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German Pages 404 [406] Year 2019
BEIHEFTE
Lars Vorberger
Regionalsprache in Hessen Eine Untersuchung zu Sprachvariation und Sprachwandel im mittleren und südlichen Hessen
Germanistik
ZDL
Franz Steiner Verlag
zeitschrift für dialektologie und linguistik
beihefte
178
Lars Vorberger Regionalsprache in Hessen
zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt
band 178
Lars Vorberger
Regionalsprache in Hessen Eine Untersuchung zu Sprachvariation und Sprachwandel im mittleren und südlichen Hessen
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Rahmen der Förderung des Akademievorhabens „Regionalsprache.de“ (REDE) durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Hessen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12363-1 (Print) ISBN 978-3-515-12364-8 (E-Book)
DANKSAGUNG
Das vorliegende Buch ist eine gekürzte und überarbeitete Version meiner Dissertation, die 2017 vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der PhilippsUniversität Marburg angenommen wurde. Danken möchte ich zuerst meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Jürgen Erich Schmidt und Prof. Dr. Roland Kehrein für die Annahme des Themas, die stete Förderung und die umfassende Betreuung der Arbeit. Für jegliche – zum Teil ganz unterschiedliche – Unterstützung danke ich Prof. Dr. Jürg Fleischer (Marburg), Dr. Brigitte Ganswindt (Marburg), Prof. Dr. Joachim Herrgen (Marburg), Dr. Yvonne Hettler (Hamburg), Bettina Kehrein (Marburg), Dr. des. Carolin Kiesewalter (Marburg), Juliane Limper (Marburg), Philipp Lunderstädt (Marburg), Dr. Christoph Purschke (Luxemburg), Victoria Schaub (Marburg), Hanni Schnell (Marburg), Prof. Dr. Ingrid Schröder (Hamburg), Lisa-Marie Smit (Marburg) und Philipp Spang (Köln). Daneben gilt mein Dank den Informanten des REDE-Projekts, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre, sowie dem gesamten Marburger REDE-Team. Für die Förderung der Drucklegung danke ich der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, für die Annahme des Buchs in die Reihe den Herausgebern der „Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik“ und für die Betreuung bei der Publikation dem Franz Steiner Verlag. Für persönliche, moralische und praktische Unterstützung – offene Ohren, Diskussionsfreudigkeit und die aufgebrachte Geduld möchte ich meinem Partner Daniel Schneider und meinen besten Freunden Georg Kyek und Nemanja Novkovic von Herzen danken. Der Dank an meine Eltern, Dagmar und Klaus Vorberger, kann nicht groß genug sein. Sie haben mich stets unterstützt, waren immer für mich da und ohne sie wäre ich kein Hesse/Büdinger geworden. Deshalb möchte ich ihnen und meinen beiden Nichten Hannah und Mia Böning, zwei heranwachsenden Rhein-Main-Sprecherinnen, die Arbeit widmen.
Marburg, im März 2019
Lars Vorberger
INHALTSVERZEICHNIS 1 HINFÜHRUNG .................................................................................................. 11 2 REGIONALSPRACHENFORSCHUNG ........................................................... 15 2.1 Von der traditionellen Dialektologie zur modernen Regionalsprachenforschung ......................................................................... 15 2.2 Die moderne Regionalsprachenforschung .................................................... 18 2.2.1 Entstehung der modernen Regionalsprachen ...................................... 18 2.2.2 Die Theorie der Sprachdynamik.......................................................... 20 2.2.3 Aufgaben der modernen Regionalsprachenforschung ........................ 26 2.3 Regionalsprache.de (REDE) ......................................................................... 26 3 DER HESSISCHE SPRACHRAUM.................................................................. 28 3.1 Definition des hessischen Sprachraums ....................................................... 28 3.2 Geschichte des hessischen Sprachraums ...................................................... 31 3.3 Basisdialekte des untersuchten hessischen Sprachraums ............................. 35 3.3.1 Zentralhessisch .................................................................................... 35 3.3.2 Rheinfränkisch..................................................................................... 37 3.3.3 Frühere Gliederungen .......................................................................... 41 3.3.4 Übergangsgebiet/Frankfurt am Main .................................................. 42 3.3.5 Erforschung der untersuchten Basisdialekte ....................................... 47 3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen im untersuchten hessischen Sprachraum ................................................................................................... 49 3.4.1 Allgemeine Entwicklungen ................................................................. 49 3.4.2 Entwicklungen in den untersuchten Orten .......................................... 61 3.5 Neuere Studien zum hessischen Sprachraum ............................................... 67 3.5.1 Kleine Reihe: Hessische Sprachatlanten ............................................. 67 3.5.2 Perzeptionslinguistische Studien ......................................................... 72 3.5.3 Regionalsprachliches Spektrum in Gießen .......................................... 75 3.5.4 Syntax hessischer Dialekte (SyHD) .................................................... 77 3.5.5 Lautwandel in Frankfurt ...................................................................... 78 3.6 Studien zur Vertikale im Westmitteldeutschen außerhalb des hessischen Sprachraums ................................................................................................. 79 3.7 Zusammenfassung ........................................................................................ 86 4 ANLAGE DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG ...................................... 92 4.1 Fragestellungen ............................................................................................. 92 4.2 Datengrundlage ............................................................................................. 93 4.2.1 Orte ...................................................................................................... 93 4.2.2 Sprecher ............................................................................................... 95 4.2.3 Aufnahmesituationen........................................................................... 96 4.2.4 Aufbereitung ........................................................................................ 98 4.3 Analysemethoden ......................................................................................... 99 4.3.1 Phonetische Dialektalitätsmessung...................................................... 99 4.3.2 Variablenanalyse ............................................................................... 108 4.3.3 Clusteranalyse .................................................................................... 111 4.3.4 Implikationsanalyse ........................................................................... 112
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Inhaltsverzeichnis
4.3.5 Zusammenfassung der Analysemethoden ......................................... 114 4.4 Beschreibung der Variablen ....................................................................... 114 4.4.1 Variablen der Gruppe 1 ..................................................................... 116 4.4.2 Variablen der Gruppe 2 ..................................................................... 121 4.4.3 Variablen der Gruppe 3 ..................................................................... 128 4.4.4 Variablen der Gruppe 4 ..................................................................... 136 5 RHEINFRÄNKISCH........................................................................................ 140 5.1 Reinheim..................................................................................................... 140 5.1.1 Einführung ......................................................................................... 140 5.1.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ................................... 141 5.1.3 Sprachverhalten ................................................................................. 164 5.1.4 Zusammenfassung ............................................................................. 175 5.2 Erbach ......................................................................................................... 176 5.2.1 Einführung ......................................................................................... 176 5.2.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ................................... 177 5.2.3 Sprachverhalten ................................................................................. 188 5.2.4 Zusammenfassung ............................................................................. 199 6 FRANKFURT ................................................................................................... 200 6.1 Einführung .................................................................................................. 200 6.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ............................................ 202 6.2.1 Empirische Analysen ......................................................................... 202 6.2.2 Theoretische Analysen ...................................................................... 212 6.2.3 Zusammenführung............................................................................. 213 6.3 Sprachverhalten .......................................................................................... 214 6.3.1 LIESEL CHRIST ................................................................................... 214 6.3.2 FALT1 ............................................................................................... 215 6.3.3 F1 ....................................................................................................... 218 6.3.4 F4 ....................................................................................................... 220 6.3.5 FJUNG1............................................................................................. 223 6.3.6 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich ............................ 225 6.4 Zusammenfassung ...................................................................................... 227 7 ZENTRALHESSISCH ..................................................................................... 228 7.1 Ulrichstein .................................................................................................. 228 7.1.1 Einführung ......................................................................................... 228 7.1.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ................................... 229 7.1.3 Sprachverhalten ................................................................................. 244 7.1.4 Zusammenfassung ............................................................................. 253 7.2 Gießen ......................................................................................................... 253 7.2.1 Einführung ......................................................................................... 253 7.2.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ................................... 254 7.2.3 Sprachverhalten ................................................................................. 268 7.2.4 Zusammenfassung ............................................................................. 277 7.3 Büdingen ..................................................................................................... 278 7.3.1 Einführung ......................................................................................... 278 7.3.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ................................... 279 7.3.3 Sprachverhalten ................................................................................. 294
Inhaltsverzeichnis
7.3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen ................................................. 306 7.3.5 Zusammenfassung ............................................................................. 310 7.4 Bad Nauheim .............................................................................................. 310 7.4.1 Einführung ......................................................................................... 310 7.4.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums ................................... 311 7.4.3 Sprachverhalten ................................................................................. 325 7.4.4 Zusammenfassung ............................................................................. 335 8 ZUSAMMENFÜHRUNG ................................................................................ 336 8.1 Regionalsprachliche Spektren .................................................................... 336 8.2 Sprechertypen ............................................................................................. 345 8.3 Regionalsprachliche Entwicklungen .......................................................... 353 8.4 Regionalsprachliche Merkmale .................................................................. 357 8.4.1 Merkmale des Regionalakzents ......................................................... 357 8.4.2 s-Sonorisierung .................................................................................. 358 8.4.3 Koronalisierung ................................................................................. 361 8.4.4 Tiefschwa-Vorverlagerung ................................................................ 363 8.4.5 Fortisierung ....................................................................................... 365 8.4.6 Zusammenfassung ............................................................................. 369 8.5 Gesamtergebnisse ....................................................................................... 370 9 FAZIT ............................................................................................................... 379 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................. 383 ANHANG ............................................................................................................ 397
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1 HINFÜHRUNG Nadiilisch, wann man sch genau nimmt, gibt s ja eignlisch ga kei hessisch Sprach. ʼs gibt Owwähessisch un des is widdä gånz verschiede, ob des jetz im Vochelsbersch odä in de Werraa odä im Taunus is, net? Da schwätze die Leut manschmal in zwaa Döffä, wo e paa Killomedä außenannä lieje, gånz annerschdä. Nå, un dånn gibt s ewe Damstädterisch, des is annerschdä wie Frankfodderisch un des is widdä annerschdä als wie Määnzerisch. Aber wann s aach e paa hunnät hessische Dialekde gibt, mir Hesse – mir merke ‘s doch gleisch, wann einer kein Hess is.1 (WOLF SCHMIDT)
Der hessische Sprachraum nimmt innerhalb der Gesamtsprache Deutsch eine besondere Rolle ein. Dies wird teilweise schon im Zitat von WOLF SCHMIDT, dem Friedberger Autor, Regisseur und Erschaffer der Familie Hesselbach, deutlich. Eine „hessische Sprache“ gibt es nicht, sondern ein differenziertes Dialektgebiet. Dennoch scheint eine Zusammenfassung durch Abgrenzung nach außen („kein Hesse“), möglich zu sein.2 Das hessische Dialektgebiet3 ist durch Komplexität und Heterogenität gekennzeichnet. In einem relativ kleinen Raum werden vier Dialektverbände differenziert, zu denen die hessischen Dialekte zusammengefasst werden: Nordhessisch, Osthessisch, Zentralhessisch und Südhessisch. Dieser Vielfalt der Basisdialekte steht eine wahrgenommene Homogenität gegenüber. Zwar werden die meisten Hessen Sprach- und Kulturräume des Hessischen unterscheiden, doch scheint es außerhalb Hessens ein Konzept von der „hessischen Sprache“ oder dem Hessischen zu geben. Dieses Konzept ist stark mit dem Rhein-Main-Gebiet, der Stadt Frankfurt und den dortigen Sprechweisen assoziiert. Diese Assoziierung ist nicht zuletzt auf die mediale Repräsentation hessischer Sprechweisen zurückzuführen. Sie beginnt in den 1950er Jahren mit der „Familie Hesselbach“, bei deren bun-
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Eigene Transliteration (vgl. SCHMIDT 1997). Übersetzung: „Natürlich, wenn man es genau nimmt, gibt es ja eigentlich gar keine hessische Sprache. Es gibt Oberhessisch und das ist wieder ganz verschieden, ob das jetzt im Vogelsberg oder in der Wetterau oder im Taunus ist, nicht? Da schwätzen die Leute manchmal in zwei Dörfern, wo ein paar Kilometer auseinanderliegen, ganz anderster. Na, und dann gibt es eben Darmstädterisch, das ist anderster wie Frankfurterisch und das ist wieder anderster als wie Mainzerisch. Aber wenn es auch ein paar hundert hessische Dialekte gibt, wir Hessen – wir merken es doch gleich, wenn einer kein Hesse ist.“ Interessant an SCHMIDTS Zitat ist nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form. SCHMIDT realisiert hier eine sprachliche Mischung. Diese besteht aus basisdialektalen Merkmalen seines Herkunftsortes Friedberg (bspw. in Werraa), aus recht standardnahen Passagen (bspw. ‘s gibt … ob des jetz im) und aus Bestandteilen, die einer nicht-dialektalen, regionalen Sprechweise zugeordnet werden können – die sehr wahrscheinlich einem Medien- oder Kompromisshessisch entspricht (bspw. in widdä, gleisch und kein Hess, vgl. VORBERGER i. E.). Es ist zu unterscheiden zwischen den Dialekten in Hessen und den hessischen Dialekten (vgl. Kap. 3).
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1 Hinführung
desweit ausgestrahlten Fernsehsendungen ein von WOLF SCHMIDT so benanntes Kompromiss- oder Exporthessisch verwendet wurde (vgl. FROST 1991), und wird bis heute fortgeführt – meist über kabarettistische oder musikalische Beiträge.4 Zu diesem Spannungsfeld zwischen tatsächlicher Heterogenität und wahrgenommener Homogenität kommt ein weiterer Aspekt, der den hessischen Sprachraum ausweist. Seit über 150 Jahren werden im Rhein-Main-Gebiet i. w. S. regionalsprachliche Entwicklungen beobachtet. WILHELM VIËTOR ist 1875 der erste, der eine dialektale Umgangssprache – im Raum Wiesbaden – beschreibt, also eine regionale, aber nicht dialektale Form des Sprechens. Ein Bewusstsein für weitere Formen des regionalen Sprechens – hinsichtlich der Vertikalen, also zwischen den Basisdialekten und der Standardsprache – und der Dynamik der Sprache in diesem Raum besteht somit schon relativ früh und wurde seitdem vielfach thematisiert (vgl. etwa den Begriff des „Neuhessischen“, DINGELDEIN 1994). Die Erforschung des gesamten Bereichs regionaler Sprachvariation und der (regional-)sprachlichen Dynamik ist das Ziel der modernen Regionalsprachenforschung. Ausgehend von der Erforschung der Basisdialekte der traditionellen Dialektologie hat sich der Forschungsgegenstand erweitert, sodass nun „die linguistische Struktur und der Gebrauch des gesamten Varietäten- und Sprechlagenverbunds ‚unterhalb‘ der gesprochenen Standardsprache, seine Genese und seine […] Dynamik“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 15) im Fokus stehen. Für den hessischen Sprachraum sind die Basisdialekte flächendeckend und systematisch erforscht. Die erweiterten Fragestellungen der modernen Regionalsprachenforschung wurden jedoch bisher – trotz des frühen Bewusstseins und zahlreicher Beobachtungen – nicht systematisch untersucht. Es liegen zwar punktuelle Einzelstudien vor (vgl. bspw. KEHREIN 2008) und vor allem für den Bereich der Lexik sind Ergebnisse für den nicht-dialektalen Bereich erzielt worden (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988; 1989, DINGELDEIN 1991; 2010), doch stellt die Erforschung des Aufbaus und der Dynamik der regionalsprachlichen Spektren (insgesamt die Erforschung der modernen Regionalsprachen) im hessischen Sprachraum – hauptsächlich im Rhein-Main-Gebiet – ein Forschungsdesiderat dar. Mit anderen Worten: wir wissen 70 Jahre nach der Gründung des Bundeslandes Hessen nicht, wie der hessische Sprachraum strukturiert ist und wie die Hessen heute eigentlich sprechen.5 4
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Der Ausspruch Kall, mei Drobbe (‘Karl, meine Tropfenʼ) von Mama Hesselbach scheint mittlerweile ein Synonym für dieses Medienhessisch zu sein (vgl. FROST 1991, 34). Vgl. zur Bedeutung der Hesselbachs für das Konzept Hessisch BUTTERON et al. (1991), zum Medienhessisch VORBERGER (i. E.). Dass die Beantwortung dieser Frage nicht nur für die Wissenschaft gewinnbringend ist, sondern auch darüber hinaus von Interesse sein könnte, zeigt, dass nach wie vor reges Interesse an der regionalen Sprachvariation in Hessen besteht. In den letzten fünf Jahren wurde pro Woche durchschnittlich 73 Mal nach Hessisch gegoogelt. Im Vergleich dazu wurde nach Thüringisch nur 1 Mal pro Woche, nach Fränkisch und Sächsisch ungefähr 19 Mal pro Woche und nach Berlinerisch ca. 11 Mal pro Woche gesucht (vgl. Google Trends unter mit den genannten Suchparametern). Natürlich beinhalten
1 Hinführung
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Dieses Desiderat zu füllen, ist erklärtes Ziel der vorliegenden Arbeit. Dazu soll der relevante Sprachraum systematisch und mit vergleichbaren Methoden untersucht werden. Der relevante Sprachraum kann als der Raum definiert werden, für den bisher die regionalsprachliche Dynamik beobachtet wurde. Dieser umfasst das Rhein-Main-Gebiet i. w. S. Dialektgeografisch liegt dieser Raum im zentralhessischen und rheinfränkischen Dialektverband sowie im Übergangsgebiet zwischen beiden Verbänden. Aus diesem Grund wurden für die Analyse sechs Orte aus den beiden Dialektverbänden und ein Ort aus dem Übergangsgebiet gewählt: Zentralhessisch: Büdingen, Bad Nauheim, Ulrichstein, Gießen; Übergangsgebiet: Frankfurt am Main; Rheinfränkisch: Reinheim und Erbach.6 Im Mittelpunkt der Arbeit steht dabei die Analyse der regionalsprachlichen Spektren an den sieben Untersuchungsorten. Das übergeordnete Erkenntnisinteresse dieser Analyse kann wie folgt formuliert werden: welche Strukturen der Spektren, welche Sprechertypen und welche Entwicklungen lassen sich ermitteln? Dazu folgt in Kap. 2 zunächst eine kurze Einführung in die Forschungsdisziplin. Ausgehend vom Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Dialekten wird die Entwicklung der traditionellen Dialektologie zur modernen Regionalsprachenforschung nachvollzogen (Kap. 2.1). Daraufhin werden in Kap. 2.2 die Entwicklung der modernen Regionalsprachen, die Theorie der Sprachdynamik, die der modernen Regionalsprachenforschung zugrunde gelegt werden kann, und die Aufgaben der modernen Regionalsprachenforschung dargestellt. Den Abschluss bildet Kap. 2.3 mit der Präsentation des REDE-Projekts, das sich der neuen Forschungsausrichtung subsumieren lässt und an das sich die vorliegende Arbeit anschließt. In Kap. 3 wird der hessische Sprachraum behandelt. Einleitend wird der Raum definiert (Kap. 3.1) und es erfolgt ein kurzer sprachhistorischer Abriss (Kap. 3.2). Danach werden die Erkenntnisse zu den hier behandelten Ba-
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diese Suchanfragen auch nicht-sprachliche Aspekte (wie bspw. Hessisch Lichtenau), doch trifft dies auf alle gesuchten Konzepte zu und die nähere Betrachtung der Suchanfragen zeigt, dass es sich hauptsächlich um sprachliche Fragen handelt. Für das Rhein-Main-Gebiet gibt es verschiedene Definitionen. Die Ministerkonferenz für Raumordnung vertritt eine umfassende Definition der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main, wie das Rhein-Main-Gebiet dort benannt ist. Dieser Definition zu Folge umfasst das Gebiet innerhalb Hessens den Raum von Gießen und dem Vogelsberg bis in den Odenwald und geht über Hessen hinaus (vgl. BMBau 1997). Als zusätzliches Organ gibt es den Regionalverband Rhein-Main, der aber nur Teile des Rhein-Main-Gebiets umfasst (vgl. Gesetz über die Metropolregion FrankfurtRheinMain, Hess. Landtag 01.04.2011). Zahlreiche weitere Definitionen (Tourismus, Wirtschaft, Kultur) fassen das Gebiet enger oder weiter, sodass allgemein zwischen dem Rhein-Main-Gebiet im engeren und weiteren Sinn differenziert werden kann. Zum Rhein-Main-Gebiet i. e. S. gehören Büdingen, Bad Nauheim, Frankfurt sowie Reinheim und zum Rhein-Main-Gebiet i. w. S. Ulrichstein, Gießen und Erbach. Auch diese Orte sind von Interesse. Sie gehören zu den beiden untersuchten Dialektverbänden (Zentralhessisch und Rheinfränkisch). Zudem wird in der Forschungsliteratur von einem sprachlichen Einfluss des Zentrums des Rhein-Main-Gebiets auf die umliegende Landschaft ausgegangen. Deshalb wurden die Orte in die Analyse einbezogen. Die beiden weiteren Dialektverbände des hessischen Sprachraums (d. s. Ost- und Nordhessisch) müssen gesondert untersucht werden.
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1 Hinführung
sisdialekten (Kap. 3.3) sowie die Beschreibungen zu den regionalsprachlichen Entwicklungen im Raum (Kap. 3.4) zusammengefasst. Daraufhin werden neuere Studien zum hessischen Sprachraum (Kap. 3.5) und einzelne Studien zur vertikalen Sprachvariation im Westmitteldeutschen außerhalb Hessens (Kap. 3.6) präsentiert. Den Abschluss (Kap. 3.7) bildet eine Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse zum untersuchten Sprachraum – vor allem hinsichtlich der vertikalen Struktur der Spektren und der Dynamik. Kap. 4 thematisiert die Anlage der vorliegenden empirischen Untersuchung. Zunächst werden die Fragestellungen der Arbeit expliziert (Kap. 4.1), danach wird näher auf die Datengrundlage (Kap. 4.2) und die Analysemethoden (Kap. 4.3) eingegangen. In Kap. 4.4 werden die untersuchten regionalsprachlichen Merkmale (Variablen) beschrieben. Daraufhin erfolgen die Ausführungen zu den Ergebnissen dieser Arbeit. Kap. 5 behandelt das Rheinfränkische. Es werden die Ergebnisse zu Reinheim (Kap. 5.1) und Erbach (Kap. 5.2) vorgestellt. Anschließend folgen die Ergebnisse für Frankfurt (Kap. 6) und für das Zentralhessische (Kap. 7). Hier werden die Analysen der Orte Ulrichstein (Kap. 7.1), Gießen (Kap. 7.2), Büdingen (Kap. 7.3) und Bad Nauheim (Kap. 7.4) besprochen. Die einzelnen Ortskapitel sind identisch aufgebaut: nach einer kurzen Übersicht zum jeweiligen Ort und den Sprechern, werden der Aufbau des regionalsprachlichen Spektrums beschrieben und die Varietäten und Sprechlagen charakterisiert. Darauf folgt die Beschreibung des individuellen Sprachverhaltens, die die Sprechertypisierung und die Darstellung der Variation im intergenerationellen Vergleich einschließt. Abschließend erfolgt eine tabellarische Zusammenstellung der Ergebnisse für den Untersuchungsort. Die Zusammenführung der Ergebnisse für den gesamten Raum erfolgt in Kap. 8. Hier werden die zentralen Forschungsfragen aufgegriffen: Spektren im Gesamtvergleich (Kap. 8.1), Sprechertypen (Kap. 8.2), regionalsprachliche Entwicklungen (Kap. 8.3) und regionalsprachliche Merkmale (Kap. 8.4). In Kap. 8.5 werden die Gesamtergebnisse vorgestellt und dabei Fragen nach der horizontalen Gliederung des Sprachraums und nach dem Neuhessischen aufgegriffen sowie eine mögliche Erklärung für die Ergebnisse erbracht. In Kap. 9 werden die Ergebnisse der gesamten Arbeit zusammengefasst.
2 REGIONALSPRACHENFORSCHUNG 2.1 VON DER TRADITIONELLEN DIALEKTOLOGIE ZUR MODERNEN REGIONALSPRACHENFORSCHUNG Das Bewusstsein für regional unterschiedliche Sprechweisen im deutschen Sprachraum besteht seit Langem, wie eine Tischrede LUTHERS von 1538 zeigt: „Es sind aber in der deutschen Sprache viel Dialecti, unterschiedene Arten zu reden, daß oft einer den Anderen nicht wohl verstehet [...]“ (LUTHER 1916, 78–79, zit. nach NIEBAUM / MACHA 2006, 2).7 Doch erst mit der Entstehung und Etablierung einer überdachenden Standardsprache (vgl. dazu Kap. 2.2.1) wurden die regionalen Sprechweisen im Bezug zu dieser als „systemisch different und areal begrenzt“ (HERRGEN 2001, 1515) wahrgenommen und können damit als Dialekte – im Sinne regionaler Varianten einer (Standard-)Sprache – konzeptualisiert werden (vgl. dazu auch Kap. 2.2.1 und 2.2.2). Teil dieser Entwicklung ist eine Abwertung des regionalen Sprechens, also der Dialekte: „Der nun mögliche Vergleich der Dialekte mit der im Entstehen begriffenen neuhochdeutschen Standardsprache, gekennzeichnet durch überregionale Geltung, prestigebesetzte Verwendungsdomänen, sozial elitäre Trägerschicht und nun sowohl oraler als auch literaler Realisierung, ließ die Dialekte als sozial, areal und medial restringiert erscheinen“ (HERRGEN 2001, 1515). Durch diese Abwertung der Dialekte und dem damit einhergehenden abnehmenden Gebrauch sah man die Gefahr des Aussterbens der Dialekte,8 wie RICHEYS Einleitung zu seinem „Idiotikon Hamburgense“ belegt: Unsere Mund=Art geräth ja von Tage zu Tage in Abnahme, indem das Hoch=Teutsche schon längst nicht allein in öffentlichen Handlungen und Schriften, sondern auch im gemeinen Umgange Besitz genommen, daß auch der Bauer selbst mit einem halb=Hoch=Teutschen Worte sich schon vornehmer düncket. (RICHEY 1755, xliii–xliv)
Die Befürchtung des Verlustes der Dialekte ruft wiederum ein „antiquarisches Interesse“ (vgl. LÖFFLER 1990, 15–17) hervor. Es entstehen – vor allem im niederdeutschen Sprachraum – Idiotika, die standarddifferente, lokale Wörter sammeln (vgl. bspw. RICHEY 1755) und später auch Dialektwörterbücher, die den Wortschatz eines Dialekts systematisch erheben (vgl. bspw. SCHMELLER 1827– 1837). Darin kann der Grundstein für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung 7
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Ein noch früherer Beleg für dieses Bewusstsein ist HUGO VON TRIMBERGS „Der Renner“ (um 1300), in dem von verschiedenen lantsprâchen die Rede ist (vgl. EHRISMANN 1970 und Kap. 3.3.3). Vgl. dazu auch HERRGEN (2001, 1514). Der Topos des Dialektsterbens besteht seitdem und findet nach wie vor Verwendung (vgl. bspw. den MDR Wissen-Beitrag vom 26.09.2016 mit dem Titel „Deutschlands Dialekte sterben aus“), obwohl er vielfach widerlegt wurde (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 55).
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2 Regionalsprachenforschung
mit Dialekten und somit der Disziplin Dialektologie gesehen werden (vgl. auch HERRGEN 2001, 1515–1516, NIEBAUM / MACHA 2006, 51–55). Eine wegweisende Arbeit ist SCHMELLERS „Die Mundarten Bayerns grammatisch dargestellt“ (vgl. SCHMELLER 1821). Darin beschreibt SCHMELLER die Dialekte des ehemaligen Königreichs Bayern in Form einer Dialektgrammatik und kombiniert diese mit einer kartografischen Darstellung sprachlicher Merkmale. Neben diesen grammatischen, historischen und geografischen Aspekten sind in SCHMELLERS Darstellung auch soziolinguistische Ansätze enthalten, weswegen sie als variationslinguistisch bezeichnet werden kann, da mehrere Aspekte sprachlicher Variation untersucht werden. Dies sind erste Ansätze einer pluridimensionalen Betrachtung und Auffassung des Untersuchungsgegenstandes Dialekt (vgl. auch HERRGEN 2001, 1517–1518, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 90 und NIEBAUM / MACHA 2006, 55–57).9 Ab dem Ende des 19. Jh. etabliert sich die Dialektologie in Verbindung mit anderen linguistischen Bereichen (bspw. Phonetik, historische Sprachwissenschaft, Strukturalismus) als eigenständige Disziplin (vgl. dazu als Übersicht HERRGEN 2001, 1515–1528 und NIEBAUM / MACHA 2006, 58–80). Als tatsächlicher Beginn der Wissenschaft Dialektologie kann das Epochenjahr 1876 gelten. In diesem Jahr beginnt GEORG WENKER mit seiner Arbeit zu den Dialekten der Rheinprovinz, die 1877 zu einer Dialekteinteilung dieser Region und schließlich 1878 zum ersten deutschen Sprachatlas („Sprach-Atlas der Rheinprovinz nördlich der Mosel sowie des Kreises Siegen“) führt. Mit dieser Arbeit begründet WENKER die Teildisziplin der Dialektgeografie. Ebenfalls 1876 erscheint EDUARD SIEVERS „Grundzüge der Lautphysiologie“, in der er das Ziel der „genaue[n] […] Erforschung der Einzelsysteme der Einzelmundarten“ (SIEVERS 1881, 37) formuliert und damit zusammen mit der ersten Untersuchung dieser Art von WINTELER (1876) den Grundstein für die Dialektgrammatikografie legt. Trotz der frühen pluridimensionalen Dialektkonzeptionen etabliert sich innerhalb der Dialektologie eine hauptsächlich monodimensionale Ausrichtung. Das heißt, dass fast ausschließlich die areale (oder: horizontale) Dimension sprachlicher Variation betrachtet wird und im Vordergrund des Erkenntnisinteresses der möglichst statische, unveränderte Basisdialekt steht.10 Dies hatte zur Folge, dass
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Weitere frühe variationslinguistische Ansätze innerhalb der Dialektologie sind u. a. bei WEGENER (1976 [1879]) und MAURER (1933) zu finden. So stellt WEGENER (1976 [1879], 4) bspw. die Fragen „1) wie weit hat sich dieser umwandlungsprocess vollzogen, 2) in welchen bahnen schreitet die umwandlung vor“ und warnt davor, die „mischdialecte“ (2) bei der Erforschung zu vergessen. 10 Dies gilt sowohl für die Dialektgeografie als auch für die Dialektgrammatiken. Im Anschluss an WENKER entstehen zahlreiche Sprachkarten und Sprachatlanten (vgl. zur Übersicht SCHMIDT / HERRGEN 2011, 97–107, HERRGEN 2001, 1520–1523). Ebenso werden in der Nachfolge SIEVERSʼ und WINTELERS zahlreiche Ortsgrammatiken junggrammatischer Prägung verfasst, die später durch Landschaftsgrammatiken ergänzt werden (vgl. zur Übersicht SCHMIDT /HERRGEN 2011, 90–97, HERRGEN 2001, 1523; 1525–1526). Zur Dialektologie und der entstandenen Arbeiten im Allgemeinen vgl. u. a. LÖFFLER (1990, 11–44), NIEBAUM / MACHA (2006, 51–98) und SCHMIDT / HERRGEN (2011, 108–141).
2 Regionalsprachenforschung
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durch diese – heute so bezeichnete – klassische Dialektologie zwar der Untersuchungsgegenstand eingeschränkt wurde und viele Aspekte ausgeblendet wurden,11 aber die Basisdialekte des deutschen Sprachraums systematisch und umfassend erforscht sind (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, Kap. 4.1, die von einem „Schatz“ der klassischen Dialektologie sprechen).12 Im letzten Drittel des 20. Jh. rückt die umfassende Betrachtung und Erforschung regionaler Sprachvariation (wieder) in den Mittelpunkt der Forschung.13 Durch neue Forschungsparadigmen der Linguistik wird das Forschungsfeld durch soziolinguistische und pragmalinguistische Fragen erweitert, beispielsweise werden der Dialektgebrauch, die Dialektbewertung oder der Sprecher als Individuum eingehend untersucht (vgl. dazu NIEBAUM / MACHA 2006, 161–163). Außerdem findet vor allem die vertikale Dimension regionaler Sprachvariation und die Dynamik der regionalen Sprechweisen Beachtung: „Der Dialektwandel und das gesamte Spektrum arealer Sprachvariation zwischen Standardsprache und tiefstem Dialekt wird so zum zentralen Forschungsgegenstand“ (HERRGEN 2001, 1528).14 Die klassische Dialektologie mit ihrer monodimensionalen Gegenstandskonzeption hat sich so zu einer modernen, pluridimensionalen (auch variationslinguistischen) Dialektologie bzw. modernen Regionalsprachenforschung entwickelt. Die moderne Regionalsprachenforschung integriert Sprachwandel und Sprachvariation – sie erforscht die regional bedingte sprachliche Variabilität umfassend. Als moderne Regionalsprache wird nach SCHMIDT / HERRGEN (2011, 63) der Bereich des Sprachspektrums unterhalb der Standardsprache verstanden (zum Begriff der Regionalsprache vgl. genauer Kap. 2.2).15 Es lässt sich zusammenfassen:
11 Diese Reduzierung war „heuristisch motiviert“ (HERRGEN 2001, 1519) und auch forschungspraktisch bedingt. 12 Zu den Basisdialekten des hessischen Sprachraums vgl. Kap. 3.3. 13 Neben den genannten frühen Ansätzen gibt es weitere dialektologische Arbeiten, die mehrere Dimensionen regionaler Sprachvariation untersuchen bzw. beobachten und beschreiben (vgl. HERRGEN 2001, 1528). Für den hier untersuchten Sprachraum bspw. beschreibt VIËTOR (1875) als erster eine regionale Sprechweise, die im Bereich zwischen Dialekt und Standardsprache zu verorten ist. Ihm schließen sich zahlreiche Beschreibungen der vertikalen Dimension der Sprachvariation an (vgl. Kap. 3.4). Jedoch wurden die Beobachtungen und tw. auch Untersuchungen nur punktuell, nicht systematisch und nicht flächendeckend vergleichbar durchgeführt. Hinzu kommt, dass diese pluridimensionale Konzeption der arealen Differenziertheit von Sprache unter dem Primat der Untersuchung der Basisdialekte die Forschung bis in das letzte Drittel des 20. Jh. nicht nachhaltig beeinflussen konnte. 14 Als Beispiele früher Forschungen, die sich dem neuen Paradigma subsumieren lassen, sind zu nennen: Der „Mittelrheinische Sprachatlas“ (vgl. MRhSA 1994–2002) (vgl. dazu auch SCHMIDT / HERRGEN 2011, 141–150 und NIEBAUM / MACHA 2006, 125–130) oder das ErpProjekt (vgl. BESCH 1981; 1983) (vgl. dazu auch NIEBAUM / MACHA 2006, 174–177). Zu weiteren Arbeiten vgl. SCHMIDT / HERRGEN (2011, Kap. 4.3), HERRGEN (2001, 1529), NIEBAUM / MACHA (2006, 148–216). 15 Ein alternativer Terminus für diesen Bereich ist Substandard bzw. für den Bereich zwischen Dialekt und Standardsprache auch Neuer Substandard (vgl. bspw. BELLMANN 1983, LENZ 2003).
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2 Regionalsprachenforschung Dominierendes Forschungsziel der klassischen Dialektologie war das Herauspräparieren des status quo ante, d. h. der alten noch nicht dynamischen Ortsdialekte vor der industriellen Revolution. (SCHMIDT 1998, 166) Forschungsgegenstand der modernen Regionalsprachenforschung ist demgegenüber [= klassische Dialektologie, L.V.] die linguistische Struktur und der Gebrauch des gesamten Varietäten- und Sprechlagenverbunds „unterhalb“ der gesprochenen Standardsprache, seine Genese und seine anhand empirischer Daten verfolgbare und erklärbare Dynamik. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 15)
2.2 DIE MODERNE REGIONALSPRACHENFORSCHUNG 2.2.1 Entstehung der modernen Regionalsprachen Um die rezente horizontale wie vertikale Sprachvariation und den prototypischen Aufbau der modernen Regionalsprachen besser nachzuvollziehen, wird zuerst aus sprachhistorischer Sicht deren Entstehung skizziert (vgl. dazu i. Allg. SCHMIDT 2010, 129–136, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 63–67 und KEHREIN 2012, 17–21). Zunächst ist für den deutschen Sprachraum – horizontal – eine Koexistenz gleichberechtigter regionaler Sprechweisen anzunehmen, die mit HUGO VON TRIMBERG als lantsprâchen bezeichnet werden können (vgl. Fn. 7). Eine überdachende Sprachform existierte nicht (vgl. Kap. 2.1). SCHMIDT (2010, 130) spricht – vertikal gesehen – für das Gesamtsprachsystem Deutsch von einer Einvarietätensprache.16 In einem komplexen Prozess entstand ab dem 14. Jh. die hochdeutsche Schriftsprache (vgl. dazu als Überblick BESCH 2003a, zusammenfassend auch KEHREIN 2012, 18–19). Diese war zu Beginn ein rein schriftliches Kommunikationsmedium. Nach und nach wurde die Schriftsprache auch mündlich umgesetzt (vgl. RICHEY 1755, xliii–xliv), sodass eine neue orale Varietät entstand, die SCHMIDT (2010, 130) als „landschaftliches Hochdeutsch“ bezeichnet. Bis 1800 war die mündliche Umsetzung der Schriftsprache im gesamten deutschen Sprachraum verbreitet, weshalb nun – hinsichtlich der Vertikale – von einer Zweivarietätensprache auszugehen ist (vgl. SCHMIDT 2010, 130). Diese neue Varietät lässt sich wie folgt charakterisieren: die Dialektsprecher konnten die Schriftsprache nur auf Grundlage ihres (dialektalen) Phonemsystems umsetzen, das heißt sie haben Graphemen und Graphemkombinationen der Schriftsprache dialektale Phoneme zugeordnet. Bei Graphemen, für die in dem jeweiligen dialektalen Lautsystem keine Zuordnung möglich war, wurde „das nächstähnliche, plausible Phonem“ (KEHREIN 2012, 20) als Entsprechung gewählt.17 Es ist davon auszugehen, dass
16 Die lantsprâchen können als Varietäten bestimmt werden. Zum Begriff Varietät vgl. Kap. 2.2.2. 17 Ein Beispiel aus dem Rheinfränkischen kann dies illustrieren. Im Lautsystem der rheinfränkischen Basisdialekte existieren keine vorderen, gerundeten Monophthonge, sodass dem Gra-
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bei Sprechergruppen Gemeinsamkeiten in der mündlichen Umsetzung der Schrift bestanden, sodass sich allmählich bei diesen Sprechergruppen Oralisierungskonventionen herausgebildet haben. Diese stimmten areal soweit überein, „wie auch der dialektale Fundamentalbereich eine im Wesentlichen übereinstimmende phonologische Struktur aufwies, das heißt innerhalb der großlandschaftlichen Dialektverbände“ (SCHMIDT 2010, 130). Die Konventionen entwickelten sich zu großlandschaftlichen Oralisierungsnormen – dem jeweiligen landschaftlichen Hochdeutsch –, wurden allerdings nicht kodifiziert. Sie wurden jedoch vor allem durch Kirche und Schule zunehmend verbreitet. Das landschaftliche Hochdeutsch etablierte sich also als überregional gültige, prestigebesetzte orale Varietät (vgl. SCHMIDT 2010, 130–131).18 Das „Deutsche“ setzte sich in diesem zweiten Stadium (als Zweivarietätensprache) aus den Dialekten19 zusammen, die – soweit ihre lautlichen und grammatischen Systeme weitgehend übereinstimmten – die großlandschaftlichen Dialektverbände konstituierten. Als zweite orale Varietät etablierte sich das jeweilige landschaftliche Hochdeutsch – vermutlich innerhalb der Grenzen dieser Dialektverbände (vgl. SCHMIDT 2010, 132). SCHMIDT (2010, 132) spricht – hinsichtlich der Vertikalen – von Varietätenverbänden aus Dialekten und dem landschaftlichen Hochdeutsch, die horizontal im deutschen Sprachraum verbreitet waren. Der Prozess der Herausbildung der Oralisierungsnormen bei der mündlichen Umsetzung der hochdeutschen Schriftsprache ist im niederdeutschen Sprachraum anders verlaufen als bisher skizziert. Aufgrund der strukturellen und typologischen Unterschiede zwischen dem Nieder- und Hochdeutschen war es den Sprechern des Niederdeutschen nicht möglich, auf ihre Phonemsysteme zurückzugreifen. Sie orientierten sich deshalb an der Schrift, was zu einer „buchstabengetreuen“ (vgl. MATTHEIER 2003, 237) Aussprache der hochdeutschen Schriftsprache führte. Mit anderen Worten: es hat sich eine sehr schriftnahe norddeutsche Oralisierungsnorm20 herausgebildet, auf deren Grundlage die Standardaussprache normiert wurde.21 SIEBS verfasste 1898 die „Bühnenaussprache“ als Normierung – in abgeschwächter Form auch als gemäßigte Hochlautung –, die sich durchsetzte
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phem der Schriftsprache der nächstähnliche, plausible Laut – also [iː] bzw. [ɪ] zugeordnet wurde. Für den Laut [iː] gab es somit (u. a.) zwei mögliche, gleichwertige Grapheme . Damit einhergeht die Um- bzw. Abwertung der Dialekte (vgl. Kap. 2.1). Vgl. Kap. 2.1. Mit der Etablierung der Schriftsprache als literaler Varietät und des jeweiligen landschaftlichen Hochdeutschs als oraler Varietät können die ehemals als lantsprâchen bezeichneten, areal gebundenen Varietäten als Dialekt(e) konzeptualisiert werden. GANSWINDT (2017) zeigt jedoch, dass auch im niederdeutschen Sprachraum regionale Unterschiede bei der Herausbildung der Oralisierungsnormen bestanden, diese aber allgemein durch Schriftnähe gekennzeichnet sind. Das norddeutsche (landschaftliche) Hochdeutsch löste die bis dahin als vorbildlich erachtete ostmitteldeutsche Oralisierungsnorm ab. Gründe dafür sind im Prestige der Schrift zu sehen, das auf die schriftnahe Aussprache im niederdeutschen Sprachraum überging (vgl. dazu SCHMIDT 2010, 132–133).
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(vgl. als 19. Aufl. SIEBS „Deutsche Aussprache“ 1969).22 Sie wurde ab 1930 durch den Rundfunk und ab 1950 durch das Fernsehen überregional verbreitet. Mit dieser nationalen – bundesdeutschen – Oralisierungsnorm der Standardsprache (d. i. Standardaussprache) etablierte sich eine weitere orale Varietät im deutschen Sprachraum, sodass seitdem – vertikal betrachtet – eine „Dreivarietätensprache“ als drittes Stadium angenommen wird (vgl. KEHREIN 2012, 21). Die Etablierung der Standardaussprache hatte eine weitere Umwertung zur Folge: die bis dahin prestigebesetzten großlandschaftlichen Oralisierungsnormen, die regional als das beste Hochdeutsch galten, wurden nunmehr – in Bezug zur nationalen Oralisierungsnorm – als regional markiert wahrgenommen (vgl. SCHMIDT 2010, 133) und dem Substandard, bzw. genauer dem Bereich zwischen Standardsprache und Dialekt zugeordnet. Sie können dann als Regiolekt bezeichnet werden (vgl. dazu Kap. 2.2.2).23 Die Entwicklung der modernen Regionalsprachen des Deutschen lässt sich somit als zweifacher Umwertungsprozess aufgrund der Entstehung und Etablierung einer neuen – großräumiger gültigen – Varietät zusammenfassen. Zunächst werden die Dialekte durch das landschaftliche Hochdeutsch als regional wahrgenommen und bewertet, dann bewirkt die nationale Aussprachenorm, dass das jeweilige – ehemals prestigehafte – landschaftliche Hochdeutsch als regional wahrgenommen und bewertet wird. 2.2.2 Die Theorie der Sprachdynamik Die Theorie der Sprachdynamik dient der modernen Regionalsprachenforschung als Grundlage. Sie ermöglicht eine adäquate Gegenstandserfassung, indem sie Sprachwandel und Sprachvariation (= Variabilität) integriert (vgl. zur Theorie und zu den Ausführungen SCHMIDT / HERRGEN 2011, 19–68 und SCHMIDT 2005b). Als Sprachdynamik definieren SCHMIDT / HERRGEN (2011, 20) „die Wissenschaft von den Einflüssen auf die sich ständig wandelnde komplexe Sprache und von den sich daraus ergebenden stabilisierenden und modifizierenden Prozessen.“ Sprache wird hier als echt dynamisches System aufgefasst, was den Vorteil hat, dass zwei theoretische Reduktionen des Gegenstands aufgelöst werden können: zum einen
22 Zur Entwicklung und Herausbildung der Aussprachenormierung und zu den Besonderheiten der Oralisierungsnorm in Norddeutschland (dem niederdeutschen Sprachraum) vgl. u. a. TRENSCHEL (1997), KÖNIG (1987; 2008), BESCH (2003b), SCHMIDT (2005a) und GANSWINDT (2017). 23 „Die Varietätenverbände werden jetzt insgesamt als regional begrenzt wahrgenommen, sie sind zu Regionalsprachen geworden. Die ehemaligen Prestigevarietäten (‚landschaftliches Hochdeutsch‘) dieser Regionalsprachen sind zu Substandardvarietäten geworden (Regiolekt, ‚Umgangssprache‘)“ (SCHMIDT 2010, 133–134, Hervorhebung im Original).
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die Homogenität von Sprache oder sprachlichen (Sub-)Systemen24 und zum anderen die Synchronie-Diachronie-Dichotomie (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 19– 25).25 Stattdessen rücken die Variabilität der Sprache und die immanente Zeitlichkeit jeglicher sprachlicher Interaktion als Gegenstandskonstituenten in den Fokus. Die einzelne sprachliche Interaktion legen SCHMIDT / HERRGEN (2011, 25–28) der theoretischen Fundierung zugrunde: Jede dieser Interaktionen besteht aus einem Sprachproduktionsakt und einem Sprachverstehensakt – aus der linearen Abfolge des einzelnen Aktes und der Akte zusammen ergibt sich die immanente Zeitlichkeit. Was geschieht bei einer solchen Interaktion genau? Das Kooperationsprinzip sprachlicher Interaktion vorausgesetzt (vgl. GRICE 1975), vollzieht Gesprächspartner A einen Sprachproduktionsakt. Er setzt dabei sein sprachliches Wissen, das sich von dem des Partners (B) unterscheidet – es lässt sich von Kompetenzdifferenzen sprechen (vgl. auch Fn. 24) –, in Beziehung zu (a) den Verstehensmöglichkeiten des Gesprächspartners B (Handelt es sich um einen Jugendlichen, einen Hessen aus dem Vogelsberg usw.?) und zu (b) den Spracherwartungen des Gesprächspartners B (Handelt es sich um den Lebenspartner, die Mutter oder den Chef?). Die Dynamik der Interaktion ergibt sich aus der Rückkopplung durch Gesprächspartner B. Nach seinem Sprachverstehensakt signalisiert dieser entweder Nichtverstehen, partielles Verstehen, Nichterfüllung einer Sprachverhaltenserwartung oder vollständiges Verstehen und vollständige Erfüllung der Sprachverhaltenserwartung (bspw. durch Nachfrage, Nicken oder Lachen26). Die Art der Rückkopplung bewirkt entweder eine Stabilisierung oder Modifizierung der Sprachproduktionsstrategie und des zugrundeliegenden sprachlichen Wissens (vgl. Fn. 27). Aufgrund dieser Rückkopplung ist der Sprachverstehensakt durch eine reziproke Dynamik gekennzeichnet. Auch im Sprachverstehensakt kann es zu Stabilisierungen und Modifizierungen kommen: Bei dem Versuch, Gesprächspartner A zu verstehen, werden die Verstehensstrategien von Gesprächspartner B entweder stabilisiert oder sprachliche Innovationen (bspw. neue Lexeme wie Hopfensmoothie oder zlatanieren) oder Aussprachedifferenzen (bspw. der auslautende Plosiv in Honig) bewirken Modifikationen des sprachlichen Wissens (d. h. der aktiven und passiven Kompetenzen).27 Modifikationen lassen sich als Lernbzw. genauer als Optimierungsstrategien bezeichnen (d. h. bspw. nach einer ent-
24 „Es gibt keine zwei Menschen, die über dasselbe Sprachwissen verfügen. Und deshalb ist es kein Zufall, dass Sprache uns für den gesamten Zeitraum, für den wir gesicherte Daten haben (Überlieferung), heterogen entgegentritt“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 19). 25 Theoretisch werden sie aufgelöst, methodisch sind sie aber nach wie vor notwendig (vgl. SCHMIDT 2005b, 16, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 19). 26 Bspw. wurde ein Hesse in Hamburg ausgelacht, als er an der Eisdiele ein Bällchen Eis bestellte. Er hat also die Spracherwartungshaltung (Verwendung des standardsprachlichen Kugel) nicht erfüllt. 27 Die Auswirkungen der Stabilisierungen und Modifizierungen (d. h. gelten sie nur für das rezente Gespräch oder beeinflussen sie nachhaltig das sprachliche Wissen) sind von der Bedeutung der Interaktion, des Interaktionspartners und der Interaktionssituation abhängig (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 26).
