A 6, 189b 10 f. 263 Vgl. Phys. A 7, 191a 12–14. 258 259
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
ὁμοίως δὲ τοῦτο καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων, ἐπεὶ καὶ τὰ μὴ ἁπλᾶ τῶν ὄντων ἀλλὰ σύνθετα κατὰ τὸν αὐτὸν ἔχει λόγον· ἀλλὰ διὰ τὸ μὴ τὰς ἀντικειμένας διαθέσεις ὠνομάσθαι λανθάνει τοῦτο συμβαῖνον.264 Auf gleiche Weise aber dies auch bei allem Anderen, da sich auch das, was unter dem Seienden nicht einfach ist, sondern zusammengesetzt, derselben Erklärung entsprechend verhält. Weil jedoch die entgegengesetzten Zustände keine Bezeichnung haben, geschieht dies, ohne daß wir es bemerken.
Hier fällt zunächst die Gegenüberstellung von einfachem und komplexem Seienden auf. Einfach ist z. B. das Dunkle und das Helle aber auch das Unkultivierte (ἄμουσον) und das Kultivierte (μουσικόν). Als einfach werden sie wohl deshalb bezeichnet, weil sie, insofern sie sind was sie sind, keine Teile haben 265 ; weder das Dunkle noch das Helle ist hinsichtlich seiner selbst ein aus realen Teilen zusammengesetztes Ganzes und auch nicht das Unkultivierte oder das Kultivierte. Zwar ist das Dunkle als etwas räumlich Ausgedehntes teilbar, allerdings nur wieder in anderes Dunkles, so daß diese Teile nicht Teile des Dunklen als eines Dunklen sind, sondern Teile einer bestimmten räumlichen Gestalt, der es akzidenteller Weise zukommt, Dunkel zu sein. Ebenso ist auch die Kultiviertheit zwar in gewissem Sinne teilbar, da sie bestimmte Wissensbereiche umfaßt, z. B. das Lyraspiel und den tragischen Chorgesang, doch sind dies nur Aspekte der Kultiviertheit und nicht im eigentlichen Sinne (reale) Teile, aus denen sie sich zusammensetzen würde, denn auch wenn jemand nur das Lyraspiel beherrscht, ist er bereits in einem gewissen Grade oder in einer gewissen Hinsicht kultiviert, wenn jemand dagegen einen Ziegel hat, dann hat er damit noch lange nicht, auch nicht in einem gewissen Grade, ein Haus. Bei einem bestimmten Haus dagegen (dasselbe gilt auch für eine bestimmte Statue) verhält sich dies anders, denn diese haben reale Teile, in die sie auch zerteilt werden können. Nicht einfach, sondern zusammengesetzt oder komplex sind also alle einzelnen Individuen, die dem Wer Phys. A 5, 188b 8–11. Daß mit dem Einfachen und Zusammengesetzten hier dasselbe gemeint ist, wie in Kapitel 7 (vgl. Phys. A 7, 189b 32 – 190a 5), wo dieselben Ausdrücke wieder auftauchen und auch erläutert werden, scheint mir ausgeschlossen, und zwar aus folgendem Grund: aus den angeführten Beispielen (nämlich Haus und Statue; siehe weiter unten) geht ganz eindeutig hervor, daß mit dem Zusammengesetzten im fünften Kapitel eindeutig Seiendheiten im Sinne der Kategorienschrift gemeint sind, während Aristoteles im siebten Kapitel solche Seiendheiten gerade als einfach bezeichnet, weil er nämlich hier mit diesen Ausdrücken zunächst nur zwischen einfachen und zusammengesetzten Benennungen von Werdendem unterscheiden will. 264 265
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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den und Vergehen unterworfen sind, denn diese haben eine Materie, die als ein passives Vermögen nicht nur die essentielle Form aufnehmen kann, sondern immer auch auf eine eigene spezifische Weise bestimmt ist, was freilich im Kontext von Phys. A 5 noch nicht thematisiert wird. Die Ziegel eines Hauses z. B. sind auch an sich gewissermaßen formal266 bestimmt, da sie eine gewisse Gestalt, Farbe, Festigkeit usw. haben; das passive Vermögen des Dunklen und Hellen dagegen (d.h. das, was hier dem ersten Material analog ist, und daher auch als Materie bezeichnet werden kann) ist an sich nur dadurch bestimmt, daß es eben dem Vermögen nach hell ist. Die interessante Frage, worauf dieser Unterschied genau beruht, müssen wir an dieser Stelle leider auf sich beruhen lassen; sie würde zu weit vom eigentlichen Thema wegführen.267 Auch die Frage, ob und wie diese verschiedenen Materiearten zusammenhängen, oder ob sie vielleicht sogar nur verschiedene Aspekte einer einzigen Materie ausmachen, muß hier leider offen bleiben. Festzuhalten bleibt jedoch, daß Aristoteles das einfache Seiende dem komplexen Seienden entgegensetzt und es sich bei den komplexen Seienden um je einzelne Individuen handelt. Das Werden von einzelnen Individuen ist nun aber ein schlechthinniges Werden, da hier nicht etwas Zugrundeliegendes anders wird, sondern das Zugrundeliegende selbst allererst wird. Daß dieses Werden jedoch auf eine allem anderen Werden analoge Weise geschieht, ist schwierig zu erkennen, weil der entgegengesetzte Zustand, d. h. die Privation, keinen Namen hat.268 Aristoteles geht also demnach so vor, wie er vorgeht, weil die Struktur des schlechthinnigen Werdens (der Entstehung) schwieriger erkennbar ist als die Struktur des relativen Werdens (des Anders-Werdens). Er folgt damit seinem Grundsatz, daß man immer von dem uns Kenntlicheren ausgehen muß, um von dort aus zum für uns Unkenntlicheren, hinsichtlich seiner selbst aber Kenntlicheren fortzuschreiten.269 Unkenntlicher ist uns die Struktur des schlechthinnigen Werdens nun, wie gesagt, deshalb, weil das der Form Entgegengesetzte, also die Priva266 Mit „formal“ wird hier auf die analoge Verwendungsweise des Formbegriffs verwiesen, die über die Form im engeren Sinne, nämlich die essentielle Form, hinausgeht. 267 Freilich liegt die Vermutung nahe, daß dies etwas mit dem Unterschied zwischen dem akzidentellen und dem essentiellen Sein zu tun hat. Damit aber hat man das Problem noch nicht gelöst, denn es bleibt die Frage, worin dieser Unterschied besteht. 268 Vgl. Phys. A 5, 188b 10 f. 269 Vgl. Phys. A 1, 184a 16–21.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
tion, keine Bezeichnung hat. Die Form, die den Zielpunkt des schlechthinnigen Werdens darstellt, ist die Form im eigentlichen Sinne, also die Seiendheit. Das der Seiendheit Entgegengesetzte also hat keine Bezeichnung, und dies ist der Grund dafür, daß die Struktur des Werdens hier nicht so leicht einsichtig ist. Dadurch, daß Aristoteles aber erst allgemein die stets analoge Struktur des Werdens aufzeigt, kann er plausibel machen, daß auch das schlechthinnige Werden dieselbe Struktur aufweisen wird. Mit diesem Hinweis auf die Schwierigkeit zu erkennen, daß auch der essentielle Wandel wie jeder andere Wandel sich zwischen Gegensätzen bewegt, scheint nun Aristoteles nicht zuletzt an sich selbst gedacht zu haben. Denn in der Kategorienschrift erklärte er noch ausdrücklich, daß eine Seiendheit gar keinen Gegensatz habe: Ὑπάρχει δὲ ταῖς οὐσίαις καὶ τὸ μηδὲν αὐταῖς ἐναντίον εἶναι.270 Den Seiendheiten kommt aber auch zu, daß ihnen nichts entgegengesetzt ist.
Dies dürfte wohl daher rühren, daß er in der Kategorienschrift nur den Umstand berücksichtigte, daß Seiendheiten einander nicht entgegengesetzt sind. Sokrates z. B. ist Aristoteles nicht entgegengesetzt, denn der eine ist ja nicht die Negation des anderen; aus dem gleichen Grund ist auch der Mensch nicht dem Pferd entgegengesetzt. Diesem Punkt widerspricht Aristoteles auch in der Physik nicht. Was ihm aber in der Kategorienschrift offenbar entging, war der Umstand, daß zwar nicht eine Seiendheit einer anderen entgegengesetzt ist, es jedoch etwas Anderes gibt, das jeder einzelnen Seiendheit jeweils entgegengesetzt ist, sozusagen eine Nicht-Seiendheit. Diese Nicht-Seiendheit entging ihm aber, so scheint man zunächst Aristoteles verstehen zu müssen, deshalb, weil es für sie als Gegensatz der Seiendheit keine solchen Bezeichnungen gibt wie z. B. Mensch, Pferd, Aristoteles oder Sokrates. Bei den Qualitäten dagegen ist dies beispielsweise sehr wohl der Fall, denn Hell und Dunkel sind beides Qualitäten, und sie sind einander entgegengesetzt; dasselbe wird wohl auch für die meisten anderen akzidentellen Gegensatzpaare gelten. Allerdings dürfte der wahre und eigentliche Grund für diese Fehleinschätzung in der Kategorienschrift wohl in etwas tieferen Schichten des Aristotelischen Denkens zu suchen sein, und zwar in der Auffassung, daß das Einzelne als erste Seiendheit zu betrachten sei, von der die Form als nachrangige und somit zweite Seiendheit identifizierend ausgesagt Cat. 5, 3b, 24 f.
270
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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wird.271 Insofern sie ausgesagt wird, ist die Form nämlich, so die Ansicht in der Kategorienschrift, auf etwas Zugrundeliegendes angewiesen und das Zugrundeliegende, d. h. die erste Seiendheit, daher ontologisch früher. Nun ist das Sagen aber ein Offenbarmachen (δηλοῦν), so daß die Form, da sie identifizierend ausgesagt wird, die erste Seiendheit hinsichtlich ihrer selbst offenbar macht, wobei die erste Seiendheit allerdings immer noch mehr ist, als in der Form gesagt wird. Die Form wird daher in der Kategorienschrift als Abstraktion und Allgemeines aufgefaßt, die von dem je Einzelnen abgeleitet und damit von diesem abhängig ist. Nun kann einem bestimmten Einzelnen aber tatsächlich nichts entgegengesetzt sein, da dies ansonsten als Negation eines schlechthin Seienden ein schlechthin Nicht-Seiendes wäre. Wenn aber dem Einzelnen nichts entgegengesetzt ist, dann kann auch dem davon abstrahierten Allgemeinen nichts entgegengesetzt sein, denn dieses ist ja nur von dem Einzelnen abgeleitet und mit diesem in gewisser Weise identisch, so daß es ihm keine neuen Eigenschaften hinzufügt, sondern nur von gewissen (unwesentlichen) Eigenschaften absieht.272 Der Fehler, aus der Sicht des späteren Aristoteles, dürfte hier nun wohl, wie bereits gesagt, darin bestehen, daß das je Einzelne als erste und eigentliche Seiendheit betrachtet wird. Diese Position revidiert Aristoteles später, wenn er im Gegensatz dazu, wie wir bereits gesehen haben, annimmt, daß es sich bei der ersten Seiendheit um die Form handelt.273 Dies muß offenbar auch mit einer gegenüber der Kategorienschrift grundsätzlich anderen Auffassung der Form einhergehen, denn ein Abstraktum könnte niemals grundlegender sein als das, wovon es abstrahiert ist. Die Form kann also nun nicht mehr etwas sein, was als Allgemeines etwas je Einzelnes hinsichtlich dessen, was es mit anderem gemeinsam hat, offenbar macht, was also ein allgemeines, weil abstrahiertes Seiendes ist; vielmehr meint die Form jetzt ein Sein, das gerade nicht als abstraktes Seiendes aufgefaßt werden kann. Gemäß der Kategorienschrift wäre z. B. die Form eines bestimmten Hauses das Haus im allgemeinen, da dieses vermeintlich das Haus-Sein des bestimmten Hauses offenbar mache; denn um auszusagen, daß etwas ein Haus ist, sagen wir „X ist ein Haus“ und haben damit X hinsichtlich seines wesentlichen Seins mittels synonymer bzw. identifizierender Prä Vgl. Cat. 5, 2b 15–17. Siehe zu den damit zusammenhängenden Problemen Abschnitt 3.3.4. 273 Vgl. Met. Z 7, 1032b 1 f. 271
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
dikation 274 eines allgemeinen Seienden bestimmt. Identifizierend ist diese Prädikation, weil sowohl der Name (ὄνομα) als auch die Definition (λόγος bzw. in der langen Form ὁ κατὰ τοὔνομα λόγος τῆς οὐσίας) 275 von dem Seienden ausgesagt werden. Der Name bezeichnet aber wieder ein Seiendes, z. B. ein Haus im allgemeinen; dasselbe gilt für die Definition, da sie sich aus Seiendem zusammensetzt, z. B. ist die Definition „Ein Mensch ist ein zweibeiniges Lebewesen“ zusammengesetzt aus der Gattung (γένος) Lebewesen und dem Unterschied (διαφορά) Zweibeiniges.276 Das Sein hat hier letztlich die Funktion der Verknüpfung von Seiendem dergestalt, daß ein Seiendes in einen Art „Stammbaum“ eingeordnet wird; das Haus-Sein z. B. besteht demnach für ein einzelnes Haus darin, mit dem Haus im allgemeinen teilweise identisch zu sein. Es handelt sich also nur um eine (wenn auch grundlegende) Modifikation der Teilhabe-Struktur bei Platon. Diese Auffassung der Form änderte sich aber im Zuge des Übergangs zur späten Akademiezeit des Aristoteles, und zwar im Zusammenhang mit der „Entdeckung“ der Materie. Die Form ist nunmehr nicht mehr das das Haus-Sein vermeintlich offenbar machende, weil mit ihm vollkommen identische Haus im allgemeinen, sondern das vom Haus im allgemeinen gerade zu unterscheidende, spezifische Sein des Hauses, womit nun das gemeint ist, worin für ein Haus das Sein besteht (τὸ τινὶ εἶναι als Antwort auf die Frage τί ἦν εἶναι;).277 Anders ausgedrückt: das Haus im allgemeinen und das Haus-Sein eines einzelnen Hauses wurden in der Kategorienschrift noch gleichgesetzt, denn das Haus-Sein bestand darin, mit dem Haus im allgemeinen teilweise identisch zu sein, was wiederum hieß, daß auch die Definition des Hauses im allgemeinen von dem einzelnen Haus ausgesagt werden kann. In seinem reifen Denken jedoch unterschied Aristoteles strikt zwischen dem essentiellen Sein und dem Seienden im allgemeinen, was jedoch nicht gleichbedeutend ist mit jenem berühmten Ausspruch: „‚Sein‘ ist nicht so etwas
Siehe Abschnitt 3.2.1. Siehe ebenda. 276 Daß auch die διαφορά als Seiendes aufgefaßt wurde, zeigt sich deutlich in Cat. 5, 3a 20–27, wo Aristoteles als Beispiele τὸ πεζόν und τὸ δίπουν anführt, also das Befußte und das Zweifüßige. Aussagen bedeutet für den Aristoteles der Kategorienschrift noch, ein Seiendes mit einem anderen Seienden zu identifizieren. 277 Vgl. Met. Z 4, 1029b 13ff; vgl. zum Zusammenhang zwischen diesen Beiden Ausdrücken auch Friedrich Bassenge: „Das τὸ ἑνὶ εἶναι, τὸ ἀγαθῷ εἶναι etc. etc. und das τὸ τί ἦν εἶναι bei Aristoteles“, in: Philologus 104 (1960), S. 14–47 und 201–222. 274
275
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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wie Seiendes.“278 Denn das essentielle Sein ist nur kein Seiendes im allgemeinen, wohl aber ein hinsichtlich Allgemeinheit und Einzelnheit indifferentes Seiendes, da ja das essentielle Sein dem Seienden hinsichtlich seiner selbst zukommt und somit das Seiende als das Seiende, das es ist, konstituiert. Man kann daher auch sagen, daß sich in dem je spezifischen essentiellen Sein das Seiende hinsichtlich dessen, was es im eigentlichen Sinne ist, selbst vollzieht, denn das Sein ist ja, wie wir gesehen haben, der Selbstvollzug des Seienden.279 Das Haus-Sein z. B. kommt sowohl dem Haus im allgemeinen als auch jedem einzelnen Haus in gleicher Weise zu, ist also mit dem Haus im allgemeinen nicht enger verknüpft als mit dem entsprechenden Einzelnen, und dennoch konstituiert es das jeweilige Seiende in gleicher Weise als das, was es ist, d. h. es ist das, was sowohl ein allgemeines als auch ein einzelnes Haus überhaupt erst zu einem Haus macht. Das Haus-Sein besteht also nicht darin, daß ein Seiendes mit anderem Seienden verschiedener Allgemeinheitsgrade identisch ist. Als Form im eigentlichen Sinne gilt daher dem späten Aristoteles nur noch das Haus-Sein, nicht mehr das Haus im allgemeinen; das Haus-Sein aber bedarf der spezifischen Wohlgefügtheit einer spezifischen Materie; und erst diese wohlgefügte Materie macht aus dem durch das Haus-Sein konstituierten Seienden ein einzelnes oder ein allgemeines Haus, je nachdem ob die Materie als ein bestimmtes, einzelnes Materiestück (diese Holzbalken und diese Ziegel da) oder ein unbestimmtes, seiner akzidentellen Attribute mehr oder weniger entkleidetes Materiestück (irgendwelche Holzbalken und Ziegel) betrachtet wird. Da die Form, z. B. das Haus-Sein, sowohl dem Einzelnen als auch dem Allgemeinen in gleicher Weise zukommt, denn beides ist ein Seiendes, dem als solches ein Sein hinsichtlich seiner selbst zukommen muß, ist somit die Form selbst offenbar weder etwas Einzelnes noch etwas Allgemeines.280 Dadurch verändert sich nun aber schließlich auch die Auffas278 Heidegger Martin: Sein und Zeit, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm Herrmann, Frankfurt a. M. 1977 (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 2), S. 5. 279 Siehe Abschnitt 2. 280 Dadurch löst sich auch die Frage, ob die Form etwas Allgemeines oder etwas Einzelnes ist. Sie ist nämlich weder das eine noch das andere, sondern etwas Drittes. So neu, wie es vielleicht klingt, ist diese Ansicht freilich nicht; vgl. Joseph Owens: The Doctrine of Being in the Aristotelian ‘Metaphysics’. A Study in the Greek Background of Mediaeval Thought, Toronto 21963, S. 380–399 und insbesondere S. 389– 395. Owens bleibt allerdings insgesamt etwas vage, vor allem hinsichtlich der Frage, was die Form denn nun ist, wenn sie weder Allgemeines noch Einzelnes sein soll. Im folgenden hoffe ich, eine etwas befriedigendere Antwort zumindest anzudeuten. Si-
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
sung der Definition eines Seienden und ihres Verhältnisses zur Form; war nämlich in der Kategorienschrift die Definition eines Seienden noch aus einer allgemeinen Gattung und einem Unterschied (διαφορά) zusammengesetzt und als solches mit der Form identisch, so wird nun die Form nur noch mit der letzten und entscheidenden διαφορά identifiziert, die freilich nun in gewisser Weise die ganze Definition in sich enthält.281 Da der Unterschied aber nicht identifizierend ausgesagt wird282 , bezeichnet auch die Form kein allgemeines Seiendes mehr, wie z. B. das Haus im allgemeinen, sondern ausschließlich ein ein Seiendes konstituierendes Sein, das bei Artefakten meistens einem externen Zweck dient, wie z. B. dem, durch auf eine bestimmte Weise angeordnete Materialien (dies ist die weiter oben besprochene Wohlgefügtheit) Schutz vor Gefahren wie Regen, Kälte und wilden Tieren zu bieten. Streng genommen ist jedoch die Form von Artefakten nur etwas der Form im eigentlichen Sinne Analoges, da die Form, wie wir gesehen haben, von Aristoteles als Entelechie verstanden wird; eine Entelechie im vollen Sinne stellen aber nur die natürlichen Formen dar.283 Aufgrund der Analogie jedoch lassen sich die Verhältnisse bei den Artefakten auf die bei dem natürlichen Seienden übertragen. So ist z. B. die Seele des Menschen, die die Form des Menschen darstellt, zugleich die διαφορά des Menschen, d. h. das, was den Menschen als Menschen von allen anderen konkreten Seiendheiten unterscheidet. Zugleich ist die Seele aber rein für sich genommen weder ein einzelnes noch ein allgemeines Seiendes, denn es kommt als Entelechie ehe dazu auch die abschließenden Überlegungen zur vorliegenden Untersuchung (Abschnitt 5). 281 Vgl. Met. Z 12, 1033a 25 f. 282 Z. B. bezieht sich in der Definition „Der Mensch ist ein zweibeiniges Lebewesen“ das Zweibeinig-Sein auf die Anzahl der Beine, also auf einen Teil des Menschen. Der wahre Unterschied und damit die wahre Form des Menschen ist jedoch die spezifisch menschliche Seele; auch diese kann nicht identifizierend von dem Menschen im allgemeinen oder einem einzelnen Menschen ausgesagt werden, sondern in gewisser Weise nur paronym: „Der Mensch ist eine auf eine spezifische Weise beseelte Seiendheit.“ Im Gegensatz zu allem anderen, das nur nicht-identifizierend ausgesagt werden kann, ist die Form jedoch kein Akzidenz desjenigen Seienden, dessen Form sie im eigentlichen Sinne ist. In der Aussage nämlich „der Mensch ist beseelt“ steht „Mensch“ für ein Stück Materie, also den (noch nicht auf eine bestimmte Funktion bezogenen) Körper, nicht für den Menschen im eigentlichen Sinne, da dieser durch die Beseeltheit allererst konstituiert wird, diese ihm also nicht wie einem Zugrundeliegenden zukommen kann. 283 Vgl. dazu auch Johannes Hübner, a.a.O. und Thomas Buchheim: „Was heißt ‚Immanenz der Formen‘ bei Aristoteles?“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 84 (2002), S. 223–231.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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eines Körpers, der dem Vermögen nach Leben hat284 , weder abgetrennt vor, noch wird es von anderem identifizierend ausgesagt.285 Die Seele und damit die Form eines Lebendigen ist also kein bereits als Allgemeines oder Einzelnes bestimmtes Seiendes, sondern eben ein ein Seiendes konstituierendes Sein, das der Ergänzung durch einen Körper bedarf, um sich als dieses bestimmte Sein zu manifestieren; erst durch den Körper wird ein beseelter Mensch zu einem Menschen in concreto oder im allgemeinen, je nachdem ob der Körper ein bestimmter oder unbestimmter bzw. abstrakter ist. Definiert werden im herkömmlichen Sinne kann aber freilich nur ein Seiendes im allgemeinen. Deshalb wird auch in De anima die Seele nicht einfach im herkömmlichen Sinne definiert286 , wie man es von einer Form im Sinne der Kategorienschrift erwarten könnte, sondern auf eine ganz andere Weise erörtert. Kehren wir aber aus Gründen der Einfachheit zu unserem Beispiel des Hauses zurück. Es ist nun leicht einzusehen, daß dem Haus-Sein anders Vgl. De an. B 1, 412a 19–22. Die Seele wird wie jede Form nur gleichsam paronym ausgesagt, z. B. wenn man etwas als beseelt bezeichnet, jedoch nie synonym bzw. identifizierend, denn ansonsten müßte man statt „der Mensch hat eine Seele“ auch sagen können „der Mensch (als ein aus Form und Materie zusammengesetztes Seiendes) ist eine Seele“, was offenbar Unsinn ist. Wenn Aristoteles gleichwohl an der Stelle Met. Z 11, 1037a 5–10 einen einzelnen Menschen (nämlich Sokrates) mit der Seele identifiziert, so geschieht dies nicht dadurch, daß die Seele identifizierend von Sokrates ausgesagt würde. Er hebt vielmehr an der besagten Stelle den als Seele aufgefaßten Sokrates von dem aus Körper und Seele zusammengesetzten und damit als konkretes, einzelnes Seiendes aufgefaßten Sokrates ab. Dies hat seinen Grund darin, daß das ein Seiendes als es selbst konstituierende Sein mit diesem Seienden insofern identisch ist, insofern es nur hinsichtlich seiner selbst betrachtet und somit von der Materie abgesehen wird. Die (homoiomere und damit noch nicht auf eine bestimmte Funktion bezogene) Materie nämlich ist nur ein Teil eines Seienden und daher nicht mit dem Seienden als solchem identisch. Das Sokrates als Seiendes allererst konstituierende Sein aber ist die menschliche Seele. Diese ist daher mit Sokrates in gewisser Weise identisch, nämlich insofern von seiner Materie, d. h. seinem Körper, und damit allem, was Sokrates zu Sokrates macht, gerade abgesehen wird. Weiter unten (siehe Abschnitt 5) werden wir auf diesen Zusammenhang noch einmal etwas genauer eingehen. Im übrigen muß man, wie bereits erwähnt, beachten, daß bei der Aussage „der Mensch/ Sokrates hat eine Seele bzw. ist beseelt“ Mensch und Sokrates streng genommen gar kein aus einer bestimmten Form und einer Materie zusammengesetztes Seiendes bezeichnen, sondern nur ein Stück Materie, dessen akzidentelle Formbestimmtheit durch die Aussage genauer spezifiziert wird. 286 Die vermeintlich Definition der Seele in De an. B 1, 412a 19–22 ist zwar eine Bestimmung der Seele, nicht jedoch eine Definition mittels Angabe von Genus und spezifischer Differenz. An dieser Stelle wird vielmehr ein Ausdruck der Alltagssprache (ψυχή) mit einem Fachausdruck des Aristoteles gleichgesetzt (ἐντελέχεια). 284 285
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
als dem Haus im allgemeinen durchaus etwas entgegengesetzt werden kann, und daß sich das Haus-Sein insofern genauso verhält wie das HellSein oder das Kultiviert-Sein. Denn dem Haus-Sein kann man das Nicht-Haus-Sein entgegensetzen, und dies, wie wir sogleich sehen werden, durchaus auch im Sinne einer Privation. Von hier aus wird, wie mir scheint, auch etwas klarer, was Aristoteles vielleicht mit der Behauptung meinen könnte, daß der entgegengesetzte Zustand keine Bezeichnung habe. Wenn nämlich der Gegensatz des Hell-Seins, also das Dunkel-Sein, ein Seiendes bestimmt, dann trägt dieses Seiende die Bezeichnung Dunkles. Das gleiche gilt für das Kultiviert-Sein; das durch dessen Gegensatz bestimmte Seiende wird Unkultiviertes genannt. Beim Haus jedoch trägt der Gegensatz keinen Namen, denn hier geht etwas schlechthin zugrunde und übrig bleibt nur noch die Materie, was daran liegt, daß das privativ verstandene Nicht-Haus-Sein kein Seiendes konstituiert. Deshalb hat das Haus, sei es nun allgemein oder einzeln, keinen Gegensatz, was aber eben nicht bedeutet, daß das Haus-Sein keinen hätte. Um was es sich aber nun bei dem, was der im eigentlichen Sinne so genannten Form entgegengesetzt ist, handelt, erfahren wir in der folgenden Textpassage: ἀνάγκη γὰρ πᾶν τὸ ἡρμοσμένον ἐξ ἀναρμόστου γίγνεσθαι καὶ τὸ ἀνάρμοστον ἐξ ἡρμοσμένου, καὶ φθείρεσθαι τὸ ἡρμοσμένον εἰς ἀναρμοστίαν, καὶ ταύτην οὐ τὴν τυχοῦσαν ἀλλὰ τὴν ἀντικειμένην. διαφέρει δ᾽ οὐθὲν ἐπὶ ἁρμονίας εἰπεῖν ἢ τάξεως ἢ συνθέσεως· φανερὸν γὰρ ὅτι ὁ αὐτὸς λόγος. ἀλλὰ μὴν καὶ οἰκία καὶ ἀνδριὰς καὶ ὁτιοῦν ἄλλο γίγνεται ὁμοίως· ἥ τε γὰρ οἰκία γίγνεται ἐκ τοῦ μὴ συγκεῖσθαι ἀλλὰ διῃρῆσθαι ταδὶ ὡδί, καὶ ὁ ἀνδριὰς καὶ τῶν ἐσχηματισμένων τι ἐξ ἀσχημοσύνης· καὶ ἕκαστον τούτων τὰ μὲν τάξις, τὰ δὲ σύνθεσίς τίς ἐστιν.287 Notwendigerweise nämlich wird alles Wohlgefügte aus Ungefügtem und das Ungefügte aus Wohlgefügtem, d. h. es geht das Wohlgefügte in die Ungefügtheit zugrunde, bei der es sich wiederum nicht um die nächstbeste Ungefügtheit, sondern die jeweils entgegengesetzte handelt. Es macht dabei keinen Unterschied, ob man das mittels der Begrifflichkeit der Wohlgefügtheit ausdrückt oder der Anordnung oder der Zusammensetzung, denn es ist klar, daß damit jeweils dasselbe gesagt ist. In der Tat wird sowohl ein Haus als auch eine Statue als auch alles andere, was einem sonst noch so einfallen mag, auf die gleiche Weise: das Haus nämlich wird daraus, daß nicht zusammengesetzt, sondern auseinandergenommen ist das und das auf die und die Weise, und die Statue sowie überhaupt alles von dem, was gestaltet worden ist, aus der Ungestaltheit. Und jedes davon ist jeweils entweder eine gewisse Anordnung oder eine gewisse Zusammensetzung. Phys. A 5, 188b 12–21.