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sprechenden Rückkopplung modifiziert Gesprächspartner A seine Sprachproduktionsstrategie derart, dass er entweder (besser) verstanden wird und/oder sozial akzeptiert wird). Innerhalb der sprachlichen Interaktion gleichen beide Gesprächspartner also ihre Kompetenzdifferenzen ab. Dies bezeichnen SCHMIDT / HERRGEN (2011, 28) als Synchronisierung: sie ist der „Abgleich von Kompetenzdifferenzen im Performanzakt mit der Folge einer Stabilisierung und/oder Modifizierung der beteiligten aktiven und passiven Kompetenzen“. Es werden drei Typen der Synchronisierung unterschieden: Mikro-, Meso- und Makrosynchronisierung. Als Mikrosynchronisierung wird „eine punktuelle, in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung und zugleich Stabilisierung des individuellen sprachlichen Wissens“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29) definiert. In einer einzelnen sprachlichen Interaktion, wie sie oben beschrieben wurde, findet eine Mikrosynchronisierung statt. Dabei ist die Stabilisierung des sprachlichen Wissens der Regelfall und Voraussetzung für die Modifikation, denn erst auf Basis eines insgesamt erfolgreich dekodierten Sprachproduktionsaktes können einzelne Differenzen erkannt werden.28 Mikrosynchronisierungen sind die Basis der Sprachdynamik. Für die Dynamik des Gesamtsprachsystems ist ausschlaggebend, dass die Sprecher immer nur mit einem Teil der Sprachgemeinschaft und nur in bestimmten Zeitabschnitten interagieren und den Interaktionen unterschiedliche Bedeutung zuweisen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 30). Innerhalb von Sprechergruppen kann es über einen längeren Zeitraum – bei großer zugeschriebener Relevanz der Kommunikationssituationen – zu einer Folge gleichgerichteter Synchronisierungsakte kommen (bspw. im Freundes- oder Kollegenkreis).29 Diese wiederum bewirken eine teilweise Übereinstimmung des sprachlichen Wissens der Beteiligten. „Eine solche Folge von gleichgerichteten Synchronisierungsakten, die Individuen in Situationen personellen Kontakts vornehmen und die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichem Wissen führt,“ bezeichnen SCHMIDT / HERRGEN (2011, 31) als Mesosynchronisierung. Aufgrund des spezifischen sprachlichen Wissens der beteiligten Sprecher haben Mesosynchronisierungen für Beteiligte stets eine integrierende, für Nicht-Beteiligte allerdings eine exkludierende Wirkung (als Beispiel kann hier die Sprachverwendung von Jugendgruppen genannt werden, vgl. etwa oben Hopfensmoothie oder Ehrenfrau). Die Synchronisierungsakte, „mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten“, definieren SCHMIDT / HERRGEN (2011, 32) als Makrosynchronisierungen. Für Makrosynchronisierungen, an denen tendenziell alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft teilnehmen, muss – im Gegen-
28 In der Beispieläußerung „Gestern saß ich draußen auf meinem Balkon“ setzt das Erkennen einer phonetischen Differenz in der Aussprache von Balkon ٪¡˔́ژÞۡ٫ԮѸل٪¡˔́ژÞ͡٫ voraus, dass die Sprechhandlung insgesamt erfolgreich dekodiert wurde. 29 „Bei längerer Dauer, hoher Kommunikationsdichte und hohem individuellen Stellenwert entwickeln die Beteiligten ähnliche Optimierungsstrategien“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31).
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satz zu Mikro- und Mesosynchroniserungen – kein direkter Kontakt bestehen. Als Norm, nach der sich die Mitglieder ausrichten, kann entweder die neuhochdeutsche Schriftsprache oder die bundesdeutsche Standardaussprache fungieren.30 „Auf Dauer gesehen, definieren die Grenzen gemeinsamer Makrosynchronsierungen die Grenzen des dynamischen Systems Einzelsprache“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32).31 Für die Dynamik des Gesamtsprachsystems sind – wie erwähnt – Mesosynchronisierungen entscheidend. Diese bedingen Übereinstimmungen des sprachlichen Wissens, was zu einer gemeinsamen Sprechweise (Varietäten und Sprechlagen) – wie beispielsweise die Frankfurter Stadtsprache (vgl. Kap. 3.3.4) – führen kann. Das heißt, dass die Struktur innerhalb der komplexen, durch immanente Variabilität gekennzeichneten Sprache mit der Sprachdynamiktheorie gefasst werden kann. Varietäten können sprachdynamisch wie folgt definiert werden (vgl. auch SCHMIDT 2005c, SCHMIDT 2010, 126–129): […] Varietäten sind [individuell-kognitiv] also durch je eigenständige prosodischphonologisch und morpho-syntaktische Strukturen bestimmte und mit Situationstypen assoziierte Ausschnitte des sprachlichen Wissens. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51)
Zentrales Kriterium für Varietäten sind eigenständige Strukturen bzw. – hinsichtlich des Individuums – ein eigenständiger Fundamentalbereich der individuellen Kompetenz. Das heißt, dass Varietäten über Struktur- und Kompetenzdifferenzen unterschieden und somit bestimmt werden können. Indikatoren solcher (kognitiver) Kompetenzdifferenzen sind Hyperformen, Vermeidungsstrategien und Sanktionen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 50).32 Da es sich bei Varietäten um gemeinsames sprachliches Wissen aufgrund von Mesosynchroniserungen handelt, sind sie sprachsozial wie folgt zu definieren:
30 Der Erwerb der Standardschriftsprache erfolgt über lange und wiederholte Makrosynchronsierungen (bspw. Diktate, Lernen von Orthografieregeln). Nichterwerb wird sanktioniert, erfolgreicher Erwerb hingegen ermöglicht die Kommunikation in maximaler Reichweite und die erfolgreiche Bewältigung von relevanten Kommunikationssituationen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 33–34). 31 Vgl. für ein Beispiel einer stabilisierenden Mesosynchronisierung SCHMIDT (2005b, 24–30), SCHMIDT / HERRGEN (2011, 167–174) und für eine modifizierende Mesosynchronisierung SCHMIDT (2005b, 30–42), SCHMIDT / HERRGEN (2011, 189–212). Für Beispiele der Makrosynchronisierung vgl. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 34–36). 32 Äußert ein Sprecher im intendierten zentralhessischen Basisdialekt bspw. [va̠ːs] für die Farbe weiß, dann stößt er an die Grenzen seiner individuellen Kompetenz und kann diese kognitive Grenze nicht überwinden. Er kennt zwar die Form [va̠ːs] für (ich) weiß, aber nicht die eigenständigen Strukturen der zentralhessischen Phonologie (hier: Phonem-Graphem-Korres– pondenz) (vgl. Kap. 3.3.1 und 4.4.1.2) und bildet eine falsche Analogie (hier: Hyperdialektalismus), für die er u. U. sanktioniert wird. Anhand solcher kognitiver Grenzen, die auf Strukturgrenzen beruhen, können Varietäten definiert werden. Die Varietät zentralhessischer Dialekt beherrscht dieser Sprecher nicht.
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2 Regionalsprachenforschung Varietäten [sind] sprachsozial […] partiell systemisch differente Ausschnitte des komplexen Gesamtsystems Einzelsprache […], auf deren Grundlage Sprechergruppen in bestimmten Situationen interagieren. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51)
Diese Definition von Varietät gilt für Vollvarietäten. Davon unterschieden werden sektorale Varietäten. Sie stellen eine begrenzte Erweiterung der sprachlichen Kompetenz – auf Grundlage einer Vollvarietät – ohne den Aufbau neuer Strukturen dar. Meist handelt es sich um eine Erweiterung oder Differenzierung im lexikalischen Bereich, wie bspw. bei Fachsprachen (vgl. dazu SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51). Von Varietäten zu trennen sind Sprechlagen. Diese werden definiert als „Verdichtungsbereiche variativer Sprachverwendung, für die sich – empirisch signifikant – differente sprachliche Gruppenkonventionen nachweisen lassen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 52). Sprecher variieren auf Basis ihrer individuellen Varietätenkompetenz situations- und konventionsbedingt und nehmen dabei allophonische und allomorphische Anpassungen vor. Verfestigen sich die Konventionen durch Mikro- und Mesosynchroniserungen entstehen Verdichtungsbereiche (Sprechlagen). Diese Sprechlagen weisen keine strukturellen Differenzen auf, sondern sind Bereiche innerhalb einer Varietät (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 52).33 Mit der Sprachdynamiktheorie können nun die zentralen Konzepte der Regionalsprachenforschung definiert werden. Zunächst können Standard- und Regionalsprache voneinander abgegrenzt werden. Standardsprache wird definiert als Vollvarietät, auf deren Literalisierungsnorm die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ihre Makrosynchronisierung ausrichten. Die – nationalen – Oralisierungsnormen dieser Vollvarietät sind durch Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen gekennzeichnet. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 62)
Regionalsprache hingegen – als primärer Forschungsgegenstand – wird wie folgt definiert: Eine Regionalsprache ist ein durch Mesosynchronisierungen vernetztes Gesamt an Varietäten und Sprechlagen, das horizontal durch die Strukturgrenzen der Dialektverbände/-regionen und vertikal durch die Differenzen zu den nationalen Oralisierungsnormen der Standardvarietät begrenzt ist. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 66)
Regionalsprachen sind also Sprachen. Voraussetzung der Bestimmung einer Regionalsprache ist das Vorhandensein einer großräumigen Oralisierungsnorm unterhalb der nationalen Oralisierungsnorm, mit der mindestens eine Vollvarietät verbunden ist (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 73). Bisher wurden häufig Regionalsprachen des Deutschen beschrieben, die sich aus den beiden Varietäten Dialekt und Regiolekt zusammensetzen (vgl. Kap. 2.2.1). Diese Varietäten lassen sich in der Terminologie der Sprachdynamik wie folgt definieren:
33 Die variative Sprachverwendung innerhalb von Varietäten (was zum Wechsel von Sprechlagen führen kann) nennt man Shiften. Der Wechsel der Varietät wird als Switchen bezeichnet (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 52).
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Dialekte sind die standardfernsten, lokal oder kleinregional verbreiteten Vollvarietäten (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 59). [Der Regiolekt ist eine] standardabweichende Vollvarietät mit großregionaler Verbreitung (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 66).
Die bisher identifizierten Sprechlagen und Varietäten des deutschen Sprachraums sind in Abb. 2-1 dargestellt (vgl. KEHREIN 2012, 30–33):34 Varietäten Standardsprache
Standardvarietät Regiolekt
Regionalsprache Dialekt
Sprechlagen Standard geschulter Sprecher Kolloquialstandard Regionalakzent Oberer Regiolekt Unterer Regiolekt Regionaldialekt Basisdialekt
Abb. 2-1: Bisher identifizierte Varietäten und Sprechlagen, dargestellt in einem vertikalen Spektrum
Standard- und Regionalsprache setzen sich aus den Varietäten Standardvarietät respektive Regiolekt und Dialekt zusammen. Die einzelnen Varietäten wiederum bestehen aus verschiedenen Sprechlagen. Ein zentrales Ziel der modernen Regionalsprachenforschung ist es, zu analysieren, wie das Spektrum in den verschiedenen Sprachräumen tatsächlich aufgebaut ist (vgl. Kap. 2.2.3). SCHMIDT (1998) hat dazu für verschiedene Sprachräume des Deutschen Modellierungen vorgeschlagen, KEHREIN (2012, 67–71) gibt einen Überblick zu den Erkenntnissen der vertikalen Strukturierungen und analysiert für sieben Orte aus den großen Dialekträumen die regionalen Spektren (vgl. KEHREIN 2012, 89–313). Für einzelne Sprachräume – wie den hessischen – liegen jedoch noch keine systematischen Erkenntnisse vor und auch für den deutschen Sprachraum insgesamt gibt es noch keine flächendeckende Untersuchung. Dies gehört zu den Aufgaben der modernen Regionalsprachenforschung, die im nächsten Kapitel kurz aufgeführt werden.
34 Von dieser objektlinguistischen Betrachtung des vertikalen Spektrums ist die subjektive Ebene zu unterscheiden. Sprecher konzeptualisieren ihre Sprechweisen (Varietäten und Sprechlagen) unabhängig von der wissenschaftlichen Einteilung und im Vergleich zu anderen Sprechern unterschiedlich. So kann es sein, dass das dem Regiolekt entsprechende „beste Hochdeutsch“ eines Dialektsprechers von Nicht-Dialektsprechern als „Dialekt“ konzeptualisiert wird (vgl. dazu KEHREIN 2012, 32–33 und als Bsp. VORBERGER 2017).
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2 Regionalsprachenforschung
2.2.3 Aufgaben der modernen Regionalsprachenforschung Die beiden Hauptaufgabengebiete der modernen Regionalsprachenforschung sind die Erforschung (1) der variationslinguistischen Struktur der modernen Regionalsprachen und (2) der wichtigsten sprachdynamischen Prozesse (vgl. zu diesem Kap. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 71–88). Dem ersten Aufgabengebiet lassen sich folgende Teilaufgaben subsumieren: die Erforschung (1a) der Anzahl der Regionalsprachen einer Gesamtsprache zu verschiedenen Zeitpunkten, (1b) der vertikalen Struktur der einzelnen Regionalsprachen (d. h. u. a. Aufbau des Spektrums, Sprechertypen) und (1c) der relevanten Interaktionsstrukturen und der linguistischen Bewertungsstrukturen typischer Sprechergruppen. Dem zweiten Gebiet werden folgende Teilaufgaben zugeordnet: die Erforschung (2a) der Genese der Regionalsprachen einer Gesamtsprache, (2b) der Entwicklung der modernen Regionalsprachen des Deutschen in den letzten 80 Jahren, (2c) des Regionalspracherwerbs und (2d) die Erklärung sprachdynamischer Prozesse. Diesen Aufgaben widmet sich unter anderem das Forschungsprojekt Regionalsprache.de (REDE).35 Es wird im nächsten Kapitel kurz vorgestellt, da die vorliegende Arbeit mit dem Projekt verbunden ist. 2.3 REGIONALSPRACHE.DE (REDE) Das Forschungsprojekt Regionalsprache.de (REDE) wird seit 2008 am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas der Universität Marburg durchgeführt (Projektleitung: JÜRGEN ERICH SCHMIDT, JOACHIM HERRGEN und ROLAND KEH36 REIN). Gefördert wird das Projekt, dessen Laufzeit 19 Jahre beträgt, durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Das übergeordnete Ziel des Projekts ist die umfassende und systematische Erforschung der modernen Regionalsprachen des Deutschen. Für dieses übergeordnete Ziel sind zwei konkretere Teilziele formuliert: (1) Aufbau eines forschungszentrierten Informationssystems zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen sowie
35 Weitere Projekte, die der modernen Regionalsprachenforschung subsumiert werden können, sind u. a.: „Sprachvariation in Norddeutschland“ (SiN) (vgl. ELMENTALER et al. 2015) oder „Deutsch heute“ (vgl. KLEINER 2015) 36 Vgl. zu diesem Kapitel und für weitere Informationen zu REDE GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI (2015), SCHMIDT / HERRGEN (2011, 375–391) und die Website des Projekts (REDE).
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(2) Ersterhebung und Analyse der variationslinguistischen Struktur und Dynamik der modernen Regionalsprachen des Deutschen.37 Für das erste Teilziel wurde die Online-Forschungsplattform REDE SprachGIS (= Sprachgeografisches Informationssystem) entwickelt (vgl. REDE VI). Diese enthält bereits zahlreiche Datentypen und Daten, die sukzessive erweitert werden: (a) ungefähr 11.500 Sprachkarten aus über 28 Sprachatlanten (Bsp. Sprachatlas des Deutschen Reichs), (b) Sprachaufnahmen aus 17 Korpora (Bsp. Tonaufnahmen hessischer Mundarten – TAHM), (c) die Georeferenzierte OnlineBibliografie Areallinguistik (GOBA) und (d) ungefähr 57.000 Wenkerbogen. Das REDE SprachGIS bietet nicht nur Recherche- und Informationsfunktionen, sondern auch die Möglichkeit der Kartierung und Publikation eigener Daten und dient als Werkzeug sprachwissenschaftlicher Analysen. Das zweite Teilziel wird von der Arbeitsgruppe Empirie (Leitung: ROLAND KEHREIN) bearbeitet.38 Für die Ersterhebung der modernen Regionalsprachen des Deutschen wurden im Zeitraum von 2008 bis 2014 Sprachaufnahmen in 150 Orten in der Bundesrepublik Deutschland mit Sprechern aus drei Generationen in 5 bis 6 Situationen angefertigt. Es liegt ein Korpus von insgesamt 676 Sprechern mit regionalsprachlichen Aufnahmen im Gesamtumfang von über 1.500 Stunden vor. Dieses wird zurzeit aufbereitet und analysiert (zu den Aufnahmen (d. h. Orte, Sprecher, Situationen) und der Aufbereitung sowie Analyse vgl. Kap. 4.2 und 4.3). Erste Ergebnisse des Projektes liegen mit KEHREIN (2012), LAMELI (2013), ROCHOLL (2015) und zahlreichen Einzelbeiträgen (vgl. Publikationsliste in REDE) vor. Die vorliegende Arbeit wird auf Grundlage des REDE-Korpus mit den Methoden der modernen Regionalsprachenforschung den mittleren und südlichen Teil des hessischen Sprachraums untersuchen.
37 Den beiden Teilzielen widmen sich 6 Arbeitsgruppen: AG Datenintegration Karten, AG Datenintegration Sprachaufnahmen, AG Systementwicklung, AG Bibliographie, AG Empirie und AG Raumstrukturen. 38 Der Verfasser der vorliegenden Arbeit ist seit April 2012 Teil der Arbeitsgruppe Empirie.
3 DER HESSISCHE SPRACHRAUM39 3.1 DEFINITION DES HESSISCHEN SPRACHRAUMS
Karte 3-1: Übersicht der Dialekte in Hessen und der hessischen Dialekte – erstellt mit dem REDE SprachGIS
„Hessen ist […] ein außerordentlich komplexes Dialektgebiet“ (SCHANZE 1981, V). Diese Aussage von SCHANZE äußert sich in mehrfacher Hinsicht. Zunächst muss zwischen den Dialekten differenziert werden, die im heutigen Bundesland Hessen40 gesprochen werden, und den hessischen Dialekten, bei denen sich die Attribuierung hessisch auf den Sprachraum bezieht. Die hessischen Dialekte werden gemeinhin zu vier Dialektverbänden zusammengefasst: Nordhessisch, Ost-
39 In der Arbeit wird der Terminus des Sprachraums verwendet, da explizit nicht nur die Ebene der Basisdialekte untersucht wird, sondern die gesamten Regionalsprachen im Raum. 40 Zur Geschichte Hessens und der Bildung des Bundeslandes vgl. als Übersicht KROLL (2010).
3.1 Definition des hessischen Sprachraums
29
hessisch, Zentralhessisch und Südhessisch/Rheinfränkisch.41 Neben diesen werden im Bundesland Hessen im Landkreis Waldeck-Frankenberg Westfälisch, im Landkreis Kassel Ostfälisch und im Werra-Meißner-Kreis Thüringisch gesprochen (vgl. Karte 3-1 sowie WIESINGER 1980; 1983a).42 In dieser Arbeit wird der Raum der vier hessischen Dialektverbände als hessischer Sprachraum verstanden, die Attribuierung hessisch bezieht sich demnach, wenn nicht anders expliziert, auf die sprachlichen und nicht geo-politischen Eigenschaften. Der Sprachraum wird in den Dialekteinteilungen des Deutschen dem Westmitteldeutschen zugeordnet (vgl. bspw. WREDE 1937, WIESINGER 1983a). Doch schon WIESINGER (1980, 140–142) und zuletzt LAMELI (2013, 194, Abb. 7-4) weisen darauf hin, dass es im Nord- und Osthessischen deutliche Bezüge zum Ostmitteldeutschen gibt. In Einteilungen, die sich auf den Stand der zweiten Lautverschiebung beziehen, wird der Sprachraum dem Rheinfränkischen subsumiert und der gesamte Raum der hessischen und rheinfränkischen Dialekte als Rheinfränkisch bezeichnet (vgl. bspw. MITZKA 1943, BACH 1950, 8).43 Der Stand der zweiten Lautverschiebung dient nach wie vor als Kriterium für die Außenabgrenzung des Sprachraums (vgl. WIESINGER 1980, 68–69, 14044, FRIEBERTSHÄUSER 1987, 46). Im Norden wird der hessische Sprachraum durch den Verlauf der Benrather Linie (ich vs. ik)45 gegen das Niederdeutsche abgegrenzt (vgl. Karte 3-2). Sie verläuft nördlich von Kassel und südlich von Korbach durch die heutigen Landkreise Waldeck-Frankenberg und Kassel. Im Osten erstreckt sich die Germersheimer Linie (pund vs. (p)fund), die eine Differenzierung vom Ostmitteldeutschen ermöglicht, östlich von Kassel und Rotenburg, läuft dann nahe Nentershausen (HersfeldRotenburg) parallel zur Speyrer Linie, bevor sie sich bei Stadtprozelten (Miltenberg) wieder von dieser trennt und östlich von dieser (westlich von Wertheim und Mosbach) verläuft.46 Die Speyrer Linie (Appel vs. Apfel) nimmt ihren Verlauf nördlich von Eisenach, trifft dann – wie beschrieben – auf die Germersheimer Linie und verläuft nach der Trennung weiter westlich (östlich von Erbach) nach Speyer. Sie dient im Südosten zur Abgrenzung gegen das Oberdeutsche bzw. Ostfränkische. Im Westen ist die Sankt Goarer-Linie, auch Hunsrück-
41 S. u. zur Diskussion, Einteilung und Terminologie. 42 Die hessischen Dialektverbände gehen außerdem über den Raum des Bundeslandes Hessen hinaus (vgl. Karte 3-1). 43 Diese (frühere) Bedeutung von Rheinfränkisch wird in der vorliegenden Arbeit nicht verwendet. Hier bezieht sich rheinfränkisch ausschließlich auf den Dialektverband der rheinfränkischen Dialekte (vgl. Kap. 3.3.2). 44 Zugleich betont WIESINGER (1980, 140), dass die Isoglossen der zweiten Lautverschiebung keine präzise, jedoch eine ungefähre Abgrenzung ermöglichen. Er bezieht zusätzlich die für die Binnenstrukturierung verwendeten Isoglossen ein (s. u.). 45 Wie in Karte 3-2 wird bei der Bezeichnung der Isoglossen die hessische Variante zuerst genannt. 46 WIESINGER (1980, 142) weist darauf hin, dass diese Isoglosse alleine nur bedingt der Abgrenzung dient und das Nord- und Osthessische klare Bezüge zum Ostmitteldeutschen aufweisen.
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3 Der hessische Sprachraum
Schranke genannt, lokalisiert; sie trennt was und wat (westgerm. t) voneinander und ermöglicht so eine Abgrenzung zum Mittelfränkischen bzw. Moselfränkischen.47 Sie verläuft westlich von Dillenburg, östlich von Limburg und kreuzt bei Sankt Goarshausen den Rhein. Diese vier Isoglossen definieren somit den Sprachraum, der früher als Rheinfränkisch bezeichnet wurde (vgl. Fn. 43) und der die hessischen Dialektverbände einschließt. Im Süden des Sprachraums lässt die fest/fescht-Linie zusätzlich eine Differenzierung innerhalb dieses Raums zu. Sie bezieht sich nicht auf den Stand der zweiten Lautverschiebung, sondern auf das Phänomen der Palatalisierung von mhd. s vor /t/ in gewissen Positionen (vgl. Kap. 4.4.2.3.4). Sie verläuft nördlich von Erbach, westlich von Darmstadt und südlich von Groß Gerau und Mainz. Sie dient oft zur Differenzierung innerhalb des Rheinfränkischen (vgl. u. a. REIS 1910).
Karte 3-2: Isoglossen der zweiten Lautverschiebung (Außenabgrenzung des hessischen Sprachraums) – erstellt mit dem REDE SprachGIS
47 Zur Speyrer, Germersheimer und Sankt Goarer-Linie vgl. auch MULCH (1967, 33–37).
3.1 Definition des hessischen Sprachraums
31
Die von SCHANZE (1981, V) benannte Komplexität bezieht sich auch auf den hessischen Sprachraum an sich, denn dieser weist die „differenzierteste Binnenstruktur“ (RAMGE 2003, 2729) unter den deutschen Dialektgebieten auf. Wie bereits erwähnt – und auf Karte 3-1 zu sehen – werden im Allgemeinen drei bis vier Dialektverbände als hessisch bezeichnet: das Nordhessische, das Osthessische, das Zentralhessische und Teile des Rheinfränkischen.48 WIESINGER (1980; 1983a) zählt Nord-, Ost- und Zentralhessisch zu den genuin hessischen Dialektverbänden. Oft, so auch hier, wird jedoch auch der – geo-politisch – hessische Teil des Rheinfränkischen zu den hessischen Dialektverbänden gezählt (zum Raum vgl. Kap. 3.3) und als Südhessisch bezeichnet (vgl. bspw. Südhessisches Wörterbuch, FRIEBERTSHÄUSER 1987). Auch WIESINGER (1980) behandelt diesen Teil des Rheinfränkischen unter den hessischen Dialekten. Oft wird innerhalb des Rheinfränkischen zwischen Nord- und Südrheinfränkisch unterschieden und das erste als Hessisch und das zweite als Pfälzisch begriffen (vgl. WREDE 1937, FRIEBERTSHÄUSER 1987, WIESINGER 1980).49 Zwischen den Dialektverbänden gibt es zudem zahlreiche Übergangsgebiete (vgl. Karte 3-1). In einem relativ kleinen Gebiet werden also vier Dialektverbände, sowohl aufgrund der historischen Entwicklung (vgl. Kap. 3.2 und WIESINGER 1980) als auch der synchronen Eigenschaften (vgl. WIESINGER 1980) unterschieden. Dies stellt den zweiten Aspekt der Komplexität der hessischen Dialekte dar – gerade auch im Vergleich mit anderen (meist großräumigeren) Dialektgebieten des Deutschen.50 Zur Binnengliederung des Sprachraums wird der Vokalismus herangezogen (vgl. WIESINGER 1980; 1983a). Sie wird für die relevanten Räume in Kap. 3.3 vorgestellt. 3.2 GESCHICHTE DES HESSISCHEN SPRACHRAUMS51 Im hessischen Sprachraum herrschten von Anfang an „keine einheitlichen sprachlichen Verhältnisse“ (WIESINGER 1980, 140). Früheste Hinweise auf die Besiedlung des Raums und somit sprachliche Einflüsse sind der Toponymik zu entnehmen (alteuropäisch sind bspw. die Bezeichnungen Rhein, Eder und Ohm, keltisch
48 Tw. werden die Verbände anders benannt (Niederhessisch, Mittel- oder Oberhessisch) (vgl. dazu bspw. FRIEBERTSHÄUSER 1987, DINGELDEIN 1989). Hier wird aber die allgemein anerkannte Terminologie nach WIESINGER (1980; 1983) verwendet. 49 Zur Abgrenzung dient oft die fest/fescht-Isoglosse (s. o.). Zur Diskussion zur Einteilung innerhalb des Rheinfränkischen und zur Bedeutung der Isoglosse vgl. Kap. 3.3.2, v. a. Fn. 70. 50 Dieser objektsprachlichen Heterogenität steht eine subjektive Einheitlichkeit des Sprachraums gegenüber (vgl. PURSCHKE 2008; 2010 und Kap. 3.5.2). 51 Die hier vorliegende Skizze der Sprachgeschichte dient des Überblicks und dem grundlegenden Verständnis. Vgl. hierzu ausführlicher MITZKA (1946, 5–30, 73–84; 1953), MULCH (1967) und RAMGE (1992, 1–18; 2000, 193–213; 2003 und 2013, 387–540).
32
3 Der hessische Sprachraum
hingegen bspw. Kinzig und Nidda) (vgl. RAMGE 2003, 2729).52 Eine erste sprachliche Grundstruktur des Raums wird durch die römische Besiedlung im Süden erkennbar. Die Mitte und der Süden des Gebiets orientierten sich zu den mittelrheinischen Zentren der Römer. Spuren davon sind im lateinischen Lehngut der Flurnamen sichtbar (vgl. RAMGE 2003, 2729). Als Beispiel kann hier Kappes (‘(Weiß-)Kraut’) in hessischen Flurnamen dienen. Dieses geht auf mhd. kabeʒ zurück, das seinerseits aus dem Mittellateinischen (mlat. caputia/-ium < lat. caput – ‘Kopf’) entlehnt wurde. Belegt ist es seit dem 5. Jh. Wie Karte 24 des Hessischen Flurnamenatlasses zeigt (vgl. RAMGE 1987, Karte 24), verläuft die Beleggrenze von der oberen Lahn über den Vogelsberg zur Kinzig und zeichnet eine Struktur, die zum Teil bis heute sichtbar ist (vgl. hierzu RAMGE 2003, 2729– 2731). Die zweite Lautverschiebung weist den Sprachraum als westmitteldeutsch aus (vgl. Kap. 3.1 und Karte 3-2).53 Der Entwicklungsprozess der Lautverschiebung ist bisher nicht genau geklärt (vgl. als Überblick zu den Kontroversen zuletzt SCHWERDT 2002). Es ist aber davon auszugehen, dass für den hessischen Sprachraum der ursprüngliche Stand der Lautverschiebung wie im heutigen Moselfränkischen bestand (vgl. WIESINGER 1980, 131) bzw. die was/wat-Isoglosse (s. o.) südlicher verlief (vgl. RAMGE 2003, 2731–2732). Darauf deuten unverschobene Reliktformen hin. So belegt RAMGE (2003, 2732) beispielsweise die Verwendung des schriftsprachlichen dit nördlich des Mains bis ins 16. Jh. Aufgrund von Rekonstruktionen lautlicher Zusammenhänge mit dem Moselfränkischen und der synchron gestaffelten Verteilung im Raum (Merkmale: Lautverschiebung, i-Spaltung, a-Umlaut) geht WIESINGER (1980, 132) davon aus, „dass Hessen in ahd. Zeit in westlichen, mittelfränkischen und nicht, wie allgemein angenommen, in rheinfränkischen Zusammenhängen stand“. Er sieht darin erste Anzeichen für die Herausbildung der hessischen Dialekträume (vgl. WIESINGER 1980, 133). In der darauffolgenden Zeit sind zwei Prozesse von großer Bedeutung: (1) die Entstehung von regionalen und überregionalen Schreibsprachen und (2) die Entstehung der hessischen Dialekträume (vgl. RAMGE 2003, 2734). Die hessische Schreibsprachgeschichte gliedert sich in die des Westmitteldeutschen ein, dennoch lassen sich in den schriftlichen Zeugnissen auch Reflexe der spezifischen Merkmale des hessischen Sprachraums finden (vgl. RAMGE 2003, 2736–2737). Ab dem 15. Jh. macht sich gerade im Süden des Raums auch südlich-oberdeutscher Einfluss geltend (vgl. RAMGE 2003, 2738).54 Zur Entstehung der hessischen Dialekträume nimmt WIESINGER (1980, 133) für das Zentralhessische an, dieses stehe weiterhin in Verbindung zum Moselfränkischen. Beide Dialektverbände teilen (ab dieser Zeit) Eigenschaften des Vokalismus (bspw. Realisierung 52 Vgl. zu den Chatten als möglicher hessischer Urbevölkerung und deren Verbreitungsgebiet FRIEBERTSHÄUSER (1987, 36–37), MITZKA (1946, 5–8) und KROLL (2006, 12–20). 53 Vgl. hierzu auch MITZKA (1968). 54 Zur Schriftsprache in Frankfurt am Main im Mittelalter vgl. WÜLCKER (1877, 3–12).
3.2 Geschichte des hessischen Sprachraums
33
von mhd. ê und ô als [iː] und [uː], die diphthongischen Formen von ich, dich, mich; vgl. WIESINGER 1980, 133–134). Er hält auch spezifische Eigenentwicklungen des Zentralhessischen fest, deren Datierung allerdings schwierig ist: so beispielweise die Realisierung von mhd. i1 als [ɪ͡ə] und von mhd. ë als [ɛ͡ə] oder von mhd. üe als [ɔ͡ɪ] (vgl. WIESINGER 1980, 134). Das Rheinfränkische weist zwar synchron Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Zentralhessischen auf, eine Auseinanderentwicklung ist, laut WIESINGER (1980, 134–135), jedoch nicht anzunehmen. Vielmehr muss von einer mitteldeutsch-fränkischen Grundlage des Rheinfränkischen ausgegangen werden, mit oberdeutsch-alemannischem Einfluss und eigenen Entwicklungen im Vokalismus. Dies schließt aber nicht frühe Gemeinsamkeiten mit dem Zentralhessischen und Moselfränkischen aus (vgl. WIESINGER 1980, 135). RAMGE (2003, 2738–2739) stattdessen erklärt die Differenzierung des südhessischen und zentralhessischen Sprachraums dadurch, dass sich der Raum um Frankfurt und Mainz, über den vorher sprachliche Entwicklungen unter anderem aus dem Moselfränkischen verliefen, als „sprachlicher Umschlagsort“ (RAMGE 2003, 2738) nach Süden orientiert und sich den südlich-oberdeutschen Einflüssen öffnet. Er löst sich aus den alten westmitteldeutschen Sprachzusammenhängen, während das Zentralhessische keine südlichen Formen übernimmt, alte Formen bewahrt und eine eigene Entwicklung vollzieht. Letztlich ist es schwierig, die genaue Ausdifferenzierung des Raums zu rekonstruieren. Wichtig ist, dass das Rheinfränkische und das Zentralhessische sich als eigenständige Dialekträume herausbilden, in ihrer Entwicklung aber stets in einem Zusammenhang stehen (vgl. auch WIESINGER 1980, 134–135 und Kap. 3.4).55 Für das Ost- und Nordhes-
55 Zur Diskussion der sprachhistorischen Entwicklung der Laute vgl. SCHMIDT (2015). SCHMIDT (2015) nimmt – ausgehend vom historischen Westdeutsch (auch: Altwestdeutsch) – für das Moselfränkische einen Ein-Schritt-Wandel des Langvokalismus an. Auch für die Entwicklung des Hochdeutschen (darin inbegriffen das Rheinfränkische) nimmt er einen anderen Verlauf an als bisher. Für die hessischen Dialekte steht eine analoge Analyse noch aus. Erste Analysen zeigen, dass SCHMIDTS (2015) Rekonstruktion auch auf das Zentralhessische übertragen werden kann. Ein Unterschied zum Moselfränkischen besteht darin, dass sich die Langmonophthonge aus Reihe 1 nach der Hebung – wahrscheinlich phonetisch bedingt – zu Flachdiphthongen weiterentwickelt haben. Zudem ist das awd. Phonem 0 im Zentralhessischen geschlossener und die Diphthonge aus Reihe 3 etwas offener, was sich beides sinnvoll in die Gesamtentwicklung eingliedert. Der genaue Ablauf (bzw. die Reihenfolge) der Prozesse muss noch geklärt werden. Dies scheint somit SCHMIDTS Annahme zu bestätigen, dass „[d]em zentralhessischen Langvokalsystem […] mit Sicherheit das altwestdeutsche zugrunde[liegt]“ (SCHMIDT 2015, 270). Die (rezenten) Unterschiede können durch spezifische Eigenentwicklungen des Zentralhessischen und v. a. durch eine „stufenweise[…] Verhochdeutschung […], die sich von Süden nach Norden ausgebreitet hat“ (SCHMIDT 2015, 270) erklärt werden. Die alten Grenzen des historischen Westdeutschs können auf den Wenkerkarten (bspw. gut, weh, tot) noch erkannt werden. Insgesamt spricht diese Rekonstruktion – wenn auch mit anderen Teilprozessen – für die Annahme von WIESINGER, dass das Zentralhessische in westlichen Zusammenhängen steht – im Gegensatz zum Rheinfränkischen – und dann sprachlich vom Süden beeinflusst wird. Für die vorliegende Arbeit ist diese sprachhistorische Diskussion nicht von zentraler Bedeutung, da die jeweiligen Resultate der Entwicklungen re-
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3 Der hessische Sprachraum
sische geht WIESINGER (1980, 136–138) ab dieser Zeit von einer Ausrichtung nach Osten (zum Thüringischen und Unterostfränkischen) aus. Beide sind als west-östliche Interferenzräume zu bezeichnen; vor allem das Nordhessische, das zwischen dem Zentralhessischen und dem Osthessischen/Thüringischen steht. Um 1500 sind die wichtigsten phonologischen und morphologischen Prozesse abgeschlossen (vgl. RAMGE 2003, 2739). Das Ergebnis ist der hessische Sprachraum, wie er mit seinen spezifischen Eigenschaften und der Binnengliederung (vgl. Kap. 3.1 und 3.3) in den Dialektbeschreibungen erfasst ist. WIESINGER fasst die grundlegende Gliederung und die weitere Entwicklung wie folgt zusammen: Über die Lautverschiebung und allgemeine mitteldeutsche Merkmale hinaus setzen sich nämlich der Norden und der Süden des Kombinationsraums sowohl anhand der frühen Grundlagen als auch auf Grund späterer Entwicklungen deutlich voneinander ab, wenn es auch wegen der räumlichen Nachbarschaft einzelne sprachliche Kontakte gibt und besonders seit dem Ende des 19. Jhs. südliche Erscheinungen stark nach Norden vordringen. (WIESINGER 1980, 140)
Im 19. Jh. lässt sich eine allgemeine Tendenz der Verbreitung sprachlicher Merkmale von Süden nach Norden feststellen, die mit einer Öffnung des Zentralhessischen nach Süden einhergeht (vgl. WIESINGER 1980, 141, RAMGE 2003, 2740, SCHIRMUNSKI 2010/1962, 669).56 Die sprachlichen Entwicklungen haben dazu geführt, dass für den hessischen Sprachraum Anfang des 20. Jh. eine zweifache Differenzierung angenommen werden kann: – Süd-Nord-Differenzierung: genuin hessische Dialektverbände nördlich des Mains und das Rheinfränkische südlich des Mains (vgl. WIESINGER 1980, 140). – West-Ost-Differenzierung: Orientierung des Ost- und Nordhessischen nach Osten und klare Abgrenzung zum Zentralhessischen (vgl. WIESINGER 1980, 136–138) sowie süd-westliche Orientierung des Zentralhessischen (vgl. WIESINGER 1980, 140–141, RAMGE 2003, 2740–2742).57 Um Abgrenzung und Definition der relevanten Dialektverbände des hessischen Sprachraums geht es in Kap. 3.3.
levant sind (Lautsysteme), nicht aber die frühen Entwicklungen als solche, auch wenn die ersten Analysen analog zu SCHMIDT (2015) neue Erkenntnisse liefern. Deshalb wird auch, wenn kein direkter Bezug zur Literatur besteht, von den Entsprechungen der mhd. Laute gesprochen und nicht von möglichen Entwicklungen (wie bspw. der Monophthongierung von mhd. ou im Rheinfränkischen). In Kap. 8 wird auf Grundlage der vorliegenden Ergebnisse nochmals Bezug zur Diskussion genommen. 56 Vgl. zu den neueren sprachlichen Entwicklungen ab dem 19. Jh. ausführlicher Kap. 3.4. Gemäß der Analyse analog zu SCHMIDT (2015) wäre dies eine weitere Stufe der sich von Süden ausbreitenden Verhochdeutschung. 57 RAMGE (2003, 2742) verweist darauf, dass die West-Ost-Differenzierung bereits an der „mittelhessischen Namensscheide“ erkennbar wird (s. o. und vgl. Karte 24 Hessischer Flurnamenatlas).
3.3 Basisdialekte des untersuchten hess. Sprachraums
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3.3 BASISDIALEKTE DES UNTERSUCHTEN HESSISCHEN SPRACHRAUMS In diesem Kapitel werden die hier untersuchten Räume Zentralhessisch, Rheinfränkisch und das Übergangsgebiet zwischen ihnen beschrieben.58 Zu den beiden anderen Dialekträumen Ost- und Nordhessisch vgl. WIESINGER (1980; 1983a, 852–855) und als Überblick FRIEBERTSHÄUSER (1987). 3.3.1 Zentralhessisch Das Kerngebiet des Zentralhessischen liegt zwischen Westerwald, Vogelsberg und Taunus, es erstreckt sich von der Lahn bis zum Main und umfasst somit die heutigen Landkreise Lahn-Dill, Marburg-Biedenkopf, Gießen, Vogelsberg, Wetterau, Main-Kinzig, Hochtaunus sowie Limburg-Weilburg. Die Außengrenze des Kerngebiets verläuft westlich von Dillenburg/Weilburg, nördlich von Marburg, nordöstlich von Homberg/Ohm, östlich von Gedern, südöstlich von Büdingen, südlich von Bad Vilbel und südwestlich von Oberursel (vgl. Karte 3-3). Die Definition des Kerngebiets und somit die Binnendifferenzierung des hessischen Sprachraums nimmt WIESINGER (1980; 1983a, 851–853) auf Grundlage des Vokalismus vor. Folgende Merkmale dienen für das Zentralhessische der Abgrenzung, wie anhand des Isoglossenverlaufs zu sehen ist:59 Mhd. i1 wird im Zentralhessischen [ɛ͡ə, ͡ɪə] realisiert (Bsp. Kind), mhd. i2 hingegen [ɛ, e] (Bsp. trinken). In Karte 3-3 wird dies anhand der Isoglosse für mhd. i1 (rote, gestrichelte Linie (1)) dargestellt. Dieses Merkmal dient zur Differenzierung gegenüber allen umliegenden Dialekträumen und kontrastiert mit unterschiedlichen Varianten. Im Zentralhessischen werden mhd. e und mhd. ë differenziert. Das Erste wird [ɛ] ausgesprochen (Bsp. besser) und das Zweite [ɛ͡ə] (Bsp. Schwester). In Karte 3-3 ist dies an der Isoglosse für mhd. ë (blaue, gepunktete u. gestrichelte Linie (2)) zu sehen. Auch hier unterscheidet sich das Zentralhessische von allen Nachbargebieten, die unterschiedliche Entsprechungen der beiden Laute aufweisen. Mhd. ǖ entspricht im Zentralhessischen [ɔ͡ɪ] (Bsp. heute, Feuer). Dieser gerundete Diphthong ist eines der Kennzeichen des Zentralhessischen und kontrastiert mit verschiedenen Varianten der anderen Dialektverbände. In Karte 3-3 ist die Isoglosse für mhd. ǖ (gelbe, gestrichelte Linie (3)) eingezeichnet.
58 Die Beschreibung des Übergangsgebietes bezieht sich hauptsächlich auf den Untersuchungsort Frankfurt, der Bestandteil dieser Arbeit ist. 59 WIESINGER (1980, 140) schreibt, dass einzelne Schibboleths schwierig zu nennen sind und daher die speziellen Lauteigenschaften insgesamt der Abgrenzung dienen, obwohl einzelne Lexeme als Beispiele herangezogen werden.
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3 Der hessische Sprachraum
Die Entsprechung von mhd. uo [ɔ͡ʊ] ist ein charakteristisches Merkmal des Zentralhessischen (Bsp. Bruder). Sie ermöglicht eine Differenzierung mit den umliegenden Räumen, bis auf Teile des Moselfränkischen an der unteren Lahn und des Übergangsgebietes, wo diese Variante auch gilt. Die entsprechende Isoglosse (mhd. uo (4)) ist als grüne, durchgezogene Linie in Karte 3-3 abgebildet. Einen ähnlichen Verlauf hat die Isoglosse für mhd. ie, das im Zentralhessischen [ɛ͡ɪ] artikuliert wird (Bsp. lieb). Eine Entsprechung der Reihe der geschlossenen mittelhochdeutschen Diphthonge gilt allerdings ausschließlich für das Zentralhessische: mhd. üe wird [ɔ͡ɪ, ɔ͡ʏ] realisiert, als Beispiel können hier Kühe und Füße dienen. Auch die dialektalen Varianten von mhd. ô [uː] (Bsp. Brot), mhd. ê und œ [iː] (Bsp. weh, böse) trennen das Zentralhessische von den anderen hessischen Dialektverbänden, verbinden es aber mit dem Moselfränkischen. In Karte 3-3 ist der Verlauf der Isoglosse für mhd. ô (pinke, gepunktete Linie (5)) dargestellt, die anderen beiden Isoglossen verlaufen ähnlich. Für das Zentralhessische kommt WIESINGER (1980, 140) zu dem Ergebnis, dass eine relativ klare Abgrenzung gegenüber den umliegenden Dialekträumen möglich ist,60 vor allem nach Norden und Osten61, aber auch zum Süden. Im Westen bestehen deutliche Bezüge zum Moselfränkischen.62 Insgesamt ist von einem eigenständigen Dialektverband auszugehen (vgl. WIESINGER 1980, 141 und auch DINGELDEIN 1989, 9–10).63 Für die Grenze im Süden mit dem Rheinfränkischen ist hingegen anzunehmen, dass diese früher südlicher gelegen hat (vgl. WIESINGER 1983a, 852 und Kap. 3.4.1). Allgemein hat das Zentralhessische einige rheinfränkische Erscheinungen aufgenommen. Dieser rheinfränkische Einfluss intensiviert sich ab dem 19. Jh., weswegen WIESINGER (1980, 141) für die Basisdialekte des Zentralhessischen eine (neue) relative Öffnung auch nach Süden und Südwesten konstatiert (vgl. auch MAURER 1929, DEBUS 1963, RAMGE 2003). Weitere Merkmale des Zentralhessischen64 sind in Auswahl in folgender Tabelle dargestellt (vgl. hierzu WIESINGER 1980, REIS 1910 und FRIEBERTSHÄUSER 1987).
60 „Kleinere Interferenzzonen“ (WIESINGER 1983, 851) befinden sich auf allen Seiten. 61 Eine weitere Differenzierung zum Nord- und Osthessischen ermöglichen die unterschiedlichen Reflexe von mhd. î, û und ǖ. Diese werden im Zentralhessischen diphthongisch [a͡ ̠ ɪ, a͡ ̠ ʊ, ɔ͡ɪ], im Ost- und Nordhessischen monophthongisch [iː, uː, yː] artikuliert. 62 Eine Abgrenzung zum Moselfränkischen ermöglichen aber die unterschiedlichen Entsprechungen von westgerm. t (vgl. Sankt Goarer-Linie, Karte 3-2). 63 MULCH (1967, 50) drückt die Besonderheit und Eigenständigkeit des Zentralhessischen wie folgt aus: „Im ganzen [sic!] genommen macht das Oberhessische den Eindruck einer eigenwilligen, knorrigen, um nicht zu sagen derben Sprache […]“. 64 Diese Merkmale dienen meist nicht zur Binnengliederung des hessischen Sprachraums, sind aber auch Kennzeichen des Zentralhessischen. Morphologische, syntaktische und lexikalische Merkmale werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt (vgl. hierzu WIESINGER 1983, 851, FRIEBERTSHÄUSER 1987, 81–97 bzw. die Dialektgrammatiken und zur Lexik die Wörterbücher im Literaturverzeichnis).
3.3 Basisdialekte des untersuchten hess. Sprachraums
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mhd. Bezugslaut zh. Entsprechung Kommentar / Bsp. â [u͡ːə, oː] Aas, nach a [a] Nacht, gedehnt [ɔː] ü [e] fünf u [o] gefunden ö [e] Köpfe, gedehnt [eː] ei [a̠ː] Fleisch ou [a̠ː] Baum öü [a̠ː, ɛː] Bäumchen d, t [r] Wetter, wieder g ø intervok., sagen; sonst Spirantisierung Zusammenfall der westgerm. Plosive zu stimmlosen Lenes ansonsten im Konsonantismus weitgehend westmitteldeutsche Erscheinungen Tab. 3-1: Weitere zentralhessische Merkmale
SCHIRMUNSKI (2010/1962, 666) nennt als primäre Merkmale65 des Zentralhessischen die Entsprechung von mhd. uo, ie, üe ([ɔ͡ʊ], [ɛ͡ɪ], [ɔ͡ɪ]), von mhd. ê, œ, ô, ([iː], [uː]), die unsystematische Entsprechung von mhd. i ([e]), die Entsprechung von mhd. ë ([ɛ͡ːɐ, ɛ͡ɐ]), den Rhotazismus und den Ausfall des spirantisierten [ɡ]. Als sekundäre Merkmale beschreibt er die Entsprechung von mhd. ei, ou ([a̠ː]), Entrundung, Quantitätsunterschiede zur Standardsprache, die stl. Lenes, bSpirantisierung, unverschobenes westgerm. p im In- und Auslaut, die Assimilation von [nd], die Palatalisierung bei [rs] und die e- und n-Apokope (vgl. SCHIRMUNS66 KI 2010/1962, 667). 3.3.2 Rheinfränkisch Die Abgrenzung des Rheinfränkischen gegenüber den umliegenden Räumen ist nicht in der Art möglich wie beim Zentralhessischen, da „den verschiedenen, unter rheinfränkisch zusammengefassten Dialektgruppen charakteristische synchrone Gemeinsamkeiten“ (WIESINGER 1983a, 846) fehlen. Die umliegenden Räume weisen diese jedoch auf, weshalb „die Zusammenfassung von außen her gerechtfertigt“ (WIESINGER 1983a, 846) ist. Die Grenzen des Rheinfränkischen liegen südlich des Mains, an der hessisch-bayrischen Landesgrenze, südlich von Karlsruhe, an der deutsch-französischen Staats- und Sprachgrenze und westlich 65 Die Unterteilung in primäre und sekundäre Merkmale ist problematisch (vgl. dazu u. a. KEHREIN 2015, 468–474), dient hier aber dazu, die besonderen Kennzeichen des Zentralhessischen darzustellen. 66 Vgl. zum Zentralhessischen allg. auch MITZKA (1946, 85–92, Karte 2) und MULCH (1967, 49–56).
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3 Der hessische Sprachraum
von Kusel und Bad Kreuznach. Zu den umliegenden Dialekträumen bestehen Übergangsgebiete. Innerhalb des Rheinfränkischen lassen sich mehrere größere Dialektgruppen unterscheiden: Südrheinfränkisch, Unterelsässisch, Vorderpfälzisch, Ostpfälzisch, Nordpfälzisch, West- und Hinterpfälzisch sowie Nordrheinfränkisch oder Starkenburgisch, was auch als Südhessisch bezeichnet wird (vgl. WIESINGER 1983a, 849). In dieser Arbeit ist eben jenes Gebiet des Südhessischen von Interesse.67 Dieses liegt in den heutigen Landkreisen Offenbach, Groß-Gerau, Darmstadt-Dieburg, Bergstraße und Odenwald. Die Außengrenze verläuft südlich von Offenbach, nördlich von Aschaffenburg, östlich von Erbach, südlich von Heppenheim und westlich ungefähr am Rhein entlang (vgl. Karte 3-3). Folgende Merkmale dienen der Differenzierung innerhalb des Rheinfränkischen und der Abgrenzung nach Norden und Osten (vgl. Fn. 59): Im Rheinfränkischen entspricht mhd. ǖ dem Diphthong [ɑ͡ɪ] (Bsp. Häuser, Feuer). Dies ermöglicht eine Differenzierung nach Norden mit dem Zentralhessischen, dessen Entsprechung ein runder Diphthong ist (s. o.) und auch nach Osten.68 Zu sehen ist dies am Isoglossenverlauf (für mhd. ǖ) in Karte 3-3 (gelbe, gestrichelte Linie (3)). Mhd. ä und ë entsprechen im Rheinfränkischen [ɛ] (Bsp. wächst, Schwester), mhd. e hingegen [e] (Bsp. besser). Dies ermöglicht einerseits eine Abgrenzung zum Zentralhessischen (s. o. (2)), andererseits zum Moselfränkischen im Westen, in dem die Laute zusammengefallen sind. In Karte 3-3 ist die Isoglosse für mhd. ä und ë dargestellt (dunkelblaue, durchgezogene Linie (6)). Das morphologische Phänomen der Diminutivbildung erlaubt eine Differenzierung innerhalb des gesamten Gebiets des Rheinfränkischen. Im nördlichen Teil wird dieser mit dem Suffix {chen}, im Südlichen mit {lein} gebildet (Bsp. Häuschen vs. Häuslein). Der Verlauf der Isoglosse ist Karte 3-3 (Diminutiv (7), violette, gestrichelte Linie) zu entnehmen. Er entspricht nicht der Grenze zwischen Südund Nordrheinfränkisch. Somit kommt dem Merkmal für den hier untersuchten Teil keine explizite Grenzfunktion zu. Eine Abgrenzung nach Westen zu den anderen Dialektgruppen innerhalb des gesamten Rheinfränkischen ermöglicht der Einheitsplural der Verben im Präsens Indikativ auf {-ə, -ən} östlich der auf Karte 3-3 eingezeichneten Isoglosse (Einheitsplural (8), hellgrüne, gepunktete u. gestrichelte Linie). Im westlichen Teil werden die Personen im Plural unterschieden. Ein weiteres Merkmal, das eine Differenzierung innerhalb des Rheinfränkischen zulässt, ist die Palatalisierung von westgerm. s vor /t/ in bestimmten Kontexten. Die Grenze verläuft mitten durch Südhessen, wie Karte 3-3 zeigt (westgerm. st (9), braune, gestrichelte Linie). Im nördlichen Teil kommt keine Palatalisierung vor, im südlichen wird westgerm. s vor /t/ in bestimmten Positionen als [ʃ] 67 Es wird hier als Rheinfränkisch bezeichnet, da es sich um den rheinfränkischen Teil des hessischen Sprachraums handelt, der hier betrachtet wird. Bei der Betrachtung des Rheinfränkischen wird die Bezeichnung Südhessisch gewählt. Zur Abgrenzung s. u. 68 Hier entspricht mhd. ǖ [ɑ͡ʏ] (vgl. WIESINGER 1980, Karte 9).
3.3 Basisdialekte des untersuchten hess. Sprachraums
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artikuliert (Bsp. bist). WIESINGER (1980, 140) schreibt dieser Differenzierung keine Grenzfunktion zu. Sie kann aber zur Differenzierung der beiden Untersuchungsorte dieser Arbeit (Reinheim, nördlich der Isoglosse, und Erbach, südlich der Isoglosse, s. u.) dienen. Im östl. Teil des Rheinfränkischen entspricht mhd. ê [ɛ͡ɪ] (Bsp. weh) und mhd. ô [ɔ͡ʊ] (Bsp. Brot). Dadurch wird das Gebiet gegen den westl. Teil des (gesamten) Rheinfränkischen abgegrenzt. Der Verlauf dieser sprachlichen Grenze wird auf Karte 3-3 für mhd. ê ((10) schwarze, gepunktete Linie) dargestellt. Auch dieses Merkmal dient nicht der Abgrenzung gegen andere Dialektgruppen innerhalb des (gesamten) Rheinfränkischen, aber der Abgrenzung der beiden hier untersuchten Orte, die beide in dem Gebiet liegen. Eine deutliche Abgrenzung des Südhessischen/Rheinfränkischen nach Osten und Süden69 ist möglich, ebenso eine klare Differenzierung mit dem nördlichen Zentralhessischen. Hier besteht jedoch – wie beim Zentralhessischen erwähnt – eine relativ neue Öffnung des Zentralhessischen nach Süden (vgl. WIESINGER 1980, 140–141; 1983a, 849). Nach Westen lässt sich die Dialektgruppe des Südhessischen nur bedingt begrenzen und auch Karte 3-3 zeigt, dass eine klare Raumbildung – wie bspw. beim Zentralhessischen – nicht möglich ist (vgl. WIESINGER 1983a, 846). Deshalb stimmen auch die Definition dessen, was genau Nordrheinfränkisch/Starkenburgisch bzw. Südhessisch ist und welchen Raum es einnimmt, nicht immer überein (vgl. bspw. die Ausführungen WIESINGERS 1980, 69; 1983a, 847–849 mit FRIEBERTSHÄUSER 1987, 52–53).70 Das Südhessische Wörterbuch (vgl. MULCH 1965, IX–XII, XIX) wiederum definiert das Bearbeitungsgebiet politisch. Es behandelt (neben territorialen Exklaven) die Provinzen Rheinhessen und Starkenburg des ehemaligen Großherzogtums HessenDarmstadt. Hier vermischen sich die sprachlichen und geo-politischen Kriterien der Raumabgrenzung, da häufig der Teil des Rheinfränkischen, der im Bundesland Hessen liegt, als Südhessisch gefasst wird. Dennoch lässt sich generell der Sprachraum des Südhessischen annehmen (vgl. WIESINGER 1980, 140). Die Problematik der Binnendifferenzierung des Rheinfränkischen und der Definition der Räume ist in dieser Arbeit auch nicht ausschlaggebend. Hier werden zwei Orte aus dem Rheinfränkischen, die in Südhessen liegen (Rheinheim und Erbach), behandelt und als Teil des hessischen Sprachraums betrachtet. Der Raum, in dem diese beiden Orte liegen, kann klar über Merkmale definiert werden (vgl. Karte 3-3 und Kap. 4.4).71
69 Im Osten und Süden wird das Gebiet, wie oben skizziert, auch durch die Speyrer und die Germersheimer Linie abgegrenzt. 70 Zu sehen ist dies an der Diskussion um die Bedeutung der fest/fescht-Isoglosse. Mitunter wird sie zur Differenzierung des Nord- und Südrheinfränkischen herangezogen (vgl. u. a. MITZKA 1943), WIESINGER (1980, 140) hingegen spricht ihr diese Grenzfunktion ab. 71 Diese Handhabung ergibt sich nicht zuletzt aus der Relevanz, die dieser Raum für die Entwicklungen im gesamten hessischen Sprachraum zeigt.
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3 Der hessische Sprachraum
WIESINGER (1980, 140) konstatiert für das gesamte Rheinfränkische eine mitteldeutsche Prägung mit oberdeutsch-alemannischen Einflüssen. Als Besonderheit des Dialektverbands gilt, dass er „insbesondere im Vokalismus der Schrift- und Standardsprache näher steht als die nördlichen Dialekte“ (WIESINGER 1983a, 849). Die rheinfränkischen Dialekte können demnach die Funktion als Verkehrsdialekt und Umgangssprache erfüllen und wirkten „in der sprachsoziologischen Auseinandersetzung von diesen höheren Sprachschichten aus umgestaltend auf die Dialektverhältnisse der benachbarten Gebiete ein“ (WIESINGER 1983a, 849).72 Weitere Merkmale des Rheinfränkischen sind in folgender Tabelle enthalten (vgl. hierzu WIESINGER 1980, REIS 1910 und FRIEBERTSHÄUSER 1987, vgl. auch Fn. 64). mhd. Bezugslaut rf. Entsprechung Kommentar / Bsp. â [oː] nach, Aas a [a] Nacht, gedehnt: [ɑː] ü, üe [ɪ], [iː] fünf, Füße ö, œ [e], [eː] Köpfe, böse ei [a̠ː] Fleisch ou [a̠ː] Baum öü [eː, ɛː] Bäumchen d, t [r] nur tw., Wetter, wieder Zusammenfall der westgerm. Plosive zu stimmlosen Lenes ansonsten im Konsonantismus weitgehend westmitteldeutsche Erscheinungen Tab. 3-2: Weitere rheinfränkische Merkmale
SCHIRMUNSKI (2010/1962, 668) nennt als besondere Kennzeichen des südöstlichen Teils des Rheinfränkischen (also für Teile des Südhessischen) die Palatalisierung und die Entsprechungen von mhd. ê und ô. Das Gebiet um Wiesbaden, Frankfurt, Darmstadt und Aschaffenburg, also der Hauptteil des Südhessischen, ist dadurch gekennzeichnet, dass hier die primären Merkmale des Zentralhessischen und des südlich angrenzenden Teils des Rheinfränkischen fehlen (vgl. SCHIRMUNSKI 2010/1962).73
72 Dies erhellt möglicherweise auch den Prozess der Öffnung des Zentralhessischen zum Rheinfränkischen und wird in Kap. 3.4 näher beschrieben. 73 Dies trifft zumindest für die Entsprechungen von mhd. ê und ô nicht für den ganzen Raum zu (vgl. Karte 3-3).
3.3 Basisdialekte des untersuchten hess. Sprachraums
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3.3.3 Frühere Gliederungen Die hier angeführte Dialekteinteilung nach WIESINGER (1983a) kann ebenso wie die Binnengliederung des hessischen Sprachraums (vgl. WIESINGER 1980 und dazu DINGELDEIN 1989) als wissenschaftlicher Standard gelten. Die Differenzierung des hessischen Sprachraums ist jedoch auch Bestandteil früherer Arbeiten. Den ersten Hinweis auf eine besondere Sprechweise im mittleren Hessen gibt HUGO VON TRIMBERG um 1300 in seinem literarischen Werk „Der Renner“. Bei der Aufzählung der „lantsprâchen“ (V. 22287) schreibt er: „Die Wetereiber si würgent“ (V. 22271, zit. nach EHRISMANN 1970, 220). Dies bezieht sich auf die Wetterauer. Was damit genau gemeint ist, muss offenbleiben. Es kann aber als erster Hinweis auf das Zentralhessische und seine Besonderheiten gelten. Auch ESTOR (1767) äußert sich in einer Wortsammlung zur sprachlichen Differenzierung in Hessen: „Die ober hessische sprache ist unterschieden, iedoch sind drey Hauptaussprachen fürnämlich zu merken: I.) Die Niederhessische, II.) des Oberfürstenthums, III.) was an die Wetterau grenzet“ (ESTOR 1767, zit. nach FRIEBERTSHÄUSER 1987, 149). Auch hier ist nicht eindeutig, auf welche Räume genau sich ESTOR bezieht, doch kann diese Beobachtung als weiterer früher Beleg für die Binnengliederung des hessischen Sprachraums gelten. REIS (1910) nimmt als einer der ersten eine wissenschaftliche Gliederung vor. Er unterscheidet für den hier untersuchten Raum Oberhessisch, Binnenfränkisch und Pfälzisch (vgl. REIS 1910, 11–13). Oberhessisch entspricht dem Zentralhessischen. REIS grenzt es nach Norden durch die unterschiedlichen Reflexe von mhd. î, û und ǖ (zh. [a͡ ̠ ɪ, a͡ ̠ ʊ, ɔ͡ɪ], nordhess. [iː, uː, yː]) ab (vgl. REIS 1910, 11) und nach Süden durch die unterschiedlichen Reflexe von mhd. ie, uo und üe (zh. [ɛ͡ɪ, ɔ͡ʊ, ɔ͡ɪ], rf. [iː, uː, eː]) (vgl. REIS 1910, 11–12). Er bezeichnet die Entsprechungen von mhd. ie, uo und üe als besonderes Kennzeichen des Zentralhessischen. 74 Das Binnenfränkische wird als Übergangsmundart, die von den hessischen Dialekten der Schrift am nächsten ist, beschrieben. Das Gebiet des Binnenfränkischen liegt zwischen Frankfurt, Wiesbaden, Darmstadt, Aschaffenburg und entspricht so dem nördlichen Südhessischen (vgl. REIS 1910, 12). Er unterscheidet es vom nördlichen Zentralhessischen durch die Entsprechungen von mhd. ǖ (rf. [a͡ ̠ ɪ], zh. [ɔ͡ɪ]) und vom südlichen Raum durch die Palatalisierung von westgerm. s vor /t, p/ (vgl. REIS 1910, 12). Das Pfälzische umfasst nach REIS (1910, 12–13) – neben den linksrheinischen Gebieten – im südhessischen Teil den südlichen Raum von der Bergstraße zum Odenwald bis zur oberdeutschen Sprachgrenze. Das Hauptkennzeichen dieses Raums ist die erwähnte Palatalisierung. In der Gliederung von REIS (1910) ist die Einteilung nach WIESINGER (1980) bereits angelegt. Auch REIS verwendet den Vokalismus als Grundlage der Differenzierung. Die Charakterisierung des Binnenfränkischen scheint sich einerseits auf die allgemeine Nähe des
74 Bemerkenswert ist, dass REIS (1910, 12) eine Parallele zum Westfälischen und Mecklenburgischen zieht, das Zentralhessische dennoch als süddeutsch klassifiziert.
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3 Der hessische Sprachraum
(nördlichen) Rheinfränkischen zur Schrift (vgl. WIESINGER 1983a, 849) zu beziehen, andererseits aber auch auf die regionalsprachlichen Entwicklungen in diesem Raum (vgl. Kap. 3.4). Dem Phänomen der Palatalisierung, das bei REIS zur Abgrenzung von Binnenfränkisch und Pfälzisch dient, schreibt WIESINGER – wie erwähnt – diese Funktion nicht (mehr) zu. Auch MAURER (1929) beschreibt hauptsächlich für die Räume Zentralhessisch und Rheinfränkisch die Isoglossenverläufe und somit die differenzierenden Merkmale. Er bezieht sich dabei vorwiegend auf Wortformen, schließt aber auch lautliche Merkmale ein. Er geht aufgrund von Reliktformen davon aus, dass einige der sprachlichen Grenzen früher anders verliefen (vgl. auch WIESINGER 1983a, 852). Er nennt als Beispiel die fest/fescht-Isoglosse, die früher weiter in den Norden reichte (vgl. MAURER 1929, 67) sowie die Bruder/Brourer- und die dod/dudIsoglossen, die weiter nach Süden reichten75 (vgl. MAURER 1929, 70–73, 79 und FREILING 1924, 208). MAURER (1929, 73) nimmt an, dass die Merkmale durch Darmstädter Einfluss über Frankfurt weiter nach Norden zurückgedrängt wurden (resp. nach Süden): „Die von Darmstadt aus angebahnte Entwicklung wird von der Frankfurter verstärkt und unterstützt und über den Main hinübergetragen“ (MAURER 1929, 73). REIS (1910, 78) hingegen beschreibt, dass die sprachlichen Entwicklungen nicht bis zur Stadt (d. s. Darmstadt, Mainz) vorgedrungen sind – die „Stadt das weitere Vordringen dieser Spracherscheinungen gehemmt hat“ (REIS 1910, 78) – und gibt als Beispiel die Palatalisierung an, die nicht für den Raum um Darmstadt gilt. Es ist an dieser Stelle nicht wichtig, zu entscheiden, ob diese Merkmale nicht bis in diesen Raum vorgedrungen sind oder später verdrängt wurden. Entscheidend ist, dass REIS (1910) und MAURER (1929) die Besonderheiten des Raums um Darmstadt erwähnen und Hinweise auf die regionalsprachlichen Entwicklungen geben, die bei WIESINGER (1980, 140–141; 1983a, 849) und RAMGE (2994, 2740) als Öffnung des Zentralhessischen bzw. südlicher Einfluss angedeutet wurden.76 3.3.4 Übergangsgebiet/Frankfurt am Main Das zentralhessisch-rheinfränkische Übergangsgebiet ist, wie Karte 3-3 zeigt, von einigen zentralhessischen und einigen rheinfränkischen Varianten geprägt. Es erstreckt sich von Königstein im Westen bis Gelnhausen im Osten, von Bad Vilbel im Norden bis Neu-Isenburg im Süden und geht in weitere Übergangsgebiete über. Auch die hier untersuchte Stadt Frankfurt77 liegt in diesem Übergangsgebiet. Die Sprache in Frankfurt bedarf einer besonderen Betrachtung. Es gilt zum einen
75 Der Keil um Frankfurt (s. Karte 3-3, Isoglossen (4) und (5)) ist laut MAURER (1929, 70–73) eine neuere Erscheinung. 76 Weitere Einteilungen sind u. a. bei WREDE (1937) und MARTIN (1961) zu finden. 77 Der Einfachheit halber ist in der Arbeit nur von Frankfurt die Rede, gemeint ist aber stets Frankfurt am Main.
3.3 Basisdialekte des untersuchten hess. Sprachraums
43
zu beachten, dass sich das Stadtgebiet Frankfurts im Laufe des 20. Jh. stets erweitert hat und zum anderen, dass für die Kernstadt und die unmittelbare Umgebung mit besonderen Entwicklungen im Sinne einer Stadtsprache (vgl. u. a. DEBUS 1963) zu rechnen ist.
Karte 3-3: Zentralhessisch und Rheinfränkisch (Dialektverbände, Isoglossen nach WIESINGER 1980; 1983a) – erstellt mit dem REDE SprachGIS
Historisch betrachtet handelt es sich bei Frankfurt um „eine wetterauische Stadt“ (FREILING 1924, 208), die sich langsam zu einer süddeutschen Stadt entwickelt
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3 Der hessische Sprachraum
(vgl. FREILING 1924, 208, RAUH 1921b, 25).78 So ist davon auszugehen, dass früher das Zentralhessische über Frankfurt und den Main hinaus nach Süden reichte (vgl. RAUH 1921b, 16, FREILING 1924, 208) und dann durch südlichen Einfluss (u. a. von Darmstadt, vgl. Kap. 3.4) und die Entwicklung innerhalb Frankfurts nach Norden verdrängt wird.79 FREILING (1924, 209) schreibt dazu, „dass man im Mittelalter im Frankfurter Gebiet hessisch [d. i. zentralhessisch, L. V.] sprach, dass dann das Binnenfränkische die Vorhand gewann […]“. Mit dem Binnenfränkischen ist eben jener südlich angrenzende rheinfränkische Dialekt gemeint, den REIS (1910, 12) als Übergangsmundart bezeichnet (vgl. auch RAUH 1921b, 16).80 RAUH (1921b, 18) erwähnt für das 19. Jh. grundlegende Veränderungen Frankfurts: die Industrialisierung verändert die wirtschaftliche Situation, der früher schon bedeutsame Handel wird intensiviert – ebenso das Börsengeschäft, 1815 wird Frankfurt Bundeshauptstadt. Mit diesen Veränderungen hängen auch Migrationsbewegungen aus dem näheren Umland wie aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen. So entwickelt sich – bedingt durch diese äußeren Umstände – eine „Halbmundart“ in Frankfurt (vgl. RAUH 1921b, 18). Darauf deutet auch FREILINGS Beschreibung der Ausbreitung des Binnenfränkischen hin, er beschreibt zudem eine weitere Entwicklung und zwar, „dass die preußischen Beamten81 mit ihrem militärischen Hochdeutsch den Einfluss der Schriftsprache dauernd unterstützten“ (FREILING 1924, 209). Für den Anfang des 20. Jh. schreibt RAUH (1921b, 3) über den Frankfurter Dialekt, dass dieser ein typischer Stadtdialekt mit allen „Eigentümlichkeiten“ sei und dass er sich nach wie vor „im Zustand einer gewaltigen Umwälzung befindet“ (RAUH 1921b, 3–4).82 FREILING (1924) charakterisiert bei seiner synchronen Beschreibung den Frankfurter Dialekt und den der südlichen Vororte als Binnenfränkischen – also jener recht schriftnahen Variante (Übergangsmundart) des Raums um Darmstadt, Wiesbaden, Mainz. Entgegen der Annahme der Frankfurter Bevölkerung (vgl. ASKENASY 1904, 1) handelt es sich bei der Frankfurter Sprechweise also nicht um ein Spezifikum, sondern sie ist nach den skizzierten sprachlichen Entwicklungen als rheinfränkisch zu bezeichnen.83 Es sind in den
78 Vgl. hierzu auch RAMGE (2004, 2738–2739) und WÜLCKER (1877). Zur Geschichte der Stadt insgesamt insbesondere BOTHE (1988). 79 Für den Beginn des 20. Jh. lässt sich dies am Auftreten mancher zentralhessischer Merkmale südlich des Mains (vgl. u. a. DEBUS 1963) und an Isoglossenverläufen (vgl. bspw. auf Karte 3-3 Isoglosse 4 mhd. uo und 5 mhd. ô) zeigen. Zu sehen ist dies auch anhand der Frankfurter Mundartliteratur. Im 18. Jh. (bspw. „Des Kaisers Tod“ 1765, unbekannter Autor) werden noch zentralhessische Merkmale verschriftlicht (z. B. giht ‘gehtʼ, grus ‘großʼ usw.), die später u. a. bei QUILLING und STOLTZE nicht mehr vorhanden sind (vgl. KRAMER 1966). 80 Diese Entwicklung geht, wie beschrieben, über Frankfurt hinaus (vgl. RAUH 1921b, 16). 81 Seit 1866 gehörte Frankfurt zu Preußen. 82 RAUH (1921b, 4) geht zudem auf anhaltende Migrationsbewegungen und altersspezifische Sprachverwendung ein. 83 Vgl. auch SCHANZE (1988, 75–81) zur Entwicklung und historischen Übersicht der Sprache in Frankfurt.
3.3 Basisdialekte des untersuchten hess. Sprachraums
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Beschreibungen (vgl. OPPEL 1839–1894, RAUH 1921a; b, Freiling 1924) keine Merkmale aufgeführt, die nicht auch für den südlich angrenzenden Raum oder auch andere Städte der Umgebung (vgl. bspw. URFF 1926 für Hanau) gelten.84 Für Frankfurt insgesamt ist Anfang des 20. Jh. nach diesen Beschreibungen also kein Basisdialekt (mehr) anzunehmen. In einem komplexen sprachlichen Prozess werden zunächst zentralhessische Merkmale durch südlichen Einfluss nach Norden verdrängt, das Rheinfränkische breitet sich somit in Frankfurt aus und unter den spezifischen Bedingungen der Stadt entwickeln sich die Sprachformen weiter (vgl. RAUH 1921b, 18, FREILING 1924, 208–209). RAUH (1921b, 18) spricht von einer Halbmundart. Seiner und FREILINGS (1924) Beschreibung nach lässt sich von einer Regionalisierung und Standardadvergenz85 und somit als Resultat in der Terminologie der Sprachdynamik von einem Regiolekt ausgehen (vgl. zu dieser Auslegung auch BELLMANN 1983, 108). Dies schließt nicht aus, dass in Frankfurt im 19. und am Anfang des 20. Jh. einzelne Sprecher einen Frankfurter Dialekt gesprochen haben – diese Variabilität entspräche genau dem von RAUH (1921b, 3–4) beschriebenen sprachlichen Wandel in der Stadt. RAUH (1921b, 4, 17–19) weist auf alters- und berufsbedingte Unterschiede in der Sprachverwendung hin. Belege dafür sind zudem alte Formen wie bspw. blau [bloː] und grau [ɡʁoː] und Relikte des Zentralhessischen. Insgesamt muss aber für Frankfurt von einem rheinfränkischen Regiolekt ausgegangen werden, der – um den Bezug herzustellen – auch als Frankfurter Regiolekt bezeichnet werden kann. Zur Verbreitung der hier als Regiolekt definierten Sprachform schreibt RAUH (1921b, 5–6), dass dieser das damalige Frankfurter Kerngebiet (d. h. die heutigen Stadtteile Gallus, Gutleutviertel, Bahnhofsviertel, Innenstadt, Altstadt, Ostend, Nordend-Ost und -West sowie Westend-Nord und -Süd) und die heutigen Stadtteile Bockenheim und Bornheim umfasst.86 Im Norden ist eine „scharfe“ (RAUH 1921b, 5) Abgrenzung gegenüber Preungesheim, Seckbach und im Osten gegenüber Berkersheim möglich, da dort damals Zentralhessisch gesprochen wurde. Zentralhessische Einflüsse sind auch noch in Nieder- und Oberrad sowie in Sachsenhausen zu hören. Die südlichen Vororte schließen sich dem Frankfurter Kerngebiet an (vgl. RAUH 1921b, 5–6, FREILING, 1924).
84 OPPEL (1839–1894) und RAUH (1921a) beschreiben äußerst präzise und differenziert die Merkmale der damaligen Frankfurter Sprechweise. Die Auswertung ergibt – wie oben erwähnt –, dass eine weitgehende Ähnlichkeit mit dem südlich angrenzenden Rheinfränkischen besteht und dass es große Übereinstimmungen mit der Standardsprache gibt (vgl. Fn. 85) – tw. lassen sich jedoch allophonische Varianten bestimmen. 85 FREILINGS (1924, 204) kontrastive Darstellung des Zentralhessischen, des Binnenfränkischen/ Frankfurterischen und der Schriftsprache illustriert die (immanente) relative Standardnähe des hier als Binnenfränkisch gefassten Rheinfränkischen, die somit auch für Frankfurt gilt und die Auslegung unterstützt (vgl. auch WIESINGER 1983, 849). Dies ist auch Karte 3-3 zu entnehmen. Frankfurt liegt in einem Gebiet, für das als einziges der aufgeführten Merkmale die standarddifferente Variante für mhd. ä und ë gilt. 86 Entgegen damaliger (tw. auch noch heutiger) Meinung kann RAUH (1921b, 6) keine sprachlichen Unterschiede innerhalb dieses Gebietes finden.
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3 Der hessische Sprachraum
Folgende Merkmale hält RAUH (1921b, 9–11, vgl. auch RAUH 1921a) für den damaligen Frankfurter Regiolekt fest:87 mhd. Bezugslaut Frankf. Entsprechung Kommentar / Bsp. â [ɑː] nach, Aas (auch mhd. a gedehnt) ë [ɛː] gedehnt, Weg ü, üe [ɪ], [iː] fünf, Füße ö, œ [e], [eː] Köpfe, böse ei [a̠ː] Fleisch ou [a̠ː] Baum öü [eː, ɛː] Bäumchen vor kann es bei allen Vokalen zu Senkungen kommen westgerm. χ, k [ɕ] ich, weich Zusammenfall der westgerm. Plosive zu stimmlosen Lenes ansonsten im Konsonantismus weitgehend westmitteldeutsche Erscheinungen Tab. 3-3: Merkmale des Frankfurter Regiolekts (nach RAUH 1921a; b)
In Tab. 3-3 ist zu erkennen, dass alle Merkmale des Frankfurter Regiolekts mit denen des Rheinfränkischen übereinstimmen, einige rheinfränkische Merkmale aber nicht für den Regiolekt gelten.88 Insgesamt bestehen wenige systematische Kontraste zur Standardsprache.89 Im Vokalismus sind es lediglich die monophthongischen Entsprechungen von mhd. ei und ou, die a-Verdumpfung, Senkungen vor /r/ sowie die ungerundeten Reflexe von mhd. ü, üe und ö, œ, die systematisch vom Standard differieren. Daher bestätigen auch die Merkmale die Klassifizierung als (rheinfränkischen) Regiolekt.90
87 Aufgenommen sind nur standarddifferente Merkmale. Es handelt sich hierbei um eine systematisierte Darstellung (ohne Nennung von Ausnahmen usw.). 88 Zentralhessische Merkmale werden überhaupt nicht beschrieben, bzw. nur für die entsprechenden Vororte genannt (vgl. RAUH 1921b, 13). Die Verdrängung der Merkmale kann also zu Anfang des 20. Jh. als abgeschlossen gelten. 89 Die Unterschiede zwischen Zentralhessisch, Rheinfränkisch und dem Frankfurter Regiolekt sowie die unterschiedlichen Abstände zur Standardsprache können u. a. gut an den Entsprechungen von mhd. â (mit Ausnahmen im Zh.) illustriert werden: während mhd. â im Zentralhessischen dem Diphthong [u͡ːə] entspricht, gilt im Rheinfränkischen [oː]. In Frankfurt wird mhd. â ähnlich dem Rheinfränkischen auch weiter hinten als in der Standardsprache, aber offener als im Rheinfränkischen [ɑː] artikuliert. 90 URFF (1926) nimmt einen ähnlichen Prozess für Hanau an. Er ordnet den Hanauer Stadtdialekt, wie er ihn 1924 vorfindet, dem „der hochdeutschen Schriftsprache näherstehende[n] Binnenfränkische[n]“ (URFF 1926, V) zu (vgl. auch REIS 1910). Dieses Binnenfränkische, zu dem URFF auch die Dialekte Frankfurts, Offenbachs und Aschaffenburgs zählt, unterscheidet sich von den zentralhessischen Basisdialekten des Umlands. Früher, so nimmt URFF (1926, VI) an, war der Hanauer Stadtdialekt aber auch dem Zentralhessischen zuzuordnen.
3.3 Basisdialekte des untersuchten hess. Sprachraums
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3.3.5 Erforschung der untersuchten Basisdialekte Auf der Ebene der Basisdialekte ist der hessische Sprachraum systematisch erforscht. Zahlreiche Dialektgrammatiken und Wörterbücher liegen vor. Diese sollen als Überblick kurz dargestellt werden. Als erstes Werk der Dialektlexikografie ist das bereits erwähnte hessische Idiotikon von ESTOR (1767) zu nennen, in dem er etwa 400 Wörter und Sprüche aus dem Marburger Umland auflistet. VILMAR (1868) behandelt in seinem Idiotikon von Kurhessen den Wortschatz des ehemaligen Kurfürstentums HessenKassel.91 KEHREINS (1872) „Volkssprache und Volkssitte in Nassau“ enthält eine Beschreibung der Dialekte im ehemaligen Herzogtum Nassau, eine Wörtersammlung und kulturhistorische Angaben. CRECELIUS (1899) verfasst ein oberhessisches Wörterbuch und deckt damit den Wortschatz des Zentralhessischen ab. Ein Beispiel für ein frühes Ortswörterbuch ist SCHÖNERS (1903) Spezialidiotikon des Sprachschatzes von Eschenrod (Oberhessen) (vgl. dazu auch FRIEBERTSHÄUSER 1986; 1987, 149–150, DINGELDEIN 1989, 12). 92 Hinzu kommen drei große Wörterbücher des hessischen Sprachraums: das „Hessen-Nassauische Volkswörterbuch“, das „Südhessische Wörterbuch“ und das „Frankfurter Wörterbuch“. Das „Hessen-Nassauische Volkswörterbuch“ ist aus dem Projekt „HessenNassauisches Wörterbuch“ (HNWB) entstanden, das 1911 am Deutschen Sprachatlas von FERDINAND WREDE begründet wurde. Später ist daraus die „Abteilung für Sprache in Hessen/Hessen-Nassauisches Wörterbuch“ (aktuell „Abteilung Hessen-Nassauisches Wörterbuch“) hervorgegangen. Im Projekt des HNWB wurde von 1912 bis 1934 im Gebiet Hessens nördlich des Mains93 das Sprachmaterial (Wörter, Sprichwörter, Redensarten) gesammelt. Die Publikation erfolgt seit 1927 als „Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch“ (HNV).94 Das HNV verfolgt ein wortgeografisches Prinzip, das heißt es enthält neben den ausführlichen Wörterbucheinträgen zahlreiche Wortkarten (vgl. zum HNWB FRIEBERTSHÄUSER 1976; 1987, 154–160, DINGELDEIN 1989, 12–13). Das „Südhessische Wörterbuch“ behandelt den dialektalen Wortschatz der Provinzen Rheinhessen und Starkenburg des ehemaligen Großherzogtums Hessen-Darmstadt. Es wurde 1925 von OTTO BEHAGHEL initiiert und von FRIEDRICH MAURER und FRITZ STROH begonnen. Ihm liegen zahlreiche Materialsammlungen und eigene Fragebogenerhebungen zugrunde. Zudem enthält auch dieses Wörterbuch Wortkarten. Publiziert wurde es von 1965 bis 2010 in 6 Bänden (vgl. dazu Südhessisches Wörterbuch, MULCH 1965; 2010, FRIEBERTSHÄUSER 1987, 160–162). Das „Frankfurter Wörterbuch“
91 Ergänzt wurde es 1886–1894 durch HERMANN VON PFISTER-SCHWAIGHUSEN für den gesamten hessischen Raum. 92 Vgl. zu vielen weiteren Wörterbüchern zu einzelnen Orten und Kleinregionen, z. T. von linguistischen Laien verfasst, FRIEBERTSHÄUSER (1987, 165, 224–226). 93 Es werden auch Teile von Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Thüringen abgedeckt. 94 Zurzeit wird die Publikation des ersten Bandes („Aa–“) vorbereitet; es wurde mit „L“ begonnen.
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3 Der hessische Sprachraum
erfasst den Frankfurter Wortschatz des 19. und beginnenden 20. Jh. und berücksichtigt dabei auch sprach- sowie kulturgeschichtliche Aspekte. Es geht zurück auf die Materialsammlungen von JOHANN JOSEPH OPPEL aus dem 19. Jh. (vgl. OPPEL 1839–1894) und Fragebogenerhebungen von HANS LUDWIG RAUH aus dem 20. Jh. Publiziert wurde es in sechs Bänden von 1971 bis 1988 (vgl. dazu auch Frankfurter Wörterbuch, FRIEBERTSHÄUSER 1987, 163–166 und SCHANZE 1988). Den Beginn der systematischen, nicht ausschließlich lexikalischen Dialektbeschreibung im hessischen Sprachraum stellt LEIDOLFS (1891) Arbeit zur Naunheimer Mundart (Stadtteile von Wetzlar) dar. Für den hier behandelten Raum liegt eine Vielzahl von Ortsmonografien und Landschaftgrammatiken95 vor, die hauptsächlich das Lautsystem, oft auch die Morphologie und die Syntax der Dialekte erfassen. Zu nennen sind hier: DAVID (1892) zu Krodorf (bei Gießen), KNAUß (1906) zu Atzenhain und Grünberg (Vogelsbergkreis, westl. von Gießen), SCHAEFER (1907) zu Schlierbach (Ortsteil von Bad Endbach bei Marburg), FABER (1912) zum nördlichen Pfahlgraben (Limesgebiet nördl. von Butzbach), KROH (1915) zu Wissenbach (Ortsteil von Eschenburg bei Dillenburg), WAGNER (1917) zu Langenhain (bei Höchst/Frankfurt), RAUH (1921a; b) zu Frankfurt, SIEMON (1921) zu Langenselbold (bei Hanau), SCHWING (1921) zu Selters und der mittleren Lahn, ALFFEN (1922) zu Gießen und Umland, URFF (1926) zu Hanau, SCHUDT (1927) zu Wetterfeld (bei Schotten), STROH (1928) zu Naunstadt (im Taunus), SCHREYER (1928) zu Gelnhausen, FREILING (1929) zum Odenwald, BACH (1930) zu Nassau (östl. Zentralhessisch), SEIBT (1930) zur Bergstraße, BERTALOTH (1935) zum östlichen Südhessen, GRUND (1935) zu Pfungstadt (bei Darmstadt), BENDER (1938) zum Marburger Umland und Ebsdorf, BORN (1938) zu Darmstadt und Umland, ALLES (1954) zu Ostheim (bei Butzbach) und der Wetterau, DIETZ (1954) zu Vogelsberg und Spessart, BAUER (1957) zu Odenwald und Bergstraße und FRIEBERTSHÄUSER (1961) zu Weidenhausen und dem Hinterland (bei Biedenkopf) (vgl. dazu auch u. a. DINGELDEIN 1989, 14–17 u. Karte 19).96 Auch in den letzten Jahrzehnten sind Arbeiten zu den hessischen Basisdialekten entstanden, die mitunter auch Dialektgrammatiken darstellen, aber größtenteils weitere – bspw. strukturalistische oder dialektgeografische – Fragestellungen beinhalten. Zu erwähnen sind hier unter anderem HALL (1973), der den zentralhessischen Vokalismus strukturalistisch und sprachhistorisch untersucht, HASSELBERG (1979), der eine kontrastive Grammatik Zentralhessisch/Standardsprache vorlegt, WIESINGER (1980) (s. o.) oder MOTTAUSCH (2002; 2007), der sich in jüngster Zeit mit grammatischen Phänomenen im Rheinfränkischen auseinandersetzt.97
95 Zu Orts- und Landschaftgrammatik vgl. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 90–97, 112–115). 96 Daneben sind zahlreiche Beiträge in Form wissenschaftlicher Artikel und Qualifikationsarbeiten mit verschiedenen Fragestellungen zu den Basisdialekten des hessischen Sprachraums entstanden. Vgl. dazu REDE III und DINGELDEIN (1981). 97 Auch hier sind weitere Arbeiten entstanden, vgl. Fn. 96.
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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3.4 REGIONALSPRACHLICHE ENTWICKLUNGEN IM UNTERSUCHTEN HESSISCHEN SPRACHRAUM Bei den Betrachtungen der Basisdialekte im hessischen Sprachraum sind regionalsprachliche Entwicklungen im 19. und 20. Jh. bereits beobachtet worden: zum einen wurde die Ausbreitung einer Übergangsmundart bzw. die Beeinflussung des südlichen Zentralhessischen durch das Rheinfränkische beschrieben (vgl. REIS 1910, MAURER 1929, WIESINGER 1980) und zum anderen die spezifische Entwicklung in der Stadt Frankfurt, die – wie angenommen wird – zur Ausbildung eines Regiolekts geführt hat (vgl. RAUH 1921a; b, FREILING 1924). Diese Prozesse finden nicht isoliert statt, sondern sind komplex miteinander verbunden. Sie haben eine horizontale und vertikale Dimension, die sich gegenseitig bedingen. Das heißt die Prozesse beeinflussen die Basisdialekte des hessischen Sprachraums (interdialektale Interferenzen), den Ausbau des (vertikalen) regionalsprachlichen Spektrums (landschaftliches Hochdeutsch, vgl. Kap. 2.2.1) und die Herausbildung neuer Formen regionalen Sprechens (bspw. sogenannte Halb- und Übergangsmundarten). Gerade diese vertikale Dimension und die Dynamik im Raum wurden schon früh beobachtet. Im Folgenden sollen diese Beobachtungen und Beschreibungen der regionalsprachlichen Entwicklungen und neuer Formen regionalen Sprechens im 19. und 20. Jh. skizziert werden. In Kapitel 3.7 werden die Beschreibungen eingeordnet und kommentiert, außerdem wird der Versuch einer Synthese unternommen, die die Grundlage der Fragestellungen dieser Arbeit bildet.98 3.4.1 Allgemeine Entwicklungen Die erste Beschreibung einer nicht-dialektalen Form des regionalen Sprechens stellt VIËTORS „Rheinfränkische Umgangssprache“ (1875) dar. Er stellt die Umgangssprache in und um Nassau dar, die er als „dialektische [sic!] Umgangssprache“ zwischen Volksmundart und Schriftsprache definiert (VIËTOR 1875, III). Mit der Umschreibung in und um Nassau scheint der nassauische Teil der damaligen preußischen Provinz Hessen-Nassau gemeint zu sein (also das Gebiet zwischen Dillenburg im Norden, Rüdesheim im Süden, Frankfurt im Osten und Braubach im Westen).99 Diese Umgangssprache ist die „Sprache der besseren Stände in en-
98 Die Reihenfolge ergibt sich aus dem Publikationsjahr. Zunächst werden allgemeine Beschreibungen präsentiert, danach werden – soweit möglich – die Entwicklungen an den Untersuchungsorten dargestellt. 99 Dieser Raum liegt im moselfränkisch-rheinfränkischen bzw. moselfränkisch-zentralhessischrheinfränkischen Übergangsgebiet. Innerhalb dieses Raums ist vom südlichen Teil auszugehen, da VIËTOR (1875) erstens die Umgangssprache als rheinfränkisch klassifiziert und nur der Süden Nassaus im moselfränkisch-rheinfränkischen Übergangsgebiet liegt und er zwei-
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geren Kreisen“, die „dem Volke“ als vornehm gilt (VIËTOR 1875, IV). In der Kommunikation mit Fremden verwenden diese „besseren Stände“ jedoch das Neuhochdeutsche, das der „Halbgebildete“ nur „peinlich“ zur Anwendung bringt (VIËTOR 1875, III). Dies bedeutet, dass es neben der Volksmundart100 (also dem Basisdialekt) noch die (dialektale) Umgangssprache, die bessere Stände unter sich sprechen, und die Anwendung der Standardsprache (bei VIËTOR Neuhochdeutsch) gibt. Folgende Merkmale nennt VIËTOR (1875, 2–12) für die Umgangssprache:101 Merkmal tendenzielle Entrundung tendenzielle Nasalierung Vokalreduktionen in unbetonten Nebensilben inlautende (tw. auch anlautende) Lenisierung v. Obstruenten g-Spirantisierung t/d-Elision nach [n, l] n-Apokope Artikulation von nicht als [nɪt] s-Sonorisierung Palatalisierung von [s] vor /r/ Erhalt von westgerm. p an- und inlautend b-Spirantisierung uvulare /r/-Artikulation, nach [a] fast, nach [ɛ] ganz getilgt Vokalkürzung (in einigen Kontexten) hyperkorrekte Länge (eher in der Verwendung des Standards)
Beispiel über, Tölpel Baum, Wein allein, Doktor Haken, Tag, Pech, kriegen, Lage Rinder machen nicht Wasser Fürst Pfeffer, Köpfe Leben Arbeit, er Gabel, Feder was, von
Tab. 3-4: Merkmale der rheinfränkischen Umgangssprache (VIËTOR 1875)
REIS (1910, 76–78) skizziert in seiner Darstellung der Sprache im ehemaligen Großherzogtum Hessen-Darmstadt zunächst die Entwicklung vor dem Beginn des 19. Jh. als Beeinflussung der Dialekte durch eine „Art Gemeinsprache“ (REIS 1910, 76). In den Städten hat sich durch „stärkere Annäherung an die Schriftsprache“ (REIS 1910, 77) eine Halbmundart (= städtische Halbmundart) ausgebildet.
tens davon spricht, dass er nicht sicher sei, wie weit in den Süden, also in das Kerngebiet des Rheinfränkischen, diese Umgangssprache reicht (vgl. VIËTOR 1875, III). 100 VIËTOR (1875, IV) verweist auf KEHREINS (1872) Beschreibung der Volkssprache und Volkssitte in Nassau. KEHREIN (1872) versteht unter Volkssprache den Dialekt, weshalb seine Beschreibung als frühe Dialektgrammatik samt Wörterbuch gelten kann. 101 Hier sind nur die standarddifferenten phonetisch-phonologischen Merkmale systematisiert aufgezählt, da sie relevant für diese Arbeit sind. Es wird, in Anlehnung an VIËTOR und da es sich um eine standardnahe Sprechweise handelt, die Standardsprache als Bezugssystem verwendet. VIËTOR listet auch grammatische und lexikalische Varianten der Umgangssprache auf (vgl. VIËTOR 1875, 13–33).
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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Beispielhaft zählt er folgende Merkmale auf, die für die Städte gelten (u. a. Darmstadt, Mainz): (I) schriftsprachliche Aussprache von Vokalen, teilweise jedoch kurz, (II) keine Hebung von mhd. ê und ô, (III) kein Rhotazismus, (IV) keine Diphthonge für mhd. ê und ô in Darmstadt und keine Palatalisierung in Mainz. Diese Entwicklungen haben sich bereits früh auf die Vororte der Städte ausgewirkt (vgl. REIS 1910, 76–78). Im 19. Jh. haben sich zudem drei Zwischenstufen zwischen den Dialekten und der Schriftsprache entwickelt, die Übergänge untereinander aufweisen (vgl. REIS 1910, 78): Als erste Zwischenstufe nennt REIS (1910, 78) die Umgangssprache der besseren Volkskreise, die schwer von den städtischen Halbmundarten zu unterscheiden ist. Folgende Eigenschaften sind charakteristisch für sie: die betonten langen Vokale werden standardnah ausgesprochen, aber nur dann, wenn „der entsprechende schriftdeutsche Laut bereits [im Dialekt] vorhanden“ ist. So kommt es dazu, dass mhd. üe im Zentralhessischen in dieser Zwischenstufe nicht mehr [ɔ͡ɪ], aber auch nicht standardsprachlich [yː] artikuliert wird – da es diesen Laut im Zentralhessischen nicht gibt –, sondern [iː] (vgl. auch Fn. 17). „Später“ werden die Konsonanten durch standardkonforme Varianten ersetzt; dies gilt auch für vokalische Varianten, die sich erst „bei langsamem, deutlichem Sprechen“ (REIS 1910, 78) von standardsprachlichen Realisierungen unterscheiden. Als Beispiele gibt REIS tendenziell verdumpfte a-Varianten oder Senkungen vor /r/. Die zweite Zwischenstufe ist die ältere Umgangssprache der Gebildeten. Folgende Merkmale hält REIS (1910, 79) für diese fest: westgerm. p wird im Anlaut [f], sonst [b̥] artikuliert. Statt des Ausfalls von mhd. g, wird ein Frikativ realisiert (Bsp. sagen) und der „Reibelaut ch […] beginnt seine Entwicklung zu sch“ (REIS 1910, 79). Als dritte Zwischenstufe beschreibt REIS (1910, 79) die jüngere Umgangssprache der Gebildeten mit folgenden Merkmalen:102 Artikulation von westgerm. p als [p͡f] (Inlaut), Verwendung gerundeter Vokale, teilweise Vokalkürze, Verwendung von std. [ɛ], b-Spirantisierung, Unsicherheit im Gebrauch von [ç] und [ʃ], tendenzielle Nasalierung und Verdumpfung vor Nasal, e- und n-Apokope sowie nit statt nicht. REIS (1910, 79) betont, dass diese Abstufungen für den Zwischenbereich von Dialekt und Standardsprache gelten. Bei gewählter Rede „schwinden die meisten Eigentümlichkeiten jener letzten Stufe“ (REIS 1910, 79). Von der Bühnenaussprache (vgl. SIEBS 1969) unterscheidet sich diese Aussprache durch vier Phänomene: [b, d, g] werden nie stimmhaft, sondern stets als stl. Lenes artikuliert, es „bleibt eine gewisse Unsicherheit in der Unterscheidung von ch und sch zurück“ (80), außerdem treten g-Spirantisierung und Aspiration von [p, t, k] (Anlaut vor Vokal) (vgl. REIS 1910, 79–80) auf.
102 Die Darstellung folgt REIS (1910, 79), der die Merkmale einerseits den anderen Zwischenstufen, andererseits dem Standard gegenüberstellt. Wenn diese für die dritte Stufe gelten, dann können sie auch für die zweite angenommen werden.
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In der gewählten Rede älterer Sprecher und „der lässig [S]prechenden“ (REIS 1910, 80) sind noch Anklänge der zweiten Stufe zu hören (bspw. Entrundungen und Kompromissformen) (vgl. REIS 1910, 80). Versuchen Dialektsprecher, sich gewählt auszudrücken, das heißt die Standardsprache umzusetzen, „wirkt dies in der Regel komisch“ (REIS 1910, 80). REIS (1910, 80) belegt dies mit „Überhochdeutschungen“, also Hyperkorrekturen (bspw. gebüldet vs. gebildet).103 Eine weitere Differenzierung der Vertikale nimmt RUDOLPH (1927) für Darmstadt vor. Er unterscheidet in Darmstadt zu Beginn des 20. Jh. drei Sprachformen, die er als Sprachgruppen bezeichnet: (I) Vulgärdialekt, (II) Halb- oder Mischdialekt und (III) Aussprache der Schrift. Als Vulgärdialekt fasst RUDOLPH (1927, 10–11) den reinen Dialekt, so wie er in der ersten Hälfte des 19. Jh. gesprochen wurde. Folgende Merkmale stellt er als besondere Kennzeichen heraus: Nasalierungen, Realisierung von als [ɐ], bzw. [ɛ], Realisierung von mhd. ei und ou als [a̠ː] und n-Apokope. Der Halb- oder Mischdialekt wird in Darmstadt im Sinne einer Umgangssprache am häufigsten verwendet (vgl. RUDOLPH 1927, 11). Für diesen listet er folgende Kennzeichen auf (vgl. RUDOLPH 1927, 11–13): Erhalt dialektaler Entrundungen, Nasalierungen, Realisierung von mhd. ei und ou als [a͡ ̠ ɪ] und [a͡ ̠ ʊ], Artikulation von Obstruenten (wie im Dialekt) als stl. Lenes, Realisierung von als [a̠ː̃ , õː], bSpirantisierung, g-Spirantisierung zu [ç] (entgegen dialektal ø bzw. [j]) sowie Realisierung der Negationspartikel als [nɛt, net, nɪt]. Der Mischdialekt ist vom reinen Dialekt zu unterscheiden, aber „[d]ass bei dieser Sprachgruppe manche Übergänge nach der ‚Vulgärsprache‘ stattfinden, ist wohl selbstverständlich“ (RUDOLPH 1927, 16). Die Aussprache der Schrift erfolgt „mit mehr oder weniger Erfolg“ (RUDOLPH 1927, 17) und stellt den Versuch dar, den Dialekt zu vermeiden. Dennoch sind folgende „nicht zu verleugnende Anklänge“ (RUDOLPH 1927, 18) an den Dialekt zu hören (vgl. RUDOLPH 1927, 17): tendenzielle Entrundungen, Nasalierungen, wortmediale Lenisierung von Obstruenten und Realisierung von als [ɐ] bzw. [ɛ]. Diese sind somit als remanente Merkmale zu klassifizieren. RUDOLPH (1927, 17) gibt zwar an, dass eine geringe Anzahl der Sprecher diese Sprechweise verwendet, sie aber durch Zuwanderung wächst. MAURER (1929, 73) schreibt vom Binnenfränkischen als „‚Übergangsmundart‘ zwischen oberhessisch und pfälzisch“, die sich vom Darmstädter Zentrum zwischen Oberhessisch und Pfälzisch als eine neue Sprachlandschaft hineingeschoben hat.104 Er arbeitet sprachliche Entwicklungen in diesem Raum anhand von zahlreichen Wortkarten heraus. Als Beispiel kann der ‘Tag vor Sonntagʼ die-
103 Diese Hyperkorrekturen sind ein Indiz dafür, dass es Dialektsprecher gibt, die die Grenze zur Standardvarietät im Versuch, diese zu realisieren, nicht überwinden können. Vgl. Kap. 2.2.2 und Fn. 32. 104 Der Terminus Übergangsmundart bezieht sich hier wahrscheinlich auf den Übergang zwischen Zentralhessisch und Südrheinfränkisch. Durch die Beschreibung kann aber eine vertikale Dimension (d. h. größere Nähe zur Standardsprache) nicht ausgeschlossen werden.