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4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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Zunächst sei darauf hingewiesen, daß Aristoteles hier zwar, wie er es oft tut, Beispiele aus dem Bereich der Artefakte wählt, dies aber nicht bedeutet, daß seine Ausführungen auf diesen Bereich beschränkt wären. Vielmehr geht er so vor, weil die Artefakte für uns kenntlicher sind und man, wie bereits gesagt, von dem Kenntlicheren ausgehen muß um zu dem zu gelangen, was für uns zwar zunächst unkenntlicher, der Sache nach aber kenntlicher ist. Denn zu den Prinzipien, die uns zwar zunächst noch unbekannt sind, durch die wir aber allererst das Prinzipiierte wirklich erkennen, und uns dieses allererst wahrhaft kenntlich wird, gelangen wir nur dadurch, daß wir bereits zuvor eine gewisse Vertrautheit mit dem Prinzipiierten haben, und es uns also bereits in gewisser Weise kenntlich ist, obwohl wir die Prinzipien noch nicht kennen. Haus und Statue stehen hier also für einzelnes Seiendes überhaupt, d. h. für erste Seiendheiten im Sinne der Kategorienschrift, da Aristoteles bekanntlich in seiner reifen Ontologie drei Seiendheiten kennt, nämlich die Form, die Materie und das aus beiden zusammengesetzte einzelne Seiende, wobei die Form in der reifen Ontologie des Aristoteles die erste und eigentliche Seiendheit ist.288 Allerdings darf man auch nicht übersehen, daß das Natürliche dem Artifiziellen nur analog ist. Doch sehen wir uns nun den Zentralbegriff dieses Textabschnitts genauer an. Das, was ein Haus oder eine Statue zu dem macht, was es ist, ist nach Aristoteles die Wohlgefügtheit (ἁρμονία), durch die das Haus oder die Statue ein wohlgefügtes Haus oder eine wohlgefügte Statue ist. Ein wohlgefügtes Haus aber ist ein vollendetes Haus, dasselbe gilt auch für die Statue. Die Wohlgefügtheit ist also in gewisser Weise die Vollendetheit (τέλος und ἐντέλεια) und damit die Form oder erste Seiendheit. In unserem Fall wäre dies das Haus-Sein und das Statue-Sein, denn ein Haus oder eine Statue, die vollendet sind, haben das volle Haus-Sein bzw. das volle Statue-Sein, wohingegen etwas Unvollendetem das entsprechende Sein nicht im vollen Umfang zukommt. Das Haus-Sein z. B. besteht eben darin, daß bestimmte Baumaterialien, z. B. Ziegel, Mörtel und Holz, auf eine bestimmte Weise zusammengefügt sind, nämlich so, daß sie Schutz vor Regen, Kälte, Hitze und anderen Gefahren bieten. 288 Die Form ist die erste Seiendheit, weil sie dafür verantwortlich ist, daß überhaupt allererst ein Seiendes das ist, was es eben ist. Die Materie ist eine Seiendheit, weil auch ohne sie das veränderliche Seiende nicht werden und sein könnte. Das einzelne Seiende wiederum ist eine Seiendheit, da es den akzidentellen Bestimmungen zugrunde liegt, und so ein Seiendes mitkonstituiert, insofern dieses als ein je Einzelnes immer auch akzidentell bestimmt ist.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
Allerdings wird hier, das ist zu betonen, die Form nur als Akzidenz eines Materials betrachtet, nicht jedoch als das, was ein Seiendes hinsichtlich seiner selbst konstituiert. Dies ist bei Artefakten noch relativ schwer einzusehen, weil diese nicht viel mehr als auf eine bestimmte Art angeordnete Materie zu sein scheinen. Deutlich wird dies jedoch bei natürlichen Seienden, denn hier muß man klar zwischen dem Analogon der Wohlgefügtheit und der Form, insofern sie ein Seiendes konstituiert, unterscheiden. Der spezifischen Wohlgefügtheit analog ist hier nämlich die spezifische Beseeltheit, die zwar in gewisser Weise die Form ist, jedoch nicht hinsichtlich ihrer selbst, denn das ist die Seele, sondern insofern sie als ein Akzidenz einer Materie zukommt. Daher wird die Seele auch nur paronym ausgesagt, allerdings in einer Weise, die sich von den anderen paronym Ausgesagten, bei denen es sich um bloße Akzidenzien handelt, noch einmal unterscheidet. Denn die reinen Akzidenzien kann man benennen, indem man zu dem entsprechenden Adjektiv ein Abstraktum bildet, z. B. zu rot die Röte, oder zu schnell die Schnelligkeit. Bei beseelt wäre dies entsprechend die Beseeltheit; diese ist jedoch nicht die Seele. Dies ist gerade ein Charakteristikum des Unterschieds (διαφορά), denn auch die Zweibeinigkeit ist nicht mit den zwei Beinen identisch. Der Unterschied bezieht sich nämlich auf einen Teil des Ganzen, der nicht in dem Ganzen ist, sondern dieses konstituiert. Die Form jedoch ist nicht nur wie die Zweibeinigkeit ein Teil des Ganzen, sondern zugleich auch in gewisser Weise dieses Ganze selbst.289 Dieser merkwürdige Doppelaspekt der Form, zugleich Akzidenz und Seiendheit zu sein, wird uns weiter unten noch eingehender beschäftigen. Kehren wir zu vorliegendem Textausschnitt zurück. Statt von Wohlgefügtheit könne man nun, fährt Aristoteles fort, zwar auch von Anordnung (τάξις) und Zusammensetzung (σύνθεσις) sprechen, dadurch ändere sich jedoch der Sinn der Aussage in keiner Weise. Denn auch diese Ausdrücke bezeichnen die Form einer Sache als ein Akzidenz, wobei, wie die Beispiele im obigen Zitat zeigen, der Ausdruck Anordnung eher in Bezug auf einen homogenen und ein Kontinuum bildenden Ausgangsstoff verwendet wird, z. B. den Marmor einer Statue, der Ausdruck Zusammensetzung dagegen eher in Bezug auf heterogene und diskrete Ausgangsstoffe, z. B. die Ziegel und die Holzbalken eines Hau289 Aus diesem Grund kann Aristoteles im übrigen auch in De anima die Ansicht zurückweisen, daß die Seele die Wohlgefügtheit (ἁρμονία) eines Körpers ist, obwohl er die Seele doch auch dort als Form des Menschen versteht; vgl. De an. A 4, 407b 27 ff.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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ses. Die Wohlgefügtheit dürfte also im Sinne des Aristoteles wohl als Oberbegriff aufzufassen sein, so daß sowohl Anordnung als auch Zusammensetzung nur zwei verschiedene Ausprägungen der Wohlgefügtheit darstellen. Das Gegenteil der Wohlgefügtheit ist nun aber die Ungefügtheit, die wiederum als Oberbegriff die Gegensätze der zwei Arten von Wohlgefügtheit unter sich hat, so daß mit Ungefügtheit sowohl die Unzusammengesetztheit (z. B. der auf einer Baustelle herumliegenden Baumaterialien) als auch die Ungestaltheit (z. B. des rohen, unbearbeiteten Marmors) gemeint sind; beides bezeichnet nämlich den Mangel an Form und somit eine Privation, und mit Ungefügtheit ist offenbar genau dies gemeint. Allerdings gibt es viele Arten der Privation, denn diese kommen in jeder Kategorie vor, z. B. in der Kategorie der Qualität u.a. als Dunkelheit, Weichheit, Kälte oder in der Kategorie der Relation als Unkultiviertheit.290 Mit Ungefügtheit ist daher nicht Privation überhaupt gemeint, sondern eine bestimmte Privation, nämlich die Privation in der ersten Kategorie, d. h. im Bereich der Seiendheit. Die Seiendheit eines Seienden, das Materie hat und daher auch werden und vergehen kann 291, stellt sich, von der Materie aus gesehen, als Wohlgefügtheit dar; die Ungefügtheit ist demnach das Gegenteil dieser das Sein eines Seienden begründenden Seiendheit und somit in gewisser Weise der Grund des (privativ zu verstehenden) Nicht-Seins eines Seienden (in welcher Weise, müssen wir später noch etwas genauer betrachten). Nun ist aber die Privation, wie wir weiter oben gesehen haben, ein Nicht-Sein, das keine bloße Negation ist, sondern durchaus als Sein einem Seienden zukommt, so jedoch, daß dieses Sein den Charakter des Nicht trägt. Dieses Nicht ist eine Verborgenheit des Seins; Sein jedoch bedeutet wesentlich Sich-Zeigen und Erscheinen. Daher ist die Privation ein Mangel, denn dem Seienden mangelt etwas, dessen es bedarf um als das Seiende, das es ist, zu sein, nämlich das Erscheinen. Dieses des Erscheinens beraubte Sein ist nun das Vermögen oder die spezifische Kraft, das in dem (dem Vermögen nach) Seienden ein Streben zeitigt, das sich wiederum, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind, als Werden äußert. Die wesentliche Voraussetzung ist das erwähnte Zusammentreffen von aktivem und passivem Vermögen. Denn wie wir bereits gesehen ha290 Wissen nämlich, wozu die im musischen Wissen bestehende Kultiviertheit zählt, ist eine Relation, vgl. Cat. 7, 6b 2–6. 291 Das Problem des materielosen Seienden soll hier ausgeklammert werden; es würde eine eigene Untersuchung erfordern.
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ben, gibt es zwei Arten von Vermögen, nämlich das passive und das aktive; statt von Vermögensarten sollte man jedoch vielleicht besser von Teilvermögen sprechen, denn weder vermag das passive Vermögen etwas ohne das aktive noch umgekehrt das aktive etwas ohne das passive. So kann man z. B. einem Seienden, das nicht dem passiven Vermögen nach kultiviert ist, etwa einem Kürbis, noch so lange und mit noch so viel Geschick das Gitarrenspiel erklären (aktives Vermögen), es wird niemals fähig sein, eine Gitarre zu spielen. Entsprechend den beiden Arten von Vermögen gibt es aber auch zwei Arten von Privation. Daher müssen wir uns die Frage stellen, zu welcher Art von Privation die Ungefügtheit zählt. Um dies zu klären, wollen wir uns einen Marmorblock vorstellen. Dieser ist als bloßer Marmorblock im eigentlichen Sinne noch ungestalt, auch wenn er z. B. schon für den Transport in eine mehr oder weniger rechteckige Gestalt gebracht wurde oder irgendeine andere zufällige Gestalt hat. Denn diese Formen sind nicht im eigentlichen Sinne Form; eine Form im eigentlichen Sinne ist nämlich immer zugleich ein τέλος, d. h. etwas, in dem sich ein Seiendes hinsichtlich seines Seins vollendet. Vollendet ist aber ein Seiendes immer nur insofern, insofern es einen λόγος hat und sich somit nicht nur den Sinnen, sondern auch im Denken und in der Sprache als eine Einheit zeigt, denn der λόγος macht die individuelle und nicht nur äußerliche Einheit (d.h. die räumliche Kontinuität) eines Seienden offenbar. Denn Erscheinen, Einheit und Vollendetheit gehören wesentlich zum Sein als solchem: alles, was ist, ist nur, insofern es eines und vollendet ist und sich auch als solches äußert. Zugleich ist das Sein aber auch eine Tätigkeit, und zwar eine solche, die, da sie ja vollendet ist, nicht über sich hinaus will, sondern sich selbst zum Ziel hat; Sein ist daher auch ein Sich-in-derVollendung-Halten (ἐντελέχεια). Insofern nun dem Marmorblock dies alles fehlt, ist er defizitär. Er kann jedoch als etwas Formbares eine solche Einheit aufnehmen, nämlich indem er z. B. zu einer Statue, etwa einem Apollon, geformt wird. Diese Form ist bereits in gewisser Weise im Marmor verborgen, es muß nur das überschüssige Gestein weggeschlagen werden. Die Form ist also schon da, jedoch als noch verborgene nur dem Vermögen nach. Mit diesem Vermögen scheint nun hier das passive Vermögen gemeint, denn es muß noch die Form des Apollon, die im Geist des Künstlers in gewisser Weise schon wirklich ist, hinzutreten, damit der Apollon entsteht. Nun kann man jedoch aus dem Marmorblock nicht nur einen Apollon herausmeißeln, sondern auch unzähliges anderes. Sind also etwa unend-
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lich viele Formen dem Vermögen nach in dem Marmorblock? Zu dieser Annahme sind wir scheinbar gezwungen. Damit müßte aber auch der Marmorblock in unendlich vielen Hinsichten defizitär sein. Ist das wirklich möglich? Wie könnte denn dann das Beheben der Mangelhaftigkeit in einer Hinsicht, zugleich die Mangelhaftigkeit dieses Seienden in jeder Hinsicht beheben? Denn ein vollendeter Apollon ist ja nicht mehr dem Vermögen nach ein Hermes und insofern noch ungestalt. So etwas zu behaupten, wäre sicherlich absurd, denn dann könnte ja eine Statue niemals vollendet sein. Also kann man offenbar nicht sagen, daß im Marmorblock unendlich viele Formen dem Vermögen nach vorhanden sind. Vielmehr muß man sagen, daß dem Marmor hinsichtlich seiner selbst keine ihn zu einem einzelnen Seienden individualisierende Form zukommt. Daher muß man den Marmor, wie jede andere Materie auch, als reines Vermögen bezeichnen, d. h. als ein Vermögen, dem keine Form entspricht und das sich deshalb auch als solches niemals verwirklichen kann. Daher kommt auch die Privation des Apollon-Seins oder des Hermes-Seins dem Marmor nicht zu, insofern er Marmor ist, und insofern er Marmor ist, ist er auch nicht dem Vermögen nach ein Apollon oder ein Hermes. Denn der Marmor ist als solches eben vollkommen unbestimmt und indifferent bezüglich jeglicher (individualisierender) Form. Das passive Vermögen des Marmors bezieht sich also darauf, daß er überhaupt irgendeine Form annehmen kann; es wird bei diesem Vermögen nicht jede denkbare Form jeweils einzeln in Rechnung gestellt, denn das würde, wie gesagt, zu der Paradoxie führen, daß eine vollendete Statue zugleich ganz ungestalt und unvollendet genannt werden müßte, nämlich in Bezug auf alle anderen möglichen Formen. Der Umstand, daß der Marmor dem Vermögen nach gerade ein Apollon ist, gelangt also erst von außen in ihn, und zwar offenbar durch den Künstler, der ihn als solchen möglichen Apollon betrachtet und dementsprechend mit ihm umgeht, d. h. ihn zum Ausgangspunkt des Apollon-Werdens macht. Es ist also nicht das passive Vermögen, daß den Marmorblock zu einem möglichen Apollon macht, sondern das in der Seele des Künstlers anzusiedelnde aktive Vermögen, das letztlich mit der gedachten Form des Apollon identisch ist. Somit erhält der Marmor aber auch erst durch den Künstler genau die jeweilige Ungefügtheit, die ihn zum Ausgangspunkt des Werdens macht, denn so wie die Wohlgefügtheit immer eine bestimmte ist, so ist auch die Ungefügtheit, aus der das Wohlgefügte
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wird und in die es zugrunde geht, immer eine bestimmte.292 Die essentielle Privation korrespondiert also dem aktiven Vermögen. Dennoch scheint die Privation nicht eine Privation dessen zu sein, dem das aktive Vermögen zukommt, denn das wäre der Bildhauer. Doch muß man wohl sagen, daß letzterer in gewisser Weise eines wird mit dem Werdenden, indem er den Marmor gestaltet; er stellt nämlich einen integralen Bestandteil des Werdens des Werdenden dar, freilich nicht dadurch, daß er selbst etwas wird, sondern dadurch, daß er das Prinzip und gewissermaßen der Quellgrund des Werdens ist. Das natürliche Seiende bzw. Werdende ist hierbei dem artifiziellen analog, allerdings mit dem Unterschied, daß das aktive Vermögen sich nicht nur gewissermaßen, sondern tatsächlich mit dem Werdenden vereint. Die Form ist tatsächlich in ihm anwesend, allerdings nur dem Vermögen nach. Die Anwesenheit dem Vermögen nach aber bedeutet, daß sie als aktives Vermögen anwesend ist, d. h. als eine unmittelbar gestaltende Kraft. Diese Kraft wiederum speist sich aus der Notwendigkeit den Widerspruch zu überwinden, der darin besteht, daß das dem Vermögen nach Seiende zugleich ist und nicht ist, weil sein Sein des Erscheinens ermangelt, obwohl Sein wesentlich ein Sich-Zeigen ist. Die Privation ist dabei gerade dieses den Widerspruch begründende Nicht. Sie meint daher kein absolutes Nicht-haben der Form, sondern nur ihr Nicht-Erscheinen. Insofern die Form nun erscheint oder nicht erscheint, kann sie Akzidenz sein, insofern sie jedoch der Quellgrund des Erscheinens ist, ist sie stets Seiendheit.
4.3.2 Die Einführung des Materieprinzips 4.3.2.1 Die Notwendigkeit einer dritten Physis neben dem Entgegengesetzten Zu Beginn des sechsten Kapitels stellt sich Aristoteles die Frage, wieviele Prinzipien des Werdens es gibt. Ausgeschlossen wird dabei sogleich, daß es nur ein solches Prinzip gibt oder unendlich viele.293 Beide Positionen wurden von vielen vorsokratischen Philosophen vertreten. So behauptete Thales angeblich, daß alles aus dem Wasser werde und somit aus einem, und Anaxagoras war der Ansicht, daß es unendlich viele Prin Vgl. Phys. A 5, 188b 14 f. Vgl. Phys. A 6, 189a 11–20.
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zipien gebe, die in allem enthalten seien.294 Daß es jedoch nicht nur ein Prinzip geben und also nicht alles aus einem werden kann, ergibt sich schon aus dem zuvor im fünften Kapitel gesagten, daß nämlich alles aus einer bestimmten Art von Gegensatz wird. Auch wenn die Art des hier relevanten Gegensatzes im fünften Kapitel noch nicht klar benannt wird, so haben wir doch schon gesehen, daß es sich um den Gegensatz von Form und Privation handelt; auch was darunter zu verstehen ist, haben wir zu klären versucht. Ein solcher Gegensatz hat aber immer zwei Glieder und ist daher niemals nur eines. Schwieriger gestaltet sich die Erklärung dafür, warum die Prinzipien des Werdens nicht unendlich viele sein können. Aristoteles nennt fünf Gründe: Das Seiende (und das Werdende) wäre dann nicht verstehbar.295 Da 1. man nämlich etwas genau dann versteht, wenn man die ersten Prinzipien dieser Sache ausfindig gemacht hat296 , eine unendliche Anzahl aber niemals vollständig durchgegangen werden kann, wird man, wenn die Prinzipien unendlich viele sind, nichts wirklich verstehen können. Warum soll dies nun jedoch dagegen sprechen, daß es unendlich viele Prinzipien gibt? Offenbar setzt Aristoteles als selbstverständlich voraus, daß das Seiende verstehbar ist. Daß die Welt in ihrem Kern irrational sein könnte, scheint ihm noch nicht einmal diskussionswürdig, zumindest glaubt er, daß er die Annahme der Verstehbarkeit des Seienden nicht zu rechtfertigen braucht. Vielleicht würde Aristoteles aber auch auf den Umstand verweisen, daß wir ja immer schon die Welt bis zu einem gewissen Grade verstanden haben, z. B. indem wir einen Menschen als Menschen erkennen.297 Es ist aber sehr unplausibel, daß etwas, daß schon bei einer oberflächlichen Betrachtung bis zu einem gewissen Grade kenntlich (γνώριμος) ist, bei einer genaueren Betrachtung plötzlich gar nicht mehr erkennbar sein soll; vielmehr ist doch zu erwarten, daß es zumindest nicht undeutlicher erkannt wird. 2. Es gibt in jeder Gattung, insofern sie eine ist, auch nur eine ἐναντίωσις ; die Seiendheit ist aber eine solche Gattung.298 Mit Gattungen sind hier die obersten Gattungen des Seienden gemeint, welche mit den Kate294 Insbesondere mit Anaxagoras setzt sich Aristoteles ziemlich umfangreich auseinander; vgl. Phys. A. 4, 187a 26 – 188a 18. 295 Vgl. Phys. A 6, 189a 12 f. 296 Vgl. Phys. A 1, 184a 1–16. 297 Vgl. dazu Phys. A 1, 184a 16 – 184b 14. 298 Vgl. Phys. A 6, 189a 13 f.
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gorien identisch sind. Eine dieser Gattungen ist bekanntlich die Seiendheit, um die es Aristoteles im ersten Buch der Physik geht. Unter Seiendheit (οὐσία) versteht Aristoteles hier und im folgenden, wie man sieht, noch nicht die Form im Sinne der διαφορά; vielmehr gebraucht er diesen Ausdruck noch ganz im Sinne der Kategorienschrift, so daß hier unter Seiendheit ein einzelnes oder allgemeines Seiendes zu verstehen ist, z. B. Haus, Pferd oder Mensch. Hierin zeigt sich besonders deutlich die Stellung des ersten Buchs der Physik zwischen der mittleren und der späten Akademiezeit. Daß der Begriff der Seiendheit hier im Sinne der Kategorienschrift gebraucht wird, wird für die weitere Interpretation des sechsten Kapitels noch eine außerordentliche Bedeutung gewinnen. Der zweite erklärungsbedürftige Begriff ist das zunächst noch unübersetzt gelassene ἐναντίωσις. Es ist von ἐνταντιόομαι abgeleitet und bezeichnet daher die Tätigkeit des Sich-Widersetzens bzw. des Entgegensetzens; wir wollen es im folgenden mit Entgegensetzung wiedergeben. Aristoteles will also nicht sagen, daß es in jeder Gattung des Seienden nur einen Gegensatz gebe, dies wäre ja offensichtlich falsch, man denke nur im Bereich der Seiendheit an das Haus-Sein, Statue-Sein, Mensch-Sein usw., jeweils inklusive des entsprechenden Gegensatzes. Mit Entgegensetzung verweist Aristoteles vielmehr darauf, daß alle Gegensätze einer bestimmten Kategorie Besonderungen eines allgemeinsten Gegensatzes darstellen; Entgegensetzung meint also die Art des Entgegengesetztseins. Der Gegensatz von Fülle und Mangel 299 bzw. Form und Privation gibt daher nur ein analoges Verhältnis an, d. h. das was Form und Privation in den einzelnen Kategorien bedeuten, ist jeweils grundverschieden und nicht ein Fall eines allgemeineren Gegensatzes. Da es also in jeder Kategorie nur eine Art des Entgegengesetztseins gibt, lassen sich alle Gegensätze auf eine begrenzte Anzahl von allgemeinsten Gegensätzen zurückführen, die der Anzahl der Kategorien entspricht. Allgemeine Erklärungen decken aber immer alle Besonderungen mit ab. Die Frage nach den Prinzipien bezieht Aristoteles daher im ersten Buch der Physik nur auf die ersten Prinzipien 300 , womit offenbar die allgemeinsten Prinzipien gemeint sind.301
Vgl. Phys. A 6, 189b 10 f. Vgl. Phys. A 1, 184a 1–16. 301 Siehe S. 125 Fn. 6. 299
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3. Die Erklärung aus endlichen Prinzipien ist möglich, und es ist besser etwas aus endlichen als aus unendlichen Prinzipien zu erklären.302 Aristoteles tritt hier offenbar für eine Art Prinzipienökonomie ein: so wenige Prinzipien wie möglich. Da Empedokles aber alles Seiende, was seine Materie betrifft, nicht seine Form, von vier Elementarkörpern (Elementen) ausgehend erklären kann, ist eine Annahme von unendlich vielen Elementen, wie sie von Anaxagoras formuliert wird, überflüssig. Aristoteles selbst hat daher auch die Vier-Elemente-Lehre des Empedokles übernommen, wenn er sie auch freilich nicht unwesentlich modifizierte.303 4. Manche Gegensätze sind früher als andere.304 Mit früher und später ist dabei der Grad der Allgemeinheit gemeint, wie aus einer anderen Stelle305 hervorgeht. Da man, wenn man die allgemeinsten Zusammenhänge erklärt hat, auch alle Einzelfälle erklärt hat, sind im Zusammenhang der Erklärung nur die frühesten und damit allgemeinsten Gegensätze relevant. 5. Nicht jeder Gegensatz ist ein Prinzip, da manche Gegensätze nicht unveränderlich sind, sondern auseinander hervorgehen.306 Prinzipien müssen aber unveränderlich sein, denn, so muß man dies wohl begründen, andernfalls bräuchte es wieder eines Grundes und damit Prinzips ihrer Veränderung. Als Beispiele zählt er Süßes und Bitteres (γλυκὺ καὶ πικρὸν) sowie Helles und Dunkles (λευκὸν καὶ μέλαν) auf. Beides ist einander entgegengesetzt, dennoch kann aus Süßem Bitteres werden, etwa wenn eine Speise verdirbt, oder aus Hellem Dunkles, z. B. wenn ein Mensch seinen Körper einige Zeit dem Sonnenlicht aussetzt. Der Grund dafür ist darin zu sehen, daß diese Gegensätze nicht die Form bezeichnen, sondern jeweils ein veränderliches Seiendes, das eine bestimmte Eigenschaft hat. Alle die Gegensätze also, die keine Form (im weiteren Sinne) bezeichnen, können keinen Vgl. Phys. A 6, 189a 14–17. Vgl. Gen. corr. B 3, 330a 30 – 330b 6. 304 Vgl. Phys. A 6, 189a 17 f. 305 Vgl. Phys. A 5, 188b 30 f. 306 Vgl. Phys. A 6, 189a 18–20. Ross faßt diesen Punkt mit dem vorhergehenden zusammen und schließt die von mir gegebene Interpretation, obwohl sie sich m.E. ganz klar aus dem Text ergibt, explizit aus, offenbar weil er sich daran stört, daß Gegensätze auseinander hervorgehen sollen (vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 490); möglicherweise faßt er das als einen Widerspruch zu dem nachfolgenden Textabschnitt (189a 20–27) auf. Ein solcher Widerspruch läßt sich jedoch, wie gezeigt wird, vermeiden. 302 303
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Prinzipienstatus beanspruchen. Dies richtet sich, wie mir scheint, gegen die Ansicht des Anaxagoras, daß alles aus allem gemischt sei und nur das Übergewicht eines Elements das Ding jeweils zu dem mache, was es ist.307 Denn gemischt sind nicht Formen, die sich ja nicht mischen lassen, sondern immer formal bestimmte Körper wie z. B. eben Süßes und Bitteres, Helles und Dunkles. Aus diesen fünf Gründen folgert nun Aristoteles, daß die Prinzipien nicht unendlich viele sein können. Die Prinzipien des Werdens sind also endlich viele, aber mehr als eines. Bloß zwei jedoch können es auch nicht sein, denn sowohl die Form als auch die Privation sind unveränderlich: ἐπεὶ δὲ πεπερασμέναι, τὸ μὴ ποιεῖν δύο μόνον ἔχει τινὰ λόγον· ἀπορήσειε γὰρ ἄν τις πῶς ἢ ἡ πυκνότητα τὴν μανότητα ποιεῖν τι πέφυκεν ἢ αὕτη τὴν πυκνότητα. ὁμοίως δὲ καὶ ἄλλη ὁποιαοῦν ἐναντιότης· οὐ γὰρ ἡ φιλία τὸ νεῖκος συνάγει καὶ ποιεῖ τι ἐξ αὐτοῦ, οὐδὲ τὸ νεῖκος ἐξ ἐκείνης, ἀλλ᾿ ἄμφω ἕτερόν τι τρίτον.308 Nachdem es aber somit endlich viele sind, macht es einigen Sinn, nicht nur zwei festzulegen, denn ansonsten dürfte man wohl vor der Schwierigkeit stehen, wie entweder die Dichtheit die Lockerheit zu etwas zu machen pflegt oder letztere die Dichtheit. Gleiches gilt aber auch für jede wie auch immer geartete andere Entgegengesetztheit. Denn die Liebe führt ja nicht den Streit zusammen und macht etwas aus ihm, auch macht nicht der Streit etwas aus jener, sondern beide machen etwas von ihnen verschiedenes Drittes zu etwas.
Mit dem philosophischen Kunstwort Entgegengesetztheit (ἐναντιότης) meint Aristoteles nicht die Eigenschaft des Entgegengesetztseins, wie es rein sprachlich den Anschein haben könnte, sondern er meint damit Form und Privation als einander Entgegengesetztes und grenzt diese so von anderem Entgegengesetzten ab. Diese Differenzierung hat er nämlich bisher noch nicht vorgenommen. Mit der Endung -οτης verweist er dabei nur auf eine Weise, wie Bezeichnungen für die Form und Privation gebildet werden können, nämlich durch Anfügung dieser Endung an ein Adjektiv. Ich habe versucht dies mit der Endung -heit im Deutschen wiederzugeben, weshalb ich auch statt „Dichte“ das etwas künstlich anmutende „Dichtheit“ gebildet habe. Manches Entgegengesetzte nämlich geht auseinander hervor, wie wir gesehen haben, und zwar solches, bei dem ein Seiendes einem anderen Seienden entgegengesetzt wird, wie z. B. etwas Süßes etwas Bitterem. Die Süße und die Bitterkeit dagegen gehen Vgl. Phys. A 187a 26 – 187b 7. Phys. A 6, 189a 21–26.
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niemals auseinander hervor: weder kann die Süße Bitterkeit werden noch die Bitterkeit Süße. Dabei handelt es sich nämlich nicht um einzelnes oder allgemeines Seiendes, sondern um die Form und die Privation. Dasselbe gilt auch für das im obigen Zitat erwähnte Beispiel, denn auch Dichte und Lockerheit können nicht auseinander hervorgehen, ebensowenig wie Liebe und Streit. Wenn sie trotzdem Prinzipien von Veränderung sind, dann ist das nur dadurch möglich, daß es etwas Drittes gibt, das sie zu etwas machen, wie sich Aristoteles ausdrückt. Was ist mit dieser Wendung gemeint? Ein Beispiel macht es deutlich: die Dichte macht ein Drittes zu etwas, nämlich zu einem Dichten, und zwar gewissermaßen durch seine Anwesenheit in dem Dritten. Die Wohlgefügtheit etwa ist anwesend in einigen Ziegeln und Holzbalken und macht daraus ein Haus; die Wohlgefügtheit nämlich ist in gewisser Weise das Haus-Sein. Daß das eine Entgegengesetzte veränderlich ist, das andere dagegen nicht, hat aber seinen Grund darin, daß zu jeder Veränderung eben etwas Drittes gehört, das in der entsprechenden Hinsicht unbestimmt ist; das eine Entgegengesetzte, nämlich das entgegengesetzte Seiende, enthält nun ein solches unbestimmtes Drittes neben der Form, die es zu dem und dem Seienden macht, das andere Entgegengesetzte dagegen ist frei von einem solchen Dritten, bei dem es sich, wie wir bereits ahnen, um die Materie handelt. Aristoteles gibt sich damit aber noch nicht zufrieden, sondern fügt noch einen weiteren Grund dafür hinzu, warum es nicht nur zwei Prinzipien geben kann, sondern es deren drei sein müssen. Diese Stelle ist auf den ersten Blick leicht mißzuverstehen und soll deshalb hier zunächst vollständig zitiert werden, bevor wir sie besprechen: πρὸς δὲ τούτοις ἔτι κἂν τόδε τις ἀπορήσειεν, εἰ μή τις ἑτέραν ὑποθήσει τοῖς ἐναντίοις φύσιν· οὐθενὸς γὰρ ὁρῶμεν τῶν ὄντων οὐσίαν τἀναντία, τὴν δ᾽ ἀρχὴν οὐ καθ᾽ ὑποκειμένου δεῖ λέγεσθαί τινος. ἔσται γὰρ ἀρχὴ τῆς ἀρχῆς· τὸ γὰρ ὑποκείμενον ἀρχή, καὶ πρότερον δοκεῖ τοῦ κατηγορουμπένου εἶναι. ἔτι οὐκ εἶναί φαμεν οὐσίαν ἐναντίαν οὐσίᾳ· πῶς οὖν ἐκ μὴ οὐσιῶν οὐσία ἂν εἴη; ἢ πῶς ἂν πρότερον μὴ οὐσία οὐσίας εἴη;309 Zudem dürfte man wohl auch noch vor folgender Schwierigkeit stehen, falls man denn nicht dem Entgegengesetzten noch eine andere Physis zugrunde legte: Wir sehen nämlich, daß von nichts unter dem, was ist, das Entgegengesetzte Seiendheit ist, das Prinzip aber darf nicht von irgendetwas Zugrundeliegendem ausgesagt werden. Es würde nämlich ansonsten ein Prinzip des Prinzips geben, denn das Zugrundeliegende ist ein Prinzip, und es scheint früher zu sein als das, was Phys. A 6, 189a 27–34.
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von ihm ausgesagt wird. Außerdem sagen wir, daß eine Seiendheit nicht einer Seiendheit entgegengesetzt ist; wie also mag wohl aus einer Nicht-Seiendheit eine Seiendheit entstanden sein? Oder wie mag wohl eine Nicht-Seiendheit früher sein als eine Seiendheit?