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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nen. Die Variante Sonnabend reichte laut MAURER (1927, 169; 1929, Karte 14; 1933, 24–27) früher weiter nach Süden. Die südliche Variante Samstag dringt dann, wie MAURER zeigt, immer weiter nach Norden vor. Gießen bildete eine Samstag-Insel im Sonnabend-Raum. Mitunter an diesem Beispiel zeigt MAURER, wie sich die Ausbreitung von (neuen) Formen über die Städte vollzieht. Die Bedeutung der Städte bei diesen sprachlichen Entwicklungen hebt er allgemein hervor: „Nicht von Dorf zu Dorf geht der Weg Schritt für Schritt; sondern von der Landeshauptstadt nach den Provinzhauptstädten, von da nach den Kleinstädten, den Märkten, den Dörfern“ (MAURER 1933, 27). MAURER beschreibt nicht nur die Ausbreitung südlicher Varianten gen Norden, sondern auch vom Darmstädter Raum ausgehend nach Süden, sodass Varianten des Odenwalds verdrängt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Darmstädter Variante Kribs für den ‘Überrest des gegessenen Obstesʼ, die die odenwälderischen Formen Leier und Butze verdrängt (vgl. MAURER 1927, 160; 1933, Karte 24). Das Beispiel ‘Strickwerkzeugʼ illustriert gut, wie sich eine im Rhein-Main-Gebiet gebräuchliche Variante (in diesem Fall die standardsprachlich gestützte Form Stricknadel) großräumig sowohl nach Süden als auch nach Norden ausbreitet (vgl. MAURER 1929, 97–99; 1933, 24).105 Die Beobachtungen MAURERS (1927; 1929; 1933) sind weitere Belege für die Dynamik in diesem Raum. MAURER (1929, 66–73; 1933, 29, 49) beschreibt zudem die Herausbildung sowie Besonderheit des Darmstädter Sprachraums, der dann Einfluss auf die umliegende Sprachlandschaft nimmt und hält die weitere Ausbreitung dieser Entwicklungen fest: „Die von Darmstadt aus angebahnte Entwicklung wird von der Frankfurter verstärkt und unterstützt und über den Main hinübergetragen“ (MAURER 1929, 73). GRUND (1935) schreibt in seiner Darstellung des Dialekts in Pfungstadt (südlich von Darmstadt) von einem kontinuierlichen Übergang „von der ursprünglichen Mundart bis zur hochdeutschen Umgangssprache“ (GRUND 1935, 11).106 In diesem Kontinuum unterscheidet er zwar sprachliche Schichten, weist aber explizit darauf hin, dass es mit „einem gewissen Zwang“ geschieht, da dies „die Unterschiede der Schichten gegenüber den fließenden Übergängen stärker hervorhebt“ (GRUND 1935, 11). Er differenziert vier Schichten, nicht ohne nochmals auf die fließenden Grenzen und Übergänge hinzuweisen (vgl. GRUND 1935, 11–12): (I) „bäuerliche“ Schicht der Mundart, (II) „bürgerliche“ Schicht der Mundart, (III) Halbmundart und (IV) hochdeutsche Umgangssprache. Die ersten beiden Schichten bilden zusammen die Pfungstädter Mundart (vgl. GRUND 1935, 11). Die Attribuierungen bürgerlich und bäuerlich will GRUND (1935, 12) als sprachlich und nicht beruflich verstanden wissen. Die bäuerliche Schicht ist „ursprünglicher“ als die bürgerliche. Diese zweite Schicht unterscheidet sich von der ersten nur wenig. GRUND (1935, 71) führt hauptsächlich lexikalische Differenzen auf und die Ver105 Vgl. zu diesem Beispiel auch DEBUS (1964, 355–359) für eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung. 106 Zudem äußert sich GRUND (1935, 13–15) auch zu weiteren Einflussfaktoren der Sprachvariation, so bspw. Situation, Alter und Geschlecht.
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meidung der gesenkten Formen der mittelhochdeutschen Kurzvokale, des Monophthongs für mhd. ei und der Verdumpfung von mhd. â in manchen Wörtern. Die Halbmundart (III) ist eine Zwischenstufe von Mundart und hochdeutscher Umgangssprache – sie hat sich der „Gemeinsprache“ angenähert und ist fast identisch mit der Darmstädter Stadtmundart (vgl. GRUND 1935, 11 und RUDOLPH 1927). Grundsätzlich meidet die Halbmundart „alle stärkeren lautlichen Abweichungen von der Schriftsprache, besonders im Vokalismus“ (GRUND 1935, 71). Folgendes ist für sie charakteristisch (vgl. GRUND 1935, 71–72):107 Verwendung gerundeter Vokale, Ausgleich von Quantitäten, Senkungen und Verdumpfung treten nicht mehr auf. Häufig kommt es zu Zwischenformen in der Halbmundart wie bspw. für halten: mundartlich [hɔːlə] und halbmundartlich [hɔldə] (vgl. GRUND 1935, 71). Im Konsonantismus bleibt die Spirantisierung von mhd. b und die n-Apokope erhalten. Mhd. p und t werden häufig als Fortes artikuliert, westgerm. p im Anlaut oft [f], sonst [p͡f] (Bsp. Pfirsich, Kopf). Der Rhotazismus (Bsp. Wetter) und die Palatalisierung von mhd. s nach /r/ (Bsp. Wurst) kommen nicht mehr vor. Mhd. g wird außer im Anlaut spirantisch realisiert (nach Palatalvokal als [ʃ]), worin GRUND (1935, 72) einen maßgeblichen Einfluss der Darmstädter Umgangssprache sieht, da diese dieselbe Qualität und denselben Kontext der gSpirantisierung aufweist. Zudem treten Kontraktionen und Assimilationen seltener bis gar nicht auf. Die vierte Schicht (IV) – die hochdeutsche Umgangssprache – „kommt dem Lautstand der Schriftsprache sehr nahe“ (GRUND 1935, 73). Als standarddifferente Merkmale sind die typischen Varianten des Darmstädter Sprachraums zu nennen (vgl. GRUND 1935, 12, 73): r-Vokalisierung, g-Spirantisierung, gelegentlich b-Spirantisierung und Koronalisierung. HAIN (1951) führt eine Untersuchung der Sprachverwendung in Ulfa (Wetteraukreis, am Rand des Vogelsbergs108) anhand von selbst erhobenen Materialien aus den Jahren 1938–1943 durch. Sie betrachtet Dialekt und Standardsprache als zwei Pole mit Zwischenstufen (vgl. HAIN 1951, 16). Als erste Stufe beschreibt sie den alten Dialekt mit seinen typischen (zentralhessischen Merkmalen) (vgl. HAIN 1951, 17–25). Den etwas gehobeneren Stil des Dialekts definiert sie als zweite Stufe. Sie wird unter Dorfbewohnern verwendet, die sich nicht gut kennen. In dieser Stufe schwinden altertümliche Wörter und Formen (vgl. HAIN 1951, 26– 26). Die dritte Stufe ist der der Standardsprache angepasste Dialekt, der im Gespräch der Dorfbewohner mit dem Pfarrer, Lehrer oder Arzt gebraucht wird. Hier werden die dialektalen Diphthonge nicht mehr produziert, der Rhotazismus kommt nicht mehr vor, ebenso wenig die Assimilation von [nl]. Die dialektalen konsonantischen Merkmale und die Nasalierung bleiben erhalten (vgl. HAIN 1951, 26). Die vierte Stufe wird von den Sprechern aus Ulfa „als reines Schriftdeutsch empfunden“ (HAIN 1951, 26). In dieser Stufe treten fast keine dialektalen Varianten des Vokalismus mehr auf, ebenso wenig morpho-syntaktische Merkmale – 107 Die Beschreibung richtet sich nach GRUND (1935). 108 Laut HAIN (1951, 30) gelten in der Region der Vogelsberg und seine „Mundart als rückständig“.
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Nasalierung, Entrundung und konsonantische Merkmale bleiben aber erhalten. HAIN (1951, 29) beschreibt die Sprecher als mehrsprachig, da sie sich zwischen den Sprachschichten bewegen. Unter anderem für die vierte Stufe – der standardnächsten Sprechweise – gibt HAIN (1951, 27) einen Beispieltext mit den vorkommenden Merkmalen. Diese sind: n-Apokope, Realisierung von nicht als [nɛt], Rundungsdifferenzen zum Standard, Lenisierung in allen Positionen, Realisierung von an als [ɑ̃ː], Vokalkürze, r-Tilgung, b-Spirantisierung und e-Apokope.109 SCHIRMUNSKI greift (2010/1962) in seinem Grundlagenwerk zu den deutschen Dialekten die relative Standardnähe der Dialekte im südlichen Teil des Sprachraums auf. Er nimmt bei der Beschreibung Bezug auf RUDOLPH (1927) und stellt fest, dass außer isolierten Verbalformen (bspw. [la͡ ̠ ɪd̥] liegen) nur großräumig verbreitete Merkmale vorhanden sind und klassifiziert deshalb den Darmstädter Dialekt – als besonderer Fall – als südhessische Halbmundart (vgl. SCHIRMUNSKI 2010/1962, 667). Als Prozess im Raum hält er Folgendes fest: „Der Einfluss dieser Zentren [Frankfurt, Wiesbaden, Mainz, Darmstadt, Aschaffenburg, L. V.] hat auf einem recht umfangreichen Territorium zwischen Rhein – Main und Odenwald die Bildung eines neuen Typs der südhessischen Mundart bestimmt“ (SCHIRMUNSKI 2010/1962, 668). Dieser Typus bzw. diese „Halbmundart, die man Neuhessisch nennen könnte, [hat] die alte Lokalmundart [in diesem Gebiet] völlig verdrängt“ (SCHIRMUNSKI 2010/1962, 668).110 SCHIRMUNSKI (2010/1962) beschreibt die regionalsprachliche Dynamik also als Herausbildung und Ausbreitung einer – in seinen Worten – Halbmundart111, die im Rhein-Main-Gebiet die bestimmende Sprachform ist. Für den gesamten Raum des Zentralhessischen, Südhessischen, Pfälzischen und Südfränkischen spricht SCHIRMUNSKI (2010/1962, 669) von einer zentralfränkischen mundartlichen Koine. Er meint damit – wahrscheinlich – eine recht ähnliche regiolektale Sprachform, die in diesem Gebiet entweder anstatt der oder neben den Dialekten gesprochen wird. MÖHN (1963) misst in seiner fachsprachlich-lexikalischen Untersuchung dem Raum rund um Frankfurt eine große Bedeutung zu: „Das Rhein-Main-Gebiet hat seit geraumer Zeit eine Schlüsselstellung für die hessische Sprachentwicklung inne“ (MÖHN 1963, 163). Er beschreibt die sprachliche Entwicklung ausgehend vom Darmstädter Raum und Frankfurt über das gesamte Rhein-Main-Gebiet und kann anhand einer Studie zum Fachwortschatz in der Großindustrie „eine neue kulturelle Funktion“ des Rhein-Main-Gebiets nachweisen (vgl. MÖHN 1963, 168).
109 HAINS Ausführungen beruhen zwar auf empirischen Beobachtungen, doch ist die Beurteilung der Ergebnisse schwierig. Es handelt sich um konstruierte Belege. Hain überträgt ein Gespräch im Dialekt in die anderen Stufen. Dies ermöglicht zwar Vergleichbarkeit, entbehrt aber der empirischen Basis und muss beim Bezug auf die Merkmalsbeschreibung beachtet werden. 110 Zum Begriff Neuhessisch s. u. 111 In der Terminologie der Sprachdynamik ist von einem Regiolekt auszugehen.
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DEBUS (1963) untersucht zahlreiche Wenkerkarten aus dem Rhein-Main-Gebiet i. w. S., in denen er die „Dynamik konserviert“ sieht (DEBUS 1963, 44).112 Er kommt für die Region allgemein zu dem Ergebnis „nach Norden hin gerichtete[r] Entwicklungstendenzen“ (DEBUS 1963, 44). Südliche Formen – oft aus dem Darmstädter Raum –, die häufig standardnäher sind, dringen punktuell in nördliche Städte vor und breiten sich inselhaft weiter aus (vgl. DEBUS 1963, 43).Vielfach reichen die Entwicklungen bis zum Main nach Norden, nur selten darüber hinaus, was bedeutet, dass die Wetterau als konservativer Sprachraum und der Dialekt dort als stabil gewertet werden können (vgl. DEBUS 1963, 39 und bspw. Karte 19, auch RAUH 1921a; b, MAURER 1929). Im Taunus hingegen dringen die südlichen Formen weiter nach Norden vor (vgl. DEBUS 1963, 43). Die empirisch basierten Ergebnisse von DEBUS (1963) fügen sich in die Beschreibungen der sprachlichen Entwicklungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. ein: südliche Formen dringen nach Norden vor, wobei den Städten eine besondere Bedeutung zukommt. Die Prozesse scheinen zur Zeit der Erhebung WENKERS noch nicht weit fortgeschritten zu sein, da DEBUS (1963, 44) noch „keine überragende sprachliche Bedeutung“ Frankfurts festhält,113 spätere Quellen diese aber stets betonen (vgl. bspw. SCHNELLBACHER 1963). Das Zentralhessische ist für diese Zeit noch nicht von den Entwicklungen betroffen und kann somit als – weitestgehend – stabiler Sprachraum beschrieben werden. Erste Hinweise auf eine weitere Ausbreitung der Erscheinungen nach Norden zeichnen sich jedoch bereits ab.114 SCHNELLBACHER (1963) betrachtet in ihrer Studie zum Dialekt im östlichen Taunus (heute: Main-Taunus- und Hoch-Taunus-Kreis) die dortigen kleinen Städte (wie Oberursel, Hofheim, Eppstein) als „Zwischenträger von der Umgangssprache zur Mundart“ (SCHNELLBACHER 1963, 375). Sie stehen im Einfluss Frankfurts. Dies trifft vor allem auf die Städte im südlichen (bzw. südöstlichen) Taunus zu. Denn insgesamt stellt SCHNELLBACHER eine Nord-SüdDifferenzierung ihres Untersuchungsraums fest, da der Süden seit jeher in Richtung Frankfurt orientiert ist (vgl. SCHNELLBACHER 1963, 450). Durch seine Entwicklung115 wird Frankfurt zum Mittelpunkt des Rhein-Main-Gebiets und hat eine „unausgesetzt starke Wirkung auf [die] […] Dialekte“ der umliegenden Land-
112 Die Grundlage seiner Analyse bilden daher Daten aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jh., die den intendierten Basisdialekt erheben. 113 Zwar hat Frankfurt (noch) „keine überragende sprachliche Bedeutung“, nimmt aber einen größeren Einfluss (meist zusammen mit Offenbach und Hanau) auf die umliegende Landschaft (vgl. DEBUS 1963, 26 und bspw. Karte 2). 114 Vgl. dazu auch DEBUS (1964). Er beschreibt hier die sprachlichen Entwicklungen anhand von wortgeografischen Karten (Stricknadel, Peitsche, Himbeere). Er nimmt dabei Bezug auf vorherige Studien (vgl. u. a. MAURER 1927; 1929; 1933) und kann in einem diachronen Vergleich durch Kombination differenzierte Einzelergebnisse zu den Phänomenen erzielen. Insgesamt bestätigt er die Ergebnisse von MAURER (1927; 1929; 1933) und DEBUS (1963). 115 SCHNELLBACHER (1963, 448) nennt als bedeutende Entwicklungsschritte Frankfurts: Wahl zur Krönungsstadt, Entwicklung zur Handels- und Börsenstadt, Industrialisierung (vgl. dazu RAUH 1921 a; b, FREILING 1924, s. o.).
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schaft (SCHNELLBACHER 1963, 450). Dieser Einfluss macht sich zunächst in den Städten bemerkbar, indem sich die dortigen Sprecher der Frankfurter Sprache angleichen (vgl. SCHNELLBACHER 1963, 448). Von den Städten geht wiederum ein Einfluss auf die Dörfer der Umgebung aus. Illustrativ beschreibt SCHNELLBACHER (1963, 448) das Szenario dieser sprachlichen Entwicklung: „Die zahllosen Pendelarbeiter, die täglich oder wöchentlich nach Frankfurt fahren, müssen ihren heimatlichen Dialekt der Frankfurter Umgangssprache annähern, und so kommt es zu einer städtisch gefärbten Mundart, die sich in den Dörfern im nahen Umkreis der Stadt weitgehend durchgesetzt hat, besonders natürlich unter der jüngeren Generation.“ HARD (1966) fasst in seiner Übersicht zum – in neuer Terminologie – regiolektalen Bereich der deutschen Regionalsprachen die Prozesse im Rhein-MainGebiet zusammen. Hier ist ein für den gesamten Zwischenbereich geltendes „Neuhessisch“ entstanden, „das die alten primären Merkmale der hessischen Mundarten weitestgehend abgestreift hat“ (HARD 1966, 27) und in den großen Städten die Dialekte schon völlig ersetzt hat. Als „rheinfränkische Umgangssprache“ (HARD 1966, 27) relativ einheitlichen Gepräges schiebt es sich auch außerhalb des näheren Rhein-Main-Gebiets „über die Grundschicht der alten Mundarten“ (HARD 1966, 27) und breitet sich somit aus. VEITH (1983) untersucht auf Grundlage eigener Erhebungen116 die Sprachvariation in Frankfurt am Main. Er definiert als standardferne Varietät in Frankfurt den Stadtdialekt, der in manchen Stadtteilen noch gesprochen wird (vgl. VEITH 1983, 84). Mit Hilfe des Konsonantismus identifiziert er fünf Varietäten in der Frankfurter Stadtsprache: Standardvarietät, standardnahe Varietät, mittlere Varietät, dialektnahe Varietät und Dialekt (vgl. VEITH 1983, 87). Diese unterscheiden sich in der obligatorischen oder fakultativen Anwendung phonologischer Regeln des Konsonantismus (m. a. W. dem Gebrauch standarddifferenter Merkmale). Ist der Dialekt durch zahlreiche obligatorische Regelanwendungen und die Standardvarietät durch eben keine obligatorische Regelanwendung definiert, zeichnen sich die mittleren Varietäten durch fakultative Regelanwendungen und neue Regeln aus (vgl. VEITH 1983, 86–87). Interessant erscheint die Beschreibung der standardnahen Varietät (vgl. VEITH 1983, 87). Diese wird – unter Ausschluss des Vokalismus – definiert als Bemühung, die Standardsprache auszusprechen. Folgende Merkmale hält VEITH (1983, 87) dafür fest:117 Tilgung von /p/ vor /f/ im Anlaut, Fortisierung sth. Plosive vor Konsonant, Spirantisierung von /g/ zu [j], Lenisierung von Plosiven im In- und Auslaut nach Sonanten, Lenisierung von intervokalischen Konsonanten, Lenisierung von Konsonanten zwischen Konsonant und Vokal. Fakultativ sind die Realisierung von auslautend -er als [ɛ], die Tilgung von
116 VEITH (1983) äußert sich nicht näher zu seinen Erhebungen, d. h. es ist nicht klar, wer, wann, wie, in welcher Situation usw. erhoben wurde. 117 Nicht erwähnt werden hier Merkmale, die nach einem Abgleich mit KOHLER (1995) als realisationsphonetische Varianten der Standardsprache gelten.
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3 Der hessische Sprachraum
/r/ zwischen (tiefem) Velarvokal und Konsonanten und die Koronalisierung. Bei dieser kann es gehäuft zu Hyperkorrekturen kommen (vgl. VEITH 1983, 87). Für Frankfurt beschreibt BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 3–4) ebenso die Verdrängung ehemaliger Ortsdialekte durch einen städtischen Dialekt (vgl. dazu auch RAUH 1921a; b, MAURER 1929, DEBUS 1963). Sie unterscheidet deshalb zwischen Stadtmundart I und II. Als Stadtmundart I bezeichnet sie den traditionellen Stadtdialekt, der bis 1945 in Frankfurt gesprochen wurde. Die Stadtmundart II ist eine „neue Varietät“, die standardnäher ist (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 4). Sie unterscheidet sich zwar kaum „von dem im ganzen südhessischen Raum gesprochenen ,Neuhessisch‘“, dennoch verwendet BRINKMANN TO BROXTEN einen eigenen Begriff für diese Sprechweise, auch da diese von den Frankfurtern als Frankfurterisch identifiziert wird. Die Stadtmundart II, die BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 12) auch als „Sprache der Stadt“ benennt, breitet sich weiter nach Norden aus (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 12). Als weitere Stufe beschreibt BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 4) die (regionale) Umgangssprache, die sich der Standardsprache bis auf wenige Merkmale angenähert hat.118 DINGELDEIN (1994, 274) beschreibt „die im Rhein-Main-Gebiet gebräuchliche Ausgleichsvarietät, die ,Neuhessisch‘ genannt wird“.119 Er wertet es als eine der „neuen Varianten des Deutschen“ (DINGELDEIN 1994, 273), die sich durch regionale Gebundenheit bei gleichzeitiger überregionaler Verstehbarkeit auszeichnen (vgl. DINGELDEIN 1994, 273). Das Rhein-Main-Gebiet mit den beiden Städten Frankfurt und Mainz als Zentren nimmt seit Langem aus geografischen, politischen und historischen Gesichtspunkten eine Mittelpunktfunktion ein (vgl. DINGELDEIN 1994, 274). Die Bedeutung des Raumes hat in den letzten Jahren sogar noch zugenommen, indem das Rhein-Main-Gebiet zum Ballungsraum und Verkehrsknotenpunkt wurde (vgl. DINGELDEIN 1994, 275). Dies hat Einfluss auf die sprachlichen Entwicklungen in diesem Raum, die DINGELDEIN (1994, 276) mit Verweis auf VIËTOR (1875) und MAURER (1929) wie folgt zusammenfasst: „Aus dialektalem [hier: rheinfränkischem, L. V.] Substrat und standardsprachlichem Superstrat entwickelte sich qualitativ Neues.“ Dieses „Neue“ definiert DINGELDEIN (1994, 276) als Neuhessisch, das mit der Zeit „zum sprachlichen
118 Zur genauen Beschreibung der Stadtmundart II und der Sprachvariation in Frankfurt vgl. Kap. 3.4.2. Unklar bleibt die genaue Differenzierung der beschriebenen Sprachformen – v. a. bei Neuhessisch und Stadtmundart II. Es stellt sich auch die Frage, wie die Arbeit von BRINKMANN TO BROXTEN mit RAUH (1921a; b), und FREILING (1924) in Bezug zu setzen ist. Bei einem Abgleich der Merkmale scheint die Stadtmundart I dem hier definierten rheinfränkischen Dialekt zu entsprechen. Die Frage, ob es sich bei der Stadtmundart II um eine neue Varietät handelt bzw. wie es sich in das vertikale Spektrum einordnen lässt, ist Kap. 6 vorbehalten. 119 Vgl. auch DINGELDEIN (1983). Auch hier bezeichnet er den „neuen hessischen Dialekt“ (DINGELDEIN 1983, 126) als Neuhessisch. Dieser hat sich im Rhein-Main-Gebiet auf Grundlage der alten Basisdialekte unter standardsprachlichem Einfluss als neue Sprachvariante gebildet (vgl. DINGELDEIN 1983, 126).
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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,Markenzeichen‘ der Region“, und „zu dem ,hessischen‘ Dialekt“ wurde.120 Gesprochen wird Neuhessisch in einem Kerngebiet um Mainz/Wiesbaden, Frankfurt/Offenbach und Darmstadt, zu den Rändern zählen Bad Homburg und Aschaffenburg. Es ist aber auch als „verkehrssprachliche Zweitvariante“ (DINGELDEIN 1994, 277) neben den Dialekten im Odenwald, im westlichen Spessart, in Rheinhessen und in der Wetterau bis Gießen zu hören (vgl. DINGELDEIN 1994, 277).121 DINGELDEIN (1994, 281–304) beschreibt kontrastiv zur Standardsprache und zum Rheinfränkischen die Merkmale des Neuhessischen (Phonetik/Phonologie: 281–292 u. Morphologie: 292–304). Er verwendet dazu einerseits als schriftliche Quellen neuere Dialektdichtung aus dem Raum und andererseits Aufnahmen aus dem Tonarchiv hessischer Mundarten (vgl. DINGELDEIN 1994, 279).122 Als Merkmale des neuhessischen Vokalismus123 (vgl. DINGELDEIN 1994, 281–284) im Vergleich zur Standardsprache sind bspw. Rundungsdifferenzen und Vokalkürze zu nennen, aber auch die monophthongische Realisierung von mhd. ei und ou (vgl. Kap. 4.4.1.1 u. 4.4.1.2) kommt – wenn auch selten – vor. Im Konsonantismus beschreibt DINGELDEIN (1994, 284–287) unter anderem folgende Merkmale: an- und inlautende Lenisierung, [nd, nt]-Assimilation, b-Spirantisierung, nApokope und g-Spirantisierung. Als junge oder neue Merkmale nennt er (1994, 285, 287) die Koronalisierung und die stimmhafte Realisierung von [s] im Wortinlaut. Er kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis, „dass das Neuhessische den standardsprachlichen Vokalismus mit dem dialektalen Konsonantismus und den dialektalen phonetisch-phonologischen Distributionsregeln zu verbinden trachtet“ (DINGELDEIN 1994, 292). Der Begriff des Neuhessischen taucht Anfang des 19. Jh. im politischen Diskurs auf. So schreibt SCHUE (1808, 200) in seiner Ausführung zum Rheinischen Bund von Menschen, die im Neuhessischen, das heißt „Solmsischen, Erbachischen und Wittgensteinischen“, leben und fragt sich, ob diese zur Abgrenzung von Althessen als neuhessisch benannt werden sollen. Auch FREIHERR VOM STEIN schreibt in einer Anordnung zur Verteilung von Marktständen von „altoder neuhessischen, oder auch fremdherrischen Unterthanen“ (STEIN 1811, 662). Ein weiterer Beleg – innerhalb der Belletristik – findet sich beim hessischen Dichter FRANZ VON DINGELSTEDT, der sein Gedicht „Ein Märchen“ (um 1839) mit
120 DINGELDEIN (1994, 276) referiert hier auch auf die mediale Verwendung dieser Sprachform (vgl. VORBERGER i. E.). 121 DINGELDEIN (1994, 277) weist selbst darauf hin, dass diese Beschreibung des Verbreitungsgebiets nicht präzise und schwierig zu bewerten ist, da empirische Untersuchungen fehlen. Die Ausführungen von DINGELDEIN beziehen sich auf den „unsystematisch gewonnenen Höreindruck“ (vgl. DINGELDEIN 1994, 277). 122 Die Aufnahmen stammen aus Bad Homburg, Frankfurt, Hanau, Offenbach, Rüsselsheim und Darmstadt. Es handelt sich um die Übertragung der Wenkersätze in den Dialekt und freie Texte (vgl. DINGELDEIN 1994, 279). 123 Die Aufzählung ist als systematisierte Übersicht zu verstehen. DINGELDEIN beschreibt das gesamte Lautsystem des Neuhessischen, also auch Fälle, in denen es keinen Kontrast zur Standardsprache gibt.
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3 Der hessische Sprachraum
„Neuhessisch“ untertitelt und damit Bezug auf die politisch-gesellschaftliche Lage in Kassel nimmt (vgl. DINGELSTEDT 1845, 74–81). Der Begriff wurde also zunächst – in den hessischen Landesteilen – zur Differenzierung der Bewohner aufgrund territorialer Veränderungen124 verwendet. Die neu hinzugekommenen Bewohner und Territorien werden mit neuhessisch attribuiert. Analog dazu wird der Begriff in der Regionalsprachenforschung dafür verwendet, neue Formen des regionalen Sprechens im hessischen Sprachraum zu kennzeichnen (s. o.). Der Ursprung ist nicht genau zu klären. DINGELDEIN (1994, 308, Anm. 4) verweist auf die Prägung des Begriffs am Deutschen Sprachatlas „im Umfeld der Forschungen von Friedhelm Debus zu stadtsprachlichen Ausstrahlungen“ und nennt die Aufsätze von DEBUS (1962; 1963; 1964).125 Der Begriff ist jedoch in keinem der Aufsätze von DEBUS belegt. SCHIRMUNSKI (1930, 122) hingegen spricht mit Bezug auf Sprachinseln vom „Neuhessischen“ als Beispiel einer neuen binnenländischen Varietät, die aufgrund des Verlustes primärer Merkmale entstanden sei. SCHIRMUNSKI (2010/1962, 668) schreibt zudem – nun expliziter – über eine neue Variante im Rhein-Main-Gebiet, die man „Neuhessisch nennen könnte“, ohne dabei Bezug zu DEBUS herzustellen. Dies scheinen somit die ersten schriftlichen und publizierten Belege für den linguistischen Terminus Neuhessisch zu sein. BELLMANN (1987) wiederum bezieht sich in seiner Benennung des Neuen Substandards auf HARD (1966, 27), der auch vom Neuhessischen spricht (s. o.). Es lässt sich festhalten, dass die linguistische Verwendung des Begriffs – zur Benennung der regionalsprachlichen Entwicklungen und deren Ergebnissen – analog zum politischen Begriff in der ersten Hälfte des 20. Jh. aufkommt und sich seitdem innerhalb und außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses etabliert hat. LAUF (1994) untersucht für den deutschen Sprachraum die Merkmale der regionalen Umgangssprachen. LAUF (1994, 2–5) definiert regionale Umgangssprache als – mindestens auf der lautlichen Ebene – regional bedingte Abweichungen von der Norm der deutschen Standardsprache mit räumlich begrenzter Verwendung.126 Sie behandelt das „Hessische“ zusammenfassend, weist jedoch einerseits allgemein
124 Mit der Gründung des Rheinbundes werden dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt einige Gebiete zugeschlagen. Das Kurfürstentum Hessen-Kassel geht kurzeitig im Königreich Westfalen auf (vgl. dazu genauer KROLL 2006, 41–48). 125 Durch das Interesse an Dialekten in den 1970er Jahren wird der Begriff über die Forschung hinaus bekannt (vgl. DINGELDEIN 1994, 308, Anm. 4). Als Alternative gibt DINGELDEIN (1994, 308, Anm. 4) Mainhessisch und in einem Beitrag der FAZ auch RMV-Hessisch (vgl. GRÜLL 2007) an. 126 Es ist somit von Regiolekten auszugehen. Vgl. dazu auch LAUF (1996, 193–197). Datengrundlage LAUFS sind umgangssprachliche Aufnahmen aus verschiedenen Korpora, die sie nach den Kriterien hoher regionaler Prägung, guter technischer Qualität und hoher Repräsentativität der Sprecher ausgewählt hat (vgl. LAUF 1994, 8–11). Für Hessen wurden Aufnahmen aus Offdilln, Gießen, Frankfurt, Bad Vilbel, Flörsbach, Schwickershausen, Wiesbaden und Kassel verwendet (vgl. LAUF 1994, 71).
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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auf die Schwierigkeit der Einteilung der Gebiete – vor allem in diesem vertikalen Bereich – hin (vgl. LAUF 1994, 35). Andererseits gibt sie an, dass sich ihre Beschreibung hauptsächlich auf das „Neuhessische“ bezieht, das für den Ballungsraum Rhein-Main charakteristisch ist (die Merkmale gleichen denen von MIHM 2000, s. u.). Im Nordhessischen treten demgegenüber einige Merkmale nicht auf (kein alveolares /r/, keine e-Apokope in der Konjugation). Es weist zudem starke Ähnlichkeiten zum Thüringischen auf. MIHM (2000, 2117–2118) schreibt in seiner Übersicht zu den regionalen Umgangssprachen – also dem Bereich zwischen Dialekten und Standardsprache – über die südhessischen Umgangssprachen, dass bei diesen merkmalsreiche, dialektnahe Varietäten überwiegen. Er zählt folgende Merkmale für eine großräumige Ausgleichsvarietät auf, zu der unter anderem das Mainzische und Frankfurterische gehören, und verweist dabei auf das Neuhessische (vgl. MIHM 2000, 2117– 2118): Monophthongierung von mhd. ei und ou, Entrundung, Senkung von geschlossenen Kurzvokalen vor r-Verbindungen, Erhaltung mhd. Kürzen in offener Silbe, a-Verdumpfung mit Nasalierungsresten, Schwa-Tilgung im Auslaut, Koronalisierung, Lenisierung in In- und Auslaut, n-Apokope, g-Spirantisierung in Inund Auslaut, Realisierung von auslautend -er als [ɛ], r-Tilgung nach Velarvokal, b-Spirantisierung im Inlaut, Nasalierung von auslautendem [n] und Assimilation von -nd-. Neben dieser Varietät lassen sich nach MIHM (2000, 2118) zwei weitere Varietäten bei den Umgangssprachen bestimmen. Eine merkmalsarme Varietät, die „in höheren sozialen und situativen Straten Standarddivergenz markiert“. In dieser kommen die ersten fünf genannten konsonantischen Merkmale und SchwaTilgung sowie der Erhalt der Kürze vor. In einer mittleren Varietät treten zusätzlich Vokalsenkungen, Nasalierungen, b-Spirantisierung und Assimilation von -ndauf. MIHM (2000, 2118) verweist auf die rheinfränkischen Stadtsprachen als Ursprung dieser Varietäten, die sich seit den letzten Jahrzehnten „in einer Phase territorialer Expansion“ (MIHM 2000, 2118) befinden. Sie haben sich im gesamten Rhein-Main-Gebiet ausgebreitet und „besitzen als Verkehrssprache bereits in den angrenzenden rheinhessischen Gebieten, aber auch im Zentralhessischen bis zur Lahn Gültigkeit“ (MIHM 2000, 2118). 3.4.2 Entwicklungen in den untersuchten Orten127 Für die Sprachverwendung in Ulfa im Vogelsberg differenziert HAIN (1954) verschiedene Stufen. HASSELBACH (1971) beschreibt für den Vogelsberg (und damit Ulrichstein) neuere regionalsprachliche Entwicklungen. Die Erkenntnisse erzielt er unter anderem im Abgleich seiner Daten dialektkompetenter Sprecher mit denen von Schülern. Für den dialektalen Bereich hält er vier Entwicklungstendenzen
127 Die Darstellung erfolgt von Norden nach Süden. Zu den einzelnen Orten vgl. Kap. 4.2.1.
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3 Der hessische Sprachraum
fest: (1) Schwa wird apokopiert, wo es dialektal eigentlich realisiert wird, gleichzeitig werden die dialektalen Suffixe {el} und {er} durch standardkonformes {en} ersetzt (vgl. HASSELBACH 1971, 183–186). Innerhalb der Synonymik werden (2) dialektale Varianten durch standardnähere ersetzt (bspw. nächten vs. gestern) (vgl. HASSELBACH 1971, 186–187). (3) Kontraktionsformen schwinden (bspw. für Handvoll, schnarchen) und (4) lassen sich weitere einzellexematische Angleichungen an die Standardsprache beobachten (vgl. HASSELBACH 1971, 188–189). Dieser sprachliche Wandel indiziert laut HASSELBACH (1971, 191) „ein anfängliche[s] Stadium der Annäherung an die Umgangssprache“, was insgesamt als Entwicklung zu einer „überlandschaftlichen Verkehrsmundart“ gedeutet werden kann (vgl. HASSELBACH 1971, 192). Des Weiteren beobachtet er einen wachsenden Gebrauch der Umgangssprache, die er als „mundartlich getönte Standardsprache“ (HASSELBACH 1971, 178) definiert. Dies trifft insbesondere auf die Schüler zu und lässt sich bereits im Privaten feststellen (vgl. HASSELBACH 1971, 194–200). Er unterscheidet diese Umgangssprache von dem Sprechen nach der Schrift. Insgesamt differenziert er also vier Sprechweisen im Vogelsberg: (I) Schriftsprache (= Standard), (2) Umgangssprache, (3) Verkehrsmundart und (4) (Orts-)Mundart. Als regionalsprachliche Entwicklung lassen sich zwei Prozesse zusammenfassen: (1) Ausbildung einer Verkehrsmundart und (2) zunehmende Verwendung der Umgangssprache (samt Funktionszuwachs). Von einem allgemeinen regelhaften Abbau von Merkmalen im Dialekt (außer den genannten hauptsächlich lexikalischen Fällen), dem Entstehen einer Halbmundart128 oder südlichen bzw. Frankfurter Einflüssen schreibt er nichts. Zu Gießen schreibt ALFFEN (1922, 16), „dass die Gießener Mundart einerseits zwar schon stark von der Schriftsprache beeinflusst ist […], jedoch andererseits auch noch über eine beträchtliche Anzahl mundartlicher Eigenheiten verfügt“. Für den ersten Fall gibt er als Beispiel mhd. i (wie in Kind, trinken) an, das im Umland wie allgemein im Zentralhessischen je nach Ursprung als [ɛ͡ə] (< mhd. i1) oder [ɛ] (< mhd. i2) realisiert wird, in Gießen aber generell [ɪ] ausgesprochen wird (vgl. ALFFEN 1922, 10). Für den zweiten Fall nennt er als Beispiel mhd. a vor -lt-, das auch damals in Gießen lang [a̠ː] gesprochen wurde (wie in alt). Häufig wird im Gießener Dialekt die basisdialektale Variante nicht durch eine der Standardvarietät entsprechende, sondern eine andere regionale (tw. den südlichen Formen ähnliche) Variante ersetzt. So entspricht mhd. œ (std. [øː] wie in böse) im Zentralhessischen (um Gießen) [iː], in Gießen wird jedoch [eː] artikuliert.129 ALLES (1954) beschreibt für die Wetterau regionalsprachliche Entwicklungen, die hauptsächlich auf Frankfurter Einfluss beruhen.130 Er bezieht sich auf FREI-
128 Vgl. zum Abbau ALLES (1954) und zur Halbmundart BORN (1938) weiter unten in diesem Abschnitt. 129 D. h. die Variante ist im Vergleich zur Standardsprache nach wie vor entrundet, aber nicht mehr gesenkt. 130 In seinen Kombinationskarten zeigt sich ein Keil, der von Frankfurt aus in die Wetterau hineinragt (vgl. ALLES 1954, 180 und Fn. 75).
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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LING (1924) und MAURER (1929) und skizziert die schon erwähnten Prozesse im Raum um Darmstadt und Mainz, die sich nach Frankfurt ausbreiten (vgl. ALLES 1954, 181). Die Entwicklung in Frankfurt umschreibt er mit der Etablierung einer Umgangssprache (vgl. Kap. 3.3.4 und ALLES 1954, 181–182). Durch seine weitere städtische Entwicklung tritt Frankfurt, die sprachliche Beeinflussung des Umlands betreffend, an die Stelle von Darmstadt und Mainz (vgl. ALLES 1954, 181). Die Stadt nimmt dabei zum einen eine „Vermittlerrolle“ für südliche Formen ein, ist aber zum anderen auch Ausgangspunkt „modernere[r] Entwicklungen“ (ALLES 1954, 181). Seit dem letzten Drittel des 19. Jh. beeinflusst Frankfurt die Wetterau sprachlich. Umgangssprachliche Formen, die nicht immer der Standardsprache entsprechen müssen (vgl. DEBUS 1963, ALFFEN 1922), dringen vor und ersetzen die dialektalen Varianten. Dies wirkt sich zunächst auf die unmittelbare Umgebung Frankfurts aus131 (vgl. ALLES 1954, 182), aber auch auf die Städte in der Wetterau. Diese bilden „Vorposten, von wo aus sich die Umgangssprache Frankfurts über die umliegende Landschaft ausbreiten konnte“ (ALLES 1954, 182) – in den Städten selbst wird „kaum noch Mundart gesprochen“ (ALLES 1954, 1).132 Anhand eines Abgleichs mit den Karten des „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ beschreibt ALLES (1954) die regionalsprachlichen Entwicklungen für einzelne Laute und Wörter präzise. Zusammenfassend kommt er zu folgenden Ergebnissen (vgl. ALLES 1954, 194–195): Viele Entwicklungen haben erst begonnen und gelten nur für die unmittelbare Umgebung Frankfurts (u. a. Bad Vilbel, Karben). Dazu zählt der Ersatz
von [ɔ] von [ɛ͡ə]
für mhd. a
durch [a̠]
Bsp. Mann,
für mhd. ë
durch [ɛ]
Bsp. Wetter,
von [o]
für mhd. u
durch [ʊ]
Bsp. gefunden,
von [uː]
für mhd. ô
durch [oː]
Bsp. Brot,
von [iː]
für mhd. ê
Bsp. Schnee,
von [ɛː] von [ɛ͡ɪ]
für mhd. öü
durch [eː] durch [ɔ͡ɪ]
für mhd. ie
durch [iː]
Bsp. lieb.133
Bsp. Bäumchen und
Einige Entwicklungen reichen bereits bis nach Friedberg (und somit auch Bad Nauheim) und beziehen sich auf den gesamten Raum des ehemaligen Landkreises Friedberg (Westteil des heutigen Wetteraukreises). Dazu gehört der Ersatz
131 Dies wird schon von FREILING (1924) beschrieben. 132 ALLES (1954, 182) beschreibt hier ähnlich wie SCHNELLBACHER (1963) die vielfach beruflich bedingte Anbindung der Umgebung an Frankfurt. 133 Dabei gelten Unterschiede zwischen einzelnen Lexemen, die den entsprechenden Laut enthalten (vgl. ALLES 1954, 194).
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3 Der hessische Sprachraum
von [u͡ə], [oː] von [ɪ͡ə], [e]
für mhd. â
durch [ɔː]
Bsp. Aas,
für mhd. i
durch [ɪ]
Bsp. Kind, trinken,
von [r]
für mhd. d, t durch [d̥]
Bsp. Wetter, wieder,
von Ø
für mhd. g
durch [ç, x]
Bsp. sagen,
durch [ɐ]
Bsp. Erbsen und
von [r] von [ç]
durch [ʃ, ɕ]
134
Bsp. ich.
Im gesamten Gebiet bleiben – bis auf wenige Ausnahmen – die Varianten [ɔ͡ʊ] für mhd. uo und [a̠ː] für mhd. ei und ou erhalten (vgl. ALLES 1954, 195). Für den übrigen Raum (d. h. den ehemaligen Kreis Büdingen, den Osten des heutigen Wetteraukreises) gilt, dass hier die Entwicklungen noch nicht angekommen sind und nur in wenigen Fällen das Vordringen der südlichen Formen beobachtet werden kann (vgl. ALLES 1954, 196).135 Insgesamt konstatiert ALLES (1954, 196) aber eine große Stabilität des Sprachraums, da „in vielen Fällen die Grenzen von damals [d. i. 1880er Jahre, L. V.] und heute [d. i. 1950er Jahre, L. V.] noch genau überein[stimmen]“. Neben dieser Stabilität können die Ergebnisse von ALLES (1954) zusammengefasst werden als Beeinflussung der Basisdialekte der Wetterau durch die Sprechweise(n) in Frankfurt. Hierbei werden – räumlich gestaffelt – basisdialektale Varianten durch südliche Varianten ersetzt, die (a) der Standardsprache entsprechen können oder (b) neue regionalsprachliche Formen sind (bspw. [ɕ]). Neben den allgemeinen Entwicklungen im hessischen Sprachraum, bei denen die Stadt Frankfurt eine zentrale Bedeutung hat, untersucht BRINKMANN TO BROXTEN (1987) die Sprachvariation in der Stadt. Unter anderem führt sie eine Variablenanalyse zum Sprachgebrauch durch, die hier genauer vorgestellt werden soll.136 Folgende Merkmale definiert BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 43–46):137 monophthongische Realisierung von mhd. ei und ou, Senkung vor /r/, Entrundung, unverschobenes westgerm. p138 (neues Merkmal: anlautend Realisierung als [f]), b-Spirantisierung, g-Spirantisierung (neues Merkmal: inlautend häufig als [j]), Lenisierung von [p, t, k] im absoluten Anlaut (vielfach bei [t], seltener bei
134 Der neue Laut gewinnt an Raum (vgl. ALLES 1954, 195). 135 Die hier untersuchte Stadt Büdingen wird von ALLES (1954, 182) als einer der Vorposten genannt. Es ist davon auszugehen, dass in Büdingen die Entwicklungen weiter fortgeschritten sind als im Umland (vgl. IV), aber nicht so weit wie in der westlichen Wetterau (vgl. II). Dies gilt es bei den vorliegenden Analysen zu beachten. Vgl. dazu auch VORBERGER (2017). 136 Ein weiterer Teil der Arbeit widmet sich sozio-pragmatischen Fragestellungen, wie bspw. der Funktionen der Sprechweisen. 137 In Anlehnung an BRINKMANN TO BROXTEN (1987) und der Vergleichbarkeit halber wird hier das Merkmal benannt, das gleichzeitig auch die standarddifferente Variante einer Variable, die nicht näher bei BRINKMANN TO BROXTEN (1987) beschrieben wird, darstellt. 138 Dieses Merkmal wird für die Variablenanalyse ausgeschlossen, da es zu selten vorkommt.
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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[p]) (neues Merkmal: [b, d, g] vor Sonorant werden fortisiert)139, Elision von /r/ nach Velarvokal, Koronalisierung, e- und n-Apokope, Partizipbildung ohne (bei einigen Verben) und [nd]-Assimilation. Als ein weiteres neues Merkmal beschreibt BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 42) die Vertauschung der beiden alveolaren Frikative [s, z]. Die Merkmale sowie die als neu bezeichneten Varianten bleiben bei ihrer Untersuchung unberücksichtigt (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 42). Zunächst führt BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 47–49) eine Variablenanalyse für drei vergleichbare Erzählungen durch. In Anlehnung an VEITH (1986) definiert sie zwei Varietäten über variantengrammatische Regeln und weist die Erzählungen anhand des Variantenvorkommens den Varietäten zu. Sie sieht durch die beiden Varietäten ihre Unterscheidung von Stadtmundart I und II bestätigt. Als Merkmale der Stadtmundart II, das dem Neuhessischen mehr oder weniger entspricht, nennt sie die Folgenden: gSpirantisierung, Lenisierung, Koronalisierung, Tendenz zur e- und n-Apokope und [nd]-Assimilation, außerdem treten die neuen Merkmale auf (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 52). In einer weiteren Variablenanalyse untersucht BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 54–126) Redebeiträge auf Bürgerversammlungen, die sie als formelle und öffentliche Situation versteht, und von ihr geführte Interviews, die sie als eher informell und privat betrachtet (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 58–59). Neben umfassenden Ergebnissen zum Sprachgebrauch auf den Bürgerversammlungen (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 71–81) und den Einflussfaktoren auf diesen (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 197, 80–104), betrachtet BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 112–119) auch die Ergebnisse der Variablenanalysen genauer, vergleicht die intersituative Variation und führt zudem eine Implikationsanalyse durch. Mithilfe beider Analysen teilt sie sowohl Sprecher als auch Varianten in Gruppen ein (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 119–124). Die Merkmale monophthongische Realisierung von mhd. ei und ou, Entrundung, b-Spirantisierung und Partizipbildung ohne werden selten und wenn, dann nur im Interview realisiert, sie gelten als typisch für die Stadtmundart I. Wohingegen die Merkmale g-Spirantisierung, Elision von /r/ nach Velarvokal und e- und n-Apokope intersituativ stark variieren und als Charakteristikum für die Stadtmundart II gelten. Die Frequenzen bei der Senkung vor /r/, der Lenisierung von [p, t, k], der Koronalisierung und der [nd]-Assimilation sind bei allen Sprechern ziemlich konstant; sie werden als Merkmale der regionalen Umgangssprache klassifiziert (vgl. BRINK140 Insgesamt bestätigen alle Ergebnisse laut MANN TO BROXTEN 1987, 119–122). BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 122) die Dreiteilung in Stadtmundart I und II
139 BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 45) geht davon aus, dass dies eine „Hyperkorrektheit [ist], die bei Sprechern auftritt, die die dialektale Lenisierung vermeiden wollen und dabei auch die standardsprachlich korrekten stimmhaften Verschlusslaute in stimmlose verwandeln“. 140 Zuvor kommt BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 52) (s. o.) zu einer anderen Beschreibung der typischen Merkmale der beiden von ihr definierten Varietäten Stadtmundart II und regionaler Umgangssprache.
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und regionale Umgangssprache, die „relativ stabile Sprachvarietäten“ darstellen (BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 122).141 BORN (1938, 1) differenziert für Darmstadt im Sinne einer soziologischen Schichtung eine gehobene Mundart (= Halbmundart) und die reine Mundart, die er als zeitlich relativ versteht. Dies bedeutet, dass die Halbmundart die augenblicklich gesprochene, gehobenere Mundart ist und die reine Mundart die altertümlichste gesprochene Schicht in Darmstadt darstellt. Er beschreibt dann Entwicklungen innerhalb der reinen Mundart in Darmstadt, die dazu geführt haben, dass sich der Dialekt in Darmstadt von denen des Umlandes unterscheidet (vgl. BORN 1938, 139–140).142 Dazu gehören, (1) dass im Darmstädter Dialekt keine Senkung von mhd. i, u vorkommt, sondern diese bereits durch standardsprachliche Varianten ersetzt wurden, (2) dass es keinen Rhotazismus gibt, (3) dass dialektale Langvokale in manchen Umgebungen (bspw. schlecht, alt) standardkonform kurz realisiert werden und (4) dass für westgerm. g anstelle des Ausfalls oft ein Frikativ oder Plosiv realisiert wird.143 In Darmstadt ist der Dialekt (also die reine Mundart) schon „hochdeutsch zersetzt“ (BORN 1938, 141). Für die Halbmundart nennt BORN (1938, 144–145) Merkmale zur Unterscheidung von der reinen Mundart, die auf regionalsprachliche Entwicklungen zurückgehen.144 Dazu gehören, (1) dass westgerm. g intervokalisch nach Palatalvokal als [ʃ, ɕ] realisiert wird, (2) dass dialektale Monophthonge (< mhd. ei, ou) diphthongisch realisiert werden, (3) dass dialektales [ʊ] als [ɔ] gesprochen wird (Bsp. Sonne), (4) dass weitere Senkungen rückgängig gemacht werden (Bsp. darf, ehemals [d̥ɛɐf]) und (5) dass dialektale Kürzen rückgängig gemacht werden (Bsp. Nebel). Die n-Apokope bleibt erhalten. Für den „Bereich der Hochsprache“ hält BORN (1938, 145) fest, dass die Phänomene der Koronalisierung, der Entrundung und der a-Verdumpfung vorkommen. Bei den ersten beiden beobachtet er auch Hyperkorrekturen.145 Insgesamt beobachtet BORN (1938) eine starke „hochsprachliche Zersetzung“ und eine Dreiteilung der Vertikale in Darmstadt: (1) Hochsprache, (2)
141 BRINKMANN TO BROXTEN kommt zu diesem Ergebnis, obwohl sie anfangs betont, keine „Systematik stadtmundartlicher Varietäten“ vornehmen zu wollen (BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 5). Die Untersuchung von BRINKMANN TO BROXTEN (1987) bietet insgesamt wichtige und empirisch gestützte Erkenntnisse zur Sprachvariation in Frankfurt, sowohl hinsichtlich der Merkmale als auch der Situation. Sie stellt außerdem eine gute Vergleichsmöglichkeit mit den Ergebnissen dieser Arbeit dar. Deshalb wird in Kap. 6 (zum Untersuchungsort Frankfurt am Main) eine Neuauswertung der Daten von BRINKMANN TO BROXTEN (1987) und ein Vergleich mit den rezenten Daten erfolgen. 142 „Auf der Karte der Mundartgrenzen hebt sich Darmstadt wie eine Insel aus seinem Umland heraus. Nach allen Seiten hin ist es durch schwere und schwerste Schranken von den Nachbarorten getrennt“ (BORN 1938, 139). 143 Hinzukommen einige wortgeografische Unterschiede (vgl. BORN 1938, 143–144). 144 BORN (1938, 144) drückt dies mit weiterer hochdeutscher Zersetzung aus. 145 „Aus Angst vor solchen Versprechungen erklärt es sich, dass man bei Hochspr. sprechenden Darmstädtern zuweilen ein ständiges χ auch dort feststellen kann, wo š am Platz wäre“ (BORN 1938, 145). Gemeint ist mit χ = [ç] und š = [ʃ].
3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen
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Halbmundart und (3) reine Mundart. Die reine Mundart ist aber „klar“ als Stadtmundart (BORN 1938, 146) zu beschreiben, die sich durch die skizzierten Entwicklungen von den Dialekten des Umlandes unterscheidet (vgl. BORN 1938, 146). Weitere Entwicklungen führen dann zur Ausbildung der Halbmundart. Zudem hält BORN (1938, 146) den Einfluss Darmstadts auf das Umland fest: „Darmstadt begann als Mittelpunkt sprachlich sein Umland zu beeinflussen, als es kulturell und politischer Mittelpunkt des Gebietes wurde, also seit dem 15. Jahrhundert“ (BORN 1938, 146).146 Für die nähere Umgebung des Untersuchungsortes Reinheim beschreibt BORN (1938, 164) vielfach den Erhalt alter, dialektaler Formen, für Reinheim aber explizit – ohne dies näher zu beschreiben – hochsprachlichen Einfluss. FREILING (1929) betrachtet nur die Basisdialekte im Odenwald und deren sprachhistorische Entwicklung. Er äußert sich nicht zu möglichen Entwicklungen im Raum, erwähnt allerdings, dass „höher gebildete Personen“ (FREILING 1929, 2) von der Ortsmundart abweichen und auch Bauern mit Fremden „das schönste Schriftdeutsch“ sprechen (FREILING 1929, 2). Die Bauern verwenden dabei aber nur Laute, die sie aus dem Dialekt kennen – so bspw. nicht [p͡f, yː, ʏ, øː, œ] –, und versuchen, dialektale Eigenheiten, die die Schriftsprache nicht kennt, zu vermeiden (vgl. FREILING 1929, 2). 3.5 NEUERE STUDIEN ZUM HESSISCHEN SPRACHRAUM147 3.5.1 Kleine Reihe: Hessische Sprachatlanten Das Projekt „Wortgeographie der städtischen Alltagssprache in Hessen“ (WSAH) der Abteilung des Hessen-Nassauischen Wörterbuchs erfasst in zwei Bänden (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988 und DINGELDEIN 1991) die städtische Alltagssprache anhand des Wortschatzes. Hauptanliegen des Projektes ist, den nichtdialektalen Wortschatz und somit die sprachlichen Veränderungen im Bundesland Hessen zu erhellen (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988, 3–5). Dazu wurden in 61 hessischen Mittel- und Oberzentren mit 213 ortsfesten Sprechern zwischen 20 und 40 Jahren Erhebungen durchgeführt (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988, 6–12). 146 KELLER (1971, 161–162) und WAGENER (2010, 58–65) beschreiben auch eben jene vertikale Struktur in Darmstadt sowie den Darmstädter Einfluss auf das Umland und beziehen sich dabei explizit auf RUDOLPH (1927) (s. o.) und BORN (1938). WAGENER (2010, 65–68) erwähnt zudem Aufnahmen des Zwirner-Korpus in der „Datenbank Gesprochenes Deutsch“ (DGD) aus Darmstadt. Bei diesen handelt es sich um eine Inszenierung einer Darmstädter Sprechweise, also nicht um authentisches Sprachmaterial. Sie werden von WAGENER nicht weiter untersucht. 147 Anders als bei den Untersuchungen aus Kap. 3.4, bei denen eine zusammenfassende Bewertung (Kap. 3.7) sinnvoll erscheint, werden die Studien in Kap. 3.5 und 3.6 bei Bedarf schon – spezifisch – kommentiert.
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Abgefragt wurden 218 Begriffe mithilfe eines standardisierten Fragebogens (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988, 27–45). Vorgabe an die Informanten war dabei, so zu sprechen, wie sie es mit Nachbarn, Verwandten und Freunden zu tun pflegen. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN (1988, 5) gehen davon aus, so die Alltagssprache zu erheben. Sie verstehen darunter Sprachformen, „die in der Kommunikation des nichtoffiziellen Alltagsverkehrs zur Übermittlung persönlicher oder sachlicher Informationen sowie Äußerungen von Sprecher-Einstellungen zu Personen oder Sachverhalten“ verwendet werden. Das Resultat stellen 215 Wortkarten dar, die durch 45 Laut- und Formenkarten ergänzt werden (vgl. DINGELDEIN 1992, s. u.). Die Auswertung der Karten und ein Abgleich mit den Karten des HNV ergeben folgende Ergebnisse (vgl. auch DINGELDEIN 1991, 70–133, 180–245, FRIEBERTSHÄUSER 1987, 170–177): (I) die städtische Alltagssprache tritt an die Stelle der Basisdialekte, (II) der Grad der Standardannäherung der städtischen Alltagssprache unterscheidet sich im Norden (hoch) und Süden (niedriger), (III) die fünf Kernräume148 der Basisdialekte existieren für die städtische Alltagssprache nicht mehr und (IV) die Basisdialekte existieren dennoch und werden auch noch gesprochen (vgl. FRIEBERTSHÄUSER 1987, 174–177). Diese frühe Studie zum „mittleren Bereich“ zwischen Dialekt und Standard muss unter der pragmatischen Herangehensweise von FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN (1988) gesehen werden. Sie definieren Alltagssprache pragmatisch und schreiben selbst, dass der Dialekt Alltagssprache sein kann, die Alltagssprache aber alle (möglichen) Sprachformen umfasst (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGEL149 DEIN 1988, 6, DINGELDEIN 1991, 33–43). Dies bedeutet, dass nicht immer klar ist, wie die erhobene Sprechweise zu kategorisieren ist (bspw. als Basisdialekt oder Regionalakzent).150 DINGELDEIN (1991, 112–180) versucht, sich diesem Problem über lexikalische Straten anzunähern. Unter Straten versteht er Gliederungseinheiten innerhalb des regionalsprachlichen Spektrums (vgl. DINGELDEIN 1991, 111–112). Er versieht die einzelnen Wortbelege anhand von Wörterbucheinträgen mit Indizes (1 = der regionale Beleg ist mit der Standardvariante identisch, 2 = der regionale Beleg hat eine andere Bedeutung als eine entsprechende Standardvariante, 3 = der regionale Beleg weist eine stilistisch und räumliche Verteilung auf und 4 = der regionale Beleg ist eine regionale Eigenheit) (vgl. DINGELDEIN 1991, 122–126). Die Indizes ermöglichen eine lexikalische Vermessung, 148 FRIEBERTSHÄUSER (1987, 52) begreift den niederdeutschen Teil in Hessen als fünften Raum. 149 Dies entspricht der Vorgehensweise zahlreicher Forschungsprojekte, vgl. etwa den „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ (EICHHOFF 1977–2000) oder den „Atlas der Alltagssprache“ (ELSPAß / MÖLLER 2001ff.). 150 FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN (1988, 11) weisen selbst darauf hin: „Sollte das erhobene Material […] nicht exakt die sprachlichen Formen repräsentieren, die ‘alltagssprachlich’ verwendet werden, kann ihm durch die absolute Vergleichbarkeit auch im Erhebungsverfahren ein dokumentarischer Wert nicht abgesprochen werden.“ Zudem müssen methodische Überlegungen angestellt werden, d. h. bspw. die Eignung der Befragung für den regiolektalen Bereich des regionalsprachlichen Spektrums oder die Berücksichtigung der Reflexion der Informanten.
3.5 Neuere Studien zum hess. Sprachraum
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deren Ergebnis (vgl. DINGELDEIN 1991, 159–162) höhere Indexwerte im Süden als im Norden zeigt. Das bedeutet für die von ihm untersuchte Auswahl, dass in der Alltagssprache im Norden Hessens eher standardkonforme Wörter, im Süden eher regional spezifische Varianten gebraucht werden. Die Ergebnisse enthalten somit auch indirekt Angaben über den Sprachgebrauch der Informanten in alltäglichen Kommunikationssituationen. Die Ergebnisse von FRIEBERTSHÄUSER (1987, 174–177) deuten dann darauf hin, dass im nördlichen Hessen eher standardnahe Sprechlagen im Alltag verwendet werden, im Süden eher dialektnahe.151 Festhalten lässt sich, dass sich im alltagssprachlichen Wortschatz der Städte in Hessen in den 1980er Jahren eine klare Nord-Süd-Differenzierung – im Sinne einer abnehmenden Standardnähe – erkennen lässt, die Rückschlüsse auf den Sprachgebrauch zulässt. Wie erwähnt wurden die Wortkarten durch Laut- und Formenkarten zu verschiedenen Themenkomplexen und mit den Wenkersätzen ergänzt (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988, 10, 13, Kap. 2.2, DINGELDEIN 1991; 1992). DINGELDEIN (1991, 134–136, 167–168, 173–174; 1992) wertet die Lautkarten aus und kommt zu dem Ergebnis, dass sich „die hessische Sprachlandschaft dialektgeographisch vollkommen neu ordnet“ (DINGELDEIN 1992, 122). Als Beispiel führt er unter anderem Apfel auf (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988, Wortkarte 7), die Form mit unverschobenen westgerm. p ist häufiger im Süden bis etwa nach Gießen belegt und kommt in den nördlichen Teilen nur noch selten vor (vgl. DINGELDEIN 1992, 109–111). DINGELDEIN vermisst – analog zur Lexik – auch die lautliche Standardsprachlichkeit (vgl. DINGELDEIN 1991, 134–136, 167– 168; 1992). Er bewertet Standardentsprechung mit dem Index 1 und Standarddifferenz mit dem Index 2, wertet die lautlichen Belege auf dieser Grundlage aus und kommt zu dem Ergebnis einer „größere[n] Dialektalität der städtischen Alltagssprache in Südhessen“ (DINGELDEIN 1992, 122, vgl. auch DINGELDEIN 1991, 168). Auch hier gilt, dass die pragmatische Herangehensweise berücksichtigt werden muss (s. o.) und die Daten und Auswertungen auch dafür sprechen, dass die städtischen Sprecher im südlichen Hessen in alltäglichen Situationen eher dialektnahe Sprechlagen verwenden, die im nördlichen Hessen eher standardnahe.152 Der „hessische Dialektzensus“ (HDZ) (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, FRIEBERTSHÄUSER 1987, 177–180, DINGELDEIN 1997, 119–123) ist der Sprachdemoskopie zuzurechnen. Mitte der 1980er Jahre wurden in ganz Hessen ca. 1.700 Personen direkt befragt (vgl. zur Durchführung FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, 14–19). Ziel der Befragung war die Beantwortung der Frage:
151 Bei dem Vergleich von Wortkarten des HNV und des WSAH muss außerdem beachtet werden, dass sowohl die diachrone als auch die vertikale Dimension variieren. 152 Dies muss bei der Bewertung der lautlichen Merkmale berücksichtigt werden. Die Kartierung der Merkmale kann nur Hinweise auf die Verteilung geben, es bleibt – wie erwähnt – unklar, um welche Sprechlage es sich bei der erhobenen Probe handelt (so stellt sich bspw. die Frage, ob die kartierten unverschobenen Varianten für Apfel (s. o.) im Süden Hessens für eine dialektale oder eine regiolektale Sprechlage gelten).
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„Wie spricht wer mit wem wo und wann worüber?“ (FRIEBERTSHÄUSER / DIN1989, 5). Dazu wurden den Informanten Fragen zum sozialen Status, der arealen Zuordnung, der sprachlichen Kompetenz, der Gebrauchsfrequenz und der Bewertung gestellt (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, 11, Fragebogen 13–14, 233–249). Als wichtigstes Ergebnis lässt sich festhalten, dass knapp die Hälfte der Befragten angibt, Dialekt zu sprechen. Der Dialektgebrauch ist dabei unter anderem von folgenden Faktoren abhängig: Region (im Süden höher als im Norden), Geschlecht (bei Männern höher als bei Frauen), Alter (bei Älteren höher als bei Jüngeren) und Bildungsgrad (bei höherem Bildungsgrad niedriger als bei niedrigerem) (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, 207, zu allen Ergebnissen 207–217). Bei der Betrachtung der Ergebnisse sprachdemoskopischer Studien müssen drei Aspekte grundsätzlich berücksichtigt werden (vgl. dazu SCHMIDT / HERRGEN 2011, 267–277). Erstens stehen sich hier die unreflektierte Selbsteinschätzung der Befragten und die reale Kompetenz bzw. Performanz gegenüber, zweitens ist der Begriff Dialekt diffus und drittens wird die häufig verwendete binäre Kontrastierung Hochdeutsch vs. Dialekt der regionalsprachlichen Realität nicht gerecht. Zwar verwenden FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN (1989) – trotz theoretischer Überlegungen (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, 11–13) – eine binäre Einteilung in Hochdeutsch und Dialekt, doch differenzieren sie diese beiden Einheiten mittels weiterer Fragen (vgl. dazu SCHMIDT / HERRGEN 2011, 279–280). In Frage 2.3.3 (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, 248) wird danach gefragt, wie der Dialekt gesprochen werde. Die Antwortmöglichkeiten waren: „Ich spreche … 1 … reinen Dialekt, wie er ortsüblich gesprochen wird, 2 … abgeschwächten Dialekt, wie er für die ganze Gegend typisch ist (überörtlich), 3 … einen Dialekt aus einer ganz anderen Gegend, 4 … mundartlich gefärbte Umgangssprache, 5 … Hochdeutsch mit einem Dialekt-Anklang, der merken lässt, aus welcher Landschaft ich komme“ (FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, 248). Betrachtet man die Antworten nun kombiniert, ergibt sich folgendes Ergebnis: In Südhessen geben 64 % der Befragten an, einen oder mehrere Dialekte zu sprechen (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, Karte 1). Von diesen 64 % meinen aber nur 26 % den Basisdialekt damit, 49 % eine weitere regionalsprachliche Sprechlage (Regionaldialekt, regiolektale Sprechlage) und 19 % den Regionalakzent (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, Karte 11, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 279). In Nordhessen sagen nur 36 % der Befragten, dass sie Dialekt sprechen. Karte 11 des HDZ zeigt, dass davon aber 40 % den Basisdialekt meinen, 41 % eine weitere regionalsprachliche Sprechlage und 12 % den Regionalakzent.153 FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN (1989, 208) fassen dies wie folgt zusammen: „Dort wo die Dialekte auf breiter Front zurückweichen, existiert ein starkes Bewusstsein für die einzelörtliche Spezifik der Mundart, umgekehrt zeigt GELDEIN
153 Hier wird zur Verdeutlichung der Ergebnisse nur Süd- und Nordhessen betrachtet, die anderen Räume fügen sich in das Gesamtbild ein (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989: Karte 1, 11).
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sich die Lebenskraft der Dialekte dort am deutlichsten, wo eher großräumige, regionale Varianten verwendet werden.“ Die Antworten der Befragung zum „Dialekt“ müssen für ein ganzheitliches Bild des regionalsprachlichen Spektrums zusammen mit den Antworten zum „Hochdeutschen“ betrachtet werden. Analog zum Dialekt fragen FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN (1989, 248) auch hier, wie Hochdeutsch gesprochen werde (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, Karte 19–21). Insgesamt geben ca. 95 % der Hessen an, Hochdeutsch zu sprechen, in Südhessen meinen damit aber nur 26 % akzentfreies Hochdeutsch, in Nordhessen hingegen 47 % (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989, Karte 19). Durch diese kombinierte Analyse kommen SCHMIDT / HERRGEN (2011, 279–280) für den HDZ zu folgendem Fazit: „[…] der Hessische Dialektzensus [legt] nahe, dass die Verhältnisse im niederdeutschen Norden Hessens und im mitteldeutschen Süden doch grundlegend anders strukturiert sind: Scheint dort eine Dialekt-StandardDiglossie (allerdings bei wenigen Sprechern) vorzuliegen, dominiert hier der Regiolekt“. Analog zum niederdeutschen Norden ist – wie die Karten und Ergebnisse zeigen – der nordhessische Dialektraum zu sehen. Das Projekt „Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens“ (ALRH) (vgl. DINGELDEIN 2010) bildet den (bisherigen) Abschluss der kleinen Reihe der Hessischen Sprachatlanten. Es schließt direkt an den WSAH an und gleicht diesem in Fragestellung, Methode, Informantenauswahl und Durchführung (vgl. DINGELDEIN 2010, 5–21). Der einzige Unterschied sind die Untersuchungsorte. Diese wurden ex negativo bestimmt, das heißt einwohnerstarke Orte (> 1.000 Einwohner) und Siedlungen mit städtischer Funktion wurden ausgeschlossen und schließlich 91 ländliche Siedlungen ausgewählt (vgl. DINGELDEIN 2010, 9). Der Wortatlas bietet somit nicht nur Erkenntnisse zum ländlichen Raum Hessens, sondern auch direkte Vergleichsmöglichkeiten zum WSAH.154 DINGELDEIN (2010, 22) sieht die Karten als Forschungsinstrument. Eine umfassende Interpretation und ein Vergleich zum WSAH stehen noch aus. Exemplarisch führt DINGELDEIN (2010, 23–28) dies an den Varianten für ‘der Tag vor Sonntagʼ durch (vgl. auch MAURER 1927, 169; 1929, Karte 14; 1933, 24–27). Die Karten des „Deutschen Wortatlas“ (DWA), der in Anlehnung an den „Sprachatlas des deutschen Reichs“ den Wortschatz der deutschen Dialektale erfasst, zeigen für den ländlichen Raum eine klare Verteilung: Die Variante Sonnabend gilt im Norden Hessens bis nach Gießen, im Süden gilt Samstag. Die städtischen Belege des DWA indizieren, dass die Variante Samstag nach Norden vordringt und dort allmählich Sonnabend verdrängt. Diesen Prozess bestätigt die Karte des WSAH, in der die Variante Sonnabend nur noch selten vorkommt. Die Karte des ALRH ähnelt wiederum der Karte der städtischen Belege des DWA. Hier breitet sich die Variante Samstag aus und tritt als Zweitvariante neben nördliches Sonnabend (vgl. dazu DINGELDEIN
154 Deshalb gelten für den ALRH auch dieselben Hinweise zur Interpretation und Auswertung wie für den WSAH (s. o.).
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2010, 25).155 Als allgemeines Ergebnis des ALRH hält DINGELDEIN (2010, 28) fest: „(1.) Städtische und ländliche Alltagssprache unterscheiden sich, (2.) die ländliche Alltagssprache ist noch stärker an den Dialekten orientiert, (3.) die sprachlich-arealen Gliederungsmuster der städtischen Alltagssprache sind gleichwohl, wenn auch gebrochen, in den ländlichen Gliederungsmustern wiederzufinden.“ DINGELDEIN (2008, 188–189) führt die Ergebnisse der Kleinen Reihe der Hessischen Sprachatlanten zusammen und resümiert für den alltagsprachlichen Wortschatz in Hessen, dass nach wie vor eine räumliche Gliederung vorliegt, sich diese aber in Geltungsbereich und Anzahl der Heteronyme von den alten Gliederungen unterscheidet (vgl. DINGELDEIN 2008, 188). Die Entwicklung zielt deutlich auf die Standardsprache, im Süden Hessens ist der Wortschatz jedoch regionalsprachlicher geprägt als im Norden (vgl. DINGELDEIN 2008, 189). Den ländlichen und städtischen Wortgebrauch sieht DINGELDEIN (2008, 189) als unterschiedliche Entwicklungsstadien. 3.5.2 Perzeptionslinguistische Studien PURSCHKE (2008) wertet formelle Interviews mit Sprechern aus dem hessischen Sprachraum156 und die subjektive Bewertung der Proben aus. Er geht der Frage nach, wie Hörer Sprachproben nach Regionalität (horizontale Verortung) und Dialektalität (vertikale Verortung) beurteilen. Die Sprachproben (fingierte Radiobeiträge zum Klimawandel) ordnet PURSCHKE (2008, 188–189) dem Regionalakzent zu. Für die vorliegende Arbeit sind die Ergebnisse für die Bewertung der zentralhessischen und neuhessischen Sprachproben von Interesse.157 Als Neuhessisch betrachtet PURSCHKE (2008, 188) mit Bezug auf DINGELDEIN (1994) eine neue Form regionalen Sprechens im Rhein-Main-Gebiet, mit Frankfurt als Prototypen des Raums. Die neuhessische Probe (aus Eppertshausen, nordöstl. von Darmstadt) wurde von den osthessischen Hörern158 eindeutig dem Frankfurter Raum zugeordnet (vgl. PURSCHKE 2008, 193). Gleiches gilt für die Hörer aus dem nördlichen Zentralhessischen (Ebsdorfergrund, bei Marburg) (vgl. PURSCHKE 2008, 194). Die Hörer aus dem südlichen Zentralhessischen (Münzenberg bei Butzbach) allerdings „erkennen […] in den neuhessischen Aufnahmen mehrheitlich ihre eigene Sprache“ (PURSCHKE 2008, 194). Für den zentralhessischen Regionalakzent lässt PURSCHKE (2008,195–196) zwei Proben beurteilen. Die nördliche Probe aus Gie-
155 DINGELDEIN (2010, 26–27) weist auf die Schwierigkeit des direkten Vergleichs von WDA und WSAH/ALRH hin, da unterschiedliche Abfragen (Dialekt vs. Alltagssprache) vorliegen. 156 In diesem Fall aus dem Nord-, Ost und Zentralhessischen und dem Frankfurter Raum. 157 Zum Ost- und Nordhessischen vgl. PURSCHKE (2008, 191–192). 158 PURSCHKE (2008) führt die Bewertungstests mit Hörern aus dem Ost- und Zentralhessischen durch.
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ßen wird von allen zentralhessischen Hörern überwiegend als eigene Sprache gewertet und von den Osthessen als typisch zentralhessisch. Die südliche Probe aus Rockenberg (bei Münzenberg) wird unterschiedlich bewertet. Die südlichen Zentralhessen betrachten sie als eigene Sprache, die nördlichen Zentralhessen hingegen zu 50 % als eher typisch Frankfurterisch – ebenso die Osthessen. PURSCHKE erklärt dies mithilfe von objektsprachlichen Analysen (vgl. PURSCHKE 2008, 196– 198). Die Probe aus dem südlichen Zentralhessischen enthält typische neuhessische Merkmale, die PURSCHKE (2008, 196–197) im Abgleich mit den anderen Sprachproben ermittelt. Dazu gehören: Koronalisierung, vorverlagertes [v], überoffenes [ɛ̞]159 und Nasalität. Die südliche Probe enthält alle diese Merkmale, die nördliche keine davon, was die unterschiedliche Bewertung als neu- und zentralhessisch erklären kann. Aufgrund dieser Ergebnisse geht PURSCHKE (2008, 198) davon aus, dass es „im Zentralhessischen eine Bewertungsgrenze geben könnte, welche die südlichen von den nördlichen Zentralhessen trennt“. Festzuhalten ist, dass sich südliche Formen innerhalb des standardnahen Bereichs des regionalsprachlichen Spektrums weiter nach Norden ausgebreitet haben. Dafür liefert PURSCHKE (2008) sowohl objektsprachliche Belege als auch perzeptionslinguistische, da die südlichen Zentralhessen die neuen Merkmale bereits als Merkmale ihrer eigenen Sprache betrachten. Durch diesen südlichen Einfluss scheint es innerhalb des Zentralhessischen eine Nord-Süd-Differenzierung (im standardnahen Bereich) zu geben, die von den Hörern entsprechend beobachtet und bewertet wird. PURSCHKE (2010) untersucht in seiner Ausführung zu regionalsprachlichem Wissen und Perzeption auch das Konzept des hessischen Sprachraums. Dieser erscheint besonders interessant, da hier der objektiven Heterogenität und Komplexität (s. o.) eine perzeptive Homogenität entgegensteht (vgl. PURSCHKE 2010, 97). PURSCHKE (2010, 121–122) unterscheidet nach der Auswertung verschiedener Perzeptionsexperimente (u. a. Mental Maps, Imitationen) drei Ebenen des Konzepts Hessisch: Auf globaler Ebene (I) ist das Konzept Hessisch prominent und aktiver Bestandteil des großräumigen regionalsprachlichen Wissens. Es wird nicht von Faktoren wie Alter, Herkunft usw. bedingt; häufig ist es von medialen Inhalten geprägt. Die Lage des Sprachraums „Hessisch“ ist dabei geografisch-politisch begründet160 und das Konzept an sich „mit spezifischen sprachlich-kulturellen Repräsentanten verbunden […], die sich durch eine stereotypisierte, am Frankfurter Raum orientierte regionale Sprechweise auszeichnen“, die als eher standardnah zu bewerten ist (PURSCHKE 2010, 121). Auf dieser Ebene gilt der Frankfurter
159 Die Behandlung des überoffenen [ɛ̞] scheint phonetisch schwierig, ebenso die Unterscheidung zu den Varianten [ɛ] und [ɐ̟], die von PURSCHKE trotz lediglich minimaler Unterschiede anders kategorisiert werden. Es scheint sinnvoller, alle vorverlagerten und gehobenen Varianten des Tiefschwa zusammenzufassen (so auch LAMELI 2009, 151–155) und als neue regionalsprachliche Form zu betrachten. Dass dies die Bewertung bei PURSCHKE (2008) auch erklären kann, zeigen die Ergebnisse der Analysen in Kap. 8. 160 Politische Einheiten und Städte sind hierbei am relevantesten.
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Raum als primärer Repräsentant des Konzeptes, sowohl „in geografischkultureller als auch in sprachlich-medialer Hinsicht“ (PURSCHKE 2010, 121). Während dieses Konzept innerhalb Hessens eher für jüngere Hessen typisch ist (vgl. PURSCHKE 2010, 122), geht PURSCHKE (2010, 122) für „eher ältere, hessische, dialektkompetente Sprecher/Hörer von einer feineren Differenzierung“ und somit einer zweiten, regionalen Konzeptebene (II) aus. Diese mittlere Ebene ist eher von konkreten sprachlichen Erfahrungen geprägt. Die Informanten mit dieser Ebene können standardferne Sprachproben besser lokalisieren und unterscheiden auf Großregionalkarten mehrere Teilräume des hessischen Sprachraums. Einflüsse dieser Ebene sind „geografische, kulturelle, politische, topografische und sprachliche Raumstrukturen“ (PURSCHKE 2010, 122). PURSCHKE (2010, 122) geht davon aus, dass diese Räume Teilkonzeptionen eines übergeordneten Konzepts „Hessisch“ (s. I) sind. Laut PURSCHKE (2010, 122) lassen sich in den Daten Hinweise auf eine „dritte, lokale Konzeptebene, die kleinräumig strukturiert ist und auf standardferne Sprechlagen referiert“ finden. Übergreifend sind diese individuellen Konzepte in Zusammenhang mit der regionalsprachlichen Dynamik im hessischen Sprachraum zu sehen und können somit Hinweise auf die objektsprachliche Variation geben (vgl. PURSCHKE 2010, 123).161 KIESEWALTER (2011) führt Perzeptionstests zur variantenspezifischen Hörerurteilsdialektalität durch, um die Salienz162 von ausgewählten Merkmalen des hessischen Sprachraums und mögliche Einflussfaktoren zu ermitteln. Untersucht werden remanente Merkmale von Sprechern aus dem Rhein-Main-Gebiet, das heißt regionalsprachliche Merkmale, die die Sprecher in der standardintendierten Leseaussprache realisieren, was KIESEWALTER (2011, 355) empirisch überprüft hat.163 Folgende sechs Merkmale berücksichtigt KIESEWALTER (2011, 355): (I) Fortisierung von /b/ vor Sonorant (Bsp. blies [pliːs]), (II) Lenisierung von intervokalischem /t/ (Bsp. Mantel [ma̠ndˡl̩ ]), (III) Koronalisierung (Bsp. sich [sɪʆ]), (IV) Desonorisierung von anlautendem /z/ (Bsp. Sonne [sɔnə]), (V) Tilgung von /r/ im Auslautcluster nach Tiefzungenvokal (Bsp. Nordwind [nɔtvɪnt]) und (VI) Tiefschwa-Vorverlagerung (auslautend) (Bsp. aber [a̠ːbɛ]). Die Tests164 wurden mit Hörern aus Gießen, Freigericht (bei Hanau), Hannover und München durchgeführt. Folgende Ergebnisse erzielt KIESEWALTER (2011): Die Desonorisierung von /z/ im Anlaut wird von den Hörern als standardkonform bewertet bzw. lässt auf161 Vgl. zu diesen Sprachraumkonzepten auch KEHREIN / LAMELI / PURSCHKE (2010). 162 Salienz definiert KIESEWALTER (2011, 343) wie folgt: „Salienz bezeichnet in diesem Kontext den Grad an kognitiver Auffälligkeit eines sprachlichen Merkmals, das Maß, in dem eine sprachliche Variante vom Teilnehmer einer Interaktion als Abweichung von einer situativ definierten sprachlichen Norm wahrgenommen wird, und damit unweigerlich einhergehend das Potenzial eines Regionalismus, bestimmte mentale (regional-)sprachliche Kategorien assoziativ hervorzurufen […].“ Vgl. dazu auch PURSCHKE (2011) und KIESEWALTER (i. V.). 163 KIESEWALTER (2011, 352–355) stuft die Merkmale in Anlehnung an DINGELDEIN (1994) als neuhessisch ein. M. a. W. lassen sie sich als Merkmale des Regionalakzents im Rhein-MainGebiet klassifizieren. 164 Zur Methode und dem Vorgehen vgl. KIESEWALTER (2011, 355–358).
3.5 Neuere Studien zum hess. Sprachraum
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grund der niedrigen Salienzwerte auf eine hohe Normakzeptabilität der Variante schließen (vgl. KIESEWALTER 2011, 359, 367). Die Fortisierung der Lenisplosive wird als leichte Standardabweichung beurteilt und nimmt insgesamt eine Mittelstellung innerhalb der Werte ein (vgl. KIESEWALTER 2011, 360). Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung weisen „vergleichsweise hohe Salienzgrad[e]“ (KIESEWALTER 2011, 360) auf, was für die Koronalisierung auch von anderen Studien bestätigt wird. Die Lenisierung und Tiefschwa-Tilgung werden am subjektiv-dialektalsten bewertet (vgl. KIESEWALTER 2011, 360). Neben diesen globalen Mustern ergeben sich regionsspezifische Bewertungsdifferenzen für manche Merkmale.165 Geringe Unterschiede sind bei der Desonorisierung, der Koronalisierung und der Lenisierung zu erkennen, was KIESEWALTER (2011, 364–365, 368) damit erklärt, dass die Varianten entweder als standardkonform gelten (Desonorisierung) oder ein interregionales Dialektstereotyp darstellen (Koronalisierung und Lenisierung). Fortisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung werden von den nicht-hessischen Hörern signifikant als dialektaler beurteilt als von den Hessen, das heißt hier ist die Fremdwahrnehmung dialektaler als die Eigenwahrnehmung (vgl. KIESEWALTER 2011, 365, 368). Die Tiefschwa-Tilgung hingegen wird von den Hörern aus Hessen dialektaler beurteilt als von den Probanden aus Hannover und München. Dieser Näheeffekt beruht – so vermutet KIESEWALTER (2011, 366, 368) – auf dem Expertenwissen der hessischen Hörer. Die Tilgung des Tiefschwas scheint bei diesen Hörern mit „stärker dialektal markierten Sprechweisen und -situationen verbunden“ zu sein als die anderen Varianten (KIESEWALTER 2011, 366). Diese Ergebnisse sind für eine „ganzheitliche Erfassung der Struktur und Dynamik deutscher Regionalsprachen“ (KIESEWALTER 2011, 343) unerlässlich (vgl. auch Kap. 8.4). 3.5.3 Regionalsprachliches Spektrum in Gießen In einer Vorläuferstudie des REDE-Projekts untersucht KEHREIN (2008) auch das Sprachverhalten eines Gießener Sprechers der mittleren Generation (GI2, Polizist). KEHREINS Untersuchung richtet sich in Sprecherauswahl, Erhebungssituationen und Analysemethoden nach dem REDE-Projekt (s. o., Kap. 2.3).166 Die Ergebnisse der Dialektalitätswertmessung (vgl. Abb. 3-1) im Abgleich mit den qualitativen Analysen und der Auswertung der subjektiven Daten (Angaben zur Pri-
165 Zum Faktor Auftretenshäufigkeit ist zu sagen, dass diesem für jedes Merkmal spezifische Relevanz zukommt, aber „[i]nsgesamt scheint die Erhöhung der Merkmalfrequenz jedoch den bei einer einfachen Merkmalpräsenz bestehenden Wertetrend fortzusetzen“ (KIESEWALTER 2011, 368). 166 Für das Sprachmaterial des Gießener Sprechers (Standardübersetzung, Notruf, Interview, Freundesgespräch (FG) und Dialektübersetzung) führt KEHREIN eine Dialektalitätswertmessung durch und betrachtet qualitativ die Merkmale der einzelnen Proben, führt aber keine ausführliche Variablenanalyse durch.
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3 Der hessische Sprachraum
D-Werte
märsozialisation, eigene Bezeichnungen der Sprechweisen) führen KEHREIN (2008, 146) zu folgendem Ergebnis: GI2 kann aufgrund von Unsicherheiten und dialektalen Hyperformen als nicht mehr dialektkompetent eingestuft werden (vgl. KEHREIN 2008, 144–145). Er beherrscht die Standardsprache nicht interferenzfrei und zeigt bei der Standardübersetzung, die insgesamt eine „relativ starke regionale Prägung“ (KEHREIN 2008, 146) aufweist, ebenso Unsicherheiten und Hyperformen. Dies bedeutet, dass die Kompetenz und die Performanz des Sprechers in einem „relativ schmalen Spektrum im standardnahen Bereich des Regiolekts“ (KEHREIN 2008, 146) liegen und der Sprecher aufgrund fehlender Dialektkompetenz monovarietär ist (vgl. KEHREIN 2008, 146). ͲǡͲ Ͳǡʹ ͲǡͶ Ͳǡ Ͳǡͺ ͳǡͲ ͳǡʹ ͳǡͶ ͳǡ ͳǡͺ ʹǡͲ
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Abb. 3-1: D-Werte GI2 (eigene Darstellung nach KEHREIN 2008, 140)
Zur Systemebene schreibt KEHREIN (2008, 150), dass alle Sprachproben von GI2 – außer der Dialektübersetzung167 – dem Regiolekt zugeordnet werden können. Den Regiolekt definiert KEHREIN (2008, 150) ex negativo in Bezug auf die sprachdynamische Varietätendefinition (vgl. Kap. 2.2.2, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51). Die Hyperformen in Richtung Dialekt und Standardsprache zeigen, dass GI2 eine jeweils andere Varietät verwenden will, es aber nicht vermag, seine individuellen Kompetenzgrenzen zu den beiden Varietäten zu überwinden. Sie sind somit ein Indiz für Varietätengrenzen (vgl. KEHREIN 2008, 150). GI12 ist
167 Aufgrund des Auftretens von Hyper- und Erinnerungsformen kann sie nicht eindeutig zugeordnet werden (vgl. KEHREIN 2008, 146). KEHREIN (2008, 146) zeichnet das Symbol für diese Probe in seiner Grafik deshalb mit einer perforierten Linie.
3.5 Neuere Studien zum hess. Sprachraum
77
daher ein monovarietärer Regiolektsprecher. Da er die Standardsprache und den Dialekt kennt und versucht, diese zu realisieren, scheinen sie zum Gesamtspektrum in Gießen dazuzugehören, obwohl „die Zahl der Dialektsprecher abnimmt und der Dialekt von sprachdynamischen Prozessen betroffen ist“ (KEHREIN 2008, 150). KEHREIN (2008, 149) verweist darauf, dass die Schlussfolgerungen „nur mit aller gebotenen Zurückhaltung“ zulässig sind und, dass zusätzliche Analysen weiterer Sprecher für eine umfassende Betrachtung des regionalsprachlichen Spektrums (in Gießen) notwendig sind (vgl. KEHREIN 2008, 151). 3.5.4 Syntax hessischer Dialekte (SyHD) Das Ziel des Forschungsprojekts „Syntax hessischer Dialekte“ (SyHD) (2010– 2016) ist die „flächendeckende Dokumentation und Analyse syntaktischer Strukturen der im Bundesland Hessen (sowie in zwölf Vergleichspunkten außerhalb Hessens) gesprochenen Dialekte“ (FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 261). Durchgeführt wurde die Erhebung an 160 Orten im Bundesland Hessen und als Vergleichsgrundlage 12 weitere Orte außerhalb Hessens (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 263–264).168 Erhoben wurden, da die Basisdialekte von Interesse sind, Sprecherinnen und Sprecher, bei denen von hoher dialektaler Kompetenz ausgegangen werden konnte (NORM/NORF) (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 263). Die Daten wurden sowohl indirekt als auch direkt erhoben. Für die indirekte Erhebung wurden vier Fragebogen mit verschiedenen Fragen und Aufgaben an mehrere Gewährspersonen an den Orten geschickt. In 140 Orten wurde jeweils eine besonders geeignete Gewährsperson ausgewählt, mit der im Anschluss die direkte Erhebung vorgenommen wurde. Zu dieser zählten ein Salienztest, mündliche Befragungen zu verschiedenen Themen sowie eine Präsentation mit unterschiedlichen Aufgaben und Fragen (vgl. dazu FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 265–266). Bei den Erhebungen wurde eine Auswahl syntaktischer Phänomene berücksichtigt wie beispielsweise Rezipientenpassiv, Agens-Patiens-Shift oder Verlaufsformen (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 268–269). Neben zahlreichen wissenschaftlichen Einzelpublikationen sind die Daten und Analysen des Projekts online auf der Forschungsplattform SyHD-info zugänglich (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2016). Diese Plattform besteht aus vier Hauptkomponenten: SyHD-atlas, SyHD-maps, SyHD-stats und SyHD-query. SyHD-atlas enthält georeferenzierte Karten zu den erhobenen syntaktischen Phänomenen und zusätzlich Kommentare sowohl zu den Phänomenen als auch zu den Karten (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2016, BREUER 2016). Er bietet zudem die Möglichkeit, einzelne Karten miteinander zu vergleichen, sodass nicht nur verschiedene syntaktische Phänomene zueinander in Bezug gesetzt werden können, sondern auch die Ergebnisse aus direkter und indirekter Erhebung (vgl. auch FLEISCHER / LENZ /
168 Zur Auswahl der Erhebungsorte vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS (2015, 262).
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3 Der hessische Sprachraum
WEISS 2015, 271–280). Die anderen Anwendungen ermöglichen dynamische Analysen nach benutzerspezifischen Bedingungen (SyHD-maps bietet die Funktion, eigene Karten zu erstellen, SyHD-stats die Funktion, mit dem Zugriff auf die Datenbank eigene, nicht areal gebundene Analysen vorzunehmen und SyHDquery die Funktion, eigene Abfragen der Datenbank zu generieren) (vgl. BREUER 2016). Bisher konnten erste Einblicke in die Arealstruktur der syntaktischen Strukturen in Hessen gewonnen werden,169 eine „Zusammenschau aller Einzelbefunde“, die „Aussagen über mögliche Raumstrukturen der Dialekte in Hessen auf Basis ihrer Syntax“ FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 285) ermöglicht, soll erfolgen. Diese kann dann mit den bisherigen, hauptsächlich auf phonologischen Merkmalen begründeten Einteilungen kontrastiert werden (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 285). 3.5.5 Lautwandel in Frankfurt KEIL (2017) entwickelt eine algorithmische Methode, um Vokale auf Grundlage phonetischer Eigenschaften automatisiert zu vermessen und so zu klassifizieren. Er wendet den so bezeichneten „VokalJäger“ auf dialektintendierte170 Sprachproben aus Frankfurt an. Verwendet werden die Aufnahmen des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten (vgl. Fn. 292), des Tonarchivs hessischer Mundarten (TAHM) und des REDE-Korpus. KEIL untersucht unter anderem die a-Verdumpfung in den Frankfurter Daten (vgl. Tab. 3-3). Er kann nachweisen, dass dieses Merkmal schrittweise im intendierten Dialekt abgebaut wird. In der Aufnahme des Lautdenkmals ist die für Frankfurt beschriebene Verdumpfung (vgl. RAUH 1921a, b) signifikant messbar, in den Aufnahmen des REDE-Korpus nicht mehr (vgl. KEIL 2017, 395–397).171 Die Phänomene der Entrundung und der Monophthongierung können hingegen teilweise noch in den REDE-Aufnahmen
169 Vgl. bspw. die erhobenen Verlaufsformen (am-Progressiv, tun-Periphrase), bei denen „Unterschiede im Gebrauch der Konstruktionen sowohl hinsichtlich ihrer Frequenz als auch ihrer arealen Verteilung zu erkennen sind“ (KUHMICHEL 2016). Neben Einflüssen u. a. der Erhebungsmethode zeichnen sich regionale Präferenzen ab. Der am-Progressiv ist bspw. (innerhalb der indirekten Erhebung) im „Nordwesten Hessens sowie in den Erhebungsorten im angrenzenden Nordrhein-Westfalen und dem westlichen Rheinland“ besonders frequent. Die tun-Periphrase erscheint dagegen eher im Süden und in der Mitte Hessens frequenter (vgl. KUHMICHEL 2016). 170 Vgl. zur Konzeptualisierung des Frankfurterischen Kap. 3.3.4. Aus objektlinguistischer Perspektive ist für Frankfurt von einem Regiolekt auszugehen, doch kann dieser aus der Perspektive der Sprecher (vgl. Fn. 34) als Dialekt konzeptualisiert sein. Deshalb lassen sich die Daten als dialektintendiert – im Sinne des Ziels, den größten regional bedingten Abstand von der Standardsprache zu erreichen – bezeichnen. Zu KEILS Konzept des Frankfurterischen vgl. KEIL (2017, 235–241). 171 Es lassen sich keine signifikanten Unterschiede zum Kontrastlaut [a̠(ː)] messen. Tendenzielle Rückverlagerungen treten jedoch auch im REDE-Material auf (vgl. KEIL 2017, 309–310).
3.6 Studien zur Vertikale im Westmitteldeutschen
79
nachgewiesen werden. Sie sind also – im intendierten Dialekt – noch nicht abgebaut (vgl. KEIL 2017, 395–397, vgl. dazu auch Kap. 6). Mit KEILS Arbeit liegen daher empirisch belastbare Ergebnisse zum Lautwandel (d. i. hier Abbau der aVerdumpfung) in vergleichbaren Frankfurter Sprachaufnahmen vor. 3.6 STUDIEN ZUR VERTIKALE IM WESTMITTELDEUTSCHEN AUSSERHALB DES HESSISCHEN SPRACHRAUMS Wie in Kap. 2 beschrieben liegen für den hessischen Sprachraum keine umfassenden Analysen mit den Methoden der modernen Regionalsprachenforschung vor. Zum westmitteldeutschen Sprachraum gibt es allerdings Annahmen und auch Untersuchungen, die als Vergleichsmöglichkeit dienen können. BELLMANN (1983) bezieht sich in seinen Ausführungen zum Neuen Substandard und zum Dialekt/Standard-Kontinuum auf den westmitteldeutschen Sprachraum (vgl. Kap. 2 und Fn. 15). SCHMIDT (1998, 170) geht davon aus, dass diese Erkenntnisse insbesondere für das Rhein-Main-Gebiet gelten. Aus diesem Grund erfolgt eine genauere Beschreibung des Spektrums nach BELLMANN (1983). Er nimmt an, dass der Sprachwandel zu einem Dialekt/Standard-Kontinuum ohne „natürliche Scheide[n] zwischen sprachlichen Unten und Oben“ (BELLMANN 1983, 123) – also ohne Varietätengrenzen – geführt hat. Den gesamten sprechsprachlichen Bereich unterhalb der Standardvarietät172 nennt BELLMANN Substandard und den mittleren Bereich des Kontinuums Neuer Substandard. Der Neue Substandard erfährt eine zunehmende kommunikative Nutzung – ist somit durch wachsende Funktionalität und Vitalität gekennzeichnet (vgl. BELLMANN 1983, 125): „Die praktische Kommunikation der überwiegenden Mehrheit der Individuen findet heute inventarmäßig in dem breiten Spektrum des mittleren Bereichs statt, meidet womöglich überhaupt den Dialekt und erreicht nicht völlig, intendiert oder nicht, die kodifizierte Norm […]“ (BELLMANN 1983, 117). Für den untersten Substandardbereich geht BELLMANN (1983, 123) nur noch von „Restdialektalität“ bzw. „Resten der Basisdialekte“ aus. Der Neue Substandard ist aus sprachsystemischer Sicht durch eine „charakterisierende Variabilität“ (BELLMANN 1983, 118) definiert. Dies bedeutet, dass es keine konstanten Einheiten gibt, sondern Variablen, die aus Varianten des gesamten Kontinuums konstituiert sind (vgl. BELLMANN 1983, 130). Diese Varianten werden – je nach Verfügbarkeit – kommunikativ genutzt, das heißt es kommt zu situativer, stilistischer und auch unspezifischer Variation (vgl. BELLMANN 1983, 128–129).173 Für das regionalsprachliche Spektrum im Rhein-Main-Gebiet geht BELLMANN also von einem substandardlichen
172 BELLMANN nimmt einerseits eine (interferenzfreie) Standardvarietät an, andererseits eine Standardsprechsprache mit landschaftlicher Färbung, diese bildet den oberen Bereich des Substandards (s. o.) 173 BELLMANN (1983, 126) beobachtet außerdem erste Hinweise auf eine stabilisierende Eigenentwicklung des Neuen Substandards und führt die Koronalisierung als Beispiel auf.