Zunächst fällt auf, daß sich Aristoteles auf das Sehen beruft. Wir sehen, behauptet er, daß das Entgegengesetzte in keinem Fall die Seiendheit eines Seienden ist. Warum sehen wir das? Weil es offenbar sichtbar ist. Damit meint er wohl, daß dieser Sachverhalt unmittelbar evident ist und weit jenseits jedes sinnvollen Zweifels. Wenn er hier aber auf das Sehen anstatt auf das Erkennen verweist, wie er es sonst für gewöhnlich tut, dann dürfte das daran liegen, daß dieser Evidenz ein konkreter Einzelfall zugrunde liegt, denn die Erkenntnis bezieht sich auf das Allgemeine, die Wahrnehmung aber auf das Einzelne.310 Das aber, was durch den Einzelfall evident wird, ist durchaus etwas allgemeines, nämlich daß kein Gegensatz eine Seiendheit ist. Das Beibringen eines solchen Einzelfalls, durch den ein allgemeiner Zusammenhang evident wird, nennt Aristoteles ἐπαγωγή: ἐπαγωγὴ δὲ ἡ ἀπὸ τῶν καθ᾽ ἕκαστα ἐπὶ τὰ καθόλου ἔφοδος· οἷον εἰ ἔστι κυβερνήτης ὁ ἐπιστάμενος κράτιστος, καὶ ἡνίοχος, καὶ ὅλως ἐστὶν ὁ ἐπιστὰμενος περὶ ἕκαστον ἄριστος.311 Epagoge aber ist der Weg vom Einzelfall zum Allgemeinen 312 , z. B.: „Wenn ein Steuermann, der sich auskennt, am besten ist und ein Wagenlenker, dann ist auch überhaupt jeweils derjenige, der sich bezüglich einer Sache auskennt, am besten.“
Das von ihm genannte Beispiel ist nur dann schlüssig, wenn man aus den Beispielen unmittelbar den allgemeinen Zusammenhang ersehen kann. Die Epagoge ist also etwas ganz anderes als ein Induktionsschluß. Denn ein Induktionsschluß ist einerseits immer nur wahrscheinlich und wird andererseits um so wahrscheinlicher, je mehr Einzelfälle ihm zugrunde liegen, davon ist aber bei Aristoteles nichts zu sehen. Der Syllogismus ist Vgl. Phys. A 5, 189a 5–8. Vgl. Top. A 12, 105a 13–16. 312 Im Griechischen handelt es sich bei dem Einzelfall und dem Allgemeinen zwar jeweils um einen Plural, da man aber das Allgemeine im Deutschen nicht ins Plural setzen kann und es sich sowieso in beiden Fällen um einen Kollektivplural handelt, der einfach nur die Allgemeingültigkeit betont, erscheinen sie in meiner Übersetzung im Singular. Würde man nämlich übersetzen „von den Einzelfällen zum Allgemeinen“, so würde sich das Mißverständnis aufdrängen, daß es sich bei der Epagoge doch um eine Induktion im modernen Sinne handelt. 310 311
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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der Epagoge auch nicht hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Sicherheit überlegen, sondern nur hinsichtlich dessen, daß der Syllogismus zwingender und effektiver gegen den Gegner in einer Diskussion wirkt, was wohl daran liegt, daß eine Epagoge gleichsam ein freies Hinblicken auf das Beispiel erfordert, der Syllogismus dagegen unmittelbar mit Begriffen operiert. Epagoge meint also das Beibringen eines passenden Beispiels, aus dem ein allgemeiner Zusammenhang ersehen werden kann. Daß er im obigen Zitat zwei Beispiele anführt, mag zwar das ganze noch deutlicher machen, es ist aber kein Kennzeichen der Epagoge, denn warum sollte man aus zwei willkürlichen Beispielen etwas erschließen können, was man nicht schon aus einem alleine entnehmen kann? Auf eine solche Epagoge scheint also Aristoteles hier Bezug zu nehmen. Aber was könnte hier als passendes Beispiel diesen Zusammenhang evident machen? Er will zeigen, daß kein Entgegengesetztes Seiendheit ist. Er muß also als Beispiel ein Entgegengesetztes anführen, aus dem dies klar ersichtlich wird. Mit Entgegengesetztem meint er hierbei wohl nur noch dasjenige, das ein Prinzip eines Seienden in der ersten Kategorie ist, also einer Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift, denn darauf hat er bereits die Betrachtung eingeengt.313 Er müßte also ein Beispiel aus diesem Bereich wählen, z. B. die spezifische, zweckmäßige Anordnung der Baumaterialien, die ein Haus konstituiert und somit in gewisser Weise das Haus-Sein ausmachen, und die spezifische Unordnung, die dessen privatives Nicht-Sein ausmachen. Hier sieht man tatsächlich ganz klar, daß weder die Anordnung noch die Unordnung Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift sind. Im Sinne der Kategorienschrift nämlich wird hier, wie wir bereits festgestellt haben 314 , der Ausdruck Seiendheit (οὐσία) verwendet. Seiendheit meint aber in der Kategorienschrift der ersten und eigentlichsten Bedeutung nach dasjenige, was weder von etwas anderem ausgesagt wird noch in etwas anderem ist, von dem aber alles andere entweder ausgesagt wird oder in dem es ist. Die erste Seiendheit der Kategorienschrift meint also das erste Zugrundeliegende. Prinzip ist nur diese erste Seiendheit und nicht die zweiten Seiendheiten, nämlich Form und Gattung als Allgemeinbegriffe, da letztere von ersterem abhängig sind. Deshalb kann Aristoteles hier auch den Zusatz „erste“ weglassen, ohne daß die Eindeutigkeit leiden würde.
Vgl. Phys. A 6, 189a 14. Siehe S. 270.
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Vor diesem Hintergrund wird ganz klar, daß weder Anordnung noch Unordnung eine Seiendheit, d. h. eine erste Seiendheit, im Sinne der Kategorienschrift sind, denn zum einen wird nichts anderes von ihnen ausgesagt, zum anderen sind sie scheinbar in etwas anderem. Vor allem auf diesen letzten Punkt hebt Aristoteles ab: das Prinzip darf nicht von irgendetwas Zugrundeliegendem ausgesagt werden. Da nämlich jede Wohlgefügtheit ebenso wie jede Ungefügtheit, wie das Beispiel des Hauses zeigt, immer in irgendetwas zu sein scheint, nämlich in einem Material, dessen Eigenschaft es in gewisser Weise ist, kann die Wohlgefügtheit von etwas anderem ausgesagt werden, wenn auch freilich nur paronym. Man kann ja z. B. sagen, daß das Holz und die Ziegel wohlgefügt sind. Mit Aussagen ist hier also unter Vernachlässigung der Unterscheidung zwischen identifizierendem und nicht-identifizierendem Aussagen jede Form von Abhängigkeit gemeint. Diese Feststellung wird nun noch ergänzt um einen expliziten Verweis auf die Kategorienschrift, wenn Aristoteles an das Theorem erinnert, daß keine Seiendheit einer anderen entgegengesetzt sei.315 Wenn dies aber richtig ist, und die Seiendheit dennoch einen Gegensatz haben soll, dann müßte dieser Gegensatz eine Nicht-Seiendheit sein. Nun ist zwar genau dies der Fall, wie wir gesehen haben, jedoch unter der Voraussetzung, daß die primäre Seiendheit nicht länger als je einzelnes Seiendes verstanden wird, sondern als ein Seiendes konstituierendes Sein. Da Aristoteles hier jedoch den Ausdruck Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift versteht, ergibt sich aus dem Theorem unmittelbar, daß die Seiendheit kein Gegensatz sein kann, sondern etwas davon unterschiedenes Drittes. Denn was sollte das Gegenteil eines je Einzelnen sein, wenn es kein anderes je Einzelnes sein kann? Es bleiben offenbar nur das Seiende gemäß der anderen Kategorien und das schlechthin Nichtseiende als eine Art Privation übrig. Wie aber soll eine Seiendheit, die doch allem anderen zugrunde liegt, später sein als dieses Andere, dem sie ja eben gerade zugrunde liegt, oder wie soll die Seiendheit gar aus dem entstehen, was hinsichtlich seines Seins von ihr abhängt? Und wie soll ein Seiendes aus dem schlechthin Nichtseienden entstehen? All dies ist klarerweise unmöglich. Aristoteles will hier, wie wir soeben gesehen haben, also nicht zeigen, daß die als Seiendheit verstandene Form keinen Gegensatz hat, sondern nur, daß die Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift, also das je Ein Vgl. Cat. 5, 3b, 24 f.
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zelne, nicht ausschließlich aus etwas Entgegengesetztem heraus erklärt werden kann. Streng genommen ist freilich die Form nichts, was in etwas anderem wäre, denn sie konstituiert das je einzelne Seiende gerade als das, was es jeweils ist. Auch wenn also die Form als Wohlgefügtheit nicht-identifizierend von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, so bedeutet dies nicht, daß sie in diesem Zugrundeliegenden wäre, vielmehr drückt sich darin aus, daß ein materielles Seiendes seine Form verwirklicht hat. Doch an dieser Differenzierung war Aristoteles hier noch nicht gelegen, möglicherweise aus didaktischen Überlegungen: er rechnete mit einer von der Kategorienschrift herkommenden und in diesem Rahmen denkenden Zuhörerschaft, diese Differenzierung läßt sich aber mit den Mitteln der Kategorienschrift nicht vornehmen. Aristoteles mußte daher seine Zuhörer zu der von ihm hier im Grunde schon vollzogenen Umformung seines Denkens erst hinführen. Aristoteles kommt also zu dem Ergebnis, daß es nicht nur zwei Prinzipien in Gestalt eines Gegensatzes geben kann, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen kann so kein Wandel erklärt werden, weil die Gegensätze sich als Prinzipien nicht verändern, und zum anderen können wir so nicht das je einzelne Seiende erklären, weil dieses keinen Gegensatz hat. Wir müssen daher eine andere, dritte Physis neben dem Entgegengesetzten annehmen.316 Es gibt also nicht nur eine Physis, sondern deren drei. Physis sind sie deshalb, weil sie jeweils als Prinzip eines natürlichen Werdens einen Quellgrund des Hervorwachsens darstellen. Dieses Dritte ist deshalb, weil es eine Physis ist, auch unmöglich mit der Seiendheit als je Einzelnem gleichzusetzen, denn das Werden der Seiendheit im Sinne des je Einzelnen soll ja gerade aus den Prinzipien heraus erklärt werden können. Daher lautet der nächste Abschnitt: διόπερ εἴ τις τόν τε πρότερον ἀληθῆ νομίσειεν εἶναι λόγον καὶ τοῦτον, ἀναγκαῖον εἰ μέλλει διασώσειν ἀμφοτέρους αὐτούς, ὑποτιθέναι τι τρίτον, ὥσπερ φασὶν οἱ μίαν τινὰ φύσιν εἶναι λέγοντες τὸ πᾶν, οἷον ὕδωρ ἢ πῦρ ἢ τὸ μεταξὺ τούτων.317 Eben deshalb ist es, wenn man denn der Ansicht sein sollte, daß beide Aussagen wahr sind, sowohl die frühere als auch diese, und man vorhat, sie beide auch weiterhin aufrechtzuerhalten, notwendig etwas Drittes so zugrunde zu legen, wie das die äußern, die sagen, daß das Alles irgendeine einzige Natur sei, z. B. Wasser oder Feuer oder das, was zwischen diesen ist.
Vgl. Phys. A 6, 28 f. Phys. A 6, 189a 34 – 189b 3.
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Mit den beiden Aussagen sind hierbei das Ergebnis des fünften Kapitels und das der soeben abgeschlossenen Überlegungen gemeint, nämlich: 1. Prinzipien des Werdens gibt es zwei, nämlich das sich Entgegengesetzte. Denn alles Werdende und somit auch das schlechthin Werdende, d. h. das jeweils Einzelne, wird aus Entgegengesetztem. 2. Aus Entgegengesetztem allein läßt sich kein Werden erklären. Denn Entgegengesetztes kann nicht aufeinander einwirken und so ein Werden in Gang setzen. Außerdem ist das schlechthin Werdende etwas bestimmtes Einzelnes; keinem bestimmten Einzelnen aber ist etwas entgegengesetzt und nichts Entgegengesetztes ist ein bestimmtes Einzelnes. Um diesen Widerspruch zu lösen, muß man nun also ein drittes Prinzip neben dem Gegensatz annehmen, auf das der Gegensatz zum einen einwirken kann und das zum anderen, weil selbst gegensatzlos, der Grund dafür ist, daß das einzelne natürliche Seiende, dessen Prinzipien ja gesucht werden, keinen Gegensatz hat. Dieses Dritte wird nun in Bezug gesetzt zu Aussagen einiger vorsokratischer Naturphilosophen, nämlich jener, die alles aus einem hervorgehen lassen, wie z. B. Thales, der alles aus dem Wasser hervorgehen läßt, oder Heraklit, für den das Feuer diese Funktion übernimmt. Obwohl Aristoteles bisher diesen Ausdruck noch nicht gebraucht hat, wird damit bereits deutlich, daß es sich bei diesem dritten Prinzip um das erste Material des Seienden, also um die Materie handelt. Die Vorsokratiker sprachen aber davon, daß alles aus einem identischen Einen hervorgeht. Daraus ergibt sich die nicht ganz unwichtige Frage, ob auch Aristoteles davon ausging, daß die Materie nur eine einzige sei und somit alles letztlich dieselbe, noch vollkommen eigenschaftslose Materie habe, die dann eine noch ganz unbestimmte reine Potentialität wäre. Die Frage ist deshalb von großem Interesse, weil zur Zeit die Meinung vorherrscht, daß es bei Aristoteles keine solche prima materia gebe, sondern die Elemente selbst die letzte Ebene bei der Aristotelischen Werdensanalyse darstellen. Diese Ansicht geht zurück auf den bereits erwähnten Aufsatz von Hugh R. King.318 Sie wird aber mittlerweile auch von sehr vielen anderen Interpreten vertreten.319 Freilich fanden und finden sich auch immer Vgl. King: „Aristotle without Prima Materia“, a.a.O. Vgl. dazu insbesondere die ausführliche Begründung dieser Position in W. Charlton (Übers./Komm.): Aristotle’s Physics. Books I and II, Oxford 1970, S. 129– 145 und (bezogen auf Gen. corr.) Gill: Aristotle on Substance, a.a.O., S. 243–252. 318 319
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noch, wenn auch wenige Verteidiger der Ansicht, daß bei Aristoteles durchaus das Konzept einer prima materie zu finden sei, allen voran C. J. F. Williams.320 Gerade Williams vertritt aber zusätzlich auch die Ansicht, daß Aristoteles’ Konzept der prima materia sich letztlich selbst widerspricht: „The sceptics about prime matter are right about what Aristotle ought to have thought. They are not, however, right about what he actually thought. Prime matter is not so much possible as impossible, but it is nevertheless there in much of what Aristotle wrote.“321 Aristoteles habe nämlich den Sinn der Ausdrücke Wirklichkeit und Möglichkeit nicht adäquat aufgefaßt. Was nämlich der Wirklichkeit nach nichts sei, das sei eben nichts und könne deshalb auch nichts der Möglichkeit nach sein. Diese Gleichsetzung von „nichts der Wirklichkeit nach“ und „nichts schlechthin“ weist Thomas Buchheim zurecht zurück.322 Buchheim selbst lehnt zwar den Begriff der Primären Materie ab, verteidigt jedoch entschieden, daß Aristoteles eine „gemeinsame stoffliche Grundlage der Elemente“ annehme, die bei der Umwandlung der Elemente ineinander erhalten bleibt; diese sei jedoch nicht vollkommen bestimmungslos, da ihr eine Reihe von indifferenten „Rumpfcharaktere“ bzw. „Stammbeschaffenheiten“ zukomme.323 Diese bilden gleichsam die gemeinsame Wurzel der gegensätzlichen Bestimmungen. Buchheim nennt hier „Wucht“ als Gemeinsames von Schwer- und Leichtsein, „Plastizität und Dichtigkeit oder Kohäsion“ als Gemeinsames von Trockenheit und Nässe, die „Stammbeschaffenheit der thermodynamischen Reagibilität oder Wirkungsfreudigkeit überhaupt“ als Gemeinsames von Wärme und Kälte, außerdem die „örtliche Verdrängung, die freilich mit dem Schwerund Leichtsein zusammenhängt“, und die „kontinuierliche Erstreckung des sog. ‚Diaphanen‘ durch alle Körper“.324 Es stellt sich also die Frage, wer recht hat. Wir können dies im Rahmen des sechsten Kapitels der Physik zwar nicht endgültig klären, wollen aber doch ausgehend von dem vorliegenden Text einige kurze Erwägungen anstellen, um dem, was die Materie nach Aristoteles ausmacht, bereits etwas näher zu kommen. Zwar haben die Vorsokratiker das Eine 320 Vgl. C.J.F. Williams (Übers./Komm.): Aristotle’s De Generatione et Corruptione, Oxford 1982, S. 211–219. 321 Ebenda, S. 219. 322 Vgl. Thomas Buchheim (Übers./Komm.): Aristoteles, Über Werden und Vergehen, Berlin 2010 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 12/4), S. 140 f. 323 Vgl. ebenda, S. 135–141. 324 Vgl. ebenda, S. 138 f.
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nicht als eigenschaftslos gedacht, da sie es ja als Wasser, Feuer und dergleichen bezeichneten, Aristoteles jedoch scheint dieser Auffassung zumindest nahe zu kommen, denn er fährt weiter fort: δοκεῖ δὲ τὸ μεταξὺ μᾶλλον· πῦρ γὰρ ἤδη καὶ γῆ καὶ ἀὴρ καὶ ὕδωρ μετ᾽ ἐναντιοτήτων συμπεπλεγμένα ἐστίν. διὸ καὶ οὐκ ἀλόγως ποιοῦσιν οἱ τὸ ὑποκείμενον ἕτερον τούτων ποιοῦντες …325 Es scheint aber eher das, was zwischen diesen ist, zu sein, denn Feuer und Erde und Luft und Wasser sind bereits mit Entgegengesetztheiten verflochten. Deshalb handeln die nicht unsinnig, die das Zugrundeliegende etwas von diesen Verschiedenes sein lassen …
Die vier Stoffe also, mit einem von denen die meisten von denjenigen Vorsokratikern, die alles aus einem hervorgehen ließen, dieses Eine gleichsetzten und welche Aristoteles im Anschluß an Empedokles als die vier Elemente bezeichnete, sind also nicht die Materie, weil sie bereits mit Entgegengesetztheiten, d. h. mit Form und Privation, verflochten sind. Wie Aristoteles diese Verflechtung denkt, erfahren wir aus der Schrift über Werden und Vergehen: 326 die vier Elemente werden durch eine Kombination von zwei Gegensatzpaaren gebildet, nämlich Warmes und Kaltes einerseits und Trockenes und Nasses andererseits; Wasser z. B. wird durch die Kombination von Kälte und Nässe konstituiert. Dabei ist jeweils ein Glied des Gegensatzes die Privation des anderen, nämlich Kälte die Privation der Wärme und die Nässe die Privation der Trockenheit, denn die Wärme erstens fügt Gleichartiges zusammen und reinigt so gewissermaßen von Fremdem, die Kälte dagegen ist der Mangel an Einheitlichkeit, die Trockenheit zweitens bewirkt, daß etwas eigene Grenzen hat, die Nässe dagegen ist der Mangel an eigenen Grenzen.327 Wärme und Trockenheit sind also Formen, allerdings nicht im eigentlichen Sinne, d. h. so wie das Mensch-Sein die Form des Menschen ist, denn weder Wärme noch Trockenheit konstituieren ein einzelnes Seiendes. Dennoch müssen wir, wenn wir die reine Materie als Prinzip erfassen wollen, alle Gegensätze in Abzug bringen, da diese ja zwei andere, von der Materie unterschiedene Prinzipien darstellen.328 Was kann dann aber noch übrig bleiben?
Phys. A 6, 189b 3–6. Vgl. Gen. corr. B 2, 329b 7 ff. 327 Vgl. Gen. corr. B 2, 329b 26–32. 328 Vgl. Buchheim, Über Werden und Vergehen, a.a.O., S. 137 f. 325 326
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Aristoteles verweist hier nun auf eine weitere bereits von anderen Denkern vertretene Ansicht, nämlich der, daß das allem zugrundeliegende Dritte etwas zwischen den anderen Elementen sei.329 Zumindest scheint dieses Mittlere eher dem gesuchten Dritten zu entsprechen, wie Aristoteles vorsichtig formuliert. Die Weise, wie er dies vorträgt, legt allerdings nahe, daß Aristoteles selbst der Annahme, daß ein solcher intermediärer Stoff330 die gesuchte dritte Physis sei, nicht ohne weiteres zustimmt. Warum er nicht zustimmen kann, scheint mir aus folgender Überlegung klar zu werden: In der Ansicht, daß das Eine etwas zwischen den anderen Elementen sei, wird das Zwischen offenbar ebenfalls als ein Element gedacht, nur eben ein intermediäres, in dem sich die Gegensätze gleichsam die Wage halten. Auch das intermediäre Element ist also von den Gegensätzen abhängig, ähnlich wie die Farben nach Aristoteles als Mittleres vom Gegensatz hell-dunkel abhängig sind; es ist also nicht ein Drittes neben den Gegensätzen. Zudem dürfte ein solches Element ein abgetrennt existierender Körper sein, wie die anderen Elemente auch; Körper können sich aber verändern. Wie läßt sich aber dann ein solches Drittes denken, das jenseits des Gegensatzes steht? Darauf, wie überhaupt auf diese ganze Problematik, geht Aristoteles im sechsten Kapitel nicht weiter ein. Erst im siebten Kapitel wird diese Frage einigermaßen geklärt. Im sechsten Kapitel ist Aristoteles nur wichtig, daß überhaupt die Notwendigkeit eines solchen Dritten neben dem Gegensatz anerkannt wird. Dieses Dritte wird nun jedoch allererst durch den Gegensatz von Fülle und Mangel (ὑπεροχή und ἔλλειψις) geformt, d. h. durch Form und Privation, was auch alle Vorläufer des Aristoteles durch ihr Handeln zugestehen.331 Also genügt auch nicht das Eine allein, denn dieses wäre ohne jede Gestalt und damit nicht wahrnehmbar, ja im Grunde genommen wäre es überhaupt nichts, denn jedes essentielle Sein, das man von ihm aussagen könnte, wäre, wie wir gesehen haben, immer auf einen Gegensatz zurückführbar. Mehr als drei Prinzipien aber kann es auch nicht geben, was Aristoteles zum einen wieder mit dem Verweis auf die Prin329 An wen Aristoteles dabei allerdings konkret denkt, läßt sich wohl nicht mehr ermitteln; vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 482 f. 330 Dieser intermediäre Stoff darf nicht mit dem gemeinsamen Stoff Buchheims in Verbindung gebracht werden, weil die Rumpfcharaktere nicht ein Mittleres zwischen den Bestimmungen der vier Elemente sein sollen, sondern etwas gegenüber allen konkreten Ausprägungen dieser Bestimmungen gerade Indifferentes. 331 Vgl. Phys. A 6, 189b 8–11.
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zipien-Ökonomie erklärt: Gäbe es z. B. einen zweiten Gegensatz, dann müßte jeder davon auf ein verschiedenes, dazwischenliegendes Eines einwirken, um etwas zu erzeugen. Warum das so sein müßte, wird zwar nicht weiter erklärt, es liegt aber die Vermutung nahe, daß dies damit zu tun hat, daß der Gegensatz ja nicht irgendein Gegensatz ist, sondern einer von Fülle und Mangel bzw. Form und Privation; nichts kann aber in derselben Hinsicht zugleich vollkommen und mangelhaft sein, verschiedene Hinsichten aber kann etwas, das wesentlich eines ist, nicht annehmen. Wenn dem aber so ist, dann könnten ja je zwei Gegensätze schon etwas ohne den jeweils anderen Gegensatz erzeugen, damit aber wäre die zweite Dreiheit überflüssig.332 Zum anderen erinnert er daran, daß sich in jeder Gattung des Seienden die Prinzipien nur dadurch unterscheiden können, ob sie früher oder später sind, d. h. hinsichtlich ihres Allgemeinheitsgrades.333 Letztlich lassen sich alle Prinzipien, die einer Gattung des Seienden zukommen, daher unter einen allgemeinsten Gegensatz subsumieren, der damit im Hinblick auf die Erklärung, d. h. den Logos, als erstes Prinzip fungiert, weil durch dieses Prinzip alle anderen miterklärt werden. Der allgemeinste Gegensatz ist daher das erste und eigentliche Prinzip der Erklärung, auch wenn es freilich nicht das erste und eigentliche Prinzip des konkreten Werdens ist, denn die Wohlgefügtheit z. B. ist nicht unmittelbar die Ursache des Hauses, denn dieses Prinzip ist das, was für ein Haus das Sein ausmacht, also das Haus-Sein. Da die Seiendheit aber eine solche Gattung des Seienden ist, kann es auch in dieser Hinsicht nur einen obersten und allgemeinsten Gegensatz geben.
4.3.2.2 Die Binnendifferenzierung des Werdenden und der Seiendheit Damit scheint nun also festzustehen, daß es genau drei Prinzipien des schlechthinnigen Werdens, d. h. des Werdens einer Seiendheit, geben muß, nicht mehr und nicht weniger. Doch so einfach macht Aristoteles es sich nicht, denn zum Schluß des sechsten Kapitels stellt er fest: ὅτι μὲν οὖν οὔτε ἓν τὸ στοιχεῖον οὔτε πλείω δυοῖν ἢ τριῶν, φανερόν· τούτων δὲ πότερον, καθάπερ εἴπομεν, ἀπορίαν ἔχει πολλήν.334
Vgl. Phys. A 6, 189b 16–23. Vgl. Phys. A 6, 189b 23–27. 334 Phys. A 6, 189b 27–29. 332 333
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Daß zum einen also weder das Element eines ist noch mehr als zwei oder drei, liegt am Tage. Welches von diesen beiden aber zutrifft, das ist, wie wir gesagt haben, eine überaus schwierige Frage.
Nun hat Aristoteles zwar bisher nirgendwo gesagt, daß dies eine schwierige Frage sei, er drückt sich aber stets sehr vorsichtig aus.335 Was er also bisher zugunsten eines dritten Prinzips vorbrachte, hat dieses offenbar in den Augen des Aristoteles nur plausibel gemacht; die Frage, ob ein solches Prinzip aber auch tatsächlich anzunehmen ist, harrt noch einer letzten Prüfung. Denn es geht ihm hier ja nicht darum, zu zeigen, daß einem relativen Werden ein drittes Prinzip zugrunde liegen muß; das wäre wohl schon hinreichend klar. Daß nämlich z. B. beim Übergang von Dunklem zu Hellem ein Drittes erforderlich ist, das diesen Übergang vermittelt, ergibt sich schon allein aus dem Umstand, daß es sich dabei um Akzidenzien handelt, die sowieso immer eines Zugrundeliegenden bedürfen. Fraglich ist nur noch die Anzahl der Prinzipien beim schlechthinnigen Werden, also dem Werden einer Seiendheit, und zwar insbesondere einer natürlichen Seiendheit; es geht ihm also um das Entstehen und nicht nur um das Anders-Werden. Darauf deutet auch die Verwendung des Ausdrucks Element hin, die sich auch schon an früherer Stelle findet.336 Denn damit meint Aristoteles hier wohl nicht nur allgemein ein internes Prinzip des Seins oder Werdens337, wie es in gewisser Weise auch Akzidenzien wie die Helligkeit wären, vielmehr spielt er damit zugleich auch auf die Elemente der Vorsokratiker an, die ja im Kontext des ersten Buchs der Physik eine zentrale Rolle spielen. Die von ihm herauspräparierten zwei oder drei Prinzipien sollen an die Stelle der vorsokratischen Elemente treten, d. h. sie sollen die letzteren zugemutete Erklärungsleistung übernehmen. Erklären sollen die Elemente aber gerade nicht nur das So-Sein des Seienden, sondern damit zugleich und in eins immer auch dessen Sein schlechthin; deshalb werden die Elemente der Vorsokratiker auch durchwegs als Körper gedacht. Die Elemente sind somit Ursache dafür, daß überhaupt etwas ist und wird, also in Aristotelischer Terminologie: sie sind Seiendheit. Da es ihm also um die Seiendheit geht, muß er noch zeigen, daß auch bei dem Werden in dieser Gattung des Seienden immer etwas zugrunde liegen muß. Dies versteht sich nicht von selbst, da ja die Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift Vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 491. Vgl. Phys. A 6, 189b 16. 337 Vgl. Met. Λ 4, 1070b 22–26. 335
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selbst schon das schlechthin Zugrundeliegende ist. Es stellt sich also die Frage, wie es möglich ist, daß einer Seiendheit etwas zugrunde liegt. Damit hängt auch das noch nicht endgültig geklärte Problem zusammen, wie eine Seiendheit, der nichts entgegengesetzt ist, doch aus einem Gegensatz hervorgehen kann. Aristoteles geht nun die Lösung dieser Schwierigkeiten nach dem bewährten Muster an, das er auch schon im fünften Kapitel anwandte. Er führt nämlich zunächst die Untersuchung anhand einleuchtender Beispiele aus einem uns vertrauten Bereich, der hinsichtlich dessen, was in Frage steht, keine großen Schwierigkeiten macht; in diesen Beispielen jedoch wird ein Zusammenhang von analoger Allgemeinheit sichtbar, dem dann das, was in Frage steht, als weiteres Analogon subsumiert werden kann. Das, was hier nun in Frage steht, ist das schlechthinnige Werden, das hinsichtlich seiner Struktur geklärt werden soll. Um diese Klärung zu erreichen, wird die Untersuchung nun aber nicht mehr auf demselben Abstraktionsniveau geführt wie in den beiden vorhergehenden Kapiteln: Ὧδ᾽ οὖν ἡμεῖς λέγωμεν πρῶτον περὶ πάσης γενέσεως ἐπελθόντες· ἔστι γὰρ κατὰ φύσιν τὰ κοινὰ πρῶτον εἰπόντας οὕτω τὰ περὶ ἕκαστον ἴδια θεωρεῖν.338 Auf folgende Weise nun wollen wir uns äußern 339, indem wir zunächst das, was über Werden insgesamt gesagt werden kann, durchgehen; es ist nämlich der Natur (Physis) gemäß, daß wir, nachdem wir zunächst das Gemeinsame besprochen haben, auf diese Weise das, was bezüglich jedes Einzelfalls jeweils eigentümlich ist, betrachten.
Mit dem Einzelfall (ἕκαστον) ist hier jedoch nicht das je Einzelne gemeint, z. B. ein bestimmter Mensch oder ein bestimmtes Haus. Die Differenzierung, die vorgenommen werden soll, hält sich nämlich auch weiterhin im Bereich des Werdens im allgemeinen, d. h. auch die Einzelfälle sind weiterhin von analoger Allgemeinheit. Mit dem Gemeinsamen, von dem Aristoteles im obigen Zitat spricht, ist nämlich die im fünften Kapitel erkannte allgemeine Struktur des Werdens gemeint: ληπτέον δὴ πρῶτον ὅτι πάντων τῶν ὄντων οὐθὲν οὔτε ποιεῖν πέφυκεν οὔτε πάσχειν τὸ τυχὸν ὑπὸ τοῦ τυχόντος, οὐδὲ γίγνεται ὁτιοῦν ἐξ ὁτουοῦν, ἂν μή τις λαμβάνῃ κατὰ συμβεβηκός·340
Phys. A 7, 189b 30–32. Nämlich zu der Frage, ob es zwei oder drei Prinzipien gibt. 340 Phys. A 5, 188a 31–34. 338 339
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Zunächst nun gilt es zu begreifen, daß von allen Seienden keines zu bewirken pflegt, was sich gerade so trifft, oder eine Einwirkung zu erfahren von dem, was sich gerade so trifft, und es wird auch nicht Beliebiges aus Beliebigem, so man denn dies nicht im Hinblick auf das, was sich so ergeben hat, versteht.
Unmittelbar daran schließt nun Aristoteles die weitere Betrachtung an, wenn er im siebten Kapitel fortfährt: φαμὲν γὰρ γίγνεσθαι ἐξ ἄλλου ἄλλο καὶ ἐξ ἑτέρου ἕτερον ἢ τὰ ἁπλᾶ λέγοντες ἢ τὰ συγκείμενα.341 Wir sagen nämlich, daß aus anderem anderes und aus verschiedenem verschiedenes wird und meinen dabei entweder das Einfache oder das Zusammengesetzte.
Er greift also das Ergebnis des fünften Kapitels wieder auf, unterscheidet jetzt aber zwei Arten, wie das Subjekt des Satzes aufgefaßt werden kann. Diese zwei Auffassungsweisen sind mit den Einzelfällen gemeint. Es handelt sich dabei aber auch nicht um zwei Arten des Werdens, sondern um zwei Arten, wie das Werden ausgesagt werden kann. Als Leitfaden dient also wieder einmal, wie das ja bei Aristoteles oft der Fall ist, der allgemeine Sprachgebrauch. Hinter dieser Annahme eines logisch-ontologischen Parallelismus steht allerdings keine blinde Gleichsetzung von Grammatik und Ontologie, sondern die Überzeugung, daß die Wahrheit niemals ganz verfehlt werden kann, und daher auch der allgemeine Sprachgebrauch, in dem sich die Meinung der Mehrheit niedergeschlagen hat, als Zeuge im Prozeß der Wahrheitsfindung gehört werden muß. Der allgemeine Sprachgebrauch ist allerdings deshalb noch lange nicht der Richter, der das Urteil spricht, denn dieser ist immer derjenige, der die Erkenntnis vollzieht. Zunächst nun erklärt Aristoteles, was er mit den Ausdrücken einfach und zusammengesetzt meint, und zwar anhand von drei beispielhaften Aussagen, in denen jeweils ein Werden ausgesagt wird. Diese Beispiele dienen zugleich dazu, einen allgemeinen Zusammenhang evident zu machen; es handelt sich also bei den entsprechenden Ausführungen wieder einmal nicht nur um eine Klärung von Begrifflichkeiten, sondern gleichzeitig um eine ἐπαγωγή. Sehen wir uns die Beispiele im einzelnen an: 342 1. Aussage: Ein Mensch wird kultiviert. 2. Aussage: Das Nicht-Kultivierte wird kultiviert. Phys. A 7, 189b 32–34. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Phys. A 7, 189b 34 – 190a 13.