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3 Der hessische Sprachraum
Kontinuum ohne feste Varietätengrenzen aus. Innerhalb des Kontinuums gibt es noch Reste des Basisdialektes, der systemische und kommunikative Schwerpunkt liegt aber im mittleren Bereich, das heißt im Neuen Substandard (oder m. a. W. im Regiolekt). Dies greift SCHMIDT (1998, 170–171) auf. Er konstatiert eine „durchgreifende Variabilisierung“ (SCHMIDT 1998, 171), die zu einem „sprechsprachlichen Gesamtsystem in Form eines Dialekt-Standard-Kontinuums“ (SCHMIDT 1998, 171) geführt hat.174 Der Neue Substandard, die interferierte Standardsprache und der Regionaldialekt bilden ein Kontinuum, in dem keine klaren „Einschnitte“ (SCHMIDT 1998, 171) erkennbar sind und daher auch keine Einzelvarietäten im Sinne der sprachdynamischen Definition (vgl. SCHMIDT 1998, 171). Es lassen sich in diesem Kontinuum „allenfalls Sprechlagenschwerpunkte“ (SCHMIDT 1998, 171) ermitteln. STEINER (1994) untersucht die Sprachvariation in Mainz (Übergangsgebiet Rheinfränkisch-Moselfränkisch-Zentralhessisch). Dazu wertet sie von 30 ortsansässigen Mainzer Postzustellern (vgl. STEINER 1994, 70–71) Sprachaufnahmen verschiedener Situationen (Standardübersetzung, formelles Interview mit der Exploratorin, informelles Kollegengespräch (KG)175 und Dialektübersetzung) (vgl. STEINER 1994, 72–82) aus. STEINER ermittelt den Dialektalitätswert (s. o.) aller Sprachaufnahmen und erhält das in Abbildung 3-2 dargestellte Gesamtergebnis. Die Mainzer Postzusteller erreichen in der Dialekterhebung ein durchschnittliches Niveau von 1,79. Dieses entspricht nicht ganz dem Niveau, das für den Mainzer Basisdialekt für die Serie 1 des MRhSA ermittelt wurde (2,3) (vgl. STEINER 1994, 106–107). Im Kollegengespräch verwenden die Sprecher eine Sprechweise, deren Dialektalitätswert fast den der Dialektübersetzung erreicht (1,72). Der Wert ändert sich im Vergleich zum Interview (1,49) nur geringfügig. Mit einem Wert von 0,5 nähern sich die Informanten in der Standardübersetzung der Standardvarietät deutlich, erreichen sie aber nicht (vgl. STEINER 1994, 106–107, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 322–323).176 Bei der Betrachtung der individuellen Variation des Sprachverhaltens ist auffallend, dass sich dieses für die Kompetenzerhebungen bei allen Mainzer Sprechern gleicht (vgl. STEINER 1994, 127), manche der Sprecher aber in den freien Gesprächen überhaupt nicht variieren, andere hingegen stark, was als Sprechlagenwechsel interpretiert werden kann (vgl. STEINER 1994, 127, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 233–324).177 174 Darin sieht SCHMIDT (1998, 170–171) den entscheidenden Unterschied zu den Sprachverhältnissen in der Schweiz oder Ostösterreich, wo sich distinkte Varietäten differenzieren lassen (vgl. SCHMIDT 1998, 167–170). 175 Das Kollegengespräch wurde verdeckt aufgezeichnet, weswegen es als authentisch zu bewerten ist. Das Einverständnis der Nutzung wurde erst im Nachhinein gegeben. Zur ethischen Dimension dieses Verfahrens vgl. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 324). 176 Die subjektiven Daten zur Selbsteinschätzung und Bezeichnungen der Sprechweisen decken sich mit diesem Ergebnis (vgl. STEINER 1994, 108–110). 177 STEINER (1994, 127–132, 182) ermittelt zudem die Zusammensetzung der Dialektalitätswerte über die durchschnittliche Dialektalität der Lemmata. In der Standardübersetzung kommen
D-Werte
3.6 Studien zur Vertikale im Westmitteldeutschen
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Abb. 3-2: D-Werte (gesamt) für Mainzer Postzusteller (eigene Darstellung nach STEINER 1994, 106)
Als Ergänzung der Dialektalitätswertmessung analysiert STEINER (1994, 136–179) Variablen.178 Sie unterscheidet zwischen einfachen Variablen mit zwei Varianten und Mehrfachvariablen mit mehr als zwei Varianten. Außerdem unterscheidet sie Variablen mit komplementärer Situationszuweisung der Varianten (d. h. die Varianten kommen ausschließlich in bestimmten Erhebungssituationen vor) und Variablen ohne komplementäre Situationszuweisung der Varianten (d. h. die Varianten kommen mit unterschiedlichen Frequenzen in verschiedenen Erhebungssituationen vor) (vgl. STEINER 1994, 138–139). Die Ergebnisse (vgl. STEINER 1994, 142– 170) zeigen, dass die Variablen ohne komplementäre Situationszuweisung der Varianten viermal häufiger vorkommen als die mit komplementärer Situationszuweisung und dass sehr oft Mehrfachvariablen mit verschiedenen dialektalen Abstufungen der Varianten auftreten (vgl. STEINER 1994, 157, 184).179 Eine fre-
am häufigsten Lemmata mit Nulldialektalität (D-Wert = 0) und mit geringer Dialektalität (DWert = 1) vor. In den anderen Erhebungssituationen häufiger Lemmata mit mittlerer (D-Wert = 1–3) und hoher Dialektalität (D-Wert = 4–6). 178 Von den Variablen grenzt sie Konstanten ab, die dadurch definiert sind, dass die basisdialektale Form identisch mit der standardsprachlichen ist oder insgesamt nur eine Form realisiert wird (vgl. STEINER 1994, 138–139). 179 STEINER (1994, 170–172, 184) hält zudem eine „zunehmende sprachliche Regionalisierung“ (STEINER 1994, 184) und lexemweise Unterschiede fest. Hyperkorrekturen treten insgesamt eher selten auf (vgl. STEINER 1994, 170–172), könnten aber ein Indiz für Varietätengrenzen sein.
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3 Der hessische Sprachraum
quenzbasierte Analyse nimmt STEINER (1994, 170–179) für die regionalen Merkmale vor, die in der Standardübersetzung vorkommen, das sind remanente Merkmale. Der durchschnittliche Anteil remanenter Merkmale des Vokalismus aller untersuchten Fälle beträgt 8,6 %, wobei es sich meist um singuläre Phänomene handelt (vgl. STEINER 1994, 172–174). Im Konsonantismus beläuft sich der Anteil auf 39,8 % der Fälle (vgl. STEINER 1994, 174–177). Zu diesen Merkmalen zählen die Koronalisierung (mit 95,3 % remanenten standarddifferenten Varianten), die Lenisierung von std. /t/ (initial 3,3 %, intervokalisch 63,9 %) und die Realisierung von [p͡f] als [f] (48,4 %). Zudem wird der -Auslaut in der Standardübersetzung durchschnittlich zu 35,9 % als [ɛ] realisiert (vgl. STEINER 1994, 174–176). In ihren Ergebnissen sieht STEINER (1994, 184) die „Theorie des sprachlichen Kontinuums“ bestätigt und auch SCHMIDT / HERRGEN (2011, 325) gehen davon aus, dass für Mainz die Ergebnisse – vor allem der Dialektalitätswertmessung180 – auf ein „Substandardkontinuum“ (nach BELLMANN 1983) hindeuten. SCHMIDT / HERRGEN (2011, 325) weisen jedoch darauf hin, dass zur „Beantwortung der Frage nach der linguistischen Struktur des ortssprachlichen Spektrums“ weitere Analysen notwendig sind. STEINERS (1994, 183–184) Ergebnisse der Variablenbetrachtung181 scheinen hier – als Ergänzung zu den rein quantitativen Ergebnissen der Dialektalitätswertmessung – die Annahme eines Kontinuums zu bestätigen (vgl. STEINER 1994, 184), doch bedarf es zur exakten Analyse des regionalsprachlichen Spektrums samt dessen Struktur darüber hinaus zusätzlicher Methoden (wie bspw. Variablenanalysen, Clusteranalysen, vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 325, LENZ 2003, KEHREIN 2012).182 LENZ (2003) führt eine Untersuchung in der Kleinstadtregion Wittlich (Eifel) im Dialektverband des Moselfränkischen durch (vgl. LENZ 2003, 38–46). Sie erhebt dafür Sprach- und Einstellungsdaten von 50 ortsansässigen Informanten, die in gewissen Faktoren wie Alter, Wohnort usw. variieren (vgl. LENZ 2003, 46–54). Aufgenommen wurden Standardübersetzung, formelles Interview, informelles Freundesgespräch und Dialektübersetzung (vgl. LENZ 2003, 54–65), die mit verschiedenen Methoden ausgewertet wurden. Dazu gehören frequenzbasierte Variablenanalysen, Clusteranalysen und weitere qualitative Analysen (vgl. LENZ 2003,
180 SCHMIDT / HERRGEN (2011, 325) sehen in STEINERS (1994) Studie einen Beleg für die Dialektalitätswertmessung als „effektives Verfahren zur Vermessung eines ortssprachlichen Spektrums einschließlich des direkten Vergleichs der Ergebnisse methodisch unterschiedlich angelegter Studien.“ 181 Es liegt keine eigentliche detaillierte, frequenzbasierte Variablenanalyse (s. o.) vor, sondern eine Betrachtung der Verteilung der Variablen (weshalb die Analyse hier auch so bezeichnet wird). Dies stellt eine Annäherung an eine genauere Bestimmung dar und kann Hinweise geben, ersetzt aber nicht die Variablenanalyse (vgl. Kap. 4.3.2). 182 Dies ist nicht als Kritik an STEINER (1994) zu verstehen, die dieses Ziel schließlich nicht verfolgt, sondern stellt aus der Perspektive der modernen Regionalsprachenforschung den Ergänzungsbedarf für das Ziel einer exakten Vermessung des Spektrums und seiner Struktur dar.
3.6 Studien zur Vertikale im Westmitteldeutschen
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66–71).183 Eines der zentralen Ergebnisse der Studie ist eine Variantentypologie. LENZ (2003, 187–203) erstellt diese Typologie anhand der Abbauresistenz der Varianten, sodass auch Aussagen über die Dynamik der Variantenverwendung getroffen werden können (vgl. LENZ 2003, 205–206). Zudem bestimmt LENZ (2003, 246, 250–254, 388–395) anhand der Kombination der Variablenanalysen, der Clusteranalysen und der Auswertung von Hyperformen (vgl. LENZ 2003, 206– 217) exakt das regionalsprachliche Spektrum samt dessen Struktur in Wittlich. Dieses besteht aus zwei Varietäten – dem Dialekt und dem Regiolekt. Der Dialekt umfasst ein Kontinuum von zwei Sprechlagen184: Basisdialekt und Regionaldialekt und der Regiolekt ein Kontinuum von drei Sprechlagen: Unterer Regionaler Substandard, Oberer Regionaler Substandard und Regionalakzent (vgl. v. a. Abb. 69, 246, Abb. 85, 395).185 Dieses Ergebnis der objektsprachlichen Daten setzt LENZ (2003) in Bezug zu Ergebnissen zu subjektiven Sprachdaten. Zum einen bestimmt sie die Hörerurteilsdialektalität der einzelnen Sprachproben (vgl. LENZ 2003, 255–262) und zum anderen wertet sie die Spracheinstellungsdaten der Informanten aus (vgl. LENZ 2003, 263–387). Die Ergebnisse aus beiden Auswertrungen validieren die Analyse des regionalsprachlichen Spektrums (vgl. hierzu auch SCHMIDT / HERRGEN 2011, 330). Anhand des Sprachverhaltens in den beiden Situationen Interview und Freundesgespräch klassifiziert LENZ (2003, 245– 250, 395–404) die Sprecher. Folgende Typen arbeitet sie heraus: Die Dialektsprecher werden als dialektloyale Switcher bezeichnet, sie wechseln zwischen Freundesgespräch und Interview die Varietät von Dialekt zu Regiolekt. Bei den Nichtdialektsprechern (eo ipso Regiolektsprechern) gibt es Sprecher, die intersituativ variieren, sie werden als Shifter bezeichnet, und Sprecher, die ihr Sprachverhalten überhaupt nicht variieren und deshalb Moveless genannt werden (vgl. als Übersicht LENZ 2003, 395). Als abschließendes Ergebnis hält LENZ (2003, 413) zudem fest: „Die Struktur des Nicht-Dialektalen Substandards der Wittlicher Region befindet sich aktuell im Umbruch.“ Für Mainz untersucht LAMELI (2004) die Sprechweise in Stadtparlamenten, einer Situation in der anzunehmen ist, dass die standardnächste Sprechlage verwendet wird (vgl. LAMELI 2004, 55–63, SCHMIDT / HERRGEN 2004, 336). Für zwei Zeitschnitte (1956–1959 und 1994–1996) wertet LAMELI die Daten mit verschiedenen Methoden (u. a. Dialektalitätswertmessung, Cluster- und Variablenanalyse) aus, es handelt sich somit um eine real time trend-Studie (vgl. auch SCHMIDT / HERRGEN 2011, 334–335). Als zentrales Ergebnis186 hält LAMELI (2004, 238) fest: „Über den Untersuchungszeitraum von ca. 40 Jahren ist in Mainz eine klare Annäherung an den kodifizierten Standard zu beobachten, die einer
183 Zu den Methoden, die auch in dieser Arbeit verwendet werden, vgl. Kap. 4.3. 184 LENZ (2003) verwendet dafür den Begriff Verdichtungsbereich. 185 Eine Modellierung des Spektrums ist bei KEHREIN (2012, 101, Abb. 5–4) zu finden bzw. vgl. Abb. 3-3 hier. 186 Weitere Einzelergebnisse für Mainz (v. a. bei den Variablenanalysen, vgl. LAMELI (2004, 89– 203) werden bei der Auswertung der vorliegenden Daten herangezogen.
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3 Der hessische Sprachraum
Reduktion der gemessenen Dialektalität bei den Mainzer Informanten um ca. 50 % entspricht“.187 Es hat somit ein Wandel des Sprachverhaltens stattgefunden. Die Sprachproben des ersten Zeitschnitts ordnet LAMELI bis auf eine Ausnahme dem Oberen Regionalen Substandard (oder Regiolekt) zu, die des zweiten dem Regionalakzent. Es kann daher ein Wechsel der Sprechlage konstatiert werden (vgl. LAMELI 2004, 128–135). Zwei der Proben aus den 1990er Jahren weist LAMELI dem Kolloquialstandard zu, einer Sprechlage der Standardvarietät (vgl. LAMELI 2004, 134–135). Die beiden Sprecher haben demnach ihre Standardkompetenz ausgebaut und die Varietätengrenze zur Standardvarietät überwunden. Ein Abgleich mit der Hörerurteilsdialektalität (vgl. LAMELI 2004, 121–128) und den subjektiven Daten (vgl. LAMELI 2004, 136–137) bestätigt LAMELIS Zuordnung. Als entscheidenden Faktor arbeitet LAMELI (2004, 108–111) das Geburtsjahr heraus. Der Wandel setzt bei den Sprechern ein, deren sprachliche Sozialisation schon vom Rundfunk geprägt ist. KEHREIN (2012) untersucht in seiner Studie zu den regionalsprachlichen Spektren im Raum (s. o.) unter anderem auch den Ort Wittlich und bezieht sich dabei auf LENZ (2003). Er analysiert die Sprachdaten von fünf Sprechern (jeweils ein Sprecher aus der älteren und jüngeren und zwei Sprecher aus der mittleren Generation), die in den Erhebungssituationen des REDE-Projekts (vgl. Kap. 2.3, 4 und KEHREIN 2012, 93–94) aufgezeichnet wurden. KEHREIN misst den Dialektalitätswert der Sprachproben und wertet diese zusätzlich qualitativ im Hinblick auf das Vorkommen standarddifferenter Merkmale aus (vgl. KEHREIN 2012, 94– 100).188 Dabei setzt er seine Ergebnisse direkt in Bezug zu denen von LENZ (2003) (vgl. Abb. 5–3, 99).189 Er kommt zu folgendem Ergebnis: „Das regionalsprachliche Spektrum in der Untersuchungsregion Wittlich besteht aus zwei Varietäten: dem Dialekt und dem Regiolekt“ (KEHREIN 2012, 105). Der Dialekt setzt sich aus den beiden Sprechlagen Basisdialekt und Regionaldialekt zusammen, der Regiolekt aus den drei Sprechlagen unterer Regiolekt, mittlerer Regiolekt und Regionalakzent (vgl. Abb. 3-3).190
187 Im Vergleichspunkt Neumünster ermittelt LAMELI (2004, 223–225) hingegen eine Konstanz über die Zeitschnitte hinweg. 188 Zudem ermittelt KEHREIN (2012, 101–104) ausführlich die Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen. 189 KEHREIN verwendet zudem die von PURSCHKE (2003) ermittelten Dialektalitätswerte für ausgewählte Sprachproben aus dem Korpus von LENZ (2003), was ihm den direkten Vergleich der Messungen ermöglicht (vgl. KEHREIN 2012, 92) 190 KEHREIN (2012) kann somit die Ergebnisse von LENZ (2003) bestätigen.
85
3.6 Studien zur Vertikale im Westmitteldeutschen
Regionalakzent mittlerer Regiolekt
Regiolekt
Standardsprache
Regionaldialekt
Dialekt
unterer Regiolekt
Basisdialekt
Abb. 3-3: Regionalsprachliches Spektrum in Wittlich (nach: KEHREIN 2012, 101, Abb. 5–4)
Die Modellierung in Abb. 3-3 indiziert neben der Struktur des regionalsprachlichen Spektrums und dessen Umfang auch die kommunikative Relevanz der Sprechlagen im Alltag (vgl. KEHREIN 2012, 100, zu den Modellierungen allg. auch GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI 2015, 443–445). Der Basisdialekt in Wittlich ist in den untersuchten Aufnahmen noch belegt, aber seine kommunikative Relevanz für den Alltag nimmt ab (vgl. KEHREIN 2012, 105). Der Schwerpunkt des kommunikativen Alltags bei den Wittlicher Sprechern liegt im regiolektalen Bereich (vgl. KEHREIN 2012, 105). Außerdem klassifiziert KEHREIN (2012, 96– 99) die Sprecher anhand ihres Sprachverhaltens. Die Sprecher der mittleren und jüngeren Generation weisen eine monovarietäre Kompetenz des Regiolekts auf und variieren intersituativ, weshalb sie dem Shifter bei LENZ (2003) entsprechen. Der Sprecher der älteren Generation besitzt eine bivarietäre Kompetenz. Er verwendet im Freundesgespräch die Varietät Dialekt und im Interview den Regiolekt, entspricht somit nach LENZ (2003) dem dialektloyalen Switcher.191
191 Weitere Einzelergebnisse KEHREINS werden bei der Besprechung der vorliegenden Daten und Ergebnisse herangezogen (vgl. auch Fn. 186).
86
3 Der hessische Sprachraum
3.7 ZUSAMMENFASSUNG Die vorgestellten Beobachtungen und Beschreibungen der Sprachvariation und des Sprachwandels werden nun zusammengeführt und systematisiert. Eine Einschätzung und Bewertung der Beschreibungen und Untersuchungen erfolgt am Ende. Für den südlichen Raum des Untersuchungsgebietes (d. h. von Frankfurt bis in den Odenwald) können bei Betrachtung der Dynamik zwei Entwicklungen festgehalten werden: Zum einen entwickelt sich ein landschaftliches Hochdeutsch, worauf die Beschreibungen von VIËTOR (1875)192, REIS (1910), RUDOLPH (1927) und BORN (1938) schließen lassen. Zum anderen entwickelt sich anscheinend eine zusätzliche – dialektnahe – regiolektale Sprechlage, die Funktionen der Basisdialekte übernimmt und sich ausbreitet. Darauf deuten die Bezeichnung und Darstellungen der Misch- bzw. Halbdialekte hin (vgl. RUDOLPH 1927, GRUND 1935, BORN 1938). Wie genau die Entwicklung und Etablierung dieser Sprechweise aussieht, ist schwierig zu sagen. Es steht zu vermuten, dass die Entwicklung im Raum Darmstadt – Mainz (v. a. in den beiden Städten) ihren Ursprung genommen hat. Der Darmstädter Stadtdialekt erfüllt zwar für die Stadt die Funktion eines Dialekts, ist aber sprachsystemisch aufgrund seiner weiträumig distribuierten Merkmale eher als Regiolekt zu klassifizieren (vgl. BORN 1938, 139–141). Zudem wird er stets als relativ standardnah beschrieben193 (vgl. SCHIRMUNSKI 2010/1962, 668, BORN 1938, 139–14, WIESINGER 1983a, 849). Es kann somit davon ausgegangen werden, dass dieser Stadtdialekt für das Umland die Funktion einer Überdachung der Basisdialekte und für andere Städte (u. a. Frankfurt) kommunikationsoptimierende Funktionen – im Sinne größerer kommunikativer Reichweite – erfüllt (vgl. WIESINGER 1983a, 849, zur Überdachungsfunktion von Stadtdialekten allg. BELLMANN 1983, 107–108). Diese Sprechweise scheint das regionale Sprechen in der gesamten Region zu beeinflussen. Folgender Prozess kann angenommen werden: Sie stellt die Zielvarietät für vertikale Ausgleichsprozesse dar. Basisdialektale Merkmale werden substituiert und neue regionale Merkmale treten hinzu. Dies geschieht primär inselhaft über die Städte (vgl. für Frankfurt RAUH 1921b, 16, FREILING 1924, 208–209, allg. MAURER 1933, 27) und greift dann auf
192 Es lassen sich zwischen der von VIËTOR (1875) beschriebenen Umgangssprache und dem Konzept des landschaftlichen Hochdeutschs (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, s. o.) Bezüge herstellen. Ob es sich bei VIËTORS Beschreibung tatsächlich um das landschaftliche Hochdeutsch dieser Region handelt, kann nicht endgültig bestimmt werden, auch da unklar bleibt, wie genau die Verwendung der Standardsprache bei VIËTOR zu verstehen ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das landschaftliche Hochdeutsch keine homogene Varietät darstellt(e), die Umgangssprache Teil davon war und gleichzeitig einige Sprecher in der Lage waren, sich noch weiter der Standardsprache anzunähern (vgl. auch GANSWINDT 2017). 193 BORN (1938, 141) drückt dies mit hochdeutscher Zersetzung aus. Der Terminus Übergangsmundart (zwischen Zentralhessisch und Südrheinfränkisch) deutet dies ebenfalls an (vgl. bspw. REIS 1910).
3.7 Zusammenfassung
87
das Umland über (vgl. zu diesem Prozess MAURER 1929; 1933, DEBUS 1963). In einem komplexen Prozess entsteht so – relativ früh – neben dem oder als Teil des landschaftlichen Hochdeutschs194 eine weitere südhessische/rheinfränkische dialektnahe regiolektale Sprechweise, die dann weiteren Einfluss auf die Entwicklung des hessischen Sprachraums nimmt. Bei der Betrachtung der vertikalen Struktur des regionalsprachlichen Spektrums deuten die Beschreibungen von RUDOLPH (1927) und GRUND (1935) für Darmstadt und Umgebung auf ein regionalsprachliches Kontinuum mit Sprechlagen hin. RUDOLPH (1927) beschreibt präzise die vertikale Sprachvariation in Darmstadt, differenziert anhand sprachlicher Merkmale drei Sprachformen (Dialekt, regiolektale Sprechweise und landschaftliches Hochdeutsch) und gibt zusätzlich Angaben zur Verwendung. Die Beschreibung der Variation gibt – trotz Identifizierung dreier Sprachformen – Hinweise auf ein Kontinuum, da RUDOLPH zum einen bei den Merkmalen von tendenziellen und sukzessiven Prozessen und zum anderen explizit von selbstverständlichen Übergängen zwischen den Formen schreibt (vgl. RUDOLPH 1927, 16), die gegen harte Varietätengrenzen sprechen könnten. GRUND (1935, 11) weist explizit für Pfungstadt auf einen kontinuierlichen Übergang innerhalb des regionalsprachlichen Spektrums hin. Er differenziert zwar vier Schichten, dies jedoch mit „einem gewissen Zwang“ (GRUND 1935, 11) und betont wiederholt die fließenden Grenzen und Übergänge (s.o. und vgl. GRUND 1935, 11–12). BORN (1938) nimmt auch eine Differenzierung des Spektrums mithilfe sprachlicher Merkmale in drei Sprechweisen vor, deren Beschreibung denen von RUDOLPH (1927) und GRUND (1935) weitgehend gleicht. BORN (1938) spricht jedoch nicht von fließenden Übergängen oder einem Kontinuum. Für Frankfurt beschreiben sowohl VEITH (1983) als auch BRINKMANN TO BROXTEN (1987) ein regionalsprachliches Spektrum mit distinkten Varietäten. VEITH (1983) differenziert auf Grundlage des Konsonantismus fünf verschiedene Varietäten, BRINKMANN TO BROXTEN (1987) insgesamt drei „relativ stabile Sprachvarietäten“ (BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 122).195 BELLMANN (1983) und SCHMIDT (1998) nehmen für das (städtische) Rhein-Main-Gebiet ein regionalsprachliches
194 Die Frage, ob es sich bei dieser Sprechweise um eine Sprechlage der Varietät Dialekt oder landschaftliches Hochdeutsch handelt bzw. wie sie sich in das Spektrum einordnen ließe, kann vorerst nicht beantwortet werden. Die Beschreibungen des Spektrums (s. u.) deuten eher auf eine Sprechlage innerhalb eines Gesamtkontinuums hin. Empirische Hinweise dazu sollen aus den Analysen der vorliegenden Arbeit (Kap. 5) gewonnen werden. 195 BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 51) nimmt auf VEITHS (1983) Einteilung Bezug und schreibt, dass sich bei ihr unter Ergänzung der Varietäten „reiner“ Dialekt, Umgangssprache und Standardsprache dieselbe Differenzierung „von fünf oder sechs“ wie bei VEITH ergebe, diese aber in ihrem Korpus nicht enthalten sind. Es bleibt dennoch unklar, was genau BRINKMANN TO BROXTEN mit dieser Ergänzung und den Varietäten genau meint und wie die beiden Differenzierungen in Verbindung gebracht werden können.
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3 Der hessische Sprachraum
Kontinuum ohne distinkte Varietäten, sondern mit Sprechlagen an, wie es STEI196 NER (1994) für Mainz beschreibt. Für das nördliche Zentralhessische liegt für Gießen eine Beschreibung vor (vgl. ALFFEN 1922), die schon für den Anfang des 20. Jh. einen standardnäheren Dialekt für Gießen als für das Umland festhält. Somit ist für Gießen von einem zentralhessischen Stadtdialekt und einer typischen stadtsprachlichen Entwicklung auszugehen. Auf südliche Einflüsse gibt es in den Beschreibungen (vgl. ALFFEN 1922, ALLES 1993) keine Hinweise. Für das regionalsprachliche Spektrum in Gießen liegt eine empirische Untersuchung mit modernen Methoden vor (vgl. KEHREIN 2008). Der untersuchte Sprecher beherrscht den Basisdialekt nicht mehr und ist als monovarietärer Regiolektsprecher zu klassifizieren. In Gießen scheint so zu Anfang des 21. Jh. der Dialekt keine Rolle mehr in der Alltagskommunikation zu spielen, der Regiolekt hingegen die bestimmende Varietät zu sein – quod esset demonstrandum. Für den Vogelsberg liegen zwei Beschreibungen vor (vgl. HAIN 1951 und HASSELBERG 1974). Beide legen – bei Betrachtung der sprachlichen Entwicklungen – die Ausbildung eines landschaftlichen Hochdeutschs nahe (vgl. HAIN 1951, 27–29, HASSELBERG 1974, 178, 198). Des Weiteren gibt es Hinweise auf Regionalisierungen im Dialekt (vgl. HASSELBERG 1974, 192, „überregionale Verkehrsmundart“). Auch hier lassen sich keine Anzeichen für einen südlichen Einfluss finden. Bei der Betrachtung der Struktur des regionalsprachlichen Spektrums differenzieren beide unterschiedliche Sprachformen. Die von HAIN beschriebenen Zwischenstufen (zweite und dritte Stufe) scheinen sich auf Abstufungen innerhalb des Dialektes zu beziehen, wie die Beschreibung der Merkmale und der Titel der Arbeit (Schichtungen der Mundart) nahelegen. Die Sprecher können sich situativ ihrem Gesprächspartner anpassen und innerhalb der Varietät Dialekt variieren (vgl. auch HAIN 1951, 29), was im Sinne einer Regionalisierung auf verschiedene Sprechlagen deutet. Die vierte Zwischenstufe scheint das landschaftliche Hochdeutsch im Vogelsberg zu sein, also eine andere Varietät. Dies wird einerseits an den Merkmalen deutlich (s. o.) und andererseits daran, dass HAIN (1951, 28–29) (nur) für diese Stufe Code-Switching-Phänomene beschreibt, die einen Varietätenwechsel vermuten lassen.197 Dies bedeutet, dass für die nördliche Wetterau/den Vogelsberg für die Zeit dieser Erhebungen zwei Varietäten angenommen werden könnten: der Dialekt mit verschiedenen Sprechlagen und das landschaftliche Hochdeutsch. Dafür finden sich auch bei HASSELBERG (1974)
196 REISʼ (1910) Ausführungen stellen eine differenzierte Beschreibung der vertikalen und sozialen Variation und der linguistischen Merkmale dar. Durch die Informationsdichte sind diese nicht leicht zu systematisieren. Bei den Zwischenstufen wird nicht expliziert, inwiefern die Dimensionen Sprechergruppe, Zeit und Vertikale differenziert werden, es bleibt u. a. unklar, ob die Stufen vertikal oder diachron gestaffelt sind und auf welchen Raum sie sich beziehen bzw. ob sie im gesamten Raum, zur selben Zeit verwendet wurden, was insofern relevant ist, als sich das Untersuchungsgebiet von REIS (1910) auf zwei Dialektverbände bezieht. 197 Vgl. explizit zur Bewertung der Arbeit von HAIN (1951) SCHMIDT / HERRGEN (2011, 300– 301) und s. u.
3.7 Zusammenfassung
89
Hinweise. Die beiden beschriebenen Schichten Ortsmundart und Verkehrsmundart deuten auf zwei Sprechlagen innerhalb der Varietät Dialekt, die Schicht Umgangssprache, die HASSELBERG (1974, 178) als mundartlich getönte Standardsprache definiert, deutet auf den Regionalakzent. Für das südliche Gebiet des Zentralhessischen gibt es vielfältige Beschreibungen für den südlichen Einfluss – häufig ausgehend von Frankfurt (vgl. u. a. DEBUS 1963, SCHNELLBACHER 1963, PURSCHKE 2008). Oft wird diese Beeinflussung mit der Ausbreitung einer südlichen (bzw. rheinfränkischen) Sprechweise umschrieben – wie z. B. die Ausbreitung des Neuhessischen (vgl. u. a. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 12, DINGELDEIN 1994, 277). Mit ALLES (1954) lässt sich dieser Prozess präzisieren und in zwei Teilprozesse differenzieren. Zum einen breiten sich neue (südliche) regionalsprachliche Merkmale aus (bspw. Koronalisierung, vgl. ALLES 1954, 195) und zum anderen werden zentralhessische Basisdialektmerkmale abgebaut bzw. durch südliche Formen, die oft der Standardvarietät entsprechen, oder Kompromissformen ersetzt. Diese Prozesse haben Auswirkungen auf die Entwicklung der Dialekte und auf die Vertikale insgesamt. Daher könnte der beobachtete Prozess in diesem Raum eher als Entwicklung eines Regiolekts unter südlichem Einfluss gefasst werden, was zu einer Advergenz an den südlichen Regiolekt führen könnte. Zum regionalsprachlichen Spektrum im Süden des Zentralhessischen gibt es keine Beschreibungen. Über diese konkreten Darstellungen hinaus gibt es zahlreiche Beschreibungen der Entwicklungen für den gesamten hessischen Sprachraum. Für den mittleren und südlichen Teil des Sprachraums lassen sich die Entwicklungen als Ausbildung einer regiolektalen Varietät (Neuhessisch) (vgl. bspw. SCHIRMUNSKI 1962/2010, MÖHN 1963, HARD 1966 und DINGELDEIN 1994198) zusammenfassen. DINGELDEIN (1997, 131) kommt für den gesamten hessischen Sprachraum zu folgender Zusammenfassung: Im nördlichen Hessen wird der Dialekt nur noch von der älteren Generation verwendet, die alltagssprachliche Kommunikation findet zunehmend in „standardsprachliche[n] oder sehr standardsprachenahe[n] Varianten“ (DINGELDEIN 1997, 131) mit wenigen regionalen Merkmalen statt. Dort könnten sich „(nahezu) ‚substandardvarietätenfreie‘ Zonen“ (DINGELDEIN 1997, 131) entwickeln. Im Rhein-Main-Gebiet hat sich eine „neue regionalsprachliche Variante […] herausgebildet“ (DINGELDEIN 1997, 131), die sich durch eigenstän-
198 In DINGELDEINS (1994) ausführlicher Übersicht und Darstellung wird das Auftreten der Merkmale nicht systematisch beschrieben (oft mit Umschreibungen wie selten, in der Regel), so bleiben u. a. die Fragen offen, in welchen Sprachproben, an welchen Orten und mit welcher Systematik die Merkmale vorkommen. Auf dieses Problem weist DINGELDEIN (1994, 304) selbst hin und sieht die Lösung in „einer empirisch-analytischen Klärung“ (DINGELDEIN 1994, 304) des Neuhessischen unter Einbezug der Theorien der modernen Regionalsprachenforschung. Dies ist eine Aufgabe, „der sich die hessische sprachliche Landesforschung stellen muss“ (DINGELDEIN 1994, 305). Eben jener Aufgabe wird sich die vorliegende Arbeit (u. a.) stellen.
90
3 Der hessische Sprachraum
dige Strukturen auszeichnet und in Funktion und Bewertung die alten Dialekte ersetzt.199 Die Beschreibungen sind in Tabelle 3-5 zusammenfassend dargestellt.
Region nördl. Zentralhessisch
südl. Zentralhessisch Rheinfränkisch, Übergangsgebiet
Sprachwandel Abbau des Dialekts (GI) bzw. Regionalisierung im Dialekt (VB) südlicher Einfluss (u. a. Ausbreitung südl. Merkmale) Entstehung einer dialektnahen regiolektalen Sprechweise
Sprachvariation (Spektrum) regionalsprachl. Einvarietätenspektrum (GI) bzw. Zweivarietätenspektrum (VB) ? regionalsprachliches Kontinuum
Tab. 3-5: Synthese der Beschreibungen von Sprachwandel und Sprachvariation im hessischen Sprachraum
Bei der Auswertung der regionalsprachlichen Untersuchungen und Beobachtungen und für „die heutige sprachdynamische Analyse ergibt sich […] die Notwendigkeit, sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob und – wenn ja – für welchen Ausschnitt und in welchem Maß heranzuziehende Studien auf hypothetische Pauschalisierungen zurückgreifen oder sonstige methodische Schwächen […] kaschieren“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 302). SCHMIDT / HERRGEN (2011, 302– 303) haben eine „methodische Messlatte zur Beurteilung der Verlässlichkeit“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 302) entwickelt. Die frühen Studien (von VIËTOR (1875) bis SCHNELLBACHER (1963)) können den modernen (methodischen) Ansprüchen nur bedingt gerecht werden. Es finden sich darin keine oder keine genauen Beschreibungen der Erhebungs- und Analysemethoden, keine expliziten Angaben zur Variantenverteilung (bei den Sprechern, in den identifizierten Schichten, Frequenzen im Allgemeinen) und keine Explikation des Verfahrens der Schichtendifferenzierung200, wie teilweise bereits bei den Anmerkungen zu den Untersuchungen deutlich wurde (vgl. bspw. Fn. 196). Für VEITH (1983) trifft dies auch zu, zusätzlich stellt sich hier die Frage, ob eine solch feine Differenzierung von Varietäten auf Grundlage des Konsonantismus und anhand generativer Re-
199 Die Beiträge von u. a. LAUF (1994) und MIHM (2000) befassen sich eher mit den Merkmalen regiolektaler Sprechweisen, sodass diese bei der Betrachtung der Varianten bei den Analysen einbezogen werden. Die weiteren Studien zur Perzeption (Kap. 3.5.2) und zum Westmitteldeutschen (Kap. 3.6) dienen als Bezug zu den Ergebnissen dieser Arbeit (vgl. Kap. 8). Für die Lexik (vgl. v. a. Kap. 3.5.1) kommt DINGELDEIN (2008, 188–189) zu einem ähnlichen Ergebnis, wie er es oben formuliert. 200 Tw. werden sprachliche Merkmale zur Abgrenzung genannt, aber keine genaueren Angaben dazu gemacht.
3.7 Zusammenfassung
91
geln aufrecht erhalten werden kann. BRINKMANN TO BROXTEN (1987) gibt genauere Informationen zu ihrer empirischen Untersuchung an (Sprecherdaten, Methoden usw.). Ihre Darstellung kann demnach den Ansprüchen von SCHMIDT / HERRGEN weitgehend gerecht werden. Deshalb werden in Kap. 6 (zum Untersuchungsort Frankfurt) eine genauere Betrachtung der Ergebnisse, eine Neuauswertung ihrer Daten und ein Vergleich mit den rezenten Daten erfolgen. Die neueren Studien (von STEINER 1994 bis KEHREIN 2012) sind alle der modernen Regionalsprachenforschung zu subsumieren und erfüllen eo ipso die methodischen Anforderungen. Sie wurden – bei Bedarf – schon kommentiert und können als Vergleichsgrundlage dienen. Für den hessischen Sprachraum – die Einzeluntersuchung zu Gießen (vgl. KEHREIN 2008) ausgenommen – liegen diese Untersuchungen mit den Methoden der modernen Regionalsprachenforschung noch nicht vor.201 Dies bedeutet – da die Studien und Beschreibungen zu Sprachvariation und Sprachwandel im hessischen Sprachraum den Anforderungen der modernen Regionalsprachenforschung nur bedingt gerecht werden –, dass die Ausführungen und die Synthese (vgl. Tab. 3-5) explizit als Hinweise und Annahmen zu verstehen sind. Mit anderen Worten ergibt sich daraus die Frage, ob und – wenn ja – inwieweit die Beschreibungen den tatsächlichen Entwicklungen entsprechen. Denn trotz methodischer Schwächen können die Beobachtungen zutreffend sein. Die Frage zu beantworten, kann nur eine empirische Überprüfung mit vergleichbaren Methoden erbringen. Diese Überprüfung stellt aber nach wie vor „ein Desiderat der sprachlichen Landesforschung“ dar (DINGELDEIN 1994, 277, vgl. auch DINGELDEIN 1994, 305). Dieses Desiderat zu füllen, ist das erklärte Ziel der vorliegenden Arbeit. Dafür ergeben sich konkrete Forschungsfragen, die neben der gesamten empirischen Anlage der Arbeit im nächsten Kapitel ausgeführt werden.
201 Manche der oben aufgeführten Beschreibungen sind als übergreifende Beobachtung bzw. explizit als Annahme zu verstehen (vgl. bspw. HARD 1966, SCHMIDT 1998) und erheben daher keinen empirischen Anspruch.
4 ANLAGE DER EMPIRISCHEN UNTERSUCHUNG 4.1 FRAGESTELLUNGEN Wie in Kap. 2.2 beschrieben sind die vertikalen regionalsprachlichen Spektren der Gegenstandsbereich der modernen Regionalsprachenforschung und der vorliegenden Arbeit (vgl. Kap. 2.2.3, KEHREIN 2012, 73 sowie das Teilziel 2 des REDEProjekts, Kap. 2.3). Die Untersuchung der vertikalen Spektren an den sieben Untersuchungsorten steht im Fokus des empirischen Teils der Arbeit (vgl. Kap. 5– 7). Dazu ergeben sich konkrete Fragestellungen (vgl. dazu Kap. 2.2.3 und auch KEHREIN 2012, 73–74): Welche Strukturen der vertikalen regionalsprachlichen Spektren lassen sich ermitteln? Diese Fragestellung beinhaltet die Analyse der Varietäten und Sprechlagen der jeweiligen Spektren und deren Verhältnis zueinander. Ebenfalls zählt die Charakterisierung der einzelnen Varietäten und Sprechlagen anhand der Merkmale und des Gebrauchs dazu. Welche Sprecher- und Repertoiret ypen lassen sich ermitteln? Diese Frage geht der Charakterisierung der Sprecher anhand ihrer Kompetenzen und ihres Sprachgebrauchs nach. Welche sprachdynamischen/regionalsprachlichen Prozesse lassen sich ermitteln? Mit dieser Fragestellung ist die Analyse der rezenten Sprachdynamik aus einer apparent-time-Perspektive (intergenerationeller Vergleich) verbunden. Anhand dieser Fragestellungen kann die Sprachvariation in den sieben Untersuchungsorten im südlichen und mittleren hessischen Sprachraum vergleichbar und umfassend beschrieben werden und mit den bisherigen Beobachtungen in Bezug gesetzt werden (vgl. als Übersicht Tab. 3-5). Damit sind weitere Dimensionen und Fragestellungen verbunden. Nach der jeweiligen Beschreibung der regionalsprachlichen Spektren, der Sprechertypen und der Sprachdynamik an den Orten können diese miteinander verglichen werden. Dadurch kann auch die horizontale Dimension der Sprachvariation genauer untersucht werden. Die dabei zentrale Fragestellung ist, ob sich die angenommenen diatopischen Unterschiede – das Süd-Nord-Gefälle (vgl. Kap. 3.4–3.5, 3.7) – bestätigen. Damit in Beziehung stehen die folgenden Fragen: Lässt sich eine mögliche Grenze innerhalb des Sprachraums ermitteln? Wie sieht die rezente Gliederung des Sprachraums aus? Wie viele Regionalsprachen lassen sich ermitteln? Welche Auswirkungen hat der beobachtete südliche Einfluss auf das (südliche) Zentralhessische? Dazu muss bereits an dieser Stelle einschränkend darauf hingewiesen werden, dass diese Untersuchung nicht genuin horizontal angelegt ist, sodass die diatopischen Fragestellungen nur für die jeweiligen Untersu-
4.1 Fragestellungen
93
chungsorte gelten und weitere Erkenntnisse als Hinweise zu verstehen sind, die daraus abgeleitet werden.202 Durch die Behandlung der Fragestellungen kann auch eine Erhellung des Neuhessischen erfolgen. Aufgrund des spezifischen Hintergrunds des Konzepts Neuhessisch – der Begriff wird oft verwendet und ist innerhalb von Teilen der Forschung etabliert, ohne jedoch genau definiert zu sein (vgl. Kap. 3.4, Fn. 198) – wird die Frage nach dem Neuhessischen explizit aufgegriffen: wie lässt sich das Neuhessische beschreiben bzw. mit anderen Worten was kann als Neuhessisch beschrieben werden? Des Weiteren werden in der Arbeit auch mögliche Einflussfaktoren der sprachdynamischen Prozesse und des Sprachverhaltens genauer analysiert. Ebenso erfolgt eine genauere Betrachtung ausgewählter regionalsprachlicher Merkmale, die eine besondere Bedeutung für die sprachdynamischen Prozesse haben. Insgesamt soll dadurch eine vergleichende Darstellung der vertikalen, horizontalen und sprachdynamischen Dimension der Sprachvariation im untersuchten Raum erbracht werden und somit das bestehende Forschungsdesiderat (vgl. DINGELDEIN 1994, 227, 305) gefüllt werden. Es wird auch versucht, neben dieser Darstellung eine mögliche Erklärung der Gesamtergebnisse zu erbringen. 4.2 DATENGRUNDLAGE Die Arbeit ist eng mit dem in Kap. 2.3 vorgestellten REDE-Projekt verbunden – insbesondere mit dem Teilziel 2 und der Arbeitsgruppe Empirie des Projekts. Dies äußert sich neben den Fragestellungen unter anderem auch darin, dass ein Großteil der Daten dem REDE-Korpus entnommen wurde und auch die Auswahl der Analysemethodik sich am REDE-Standard orientiert. 4.2.1 Orte Im REDE-Projekt wird die Erschließung der variationslinguistischen Struktur und Dynamik der modernen Regionalsprachen des Deutschen anhand einer Stichprobe von 150 Orten der Bundesrepublik durchgeführt (vgl. zur Übersicht der Orte REDE IV). Die Auswahl der Orte richtete sich danach, dass alle von der Forschung herausgearbeiteten Dialekträume (Kern- und Übergangsgebiete) berücksichtigt werden und dass möglichst Forschungsliteratur und Tonaufnahmen früherer Studien für diese Orte vorliegen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 378). Sieben der 150 REDE-Orte liegen in dem hier relevanten Raum und bilden die Grundlage der empirischen Untersuchung. Die Auswahl der Orte für das REDE-Projekt und für 202 Es lässt sich bspw. anhand von sieben Orten keine genaue Grenzziehung zwischen potentiellen sprachlichen Teilräumen ziehen, jedoch können die jeweiligen Orte Räumen zugeordnet werden. Daraus ließen sich Hinweise auf die diatopische Gliederung entnehmen.
94
4 Anlage der empirischen Untersuchung
diese Arbeit erfolgte auch innerhalb der Dialektgebiete nach dialektologischen Gesichtspunkten. So wurden einerseits Teilräume berücksichtigt, für die auf Grundlage der Forschungsliteratur (vgl. Kap. 3) von einer großen Dynamik ausgegangen werden kann (bspw. Bad Nauheim). Andererseits berücksichtigt die Auswahl Orte, die vom Mittelpunkt des Rhein-Main-Gebiets aus gesehen eher peripher liegen und ggf. nicht von den regionalsprachlichen Entwicklungen betroffen sind (bspw. Ulrichstein). Schließlich wurde mit Frankfurt der Ort erhoben, für den der größte Einfluss auf die gesamte Region angenommen wird (vgl. Kap. 3.4). Vier der Orte liegen im Gebiet des Zentralhessischen, zwei im Rheinfränkischen und einer im Übergangsgebiet der beiden Dialektverbände. An dieser Stelle erfolgt ein tabellarischer Überblick, nähere Informationen zu den einzelnen Orten liefern die jeweiligen Ortskapitel.203 Dialektverband
Zentralhessisch
Übergangsgebiet Rheinfränkisch
Ort
Abk.204
Landkreis
Einwohner (31.12.2015)205
Ulrichstein
VB
Vogelsbergkreis
3.017
Gießen
GI
Gießen
84.455
Bad Nauheim
FB
Wetteraukreis
31.630
Büdingen
BÜD
Wetteraukreis
21.785
Frankfurt a. M.
F
kreisfrei
732.688
Reinheim
DA
Darmstadt-Dieburg
16.277
Erbach
ERB
Odenwaldkreis
13.401
Tab. 4-1: Übersicht der Untersuchungsorte
203 Weitere Orte des REDE-Projekts im hessischen Sprachraum sind im Zentralhessischen: Dillenburg, im Osthessischen: Fulda, Hofbieber und Hosenfeld sowie im Nordhessischen: Borken, Homberg/Efze und Kassel. Im Übergangsgebiet Zentralhessisch-Nordhessisch liegt Biedenkopf. 204 Die Abkürzung der Orte richtet sich nach der Nomenklatur des REDE-Projekts. Diese sieht vor, dass die Orte nach dem entsprechenden Kfz-Kennzeichen benannt werden. Durch die Beibehaltung dieser Nomenklatur kann der direkte Bezug zu den Auswertungen und Darstellungen des Projekts gewährleistet werden. 205 Vgl. Die Bevölkerung in Hessen am 31.12.2015. Hessisches Statistisches Landesamt, Wiesbaden, 2016.
4.2 Datengrundlage
95
4.2.2 Sprecher Im REDE-Projekt werden drei Sprechergruppen206 untersucht, die nach sozialen Merkmalen – primär dem Alter207 – definiert sind: Die Sprecher der älteren Generation (Abk. ALT208) sind über 65 Jahre alt und waren manuell tätig (im Handwerk oder in der Landwirtschaft). Sie entsprechen den Kriterien eines NORM (nonmobile older rural male). Die mittlere Generation (k. A. zur Bezeichnung) umfasst Sprecher, die zwischen 45 und 55 Jahre alt sind. Es handelt sich um Polizisten des mittleren und gehobenen Dienstes, es ist somit von einer kommunikationsorientierten Tätigkeit auszugehen.209 Als Sprecher der jungen Generation (Abk. JUNG) wurden 18-23-jährige Abiturienten aufgezeichnet. Bei allen Sprechern ist zudem das Kriterium der Ortsfestigkeit von zentraler Bedeutung. Die Sprecher sollten in zweiter Generation aus dem Ort bzw. der Kleinregion stammen und nicht länger als ein halbes Jahr nicht in dem Ort gelebt haben. Die drei Sprechergruppen repräsentieren unterschiedliche Sprechertypen: die Sprecher der älteren Generation können als sprachlich konservativ, die der mittleren Generation als sprachlich durchschnittlich und die der jüngeren Generation als sprachlich progressiv gelten (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 377). Die Auswahl bietet außerdem den Vorteil, dass die Sprechergruppen mit denen anderer Forschungsprojekte in Bezug gesetzt werden können. So entspricht die Gruppe der mittleren Generation der des SiN-Projekts (vgl. ELMENTALER et al. 2015, vgl. Fn. 209) und die Gruppe der jüngeren Sprecher der des Projekts „Deutsch heute“ (vgl. KLEINER 2015). Für die vorliegende Arbeit wurden für die Orte jeweils ein Sprecher der älteren Generation, zwei der mittleren Generation und einer der jüngeren Generation ausgewählt und analysiert,210 sodass insgesamt 29 Sprecher den Analysen zugrunde liegen.
206 Vgl. zur Sprecherauswahl des REDE-Projekts auch SCHMIDT / HERRGEN (2011, 377–379), KEHREIN (2012, 74) und GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI (2015, 430). 207 Das jeweilige Alter bedingt die Zuordnung zu Generationen. Diese wird hier verstanden als „Gesamtheit der etwa Gleichaltrigen mit erlebnisbedingt ähnlichen Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensformen“ (VEITH 2005, 171). Zur weiteren Begriffsklärung vgl. MATTHEIER (1987), CHESHIRE (2006) und GERRITSEN (1985). 208 Auch hier wird die Nomenklatur des REDE-Projektes beibehalten, vgl. Fn. 204. Die einzelnen Sprecher werden benannt (1) nach dem Erhebungsort, (2) nach der Generation und erhalten (3) bei mehreren Sprechern einer Generation eine Ziffer je nach Reihenfolge der Erhebung. 209 Als Sprechergruppe wurden Polizisten gewählt, die an Notrufannahmestellen tätig sind. Somit ist die Vergleichbarkeit innerhalb der sozialen Gruppe gewährleistet und es liegen mit den Notrufannahmegesprächen Aufzeichnungen authentischer Situationen vor (s. u.), die von besonderer Bedeutung sind. Zur Zeit der Datenerhebung waren in der entsprechenden Altersgruppe fast keine Frauen beschäftigt (vgl. GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI 2015, 431). Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurden deshalb ausschließlich männliche Sprecher im REDEProjekt aufgezeichnet. Das Partnerprojekt „Sprachvariation in Norddeutschland“ (vgl. ELMENTALER et al. 2015) hat komplementär ausschließlich Frauen erhoben. 210 Für Büdingen wurden zwei Sprecher der älteren Generation ausgewählt.
96
4 Anlage der empirischen Untersuchung
4.2.3 Aufnahmesituationen Die Sprecher wurden in fünf bis sechs Erhebungssituationen aufgezeichnet, die eine Kombination verschiedener Erhebungsmethoden (Test, Befragung, Beobachtung) darstellen. Dazu gehören:211 – Übertragung der Wenkersätze in das individuell beste Hoc hdeutsch: in dieser Erhebungssituation wurde den Informanten eine dialektale Aufnahme der Wenkersätze, die dem Dialekt des Ortes bzw. der näheren Umgebung entspricht, vorgespielt und die Informanten wurden gebeten, die Sätze in ihr „bestes Hochdeutsch“ zu übertragen. Die Situation dient somit der Erhebung der standardsprachlichen Kompetenz (im Folgenden auch Standardkompetenzerhebung oder Standardübersetzung genannt). Durch die Verwendung der Wenkersätze kann ein direkter Abgleich mit den bisherigen Aufnahmen der Wenkersätze erfolgen. – Vorlesen des Textes „Nordwind und Sonne“ : in dieser Situation wurden die Informanten gebeten, auf Grundlage einer schriftlichen Vorlage die Fabel „Nordwind und Sonne“ von ÄSOP laut vorzulesen (im Folgenden auch als Vorlesetext oder „Nordwind“ bezeichnet). Hierbei wurde auch die standardsprachliche Kompetenz der Informanten erhoben, doch handelt es sich um einen besonderen Fall, da die Schriftsprache oral umgesetzt werden soll. – Leitfadengestützes Interview mit dem Explorator : mit den Informanten wurde ein leitfadengestützes Interview (im Folgenden auch nur Interview genannt) über (sprach-)biografische Themen geführt, in dem auch Fragen zur Einstellung, zum Sprachgebrauch, zu Selbsteinschätzung (Kompetenz) und zum Sprachwissen gestellt wurden. Es wurde versucht, diese Situation besonders formell zu gestalten. Aus diesem Grund waren bspw. die (fremden) Exploratoren formell gekleidet und Mikrofon sowie Aufnahmegerät gut sichtbar vor den Informanten positioniert. So dient diese Erhebungssituation einerseits als Grundlage der inhaltlichen Auswertung des Materials, andererseits als Sprachprobe der Performanz der Sprecher in einer formellen Situation. – Notrufannahmegespräche: von den Polizisten konnten Aufzeichnungen der Gespräche während ihrer Tätigkeit an der Notrufannahme gewonnen werden. Diese stammen zum Großteil aus dem Kooperationsprojekt DIGS,212 weitere Aufnahmen wurden im Rahmen des REDE-Projekts zur Verfügung gestellt.213 Bei den Notrufannahmegesprächen (fortan auch als Notrufe be-
211 Vgl. zu den Ausführungen und den Erhebungssituationen SCHMIDT / HERRGEN (2011, 379– 380), KEHREIN (2012, 75–76) und GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI (2015, 431–432). 212 DIGS = Dialektdatenbank gefärbter Standardsprache. Die Kooperation bestand aus dem Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, dem Bundeskriminalamt und dem Institut für Deutsche Sprache. 213 Die Organisation der Notrufannahmen ist bundesweit und tw. auch zwischen den Dienststellen unterschiedlich organisiert, sodass nicht an allen Orten für alle Sprecher der mittleren Ge-
4.2 Datengrundlage
97
zeichnet) handelt es sich um eine Fernkommunikation in formellem Rahmen. Für die Polizisten ist diese Gesprächssituation alltäglich – sie gehört zu ihrem üblichen Tätigkeitsbereich, die Aufnahmetechnik ist ihnen bestens vertraut und auch die standardmäßige Aufzeichnung der Gespräche ist bekannt. Sie müssen sich außerdem auf den Inhalt des Gespräches konzentrieren, sodass insgesamt von einer sehr geringen Konzentration auf die Sprachverwendung und somit einem fast aufgelösten Beobachterparadoxon (vgl. LABOV 1972, 209) auszugehen ist (vgl. dazu auch KEHREIN 2006; 2008). Ein weiterer Vorteil der Notrufannahmegespräche ist die Vergleichbarkeit der Sprachproben untereinander, da routinemäßig Phrasen und Sätze bei allen Gesprächen vorkommen und wiederholt werden (bspw. Polizei Notruf, guten Tag). – Freies Gespräch mit einem vertrauten Gesprächspartner : neben dem formellen Interview sollte auch die Sprachverwendung in einer informellen Situation erhoben werden. Dazu wurden die Informanten gebeten, sich mit einem von ihnen gewählten Gesprächspartner in heimischer Atmosphäre frei zu unterhalten (fortan auch als Freundesgespräch benannt). Um die mögliche Beeinflussung der Sprachverwendung so gering wie möglich zu halten (s. o. Minimierung des Beobachterparadoxons), war der Explorator während der Aufzeichnung nicht anwesend. Es wurden sogenannte kleine, unauffällige Krawattenmikrofone verwendet und das Aufnahmegerät wurde in einem Nebenraum platziert.214 – Übertragung der Wenkersätze in den individuell besten Dialekt : mit dieser Situation wurde die individuelle Kompetenz im Basisdialekt erhoben (im Folgenden auch als Dialektkompetenzerhebung oder Dialektübersetzung bezeichnet). Den Sprechern wurden dafür die Wenkersätze in möglichst interferenzfreier Standardsprache durch den Explorator vorgelesen und sie wurden gebeten, diese in den individuell „tiefsten/besten Dialekt“ zu übersetzen. Dieser Auswahl der Erhebungssituationen liegt die Annahme eines Zusammenhangs zwischen sprachlicher und situativer Variation zugrunde (vgl. GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI 2015, 431). Sie sind so gewählt, dass mit ihnen das gesamte vertikale Variationsspektrum der Informanten (Kompetenz und Performanz) erfasst werden kann (vgl. Abb. 4-1).215 Die Eignung für diese Gesamterfassung neration, die den Auswahlkriterien entsprechen, Notrufe gewonnen werden konnten. Sie wurden dennoch in allen anderen Erhebungssituationen aufgezeichnet, um mindestens zwei Sprecher pro Ort in dieser Sprechergruppe untersuchen zu können. 214 Die Praxis zeigt, dass mit diesem Setting die Minimierung des Beobachterparadoxons recht erfolgreich funktioniert und es somit für die Erhebung der ungezwungenen Sprachverwendung geeignet ist. Beispiele dafür sind neben sehr privaten – mitunter intimen – Themen v. a. Gespräche über die zu diesem Zeitpunkt nicht anwesenden Exploratoren. 215 „Der Erwartung nach spiegeln die Aufnahmesituationen in der hier dargebotenen Reihenfolge von oben nach unten das individuelle regionalsprachliche Variations-/Varietätenspektrum zwischen den Polen Standardsprache und Basisdialekt wider. Nach den bisherigen Auswertungen entspricht dies auch weitgehend der sprachlichen Wirklichkeit“ (GANSWINDT / KEH-
98
4 Anlage der empirischen Untersuchung
konnte in zahlreichen Studien erbracht werden (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 379). Somit wird auch eine Vergleichbarkeit zu früheren und parallelen Studien mit diesen Erhebungssituationen gewährleistet. ò
¡
ò Abb. 4-1: Erhebungssituationen216
4.2.4 Aufbereitung Für die Auswertung wurden die aufgezeichneten Sprachdaten aufbereitet. 217 Alle Sprachproben wurden vollständig normorthografisch transkribiert. Dazu wurde das Programm Praat (vgl. BOERSMA / WEENINK 2015) verwendet, das gleichzeitig eine Alignierung von Text und Tonsignal ermöglicht. Die Sprachproben der Standard- und Dialektkompetenzerhebung und des Vorlesetextes wurden daraufhin vollständig feinphonetisch nach IPA (vgl. IPA 2015) transkribiert. Die freien Gespräche (Interview, Notruf und Freundesgespräch) wurden auszugsweise (200 bis 300 Wörter, jew. 70–100 Wörter am Anfang, der Mitte und am Ende der Probe) feinphonetisch transkribiert. Die phonetische Transkription erfolgte teilweise im Rahmen des REDE-Projekts. Dort werden die Transkriptionen von phonetisch geschulten Mitarbeitern durchgeführt, die sich einmal pro Woche in gemeinsamen Sitzungen eichen (der Verfasser der Arbeit ist Teil dieser Gruppe). Nach den Transkriptionen werden diese von einem weiteren Mitarbeiter kontrolliert, bevor die Bearbeitung nach einem weiteren Abgleich beendet werden kann. So wird eine hohe Qualität und Vergleichbarkeit der Transkriptionen gewährleistet.218 / LAMELI 2015, 432). Dies gilt im Allgemeinen. Interindividuelle Unterschiede in der Sprachverwendung in einzelnen Erhebungssituationen sind hauptsächlich durch die Unterschiede der System- und Registerkompetenzen bzw. die zugrunde liegenden Dialekte (vgl. Kap. 8.2) zu erklären. 216 Die Symbolisierung der Erhebungssituationen entspricht der Kodierung der jeweiligen Sprachproben in den Grafiken und weiteren Visualisierungen der Ergebnisse in den folgenden Kapiteln. 217 Insgesamt wurden von 29 Sprechern 147 Sprachproben erhoben, was ungefähr 75 Stunden Sprachmaterial entspricht. 218 Auch die nicht im REDE-Projekt direkt transkribierten Dateien wurden entsprechend der Konventionen des Projekts von einem weiteren Mitarbeiter kontrolliert und dann vom Verfasser abgeglichen. REIN
4.3 Analysemethoden
99
Phonetische Transkriptionen liegen für die Ebene der phonetischen Wörter219 vor, die auch Grundlage der orthografischen Transkription sind und für das REDE SprachGIS benötigt werden. Transkriptionen auf Einzelwortebene sind für die Auswertungen notwendig. 4.3 ANALYSEMETHODEN Für die Analyse der Sprachdaten wurde eine Kombination verschiedener Auswertungsmethoden in Anlehnung an das REDE-Projekt (vgl. GANSWINDT / KEHREIN / LAMELI 2015, 433–434) und KEHREIN (2012) gewählt. Sie haben sich für die hier relevante Erschließung der variationslinguistischen Spektren als geeignet erwiesen (vgl. v. a. KEHREIN 2012). Für alle Sprachproben wurde der Dialektalitätswert (eine Quantifizierung des phonetischen Abstands) gemessen (vgl. 4.3.1). Hierfür wurde jeweils der 200 bis 300 Wörter umfassende Ausschnitt der phonetischen Transkription zugrunde gelegt, sodass das Korpus dieser Methode ungefähr 35.000 Wörter umfasst. Für die Sprachproben – außer den Vorlesetexten – wurde ebenfalls eine Variablenanalyse durchgeführt (vgl. 4.3.2). Für diese Auswertung wurde für die Standard- und Dialektkompetenzerhebung jeweils die vollständige orthografische Transkription der Sprachprobe (ungefähr 480 Wörter) und für die Situationen Interview, Notruf sowie Freundesgespräch ein Ausschnitt von ungefähr 1.100 orthografisch transkribierten Wörtern verwendet, sodass dieses Korpus einen Umfang von ca. 96.000 Wörtern aufweist. Diese beiden Analysemethoden wurden ergänzt durch Clusteranalysen auf Grundlage der Variablenanalysen (vgl. 4.3.3), qualitative Analysen und Implikationsanalysen (vgl. 4.3.4). 4.3.1 Phonetische Dialektalitätsmessung 4.3.1.1 Verfahren der phonetischen Dialektalitätsmessung Es sind bisher einige Verfahren zur Messung von Dialektalität – sowohl horizontal, das heißt zwischen einzelnen Dialekten, als auch vertikal, das heißt im Vergleich zur Standardsprache – entwickelt worden (vgl. zur Übersicht der verschiedenen Verfahren NERBONNE / HEERINGA 2010 und HERRGEN / SCHMIDT 1989, 306–309). In dieser Arbeit kommt das Verfahren der phonetischen Dialektalitätsmessung zur Anwendung, das von HERRGEN / SCHMIDT (1989) entwickelt und von LAMELI (2004) weiterentwickelt wurde.220 Die Idee des Verfahrens ist eine
219 Als phonetisches Wort wird eine Äußerungseinheit ohne Unterbrechung der Artikulation zwischen zwei eindeutig identifizierbaren Pausen verstanden. 220 Ausführliche Beschreibungen des Messverfahrens finden sich in HERRGEN / SCHMIDT (1989), HERRGEN et al. (2001), LAMELI (2004) und zuletzt KEHREIN (2012). Zur Anwendung ist das
100
4 Anlage der empirischen Untersuchung
Quantifizierung des phonetischen Abstands einer Sprachrobe zur Standardaussprache auf Basis regionalsprachlicher Merkmale.221 Phonetische Segmente werden als Bündel phonetischer Eigenschaften definiert und die Segmente der tatsächlichen Realisierung mit den Segmenten des Bezugssystems (hier: normierte Standardaussprache, Orthoepie) abgeglichen. Für die Unterschiede der phonetischen Merkmale werden nach einem festen Regelsystem Punkte vergeben, sodass der Abstand quantifiziert wird. Grundprinzip des Regelsystems ist, dass für einen Unterschied in einem Merkmal ein Punkt vergeben wird. „Das Ziel des Verfahrens ist die Bestimmung der phonetisch konstituierten Dialektalität von Äußerungen als Wert für die Lautunterschiede pro Wort“ (HERRGEN et al. 2001, 2). Dies bedeutet, dass die Rohwerte der Sprachprobe addiert und durch die Anzahl der Wörter dividiert werden. Dieser ermittelte Wert wird dann als Dialektalitätswert (= D-Wert) bezeichnet. Da es sich um einen phonetischen Abstandswert handelt, werden morphologische, syntaktische und lexikalische Abweichungen nicht berücksichtigt (s. u.) und da es sich um einen Dialektalitätswert handelt, werden realisationsphonetische Abweichungen ausgeschlossen (s. u.).222 Im Folgenden wird das Regelsystem der Messmethode beschrieben (vgl. dazu i. A. HERRGEN et al. 2001, LAMELI 2004, 65–84 und KEHREIN 2012, 78–84). Monophthonge: Für den vokalischen Bereich werden die drei Dimensionen Öffnungsgrad (Stufen im Vokaltrapez, mit den Werten offen, halb-offen, halbgeschlossen und geschlossen),223 Lokalisierung (Klassen im Vokaltrapez, horizontale Zungenlage mit den Werten vorne, zentral und hinten) und Lippenrundung (Klassen im Vokaltrapez, mit den Werten gerundet und gespreizt) zugrunde gelegt. Unterschiede von einer Stufe oder einer Klasse werden mit einem Punkt bewertet, Unterschiede von einer halben Stufe/Klasse mit einem halben Punkt. Zur besseren Anwendung dient ein Schema von LAMELI (2004, 68), das eine dreidimensionale Umsetzung des Vokaltrapezes darstellt. In diesem können die Dimensionen Vektoren zugeordnet werden: die x-Achse entspricht der Klasse vorne – hinten, die y-Achse der Stufe oben – unten und die z-Achse der Klasse Rundung (vgl. LAMELI 2004, 68 und KEHREIN 2012, 79).
Verfahren u. a. in folgenden Studien gekommen: STEINER (1994), LAMELI (2004), KEHREIN (2012) und zuletzt ROCHOLL (2015). 221 Phonetische Abstandsmessungen können theoretisch bei allen standarddifferenten Sprachproben oder zwischen verschiedenen Sprachen vorgenommen werden. Bei dieser Methode werden die regionalsprachlich bedingten phonetischen Abweichungen von der Standardaussprache quantifiziert. Es handelt sich somit um eine phonetische Dialektalitätsmessung bzw. einen phonetischen Dialektalitätswert. 222 Die Vorteile dieses Verfahrens liegen darin, dass der Grad der Differenz berücksichtigt wird, dass alle Merkmale berücksichtigt werden, dass keine spezifischen Kenntnisse über die Systeme der Proben vorliegen müssen und dass die Ergebnisse der Messungen über Räume hinweg miteinander vergleichbar sind (vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1989, 309). Zudem wurde die Validität und Reliabilität des Verfahrens belegt (vgl. HERRGEN et al. 2001, 1). 223 Mit dem Öffnungsgrad des Kiefers korrespondiert die vertikale Zungenlage: unten, mittig und oben.
4.3 Analysemethoden
101
Das Schema vereinheitlicht und kategorisiert phonetische Eigenschaften, stellt aber die „Mehrdimensionalität der zu messenden artikulatorischen Prozesse“ (LAMELI 2004, 68) heraus.224 In diesem Modell werden [ɪ, ʏ, ʊ] den jeweiligen Kardinalvokalen (also [i, y, u]) subsumiert und die Differenz zu ihnen mit 0,5 Punkten (d. h. einer halben Stufe) bewertet. Gleiches gilt für [æ] (Zuordnung zum Kardinalvokal [ɛ]) und auch für tendenzielle Stufen- und Klassenunterschiede wie bspw. einer tendenziellen Hebung [e̝] oder einer tendenziellen Entrundung [ø̜] (vgl. LAMELI 2004, 69). Unterschiede können in allen Dimensionen auftreten und werden für ein Segment addiert. Pro Segment gilt allerdings ein Maximalwert von drei Punkten und pro Dimension ein Höchstwert von anderthalb Punkten.225 Nasalität wird als binäre Kategorie aufgefasst und Differenzen – trotz Notation mit einem Diakritikum – mit einem Punkt bewertet. Einige Sonderegeln gilt es für die Monophthonge zu beachten: Für das Standarddeutsche wird ein zentrales /a̠/Phonem angenommen (vgl. KOHLER 1995, 169–174, BARRY / TROUVAIN 2008). Tendenzielle Vor- und Rückverlagerungen werden nicht in der Messung berücksichtigt, dagegen „deutlich wahrnehmbare Abweichungen regionalsprachlicher /a/-Laute vom Standard-/a/ [= [a̠], L. V.], die eng an den Kardinalvokalen liegen“ (HERRGEN et al. 2001, 3), mit einem Punkt versehen. Aufgrund der Rundungsneutralität des Lautes (vgl. LAMELI 2004, 70, KOHLER 1995, 50) werden keine Rundungsdifferenzen zu [a̠] gemessen. Durch die mittlere Position und den Rundungsstatus kommt [a̠] eine Sonderstellung im Vokalsystem des Deutschen zu. Dies hat zur Folge, dass ein Maximalwert von 1,5 Punkten für Differenzen zu [a̠] festgesetzt wird und jede Abweichung zur nächsten Stufe mit einem Punkt bewertet wird (vgl. LAMELI 2004, 70). Eine weitere Festlegung betrifft die Zentralvokale. Der Ausfall/Zuwachs von und der Ersatz von/durch Zentralvokale [ə, ɐ, ɘ, ɵ, ɜ, ɞ] wird je mit einem Punkt bewertet. Dies gilt auch für Differenzen innerhalb des Zentralvokalbereichs.226 Zwei Fälle des Schwa-Ausfalls können innerhalb der gesprochenen Standardsprache als zulässig betrachtet werden und werden deshalb nicht gemessen. Dies betrifft zum einen die 1. Ps. Sg. Präs. Ind. (Bsp. ich mache … [ɪç ma̠x]) und zum anderen den Imperativ Singular (Bsp. Mache das! [ma̠x da̠s]) (vgl. dazu HERRGEN et al. 2001, 3, LAMELI 2004, 70). Quantitative Unter-
224 Es ermöglicht zudem die Berechnung der Differenzen auf Basis euklidischer Distanzen. Mit Hilfe eines definierten Nullpunktes kann die Differenz zu einem anderen Laut berechnet werden. Wird bspw. [u] als Nullpunkt gesetzt, hat es die Werte (0; 0; 0) (= Lokalisierung, Öffnungsgrad, Rundung), [o] dazu im Vergleich hat die Werte (0; -1; 0), die Differenz zwischen beiden Lauten beträgt somit 1, was wiederum einen D-Wert von einem Punkt ergibt (vgl. dazu LAMELI 2004, 68, v. a. Fn. 246). 225 Dieser Maximalwert ist eine realistische Obergrenze. Er ergibt sich aus „ein[em] Punktwert, der im Korpus tatsächlich mit einer gewissen Häufigkeit erreicht“ wird (HERRGEN / SCHMIDT 1989, 311). Notwendig ist dieser Höchstwert für Fälle, in denen dem orthoepischen Segment in der regionalsprachlichen Probe kein Segment gegenübersteht (und v. v.) wie bspw. in Vogel [foːɡəl] vs. [fuːl] (vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1989, 311). 226 „Da die Messwerte für die Reduktionsvokale [= Zentralvokale, L. V.] pauschal definiert sind, sind die Reduktionsvokale im Messmodell nicht aufgeführt“ (LAMELI 2004, 70).
102
4 Anlage der empirischen Untersuchung
schiede (d. s. Länge und Kürze) werden mit einem Punkt gemessen, tendenzielle Differenzen bleiben hier unberücksichtigt. Diphthonge: Die Messung von Diphthongen richtet sich nach denselben Dimensionen wie bei den Monophthongen. Differenzen bei einzelnen Diphthongkomponenten werden analog zu Monophthongen gemessen. Der Maximalwert pro Diphthong beträgt drei Punkte. Dieser gilt auch für Monophthongierung und Diphthongierung. Die Sequenz aus r-Vokalisierung und Vokal wird nicht als Diphthong gewertet. Als standardsprachliche Diphthonge werden [a͡ ̠ e], [a͡ ̠ o] und [ɔ͡ø] gewertet, wobei weitere Allophone zulässig sind und „nur auditiv sicher identifizierbare Unterschiede“ (KEHREIN 2012, 80) gemessen werden. Die Regeln für den Vokalismus sind in Tab. 4-2 zusammengefasst (vgl. HERRGEN et al. 2001, 4, LAMELI 2004, 69, 71): Regel
Messwert Beispiel (Std. vs. Dialekt)
1 Stufe/Klasse pro Dimension
1
[hoːx] vs. [huːx]; hoch
0,5 Stufen/Klassen pro Dimension
0,5
[vɪntɐ] vs. [ventɐ]; Winter
tendenzielle Differenzen pro Dimension
0,5
[œftɐ] vs. [œ̜ftɐ]; öfter
Höchstwert pro Mono-/Diphthong
3
Höchstwert pro Dimension
1,5
Höchstwert bei Differenzen zu [a̠]
1,5
Nasalitätsdifferenzen
1
Mono-/Diphthongierung
3
[va͡ ̠ en] vs. [va͡ ̠ ̃en]; Wein [fuːs] vs. [fɔ͡ʊs]; Fuß
Differenzen bei Zentralvokalen
1
[ʃuːlə] vs. [ʃuːl]; Schule
Quantitätsunterschiede
1
[ʁa̠ːt] vs. [ʁa̠t]; Rad
Tab. 4-2: Messregeln für den Vokalismus
Konsonantismus: Auch für den Konsonantismus bilden drei Beschreibungsdimensionen die Grundlage der Bestimmung des phonetischen Abstands: Artikulationsort, Artikulationsart und Phonation (stimmhaft vs. stimmlos).227 Als Messgrundlage dient die Konsonantentabelle des IPA (vgl. IPA 2015). In dieser sind in den Spalten die Artikulationsart und in den Zeilen der Artikulationsort aufgeführt, die Unterschiede in der Phonation sind in den einzelnen Spalten gekennzeichnet, links steht jeweils der stimmlose und rechts der stimmhafte Laut.228 Pro Unterschied in einer Dimension wird ein Punkt vergeben, tendenzielle, mit Diakritikum 227 „Die Opposition stimmhaft-stimmlos wird aufgrund ihrer klaren akustischen und artikulatorischen Korrelate als primär aufgefasst […]. Die Opposition fortis-lenis wird nicht zusätzlich berücksichtigt.“ (HERRGEN et al. 2001, 4, Fn. 15). Vgl. auch LAMELI (2004, 71, Fn. 257). 228 Viele der dort aufgeführten Laute sind theoretisch zu vernachlässigen, der Tabelle wurden hier die beiden alveo-palatalen Frikative hinzugefügt, die für den hier untersuchten Raum relevant sind (vgl. 4.4.3.1).
4.3 Analysemethoden
103
versehene Differenzen erhalten einen halben Punkt (so bspw. die tendenzielle Entstimmung [d] > [d̥])229. Pro Konsonant gilt für die summierten Unterschiede und bei Epi- sowie Epenthesen ein maximaler Wert von zwei Punkten. Dieser ist geringer als bei den Vokalen, um das Verhältnis der Vorkommenshäufigkeit in der Standardsprache (Vokale und Konsonanten stehen ungefähr im Verhältnis 2 zu 3) auszugleichen (vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1989, KOHLER 1995, 222, 311, LAMELI 2004, 72, KEHREIN 2012, 81). Der entsprechende Höchstwert pro Dimension beträgt einen Punkt. Auch bei den Konsonanten müssen einige zusätzliche Regeln beachtet werden: Die standardsprachlich kodifizierte Aussprache des /r/ hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt (vgl. KEHREIN 2012, 81). Während die Bühnenaussprache von SIEBS lange die Artikulation des alveolaren Vibranten vorgab, gilt dieser heute „als stilistisch und regional markiert“ (HERRGEN et al. 2001, 5). Für die Standardaussprache ist von uvularen Varianten (d. s. [ʁ], [ʀ]) auszugehen (vgl. HERRGEN et al. 2001, 5, GÖSCHEL 1971, WIESE 2003 und zum Umgang der /r/-Allophone innerhalb der Dialektalitätsmessung KEHREIN 2012, 81–83). Für die Messung bedeutet dies, dass [ʁ], [ʀ] als Bezug zugrunde gelegt werden und Abweichungen von diesen Lauten mit einem festen Wert von einem Punkt gewertet werden. /r/-Vokalisierungen ([ɐ]) werden am Silbenende, im silbenfinalen Konsonantencluster und nach [a̠ː] sowie Kurzvokal als standardsprachlich betrachtet und nicht gemessen. Nach [a̠ː] kann das Vokalisierungsprodukt sogar normkonform ausfallen, Gleiches gilt für den Ausfall nach Kurzvokal, sofern dieser nach dem Ausfall gelängt wird (vgl. KEHREIN 2012, 82–83 und HERR230 GEN et al. 2001, 5). Affrikaten werden monophonematisch betrachtet, sodass der Ausfall einer homorganen Affrikatenkomponente mit einem Punkt bewertet wird. Die Regeln für den Konsonantismus sind in Tab. 4-3 zusammengefasst (vgl. HERRGEN et al. 2001, 6–7, LAMELI 2004, 73–74):
229 Tendenzielle Entstimmungen werden nur intervokalisch gemessen, da in der gesprochenen Standardsprache stimmhafte Plosive nur in dieser Position voll stimmhaft gesprochen werden (vgl. HERRGEN et al. 2001, 4 und KOHLER 1995, 158). 230 KEHREIN (2012, 82–83) weist darauf hin, dass die Aussprache des Vokalisierungsprodukts bedingt durch Koartikulation variiert, weshalb hier nur auditiv deutliche Abweichungen und solche, die nicht durch Koartikulation bedingt sein können, gewertet wurden.
104
4 Anlage der empirischen Untersuchung
Regel
Messwert Beispiel (Std. vs. Dialekt)
voller Unterschied pro Dimension
1
[ta̠ːk] vs. [ta̠ːx]; Tag
halber/tend. Unterschied pro Dimension
0,5
[vɛtɐ] vs. [vɛd̥ɐ]; Wetter
Höchstwert pro Konsonant
2
Höchstwert pro Dimension
1
Ausfall/Zuwachs einer Affrikatenkomp.
1
[p͡fɛfɐ] vs. [fɛfɐ]; Pfeffer
Unterschiede der [ʁ]-Artikulation
1
[ʁɪŋ] vs. [rɪŋ]; Ring
Tab. 4-3: Messregeln für den Konsonantismus
Als allgemeine Regel kann zudem formuliert werden, dass Abweichungen im Wortakzent – nach Vorgabe des DUDEN Bd. 6 – mit einem Punkt bewertet werden (wie bspw. [kaʁˈtɔŋ] vs. [ˈkaʁtɔŋ]; Karton).231 Außerdem bleiben Folgephänomene einer Lautveränderung oder eines Ausfalls/Zuwachses unberücksichtigt (bspw. die Auslautverhärtung durch die Veränderung der Silbenposition nach Lautausfall wie in [ha̠ːze] vs. [ha̠ːs], Hase). Von der Messung ausgeschlossen sind regionale Merkmale der linguistischen Ebenen Morphologie, Syntax und Lexik, da es sich um einen phonetischen Abstandswert handelt. Bei diesen Merkmalen ist in den meisten Fällen keine Lautzu-Laut-Zuordnung möglich, wie sie die Messung erfordert (bspw. bei Diminutivbildungen mit {lein} statt {chen} wie in Häuschen vs. Häuslein oder den Heteronymen Pferd und Gaul), oder sie können schlicht nicht mit der Methode erfasst werden (bspw. syntaktische Merkmale).232 Ausgenommen ist hier die Flexionsmorphologie. Hier ist nicht immer eindeutig zwischen phonetischphonologischen und morphologischen Prozessen zu unterscheiden (bspw. bei Kontraktionen oder Ausfall von Flexiven) und eine segmentelle Zuordnung ist in den meisten Fällen möglich. Aus diesem Grund werden sie als „Teil der Lautsymbolkette in der Messung berücksichtigt“ (HERRGEN et al. 2001, 2, vgl. auch LAMELI 2004, 74–75). Ebenfalls unberücksichtigt bleibt die Realisationsphonetik. Da es sich um einen phonetischen Abstand zur Bestimmung der Dialektalität handelt, müssen eo ipso Prozesse, die regulär in freien standardsprachlichen Realisierungen – hauptsächlich in Abhängigkeit der Sprechgeschwindigkeit – auftreten, von der Messung ausgeschlossen werden.233 Die Entscheidung zu treffen, ob eine Abweichung re-
231 Weitere suprasegmentale Merkmale gehen nicht in die Messung ein. LAMELI (2004, 74, Fn. 266) weist zu Recht auf den Mangel an ausreichenden Beschreibungsinstrumentarien als Grund dafür hin. An diesen wird im REDE-Projekt gearbeitet. 232 Denkbar und wünschenswert ist hier eine Erweiterung des phonetischen Dialektalitätswerts durch bspw. einen lexikalischen Index (vgl. HERRGEN et al. 2001, 8). 233 Zu den Erscheinungen und Ursachen der Realisationsphonetik vgl. LAMELI (2004, 76–82).
105
4.3 Analysemethoden
gional oder realisationsphonetisch bedingt ist, ist nicht trivial. Sie ist nur in akzentuierten Silben eindeutig möglich. Fast alle der als realisationsphonetisch eingestuften Phänomene sind für die Realisation der Standardsprache auf unakzentuierte Silben bzw. Positionen beschränkt, wohingegen sie in regionalsprachlichen Sprechlagen auch in akzentuierten Silben auftreten können. Letztlich muss im Einzelfall auditiv entschieden werden, wie die Abweichung zu bewerten ist und somit, ob sie in die Messung einbezogen oder von ihr ausgeschlossen wird (vgl. HERRGEN et al. 2001, 6). Im Zweifelsfall gilt, dass die Differenzen eher von der Messung ausgeschlossen werden. Zu den Reduktionen in nicht akzentuierten Positionen zählen auch die sogenannten schwachen Formen (vgl. JONES 1962, 126), die hauptsächlich Pronomen, Artikel, Formverben, Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien umfassen, wie bspw. [n̩] für [a͡ ̠ enən] (einen) oder [fʏɐ] für [fyːɐ] (für) (vgl. HERRGEN et al. 2001, 7). Eine ausführliche Übersicht der schwachen Formen und nicht berücksichtigten realisationsphonetischen Phänomene ist bei LAMELI (2004, 268–271) zu finden (vgl. dazu auch HERRGEN et al. 2001, 7, zu den Prozessen allgemein KOHLER 1995, 201–220). Als Beispiele dienen hier zwei Phänomene: (I) Konsonantenassimilation wie in eben [eːbən] > [eːbⁿm̩] und (II) pro- oder enklitische Reduktion von es wie in es macht [ɛs ma̠xt] > [sma̠xt] (vgl. LAMELI 2004, 269). Folgendes Messbeispiel soll die Ausführungen veranschaulichen: Orthografie
Gemüse
realisierte Äußerung
ɡ̊
ə
m
ɔ͡ɘ
s
-
Orthoepie
ɡ
ə
m
yː
z
ə
Punkte
0
0
0
3
0
1
Ʃ 4 Punkte
Abb. 4-2: Beispiel Dialektalitätswertmessung Gemüse
Im Beispiel in Abb. 4-2 steht der standardsprachlichen Aussprache von Gemüse [ɡəmyːzə] eine dem Zentralhessischen entsprechende Form [ɡ̊əmɔ͡ɘs] gegenüber. Die Abweichung im ersten Segment, dem anlautenden Plosiv, wird nicht berücksichtigt, da die tendenzielle Entstimmung in dieser Position als standardsprachlich zulässig gilt. In den nächsten beiden Segmenten besteht kein Unterschied zur Orthoepie. Dem standardsprachlichen Monophthong entspricht in der realisierten Form ein Diphthong, sodass hier gemäß den Regeln ein Wert von drei Punkten vergeben wird. Die letzten beiden Segmente müssen gemeinsam betrachtet werden: der Ausfall des Schwa wird – als Phänomen des Zentralvokalbereichs – mit einem Punkt bewertet, die darauffolgende Auslautverhärtung des alveolaren Frikativ ist ein Folgephänomen des Ausfalls und wird demnach ausgeschlossen. Für dieses Wort kann also ein D-Wert von 4 Punkten ermittelt werden. Nach der Messung der Probe werden die Rohpunkte addiert und durch die Wortanzahl der Probe dividiert und somit der Dialektalitätswert (pro Wort) ermittelt. Dies bedeutet, dass durchschnittlich bei einem D-Wert von 1 in jedem Wort
106
4 Anlage der empirischen Untersuchung
ein phonetisches Merkmale von der Standardlautung abweicht, bei einem Wert von 0,5 betrifft dies jedes zweite Wort und bei einem Wert von 2 sind es pro Wort Differenzen in zwei phonetischen Merkmalen. 4.3.1.2 Anwendung des Verfahrens Für die vorliegende Arbeit wurden die Dialektalitätswerte auf Grundlage des Programms PAM (phonetische Abstandsmessung) (vgl. LÜDERS 2013; i. Bearb.) ermittelt. Das Programm PAM wird im Rahmen einer Dissertation (vgl. LÜDERS i. Bearb.) entwickelt und befindet sich in einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase, sodass es unter anderem im REDE-Projekt bereits zur Anwendung kommt. Es basiert auf dem vorgestellten Messverfahren und verfolgt das Ziel, dieses weitestgehend zu automatisieren. Das Programm ermittelt in erster Linie einen phonetischen Abstandswert, durch die Implementierung zahlreicher Ausnahmeregeln (v. a. der Realisationsphonetik) wird versucht, dem Dialektalitätswert (4.3.1.1) nahe zu kommen. Grundlage für die automatisierte Messung ist die Vorlage eines PraatTextGrids, in dem die orthografische und phonetische Transkription der sprachlichen Äußerung wortweise enthalten sein muss. Das Programm erzeugt nun auf Grundlage der Orthografie mit Hilfe einer Aussprachetabelle – basierend auf Wörterbüchern der Projekte VMlex (Verbmobil) und HADI-BOMP – die orthoepische Fassung der Sprachprobe (vgl. LÜDERS 2011).234 Nun gleicht das Programm die beiden Fassungen (Orthoepie und realisierte Äußerung) miteinander ab. Dazu werden die Segmente in einen phonetischen Merkmalsstrang umgesetzt. Dieser besteht für jeden Laut aus einer spezifischen Kombination definierter Werte der phonetischen Merkmale, die numerisch kodiert sind. Diese Merkmalsstränge werden nun segmentweise über einen Algorithmus miteinander verglichen und die Differenz ermittelt. Die Differenz wird auf Grundlage des Regelsystems der phonetischen Dialektalitätsmessung mit Punkten versehen. Im Programm sind mehrere komplexe Filter implementiert, um die Ausnahmen (Folgephänomene, Realisationsphonetik, schwache Formen) zu identifizieren und danach nicht zu berücksichtigen. Am Ende der automatisierten Messung erhält man den Punkterohwert und den D-Wert pro Wort sowie ein Messprotokoll, das die erkannten Differenzphänomene und Ausnahmen ausweist. Die Messung an sich ist automatisiert, doch bedarf die Vorbereitung der Proben eines manuellen Eingriffs. Für die Messung ist eine identische Anzahl von Segmenten in den beiden Fassungen notwendig. Da diese aber häufig nicht übereinstimmen, müssen die Segmentzahlen manuell abgeglichen und für ausgefallene oder hinzugefügte
234 Die Aussprachetabelle enthält bereits zahlreiche Einträge und wird von den Nutzern des Programms PAM durch manuelle Nachträge sukzessive erweitert.
4.3 Analysemethoden
107
Segmente Platzhalter („_“) eingefügt werden.235 Insgesamt kann die Anwendung des Programms PAM als halbautomatische Messung bezeichnet werden.236 Für die vorliegende Arbeit wurden für jede Sprachprobe Ausschnitte von 200 bis 300 Wörtern gemessen (für den „Nordwind“ jeweils die vollständige Sprachprobe von durchschnittlich 111 Wörtern).237 Gemessen wurde mit der PAMVersion 0.3.17238 und der Konfiguration DSA-Standard (vgl. PAM > Sonstiges > Konfiguration), die innerhalb des REDE-Projekts entwickelt wurde. Da das Programm PAM – wie erwähnt – in erster Linie einen phonetischen Abstand misst, wird durch die Implementierung von Ausnahmeregeln versucht, dem phonetischen Dialektalitätswert nach HERRGEN / SCHMIDT (1989) und LAMELI (2004) nahe zu kommen, letztlich kann dies aber nicht vollständig automatisiert werden. Wie beschrieben, muss teilweise im Einzelfall – auditiv – entschieden werden, ob eine Abweichung als realisationsphonetisch oder eben regionalsprachlich motiviert eingestuft wird. Dies kann nur von einem „intelligenten“ Hörer geleistet werden. Es bedarf somit eines manuellen Eingriffs, um aus dem von der PAM ermittelten phonetischen Abstandswert tatsächlich einen phonetischen Dialektalitätswert zu generieren. Die Messungen hier haben gezeigt, dass das Programm an sich gut funktioniert und Werte ermittelt, die dem D-Wert recht nahe kommen. Es wurde aber auch deutlich, dass gerade in den Proben der freien Gespräche vergleichsweise hohe PAM-Werte gemessen wurden. Als Ursache konnte die sehr feine phonetische Transkription identifiziert werden. Diese bietet generell zahlreiche Vorteile, führt bei der automatischen Abstandsmessung aber dazu, dass das Programm nicht alle Differenzen erkennt, die (eindeutig) realisationsphonetisch und nicht regionalsprachlich motiviert sind bzw. auch minimale Abweichungen, die notiert wurden, misst, obschon diese beispielsweise koartikulatorischen Ursprungs sind.239 Für die Arbeit hatte dies zur Folge, dass die PAM-Werte im Anschluss manuell-intellektuell korrigiert wurden und darüber der Dialektalitätswert generiert wurde. Grundlage dieser Kontrolle waren die oben beschriebenen
235 PAM schlägt in den meisten Fällen einen Platzhalter vor. Dieser befindet sich aber nicht immer an der richtigen Stelle, sodass auch bei den Vorschlägen oft manuell eingegriffen werden muss. 236 Für eine konkrete Anleitung zur Nutzung der PAM vgl. MEINCK / LIMPER (2013). 237 Die Größe des Ausschnittes richtet sich nach KEHREIN (2012, 83), der diese wählt, um über die Masse der Segmente mögliche Messfehler zu minimieren. Allgemein kann ab einer Segmentzahl von > 100 mit verlässlichen Ergebnissen gerechnet werden (vgl. LÜDERS 2011). 238 Manche Proben wurden mit einer früheren Version gemessen. Diese wurden jedoch manuell angeglichen (s. u.). 239 An dieser Stelle sei betont, dass dies nicht als Kritik an dem Verfahren zu verstehen ist. Die PAM ist primär als Anwendung zur Bestimmung des phonetischen Abstands gedacht und eignet sich dafür sehr gut. Durch die sukzessive Implementierung der Ausnahmeregelungen kommt der PAM-Wert dem D-Wert recht nahe. Hier hat sich herausgestellt, dass eine gröbere phonetische Transkription, die keine sehr feinen artikulatorischen Abweichungen notiert, besser als Grundlage einer PAM-Messung – mit dem Ziel einer größeren Annäherung an den Dialektalitätswert – geeignet ist als eine feinphonetische Transkription.
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
Regeln und Ausnahmen. Hierbei wurden – mit Hilfe eines auditiven Abgleichs – die besagten Einzelfallentscheidungen getroffen. Es wurden viele Merkmale nicht berücksichtigt, die zwar feinphonetisch notiert wurden, aber eindeutig der Realisationsphonetik zugewiesen werden konnten.240 Die hier aus den PAM-Werten manuell generierten Dialektalitätswerte sind untereinander vergleichbar und können an den sieben Untersuchungsorten in Bezug zueinander gesetzt werden. Im Vergleich zu bisherigen Messungen (vgl. etwa STEINER 1994 oder KEHREIN 2012) muss die unterschiedliche Messmethode (halbautomatisch mit Korrektur vs. rein manuell-intellektuell) stets berücksichtigt werden. Bisherige Vergleiche haben gezeigt, dass die PAM-basierten Werte insgesamt geringfügig höher sind als die manuell gemessenen. Das Verhältnis der Dialektalitätswerte an sich, das heißt die Struktur, die sich aus den D-Werten der Sprachproben eines Sprechers ergibt, kann aber direkt miteinander in Bezug gesetzt werden. Dies bedeutet, dass beim Vergleich von absoluten Werten Vorsicht geboten ist, relativ aber Bezüge zu anderen Messungen hergestellt werden können. 4.3.2 Variablenanalyse Das quantitative Verfahren der Variablenanalyse ermöglicht Aussagen über die Verteilung von Varianten aus kontrastierenden Systemen. Mit dieser Methode können die relativen Anteile einer regionalsprachlichen Variante in den Sprachproben berechnet werden.241 In der deutschsprachigen Regionalsprachenforschung wurde die Methode von STELLMACHER (1977) etabliert und unter anderem von MATTHEIER (1979; 1980) weiterentwickelt. Seitdem ist sie Bestandteil der meisten regionalsprachlichen Studien (vgl. als beispielhaften Überblick SCHMIDT / HERRGEN 2011, 307–320). KEHREIN (2012, 84) differenziert zwei Schritte einer Variablenanalyse: (1) Bestimmung der Variablen und (2) Frequenzanalyse (vgl. zu diesem Abschnitt allgemein KEHREIN 2012, 84–87). (1) Der erste Schritt dient dem Ziel, die Varianten zu bestimmen, die sich in verschiedenen Systemen gegenüberstehen und zusammen eine Variable bilden. Als anschauliches Beispiel können die lexikalischen Varianten Fleischer, Metzger, Schlachter usw. dienen, die zusammen die Variable ‘fleischverarbeitender
240 So wurden auch weitere schwache Formen definiert, die sich aus der feinphonetischen Differenzierung des Zentralvokalbereichs ergaben. Bei LAMELI (2004, 269) werden [fʏ] und [fə] als schwache Formen der Präposition für [fyːɐ] in den entsprechenden Positionen akzeptiert. Die Variante [fɵ̟], die artikulatorisch zwischen der Vollform und der maximal reduzierten Form lokalisiert ist, kann als weitere zulässige schwache Form aufgeführt und somit – in unakzentuierten Positionen – von der Messung ausgeschlossen werden. 241 Die Methode stellt eine geeignete Ergänzung zur Messung des Dialektalitätswerts dar, da hier die Dialektalität tw. auf die regionalsprachlichen Merkmale zurückgeführt werden kann (vgl. KEHREIN 2012, 84–85).
4.3 Analysemethoden
109
Berufʼ konstituieren. Auf diese Weise können alle Varietäten verglichen werden, die miteinander verwandt sind, so z. B. verschiedene Dialekte des Deutschen, oder – wie in dieser Arbeit – die Standardvarietät mit verschiedenen regionalsprachlichen Varietäten. Da in dieser Arbeit phonetisch-phonologische Variablen untersucht werden, kann die Standardsprache als Bezugssystem nur teilweise herangezogen werden. Aufgrund unterschiedlicher lauthistorischer Entwicklungen können einer standardsprachlichen Variante mehrere regionalsprachliche Varianten systematisch gegenüberstehen. „Aus diesem Grund ist die Verwendung der idealisierten historischen Bezugsysteme als gemeinsame Grundlage für die Varietäten des Deutschen […] unerlässlich“ (KEHREIN 2012, 85).242 Deutlich wird dies am Beispiel des standardsprachlichen Lauts [a͡ ̠ e].243 Dieser entspricht in den zentralhessischen Basisdialekten bspw. in den Lexemen heiß, weiß (Verb), Bein, Seife dem Monophthong [a̠ː]. In den Lexemen Eis, mein, weiß (Farbe) usw. würden die Sprecher des Zentralhessischen den Laut [a͡ ̠ e] artikulieren. Dies liegt nicht etwa daran, dass es einen Wandel im Dialekt gegeben hat. Beide Fälle entsprechen den zentralhessischen Basisdialekten. Der Unterschied liegt in den lauthistorischen Bezügen. Während der Vokal in den Beispielen heiß, Bein usw. auf mhd. ei zurückgeht, ist der historische Bezugslaut für den Vokal in den Beispielen Eis, mein usw. mhd. î. Beide mittelhochdeutschen Laute sind in der Standardvarietät zusammengefallen, werden aber im Zentralhessischen – und anderen Dialekten – differenziert, weswegen sie auch bei der Variablenanalyse getrennt behandelt werden müssen. Auszuwählen sind in diesem konkreten Beispiel die Entsprechungen von mhd. ei, da hier zwischen den beiden Systemen Standardsprache und zentralhessischer Basisdialekt ein Kontrast besteht (VarianteStd [a͡ ̠ e] vs. VarianteZH [a̠ː]).244 Die Bestimmung der Variable ist mit dem historischen Bezugslaut noch nicht hinreichend. Es muss zudem der lautliche Kontext und die Position des Lautes beachtet werden. Im Silbenauslaut erscheint auch für mhd. ei in den zentralhessischen Basisdialekten regelhaft [a͡ ̠ e] (Bsp. Mai).245 Da in diesen Fällen kein Kontrast zur Standardsprache besteht, muss diese lautliche Position in der Analyse unberücksichtigt bleiben. Die Variable ist somit wie folgt zu definieren: Entsprechungen von mhd. ei im Nukleus vor Konsonant.246 In dieser Arbeit wurden
242 In den Fällen, in denen der standardsprachlichen Variante systematisch nur eine regionalsprachliche Variante gegenübersteht, ist keine lauthistorische Differenzierung notwendig, sodass aus pragmatischen Gründen die Standardsprache als Bezugssystem verwendet werden kann (vgl. u. a. Kap. 4.4.3.2). 243 Vgl. auch das analoge Beispiel zu [a͡ ̠ e] bei KEHREIN (2012, 85–86) im Hochalemannischen, hier allerdings mit anderer Verteilung im Basisdialekt. 244 Bei den Entsprechungen von mhd. î besteht zwischen den beiden Varietäten ein Nullkontrast (VarianteStd [a͡ ̠ e] = VarianteZH [a͡ ̠ e]). Die Variable kann deshalb aus der Analyse ausgeschlossen werden. 245 Vgl. Kap. 4.4.1.2 und bspw. ALLES (1954, § 406). 246 Weitere einzellexematische Einschränkungen sind notwendig (vgl. Kap. 4.4.1.2), was zeigt, dass die Bestimmung der Variable exakt sein muss, da sonst die Ergebnisse verfälscht würden (vgl. auch KEHREIN 2012, 86).
110
4 Anlage der empirischen Untersuchung
19 phonetisch-phonologische Variablen untersucht (vgl. Kap. 4.4 für die Beschreibung der Variablen). Davon kann eine Variable als lexikalisierte lautliche Form gelten. (2) Nach der Definition der Variablen kann die Frequenzanalyse durchgeführt werden (auch Type-Token-Analyse genannt). Bei diesem Schritt werden je Sprachprobe die relativen Anteile der standardsprachlichen und standarddifferenten Varianten berechnet. Voraussetzung für die Quantifizierung ist die ausreichende Belegzahl der Variable im Korpus. KEHREIN (2012, 86) gibt als Richtwert an, dass die Variable in allen Sprachproben eines Sprechers mindestens 100 Mal und in jeder Sprachprobe mindestens 10 Mal belegt sein sollte. Diese Angaben wurden in der Arbeit berücksichtigt. Für die freien Gespräche wurden der Analyse jeweils Ausschnitte von ca. 1100 Wörtern zugrunde gelegt,247 bei Bedarf auch größere Ausschnitte. Die für die Standard- und Dialektkompetenzerhebung verwendeten Wenkersätze umfassen ca. 480 Wörter. Hier wurden die vollständigen Transkriptionen für die Variablenanalyse verwendet. Da der Vorlesetext „Nordwind und Sonne“ mit Überschrift nur 111 Wörter enthält, eignet er sich nicht für eine Variablenanalyse. Die ausreichende Auftretenshäufigkeit von Variablen ist einer der Kritikpunkte an der Methode (vgl. bspw. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 310). Sie stellt eine „forschungspraktische Notwendigkeit“ dar und führt dazu, dass „keine vollständige Beschreibung der jeweiligen regionalsprachlichen Struktur vorgelegt werden kann“ (KEHREIN 2012, 87).248 Teilweise kann es durch die Struktur der Wenkersätze und zusätzlich individueller Abweichungen von der Vorgabe dazu kommen, dass die Mindestzahl der Variablenbelege nicht vorliegt. In Tab. A7 im Anhang sind für alle Variablen die absoluten und relativen Werte der Varianten aufgeführt. Die Belege, bei denen n < 10 ist, sind transparent – kursiv – ausgewiesen. Die Variable wurde in diesen Fällen dennoch – auch aus Gründen der Vergleichbarkeit – untersucht.249 Die Werte sind näherungsweise zu verstehen und bei den Auswertungen wird dies berücksichtigt. Zusätzlich werden die Daten stets kombiniert – das heißt umfassend mit den Daten anderer Variablen, anderer Sprecher, anderer Erhebungssituationen und anderer Orte – betrachtet und miteinander in Bezug gesetzt (vgl. Tab. 4-4). Zudem ist es notwendig, durch Methodenkombination eine umfassende Beschreibung der Regionalsprachen zu
247 Für diese Ausschnitte wurden jeweils ca. 360 Wörter am Anfang, in der Mitte und am Ende der transkribierten Sprachprobe gewählt. 248 MATTHEIER (1979, 164–165) gibt die ausreichende Auftretenshäufigkeit als ein entscheidendes Auswahlkriterium für Variablen an. In dieser Arbeit wurde versucht, innerhalb der gegebenen Einschränkungen, die sich u. a. durch die regionalen Merkmale der untersuchten Orte und v. a. der Beschreibungen der neuen Formen regionalen Sprechens (vgl. Kap. 3.4) ergeben, eine möglichst geeignete Auswahl an Variablen zu treffen. 249 Ein Vorteil der Wenkersätze ist die Vergleichbarkeit innerhalb des Korpus. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei dennoch um klare Fälle. Soweit möglich wurde zudem für die standardintendierten Wenkersätze ein Abgleich mit den „Nordwinden“ durchgeführt, der den Befund bestätigt und somit für diese Fälle die Daten validieren kann (vgl. Tab. A7 im Anhang).