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3. Aussage: Der nicht kultivierte Mensch wird ein kultivierter Mensch. Diese Aussagen setzen sich jeweils aus einem Werdenden und einem Ziel des Werdens zusammen. Einfach sind nun Werdendes und Ziel des Werdens in den ersten beiden Aussagen; der Mensch, das Nicht-Kultivierte und das Kultivierte sind also Einfaches, wobei der Mensch und das Nicht-Kultivierte ein Werdendes sind, das Kultivierte aber etwas, zu dem das Werdende jeweils wird. Zusammengesetzt dagegen sind das Werdende und das Ziel des Werdens in der dritten Aussage. Einfach und zusammengesetzt bezieht sich dennoch, wie es zunächst scheinen könnte, nicht nur auf die in den Aussagen enthaltenen Wörter, sondern durchaus auf das durch diese benannte Seiende. Denn der Mensch, das Kultivierte und das Unkultivierte werden nicht nur jeweils durch ein einfaches Wort benannt, sondern sind auch hinsichtlich ihres kategorialen Seins einfach, weshalb man sie auch definieren kann.343 In der Definition nämlich wird ein Seiendes hinsichtlich seines Seins offenbar gemacht. Z. B. ist der Mensch ein vernunftbegabtes Lebewesen, die Kultiviertheit eine bestimmte Art des Wissens und die Unkultiviertheit eine bestimmte Art des vollständigen Mangels an Wissen. Den kultivierten Menschen dagegen kann man nicht definieren, weil das, worin das Sein für etwas Kultiviertes besteht, und das, worin es für einen Menschen besteht, verschieden sind.344 Nun kann man eine der einfachen Aussagen, nämlich die zweite, ohne Bedeutungsänderung umformen, und zwar auf folgende Weise: Statt „ein Nicht-Kultivierter wird kultiviert“ kann man auch sagen „aus einem Nicht-Kultivierten wird ein Kultivierter“.345 Eine solche Umformung ist bei der anderen einfachen Aussage nicht möglich, da die Aussage „aus einem Menschen wird ein Kultivierter“ keinen Sinn ergibt. Dies führt Aristoteles darauf zurück, daß bei dem Satz, der auf die obige Weise umgeformt werden kann, das, was jeweils etwas wird, nicht erhalten bleibt, während dieses bei den Sätzen, die nicht umgeformt werden können, erhalten bleibt.346 Wenn nämlich ein Nicht-Kultivierter ein Kulti343 Im eigentlichen Sinne freilich kann nur die Seiendheit definiert werden, jedoch ist bei allem anderen eine der Definition im eigentlichen Sinne analoge Bestimmung möglich, die allerdings nie vollständig sein kann; siehe Abschnitt 3.2.2. 344 Vgl. dazu Phys. A 7, 190a 17 und 190b 20–23. 345 Im Griechischen bezieht sich die Umformung dabei nur auf das Satzsubjekt, denn das Adjektiv μουσικόν, das wir mit kultiviert übersetzt haben, kann man ohne weitere Änderung auch als substantiviert auffassen. 346 Vgl. Phys. A 7, 190a 9–13.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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vierter wird, dann bleibt der Nicht-Kultivierte, insofern er ein solcher ist, nicht erhalten, sondern geht gerade zugrunde, da ja der Kultivierte kein Nicht-Kultivierter mehr ist. Dies gilt im übrigen auch für die zusammengesetzte Aussage, denn auch dort bleibt das Nicht-Kultivierte nicht erhalten, schließlich ist auch ein kultivierter Mensch kein nicht-kultivierter Mensch mehr. Wenn aber ein Mensch kultiviert bzw. ein Kultivierter wird, dann bleibt der Mensch erhalten, denn auch der Kultivierte ist ein Mensch. Von diesen Beispielen ausgehend versucht nun Aristoteles einen allgemeinen Zusammenhang aufzuzeigen: διωρισμένων δὲ τούτων, ἐξ ἁπάντων τῶν γιγνομένων τοῦτο ἔστι λαβεῖν, ἐάν τις ἐπιβλέψῃ ὥσπερ λέγομεν, ὅτι δεῖ τι ἀεὶ ὑποκεῖσθαι τὸ γιγνόμενον, καὶ τοῦτο εἰ καὶ ἀριθμῷ ἐστιν ἕν, ἀλλ᾽ εἴδει γε οὐχ ἕν· τὸ γὰρ εἴδει λέγω καὶ λόγῳ ταὐτόν· οὐ γὰρ ταὐτὸν τὸ ἀνθρώπῳ καὶ τὸ ἀμούσῳ εἶναι. καὶ τὸ μὲν ὑπομένει, τὸ δ᾽ οὐχ ὑπομένει· τὸ μὲν μὴ ἀντικείμενον ὑπομένει (ὁ γὰρ ἄνθρωπος ὑπομένει), τὸ μὴ μουσικὸν δὲ καὶ τὸ ἄμουσον οὐχ ὑπομένει, οὐδὲ τὸ ἐξ ἀμφοῖν συγκείμενον, οἷον ὁ ἄμουσος ἄνθρωπος.347 Nachdem wir dies auseinandergesetzt haben, kann man aus der Gesamtheit dessen, was wird, dies herausgreifen, wenn man es denn so betrachtet, wie wir sagen, daß immer etwas zugrunde liegen muß, nämlich das Werdende, und dies auch, wenn es der Anzahl nach eines ist; der Form nach jedoch ist es nicht eines, denn mit der Form nach und der Definition (λόγος) nach meine ich dasselbe. Nicht dasselbe nämlich ist das, worin für einen Menschen, und das, worin für einen Unkultivierten das Sein besteht. Und das eine bleibt erhalten, das andere bleibt nicht erhalten: das, was nicht einem anderen entgegengesetzt ist, bleibt erhalten (der Mensch nämlich bleibt erhalten), das Nicht-Kultivierte aber, d. h. das Unkultivierte, bleibt nicht erhalten, auch nicht das aus beidem Zusammengesetzte, z. B. der unkultivierte Mensch.
Wenn wir dieses Zitat Schritt für Schritt durchgehen, so drängt sich zunächst die Frage auf, warum sich denn aus den genannten Beispielen ergeben soll, daß immer etwas erhalten bleiben muß, schließlich blieb ja bei dem Werden des Kultivierten aus dem Unkultivierten gerade nichts erhalten. Doch die Lösung dieses Problems ist nicht allzu schwer: Kultiviertheit und Unkultiviertheit bestimmen ja für sich selbst genommen noch kein Seiendes hinsichtlich seiner selbst; es ist immer ein Mensch, der das eine oder andere ist oder wird. Alle von Aristoteles angeführten exemplarischen Aussagen beschreiben ja genau denselben Vorgang, nur daß einmal das Werdende als das benannt wird, was es hinsichtlich seiner selbst ist, nämlich ein Mensch, und einmal als das, was sich zwar für Phys. A 7, 190a 13–21.
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den Menschen nur so ergeben hat, für das spezifische Werden als solches jedoch der notwendige Ausgangspunkt ist; nur ein Mensch nämlich, der durch Unkultiviertheit bestimmt, d. h. der etwas Unkultiviertes ist, kann zu etwas Kultiviertem werden. Die dritte, komplexe Aussage kombiniert beide Aspekte und bietet so gewissermaßen das gesamte Bild. Das Werdende also ist immer etwas Doppeltes, obwohl es freilich in einer anderen Hinsicht immer nur eines ist. Eines ist das Werdende, z. B. der unkultivierte Mensch, weil es nur ein Seiendes benennt, und nicht etwa zwei, nämlich einen Unkultivierten und einen Menschen. Das Seiende wird hier nur durch eine akzidentelle Bestimmung weiter spezifiziert. Zugleich ist dieses eine Seiende jedoch auch als ein komplexes in gewisser Weise aus zwei einfachen Seienden zusammengesetzt, worauf bereits weiter oben hingewiesen wurde. In dem unkultivierten Menschen liegt nämlich einerseits das Mensch-Seiende, andererseits das Unkultiviert-Seiende; beide sind nicht einfach identisch, da sie sich hinsichtlich ihres Seins unterscheiden. Das Mensch-Sein ist nämlich von dem Unkultiviert-Sein deshalb verschieden, weil das Sein eines Seienden in dessen Logos, d. h. Definition, offenbar gemacht wird, es aber für den Menschen und das Unkultivierte keinen gemeinsamen Logos gibt. Da das Sein eines Seienden dessen Form ist, kann man nun aber auch sagen, daß das Werdende hinsichtlich seiner Form zwei ist. Trotz alledem bleibt es jedoch weiterhin ein einziges bestimmtes Seiendes, allerdings ist es kein einfaches, sondern eben ein zusammengesetztes oder komplexes Seiendes, das verschiedene Aspekte aufweist und daher auch verschiedene Hinsichtnahmen zuläßt. Dies wird noch wesentlich einsichtiger, wie mir scheint, wenn man sich klar macht, daß zwar hier sowohl das Unkultiviert-Sein als auch das Mensch-Sein als Formen bezeichnet werden, streng genommen jedoch nur das Mensch-Sein eine Form im Vollsinn des Wortes ist, die andere sogenannte Form dagegen eigentlich bloß ein Analogon der Form darstellt, da nur das Mensch-Sein für sich allein ein Seiendes konstituieren und deshalb auch vollständig definiert werden kann, während das Unkultiviert-Sein immer eines ihm zugrundeliegenden Seienden bedarf, um überhaupt zu sein, und folglich, wie nun schon des öfteren erklärt wurde, nie vollständig definiert werden kann. Denn definieren bedeutet das Sein eines Seienden offenbar machen, das Unkultiviert-Seiende jedoch ist, auch wenn man es nur hinsichtlich seiner selbst betrachtet, immer noch etwas anderes als es selbst. Das Werdende ist also immer zusammengesetzt, selbst wenn es in der Aussage als etwas Einfaches erscheint. Daß es aber in der Aussage mög-
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lich ist, das Werdende als etwas Einfaches anzusprechen, liegt daran, daß es uns frei steht, es nur in einer Hinsicht zu betrachteten, eben z. B. nur als Unkultiviertes, obwohl es zugleich und in grundlegenderem Sinne ein Mensch ist. Wird nun das Werdende zu dem, was es eben wird, so bleibt immer etwas erhalten, nämlich in unserem Beispiel etwa der Mensch, während etwas anderes nicht erhalten bleibt, sondern zugrunde geht, nämlich das Unkultivierte. Denn auch das Kultivierte ist weiterhin ein Mensch, es ist jedoch nicht länger ein Unkultiviertes. Aus diesem Beispiel heraus aber soll uns nach Aristoteles evident werden, daß alles Werdende ohne Ausnahme auf diese Weise zusammengesetzt ist: bei jedem Werden findet sich etwas, das erhalten bleibt und dem Werden zugrunde liegt, und etwas, dessen Untergang gerade das Werden ausmacht. Für die akzidentellen Gegensätze wird dies auch jeder ohne Probleme zugestehen, schließlich bedürfen diese ja bereits, um „bloß“ zu sein, eines Zugrundeliegenden. Wenn Aristoteles hier aber betont, daß sich dieser Zusammenhang bei der Gesamtheit des Werdenden findet, dann denkt er hier in erster Linie an das Werden der natürlichen Seiendheit, das er ja in der Physik durch Aufdeckung ihrer Prinzipien verstehen will. Er behauptet hier also im Grunde genommen, daß man das schlechthinnige Werden der (natürlichen) Seiendheit auf der Grundlage eines Analogieschlusses verstehen kann: Wie sich die drei Prinzipien des relativen Werdens zueinander verhalten, so verhalten sich auch die Prinzipien des schlechthinnigen Werdens zueinander, obwohl sie freilich von den Prinzipien des relativen Werdens hinsichtlich ihrer selbst vollkommen verschieden sind. Identisch ist nur das Verhältnis der Prinzipien zueinander, und gerade diese Identität oder „vollkommne Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen“348 wird eben Analogie genannt. Freilich ergibt sich die Möglichkeit einer solchen Analogie noch nicht unmittelbar aus den Beispielen, die den allgemeinen Zusammenhang evident machen sollen, denn es ist nicht ohne weiteres klar, was bei den Seiendheiten als jeweiliges Analogon anzusehen ist, schließlich kann man auf sie nicht einfach die Unterscheidung von Substanz und Akzidenz übertragen, da man ja hier nur noch das erste Glied dieser Zweiteilung betrachtet. Daher muß Aristoteles die Möglichkeit zu dieser Analogiebildung erst noch nachweisen. Für das Entgegengesetzte hat er dies 348 Immanuel Kant: „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“, in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. d. königlich preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4, Berlin 1911, S. 253–383, S. 357.
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jedoch bereits getan, und zwar im fünften Kapitel: jedes einzelne Seiende entsteht als etwas Wohlgefügtes aus Ungefügtem, wobei es sich wie bei allem anderen Entgegengesetzten, das einem Werden zugrunde liegt, um eine Entgegensetzung von Fülle und Mangel bzw. Form und Privation handelt. Für das zugrundeliegende Dritte jedoch steht der Nachweis noch aus. Nun stürmt aber Aristoteles nicht von dem akzidentellen Werden unmittelbar auf das natürliche Werden los, um diesen Nachweis zu führen, sondern schaltet, wie schon im fünften Kapitel, noch eine Zwischenstufe in seine Argumentation ein, nämlich das Werden der Seiendheit überhaupt, zu der auch die Artefakte zählen. Da es sich bei den Artefakten bereits um ein schlechthinniges Werden handelt, steht es dem natürlichen Werden schon um einiges näher als das akzidentelle Werden, allerdings unterscheidet es sich von diesem auch immer noch wesentlich, da ja die Prinzipien des Werdens bei einem Artefakt im Gegensatz zu einem natürlichen Seienden nicht in diesem selbst liegen. Dennoch ist aufgrund dessen, daß es sich bei beidem um Seiendheiten handelt, der Aufweis einer Analogie zwischen beiden Arten des Werdens noch wesentlich aussagekräftiger als der Aufweis einer Analogie zwischen Arten des Werdens, die sich so fern stehen, wie das relative und das schlechthinnige Werden. Aus diesem Grund bemüht sich Aristoteles zunächst ganz allgemein nachzuweisen, daß und wie auch das Werden der Seiendheiten überhaupt, also ausdrücklich inklusive der Artefakte, dem Werden der Akzidenzien analog ist. Es ist daher also für die Argumentation des Aristoteles von zentraler Bedeutung, auch bei dem Werden der Seiendheiten alle drei Prinzipien des Werdens nachzuweisen. In dieser Hinsicht muß er jedoch seine Analyse der drei möglichen Arten, ein Werden auszusagen, etwas modifizieren.349 Denn während bei dem akzidentellen Werden die Aussage „aus A wird B“ darauf hinwies, daß A nicht erhalten bleibt, treffen wir nun bei dem Werden der Artefakte gerade den umgekehrten Fall an: „aus A wird B“ bedeutet hier, daß A erhalten bleibt. Als Beispiel greift Aristoteles wieder die Statue auf350 , diese wird nämlich aus Bronze; die Bronze aber bleibt im Umwandlungsprozeß gerade erhalten. Es gibt hierbei jedoch einen entscheidenden Unterschied zu den Aussagen, die das als Ausgangspunkt eines Werdens benennen, was nicht erhalten bleibt; diese Vgl. Phys. A 7, 190a 21–31. Vgl. Phys. A 7, 190a 24–26.
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Aussagen lassen sich nämlich völlig äquivalent aus der Form „aus A wird B“ in die Form „A wird B“ bringen, was bei den Aussagen nicht möglich ist, die sich auf das beziehen, was beim schlechthinnigen Werden erhalten bleibt. Was könnte nun aber der Grund für diesen merkwürdigen Umstand sein, daß das, was erhalten bleibt, einmal ausschließlich mit der Wendung „aus … wird“ und einmal ausschließlich mit der Wendung „… wird“ ausgesagt wird, niemals aber mit beiden, während dasjenige, was nicht erhalten bleibt, immer mit beiden Wendung ausgesagt werden kann? Daß das Zugrundeliegende, das erhalten bleibt, einmal so und einmal so ausgesagt wird, hängt mit dem Unterschied zwischen dem relativen bzw. akzidentellen und dem schlechthinnigen Werden zusammen. Beim relativen Werden ist das Werdende nicht mit einem der Gegensatzglieder vollkommen identisch, da die Gegensatzglieder als Akzidenzien, d. h. als etwas, was sich so ergeben hat, nur dadurch sein können, daß sie in einer Seiendheit sind, welche ihnen also stets zugrunde liegen muß. Dieses Werden wird daher normalerweise in der Form „A wird B“ ausgesagt, wobei das Werdende A hier das Zugrundeliegende ist. Dieses Zugrundeliegende kann allerdings nicht nur als es selbst sondern auch mittels des Akzidenz angesprochen werden, das Ausgangspunkt des Werdens ist. Das ist möglich, weil in jedem akzidentellen Seienden die zugrundeliegende Seiendheit mitgedacht wird: das Unkultivierte ist eben immer eine Seiendheit, für die es sich ergeben hat, daß sie unkultiviert ist, auch wenn dies nicht explizit gemacht wird. Allerdings ist das Unkultivierte auch als das dem Ziel des Werdens, nämlich dem Kultivierten, Gegenüberliegende der Ausgangspunkt des Werdens, was in der Wendung „aus A wird B“ zum Ausdruck kommt, nämlich wenn man sagt „aus einem Unkultivierten wird ein Kultivierter“. Hier wird das Werdende nicht mehr mittels des Ausgangspunktes des Werdens angesprochen, sondern mittels des Endpunkts, denn das Werdende ist nun das B, welches aus A wird. Es gibt also bei dem relativen Werden drei Weisen, wie das Werdende benannt werden kann: 1. Das Werdende wird als es selbst angesprochen („der Mensch wird kultiviert“). 2. Das Werdende wird mittels des Ausgangspunktes des Werdens angesprochen („das Unkultivierte wird kultiviert“) oder 3. mittels des Endpunkts („aus einem Unkultivierten wird ein Kultivierter“).
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
Daß das Werdende sowohl mit dem Ausgangs- als auch dem Endpunkt des Werdens angesprochen werden kann, dürfte wohl daran liegen, daß das Werdende als etwas, das den Übergang zwischen beiden vollzieht, gewissermaßen zwischen ihnen steht und somit sowohl mit dem einen als auch dem anderen verbunden ist. Auf diese Weise lassen sich beim relativen Werden ohne größere Mühe alle drei Prinzipien des Werdens aufzeigen. Wie stellt sich dies nun bei dem schlechthinnigen Werden dar? Können wir auch hier das Werdende auf die genannten drei Weisen ansprechen? Dies ist freilich nicht möglich, denn das schlechthinnige Werden zeichnet sich gerade dadurch aus, daß nicht ein A ein B wird, sondern daß ein A schlechthin wird, ebendeshalb wird es ja von Aristoteles auch schlechthinnig bzw. einfach (ἁπλῶς) genannt. Auf diese Weise werden ausschließlich die Seiendheiten, denn diese allein werden von keinem Zugrundeliegenden ausgesagt.351 Es gib hier also kein Zugrundeliegendes, das hinsichtlich seiner akzidentellen Eigenschaften so und so würde, sondern das, was hier wird, ist gerade das Zugrundeliegende selbst hinsichtlich seiner selbst. Daher kann das Werdende auch nicht als ein von dem Entgegengesetzten unterschiedenes Seiendes angesprochen werden; die erste oben angeführte Möglichkeit entfällt also. Es ist aber auch nicht möglich, es über den Ausgangspunktes des Werdens anzusprechen, da dieser Ausgangspunkt keine Eigenschaft des Werdenden sein darf, andernfalls wäre ja das Werdende wieder als ein vom Entgegengesetzten unterschiedenes Seiendes gedacht und damit das Werden nicht mehr einfach und kein Werden einer Seiendheit mehr. Vielmehr muß die Form als Endpunkt des Werdens unmittelbar das Sein der werdenden Seiendheit selbst darstellen, die Privation dagegen deren NichtSein.352 Daher kann das Werdende beim einfachen Werden nur über den Zielpunkt angesprochen werden, z. B. indem man sagt „eine Statue wird“. Es stellt sich also die Frage, ob es denn bei einem solchen einfachen Werden überhaupt ein Zugrundeliegendes gibt. Sicherlich aber kann es nicht von derselben Art sein, wie das Zugrundeliegende beim relativen Werden, was allerdings für Aristoteles kein Problem darstellt, da er ja nicht behaupten will, alles werde auf eine vollkommen identische Weise, Vgl. Phys. A 7, 190a 31 – 190b 1. Dies dürfte im übrigen wohl auch der eigentliche Grund dafür sein, daß der dem einzelnen Seienden hinsichtlich seiner selbst entgegengesetzte Zustand keine Benennung hat. Vgl. Phys. A 5, 188b 8–11. 351
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sondern nur, daß alles auf eine analoge Weise werde. Da es nämlich keine oberste Gattung alles Seienden, egal welcher Kategorie es angehört, gibt, können alle Aussagen, die für das Seiende bzw. das Werdende schlechthin gelten, sinnvollerweise nur analoge Allgemeinheit für sich beanspruchen. Was also gesucht wird, ist das, was bei dem schlechthinnigen Werden dem Zugrundeliegenden des relativen Werdens analog ist. Die Analogie würde darin bestehen, daß es 1. als Ausgangspunkt des Werdens vor diesem vorausgeht und 2. im Prozeß des Werdens selbst unverändert erhalten bleibt. Daß sich ein solches Zugrundeliegendes finden läßt, hat Aristoteles eigentlich schon von Anfang an vorausgesetzt und auch bereits ein entsprechendes Beispiel, nämlich das der Bronze, aus der eine Statue wird, genannt.353 Explizit begründet wird es allerdings erst an folgender Stelle: ὅτι δὲ καὶ αἱ οὐσίαι καὶ ὅσα [ἄλλα] ἁπλῶς ὄντα ἐξ ὑποκειμένου τινὸς γίγνεται, ἐπισκοποῦντι γένοιτο ἂν φανερόν. ἀεὶ γὰρ ἔστι ὃ ὑπόκειται, ἐξ οὖ τὸ γιγνόμενον, οἷον τὰ φυτὰ καὶ τὰ ζῷα ἐκ σπέρματος. γίγνεται δὲ τὰ γιγνόμενα ἁπλῶς τὰ μέν μετασχηματίσει, οἷον ἀνδριάς, τὰ δὲ προσθέσει, οἷον τὰ αὐξανόμενα, τὰ δ᾽ ἀφαιρέσει, οἷον ἐκ τοῦ λίθου ὁ Ἑρμῆς, τὰ δὲ συνθέσει, οἷον οἰκία, τὰ δ᾽ ἀλλοιώσει, οἷον τὰ τρεπόμενα κατὰ τὴν ὕλην. πάντα δὲ τὰ οὕτω γιγνόμενα φανερὸν ὅτι ἐξ ὑποκειμένων γίγνεται.354 Daß andererseits auch die Seiendheiten, d. h. alles auf einfache Weise Seiende, aus irgendetwas Zugrundeliegendem wird, dürfte wohl dem, der die Sache prüft, ersichtlich werden; denn immer gibt es etwas, was zugrunde liegt, woraus das Werdende wird, wie z. B. die Pflanzen und Tiere aus einem Samen. Es wird aber das auf einfache Weise Werdende teils durch Umgestaltung, wie z. B. eine Statue (aus Bronze), teils durch Hinzufügung, wie z. B. das Wachsende355 , teils durch Entfernung, wie z. B. aus dem Stein die Herme, teils durch Zusammensetzung, wie z. B. ein Haus, teils durch Anders-beschaffen-Werden, wie z. B. das, was umkippt 356 . Bei allem auf diese Weise Werdenden aber ist es offensichtlich, daß es aus Zugrundeliegendem wird. Vgl. Phys. A 7, 190a 25 f. Phys. A 7, 190a 1–10. 355 Wachsen (αὐξάνειν) ist hier gemeint im Sinne des Größer–Werdens, nicht im Sinne des Hervorwachsens (φύεσθαι). 356 Der Bezug zur Materie (κατὰ τὴν ὕλην), der sich in den Manuskripten findet, paßt hier nicht recht in die Liste der ansonsten ganz anschaulichen Beispiele. Auch kommt dieser Begriff hier ganz überraschend, da Aristoteles vorher offenbar darum bemüht war, ihn gerade zu vermeiden; zumindest taucht er vorher auch an Stellen, wo dies naheliegen würde, nicht auf. Zudem ergibt auch τὰ τρεπόμενα alleine schon einen guten Sinn, der auch ganz problemlos zu den anderen aufgezählten Beispielen 353
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
Die Betrachtung dieses Abschnitts wollen wir zunächst mit der Frage beginnen, ob die hier gebotene Aufzählung, die eine Aufzählung von Arten des einfachen Werdens zu sein scheint, erschöpfend sein soll. Kann man z. B. auch das zuvor genannte Werden einer Pflanze oder eines Tieres aus einem Samen einer der genannten Arten des Werdens zuordnen? Das dürfte wohl schwer möglich sein, denn das natürliche Werden einzelner Individuen ist über mehrere, ja möglicherweise sogar alle der genannten Prozesse vermittelt: ein entstehendes Tier wächst, seine Teile nehmen eine gewisse Gestalt an, als ein Organismus bildet es eine innere Struktur, d. h. eine bestimmte Zusammensetzung, aus, es wird vielleicht auch manches von ihm entfernt und sicherlich auch einiges an ihm anders beschaffen, insbesondere durch die Ausbildung der verschiedenen homoiomeren Teile, z. B. Haut, Fleisch, Knochen, aus dem Samen, der ja nichts von alledem ist. Die Aufzählung ist also wohl nicht als eine Aufzählung von Arten des schlechthinnigen Werdens gedacht, sondern vielmehr als eine Liste möglicher Hinsichten, in denen sich ein solches Werden abspielen kann, und als solche dürfte sie durchaus vollständig sein. Nun sind alle genannten Hinsichten jedoch durchaus akzidentelle Veränderungen und bedürfen deshalb notwendigerweise eines Zugrundeliegenden, wie Aristoteles bereits gezeigt hat. Folglich muß auch dem einfachen Werden etwas zugrunde liegen. Daß das schlechthinnige Werden über relatives Werden vermittelt ist, mag zunächst erstaunen, erweckt dies doch den Anschein, als würde dadurch das schlechthinnige Werden aufgehoben. Allerdings bezieht sich die akzidentelle Veränderung ausschließlich auf das, was Ausgangspunkt des schlechthinnigen Werdens ist, nicht jedoch auf das schlechthin Werdende selbst. Das schlechthinnige Werden findet daher immer auf zwei Ebenen statt, denn der Ausgangspunkt des schlechthinnigen Werdens verändert sich im Zuge ebendieses Werdens in akzidenteller Hinsicht und ist somit nichts paßt, während die Wendung τὰ τρεπόμενα κατὰ τὴν ὕλην sonst meines Wissens nirgendwo vorkommt. Mit diesem Ausdruck wird nämlich nicht nur allgemein eine plötzliche qualitative Veränderung eines Stoffes benannt, sondern auch ganz speziell das Umkippen von Wein zu Essig. Es dürfte wohl so sein, daß die spezielle Bedeutung die ursprünglichere ist, und der Ausdruck erst später durch Verallgemeinerung auf andere Umwandlungsprozeß übertragen wurde, vor allem im Kontext der Medizin. Als letztes Argument sei noch darauf verwiesen, daß τὰ τρεπόμενα ganz seinen Beispielcharakter verlieren würde, wenn es durch die Hinzufügung von κατὰ τὴν ὕλην jedes Entstehen durch eine Qualitätsänderung der zugrunde liegenden Materie bezeichnen würde. Vgl. dazu auch Ross: Physics, a.a.O., S. 493.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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einfaches, sondern, wie alles andere Werdende, immer etwas zusammengesetztes: ὥστε δῆλον ἐκ τῶν εἰρημένων ὅτι τὸ γιγνόμενον ἅπαν ἀεὶ συνθετόν ἐστι, καὶ ἔστι μέν τι γιγνόμενον, ἔστι δέ τι ὃ τοῦτο γίγνεται, καὶ τοῦτο διττόν· ἢ γὰρ τὸ ὑποκείμενον ἢ τὸ ἀντικείμενον. λέγω δὲ ἀντικεῖσθαι μὲν τὸ ἄμουσον, ὑποκεῖσθαι δὲ τὸν ἄνθρωπον, καὶ τὴν μὲν ἀσχημοσύνην καὶ τὴν ἀμορφίαν καὶ τὴν ἀταξίαν τὸ ἀντικείμενον, τὸν δὲ χαλκὸν ἢ τὸν λίθον ἢ τὸν χρυσὸν τὸ ὑποκείμενον.357 Somit ist aus dem Gesagten heraus offenkundig, daß sämtliches Werdende stets zusammengesetzt ist, und es einerseits etwas Werdendes gibt, andererseits etwas, was dies Werdende wird, und daß ersteres ein Zweifaches ist: entweder nämlich das Zugrundeliegende oder das Gegenüberliegende. Ich sage aber, daß das Unkultivierte einerseits gegenüber liegt, der Mensch andererseits zugrunde liegt, und einerseits die Ungestaltheit, die Unförmigkeit und die Unordnung das Gegenüberliegende ist, andererseits die Bronze, der Stein oder das Gold das Zugrundeliegende.
Wir stoßen also hier auf den merkwürdigen Umstand, daß das einfache Werden zugleich ein akzidentelles und ein essentielles Werden ist. Insofern es ein akzidentelles ist, bedarf es aber wie alles andere akzidentelle Werden auch eines Zugrundeliegenden, so daß es offenbar keine Ausnahme von dem Satz gibt, daß alles Werdende zusammengesetzt ist, das schlechthin Werdende ausdrücklich eingeschlossen; zu dem schlechthin Werdenden aber gehört wiederum insbesondere auch alles, was natürlicherweise (φύσει) entsteht.358 Beim schlechthinnigen oder einfachen Werden jedoch wird im Gegensatz zu dem bloß relativen Werden in gewisser Weise zweierlei: zum einen nämlich das Zugrundeliegende, also z. B. Bronze, Stein oder Gold, zum anderen aber auch das Entstehende, nämlich z. B. Statue, Herme oder Ring. Denn das ungestalte, unförmige, unordentliche Zugrundeliegende wird wohlgestaltet, wohlgeformt, wohlgeordnet, und zugleich und in eins damit wird das Entstehende, jedoch nicht irgendetwas, sondern eben schlechthin. Jedes auf einfache Weise Werdende wird daher auch in zweifacher Hinsicht. Wie sind diese beiden Hinsichten nun aber vermittelt? Sehen wir uns zur Beantwortung dieser Frage genauer an, woraus denn das akzidentelle Werdende, das dem schlechthinnigen Werden zugrunde liegt, zusammengesetzt ist. Der Ausgangspunkt des Werdens einer Statue z. B. ist ein Bronzeklumpen, d. h. noch unförmige Bronze. Phys. A 7, 190b 10–17. Daß auch das natürliche Seiende (τὰ φύσει ὄντα) hier keine Ausnahme macht, wird betont an der Stelle Phys. A 7, 190b 17–20. 357
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
Das Zugrundeliegende ist also aus der Unförmigkeit, bei der es sich um eine Ungefügtheit und damit um eine Privation handelt, und der Bronze zusammengesetzt. Dennoch ist des Zugrundeliegende der Anzahl nach nur eines. Hinzukommt schließlich noch das Ziel des Werdens, das der Privation entgegengesetzt ist. ἔστι δὲ τὸ μὲν ὑποκείμενον ἀριθμῷ μὲν ἕν, εἴδει δὲ δύο …· ἓν δὲ τὸ εἶδος, οἷον ἡ τάξις ἢ ἡ μουσικὴ ἢ τῶν ἂλλων τι τῶν οὕτω κατηγορουμένων.359 Es ist aber zum einen das Zugrundeliegende der Anzahl nach zwar eines, der Form nach jedoch zwei … Die Form zum anderen ist eines, z. B. die Ordnung oder die Kultiviertheit oder etwas von dem anderen, was auf diese Weise ausgesagt wird.
All dies läßt sich nach dem Muster des relativen Werdens darstellen, weil auch das einfache Werden in einer gewissen Hinsicht ein relatives Werden ist. Ordnung und Unordnung sind in einer gewissen Hinsicht eben nichts anderes als Akzidenzien des Materials, aus dem irgendetwas schlechthin wird. Dies wird in dem oben ausgelassenen Einschub deutlich, der ansonsten nicht recht klar ist, und bei dem es sich wohl um eine spätere Hinzufügung handelt: 360 … (ὁ μὲν γὰρ ἄνθρωπος καὶ ὁ χρυσὸς καὶ ὅλως ἡ ὕλη ἀριθμητή· τόδε γάρ τι μᾶλλον, καὶ οὐ κατὰ συμβεβηκὸς ἐξ αὐτοῦ γίγνεται τὸ γιγνόμενον· ἡ δὲ στέρησις καὶ ἡ ἐναντίωσις συμβεβηκός)·361
Phys. A 7, 190b 23–29. Darauf deutet m.E. die Zusammenfassung von Mensch und Gold unter dem Oberbegriff ὕλη hin, der hier offenbar nicht nur das Material bezeichnet, auch nicht in erweiterter Bedeutung, sondern ein spezifischer terminus technicus ist, der das dem Material in jeder Kategorie jeweils Analoge unter sich befaßt. Eine solche Verwendung des Begriffs ist aber im ersten Buch der Physik nicht gebräuchlich. Mit Ausnahme des neunten Kapitels wird ὕλη hier noch ganz im Sinne der Alltagssprache gebraucht, nämlich in der Bedeutung Material; und selbst im neunten Kapitel, das bereits einen Fachterminus ὕλη kennt (vgl. Phys. A 9, 192a 3), beschränkt sich dessen Bedeutung ganz offensichtlich noch auf den Bereich der ersten Kategorie. Eine Erweiterung der Anwendung im Hinblick auf alle Kategorien, in denen es Wandel gibt, findet erst in den vermutlich sehr späten Schriften statt, z. B. in De generatione et corruptione (vgl. Gen. corr. A 4, 320a 2–5). Im übrigen ist der Einschub auch in grammatikalischer Hinsicht nicht ganz unbedenklich. So wird z. B. nicht recht klar, worauf sich das ἐξ αὐτοῦ bezieht, oder wie genau γίγνεται τὸ γιγνόμενον zu verstehen ist: ist damit gemeint, daß etwas zu einem Werdenden wird, also zu dem, was einem Werden zugrunde liegt, oder daß ein Werdendes selbst wird? 361 Phys. A 7, 190b 24–27. 359
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Denn der Mensch einerseits und das Gold und überhaupt alle Materie ist zählbar. Es ist nämlich mehr als das andere ein bestimmtes Das-und-das, und nicht im Hinblick auf das, was sich so ergeben hat, wird aus selbigem das Werdende. Die Privation andererseits und die Entgegensetzung sind etwas, was sich so ergeben hat.
Aristoteles kommt nun aufgrund des Umstands, daß das Zugrundeliegende einerseits eines, andererseits zwei, und die Form wiederum eines ist, zu der Schlußfolgerung, daß die Prinzipien des Werdens, und zwar des einfachen Werdens, denn nur dieses interessiert ihn hier, einerseits zwei, andererseits drei seien. Damit hat er im Grunde die Frage des siebten Kapitels beantwortet. Die Frage, die wir uns aber stellten, war, wie die beiden Ebenen des Werdens vermittelt sind. Darauf geht Aristoteles weder hier noch an einer anderen Stelle seines Werkes wirklich ausführlich ein. Weiter hilft uns aber eine Stelle aus De generatione et corruptione, wo er auf das Problem eingeht, wie ein Werden, dem etwas zugrunde liegt, dennoch ein einfaches und schlechthinniges Werden sein kann. Er erklärt dies zum einen damit, daß der Ausgangspunkt des Werdens beim schlechthinnigen Werden jeweils ein Nicht-Seiendes ist: Ἡ μὲν οὖν εἰς τὸ μὴ ὂν ἁπλῶς ὁδὸς φθορὰ ἁπλῆ, ἡ δ᾽ εἰς τὸ ἁπλῶς ὂν γένεσις ἁπλῆ. Οἷς οὖν διώρισται, εἴτε πυρὶ καὶ γῇ εἴτε ἄλλοις τισί, τούτων ἔσται τὸ μὲν ὂν τὸ δὲ μὴ ὄν.362 Der Übergang nun in das schlechthin Nicht-Seiende ist schlechthinniges Vergehen, der aber in das schlechthin Seiende schlechthinniges Werden. Wofür wir also dies so bestimmen, sei es für Feuer und Erde, sei es durch irgendetwas Anderes, davon wird das eine ein Seiendes, das andere ein Nicht-Seiendes sein.
Feuer und Erde ist dabei, wie aus dem Kontext hervorgeht, einerseits eine Anspielung auf Parmenides, dessen Gegenüberstellung von Licht und Nacht als Grundprinzipien 363 Aristoteles offenbar mit dem Gegensatz von Feuer und Erde identifiziert, welchen er wiederum mit der Unterscheidung des Seienden und des Nicht-Seienden gleichsetzt.364 Durch diese Gleichsetzung von Licht und Nacht mit Feuer und Erde interpretiert er Parmenides auf seine Vier-Elemente-Lehre hin, so daß durch dieses Beispiel zugleich ein Bezug zu seiner eigenen Ansicht hergestellt wird, wie wir gleich noch sehen werden. Vgl. Gen. corr. A 3, 318b 11 f. Vgl. DK 28 B 8 und DK 28 B 9. 364 Vgl. Gen. corr. A 3, 318b 6 f. 362
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
Wenn also das Werden von Feuer aus Erde ein schlechthinniges Werden ist, dann muß die Erde ein Nicht-Seiendes sein. Doch hier drängt sich unweigerlich die Frage auf, wie etwas, z. B. Erde, ein Nicht-Seiendes sein kann? Aristoteles nennt noch eine weitere Möglichkeit, das schlechthinnige vom relativen Werden zu unterscheiden; dabei handelt es sich aber eigentlich um eine Ergänzung der ersten Erklärung, die genau die gesuchte Lösung der Frage liefert: Ἄλλον δὲ τῇ ὕλῃ ὁποία τις ἂν ᾖ· ἧς μὲν γὰρ μᾶλλον αἱ διαφοραὶ τόδε τι σημαίνουσι, μᾶλλον οὐσία, ἧς δὲ στέρησιν, μὴ ὄν, οἷον τὸ μὲν θερμὸν κατηγορία τις καὶ εἶδος, ἡ δὲ ψυχρότης στέρησις, διαφέρουσι δὲ γῆ καὶ πῦρ ταύταις ταῖς διαφοραῖς.365 Auf eine andere Weise aber dadurch, welcher Art die Materie366 ist. Denn die, von welcher die Unterschiede mehr ein bestimmtes Das-und-das bezeichnen, ist mehr Seiendheit, die aber, von welcher eine Privation , Nicht-Seiendes; z. B. ist das Warme zum einen ein bestimmtes Prädikat und eine Form 367, die Kälte zum anderen ist eine Beraubung, Erde und Feuer aber unterscheiden sich durch ebendiese Unterschiede.
Die Entstehung von Feuer aus Erde ist also deshalb ein einfaches Werden, weil die Erde verglichen mit dem Feuer dem schlechthin Nicht-Seienden näher ist, das Feuer aber verglichen mit der Erde dem schlechthin Seienden, also der Seiendheit. Dies kann man sich auf folgende Weise plausibel machen: Die Erde wird konstituiert durch Trockenheit und Kälte. Die Trockenheit bezeichnet dabei die Form und damit ein Sein, denn Trockenheit bedeutet, daß etwas eigene Grenzen hat und auch aufrechterhalten kann. Das Gegenteil, nämlich die Nässe bzw. das Flüssig-Sein, bezeichnet dagegen eine Privation, denn dem, was flüssig ist, mangeln eigene Grenzen. Die Kälte dagegen bezeichnet eine Privation, denn das Kalte verbindet sich mit anderem, während das Warme bzw. Heiße sich von anderem reinigt und so einheitlich wird; dem Kalten mangelt also die Einheitlichkeit. Wärme und Trockenheit stehen also offenbar für zwei Arten der Einheit, nämlich äußere und innere Einheit. Gen. corr. A 3, 318b 14–18. Aristoteles versucht in De generatione et corruptione die Frage nach dem Wesen des Werdens anhand einer Untersuchung der Materie im Sinne des ersten Materials zu klären. Darauf verweist hier m.E. der Ausdruck ὕλη, und nicht auf etwas dem Werden Zugrundeliegendes. 367 τὸ θερμόν bezeichnet sowohl das Warme als auch die Wärme und meint daher zum einen das Prädikat „warm“, zum anderen aber auch die Form „Wärme“; letzteres ist hier natürlich entscheidend. 365
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4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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Das Feuer, das warm und trocken ist, kommt daher unter allen Elementen einer Seiendheit am nächsten, denn Seiendheiten zeichnen sich durch ihre Einheit aus: als Unteilbares sind sie maximale Einheit. Der Erde mangelt dagegen Einheit und somit auch Sein. Die Erde verhält sich daher gegenüber dem Feuer wie Nicht-Seiendes zu Seiendem, d. h. wenn aus Erde Feuer wird, dann bedeutet dies eine Zunahme an Sein, und genau dies zeichnet das schlechthinnige Werden aus. Dasjenige, dem die größtmögliche Einheit zukommt, bezeichnet Aristoteles auch mit dem Terminus τόδε τι, denn damit ist das Seiende in der ersten Kategorie gemeint, das nicht mehr vieles ist, wie das Allgemeine, sondern eines, und das somit hinsichtlich seiner selbst unteilbar ist. Das schlechthinnige Werden ist also durch eine Zunahme an Sein charakterisiert, wobei etwas desto mehr ist, desto mehr es eine Einheit darstellt. Das Maximum der Einheit stellt aber ein Unteilbares, ein τόδε τι dar. Unteilbar im eigentlichen Sinne wiederum sind nur die Seiendheiten. Schlechthinniges Werden ist also jedes Werden, bei dem der Endpunkt des Werdens in einem höheren Sinne eines und damit seiend ist als der Ausgangspunkt. Ist das Verhältnis dagegen umgekehrt, so handelt es sich um ein schlechthinniges Vergehen. Wodurch aber sind die Seiendheiten unteilbar? Sie sind es durch ihre Form. Wenn man z. B. ein Lebewesen in der Mitte zerteilt, so kommt den Teilen nie die Form eines Lebewesens, d. h. das Lebewesen-Sein, zu. Denn Lebewesen haben nach außen hin feste Grenzen, die ihre äußere Form ausmachen, und sind nach innen hin, obwohl sie aus Teilen bestehen, doch einheitlich; sie stellen nämlich einen Organismus dar, und dieser ist hinsichtlich seiner selbst durchaus einheitlich, da alle seine Teile einheitlich auf einen Zweck bezogen sind, welcher die innere Form des Lebewesens darstellt. Die auf einen Körper bezogene Form ist aber, wie wir gesehen haben, die Wohlgefügtheit des Körpers. Z. B. ist eine auf eine bestimmte Weise wohlgefügte Bronze eine Statue. Und das Sein der Statue besteht in der so und so gearteten Wohlgefügtheit der Bronze. Die Form hat nämlich, wie bereits erwähnt, gleichsam zwei Seiten: sie ist zum einen ein Akzidenz zum anderen aber auch eine essentielle Form. Diese Form hat, wenn es sich denn um ein schlechthinniges Werden handelt, einen höheren Grad der Einheit und damit des Seins als die essentielle Form desjenigen Zugrundeliegenden, dessen Akzidenz sie ist. Hier stellt sich freilich die Frage, wie etwas durch eine essentielle Form akzidentell bestimmt sein kann. Dies ist ja nicht bei allem möglich, z. B. kann ein Mensch nicht durch das Pferd-Sein akzidentell bestimmt wer-
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den. Es muß also etwas geben, was in dieser Hinsicht bestimmbar ist. Um das aber genauer zu verstehen, müssen wir uns nun an die weiter oben getroffene Unterscheidung zwischen zwei Arten der Privation und des Vermögens erinnern. Wie wir gesehen haben, sind nämlich Privation und Vermögen korrelative Begriffe, so daß es, da es sowohl ein passives wie ein aktives Vermögen gibt, auch gleichsam eine passive und eine aktive Privation geben muß. Das passive Vermögen besteht darin, eine Einwirkung erfahren zu können, und die passive Privation darin, diese Einwirkung nicht zu erfahren. So ist z. B. etwas Dunkles ein dem Vermögen nach helles, da es fähig ist, durch etwas Helles selbst hell zu werden; da es aber die Einwirkung eines Hellen gerade nicht erfährt, mangelt ihm die Helligkeit und das bedeutet, daß es eben dunkel ist. Die Einwirkung, die etwas passiv Vermögendes erfährt, ist also das Hinzutreten der Form, die dem jeweiligen Vermögen entspricht. Das aktive Vermögen dagegen ist die Form selbst, solange und insofern sie noch verborgen ist. So hat die Sonne z. B. als etwas Helles, d. h. als etwas, das durch die Form der Helligkeit bestimmt ist, das aktive Vermögen, all das zu erhellen, was zwar dem Vermögen nach hell, aktuell aber dunkel ist. Denn die Form des Hellen, d. h. die Helligkeit, ist zwar in der Sonne offenbar, die Sonne überträgt diese Form jedoch auch auf anderes Seiendes, das dem Vermögen nach hell, der Wirklichkeit nach jedoch dunkel ist; im Hinblick auf dieses Seiende ist die Form also gerade nicht offenbar, sondern noch verborgen. Von einem aktiven Vermögen kann man daher bei der Sonne nicht in Bezug auf sie selbst sprechen, sondern nur in Bezug auf anderes, nämlich solches, das zunächst noch Dunkel ist. Anders ist dies nach Aristoteles bei der Zeugung eines Tieres. Der Samen des männlichen Tieres enthält die Form dem Vermögen nach, das Menstruationsblut (καταμήνια) des weiblichen Tieres enthält die Teile des Körpers dem Vermögen nach.368 Der Körper aber ist das, was im Zuge der Entstehung eines Tieres gestaltet wird und insofern eine Einwirkung erfährt, die Form dagegen das, was gestaltend wirkt. Das im Samen enthaltene Vermögen ist also ein aktives, das im Menstruationsblut ein passives Vermögen. Dies ist auch der Grund dafür, daß sich weder der Samen noch das Blut z. B. zu einem Menschen entwickelt, obwohl wir doch das Vermögen als ein Streben bestimmt haben369, denn Vgl. Gen. an. B 3, 737a 16–18 und 23 f. Aristoteles spricht in Bezug auf den männlichen Samen auch von einem Prinzip der Bewegung, das dieser in der Vereinigung mit dem Menstruationsblut auf letzteres überträgt. Es handelt sich hier um den Grund einer zielgerichteten Verände368 369
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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weder das aktive noch das passive Vermögen alleine können ein Werden hervorbringen. Erst wenn sich aktives und passives Vermögen vereinigt haben, wird das, das dem Vermögen nach jeweils vorliegt. Den beiden Vermögen entspricht nun aber auch jeweils eine Privation, denn die Form des Tieres, um welches es sich auch immer handeln mag, bestimmt aktuell weder die Gestalt des Samens noch des Bluts, diese ermangeln also der Form. Nun ist jedoch der dem aktiven Vermögen korrespondierende Mangel ein ganz bestimmter, denn er ist die Verborgenheit einer bestimmten Form. Der dem passiven Vermögen korrespondierende Mangel dagegen ist nicht im selben Maße bestimmt, da ja die ersten Materialien eines belebten Körpers hinsichtlich ihrer äußeren Grenzen nicht bestimmt und auch beliebig teilbar sind370 ; die Knochenmasse oder die Muskelmasse nämlich können ganz unterschiedlich geformt sein, z. B. hat ein Oberarmknochen eine ganz andere Form als ein Gehörknöchelchen, und beide kann man auch zerteilen, ohne daß sie deshalb aufhörten, Knochen- oder Muskelmasse zu sein.371 Man kann daher auch nicht sagen, daß den ersten Materialien eines Körpers eine bestimmte Form mangelte. Vielmehr mangelt ihnen eine Form überhaupt, durch welche sie zu einzelnen Seienden werden, wie wir schon an anderer Stelle erörtert haben.372 Dem passiven Vermögen, soweit es der Kategorie der Seiendheit zugehört, korrespondiert daher eine Privation, die man als unbestimmt bezeichnen könnte und die daher auch nie durch eine bestimmte Form aufgehoben werden kann. Zwar sind auch die ersten Materialien in gewisser Weise formal bestimmt, z. B. als Fleisch oder Knochen, diese Bestimmungen sind jedoch der essentiellen Form nur analog, da sie nicht wie diese ein je Einzelnes bestimmen. Die ersten Materialien werden daher durch jede Form, die aus ihnen etwas je Einzelnes macht, rung, die aus dem noch formlosen Resultat der Vereinigung ein vollendetes Lebewesen, z. B. einen Menschen, gestaltet; es ist also damit ein Streben gemeint, da nur ein Streben der Grund einer solchen zielgerichteten Veränderung sein kann (vgl. z. B. Gen. an. A 20, 729a 9–11). 370 Die Organe als Teile des Körpers können in dieser Betrachtung außen vor bleiben, denn sie bilden sich erst unter dem Einfluß der Form des Lebewesens, und bestehen auch nur solange, wie diese Form den Körper bestimmt. Denn die Organe sind durch ihre Leistung für den Gesamtorganismus und damit nur in Relation zur Form das, was sie jeweils sind. Daher ist auch eine abgetrennte Hand eigentlich gar keine Hand mehr, sondern wird nur homonym so genannt. 371 Freilich würden wir heute nicht mehr sagen, daß man sie in beliebig kleine Teile zerteilen kann. Das spielt aber in diesem Kontext keine Rolle, weil es hier nur darauf ankommt, daß sie keine ihnen eigentümliche äußere Form haben. 372 Siehe S. 140 ff.
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nur akzidentell bestimmt. So ist z. B. die Form eines Marmorblocks für den Marmor selbst nur zufällig und ohne Einfluß auf das Marmor-Sein des Marmors. Aus Sicht des Marmors sind auch alle solche Formen gleichwertig, d. h. ob die Form, die aus dem Marmor ein einzelnes Seiendes macht, nun eine mehr oder weniger geometrische Gestalt ist oder die Gestalt eines Apollon, spielt für den Marmor keine Rolle, er bleibt in beiden Fällen, was er ist: ein dem Vermögen nach Seiendes, dem die vereinzelnde Form mangelt. Darin ist auch der Grund zu sehen, warum alles, was schlechthin wird, auch wieder schlechthin zugrunde gehen kann, ob es sich nun um eine Marmorstatue oder einen Menschen handelt; denn das passive Vermögen des ersten Materials, aus dem all dies hervorgegangen ist, bleibt bestehen und nimmt bereitwillig auch wieder andere Formen an. Aus dieser dem passiven Vermögen korrespondierenden Privation alleine geht jedoch kein schlechthinniges Werden hervor, da dieses immer von einer bestimmten Ungefügtheit ausgeht.373 Damit etwas wird, bedarf es nämlich immer auch des aktiven Vermögens. Dieses muß irgendwie in oder bei dem Werdenden anwesend sein. Das aktive Vermögen ist aber die Form als ein in dem Werdenden verborgenes Sein. Bei einem Artefakt, z. B. einer Marmorstatue, wird die Form von dem Bildhauer gewissermaßen gedanklich in die Statue gelegt, bevor er sie herauspräpariert. Bei dem natürlichen Werdenden ist die Form tatsächlich in dem Seienden, das Ausgangspunkt des Werdens ist, wenn auch verborgener Weise. Diese Verborgenheit ist die dem aktiven Vermögen korrespondierende Privation, die spezifische Ungefügtheit. Denn die Ungefügtheit setzt immer eine Wohlgefügtheit voraus, nach deren Maßgabe etwas erst als Ungefügtheit bezeichnet werden kann. Denn an sich ist ein Marmorblock ja nicht ungefügt oder unförmig, sondern nur als möglicher Apollon betrachtet ist er dies. Die Wohlgefügtheit aber ist das Erscheinen der Form an einem Material in Gestalt einer Ausdifferenzierung und Ausrichtung des Materials als eines eine bestimmte Funktion vollziehenden Ganzen auf die Form. Alles schlechthinnige Werden ist also zugleich ein relatives Werden, oder genauer gesagt ein relatives Vergehen, denn die äußere, zufällige Form, die dem Marmor akzidentell zukommt, vergeht und der Marmorblock wird zerstört, wenn aus ihm ein Apollon wird.374 Vgl. Phys. A 5, 188b 14 f. Vgl. zu dem ineinander von absolutem Werden und relativem Vergehen auch Gen. corr. A 3, 318b 2–6. 373 374
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Wie greifen nun schlechthinniges Werden und relatives Werden genau ineinander? Das erste Material ist nur ein Seiendes dem Vermögen nach, da ihm hinsichtlich seiner selbst, wie gesagt, die individualisierende Form fehlt. Ein körperliches Seiendes wird dadurch individualisiert, daß es eine räumliche Einheit bildet, die nicht in Seiendes der gleichen Art zerteilt werden kann. Da ihm diese Einheit nun aber gerade fehlt, kann und muß das Material beliebige räumliche Gestaltungen annehmen, um überhaupt zu sein; diese kommen ihm allerdings immer nur akzidentell zu, da sie eben nicht der dem Material eigenen essentiellen Form entspringen. Die akzidentellen räumliche Formen, bei der es sich nur um Formen im weitesten Sinne handelt, können zum einen bloße räumliche Grenzen sein, wie z. B. bei einem Marmorblock, oder aber mit einer solchen räumlichen Eingrenzung verbundene essentielle Formen. Die essentiellen Formen sind aber ein Sein, durch das ein Seiendes im eigentlichsten Sinne, also eine Seiendheit, konstituiert wird. Die essentielle Form darf aber das Seiende nicht vollständig bestimmen, denn ansonsten wäre die Form unmittelbar mit dem Seienden identisch und zwischen Sein und Seiendem gäbe es keine Differenz; ein solches Seiendes, das vollkommen in dem, was es rein hinsichtlich seiner selbst ist, aufgeht, müßte nicht erst werden, sondern wäre ewig und unveränderlich. Also muß die Form, die ein dem Werden und Vergehen unterworfenes Seiendes konstituiert, in gewisser Weise defizitär sein, indem sie das Seiende, das sie konstituiert, nicht vollständig bestimmt. Und zwar muß die Form genau in der Hinsicht unbestimmt sein, in der das Material, aus dem das zu bildende Seiende besteht, bestimmt ist. Bei dem schlechthinnigen Werden greifen also zwei Arten der Unbestimmtheit ineinander und ergänzen sich. Man könnte auch sagen, daß die Form das Material gleichsam in Dienst nimmt, um durch es ein Seiendes zu konstituieren. Wie kann man sich das konkret vorstellen? Die Form der Apollonstatue z. B., also das Apollonstatue-Sein, besteht darin, das Antlitz und die Gestalt des Gottes Apollon aufzuweisen. Hinsichtlich dessen jedoch, was diese Gestalt aufweist, bleibt die Form weitgehend unbestimmt, nur daß es sich in eine gewisse Gestalt bringen läßt und diese auch behalten muß, steht fest. Welche Farbe, welche Festigkeit genau, welchen Klang beim Daraufklopfen, welche Größe usw. es aufweist, bleibt dagegen ganz und gar unbestimmt und muß durch etwas anderes bestimmt werden, nämlich durch das Material. Daher kann man eine solche Statue auch aus unterschiedlichen Materialien herstellen, etwa aus Marmor oder aus Bronze, ja in begrenztem Maße sogar aus nassem Sand, nicht jedoch z. B.
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aus Wasser, da dieses flüssig ist und ihm somit keine Gestalt gegeben werden kann. Ein anderes Beispiel: ein Zimmermannshammer ist dadurch bestimmt, d. h. seine Form besteht hauptsächlich darin, daß man mit ihm Nägel in Holz einschlagen und wieder lösen kann, alles andere außer dieser Funktion bleibt weitgehend unbestimmt, wie es für die Form der meisten Gebrauchsgegenstände charakteristisch ist; das je einzelne Seiende selbst jedoch muß auch noch durch andere Merkmale bestimmt sein, z. B. durch eine bestimmte Farbe, durch eine ganz bestimmte Festigkeit usw. Diese Bestimmungen liefert das Material. Ein Hammer muß aber auch an einem ganz bestimmten Ort sein und eine ganz bestimmte Gestalt haben, wenn er denn als körperliches Seiendes überhaupt sein soll. Diese Bestimmungen werden nicht durch das Material, insofern es rein hinsichtlich seiner selbst betrachtet wird, und schon gar nicht durch die Form dem Seienden vermittelt, denn weder ist das Material, z. B. der Stahl, an einem bestimmten Ort noch hat es eine bestimmte Gestalt, und dasselbe gilt für die Form, nämlich das Zimmermannshammer-Sein. Denn Stahl ist sowohl das Stahlstück hier wie das Stahlstück dort, und ebenso kommt das Zimmermannshammer-Sein sowohl diesem wie jenem Hammer zu. Das Material ist jedoch nicht nur einfach in diesen Hinsichten unbestimmt, sondern auch aufnahmefähig für diese Bestimmungen bzw. Formen im weiteren Sinne. Denn das erste Material ist ein Körper dem passiven Vermögen nach, d. h. es kann nicht aus sich selbst heraus ein körperliches Seiendes konstituieren, obwohl es ein solches gewissermaßen „sein will“, d. h. danach strebt als eine δύναμις. Die örtliche und gestaltmäßige Bestimmtheit gehören aber notwendig zu einem körperlichen Seienden, daher ist das Material für diese Formen im weiteren Sinne als ein das passive Vermögen ergänzendes aktives Vermögen aufnahmefähig. Wir müssen hier also zwei Arten von Unbestimmtheit unterscheiden. Die Form ist unbestimmt, ohne daß dieser Unbestimmtheit ein Vermögen korrespondiert. Die Form enthält nämlich gar kein Vermögen, sie ist schließlich Vollendung (τέλος) und reiner Vollzug des Sich-in-der-Vollendung-Haltens (ἐντελέχεια). Beim Material dagegen korrespondiert der Unbestimmtheit ein Vermögen, d. h. ein Streben; die Unbestimmtheit hat hier daher einen privativen Sinn, im Gegensatz zur Unbestimmtheit der Form. Es handelt sich hier jedoch, wie bereits gesagt, um eine unbestimmte Privation, denn das korrespondierende Vermögen ist passiv. Das Vermögen, das das erste Material darstellt, ist jedoch nicht rein passiv, denn jedes erste Material hat eine eigentümliche Bestimmtheit, es ist
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ja gewissermaßen formal bestimmt. Die Grundformen, durch die es bestimmt ist, sind dabei die Trockenheit mit der Nässe als entgegengesetzter Privation und die Wärme mit der Kälte als Gegensatz. Aus diesen lassen sich nach Aristoteles alle anderen primären Charakteristika der ersten Materialien ableiten.375 Diese Formen können auch die Gestalt eines aktiven Vermögens annehmen, z. B. wenn auf der Erde brennendes Feuer nach oben strebt, weil dort sein natürlicher Ort ist.376 Die ersten Materialien sind daher nicht bloß etwas, was Gegensätzen zugrunde liegt, sondern selbst, wie Aristoteles sich ausdrückt, mit Entgegengesetztheiten verflochten.377 Wenn Aristoteles daher wirklich die ersten Prinzipien finden will, muß er noch eine Schicht tiefer graben. Er tut dies im vorletzten Abschnitt des siebten Kapitels des ersten Buchs der Physik.378 Sehen wir uns zunächst den ersten Satz dieses Abschnitts an: πόσαι μὲν οὖν αἱ ἀρχαὶ τῶν περὶ γένεσιν φυσικῶν, καὶ πῶς ποσαί, εἴρηται· καὶ δῆλόν ἐστιν ὅτι δεῖ ὑποκεῖσθαί τι τοῖς ἐναντίοις καὶ τἀναντία δύο εἶναι.379 Wieviele Prinzipien der zum Bereich des Werdens gehörigen Naturphänomene es also gibt, und auf welche Weise es so und so viele sind, ist besprochen worden, und es ist klar ersichtlich, daß etwas dem Entgegengesetzten zugrunde liegen und des Entgegengesetzten zwei sein müssen.
Es scheint zunächst so, als wollte Aristoteles hier das zuvor zur Frage der Anzahl der Prinzipien Gesagte nur noch einmal zusammenfassen. Das wäre aber ganz überflüssig, weil bereits im vorhergehenden Abschnitt380 diese Frage schon abschließend beantwortet wurde: es gibt, je nachdem wie man es betrachtet, zwei oder drei Prinzipien, nämlich zwei, wenn man den Ausgangspunkt und den Endpunkt des Werdens jeweils als eines zählt, drei dagegen, wenn man beim Ausgangspunkt das Zugrundeliegende und die Privation unterscheidet. Wenn nun dies noch einmal aufgegriffen wird, dann kann das deshalb nicht den Sinn einer bloßen, neuerlichen Zusammenfassung haben, so als würde Aristoteles annehmen, daß seine Zuhörer besonders schwer von Begriff seien. Das Entscheidende dieses Satzes ist vielmehr in der Wendung αἱ ἀρχαὶ τῶν Vgl. Gen. corr. B 2, 330a 24–26. Zum natürlichen Ort vgl. z. B. Cael. A 7, 276a 8–17. 377 Vgl. Phys. A 6, 189b 4 f. 378 Phys. A 7, 191a 3–12. 379 Phys. A 7, 191a 3–5. 380 Vgl. Phys. A 7, 190b 29 – 191a 3. 375 376
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περὶ γένεσιν φυσικῶν (die Prinzipien der zum Bereich des Werdens gehörigen Naturphänomene) zu sehen. Aristoteles verweist damit zurück auf die αἰτία καὶ ἀρχαὶ τῶν φύσει ὄντων, auf die er sich an der Stelle 190b 17f schon bezogen hatte, und macht deutlich, daß hier ein Abschnitt abgeschlossen wird, und zwar ein Abschnitt, der sich mit dem natürlichen Seienden befaßte. Er betont dies wohl deshalb, weil es in dem zuvor Gesagten nicht mehr explizit zur Sprache gekommen war. Zugleich grenzt er das Resultat aber auch auf einen Teilbereich des natürlichen Seienden ein; die Körper nämlich, die nicht dem Werden und Vergehen unterworfen sind, werden ausgeschlossen, also vor allem die Planeten und Sterne, wenn denn das περὶ γένεσιν nicht ein späterer Zusatz ist, wie Ross erwägt.381 Doch zentral ist der Rückverweis auf 190b 17 f. Aristoteles betont also noch einmal, daß all das, was er zuvor ausgeführt hat, auch für das natürliche Seiende gilt, obwohl er fast immer Beispiele aus dem Bereich der akzidentellen Veränderung oder zwar aus dem Bereich des schlechthinnigen Werdens, jedoch dann nur aus dem Teilbereich des schlechthinnigen Werdens von Artefakten, wie einer Bronzestatue oder ähnlichem, wählte. Die natürlichen Seienden nämlich sind allem anderen Seienden analog, daher muß auch ihr Werden dem Werden alles anderen Seienden analog sein. Also müssen auch bei dem natürlichen Seienden, das den Grund seines Werdens in sich selbst hat, alle zwei bzw. drei Prinzipien aufweisbar sein. Daß dem so ist, läßt sich anhand der Analogie zum Werden von Artefakten auch leicht einsehen: immer gibt es nämlich einen Zielpunkt, z. B. eine bestimmte Statue oder ein bestimmtes Lebewesen, und einen Ausgangspunkt des Werdens, z. B. bei der Statue Bronze, bei den Lebewesen Samen; und dieser Ausgangspunkt weist immer zwei Aspekte auf, er ist nämlich einmal ein Zugrundeliegendes, das erhalten bleibt, und einmal das dem Zielpunkt Entgegengesetzte. Ein menschlicher Samen nämlich, wenn man darunter die Vereinigung von männlichem und weiblichem Anteil versteht, ist dem Vermögen nach ein Mensch, d. h. es ist ein Mensch, der des Mensch-Seins in einer gewissen Weise ermangelt, nämlich soweit es das Erscheinen betrifft; damit ist der Samen aber bereits privativ bestimmt. Zugleich muß bei dem Werden eines Menschen aber auch etwas erhalten bleiben, was sich im Zuge des Werdens umgestaltet, da sonst das Werden kein kontinuierlicher Vorgang sein könnte und man nicht sagen könnte, daß der Mensch aus dem Samen wurde. Vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 494.
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Bei den natürlichen Seienden kann man jedoch auch die Sache noch von einer anderen Perspektive aus betrachten, die Aristoteles im unmittelbaren Anschluß an die oben zitierte Stelle kurz erwähnt: τρόπον δέ τινα ἄλλον οὐκ ἀναγκαῖον· ἱκανὸν γὰρ ἔσται τὸ ἕτερον τῶν ἐναντίων ποιεῖν τῇ ἀπουσίᾳ καὶ παρουσίᾳ τὴν μεταβολήν.382 In einer gewissen anderen Hinsicht jedoch ist das nicht notwendig. Es reicht nämlich aus, daß eines von den Entgegengesetzten durch Abwesenheit und Anwesenheit die Umwandlung hervorbringt.
Auch diese Stelle, scheint mir, ist wieder leicht mißzuverstehen. Es ist hier nämlich nicht gemeint, daß die Umwandlung dadurch zustande kommt, daß irgendetwas gestaltet wird, wobei die Gestalt zuerst nicht da ist, also abwesend ist, und nach vollzogener Umwandlung dann da ist. Diese Interpretation scheitert schon an dem Verb ποιεῖν, das ja ein Tun, Machen, Hervorbringen bedeutet. Ein Glied des Gegensatzes wird hier also als wirkend gedacht, und zwar wirkt es durch Abwesenheit (ἀπουσία) und Anwesenheit (παρουσία). Wie kann etwas durch Abwesenheit wirken? Das ist nur möglich, wenn die Abwesenheit in irgendeiner Form einen Mangel begründet. Mit Abwesenheit ist also hier die Privation gemeint, diese wird jedoch nun nicht als eigenes Prinzip verstanden, sondern als Fehlen der Form. Unter Abwesenheit wird also eine verborgene Anwesenheit verstanden. Da die Form, also das Sein des Seienden, nämlich ein ursprüngliches Erscheinen ist, muß ihre Verborgenheit ein Streben sein, das den Widerspruch der Form mit sich selbst aufhebt, also die Anwesenheit der Form zum Ziel hat, was dann der Fall ist, wenn die Form als Sein ein Seiendes konstituiert. Die Form wirkt dann also als aktives Vermögen, d. h. als dem Streben zugrundeliegende Kraft, die Umwandlung in der Materie, die von der Form gewissermaßen in Dienst genommen, ja usurpiert wird. Daher ist jedes natürliche Seiende und damit jede erste Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift immer aus zweierlei zusammengesetzt, wovon das eine das Seiende insgesamt bestimmt, nämlich die Form, das andere aber, die Materie, sich dieser Gewalt fügt, indem sie ein bloßer Teilaspekt des Seienden wird, was wiederum deshalb möglich ist, weil sie selbst hinsichtlich ihrer selbst kein Seiendes konstituieren kann. Wir bezeichneten dies als Binnendifferenzierung der ersten Seiendheit. Bei den Artefakten verhält sich dies nicht im selben Sinne so, da dort ja das, woher die Umwandlung ihren ersten Anfang Phys. A 7, 191a 5–7.
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hat, immer Anwesend sein muß, z. B. der Bildhauer bei der Entstehung einer Statue, und die Form nicht im Werdenden selbst gleichsam abwesen kann; daß die Form auch hier durch Abwesenheit und Anwesenheit wirkt, kann man nur der Analogie nach behaupten, nämlich so, daß der Bildhauer in gewisser Weise die Form zunächst in das Material, z. B. den Marmor, legt, und sie danach durch Entfernung des Überflüssigen sichtbar werden läßt. Wirkliche Probleme bereitet bei dem Analogieschluß von Artefakten auf natürliches Seiendes, den Aristoteles im siebten Kapitel durchführt, jedoch das, was erhalten bleibt, da dieses bei dem natürlichen Seienden zunächst nicht zu erkennen ist. Bei den Artefakten nämlich gibt es ein bestimmtes erstes Material, das erhalten bleibt, und das auch von jedermann eindeutig benennbar ist, z. B. eben die Bronze oder der Marmor bei einer Statue, oder das Holz bei einem Bett. Wenn man jedoch davon ausgeht, daß das, was z. B. beim Menschen dem Material der Artefakte korrespondiert, das Menstruationsblut ist, dann kann man nicht mehr so ohne weiteres sagen, was das denn ist, was hier erhalten bleibt, denn ein erwachsener Mensch besteht ja nicht aus Menstruationsblut. Auf diese Schwierigkeit geht Aristoteles nun im letzten Satz des von uns gerade betrachteten Abschnitts ein. Dieser Satz wird jedoch von Ross als verderbt angesehen, weshalb er im Anschluß an Diels einen kleinen Teil des Satzes als spätere Zutat ausschließt.383 Meines Erachtens ist jedoch mit dem Text selbst alles in bester Ordnung, das einzige Problem ist eine falsche Erwartungshaltung auf Seiten des Herausgebers. Was ich damit meine, wird hoffentlich gleich deutlich werden, nachdem wir uns zunächst den Satz angesehen haben, wobei ich freilich in der Übersetzung die Lösung des Problems in gewisser Weise bereits vorwegnehme. Der Satz lautet bei Ross: ἡ δὲ ὑποκειμένη φύσις ἐπιστητὴ κατ᾽ ἀναλογίαν. ὡς γὰρ πρὸς ἀνδριάντα χαλκὸς ἢ πρὸς κλίνην ξύλον ἢ πρὸς τῶν ἄλλων τι τῶν ἐχόντων μορφὴν [ἡ ὕλη καὶ] τὸ ἄμορφον ἔχει πρὶν λαβεῖν τὴν μορφήν, οὕτως αὕτη πρὸς οὐσίαν ἔχει καὶ τὸ τόδε τι καὶ τὸ ὄν.384
Ross schließt also ἡ ὕλη καὶ aus und begründet dies folgendermaßen: „… ἡ ὕλη καί is a gloss which spoils the proportion ἄμορφον : τεχνητόν = ὕλη : οὐσία.“385 Er setzt also voraus, daß mit ὑποκειμένη φύσις und ὕλη hier dasselbe gemeint ist. Das ist jedoch nicht notwendig, da ὕλη auch eine Vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 494. Phys. A 7, 191a 7–12. 385 Ross: Physics, a.a.O., S. 494. 383
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alltagssprachliche Bedeutung hat, nämlich schlicht Material. Wir haben ja bereits gesagt, daß Aristoteles im ersten Buch den Ausdruck ὕλη entweder vermeidet oder zur Zeit der Abfassung noch gar nicht als terminus technicus verwendete, zumindest konnten wir die beiden Stellen, die den Ausdruck bisher enthielten, als spätere Glossen aus dem ursprünglichen Text ausschließen. Dies scheint es mir sehr wahrscheinlich zu machen, daß auch der vorliegende Satz keinen Verweis auf die Materie im Sinne eines spezifisch ontologischen Terminus enthält, sondern daß damit schlicht gemäß der Alltagssprache Material gemeint ist. Wenn sich nun noch auf diese Weise ein vollkommen verständlicher Sinn ergeben sollte, dann dürfte wohl die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit werden. Ich übersetze also unter Ignorierung der eckigen Klammern: Die zugrundeliegende Physis aber kann man begreifen nach einer Analogie: wie sich nämlich zu Statue Bronze oder zu Bett Holz oder zu etwas Anderem von dem, was eine Gestalt hat, das Material und das Ungestalte, ehe es die Gestalt annimmt, verhält, so verhält sich diese zu Seiendheit und dem bestimmten Dasund-das und dem Seienden.
Die zugrundeliegende Physis ist das Prinzip des natürlichen schlechthinnigen Werdens, das erhalten bleibt. Dies kann man nach einer Analogie mit den Artefakten erkennen. Alle Artefakte nämlich werden aus irgendwelchem Material hergestellt. Das Material hat zunächst noch nicht die Gestalt, die es haben soll, es ist daher ungestalt. Wird es aber gestaltet, so bleibt es dennoch als das Material, das es ist, erhalten. Bei einem Artefakt erhält man daher auf die Frage „Woraus ist es?“ und „Woraus wird es hergestellt?“ dieselbe Antwort. Wie sich nun dieses Material zu dem Artefakt, das hergestellt wird, verhält, so verhält sich die zugrundeliegende Physis zur Seiendheit, also dem einzelnen Individuum oder bestimmten Das-und-das, das aus der zugrundeliegenden Physis entsteht. Das einzelne Individuum ist aber auch das Seiende im eigentlichsten Sinne, das ὅπερ ὄν386 , denn alles andere (Qualitäten, Quantitäten usw.) ist nur, insofern es in einem einzelnen Individuum ist. Wozu soll nun aber die zugrundeliegende Physis genau in einem analogen Verhältnis stehen, zu dem Material, insofern es erhalten bleibt, oder zu dem Material, insofern es als etwas noch Ungestaltes Ausgangspunkt des Werdens ist? Bei dem Material der Artefakte werden beide Aspekte nicht unterschieden, also darf man auch bei dem Analogen, wenn denn die Analogie aufrechterhalten bleiben soll, diese Unterscheidung nicht einführen. Die Zum ὅπερ ὄν vgl. Phys. A 3, 186a 32 ff.
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zugrundeliegende Physis muß also sowohl das sein, was Ausgangspunkt des Werdens ist, als auch das, was im Zuge des Werdens erhalten bleibt. Sie ist also das, was z. B. an einem κύημα bzw. am Menstruationsblut nicht vergeht, wenn daraus ein Mensch wird. Was aber soll das sein? Es ist offenbar nicht das erste Material, denn dieses bleibt bei der Entstehung eines Menschen nicht erhalten, man kann daher auch nicht sagen, daß die zugrundeliegende Natur im Werden nur eine neue, zusätzliche Form erwirbt. Ein Mensch entsteht zwar aus Menstruationsblut, er besteht jedoch nicht auch daraus. Daher muß die zugrundeliegende Natur etwas sein, was dem ersten Material noch zugrunde liegt. Kann es sich dabei um die vier Elemente handeln, wie häufig angenommen wird? Nein, denn auch diese wandeln sich ineinander um und müssen daher der in größtmöglicher Allgemeinheit behaupteten Analogie entsprechen, d. h. es muß auch für sie eine zugrundeliegende Natur geben. Die Prinzipien des Werdens sollen ja Prinzipien allen Werdens sein. Da es aber unterhalb der elementaren Gegensätze keine weiteren gibt, muß es sich bei der zugrundeliegenden Natur um das handeln, was noch mit keinen Gegensätzen verflochten ist.387 Von diesem Zugrundeliegenden spricht Aristoteles auch in seiner Schrift über Werden und Vergehen, allerdings mit wesentlich größerer Deutlichkeit. Er schreibt dort: ἡμεῖς δὲ φαμὲν μὲν εἶναί τινα ὕλην τῶν σωμάτων τῶν αἰσθητῶν, ἀλλὰ ταύτην οὐ χωριστὴν ἀλλ᾽ ἀεὶ μετ᾽ ἐναντιώσεως, ἐξ ἧς γίνεται τὰ καλούμενα στοιχεῖα·388 Wir aber sagen zwar, daß es eine gewisse Materie der wahrnehmbaren Körper gibt, aber diese ist nicht abtrennbar, sondern immer mit der Entgegengesetztheit verbunden, aus welcher die sogenannten Elemente hervorgehen.389 Vgl. Phys. A 6, 189b 3–6. Gen. corr. B 1, 329a 24–26. 389 Mary Louise Gill möchte hier das ἐξ ἧς nicht auf ἐναντίωσις beziehen, sondern auf ὕλη (vgl. dies.: Aristotle on Substance, a.a.O., S. 244f), was aber doch wirklich sehr konstruiert ist. Man müßte dann ja Aristoteles fast unterstellen, er habe den Leser absichtlich in die Irre führen wollen, da sich Relativsätze normalerweise auf das nächstliegende Substantiv beziehen. Wird die Stelle jedoch so übersetzt, wie es m.E. naheliegt, dann zeigt sich klar, daß Aristoteles hier nicht nur allgemein auf die Werdensanalyse in der Physik verweist, sondern auf die zwei Gegensatzpaare, die die Elemente konstituieren. Der Singular ἐναντίωσις stellt dazu keinen Widerspruch dar, da es ihm hier nicht um die Anzahl geht, außerdem bilden die zwei Gegensatzpaare zusammen nur eine Form bzw. Privation und nicht zwei; ansonsten könnten sie nicht zusammen ein Element begründen. Wenn man das so betrachtet, dann zeigt sich ganz klar, daß Aristoteles die vier Elemente als aus einer ihnen zugrundeliegenden Materie und einer Form, nämlich den zwei Gegensatzpaaren, die die Ele387
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4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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Die zugrundeliegende Natur ist also das, was wir weiter oben auch virtuelles Material bzw. virtuelle Materie genannt haben. Es spricht aber wohl auch nichts dagegen, sie mit der aristotelischen Tradition erste Materie, prima materia, zu nennen, solange man nur dessen eingedenk bleibt, daß dieser Terminus von dem der πρώτη ὕλη streng zu unterscheiden ist; denn mit letzterer meint Aristoteles, wie wir nun schon des öfteren erklärt haben, das erste Material, d. h. die homoiomeren, beliebig teilbaren Körper, wozu auch die vier Elemente als Extremausprägungen zählen. Die virtuelle Materie ist zwar von allem Gegensatz und damit von jeder Form und jeder Privation zu unterscheiden, jedoch kann sie niemals ohne gewisse Gegensätze sein, denn zumindest die die sogenannten Elemente konstituierenden Gegensätze, nämlich warm/kalt und trocken/naß, müssen ihr zukommen. Die virtuelle Materie ist nämlich von allem, was der Form analog ist, zu unterscheiden, und gerade deshalb kann sie nicht ohne formale Bestimmung sein, denn die Form ist das Sein des Seienden, d. h. ohne Form kein Seiendes. Obwohl die virtuelle Materie in gewisser Weise der ersten Kategorie zugehört, da sie in nichts anderem ist und von nichts anderem ausgesagt wird, ist sie dennoch von allem Seienden klar zu unterscheiden. Was ist sie aber dann? Sie ist offenbar ein Seiendes nur dem Vermögen nach, wie auch alles andere, was Aristoteles zur Materie zählt, also wie erstes Material und strukturiertes Material, z. B. die Organe von Lebewesen.390 Im Unterschied aber zu den höherstufigen Materiearten enthält die virtuelle Materie jedoch kein aktives Vermögen, denn sie enthält keine noch verborgene formale Bestimmung. Die virtuelle Materie ist also nur passives Vermögen und deshalb auch im strengen Sinne unerkennbar, da es von ihr als etwas Formlosem keine Definition und auch nichts der Definition Analoges geben kann.391 Diese Materie ist aber auch das, was die Materialität aller anderen Materie ausmacht, da auch diese nur als passives Vermögen aufnahmefähig für die Form ist, nicht jedoch insofern sie formal bestimmt ist; die virtuelle Ma-
mente konstituieren, zusammengesetzt begreift. Diese Materie kann jedoch nicht, wie alle andere Materie, von der Form abgetrennt werden (z. B. kann Bronze von der Form der Statue abgetrennt werden, indem man die Statue zerstört). Insofern stimme ich Williams zu, der schreibt (ders., a.a.O., S. 214): „This very difficult passage … is nevertheless, for all its difficulty, clear in its commitment to prime matter.“ 390 Vgl. Met. Z 16, 1040b 5–16. 391 Vgl. Met. Z 10, 1036a 8 f.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
terie ist also die Materie schlechthin und es wird keinen Unterschied machen, ob wir von der virtuellen Materie oder nur von der Materie sprechen. Die virtuelle Materie oder schlicht die Materie gehört daher zu den gesuchten ersten Prinzipien, neben der Form und der Privation. Während die Ausdrücke „Form“ und „Privation“ jedoch Allgemeinbegriffe sind, – nur bestimmte Formen, wie Mensch-Sein oder Pferd-Sein, bestimmen schließlich wirklich ein Seiendes, denn ein Seiendes überhaupt, das von einer Form überhaupt bestimmt sein könnte, gibt es nicht, – ist mit der Materie nichts Allgemeines gemeint. Sie ist nämlich weder etwas Allgemeines noch etwas Einzelnes, da beides eines sein muß, die Materie jedoch, insofern sie Materie ist, keine Einheit aufweist, weil Einheit, Sein und Form dasselbe ist. Die Materie ist daher streng genommen vollkommen unbestimmte Potentialität.392 Dennoch unternimmt Aristoteles im neunten Kapitel über das im siebten Kapitel Gesagte hinausgehende Versuche, die Materie zu bestimmen, jedoch auch hier nicht im Sinne einer Definition, auch nicht im weiteren Sinne; stattdessen versucht er sie durch Metaphern und damit mittels weiterer, allerdings unvollkommener Analogien zu bestimmen. Daß er diesen Versuch unternimmt, dürfte wohl daran liegen, daß seiner Meinung nach die zugrundeliegende Natur, also die Materie, von einem Teil seiner Vorläufer gar nicht erkannt wurde, denn hätten sie sie erkannt, so Aristoteles, hätte sich ihnen nicht das Problem des Werdens aus Nicht-Seiendem 393 als unüberwindlich dargestellt: 392 Diese traditionelle Auffassung der Materie wird heute fast einmütig abgelehnt. Sie scheint sich mir jedoch aus dem Gesagten notwendig zu ergeben. Es bleibt an dieser Stelle aber freilich noch offen, was unter einer unbestimmten Potentialität zu verstehen ist. Wenn wir einmal der Sache selbst etwas nachspüren, so ließe sich vielleicht folgendes sagen: Daß die Materie reine Potentialität ist, kann nicht heißen, daß sie schlechthin nichts ist. Sie ist aber auch streng genommen nicht. Etwas, was weder ist noch nicht ist, wird. Die Materie müßte also als reines Werden aufgefaßt werden. Da sie ferner nicht eines ist, fehlt ihr jede Diskretheit. Sie müßte also reines, vollkommen indifferentes Kontinuum sein. Es kann freilich weder ein reines Werden noch ein reines Kontinuum abgetrennt für sich existieren, daher müßte auch die Materie immer Formen als Ziele und Grenzen aufnehmen, die ihr freilich immer äußerlich blieben. Sie müßte gleichsam immer einen Umweg nach dem anderen nehmen, um stets zu werden ohne je am Ziel anzukommen. So wäre die Materie das Prinzip des Werdens und der räumlichen Ausdehnung. Der Begriff der unbestimmten Potentialität scheint mir daher nicht widersprüchlich zu sein, sondern gerade eine notwendige Voraussetzung dafür, die Welt so zu denken, wie sie ist. Ob sich diese Auffassung der reinen Potentialität aber auch bei Aristoteles wiederfindet, ist damit freilich noch nicht gesagt. 393 Vgl. Phys. A 8, 191a 23–33.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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αὕτη γὰρ ἂν ὀφθεῖσα ἡ φύσις ἅπασαν ἒλυσεν αὐτῶν τὴν ἄγνοιαν.394 Denn wäre diese Natur gesehen worden, sie hätte ihren Mangel an Einsicht gänzlich aufgelöst.
Der andere Teil, zu dem Aristoteles offenbar auch Platon rechnet395 , hatte zwar die Materie berührt, jedoch nicht so, daß sie fähig gewesen wären, zwischen der Materie und der Privation zu unterscheiden: Ἡμμένοι μὲν οὖν καὶ ἕτεροί τινές εἰσιν αὐτῆς, ἀλλ᾽ οὐχ ἱκανῶς.396 Berührt nun haben zwar auch einige andere diese, jedoch nicht in ausreichendem Maße.
Im Grunde genommen haben daher auch diese die Materie überhaupt nicht erkannt.397 Daher grenzt er zunächst die Materie von der Privation ab, ohne sie noch hinsichtlich ihrer selbst zu erörtern. ἡμεῖς μὲν γὰρ ὕλην καὶ στέρησιν ἕτερόν φαμεν εἶναι, καὶ τούτων τὸ μὲν οὐκ ὂν εἶναι κατὰ συμβεβηκός, τὴν ὕλην, τὴν δὲ στέρησιν καθ᾽ αὑτήν, καὶ τὴν μὲν ἐγγὺς καὶ οὐσίαν πως, τὴν ὕλην, τὴν δὲ οὐδαμῶς·398 Wir nämlich sagen, daß Materie und Privation Verschiedenes sind, und von diesen das eine nicht-seiend ist hinsichtlich dessen, was sich so ergeben hat, nämlich die Materie, die Privation aber hinsichtlich ihrer selbst, und daß die eine beinahe auch Seiendheit ist auf eine gewisse Weise, nämlich die Materie, daß die andere aber dies in keiner Weise ist.
Die Privation ist hinsichtlich ihrer selbst nicht-seiend, da sie eine bloße, wenn auch reale (und nicht bloß im Denken vorhandene) Negation ist; sie ist daher auch notwendigerweise keine Seiendheit. Die Materie dagegen ist nur in akzidenteller Hinsicht nicht-seiend und in gewisser Weise beinahe eine Seiendheit. Dies bedeutet nicht, daß die Materie hinsichtlich ihrer selbst ein Seiendes wäre, dann wäre sie ja nicht nur beinahe eine Seiendheit. Die Materie ist nämlich weder ein Seiendes noch ein NichtSeiendes, sondern dem Vermögen nach ein unbestimmtes Seiendes. Daher kann die Materie auch in akzidenteller Weise sowohl nicht-seiend als auch seiend sein, und so eben auch werden. Weil sie aber wie eine Seiendheit von nichts Anderem ausgesagt wird und in nichts Anderem ist, während anderes sehr wohl in ihr ist, nämlich z. B. Wärme und Trockenheit, Phys. A 8, 191b 33 f. Vgl. Ross: Physics, a.a.O., S. 497. 396 Phys. A 9, 191b 35 f. 397 Vgl. Phys. A 9, 192a 12. 398 Phys. A 9, 192a 3–6. 394 395
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
deshalb ist sie in gewisser Weise fast eine Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift; der einzige Unterschied ist, daß die Materie keinem Allgemeinbegriff subsumiert werden kann, wie dies bei den ersten Seiendheiten (im Sinne der Kategorienschrift) möglich ist. Nun hat Aristoteles allerdings bislang die Materie noch nicht hinsichtlich ihrer selbst zu bestimmen versucht. Da die Materie, wie gesagt, nicht definiert werden kann, bleibt nur noch die metaphorische Erkenntnisweise, d. h. die Erkenntnis mittels einer unvollkommenen Analogie, übrig. ἡ μὲν γὰρ ὑπομένουσα συναιτία τῇ μορφῇ τῶν γιγνομένων ἐστίν, ὥσπερ μήτηρ· ἡ δ᾽ ἑτέρα μοῖρα τῆς ἐναντιώσεως πολλάκις ἂν φαντασθείη τῷ πρὸς τὸ κακοποιὸν αὐτῆς ἀτενίζοντι τὴν διάνοιαν οὐδ᾽ εἶναι τὸ παράπαν.399 Denn die , die erhalten bleibt, ist Mitursache des Werdenden zusammen mit der Form (μορφή), wie eine Mutter. Das andere Glied der Entgegensetzung aber dürfte dem am ehesten sichtbar werden, der sein Nachdenken scharf auf die Quelle des Übels für sie richtet und auch darauf, daß sie nicht vollständig existiert.
Die zugrundeliegende Natur, die erhalten bleibt, ist die Materie. Sie ist Mitursache des Werdenden wie die Mutter Mitursache des Kindes ist zusammen mit dem Vater. Was trägt die Mutter zum Entstehen eines Kindes bei? Sie ist der Ursprung des passiven Vermögens, das durch das aktive Vermögen, das dem männlichen Samen innewohnt, ergänzt wird. Sie ist aber auch der Ort, an dem das Kind entsteht. Denn das Kind entsteht in der Mutter. Die Materie ist also gleichsam der Ort, an dem das Werdende wird, wenn es aber geworden ist, so tritt es gleichsam aus der Materie heraus, wie ein Kind das geboren wird. Denn die Materie ist nicht das schlechthin Werdende; dieses wird nur aus der Materie. Die Materie ist also das, in das die Form als aktives Vermögen eintritt, wie ein männlicher Samen in den Uterus der Mutter. Daraufhin beginnt ein relatives Werden, weil sich die Materie akzidentell verändert; dies ist vergleichbar mit der Schwangerschaft, in der sich auch die Mutter akzidentell verändert. Während dieses relativen Werdens ist die Gestalt des schlechthin Werdenden noch verborgen, wie der Embryo im Bauch der Mutter. Ist das relative Werden abgeschlossen, so tritt aus der Materie das heraus, was schlechthin geworden ist. Wie alle Metaphern, so darf auch diese nicht überspannt werden. So bleibt z. B. die Mutter nicht im Kind erhalten, nachdem dieses geboren Phys. A 9, 192a 13–16.
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4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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wurde. Gerade dies aber ist das, was die Materie ausmacht. Außerdem bestimmt auch diese Metapher die Materie eigentlich nur relativ, nämlich bezogen auf die Form und das Werdende. Aristoteles bietet uns aber noch eine zweite Bestimmung der Materie, die wieder metaphorische Gestalt annimmt. Er schreibt: ὄντος γάρ τινος θείου καὶ ἀγαθοῦ καὶ ἐφετοῦ, τὸ μὲν ἐναντίον αὐτῷ φαμεν εἶναι, τὸ δὲ ὃ πέφυκεν ἐφίεσθαι καὶ ὀρέγεσθαι αὐτοῦ κατὰ τὴν αὑτοῦ φύσιν. τοῖς δὲ συμβαίνει τὸ ἐναντίον ὀρέγεσθαι τῆς αὑτοῦ φθορᾶς. καίτοι οὔτε αὐτὸ αὑτοῦ οἷόν τε ἐφίεσθαι τὸ εἶδος διὰ τὸ μὴ εἶναι ἐνδεές, οὔτε τὸ ἐναντίον (φθαρτικὰ γὰρ ἀλλήλων τὰ ἐναντία), ἀλλὰ τοῦτ᾽ ἔστιν ἡ ὕλη, ὥσπερ ἂν εἰ θῆλυ ἄρρενος καὶ αἰσχρὸν καλοῦ· πλὴν οὐ καθ᾽ αὑτὸ αἰσχρόν, ἀλλὰ κατὰ συμβεβηκός, οὐδὲ θῆλυ, ἀλλὰ κατὰ συμβεβηκός.400 Denn da es etwas Göttliches und Gutes und Erstrebenswertes gibt, sagen wir, daß das eine ihm entgegengesetzt ist, das andere aber eines, das natürlicherweise nach ihm strebt und trachtet, der ihm eigenen Physis entsprechend. Den Anderen aber geschieht es, daß das Entgegengesetzte nach seinem eigenen Untergang trachtet. Doch es kann weder die Form selbst nach sich selbst streben, weil ihr nichts mangelt, noch kann das Entgegengesetzte nach der Form streben, denn die Gegensätze sind einander verderblich, sondern dieses Strebende ist die Materie, wie wenn Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem strebt, so dies nur nicht hinsichtlich seiner selbst häßlich ist, sondern im Hinblick auf das, was sich so ergeben hat, und nicht hinsichtlich seiner selbst weiblich, sondern im Hinblick auf das, was sich so ergeben hat.
Mit dem Göttlichen, Guten und Erstrebenswerten ist offenbar die Form gemeint. Die Form ist nämlich ἐντελέχεια, also die Vollendetheit, die zugleich ein Sich-in-der-Vollendung-Halten und damit eine Tätigkeit ist, die stets bei sich selbst bleibt und nicht etwa in ein von ihr selbst verschiedenes Resultat einmündet. Sie ist daher hinsichtlich ihrer selbst ewige, vollkommene und unveränderliche Tätigkeit. Insofern sie dies ist, ist sie auch göttlich, gut und erstrebenswert. Das Göttliche nämlich läßt für Aristoteles wie für das antike griechische Denken überhaupt verschiedene Grade zu (z. B. Heros, Halbgott, Gott) und hat überhaupt nichts mit einem solchen Konzept wie Transzendenz zu tun; das Göttliche bezeichnet hier vielmehr die höchste Vollendung, über die hinaus nichts mehr zu wünschen bleibt, und die in sich selbst sinnvoll ist. Weil die Form in diesem Sinne göttlich, gut und erstrebenswert ist, kann die Form auch nicht nach sich selbst streben, wenn man unter Streben das Verlangen nach etwas versteht, das nicht ist; denn die Form ist ja selbst Phys. A 9, 192a 16–25.
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4. Form und Materie im Kontext der Physis-Wissenschaft
das Ziel allen Strebens.401 Aber auch die Privation kann nicht nach der Form streben, denn diese ist ja gerade die Negation der Form; sie müßte also gleichsam gegen ihr eigenstes Wesen handeln. Das Strebende muß daher etwas Drittes sein, nämlich die Materie. Die Materie strebt nach der Form, ja das macht ihre Natur aus, d. h. die Materie ist nur solange Materie, als sie strebt. Und zwar strebt sie nach der Form, wie Weibliches nach Männlichem und Häßliches nach Schönem strebt. Damit ist nicht gemeint, wie man es leicht mißverstehen kann, daß sich die Materie wie eine Frau nach ihrem Mann sehnt, auch wenn das vielleicht sehr romantisch wäre. Weibliches und Männliches ebenso wie Häßliches und Schönes kommen hier nämlich nur insofern in Betracht, als sie Akzidenzien eines zugrundeliegenden Dritten sind, wie Aristoteles deutlich betont. Es kann daher nur gemeint sein, daß die Materie so nach der Form strebt, wie ein weibischer, d. h. feiger Mensch danach, mannhaft zu werden, oder wie ein Häßlicher bzw. Verachteter402 danach, wieder zu Ehren zu kommen. Aristoteles will damit offenbar zum Ausdruck bringen, daß die Privation selbst zwar nicht nach der Form streben kann, wie auch eine Frau nicht danach streben kann, ein Mann zu werden, daß es aber etwas Drittes geben kann, daß durch die Privation nur akzidentell bestimmt ist, und das nach der Form strebt; in den Beispielen ist dieses Dritte jeweils der Mensch. Menschen können nach etwas streben, das ist eine allgemein menschliche Erfahrung, die hier auf etwas Anderes, nämlich die Materie, übertragen wird. Die Aussage, daß die Materie nach etwas strebt, versteht Aristoteles also als Metapher! Dies gilt es zu bedenken, wenn wir vom Streben der Materie sprechen. Streng genommen, strebt also nur der Mensch und andere Lebewesen, der Materie und allem, was wird, kommt dagegen etwas dem Streben Analoges (im Sinne einer unvollkommenen Analogie) zu. Da die Materie aber das ist, was erhalten bleibt, und die Materie wesentlich ein Streben bzw. etwas dem bei Lebewesen anzutreffenden Streben Analoges ist, im Gegensatz zum Menschen, dem das Streben immer nur akzidentell zukommt, muß bei der Materie auch das Streben als sol401 Dennoch kann freilich die Form als aktives Vermögen ein Streben hervorrufen, denn als aktives Vermögen ist die Form noch nicht wirklich als sie selbst, da das Sein eine sich äußernde Tätigkeit und damit ein Erscheinen ist. 402 Die Ausdrücke αἰσχρός und καλός bedeuten bekanntlich nicht nur das, was wir heute mit den Wörtern häßlich und schön bezeichnen, sondern, wie auch das deutsche Wort häßlich seinem ursprünglichen Wortsinn nach, alles was Ablehnung oder Anerkennung fordert.
4.3 Die systematische Grundlegung des Begriffs der Materie
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ches erhalten bleiben. Wird ein Mensch dagegen mutig und tapfer, hört er auf, danach zu streben, ohne deshalb aufzuhören, Mensch zu sein. Auch diejenige Privation also, die der Materie hinsichtlich ihrer selbst zukommt, darf ihr nicht genommen werden, sonst würde sie aufhören Materie zu sein. Dies ist aber dadurch möglich, daß man, wie wir es Aristoteles extrapolierend tun, zwei Arten von Privation unterscheidet: die dem aktiven Vermögen korrespondierende und die dem passiven Vermögen korrespondierende Privation. Die dem passiven Vermögen korrespondierende Privation wurde von Aristoteles anscheinend übersehen, und zwar vielleicht deshalb, weil sie keine Negation einer bestimmten Form ist, sondern die Negation von Form und damit von Einheit überhaupt. Da der Materie überhaupt Form fehlt, so kann sie diesen Mangel auch durch keine bestimmte Form kompensieren. Das aber bedeutet, daß sie nie aufhört zu streben. Daher ist die Materie auch unvergänglich und ungeworden.403 Das Streben der Materie aber manifestiert sich in der Bereitschaft, jede Form aufzunehmen und zu realisieren. Da die Materie aber bei keiner Form ein Genügen findet, erlischt die Bereitschaft nie, und alles was geworden ist, muß auch wieder vergehen.
Vgl. Phys. A 9, 192a 25–34.
403
5. Abschließende Überlegungen Wir sind nun zwar am Ende dieser Untersuchung angelangt, vieles jedoch haben wir nicht in dem Ausmaße klären und einsichtig machen können, wie das zu wünschen wäre. Dieses Ende ist daher nicht mehr als eine kurze Rast, bevor wir wieder aufbrechen und den Weg hin zu einer auf die vorliegende Arbeit aufbauenden Interpretation der Aristotelischen Substanzbücher fortsetzen müssen. Die Substanzbücher der Metaphysik (Met. Z, H, Θ) nämlich schließen unmittelbar an die im ersten Buch der Physik offengelassene Frage an, die Aristoteles nach einer kurzen Rekapitulation seiner vorangehenden Argumentation am Ende des siebten Kapitels formuliert: πρῶτον μὲν οὖν ἐλέχθη ὅτι ἀρχαὶ τἀναντία μόνον, ὕστερον δ᾽ ὅτι ἀνάγκη καὶ ἄλλο τι ὑποκεῖσθαι καὶ εἶναι τρία· ἐκ δὲ τῶν νῦν φανερὸν τίς ἡ διαφορὰ τῶν ἐναντίων, καὶ πῶς ἔχουσιν αἱ ἀρχαὶ πρὸς ἀλλήλας, καὶ τί τὸ ὑποκείμενον. πότερον δὲ οὐσία τὸ εἶδος ἢ τὸ ὑποκείμενον, οὔπω δῆλον.1 Zunächst wurde gesagt, daß nur das Entgegengesetzte Prinzip sei, später aber, daß noch etwas Anderes zugrunde liegen müsse und es drei sein müssen. Aus dem nun Besprochenen heraus aber liegt es am Tage, was der Unterschied zwischen den einander Entgegengesetzten ist, und wie sich die Prinzipien zu einander verhalten, und was das Zugrundeliegende ist. Ob aber die Form oder das Zugrundeliegende Seiendheit ist, das ist noch nicht klar.
Ebendiese Frage wird im siebten Buch der Metaphysik neben anderen Fragen ausdrücklich wieder aufgegriffen und im Rahmen einer großangelegten, umfassenden Erörterung der Seiendheit, deren Ausgangspunkt die Aporie der Kategorienschrift ist, beantwortet. Dabei stellt sich die Form als erste Seiendheit heraus. Die Materie läßt Aristoteles zwar auch als Seiendheit gelten, d. h. als Grund des Seins des Seienden, jedoch nicht als erste, sondern nur als eine nachrangige. Dies darf, wie wir gesehen haben, nicht so verstanden werden, als ob Aristoteles das, was er früher für die zweite Seiendheit hielt, nun plötzlich zur ersten erklärte, wie das Phys. A 7, 191a 15–21.
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5. Abschließende Überlegungen
Owen und Woods behaupteten.2 Es wäre aber andererseits auch verfehlt, den späteren Formbegriff als gänzlich unabhängig von dem der Kategorienschrift aufzufassen. Vielmehr präzisierte Aristoteles, wie hoffentlich deutlich wurde, entscheidend seinen Begriff der Form, mit dem er gleichwohl weiterhin dasjenige benennen wollte, was etwas zu dem macht, was es jeweils ist. Das, was er in seiner reifen Ontologie unter dieser Form verstanden wissen wollte, tauchte freilich in der Ontologie der Kategorienschrift so noch gar nicht auf: das von jedem Allgemeinbegriff unterschiedene spezifische Sein eines Seienden, das Aristoteles als Entelechie und damit als einen Vollzug begreift, der sein Ziel in sich selbst hat; in der Kategorienschrift nämlich setzte er offenbar das jeweilige Sein eines Seienden noch in platonischer Weise mit dem allgemeinen, vom Einzelnen prädizierten Seienden gleich. Die Neufassung des Formbegriffs wird erst durch die Analyse des Werdens im ersten Buch der Physik ermöglicht, da der so gewonnene Materiebegriff die erste Seiendheit im Sinne der Kategorienschrift, also das je Einzelne, in zwei radikal unterschiedene Ebenen unterteilt und so eine Schicht der Seiendheit freilegt, die diese als sie selbst allererst konstituiert, die also gewissermaßen die Seiendheit der Seiendheit darstellt und somit im höheren Grade Seiendheit ist als das jeweils Einzelne. Ich habe diese Veränderung im Aristotelischen Denken als Binnendifferenzierung der ersten Seiendheit bezeichnet. Nur auf dieser Grundlage kann die zentrale Frage der Substanzbücher nach der Seiendheit so erörtert werden, wie sie es tatsächlich wird, nämlich als Frage nach der Form. Der Kategorienschrift liegt dagegen offenbar eine unberechtigte Gleichsetzung von Individuum (ἄτομον, τόδε τι) und Konkretum (σύνολον/ σύνθετον) zugrunde, wobei freilich zu dieser Zeit von Aristoteles das Konkretum noch nicht als solches erkannt worden war. Unteilbar (individuell) ist aber bereits (und ausschließlich) die Form im Sinne des essentiellen Seins, denn das Mensch-Sein etwa verteilt sich nicht auf verschiedene Menschen, sondern kommt jedem in vollkommen gleicher Weise als ein und dasselbe vollständige und unteilbare Mensch-Sein zu. Es wird daher auch nicht vom Menschen prädiziert, da dasjenige, von dem etwas prädiziert wird, dem Prädikat entweder in Gestalt dessen, in dem es ist, oder in Gestalt dessen, von dem es abstrahiert ist, zugrunde und damit vorausliegen muß. Der Mensch wird aber durch das Mensch-Sein allererst als das, was er ist, konstituiert. Siehe Einleitung.
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5. Abschließende Überlegungen
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Jede Interpretation muß dieser Binnendifferenzierung und der damit verbundenen radikalen Neufassung des Formbegriffs Rechnung tragen. Dies scheint mir weder durch die These der individuellen Form noch durch das wie auch immer geartete Festhalten an der Allgemeinheit der Form gegeben. Daß die Form nichts Allgemeines ist, obwohl sie, wie die Analyse des Werdens in Abschnitt 4.3 gezeigt hat, von der Materie ausgesagt wird, ergibt sich aus der in Abschnitt 3.2 durchgeführten Unterscheidung zwischen identifizierendem und nicht-identifizierendem Aussagen: nur das, was identifizierend ausgesagt wird, ist etwas Allgemeines, die Form wird jedoch, wie gezeigt wurde, nur nicht-identifizierend ausgesagt. Daraus ergibt sich bis zu einem gewissen Grade eine Bestätigung der Akzidenztheorie der Form, wie sie u.a. von Michael Loux vertreten wird.3 In mindestens einem wesentlichen Punkt jedoch muß diese Theorie m.E. korrigiert werden. Denn zwar kommt die Form irgendwie sicherlich auch weiterhin vielem zu, dennoch sollte man trotzdem nicht der Form eine Allgemeinheit im weiteren oder anderen Sinne zuschreiben, wie dies ja nicht nur Vertreter der Akzidenztheorie der Form, sondern auch zahlreiche Verfechter anderer Ansätze tun.4 Daß etwas vielem zukommt, ist nämlich kein zureichender Grund dafür, dieses hinsichtlich seiner selbst als ein Allgemeines aufzufassen, zumindest insofern mit dem Allgemeinen das Gegenteil des je Einzelnen gemeint sein soll – und was sollte sonst damit gemeint sein? Denn auch eine Almende z. B. kommt in gewisser Weise vielem zu, nämlich vielen Menschen, weshalb man vielleicht versucht sein könnte, auch sie irgendwie als etwas Allgemeines aufzufassen. Sie ist aber dennoch auch unzweifelhaft etwas ganz bestimmtes Einzelnes, nämlich z. B. die Wiese dort und dort. Strenggenommen ist nämlich nur der Besitz der Almende allgemein, nicht diese selbst. Man muß also unterscheiden, ob etwas an sich selbst vielem zukommt, oder ob dies nur akzidentell der Fall ist. Der Wiese, die etwas Einzelnes ist, kommt der Umstand, daß sie Allgemeinbesitz und damit irgendwie etwas Allgemeines ist, eben nur akzidentell zu, sie ist daher auch nicht hinsichtlich ihrer selbst etwas Allgemeines. In gewisser Weise verhält es sich nun aber bei der Form ähnlich. Auch die Form kommt zwar vielem zu, jedoch nicht hinsichtlich ihrer selbst, sondern nur akzidentell.5 Wie kann die Form nun akzidentell vielem zukommen? In Siehe Einleitung. Siehe dazu die Einleitung. 5 Freilich ist die Form deshalb noch lange nichts Einzelnes; siehe weiter unten. 3 4
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5. Abschließende Überlegungen
dem Sie, wie gezeigt wurde, als Akzidenz von der Materie ausgesagt wird. In diesem Punkt unterscheidet sich also die Form von der Wiese im Allgemeinbesitz, denn während die Wiese durch ein allgemeines Akzidenz selbst in akzidenteller Weise allgemein wird, verhält es sich bei der Form genau anders herum. Sie wird dadurch in akzidenteller Weise allgemein, daß sie von etwas Allgemeinem akzidentell, d. h. nicht-identifizierend, ausgesagt wird, nämlich von einer Materieansammlung im allgemeinen. 6 Die Form erscheint daher auch nur solange als etwas Allgemeines, solange sie explizit oder implizit auf eine Materieansammlung im allgemeinen bezogen wird, bezieht man sie dagegen auf eine bestimmte Materieansammlung, d. h. einen bestimmten Körper, z. B. den des Sokrates, dann kann man sie noch nicht einmal mehr in akzidenteller Hinsicht als allgemein bezeichnen. So ist etwa das Mensch-Sein, insofern es sich am Körper des Sokrates verwirklicht, in gewisser Weise Sokrates selbst, da ja Sokrates wesentlich ein Mensch ist und somit durch das Mensch-Sein als das Seiende, das er ist, konstituiert wird. Die Form selbst ist also weder etwas Allgemeines noch, worauf wir gleich noch etwas genauer eingehen werden, etwas Einzelnes, sondern liegt dieser Unterscheidung voraus. Was aber ist sie dann? Primär ist für Aristoteles nicht das Seiende, sondern das Sein, das er, wie wir gesehen haben, als Entelechie, d. h. als reine, sich selbst vollziehende, stets vollendete und zugleich je spezifische Tätigkeit begreift. Das vom Sein unterschiedene Seiende ist dagegen sekundär. Dies zeigt sich am deutlichsten beim göttlichen νοῦς, über den hinaus es für Aristoteles nichts Vollkommeneres und damit auch nichts Göttlicheres gibt. Die spezifische Seinsweise des νοῦς ist das Denken (νοεῖν, νόησις), welches ihm jedoch nicht wie eine Eigenschaft oder ein Vermögen zukommt, sondern mit ihm selbst schlechthin identisch ist.7 Der göttliche νοῦς ist also nichts anderes als Denken, d. h. das Seiende geht hier vollkommen im Sein auf.8 Da außerdem der göttliche νοῦς vollkommen ist, muß er 6 Zwar wird eine Materieansammlung erst durch eine Form konstituiert, da die Materie an sich ein reines Kontinuum darstellt. Es ist jedoch für die Materieansammlung als solche irrelevant, was das für eine Form ist. Daher kann die Form nicht-identifizierend von ihr ausgesagt werden, ohne daß eine solche Aussage redundant würde. So wird zwar in der Aussage „Dieser Körper ist beseelt“ schon vorausgesetzt, daß der Körper irgendeine Form hat, wenn er denn ein Körper ist, daß diese jedoch eine Seele ist, erfährt man erst durch die Aussage. 7 Vgl. Met. Λ 9, 1074b 15–29. 8 Ob man hier überhaupt noch von einem Seienden sprechen sollte oder nicht, ist eine schwierige Frage. Ich möchte sie vorerst so weit wie möglich ausklammern.
5. Abschließende Überlegungen
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ferner auch mit seinem Gegenstand, dem Gedachten, in eins fallen, denn würde er etwas anderes als sich selbst denken, würde er auch erst durch dieses und nicht durch sich selbst vollkommen.9 Bei dem, was schlechthin vollkommen, unveränderlich und ewig ist, gibt es also gar kein vom Sein unterschiedenes Seiendes, weder in subjektiver noch in objektiver Richtung. Dieser Unterschied tritt erst da auf, wo sich ein Sein nicht vollkommen selbst genügt, weil es zum Vollzug seiner selbst auf anderes angewiesen ist. Dieses andere nennt Aristoteles (in subjektiver Richtung) Materie. Das Mensch-Sein z. B. kann sich nur an Materie vollziehen, die durch diesen Vollzug zu einem menschlichen Körper geformt und so zu einer funktionalen Materie wird. Weil es also aus Form (Sein/Tätigkeit/Entelechie) und Materie (passives Vermögen) zusammengesetzt ist, deshalb ist hier das Seiende, der Mensch, mit seinem Sein, dem Mensch-Sein bzw. der Menschenseele, nicht in jeder Hinsicht identisch, wenngleich es in einer gewissen Hinsicht freilich durchaus damit identisch ist, nämlich eben hinsichtlich seines es als Seiendes allererst konstituierenden Seins. Dies ist der Grund dafür, daß sich bei allem, was eine Materie hat, vom Sein ein Seiendes unterscheiden läßt, ohne daß deshalb aber das Sein nur eine Eigenschaft des Seienden wäre. Als Werdendes und Vergehendes muß dieses Seiende zudem vieles sein, da sich zum einen das Sein als Entelechie, d. h. als Sich-in-der-Vollendung-Halten, nur so selbst treu bleiben kann und zum anderen das Werden der Materie nie zu einem Abschluß kommen darf, weil die Materie wesentlich Vermögen ist und die Entelechie des Vermögens im Werden liegt. Wenn aber die Form hinsichtlich ihrer selbst nichts Allgemeines ist, weder in einem weiteren noch in einem engeren Sinne, wie kann man ihr dann absprechen, etwas je Einzelnes zu sein? Muß dann die Form nicht zwangsläufig individuell sein? Nun, ich würde hier die erste Frage mit Nein, die zweite dagegen mit Ja beantworten. Letztlich nämlich ist jede Form, da sie das Sein des Seienden und damit dessen Einheit bedeutet, individuell (ἄτομον) im Sinne der Unteilbarkeit; sie ist jedoch niemals individuell in dem Sinne, daß sie etwas je Einzelnes als solches bezeichnete. Versteht man dagegen die Individualität der Form als Einzelnheit, also als numerische und damit abzählbare Identität, führt dies letztlich, wenn es konsequent zu Ende gedacht wird, zu einer Art Dualismus, der Aristoteles ganz fremd ist: es gäbe dann einerseits eine individuelle Vgl. Met. Λ 9, 1074b 29 – 1075a 10.
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5. Abschließende Überlegungen
Form, die das ist, was das Einzelne wesentlich ausmacht, und andererseits eine davon unabhängige Materie. Die Seele des Menschen z. B. wäre dann mit dem einzelnen Menschen als je einzelnem identisch, und die Materie ein an sich form- und damit auch seelenloses, d. h. unbelebtes Ding. Dieser Körper-Seele-Dualismus, der fast schon an Descartes erinnert, beruht nicht nur auf einem falsch verstandenen Begriff der Form, sondern auch entscheidend auf einer Fehlinterpretation des Aristotelischen Materiebegriffs. Nur eine Materie, die bereits rein für sich ein vollständiges Seiendes darstellt, könnte eine Form aufnehmen, die individuell im Sinne der Einzelnheit ist. Form und Materie nämlich müssen unter dieser Voraussetzung in ein rein äußerliches Verhältnis zueinander treten, weil die Materie nicht mehr ein integraler Bestandteil eines Seienden sein kann, dessen Form bereits für sich alleine das Seiende als dieses bestimmte, einzelne Seiende konstituiert. Ein Teil einer Sache aber, der kein integraler Bestandteil ist und somit bloß wie ein äußerliches Werkzeug benutzt wird (also auch streng genommen gar kein Teil der Sache selbst ist), muß ein selbständiges Seiendes sein, das unabhängig von dem, dessen Teil es ist, als es selbst vorliegen kann. Wird die These der Formen als eines Einzelnen daher konsequent zu Ende gedacht, führt dies, wie mir scheint, zu einer ungerechtfertigten Angleichung des Aristoteles an einige Züge der modernen Weltsicht. Ein wesentliches Element dieser Weltsicht ist nämlich die Überzeugung, daß einerseits das, was jeden Menschen als Menschen jeweils ausmacht, also traditionell gesprochen dessen Seele, einmalig und von dem Wesentlichen aller anderen Menschen substanziell verschieden ist10 , und daß andererseits die Materie bereits an sich ein vollständiges und selbstgenügsames Seiendes darstellt.11 Aristoteles war hier allerdings ganz ande Dies gilt auch, wenn man wie Michael Frede annimmt, daß sich die individuellen Formen von Seiendem derselben Art hinsichtlich seiner selbst in nichts unterscheiden; vgl. Michael Frede: „Substance in Aristotle’s Metaphysics“, in: Ders.: Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, S. 72–80, S. 78. Die ganze Theorie nimmt dadurch nur einen entschieden irrationalen Zug an, der selbst auch für die Moderne typisch ist. 11 Tatsächlich widersprechen sich beide Annahmen und schließen sich gegenseitig aus. Dies verhindert nicht, daß beides bis heute meistens zugleich als wahr angesehen wird. Widerspruchsfreiheit ist nämlich keine Voraussetzung einer hauptsächlich im Alltag wirksamen Weltsicht. Daß die Materie nämlich selbstgenügsam ist, hat zur Folge, daß alles, was aus der Materie besteht, nichts als ihr bloßes Akzidenz sein kann. Somit können auch Menschen voneinander nur akzidentell verschieden sein, und nicht substantiell. Dieser Widerspruch ist im übrigen als ein wesentlicher Motor des neuzeitlichen Denkens anzusehen; eine „Lösung“ besteht z. B. in erwähntem 10
5. Abschließende Überlegungen
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rer Auffassung, was an dieser Stelle freilich nicht erörtert und im einzelnen nachgewiesen werden kann. Mag sein, daß in dieser Angleichung an die gegenwärtige Weltsicht das eigentliche, wenn auch wohl unbewußte Motiv für die Interpretation der Form als etwas Einzelnes zu sehen ist. Dennoch argumentieren Frede und Patzig freilich rein textimmanent vor allem auf der Grundlage von Met. Z, so daß auch jede Auseinandersetzung selbstverständlich nur textimmanent erfolgen kann. Dabei führen sie zehn Argumente ins Feld, die die Richtigkeit ihres Interpretationsansatzes aufzeigen sollen.12 Deren gründliche Erörterung und Widerlegung kann zwar erst im Rahmen einer Interpretation von Met. Z durchgeführt werden, da dazu zahlreiche Stellen im Werk des Aristoteles und natürlich insbesondere innerhalb von Met. Z eingehend untersucht werden müssen, was den Rahmen dieser Schlußüberlegungen sprengen würde. Drei ihrer Argumente jedoch lassen sich bereits auf der Grundlage des bisher Gesagten entkräften. Anhand dieser Argumente wollen wir im folgenden noch kurz die Fruchtbarkeit der Ergebnisse dieser Untersuchung demonstrieren. Ein weiteres Argument, nämlich das erste, bedarf gar keiner wirklichen Widerlegung, weil es in sich widersprüchlich ist. Da selbiges für Frede und Patzig eine zentrale Rolle in ihrer Argumentation spielt, die Widerlegung jedoch vergleichsweise leicht ist, wollen wir es hier ebenfalls knapp behandeln. Wir gehen in der Reihenfolge vor, in der sich die Argumente auch bei Frede und Patzig finden, beginnen also mit dem ersten. Dieses lautet wie folgt: (i) Da ist zunächst die eingangs zitierte Stelle aus Met. Λ 5, in der sich Aristoteles mit aller Klarheit auf die These festzulegen scheint, daß die Ursachen eines Gegenstandes, einschließlich seiner Form, ihm je eigen sind. Modrak hat dieser Interpretation zu entgehen versucht, indem sie annahm, daß das Possessivpronomen (σή bzw. ἐμή) nur auf ὕλη zu beziehen sei; aber der Gedankengang zeigt, daß sich ἥ τε σὴ ὕλη καὶ τὸ εἶδος καὶ τὸ κινῆσαν in 1071a28–29 nicht nur auf die Materie, sondern auf alle Erklärungsprinzipien bezieht, daß sich entsprechend auch das ἐμή in 1071a29 auf sämtliche Erklärungsprinzipien bezieht und daß folglich das Possessivpronomen vor εἶδος und τὸ κινῆσαν nur aus stilistischen Gründen fehlt.13
kartesischem Dualismus, eine andere im materialistischen Monismus, dessen Vertreter die substantielle Einmaligkeit des Menschen selten wirklich aufheben, sondern meist nur aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausklammern. 12 Vgl. Frede/Patzig, a.a.O., Bd. 1, S. 52–54. 13 Ebenda, S. 52.
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5. Abschließende Überlegungen
Daß sich das σή und das ἐμή auch auf εἶδος und κινῆσαν bezieht, zeigt der Gedankengang freilich nur, wenn vorausgesetzt wird, wie das Frede und Patzig tun, daß Aristoteles an der Stelle, auf die hier verwiesen wird14 , zwei verschiedene Eidos-Begriffe verwendet: zunächst meine er nämlich damit den Allgemeinbegriff, danach aber in dem von ihnen wörtlich zitierten Passus die davon zu unterscheidende Form. Daß Aristoteles aber tatsächlich zwei verschiedene Eidos-Begriffe in ein und demselben Satz verwendet, belegen sie auf der Grundlage der Annahme, daß sich das σή und das ἐμή auch auf εἶδος und κινῆσαν beziehen.15 Das Argument beruht also auf einem klassischen Zirkelschluß und ist damit wertlos. Folglich ist die Annahme von Modrak16 nicht widerlegt; sie ist auch m.E. vollkommen richtig. Aristoteles hat nämlich die Form explizit von der Verschiedenheit dessen, was zu einer Form gehört, ausgenommen.17 Daß es sich hierbei um einen anderen Formbegriff handelt als ein paar Wörter im selben Satz (!) später, ohne daß Aristoteles dies auch nur andeuten würde, und sei es noch so kurz, scheint mir eine vollkommen abenteuerliche Hypothese zu sein. Die Worte ἥ τε σὴ ὕλη καὶ τὸ εἶδος καὶ τὸ κινῆσαν, die oben von Frede und Patzig wörtlich zitiert werden, sollen nur die vier Ursachen, die Aristoteles unterscheidet, in Erinnerung rufen, wobei die Zielursache mit der Form zusammenfällt. Unter diesen Prinzipien des je Einzelnen (καθ᾽ ἕκαστον) 18 ist eben die Materie für die Verschiedenheit verantwortlich, die anderen beiden können durchaus identisch sein, nämlich die Form bei allem, was zur selben Art gehört, und die erste Bewegungsursache bei allem, was eben dieselbe Bewegungsursache hat, wie z. B. Geschwister. Würde man diese Aufzählung aber im Sinne von Frede und Patzig interpretieren, so würde Aristoteles nicht nur behaupten, daß alles Einzelne eine eigene Form, sondern auch eine eigene erste Bewegungsursache habe, was absurd wäre. Soviel also zum ersten Argument, dem Frede und Patzig offenbar sehr viel Gewicht beimessen. Daran schließt sich das zweite Argument an, das wir aufgrund des vorläufigen Ergebnisses unserer Untersuchung zurückweisen können:
Vgl. Met. Λ 5, 1071a 27–29. Vgl. Frede/Patzig, a.a.O., Bd. 1, S. 48 f. 16 Vgl. D. K. Modrak: „Form, Types, and Tokens in Aristotle’s Metaphysics“, in: Journal of the History of Philosophy 17 (1979), S. 371–381, S. 376. 17 Vgl. Met. Λ 5, 1071a27. 18 Vgl. 1071a28. 14
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5. Abschließende Überlegungen
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(ii) Aristoteles bezeichnet die Form wiederholt als ein „Dies von der Art“ (τόδε τι, Λ 8, 1017b25; H 1, 1042a29; Θ 7,1049a35, Λ 3, 1070a11 und a13; De gen. et corr. A 3, 318b32, vgl. auch Z 3, 1029a28–29). Ein „Dies von der Art“ aber ist nach Aristoteles ein Individuum und der Zahl nach eines (vgl. Cat. 5, 3b10–14). Folglich ist die Form ein Individuum und dem eigen, dessen Form sie ist.19
Auf die Stellen, die hier als Belege angeführt werden, muß nicht im einzelnen eingegangen werden, da der Umstand, daß Aristoteles die Form wiederholt als τόδε τι bezeichnet, nicht in Zweifel gezogen wird. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Form ein Individuum im Sinne eines Einzelnen ist. Der Grund dafür ergibt sich aus der Erörterung des τόδε τι in der vorliegenden Arbeit. Es handelt sich beim τόδε τι nämlich, wie wir festgestellt haben, um einen reinen Relationsbegriff, der nicht inhaltlich festgelegt ist, sondern nur das erste und damit unteilbare (in diesem Sinne also individuelle) Zugrundeliegende ausdrückt, das selbst von nichts anderem mehr prädiziert wird. In der Kategorienschrift freilich ist dieses erste Zugrundeliegende das je Einzelne. Später rechnet er jedoch zu diesem ersten Zugrundeliegenden, wie wir gesehen haben, auch die Form, und zwar nicht als einen bloßen Teil desselben, sondern als das ein Einzelnes allererst als solches konstituierende Moment. Denn es ist das Mensch-Sein, das nicht nur macht, daß etwas ein Mensch ist, sondern auch, daß ein Mensch-Seiendes überhaupt ein Seiendes ist. In gewisser Weise ist das Mensch-Sein daher auch, wie schon gesagt wurde, mit dem Menschen selbst und somit die Form mit dem Seienden identisch, denn das Mensch-Sein ist das, was den Menschen als Menschen ausmacht und ohne welches er nicht nur kein Mensch, sondern überhaupt nicht wäre. So ist z. B. auch die Gestalt einer Statue in gewisser Weise die Statue selbst, denn diese Gestalt ist es, die die Statue als solche ausmacht; hätte sie eine andere Gestalt, so wäre sie auch etwas anderes, oder genauer gesagt, die Statue gäbe es dann gar nicht, sondern etwas anderes. Allerdings ist die Form alles Gewordenen und Vergänglichen teilweise unbestimmt, so daß solche Formen immer der Ergänzung durch eine Materie bedürfen um ein Seiendes zu konstituieren. Dies kann man sich wieder an der Gestalt der Statue deutlich machen. Auch diese ist nämlich ergänzungsbedürftig, da sie z. B. hinsichtlich Ort, Farbe, Größe usw. nicht bestimmt ist. Sie muß daher erst aus einem Material, das in all diesen Hinsichten bereits akzidentell bestimmt und zugleich
Vgl. Frede/Patzig, a.a.O., Bd. 1, S. 52.
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5. Abschließende Überlegungen
fähig ist, die Form aufzunehmen, gebildet werden. Somit ist die Form zwar ein τόδε τι, also etwas Individuelles, nicht jedoch etwas Einzelnes. Mithilfe derselben Argumentation können auch noch zwei weitere Argumente von Frede und Patzig zurückgewiesen werden, nämlich zum einen das dritte: (iii) Aristoteles bezeichnet die Form wiederholt als letztlich Zugrundeliegendes (Z 3, 1029a3; H 1, 1042a28–29). Als letztlich Zugrundeliegendes kommen aber nur Individuen in Frage.20
Zum anderen das fünfte: (v) Aristoteles spricht wiederholt so, als sei der einzelne Gegenstand in gewisser Hinsicht die Form des Gegenstandes, das Lebewesen die Seele des Lebewesens (vgl. Z 10, 1035a7–9; 1036a16–19; Z 11, 1037a7–9; H 3,1043a29–b4). Dies aber ist nur möglich, wenn es sich bei der Form um ein Individuum handelt. Aristoteles spricht auch so (vgl. Z 6), als sei das „Was es heißt, dies zu sein“ in gewisser Hinsicht mit der Sache selbst identisch. Dies aber kann es nur sein, wenn es selbst ein Individuum ist. Wenn aber das „Was es heißt, dies zu sein“ mit der Form Identisch ist, muß auch die Form ein Individuum sein.21
Der Textbefund ist zwar auch hier jeweils nicht in Zweifel zu ziehen, ebensowenig treffen jedoch wieder die Schlußfolgerungen zu. So ist die Form nämlich als das, was ein Zugrundeliegendes ausmacht, selbst mit dem Zugrundeliegenden bzw. dem Gegenstand zwar in gewisser Weise identisch, nicht jedoch schlechthin. Ebenso ist die Form zwar mit dem τὶ ἦν εἶναι und dieses mit der Sache selbst, also dem Einzelnen, identisch, das bedeutet jedoch nicht, daß die Form auch selbst ein Einzelnes sein muß. Der Unterschied zwischen dem Seienden und dem dieses konstituierenden Sein ist eben, wie gesagt, nur sekundär. Er ergibt sich nur bei dem Vergänglichen, weil hier das formale Sein alleine kein Seiendes bestimmen kann und deshalb eines anderen bedarf, an dem es in Erscheinung treten kann. Damit wollen wir es an dieser Stelle bewenden lassen. Der Behauptung, daß die Form etwas Einzelnes sei, ist daher die von Aristoteles selbst explizit und ganz unzweideutig zum Ausdruck gebrachte und von Mary Louise Gill mit Recht betonte Identität von Form und proximater, d. h. funktionaler Materie entgegenzuhalten.22 Dies darf allerdings nicht als Gegenargument gegen die Akzidenztheorie der Form Vgl. Frede/Patzig, a.a.O. Ebenda, S. 53. 22 Vgl. Met. H 6, 1045b 17–23; siehe dazu und zum Nachfolgenden auch die Einleitung. 20 21
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mißverstanden werden. In Wahrheit nämlich sind beide zentralen Einsichten vollkommen miteinander verträglich und die Annahme eines Bruches im Denken des Aristoteles zwischen Met. Z und H 1–5 auf der einen und Met. H 6 und Θ auf der anderen Seite23 ist völlig unnötig. Es gibt hier keine Alternative zwischen Persistenz der Materie im Werdens prozeß und vertikaler bzw. definitorischer Einheit des fertigen Seienden, wie das Gill behauptet. Denn die Persistenz der Materie gefährdet in keiner Weise die Einheit des Seienden. Die Materie nämlich ist immer nur dem Vermögen nach, weil das, was bei ihr jeweils der Form analog ist, rein für sich keine Einheit konstituieren kann. Alles Homoiomere (z. B. Wasser, Luft, Blut, Fleisch) ist daher immer ein Kontinuum und damit unaufhebbar Vieles; es ist somit hinsichtlich seiner selbst auch gar kein Seiendes im eigentlichen Sinne. Unter Vermögen darf hier aber keine bloß logische Möglichkeit verstanden werden, sondern eine Kraft, die sich in einem Seienden manifestieren will. Hebt man außerdem die Persistenz der Materie auf, so muß man zugestehen, daß aus einem schlechthinnigen Nichts doch etwas werden kann, woran auch die Kontinuität von Eigenschaften im Sinne einer „generischen Materie“ nichts zu ändern vermag, da Eigenschaften nur persistieren können, wenn das erhalten bleibt, wovon sie Eigenschaften sind. Damit aber befände man sich, wie die Analyse von Phys. A 6–7 gezeigt hat24 , im klarsten Widerspruch zu Aristoteles. Dem scheint die bekannte Stelle Met. H 5, 1044b 21–29 zu widersprechen, an der Aristoteles sagt, daß die Formen ohne Werden oder Vergehen sind und nicht sind. Damit ist allerdings keinem übergangslosen Entstehen von numerisch unterschiedenen Formen aus nichts und Vergehen zu nichts das Wort geredet. Gemeint ist vielmehr, entsprechend dem von Aristoteles vorausgesetzten Zusammenhang von Sein und Erscheinen, daß sich eine Form entweder an einer Materie manifestiert oder nicht manifestiert. Denn da sich bereits im Werden eines Seienden dessen Form äußert, würde es ein Werden des Werdens geben und so in infinitum, wenn auch noch einmal die Form selbst würde. Die Form selbst ist dennoch ewig, auch die des vergänglichen Seienden, letztere muß sich jedoch an anderem manifestieren, nämlichen der Materie, und tut dies auch unausgesetzt. Sie ist daher, nämlich in einer bestimmten Materie, oder ist nicht, nämlich wiederum in einer Materie.25 Vgl. Gill: „Aristotle on Substance and Predication“, a.a.O., S. 514. Siehe Abschnitt 4.3.2. 25 Vgl. dazu auch Met. Z 8, 1033b 5–8. 23 24
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5. Abschließende Überlegungen
Aber auch wenn man all dies zugestehen wollte, so bliebe doch immer noch die Frage, wie die Form weder Allgemeines noch Einzelnes sein kann. Ist das nicht blanker Unsinn, da dieser Gegensatz doch eine vollkommene Disjunktion darstellt? Gerade die Vollständigkeit der Disjunktion muß man jedoch, wie mir scheint, in Zweifel ziehen. Dazu mache ich folgenden Vorschlag: Ein A ist nur dann etwas Einzelnes, wenn es abzählbar und dadurch allein (und nicht etwa durch seinen Logos) eindeutig und schlechthin als eines bestimmbar ist. Abzählbar in diesem Sinne ist ein A aber nur, wenn es ein Fall von A ist, weshalb man auch sagen könnte, daß numerische Identität, numerische Pluralität voraussetzt. Dies ist der Fall, wenn es sich bei A um ein sogenanntes sortales Universale bzw. einen sortalen Term handelt, d. h. um ein Prädikat, daß die Zählbarkeit dessen, wovon es ausgesagt wird, gewährleistet: „A sortal universal supplies a principle for distinguishing and counting individual particulars which it collects.“26 Sokrates z. B. ist ein Mensch und insofern ein Fall von Mensch, „Mensch“ nämlich ist ein sortaler Term. Sortale Terme wie „Mensch“ bezeichnen also immer ein Seiendes im allgemeinen, nämlich die Spezies. Daraus ergibt sich, daß Einzelnes immer die Instantiierung eines Seienden im allgemeinen ist: „Um Gegenstand im vollgültigen Sinne (d. h. individuierbar, identifizierbar, zählbar usw. zu sein) sein zu können, [sic!] muß einerseits der einzelne Gegenstand Instanz einer Art sein.“27 Seiendes im allgemeinen liegt aber auch umgekehrt nur da vor, wo etwas (zumindest der Möglichkeit nach) eine Vielzahl von abzählbaren Einzelfällen unter sich begreift: „Andererseits muß die Art, um Art zu sein, wenigstens prinzipiell instantiierbar sein und dafür kommen im Fall sortaler Terme nur Gegenstände in Frage, die Exemplar dieser Art sind und nicht – wie im Fall attribuierender Terme – Gegenstände einer anderen Art.“28 Daher setzt nicht nur numerische Identität numerische Pluralität voraus, sondern auch umgekehrt numerische Pluralität numerische Identität. Beide Begriffe bestimmen sich also wechselseitig, ähnlich wie die Begriffe „Berg“ und „Tal“, daher kann das durch diese Begriffe Bezeichnete immer nur gemeinsam auftreten. Was dagegen nicht ein Fall von irgendetwas ist, das kann auch nicht abgezählt werden; ihm kann somit auch keine numerische Identität zu Peter F. Strawson: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1965, S. 168. Vgl dazu auch Christof Rapp: Identität, Persistenz und Substantialität, a.a.O., S. 189–193. 27 Vgl. Rapp, Identität, Persistenz und Substantialität, a.a.O., S. 428. 28 Vgl. ebenda. 26
5. Abschließende Überlegungen
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kommen und bei seiner Benennung kann es sich nicht um einen sortalen Term und damit um eine Spezies handeln. Auf diese Weise gekennzeichnet ist zunächst jede homoiomere Materie, also das, was Aristoteles „erstes Material“ nennt. Denn zum einen kommt keiner solchen Materie eine numerische Identität zu, da sie ja in der Teilung als sie selbst erhalten bleibt; der Wassertropfen hier ist nicht weniger Wasser als der Wassertropfen dort, und auch wenn man die Tropfen in eine Petrischale träufelte, bliebe der dann größere Tropfen eben Wasser. Die Materie ist zum anderen auch nichts Allgemeines, denn da es kein einzelnes Wasser gibt, kann es auch kein allgemeines geben. Jedes Allgemeine muß ja, wie wir soeben gesehen haben, durch eine Vielzahl von Einzelfällen instantiiert werden können. Der Wassertropfen ist aber kein solcher Einzelfall, da seine Einheit ganz äußerlich ist und dem Wasser, das nach Aristoteles hinsichtlich seiner selbst ein reines Kontinuum ist, nur akzidentell zukommt. Die Materie ist jedoch nicht der einzige Fall von etwas, das weder etwas Allgemeines noch etwas Einzelnes ist. Genau dies trifft nämlich z. B. auch auf das Mensch-Sein zu, also auf das, worin für einen Menschen das Sein besteht (τὸ ἀνθρώπῳ εἶναι), denn es ist kein Fall von irgendetwas. Es ist keine bloße Instantiierung etwa des Lebewesen-Seins, weil sich beide hinsichtlich ihres Logos unterscheiden. Es ist aber auch nichts Allgemeines, weil ihm nichts als Einzelfall subsumiert werden kann. Das Mensch-Sein des einzelnen Menschen hier ist mit dem des einzelnen Menschen dort wie auch mit dem des Menschen im allgemeinen vollkommen identisch. Wie im Verlauf dieser Untersuchung zudem deutlich geworden sein sollte, handelt es sich beim Mensch-Sein (τὸ ἀνθρώπῳ εἶναι) aber um die Form und Seiendheit des Menschen. Dies bestätigt auch ein Blick auf Met. Z. Zumindest also die Formen, die nicht mit dem von ihnen begründeten Seienden schlechthin identisch sind, sind weder etwas Allgemeines noch etwas je Einzelnes. Damit dürfen wir uns aber nicht begnügen, denn die Charakteristika, die soeben den Formen im Bereich des vergänglichen Seienden zugesprochen wurden, treffen auf alle Formen zu. Auch der göttliche νοὖς beispielsweise ist kein Fall von irgendetwas, er ist schließlich in jeder Hinsicht mit seinem Sein und damit seiner Form identisch, weshalb es hier keine Unbestimmtheit gibt, die von unterschiedlich lokalisierter Materie bzw. Materiestücken „aufgefüllt“ werden kann. Es handelt sich also auch beim göttlichen νοὖς weder um etwas Allgemeines noch um etwas Einzelnes. Diese Schlußfolgerung ist nun in der Tat überraschend und
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5. Abschließende Überlegungen
scheint vollkommen kontraintuitiv zu sein. Sollte Gott nicht etwas Einzelnes sein? Wir müssen uns hier jedoch vor allzu voreiligen Schlüssen in Acht nehmen, um nicht einer Mehrdeutigkeit unserer Sprache aufzusitzen. Der Ausdruck „Gott“ nämlich wird von uns einmal als Art-Begriff bzw. sortaler Term gebraucht und einmal als Eigenname. Das sind aber noch nicht alle Bedeutungen, denn man muß auch noch eine dritte hinzufügen, die womöglich sogar die älteste ist: als Gott wurde und wird, wie mir scheint, auch eine Gewalt bezeichnet, der der Mensch prinzipiell (nicht nur faktisch) vollkommen ausgeliefert ist, die aber dennoch nicht einfach in einem blinden Wüten aufgeht, sondern etwas ist, an das wir uns bittend und flehend wenden können. Ein Gott in diesem Sinne ist also etwas, das über uns schlechthin verfügen kann und demgegenüber wir vollkommen ohnmächtig sind, das uns aber zugleich auch sein Antlitz zuwenden, uns erhören kann (aber nicht muß).29 Wenn der göttliche νοῦς nun nur ein Gott wäre unter vielen (bloß möglichen oder auch tatsächlich wirklichen) Göttern und „Gott“ dabei eine Spezies bezeichnete wie auch der Ausdruck „Mensch“, dann wäre der νοῦς freilich etwas Einzelnes, er müßte dann aber auch Materie und damit einen Körper besitzen und veränderlich sein, da er sich nur so als Seiendes von seinem Sein unterscheiden kann. Dies trifft auf den göttlichen νοῦς aber nicht zu.30 Wird „Gott“ aber als Eigenname verwendet, dann scheint das vorauszusetzen, daß es sich bei ihm um etwas Einzelnes handelt, denn Eigennamen benennen Einzelnes. Das ist aber nicht die einzige Weise, wie wir Eigennamen verwenden, wir gebrauchen sie nämlich auch um Personen anzusprechen. In dieser Verwendung wird, wie mir scheint, nur vorausgesetzt, daß Gott eine Person ist, nicht daß er auch etwas Einzelnes ist, es sei denn, man würde die Person von vorneherein als einen speziellen Fall von Einzelding auffassen, was m.E. nicht notwendig ist. Die letzte oben genannte Bedeutung des Ausdrucks „Gott“ schließlich, die mir die älteste und ursprünglichste zu sein scheint, ist ein reiner Relationsbegriff, bestimmt also das so Bezeichnete auch nicht hinsichtlich seiner selbst, zumindest nicht unmittelbar.
In diesem Sinne, scheint mir, wird in der Bibel von JHWH gesagt, daß er ein Gott der Götter sei (vgl. Dtn. 10, 17 u.ö.) Diese Wendung ist daher nicht Ausdruck eines polytheistischen Weltbildes, sondern genau das Gegenteil. Sie spricht JHWH alle Macht und damit auch alle Göttlichkeit zu: nur er ist wahrhaft Gott. 30 Vgl. Met. Λ 6, 1071b 20–22. 29
5. Abschließende Überlegungen
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Wenn Aristoteles nun den göttlichen νοῦς als Gott neben anderen Göttern (z. B. den Seelen der Planetensphären) bezeichnet31, so denkt er hier nicht an eine bestimmte Art, er verwendet aber die Bezeichnung „Gott“ auch nicht als Eigenname, weder im ersten noch im zweiten Sinne. Sein Gottesbegriff ist von der dritten Bedeutung abgeleitet. Freilich kann man den Gott und die Götter des Aristoteles um nichts bitten, dies aber deshalb, weil man es auch gar nicht nötig hat: die Götter sind Prinzipien vollkommener Ordnung. Sie haben aber dennoch Gewalt über anderes und am meisten Gewalt übt der höchste Gott aus, der νοῦς. Diese Gewalt ist aber durch und durch vernunftförmig, es ist das Walten der Vernunft selbst. Daher ist der νοῦς, selbst wenn er ein Gott unter Göttern ist, nicht ein Fall von Gott, denn „Gott“ ist hier nur Relationsbegriff. Hinsichtlich seiner selbst ist der höchste Gott vielmehr reines Sein. Allerdings kein Sein überhaupt, welches es nicht gibt, sondern ein ganz bestimmtes Sein, nämlich das vollkommenste schlechthin: νόησις νοήσεως. Woran kann es nun liegen, daß dieses reine Sein, obwohl es doch sicherlich, ja sogar mehr als alles andere eines ist, nichts Einzelnes darstellt? Nach den bisherigen Überlegungen dürfte der Grund dafür, darin zu suchen sein, daß von dem vollkommenen Sein selbst niemals ein Seiendes unterschieden werden kann. Daraus läßt sich folgern, daß diese Differenz umgekehrt gerade dafür verantwortlich ist, daß etwas ein Einzelnes ist. Einzelnes kann dann nur sein, was aus Form und Materie zusammengesetzt ist, denn nur bei diesem treten Sein und Seiendes auseinander. Die Materie, die selbst nichts Einzelnes oder Allgemeines, ja hinsichtlich ihrer selbst noch nicht einmal ein (aktual) Seiendes ist, stellt also, wenn dies alles richtig ist, den Grund dafür dar, das etwas, was durch seine Form eines ist, zu einem Einzelnen wird. Welches Charakteristikum der Materie kann dafür verantwortlich sein? Wie wir gesehen haben, ist die Materie hinsichtlich ihrer selbst unaufhebbar vieles, da sie ein reines Kontinuum darstellt. Das war ja auch der Grund dafür, daß sie weder als Allgemeines noch Einzelnes bezeichnet werden kann, diese müssen nämlich immer diskret und damit abzählbar sein. Die Abzählbarkeit selbst und damit auch die numerische Pluralität und Identität beruhen aber gerade auf der kontinuierlichen und unaufhebbaren Pluralität der Materie, denn formal Identisches läßt sich nur in einem kontinuierlichen Medium unterscheiden, wie etwa zwei Punkte im Raum. Zwar Vgl. Met Λ 8, 1073a 14 – 1074b 14 und Λ 9, 1074b 15 f.
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5. Abschließende Überlegungen
können z. B. zwei Menschen nur anhand ihrer akzidentellen Bestimmungen auseinandergehalten werden, diese stellen jedoch nicht das Prinzip der Partikularität selbst dar, weil sie letzteres bereits voraussetzen: zwei Menschen können nur deshalb unterschiedliche Eigenschaften haben, weil sie verschieden sind. Die unterschiedlichen Eigenschaften stellen also nur ein Erkenntnisprinzip dar. Der Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen bezieht sich demnach nur auf Seiendes, insofern dieses Materie hat und so von seinem wesentlichen Sein unterschieden werden und uns gegenständlich gegeben sein kann, nicht jedoch auf das Sein selbst oder auf das Seiende, insofern es mit seinem Sein identisch ist. Die Form ist in der reifen Ontologie des Aristoteles aber ein reines Sein, daher ist das Begriffspaar des Allgemeinen und des Einzelnen darauf nicht anwendbar.
6. Abkürzungen Aristoteles Cael. De caelo Cat. Kategorien EN Nikomachische Ethik De generatione animalium Gen. an. Gen. corr. De generatione et corruptione Historia animalium Hist. an. Met. Metaphysik Phys. Physik Top. Topik
Platon Apol. Apologie des Sokrates Phaid. Phaidon Rep. Res publica (Politeia) Theait. Theaitetos
Sonstiges CP De carn. DK HP LSJ
Theophrast: De causis plantarum Pseudo-Hippokrates: De carnibus Diels/Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker Theophrast: Historia plantarum Liddell/Scott/Jones: A Greek-English Lexicon [Zahl hinter Abk. = Seitenzahl]
Die Zitierweise folgt dem jeweiligen Standard. Für die vollständigen Literatur angaben siehe das Literaturverzeichnis.
7. Verwendete Literatur A) Editionen antiker Texte a) Aristoteles Aristoteles: Aristotelis De caelo libri quattuor, hrsg. v. D.J. Allan, Oxford 1936. Ders.: Aristotle’s Physics. A Revised Text with Introduction and Commentary, hrsg. u. komm. v. W.D. Ross, Oxford 1936. Ders.: Aristotelis Categoriae et Liber de interpretatione, hrsg. v. Lorenzo Minio-Paluello, Oxford 1949 (Oxford Classical Texts). Ders.: Aristotelis Ethica Nicomachea, hrsg. v. I. Bywater, Oxford 141962 (Oxford Classical Texts). Ders.: Aristotelis Topica et Sophistici elenchi, hrsg. v. W.D. Ross, Oxford 21963 (Oxford Classical Texts). Ders.: Aristotelis De generatione animalium, hrsg. v. H.J. Drossaart Lulofs, Oxford 1965 (Oxford Classical Texts). Ders.: Aristotle’s Metaphysics. A Revised Text with Introduction and Commentary, 2 Bd., hrsg. u. komm. v. W.D. Ross, Oxford 1970. Ders.: Aristotelis Metaphysica, hrsg. v. Werner Jaeger, Oxford 81985 (Oxford Classical Texts). Ders.: Historia animalium. Volume I: Books I–X. Text, hrsg. v. D.M. Balme/ Allan Gotthelf, Cambridge 2002. Ders.: De la génération et la corruption, hrsg. u. übers. v. Marwan Rashed, Paris 2005.
b) Andere antike Autoren Alexander von Aphrodisias: Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria, hrsg. v. Michael Hayduck, Berlin 1891 (Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 1). Antiphon der Sophist: The Fragments, hrsg., übers. u. komm. v. Gerard J. Pendrick, Cambridge 2002. Cicero: M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia, Bd. 44: Tusculanae Disputationes, hrsg. v. M. Pohlenz, Stuttgart 1965. Diverse Autoren: Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., hrsg. v. Hermann Diels/ Walther Kranz, Berlin 121966.
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7. Verwendete Literatur
Diverse Autoren: Das neue Testament. Griechisch und Deutsch, hrsg. v. Barbara Aland/Kurt Aland, Stuttgart 42003. Hesiod: Hesiodi Theogonia, Opera et dies, Scutum, Fragmenta selecta, hrsg. v. Friedrich Solmsen/R. Merkelbach/M.L. West, Oxford 21983. Hippokrates: Des lieux dans l’homme. Du système des glandes. Des fistules. Des hémorroides. De la vision. Des chairs. De la dentition, hrsg. u. übers. v. Robert Joly, Paris 1978 (Hippocrate, Bd. 13). [Enthält De carnibus.] Johannes Philoponos: Ioannis Philoponi in Aristotelis De anima Commentaria, hrsg. v. Michael Hayduck, Berlin 1897 (Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 15). Platon: Platonis Opera, 5 Bde., hrsg. v. John Burnet, Oxford 1900–1907 u. ö. Theophrast: De causis plantarum. Book One, hrsg., übers. u. komm. v. Robert Ewing Dengler, Philadelphia 1927. Ders.: Recherches sur les plantes, 3 Bde., hrsg. u. übers. v. Suzanne Amigues, Paris 1988–1993. [= Historia Plantarum.]
B) Sekundärliteratur a) Kommentare und Übersetzungen zu Aristoteles Aristoteles: Aristotle’s Physics. A Revised Text with Introduction and Commentary, hrsg. u. komm. v. W.D. Ross, Oxford 1936. Ders.: Aristotle’s Categories and De Interpretatione, übers. u. komm. v. J.L. Ackrill, Oxford 1963. Ders.: Aristotle’s Metaphysics. A Revised Text with Introduction and Commentary, 2 Bd., hrsg. u. komm. v. W.D. Ross, Oxford 1970. Ders.: Aristotle’s Physics. Books I and II, übers. u. komm. v. W. Charlton, Oxford 1970, S. 129–145. Ders.: Aristotle’s De Generatione et Corruptione, übers. u. komm. v. C.J.F. Williams, Oxford 1982. Ders.: Kategorien, übers. u. komm. v. Klaus Oehler, Darmstadt 1984 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 1/1). Ders.: Kategorien u.a., übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg 1995 (Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 1). Ders.: Physikvorlesung, übers. u. komm. v. Hans Wagner, Berlin 51995 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 11). Ders.: Die Kategorien. Griechisch/Deutsch, hrsg. u. übers. v. Ingo W. Rath, Stuttgart 1998. Ders.: Metaphysik. Bücher VII und VIII, hrsg., übers. u. komm. v. Wolfgang Detel, Frankfurt a. Main. 2009 (Suhrkamp Studienbibliothek, Bd. 17). Ders.: Über Werden und Vergehen, übers. u. komm. v. Thomas Buchheim, Berlin 2010 (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 12/4). Bonitz, Hermann: Aristotelis Metaphysica, Bd. 2 : Commentarius, Bonn 1849.
B) Sekundärliteratur
339
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7. Verwendete Literatur
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c) Sonstiges Bonitz, Hermann: Index Aristotelicus, Graz ²1955. Frisk, Hjalmar: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1: Α – Κο, Heidelberg 1960. Ders.: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2 : Κρ – Ω, Heidelberg 1970. Liddell, Henry George/Scott, Robert/Jones, Henry Stuart: A Greek-English Lexicon, Oxford 91940 u.ö.
8. Sach- und Personenregister Ackrill, J.L. 37, 42, 50 f., 56, 69 f., 73, 85, 96 f. Akzidenz/(akzidentelle) Eigenschaft/ akzidentelle Bestimmung 9–11, 18, 20 f., 24, 48–64, 66, 74–77, 80 f., 103, 110 f., 113, 119–121, 140, 177, 181, 221, 257, 260, 263 f., 268, 271, 276, 283, 288–292, 296, 299, 316, 321–324, 328 f., 334 – individuelle Eigenschaft 49–51, 57, 59 f., 62–64, 66 Alexander von Aphrodisias 142, 224 Allgemeines (καθόλου) 2, 5, 7, 9, 29, 32, 57 f., 63 f., 70, 76, 86 f., 94 f., 106, 108, 121 f., 171, 257, 259, 274, 299, 312, 321–323, 330 f., 333 f. Althoff, Jochen 126 f. Anaxagoras 246, 268 f., 271 f. Antiphon der Sophist 155–168, 178, 198 Artefakt 129, 140, 142–145, 147 f., 150–156, 162 f., 166 f., 177, 179, 192, 196 f., 239, 260, 263 f., 290, 302, 306–309 Aussagen/Aussage (λέγεσθαι/λόγος) – Aussagen als Offenbarmachen (δηλοῦν) des Seins eines Seienden 46, 72, 74, 100, 107, 209, 220, 232, 257 – definierende Aussage (s. Defini tion) – identifizierendes und nicht-identifizierendes Aussagen 42–46, 53 f., 60, 65, 74 f., 82–86, 95, 101, 103,
105–108, 111, 118, 120, 256–258, 260 f., 276 f., 321 f. – synonymes und paronymes Aussagen (s.a. Synonymität und Paronymität) 34f., 38, 42, 44–48, 54, 62–64, 71, 74, 83f., 105–107, 120, 257, 261, 264, 276 bestimmtes Das-und-das (τόδε τι) 46, 67, 76, 87–96, 98–101, 103 f., 121, 296–299, 308 f., 320, 327 f. Binnendifferenzierung/Binnenstruktur 68, 120, 122, 307, 320 f. Bonitz, Hermann 137 Buchheim, Thomas 279, 281 Burnyeat, Myles 1 Code, Alan 122 Definition 21, 25–28, 36, 38, 40 f., 46–48, 53 f., 58, 66, 69, 74 f., 77 f., 81–83, 85 f., 108, 110, 121, 126, 258, 260 f., 286–288, 311 Detel, Wolfgang 5 Diels, Hermann 227 f., 308 Driscoll, John A. 5 f. Dupréel, Eugène 32 Einzelnes (καθ ̓ ἕκαστον) 2, 4, 7–9, 28 f., 34, 57 f., 62–65, 70, 72, 76–82, 84, 87, 93–95, 98 f., 101–104, 106 f., 109, 111 f., 114, 118–122, 170–172, 175, 185, 205 f., 220, 231, 256 f., 259, 263, 274, 276–278, 284, 301, 312, 320–328, 330–334
344
8. Sach- und Personenregister
Elemente (στοιχεῖα) 141, 149, 155, 161, 168–171, 175 f., 178, 181 f., 194, 198 f., 201, 271 f., 278–281, 283, 297, 299, 310 f. Empedokles 135, 154, 172, 176, 178, 194, 199, 271, 280 Entelechie (ἐντελέχεια) 12, 16, 19, 205, 208, 212, 224–233, 235–237, 239 f., 244 f., 251, 260 f., 266, 304, 315, 320, 322 f. Epikur 194 Frede, Michael 7 f., 11, 33, 50 f., 89, 324–328 Frisk, Hjalmar 225, 228 Form (εἶδος) – Akzidenztheorie der Form/Form als Akzidenz der Materie 9–11, 260, 264, 268, 299, 321 f., 328 – Form als essentielle Beschaffenheit 102–110 – Form und Spezies 4–9, 11, 185, 330–332 – Form weder Allgemeines noch Einzelnes 259, 321 f., 330–334 – individuelle Form 8 f., 11, 65, 223, 323 f. Gattung (γένος) 5, 26, 38, 43, 46 f., 53 f., 63–69, 71, 73–82, 84, 87, 92–94, 98, 101, 103, 107, 232, 235, 237, 258, 260, 269 f., 275, 282 f., 293 Gill, Mary Louise 10–12, 196, 310, 328 f. Gillespie, C.M. 27 Gott/göttlich 57, 129, 161, 193–195, 242, 315, 322, 331–333 Happ, Heinz 11, 123 Hartmann, Nicolai 214, 216 Heidegger, Martin 130, 173 Heraklit 154, 278 Hesiod 27, 243 Hippokrates 158, 161 f., 167
Homer 135 Homonymität 10, 36–39, 43 f., 65, 173, 203, 301 Husserl, Edmund 57 Hylemorphismus 124, 240 Individuum/Individuelles/individuelles Seiendes 8, 34, 44 f., 50, 60, 65, 67, 70, 185–188, 204 f., 210, 223, 234, 254 f., 294, 309, 327 f. Jaeger, Werner 1, 3 f., 32, 144–146, 241 Kategorie 20 f., 26 f., 33–35, 62, 66, 78, 93, 107, 109–112, 220, 232, 265, 269 f., 276, 296 – Größe (ποσόν) 42, 58, 61 f., 78, 86, 109, 132, 134, 137–139, 171, 237, 293, 303, 327 – Kategorie der Seiendheit/Substanz/ erste Kategorie (s.a. Seiendheit/ Substanz) 26, 38, 65, 70, 72, 78, 93–95, 104, 110, 175, 275, 299, 301, 311 – Ort (πού) 22, 35, 52 f., 62, 78, 111, 140 f., 149, 171, 181, 185, 201, 234 f., 304 f., 327 – Qualität/Beschaffenheit (ποιόν) 21, 26, 42, 44, 60, 62, 75, 78, 103–110, 109, 134, 201, 237, 265 – Relation (πρός τι) 26, 42, 44, 58, 62, 265 King, Hugh R. 154, 278 Konkretum 9, 185, 320 Loux, Michael J. 9 f., 12, 321 Mansion, Suzanne 32 f. Marcus Tullius Cicero 226 Materie/Material (ὕλη) – erste Materie/erstes Material (πρώτη ὕλη) 140, 147 f., 150–152, 154, 156, 162, 166, 171, 175, 184,
8. Sach- und Personenregister
189, 196–202, 206, 210, 223, 252 f., 255, 278, 298, 301, 304 f., 308, 310 f., 331 – funktionale Materie/funktional strukturierte Materie 6, 10 f., 147 f., 199 f., 202, 323, 328 – prima materia 151, 154, 189, 196, 201, 278 f., 311 – virtuelle Materie/virtuelles Material 201 f., 204, 206, 210, 223, 311 f. – Materie weder Allgemeines noch Einzelnes 312, 331 – ὕλη νοητή 123, 201 Modrak, D.K. 325 f. Nicht-Seiendes 16 f., 222, 257, 276, 297–299, 313 Oehler, Klaus 51, 68 f., 84, 99 Owen, G.E.L. 3–5, 50, 320 Owens, Joseph 259 Patzig, Günther 7 f., 11, 89, 325 f., 328 Paulus (Apostel) 158 f. Platon 3 f., 27, 32, 70, 79, 87, 98–102, 104, 108, 121–124, 158, 163, 174, 197, 241, 247, 258, 313 Porphyrius 36 Privation (στέρησις) 115, 124, 187 f., 241 f., 247–251, 253, 255 f., 262, 265–268, 270, 272 f., 276, 280–282, 290, 292, 296–298, 300–302, 305, 307, 310–313, 316 f. Rapp, Christof 5, 185, 330 Rath, Ingo W. 89, 99 f. Rolfes, Eugen 89, 99 Ross, W.D. 18–21, 124, 126 f., 135, 137, 143 f., 149, 155, 197, 214, 228, 271, 306, 308
345
Seiendheit/Substanz (οὐσία) – Binnendifferenzierung der ersten Seiendheit (s. Binnendifferenzierung/Binnenstruktur) – erste Seiendheit/Substanz (πρώτη οὐσία) 2, 4, 21, 33 f., 64, 68–71, 73–77, 79 f., 92–95, 99–103, 105–111, 116, 120–122, 171, 223, 256 f., 263, 275 f., 307, 314, 319 f. – individuelle Seiendheit/Substanz 50 f., 56, 58, 61 f., 65–67, 75 Sein des Seienden 16, 22, 71 f., 101, 231 f., 239, 247, 249, 307, 311, 319 Simplicius 36 Sokrates 248 sortaler Term 185, 330–332 Speusippos 36, 39, 44, 124 Strawson, Peter F. 330 Synonymität und Paronymität (s.a. synonymes und paronymes Aussagen) 36–43, 45, 47 Tarán, Leonardo 39 Tätigkeit (ἐνέργεια) 19, 26, 101 f., 140, 164, 207, 222, 230–233, 235–240, 266, 315 f., 323 Thales 154, 268, 278 Theophrast 158, 162 Tugendhat, Ernst 26–29, 91 f. Unterschied (διαφορά) 21, 38, 46, 48, 54, 62–69, 77, 82–87, 111, 258, 260, 264, 298 Vermögen (δύναμις) – aktives und passives Vermögen 149, 151, 223, 249–253, 255, 265–268, 300–302, 304 f., 307, 311, 314, 316 f., 323 – reines, unbestimmtes Vermögen/ reine, unbestimmte Potentialität 267, 278, 312
346
8. Sach- und Personenregister
– Vermögen weder Denkmöglichkeit noch Realmöglichkeit 205, 213–217 Vollrath, Ernst 88 f., 119 Werden/Veränderung/Wandel – relatives Werden/akzidentelles Werden/akzidentelle Veränderung/ akzidenteller Wandel 118 ff., 149, 201, 207, 213, 234, 255, 283, 289–292, 294–296, 298, 302 f., 306, 314
– schlechthinniges Werden/essentieller Wandel 114 ff., 220, 233, 252 f., 255 f., 282–284, 289–299, 302 f., 306, 309 Woods, M.J. 4 f., 320 Zeller, Eduard 3 zugrundeliegende Physis/Natur (ὑποκειμένη φύσις) 241, 309–312, 314