4.3 Analysemethoden
111
erbringen, die auch hier erfolgt. Nur die Kombination der Auswertungen der einzelnen Analysemethoden führt zu einem „validen Gesamtergebnis“ (KEHREIN 2012, 86, Fn. 84, vgl. auch SCHMIDT / HERRGEN 2011, 362–363, Kap. 4.3.5).250 Deshalb wurden ebenfalls die standarddifferenten Merkmale qualitativ betrachtet (vgl. dazu u. a. VORBERGER 2015, 302, SCHMIDT / HERRGEN 2011, 363). Dabei wurden in den Sprachproben – ohne Vorannahmen – die standarddifferenten Merkmale (exhaustiv) erfasst, dann unter Hinzuziehung der Literatur klassifiziert und letztlich systematisiert. Der Nachteil dieser Methode ist, dass keine Frequenzen ermittelt werden (bzw. nicht exakt und quantitativ ermittelt werden). Da sie qualitativ angelegt ist, können Frequenzen und sonstige Auffälligkeiten jedoch in der Beschreibung der Merkmale aufgegriffen und thematisiert werden. Der Vorteil der Methode ist, dass keine Merkmale ausgeschlossen werden und alle Abweichungen erfasst werden können. Sie kann als geeignete Ergänzung der quantitativen Variablenanalyse betrachtet werden. Die qualitative Variantenanalyse wurde hauptsächlich für die Sprachproben der Standard- und Dialektkompetenzerhebungen durchgeführt, um die jeweiligen Kompetenzen genauer zu bestimmen und die Ergebnisse der Variablenanalysen zu ergänzen (s. o.). Hierfür ist außerdem die Betrachtung von Merkmalen wichtig, die ggf. bei der Variablenanalyse ausgeschlossen werden mussten, für die Bestimmung von Mustern und der Kompetenzen aber notwendig sind (bspw. Hyperformen). Auf diese Weise kann auch die Restarealität in den standardnächsten Sprechlagen der Sprecher bestimmt werden (vgl. dazu bspw. KEHREIN 2012, 101–104). 4.3.3 Clusteranalyse Es wurden auf Grundlage der Ergebnisse der Variablenanalysen Clusteranalysen durchgeführt, um diese zu strukturieren und um mögliche Aussagen zu regionalsprachlichen Spektren treffen zu können (vgl. dazu LENZ 2003, 218–219, KEHREIN 2012, 193–194). Die Clusteranalyse ist ein multivariates statistisches Verfahren, „das Untersuchungsobjekte anhand ihrer Merkmalsausprägungen in homogene Gruppen (Cluster)“ einteilt, „die sich untereinander maximal unterscheiden“ (DÖRING / BORTZ 2016, 624–626, im Original tw. fett).251 Die Untersuchungsobjekte für die Analyse dieser Arbeit sind die bei der Variablenanalyse untersuchten 250 Vgl. zu diesem Vorgehen auch KEHREIN (2012). Es entspricht auch dem von LENZ (2003), nur in anderer Reihenfolge. LENZ (2003, 69) fasst die Daten für alle Sprecher zusammen und differenziert im Anschluss. Die Werte beruhen bei den Kompetenzerhebungen tw. auf denselben bzw. vergleichbaren Einzelbelegzahlen wie in dieser Untersuchung (vgl. bspw. mhd. ou, mhd. ei, nicht LENZ 2003, Kap. 3.3.3.2, 3.3.3.4, 3.3.11). Für die weiteren Analysen – auch für einzelne Aufnahmen bei den Clusteranalysen wie in der vorliegenden Arbeit (vgl. LENZ 2003, Kap. 4.2.2.2) – verwendet sie die Daten und kommt durch eine Kombination der Methoden und Daten zu validen Ergebnissen. 251 Vgl. zur Methode auch LENZ (2003, 218–222), die anschaulich und detailliert das Verfahren an sich und die Funktionsweise darstellt, sowie ZWICKL (2002, 52–53, 213–229).
112
4 Anlage der empirischen Untersuchung
Sprachproben, die Merkmale sind die untersuchten Variablen und die Merkmalsausprägungen sind die relativen Anteile der regionalsprachlichen Varianten. Das Sprachverhalten der Sprecher – charakterisiert durch die Variantenverteilung – in den Aufnahmen, die zu einem Cluster zusammengefasst wurden, kann demnach als ähnlich angesehen werden (homogene Gruppe) und unterscheidet sich von dem Sprachverhalten anderer Cluster (maximal unterschiedlich). Aus diesem Ergebnis „lassen sich Hypothesen zu möglichen Sprachverhaltensmustern (= Sprechlagen) ableiten“ (KEHREIN 2012, 194). Dazu müssen die Clusterlösungen der Analyse mit linguistischen (bzw. auch extralinguistischen) Kriterien in Bezug gesetzt werden. Dies zusammen mit der Betrachtung der statistischen Clusterunterschiede ermöglicht, die „optimale“ Clusterung (LENZ 2003, 218) zu finden und die einzelnen Cluster zu charakterisieren (vgl. LENZ 2003, 221–222 und s. u.). In dieser Arbeit wurde das Programm SPSS (Version 22.0.0.0) verwendet. Es wurde die für die Daten und die Ziele geeignete hierarchische Ward-Methode gewählt, die mit quadrierten euklidischen Distanzen arbeitet.252 Visualisiert werden die Ergebnisse der Clusteranalyse in einem Dendrogramm, das mit SPSS generiert werden kann (vgl. als Beispielanalyse auch LENZ 2003, 219–222). Nach der Betrachtung der statistischen Unterschiede müssten die einzelnen Cluster mit linguistischen Kriterien in Bezug gesetzt werden, um einerseits die Sinnhaftigkeit der Clusterung zu überprüfen und andererseits die jeweiligen Cluster zu beschreiben. In der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse der Clusteranalysen deshalb mit den Ergebnissen der Variablenanalysen kombiniert, um mit den spezifischen Variantenverteilungen (= linguistische Kriterien) der klassifizierten Aufnahmen das Cluster zu charakterisieren und Aussagen über Sprachverhaltensmuster und die Struktur der regionalsprachlichen Spektren abzuleiten. Zusätzlich werden sie mit theoretischen Analysen der Merkmale (vgl. Kap. 4.3.5) und den Clusteranalysen weiterer Untersuchungsorte in Bezug gesetzt.253 4.3.4 Implikationsanalyse Die Implikationsanalyse ist ein Verfahren, das Merkmale skaliert und versucht, hierarchisch zu ordnen. Anhand der Skalierung können Aussagen über die Beziehung der Merkmale gemacht werden und Hypothesen – im Sinne von: „ist Merkmal a in einem bestimmten Kontext vorhanden, tritt auch Merkmal b auf“ – abge-
252 Für die Clusteranalysen wurden zusätzlich Kontrollanalysen durchgeführt. Bei diesen wurden für kritische Werte bei relativen Anteilen (vgl. Kap. 4.3.2, Tab. A.7) mit einem Varianzbereich von 10 % gerechnet. Die Kontrollen konnten die Ergebnisse, die in den einzelnen Ortskapiteln präsentiert werden, bestätigen (vgl. auch Fn. 250). 253 Dies ist auch deshalb notwendig, da die Clusteranalyse als statistisch-quantitatives Verfahren keine Qualitäten berücksichtigt. Diese sind bei der Ableitung der Struktur der regionalsprachlichen Spektren (Bestimmung von Varietäten und Sprechlagen, vgl. Kap. 2.2.2) aber zu berücksichtigen, da die einzelnen Merkmale unterschiedliche systemische Relevanz aufweisen.
4.3 Analysemethoden
113
leitet werden (vgl. DE CAMP 1971, LAMELI 2004, 185–186, DITTMAR 1997, 277– 278). In der Linguistik werden oft die implikativen Beziehungen von Merkmalen bei verschiedenen Sprechern untersucht und Abbauhierarchien der Merkmale erstellt (vgl. u. a. LAMELI 2004, 187–193).254 Es kann bei der Anwendung des Verfahrens zwischen qualitativen und quantitativen Analysen unterschieden werden. Die qualitativen Implikationsanalysen differenzieren Merkmale binär (Vorhandensein vs. Nichtvorhandensein). Dies abstrahiert stark von der tatsächlichen Verteilung der Merkmale und verdeckt die Variation. Deswegen werden bei eher quantitativen Implikationsanalysen Schwellenwerte für die Differenzierung verwendet, dreiwertige Skalierungen vorgenommen und/oder Skalierungsfehler gemessen, um Abweichungen (Deviationen) von idealen Implikationen zu eliminieren (vgl. DITTMAR 1997, 278–286, LAMELI 2004, 188–190). In dieser Arbeit wird die Implikationsanalyse nicht primär für Aussagen über Abbauhierarchien von Merkmalen und zur Hypothesengenerierung verwendet. Die tatsächliche – binär kodierte – Verteilung der Merkmale auf die Sprachproben wird untersucht (d. h. hier Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der regionalsprachlichen Varianten der Variablen), um so kategoriale Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Verteilungen zu ermitteln.255 Das heißt, dass bei dieser Anwendung der Implikationsanalyse untersucht wird, welche regionalsprachlichen Merkmale sich aufgrund der Variantenverteilung ähneln, somit zu Gruppen zusammengefasst werden können und Rückschlüsse auf systemische Unterschiede zulassen. Dies wiederum ermöglicht es, Aussagen über „kategoriale Grenzen zwischen Varietäten“ (DITTMAR 1997, 284) innerhalb des Spektrums zu treffen.256 Aus diesem Grund wird hier eine eher qualitative Implikationsanalyse mit binärer Kodierung und keinem Schwellenwert gewählt (vgl. DITTMAR 1997, 277– 282). Der Vorteil hierbei ist, dass Aussagen über die kategoriale Verteilung der regionalsprachlichen Varianten – ohne Verwendung der Frequenzwerte (vgl. Kap. 4.3.2) – und somit über die Strukturen im Spektrum getroffen werden können. Der Nachteil ist, dass jegliche Variation in der Verteilung – sowohl zwischen Sprechern als auch zwischen verschiedenen Erhebungssituationen – verdeckt wird, deren Analyse aber für eine Spektrumsuntersuchung notwendig ist. Diese Analyse wird unter anderem mit der Variablenanalyse (vgl. Kap. 4.3.2) erbracht, sodass die Implikationsanalyse hier als ergänzende Methode mit der Variablenanalyse kombiniert wird, um auf diese Weise eine umfassende Untersuchung des regio-
254 Vgl. als Übersicht zur Anwendung der Implikationsanalyse in der Linguistik u. a. DITTMAR (1997, 277–287). 255 Hier werden die Merkmale daher nicht in Relation zu Sprechern (vgl. bspw. LAMELI 2004), sondern in Relation zu den untersuchten Sprachproben dargestellt. 256 Die Implikationsanalyse dient also nicht nur der Bildung von Hypothesen und Prognosen über Merkmalsverteilungen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 344), sondern kann derart auch für Spektrumsanalysen verwendet werden.
114
4 Anlage der empirischen Untersuchung
nalsprachlichen Spektrums vorzunehmen (vgl. zur notwendigen, gleichzeitig optimierenden Kombination der beiden Methoden DITTMAR 1997, 283, 285).257 4.3.5 Zusammenfassung der Analysemethoden Zusätzlich zu den vorgestellten Analysemethoden werden auch subjektive Daten der untersuchten Sprecher ausgewertet und berücksichtigt. Außerdem werden theoretische Analysen der Merkmale – hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Standardsprache und ihrer Systemhaftigkeit – vorgenommen. In dieser Arbeit wird daher versucht, durch die Kombination verschiedener Auswertungsmethoden und die Kombination der einzelnen Daten (vgl. Kap. 4.3.2) ein valides Gesamtergebnis zu erzielen (vgl. Tab. 4-4 und KEHREIN 2012, 86, Fn. 84).258 D-Wertmessung Variablenanalyse Clusteranalyse Qualitative Analyse
Variablen Gesamtergebnis
Implikationsanalyse
Sprecher Situationen
Daten
Orte
Theoretische Analyse Tab. 4-4: Methoden- und Datenkombination der Untersuchung
257 Durch diese Kombination der Methoden scheint eine qualitative Anwendung der Implikationsanalyse sinnvoll. Deshalb werden auch keine statistischen Optimierungsverfahren angewendet. So sind bspw. Deviationen (s. o.) relevant für Aussagen über die Struktur des Spektrums und sollten deshalb nicht eliminiert werden. 258 Des Weiteren können zur Validierung der Ergebnisse die Ergebnisse der anderen Untersuchungsorte sowie die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen herangezogen werden.
4.4 Beschreibung der Variablen
115
4.4 BESCHREIBUNG DER VARIABLEN Als Variablen für die Untersuchung wurden verschiedene Variationsphänomene gewählt. Hierzu wurde für den Vokalismus das Mittelhochdeutsche als Bezugssystem verwendet, für den Konsonantismus und die Nebensilben das Westgermanische bzw. die Standardsprache (vgl. Kap. 4.3.2). Die Variablen können anhand des vertikalen wie horizontalen Auftretens der standarddifferenten Varianten in folgende Gruppen unterteilt werden: Gruppe 1 umfasst sechs Variablen, bei denen dialektale Varianten mit den standardsprachlichen kontrastieren und die im gesamten Untersuchungsraum (ZH, ÜG und RF) vorkommen und deshalb an allen Untersuchungsorten ausgewertet wurden. Gruppe 2 beinhaltet Variablen, bei denen die dialektale Variante spezifisch für die jeweiligen Dialekträume ist und die mit der standardsprachlichen Variante in Kontrast steht. Für das Zentralhessische wurden vier, für Frankfurt zwei und für das Rheinfränkische drei Variablen in dieser Gruppe untersucht. Den beschriebenen regionalsprachlichen Entwicklungen (vgl. Kap. 3.4) wird insofern Rechnung getragen, als Gruppe 3 zwei Variationsphänomene einschließt, bei denen für den Raum des Zentralhessischen die dialektale und standardsprachliche Variante identisch sind und mit einer „neuen“ standarddifferenten Variante kontrastieren. Aus diesem Grund lässt sich auch für das Zentralhessische von neuen regionalsprachlichen Varianten sprechen. Für das Rheinfränkische und die Stadt Frankfurt hingegen gelten diese Varianten als dialektal.259 Zwei weitere Variationsphänomene bilden Gruppe 4, da hier für den gesamten Untersuchungsraum von neuen regionalsprachlichen Varianten ausgegangen werden muss. Das heißt, hier kontrastiert die neue Variante mit der standardsprachlichen, die in den drei Räumen identisch mit der dialektalen Form ist. Die jeweiligen Gruppen können dann noch weiter in die Bereiche Vokalismus, Konsonantismus und Nebensilben differenziert werden.260
259 Auch wenn für Frankfurt kein Dialekt mehr anzunehmen ist, sondern wie ausgeführt ein Regiolekt (vgl. Kap 3.3.4), wird hier der Literatur entsprechend (s. u.) und der Einfachheit halber bei den standarddifferenten Varianten, außer in Gruppe 4, von dialektalen Varianten gesprochen. 260 Eine Validierung der Merkmale ermöglichen die Aufnahmen der Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek. In Anlehnung an das Phonogramm-Archiv der Akademie der Wissenschaften in Wien wurden als Sonderaufgabe der Lautabteilung in Marburg unter FERDINAND WREDE im Zeitraum von 1922 bis 1926 u. a. Aufnahmen der Wenkersätze angefertigt (vgl. GÖSCHEL 1977, 11–12, 52). Leider schränkt die Qualität der Aufnahmen, die im Marburger Göschel-Archiv vorhanden sind (261 Stück) und tw. digitalisiert vorliegen, die Analyse des Materials ein (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 116–117). Die hier betrachteten Aufnahmen (LA 324 Gelnhausen, LA 364 Zell/Bad König, LA 366 Sachsenhausen, LA 379 + 381 Eckartshausen/Büdingen, LA 503 – 505 Oberrad, LA 592 + 594 Langgöns) sind für weitergehende Analysen nicht geeignet, eine Überprüfung des Vorkommens oder eben des Nichtvorkommens der Merkmale war aber möglich.
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
4.4.1 Variablen der Gruppe 1 4.4.1.1 mhd. ou261 Mhd. ou entspricht in der neuhochdeutschen Standardsprache der Diphthong [a͡ ̠ o] (wie in auch, kaufen, Baum). Für den gesamten hier untersuchten Sprachraum ist eine monophthongische Variante belegt. Als Leitform kann [a̠ː] angenommen werden (vgl. bspw. Wenkerkarte 125 (Frau) in REDE VI; diese Variante gilt im gesamten Rhein- und Ostfränkischen). Für den Vogelsberg im zentralhessischen Gebiet gibt HASSELBACH (1971, # 112–114) an, dass im größten Teil des Gebiets [a̠ː] vorherrscht, im Osten jedoch [oː] und im Nordosten in manchen Positionen [ɔ͡ʊ]. Der Untersuchungsort Ulrichstein liegt jedoch im [a̠ː]-Gebiet (vgl. HASSELBACH 1971, Karte 31). Für die Stadt Gießen und die westlichen Vororte gilt ebenso [a̠ː], auch wenn sich nordöstlich ein [ɛː]-Gebiet anschließt (vgl. ALFFEN 1922, 7). Auch für die Wetterau gibt ALLES (1954, § 409) die Form [a̠ː] an, die vor Nasal verdumpft werden kann (§ 411). Gleiches gilt für Frankfurt (vgl. RAUH 1921b, 11). Für das Rheinfränkische um Darmstadt ist ebenso der Monophthong [a̠ː] belegt, in einzelnen Belegorten und bestimmten Lemmata kann dieser verdumpft auftreten (vgl. BORN 1938, § 231). Im Odenwald und Erbach notiert FREILING (1929, § 367) auch [a̠ː], wiederum mit tendenziellen Nasalierungen und Verdumpfungen vor Nasal. Untersucht wurden alle Entsprechungen von mhd. ou, dabei wurde auf Grundlage der Literatur kein lautlicher Kontext ausgeschlossen. Als konkurrierende Varianten der Variable wurden standardsprachliches [a͡ ̠ o] und dialektales [a̠ː] gewertet, wobei koartikulatorische Abweichungen in der Realisierung des Monophthongs als Varianten der dialektalen Leitform gezählt wurden (so bspw. die reguläre Verdumpfung vor Nasal).262 4.4.1.2 mhd. ei Der mittelhochdeutsche Diphthong ei wird in der rezenten Standardsprache als [a͡ ̠ e] realisiert, ihm steht ähnlich wie bei mhd. ou im gesamten Untersuchungsgebiet die Leitform [a̠ː] gegenüber (vgl. ALLES 1954, § 403–406, HASSELBACH 1971, # 104, ALFFEN 1922, 6, RAUH 1921b, 10–11, Born 1938, § 227, FREILING
261 Zur Diskussion der sprachhistorischen Entwicklung der Laute vgl. Fn. 55. 262 Ähnlich wie bei der phonetischen Dialektalitätsmessung (vgl. Kap. 4.3.1) wurden realisationsphonetische und sprechsprachliche Aspekte auch bei der Variablenanalyse berücksichtigt. So kann es bei [a͡ ̠ o] in unakzentuierter Position und hoher Sprechgeschwindigkeit zu einer Reduktion des Diphthongs auch bei standardnahem Sprechen kommen. Eine Differenzierung zur dialektalen Form ist aufgrund der jeweiligen Position und der Resultate der phonetischen Prozesse (meist reduzierte, kurze Monophthonge) möglich. Dieser und bei anderen Variablen vergleichbare Fälle wurden bei der Analyse berücksichtigt.
4.4 Beschreibung der Variablen
117
1929, § 362).263 Auch hier kann es vor Nasal zu Verdumpfungen und Nasalierungen, aber auch Hebungen kommen (vgl. bspw. ALLES 1954, § 405 und FREILING 1929, § 103), dies wurde wie bei mhd. ou als reguläre Variante der dialektalen Leitform gewertet. Die kontrastierenden Varianten sind daher der standardsprachliche Diphthong [a͡ ̠ e] und der dialektale Monophthong [a̠ː]. Nicht in die Analyse einbezogen wurde jedoch mhd. ei im Auslaut (wie etwa in Mai), da hier auch in den untersuchten Dialekten der Diphthong [a͡ ̠ e] realisiert wird (vgl. bspw. ALLES 1954, § 406 und BORN 1938, § 227.10) und somit kein Kontrast zur Standardsprache besteht. Alle anderen Kontexte wurden untersucht.264 4.4.1.3 /t, d/-Assimilation Bei der Variable /t, d/-Assimilation (fortan auch t/d-Assimilation) handelt es sich um eine progressive Lautassimilation. Der alveolare Plosiv nach alveolarem Nasal assimiliert sich an diesen, das heißt er gleicht sich diesem in seiner Artikulationsart an ([+kons, −son, −nas] → [−kon, +son, +nas] / [−kon, +son, +nas]_) und wird danach elidiert (Bsp. unten [ʊntən] vs. [ʊnən]). Dieses Phänomen tritt im gesamten Untersuchungsraum auf (vgl. ALLES 1954, § 165, 441, HASSELBACH 1971, # 170, RAUH 1921b, 11, VEITH 1983, 85, BORN 1938, § 354, FREILING 1929, § 226), ist jedoch auf bestimmte Laute und Lautkontexte beschränkt. Zum Kontext ist festzuhalten, dass die Assimilation nur im Inlaut und dort intervokalisch eintritt ({V+n}_/d, t/_{V}) (vgl. bspw. RAUH 1921b, 11 und HASSELBACH 1971, # 170). Des Weiteren beschränkt sich die Assimilation in den Dialekten auf die lautlichen Entsprechungen von westgerm. d, Þ, das heißt in Wörtern wie Winter tritt in den dialektalen Systemen keine Assimilation auf. Bei der Variable /t, d/Assimilation wurden somit die Varianten standardsprachlich [nd, nt] und dialektal [n] gegenübergestellt, dabei wurden nur die inlautende, intervokalische Position und nur die Entsprechungen von westgerm. d, Þ in die Untersuchung einbezogen. 4.4.1.4 /b/-Spirantisierung Ein weiteres Merkmal des Konsonantismus, das sich über den gesamten Raum des Zentralhessischen und Rheinfränkischen (und darüber hinaus) erstreckt, ist die /b/Spirantisierung (fortan auch b-Spirantisierung) (vgl. ALLES 1954, § 438, HASSELBACH 1971, # 165, RAUH 1921b, 11, VEITH 1983, 85, BORN 1938, § 123, FREILING
263 Bei einzelnen Lemmata kann es zu abweichenden Realisierungen kommen. So wird bspw. in Ulrichstein Leiter als [lɛdən] realisiert (vgl. HASSELBACH 1971, # 105). Diese Lemmata wurden jeweils von der Analyse ausgeschlossen. 264 Wenkerkarte 80 (heiß) zeigt, dass auch dieses Merkmal weit verbreitet ist. Allerdings erscheint an den südwestlichen und östlichen Rändern des zentralhessischen-rheinfränkischen Gebiets der Monophthong halboffen als [ɛː] (vgl. REDE VI).
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
1929, § 399). Damit ist gemeint, dass westgerm. b in manchen Kontexten als stimmhafter, labiodentaler Frikativ (Spirans) artikuliert wird (Bsp. aber [a̠ːbɐ] vs. [a̠ːvɜ]). Beschränkt ist dieses Merkmal auf den Inlaut nach Vokalen und Liquiden ({V, r, l }_/b/_) (vgl. bspw. BORN 1938, § 123). Demgegenüber steht in der Standardsprache der stimmhafte, bilabiale Plosiv. KOHLER (1995, 209) gibt an, dass in der gesprochenen Sprache der bilabiale Plosiv in einen homorganen Approximanten „überführt“ werden kann und erklärt dies realisationsphonetisch durch geringeren Artikulationsaufwand. Er merkt jedoch auch an, dass dies hauptsächlich im Schwachton eintritt und gibt als Beispiel dafür habe (vgl. 4.3.1, Realisationsphonetik). Es scheint sich um ein anderes Phänomen als in den Dialekten zu handeln, da es erstens von der Intonation und weiteren sprechsprachlichen Faktoren abhängig ist, zweitens nicht regulär auftritt, drittens nur intervokalisch zu beobachten ist und viertens das Produkt der Spirantisierung ein anderes ist (bilabialer Approximant vs. labiodentaler Frikativ).265 Aus diesem Grund kann das Merkmal als dialektal und standarddifferent gewertet werden und der labiodentale Frikativ dem standardsprachlichen bilabialen Plosiv als Variante gegenübergestellt werden. Untersucht wurde das Phänomen inlautend nach Vokal oder Liquid – ausgeschlossen wurden nur Zweifelsfälle (vgl. Fn. 265).266 4.4.1.5 /n/-Apokope Auch die Variable /n/-Apokope (fortan auch n-Apokope) wurde im gesamten Untersuchungsgebiet ausgewertet. Sie beschreibt die Elision von westgerm. n bei der Endung -en (Bsp. machen [ma̠xən] vs. [ma̠xə]) (vgl. bspw. ALLES 1954, § 129, 446, HASSELBACH 1971, # 141, ALLES 1993, 42, BORN 1938, § 93). Es handelt sich hierbei also um ein Phänomen des Nebensilbenvokalismus. Die Verteilung und Beschränkung des Merkmals legen eine Klassifizierung als phonologisch anstatt morphologisch nahe, was aufgrund der Tatsache, dass es sich auch um ein Suffix handelt, auch möglich wäre. Das Suffix -en kann verschiedene Funktionen erfüllen (polyfunktionales Morph) wie Kasus- und Numerusmarkierung (Bsp. den Tisch-en, die Spatz-en, schlau-en) oder in der Verbalflexion (Bsp. mach-en, geschrieb-en). Es kann allerdings auch als Auslaut einer lexikalischen Einheit fungieren und somit keine grammatische Funktion erfüllen (Bsp. 265 Dennoch muss dieser Aspekt bei der Analyse und der Erklärung der Ergebnisse beachtet werden. Im Zweifelsfall, d. h. bspw. in unakzentuierter Position und hoher Sprechgeschwindigkeit, konnte keine Zuordnung getroffen werden und die entsprechenden Fälle wurden aus der Analyse ausgeschlossen (vgl. auch Fn. 262). 266 Die Beschränkung auf westgerm. b ist nicht notwendig, da alle standardsprachlichen und dialektalen /b/ auf diesen Laut zurückgehen. Zusätzlich muss beachtet werden, dass es durch weitere lautliche Phänomene zu einer Veränderung der Position des Lautes kommen kann. So wird in den untersuchten Dialekten Schwa regulär in vielen Kontexten apokopiert, sodass sich bspw. bei Taube [b] aus dem intervokalischen Inlaut in den Auslaut bewegt und deshalb in diesen Fällen aus der Untersuchung ausgeschlossen werden muss.
4.4 Beschreibung der Variablen
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oben). Unabhängig von der Funktion wird /n/ an allen untersuchten Orten im Dialekt apokopiert (vgl. u. a. FREILING 1929, § 202b).267 Eingeschränkt wird das Auftreten des Merkmals durch den lautlichen Kontext und die Position. Nach /r/ und /l/ wird in den untersuchten Dialekten nicht /n/ apokopiert, sondern Schwa synkopiert (vgl. u. a. HASSELBACH 1971, # 141.2–3). Als Beispiel gibt HASSELBACH (1971, # 141.2–3) unter anderem gefahren [ɡəfɔːən] und fallen [fan, faln]. Die Position spielt auch eine Rolle. Die Apokope tritt, wie es die Bezeichnung nahelegt, lediglich im absoluten Auslaut (entweder im Silben- oder Wortauslaut, vgl. Hase_kist für Hasenkiste) auf. Diese Beschränkung ist für das Auftreten von -en als Suffix obsolet, jedoch nicht als Bestandteil von Lexemen (vgl. etwa Ebene). Es handelt sich daher tatsächlich um ein phonologisches Phänomen der Nebensilben. Hierbei kontrastieren die dialektale Variante [ə] und die standardsprachliche Variante [ən]. Bei beiden Varianten kann es wiederum zu lautlicher Variation kommen. Bei der dialektalen Variante kann das Schwa von koartikulatorischen Phänomenen betroffen sein (Verdumpfung, zusätzl. Rundung). Diese können aber der Variante [ə] zugeordnet werden und treten unabhängig vom Untersuchungsort auf (ausschlaggebend ist die Apokope des /n/, Folgeprozesse sind hierfür unerheblich). In der Standardsprache tritt neben der Form [ən], die meist nur „bei langsamer und deutlicher Aussprache“ (DUDEN Bd. 6 2005, 37) gesprochen wird, ein sogenanntes silbisches n [n̩] als Variante auf, das sogar häufiger vorkommt (vgl. DUDEN Bd. 6 2005, 37).268 Aber auch diese Variante kann der standardsprachlichen Variante [ən] subsumiert werden (ausschlaggebend ist hier, dass /n/ nicht apokopiert wird). Analysiert wurden daher alle auslautenden -en mit der Einschränkung der Position nach /r/ und /l/.269 4.4.1.6 Negationspartikel Die standardsprachliche Negationspartikel nicht [nɪçt] (vgl. DUDEN Bd. 4 2006, 597) geht zurück auf mhd. niht bzw. ahd. niwiht. In den Dialektbeschreibungen der Untersuchungsorte werden folgende Angaben zur Negationspartikel gemacht: HASSELBACH (1971, #47.1) gibt für Ulrichstein die Variante [nɛt] an, ALLES (1954, § 315) für die Wetterau [nɛ͡ɪd] mit den vereinzelten Varianten [nɛt, net, nɪt], BORN (1938, § 208) für Reinheim [ned] und schließlich FREILING (1929, § 331.23) 267 BORN (1938, § 93.b) notiert, dass im Dativ Plural der starken und schwachen Maskulina -en komplett apokopiert wird (Bsp. Gäns – (den) Gänsen). Dies ist ein Sonderfall, der der oben ausgeführten Klassifizierung des Merkmals nicht widerspricht. 268 Neben der Einteilung in normale und langsame/deutliche Aussprache listet das DUDENAussprachewörterbuch die lautlichen Kontexte auf, in denen Schwa synkopiert werden kann und in denen diese Aussprache auch überwiegt, und jene, in denen dies nicht auftritt (vgl. DUDEN Bd. 6 2005, 38–40). 269 Auch hier ist eine Einschränkung auf historische Bezugslaute nicht notwendig, da abgesehen von sprachhistorischen Ausnahmen, die jedoch nur /n/ und nicht -en betreffen, allen /n/ westgerm. n zugrunde liegt.
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
für den Odenwald (Erbach) ebenfalls [ned].270 Gemein haben alle beschriebenen Varianten einen halbgeschlossenen oder halboffenen Vokal bzw. in der Wetterau einen steigenden Diphthong und das Fehlen des Frikativs, weshalb die dialektalen Leitformen [nɛd̥, nɛ͡ɪ]271 angenommen werden können, die im Kontrast zum standardsprachlichen [nɪçt] stehen. Bei dieser Variable ist rezent allerdings nicht von einem phonologischen Phänomen, sondern eher von einem lexikalischen auszugehen. Hierfür sprechen mehrere Gründe. Erstens unterscheiden sich die dialektalen Formen von nicht von den regulären Entsprechungen von westgerm./mhd. i (in ursprünglich geschlossener Silbe). Dies ist im Zentralhessischen [ɛ͡ə, ͡ɪə] (vgl. ALLES 1954, § 315) und im Rheinfränkischen [ɪ] (vgl. FREILING 1938, § 38). Es handelt sich somit um eine lautliche Ausnahme. Zweitens wird in den dialektalen Formen der Frikativ nicht realisiert,272 es kann also bei diesem Lexem von zwei entscheidenden lautlichen Unterschieden zur standardsprachlichen Variante ausgegangen werden, die in Kombination auftreten. Drittens haben Vorauswertungen in diversen Korpora (u. a. TAHM und REDE) ergeben, dass die dialektalen Varianten von nicht auch bei Sprechern auftreten, die sonst keine dialektalen Varianten von mhd. i realisieren.273 Dies legt nahe, dass die standarddifferente Variante von nicht eher als lexikalische Einheit zu betrachten ist, die als solche im mentalen Lexikon der Sprecher abgespeichert ist und keinen phonologischen Regeln des Dialektes unterliegt.274 Die Formen [nɛd̥, nɛ͡ɪ] wurden daher als lexikalische Varianten gewertet und in allen Kontexten untersucht.
270 In den Dialektbeschreibungen zu Gießen und Frankfurt sind keine explizite Ausführungen zu nicht und auch keine Belege bei mhd./westgerm. i zu finden. Hier kann aber aufgrund der Wenkerkarten 218, 332 und 408 (vgl. REDE VI) ebenfalls von der Variante net ausgegangen werden. 271 In der vorliegenden Analyse traten zwar Formen mit Diphthong auf, jedoch wurden diese ohne auslautenden Plosiv artikuliert. Dies scheint ein weiterer phonologischer Prozess zu sein, dem diese Formen unterliegen. Die Formen ohne Plosiv können daher als Varianten der dialektalen Form gelten und da diese neben [nɛt] am häufigsten sind, als eine Hauptform betrachtet werden. 272 Als Prozess dargestellt nimmt ALLES (1954, § 315) an, dass zunächst der Frikativ ausfällt und danach die vokalische Veränderung eintritt. 273 Dies bestätigt sich auch bei den vorliegenden Analysen (s. Kap. 5–7). 274 Dass manche Merkmale als lexikalisch gewertet werden können, zeigt sich auch in anderen Studien. Vgl. etwa zum Brandenburgischen/Berlinischen VORBERGER (2015), der die Formen [dɪt] das und [ɪk] ich als lexikalische Reliktformen wertet; dies gilt für eben jene Kurzwörter ohne durchgeführte Lautverschiebung auch in anderen Regionen (vgl. zum Erhalt von [da̠t] das im Moselfränkischen bspw. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 167–174).
4.4 Beschreibung der Variablen
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4.4.2 Variablen der Gruppe 2 4.4.2.1 Zentralhessisch Folgende Variablen wurden zusätzlich für die vier Untersuchungsorte im Gebiet des Zentralhessischen (VB, GI, FB und BÜD) untersucht. Ihre dialektalen Varianten gelten ausschließlich in diesem Gebiet. An den anderen Orten bestehen teilweise andere dialektale Varianten oder die dortigen Varianten entsprechen der Standardsprache. 4.4.2.1.1 mhd. uo Mhd. uo entspricht in der neuhochdeutschen Standardsprache [uː] (vgl. etwa Bruder, Fuß, gut) und im Zentralhessischen der Diphthong [ɔ͡ʊ].275 Dieses Merkmal wird seit jeher zur Binnengliederung der hessischen Dialekte verwendet und als Spezifikum des Zentralhessischen gewertet (vgl. bspw. WREDE 1937, Blatt 56, der zur Abgrenzung die Isoglosse Brourer/Bruder verwendet, oder WIESINGER 1980, 120, auch SCHIRMUNSKI 2010/1962, 666 zählt es zu den primären Merkmalen des Zentralhessischen). Für Gießen gibt ALFFEN (1922, 9) in der Stadt zwar die Variante [uː] an, aber für den umliegenden Raum [ɔ͡ʊ]. Im Wenkerbogen aus Gießen (Stadt, WB 28148) werden die Lemmata, die auf mhd. uo zurückgehen, durchgehend mit verschriftlicht, was auf die Variante [ɔ͡ʊ] schließen lässt.276 ALLES (1954, § 390) belegt für die Wetterau ebenfalls die Variante [ɔ͡ʊ]. Für den Vogelsberg gelten differenzierte Verhältnisse. HASSELBACH (1971, # 95) beschreibt für den Westen die zentralhessische Variante, für den Osten des Untersuchungsgebietes jedoch die Varianten [ʊ, uː]. Karte 28 (HASSELBACH 1971) zeigt, dass der hier untersuchte Ort Ulrichstein im östlichen Teil liegt und für diesen somit nicht von der zentralhessischen Variante ausgegangen werden kann. Dies belegt beispielsweise Wenkerkarte 456 (Bruder), auf der in Ulrichstein die Form brurr- belegt ist (vgl. REDE VI). Der Untersuchungsort Ulrichstein wurde deshalb für die Analyse von mhd. uo ausgeschlossen. Durchgeführt wurde sie für die anderen drei Orte, wobei gewisse Lautkontexte ausgeschlossen wurden. ALLES (1954, § 391–392) gibt an, dass vor velarem Frikativ mhd. uo im Zentralhessischen nicht immer dem Diphthong [ɔ͡ʊ] entspricht, sondern [ʊ] (wie in Tuch, genug).277 Untersucht wurden daher nur die Fälle von mhd. uo, bei denen die standardsprachliche Variante [uː] der dialektalen Variante [ɔ͡ʊ] gegenübersteht. 275 Dementsprechend werden mhd. ie als [ɛ͡ɪ] und üe als [ɔ͡ɪ] realisiert (s. o. und vgl. WIESINGER 1980, 93–95). 276 Im Vergleich zu ALFFEN (1922) könnte dies ein Indiz für einen sprachlichen Wandel sein. Auf jeden Fall kann für Gießen die ursprüngliche Variante [ɔ͡ʊ] angenommen werden. 277 Ebenso belegt ALLES (1954, § 393) Einzellexeme, bei denen kein Diphthong im Dialekt realisiert wird. Diese wurden auch ausgeschlossen.
122
4 Anlage der empirischen Untersuchung
4.4.2.1.2 mhd. ô Mhd. ô erscheint in der Standardsprache als [oː] (vgl. etwa hoch, groß, Brot). Im Zentralhessischen wird mhd. ô als [uː] realisiert.278 Diese Variante gilt für die hessischen Dialekte nur für den zentralhessischen Raum, kommt allerdings auch im benachbarten Moselfränkischen vor. Es wird deshalb ebenso wie mhd. uo als typisch zentralhessisch klassifiziert und auch zur Binnenabgrenzung der hessischen Dialekte verwendet (s. Karte 3-3 und vgl. WIESINGER 1980, 90, Karte 24, 120). ALLES (1993, 37) gibt für Großen Linden (bei Gießen) die Variante [uː] an, die in manchen Fällen gekürzt wird. Für den Vogelsberg belegt HASSELBACH (1971, # 120) im Westen [uː] und im Osten des Gebiets [oː]. Die Angaben der Isoglossenverläufe (HASSELBACH 1971, # 120 1.–7.) zeigen, dass Ulrichstein im Westen des Gebiets (also im [uː]-Gebiet liegt, was auch der Wenkerbogen aus Ulrichstein bestätigt, vgl. WB 28030). HASSELBACH (1971, # 120) präzisiert, dass mhd. ô vor Nasal gebietsweise kurz [ʊ] realisiert wird. Für die Wetterau beschreibt ALLES (1954, § 413) ebenfalls die Variante [uː] und die Ausnahme bei schon, bei dem der Vokal fast im gesamten Untersuchungsgebiet kurz artikuliert wird. Die beiden Varianten [oː] (standardsprachlich) und [uː] (dialektal) stehen sich somit für die Variable mhd. ô gegenüber. Für die Analyse wurden alle Fälle vor Nasal ausgeschlossen.279 4.4.2.1.3 Flachdiphthonge Da für den Untersuchungsort Ulrichstein die Variable mhd. uo nicht ausgewertet werden konnte (s. 4.4.2.1.1), wurde für diesen Ort stattdessen die Variable Flachdiphthonge analysiert. Diese bezieht sich auf die lautlichen Entsprechungen von mhd. ë, i1 in ursprünglich geschlossener Silbe. Werden diese im heutigen Standard [ɛ, ɪ] artikuliert (vgl. etwa selber, Kind), entsprechen sie im Zentralhessischen den Flachdiphthongen [ɛ͡ə, ͡ɪə]. Auch diese gelten als ein charakteristisches Merkmal des Gebiets (vgl. WIESINGER 1980, 74–83 und SCHIRMUNSKI 2010/1962, 666).280 Für mhd. ë belegt HASSELBACH (1971, # 33) im westlichen Vogelsberg, in dem auch Ulrichstein liegt (vgl. HASSELBACH 1971, Karte 11), die Variante [ɛ͡ə]. Vor 278 Ebenso entspricht mhd. ê [iː] (wie in weh, gehen) (s. o. und vgl. bspw. WIESINGER 1980, 90). 279 Dies betraf in dem vorliegenden Korpus nur das Lemma schon. Die einzellexematischen Ausnahmen, die in der Literatur zu finden sind, kamen nicht vor. 280 Die Flachdiphthonge für mhd. ë, i1 werden für das gesamte Zentralhessische beschrieben (vgl. bspw. ALFFEN 1922, 10), wurden jedoch nur für den Untersuchungsort Ulrichstein quantitativ ausgewertet, da hier die Variable mhd. uo nicht verwendet werden konnte, die Anzahl der Variablen pro Ort aber identisch sein sollte. Mhd. uo sollte als d a s prototypische Merkmal des Zentralhessischen (s. o.) jedoch analysiert werden. Die Variable Flachdiphthonge wurde jedoch für die anderen drei zentralhessischen Orte bei der qualitativen Analyse berücksichtigt. Diese zeigt, dass sich die Varianten der Variablen mhd. uo und Flachdiphthonge sehr ähnlich verhalten und somit die Ergebnisse vergleichbar sind.
4.4 Beschreibung der Variablen
123
westgerm. sk wird jedoch [ɛ] gesprochen, vor westgerm. ht tritt Langvokal auf [ɛː], vor westgerm. r wird ein Diphthong aus langer Erstkomponente und vokalisiertem [r] gebildet (vgl. HASSELBACH 1971, # 34–37). Für mhd. i1 findet sich in Ulrichstein die Variante [ɪ͡ə] (vgl. HASSELBACH 1971, # 43). Auch hier treten in folgenden Lautkontexten Abweichungen dieser Entsprechung auf: vor [l] und stimmlosen Frikativen wird [e] artikuliert und vor [r, x] [ɪ] (vgl. HASSELBACH 1971, # 44–46); die Ausnahme in nicht wurde bereits oben besprochen (vgl. Kap. 4.4.1.6). Untersucht wurden somit alle Fälle, die auf mhd. ë, i1 in ursprünglich geschlossener Silbe zurückgehen, und in denen die zentralhessische Variante der Flachdiphthonge mit dem standardsprachlichen Kurzvokal kontrastiert, dabei wurden alle oben besprochen Kontexte ausgeschlossen. 4.4.2.1.4 Mit der Variable ist die Phonemfolge /ər/ im Auslaut281 gemeint, oft auch als -Auslaut/er-Auslaut bezeichnet. Während in SIEBS Deutscher Aussprache (1969, 85) für die reine Hochlautung des Suffixs -er als Aussprachevarianten [ər, əʀ] angegeben ist sowie für die gemäßigte Hochlautung [əʁ],282 wird diese Lautfolge in der rezenten Standardsprache als [ɐ], also vokalisiert ausgesprochen (vgl. bspw. KRECH et al. 2009, 87). Das Aussprachewörterbuch des DUDEN schreibt dazu Folgendes: „Die Phonemfolge /ər/ (orthografisch meist -er) wird bei normalem Sprechen am Wortende und vor Konsonant gewöhnlich als [ɐ] (silbisches, ‚vokalisches‘ r) gesprochen. Nur bei sehr langsamer und deutlicher Aussprache kann dafür auch [ɐʁ] ([ɐ] + schwaches Reibe-R) eintreten“ (DUDEN Bd. 6 2005, 40).283 Diese Aussprache beschränkt sich, wie der DUDEN schon andeutet, auf unbetonte Silben im offen und gedeckten Auslaut (vgl. KRECH et al. 2009, 87). Kommt es durch Flexion und Derivation zu einer Veränderung der Position der Lautfolge /ər/ innerhalb des Wortes, gilt konsonantische Aussprache: Läufer [lɔ͡ʏ.fɐ] vs. Läuferin [lɔ͡ʏ.fə.ʁɪn] (vgl. KRECH et al. 2009, 87).284 Als stan-
281 Die phonologische Domäne ist hier das phonologische Wort und nicht die Silbe (vgl. etwa gerben [ɡɛɐ.bən] und Gerber [ɡɛɐ.bɐ]). 282 Es findet sich bei SIEBS (1969, 87) ebenso folgender Hinweis: „In Nebensilben soll -er als [-ər], nicht als bloßes [r̩] gesprochen oder vokalisiert werden.“ Zur Einschätzung der Aussprachekodifizierung von SIEBS vgl. KRECH et al. (2009, 10–12). 283 Nur für den Kunstgesang wird die Variante [ər] angegeben (vgl. DUDEN Bd. 6 2005, 40). 284 Zwar beziehen sich viele Aussprachewörterbücher (vgl. SIEBS 1969, KRECH et al. 2009) stets auf das Suffix -er, als polyfunktionales Morph tritt es auch sehr häufig auf, doch scheint es angemessener von der Lautfolge /ər/ und daher auch von einem phonetisch-phonologischen Phänomen zu sprechen, wie bspw. in DUDEN Bd. 6 (vgl. auch LAMELI 2004, 153). Denn auch als Auslaut eines freien lexikalischen Morphems, das sich nicht weiter in Morphe unterteilen lässt (bspw. Tiger), wird -er entsprechend als [ɐ] artikuliert (vgl. bspw. KRECH et al. 2009, 985). Die Aussprache bezieht sich also allgemein auf die Lautfolge /ər/ im Auslaut des
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
dardsprachliche Variante von ist somit [ɐ] festzuhalten, weshalb die Variante auch als std. [ɐ] bezeichnet wird. Diese unterscheidet sich von einem konsonantischen er-Auslaut im Zentralhessischen. HASSELBACH (1971, # 139) gibt für den Vogelsberg an, dass das Suffix -er in der Regel als [ər] ausgesprochen wird. Auch ALLES (1954, § 452) hält für die Wetterau fest, dass westgerm. r im Auslaut erhalten bleibt (Bsp. Jäger, Träger, Blätter) und allgemein als „Zungen-r“ artikuliert wird, was als [ər, r̩] zu interpretieren ist.285 Des Weiteren kann auch für den Raum Gießen gelten, dass westgerm. r im Auslaut bewahrt ist (vgl. ALLES 1993, 51).286 Die Auswertungen des REDE-Korpus haben ergeben, dass es neben der in der Literatur angegebenen Variante [ər] noch zu weiteren Varianten kommt. Es kann artikulatorisch bedingt zu einer Reduktion der Zungenschläge kommen, sodass ein Tap [əɾ] produziert wird oder die Zungenspitze nähert sich nur den Alveolen an und ein Approximant wird artikuliert [əɹ]. Bei allen Varianten lässt sich mitunter auch ein Ausfall des Schwa und als Folge eine Silbizität des /r/ beobachten. Alle diese Fälle können aber als Allophone eines konsonantischen -Auslauts zusammengefasst werden. Für die Variable können somit die beiden kontrastierenden Varianten [ɐ] (standardsprachlich) und [ər] (dialektal, Leitform) bestimmt werden. Analysiert wurden alle Fälle der Phonemfolge /ər/ im Auslaut des phonologischen Wortes (bis auf die genannten Ausnahmen). 4.4.2.2 Frankfurt Für die Sprache der Stadt Frankfurt können aufgrund der besonderen Situation keine Besonderheiten bestimmt werden, die sie nicht mit den umliegenden Dialekträumen gemein hätte.287 Dennoch sollten, unter anderem um eine gewisse Vergleichbarkeit zu gewährleisten, weitere Variationsphänomene untersucht werden.288
285 286
287 288
phonologischen Worts. Ausgeschlossen davon sind sowohl der Einsilber (Pronomen) als auch die Präfixe (vgl. DUDEN Bd. 6 2005, 55). Bei ALLES (1954, § 452) findet sich schon folgender relevanter Hinweis: „Der Südwesten neigt dazu, alle auslautenden r aufzugeben.“ ALLES (1993, 51) gibt zwar mit leer und nur keine Beispiele für den hier behandelten Auslaut, aufgrund ihrer allgemeinen Ausführungen und ihrer Transkription, ist aber für diesen auch von konsonantischer Aussprache auszugehen. Eine Validierung über die Wenkerbogen ist nicht möglich. Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 3.3.4. Bei den raumübergreifenden Analysen wurden – wenn erfoderlich – selbstverständlich nur die für alle Orte untersuchten Merkmale einbezogen bzw. mit qualitativen Auswertungen ergänzt.
4.4 Beschreibung der Variablen
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4.4.2.2.1 Entrundung Die neuhochdeutschen Vokale /yː, ʏ, øː, œ/, das heißt die gerundeten halboffenen bis geschlossenen Vorderzungenvokale, erscheinen in vielen Dialekten des Deutschen ungerundet als [iː, ɪ, eː, ɛ] (vgl. WIESINGER 1983b). Auch das Zentralhessische und das Rheinfränkische sowie das Übergangsgebiet zwischen ihnen zählen zu den sogenannten Entrundungsgebieten.289 Somit gilt dies auch für Frankfurt wie RAUH (1921b, 10) beschreibt: „ö und ü werden entrundet zu ē/ĕ und ī/ĭ“, wie in Böden, Öl, rösten, Rücken, Hügel und Füße.290 Diese Entrundung291 tritt unabhängig von den historischen Bezugslauten und der Länge oder Kürze der Vokale auf, das heißt es gibt keine Einschränkung der zu untersuchenden Fälle und die entsprechenden Laute der Standardsprache können als Bezug dienen. Die beiden Varianten der Variable Entrundung, die unterschieden werden, sind daher die standardsprachlich gerundeten Vokale [yː, ʏ, øː, œ] und die dialektal ungerundeten Vokale [iː, ɪ, eː, ɛ] – hier jeweils als eine Gruppe dargestellt. 4.4.2.2.2 /t/-Lenisierung Zur Unterscheidung der Plosive kann neben der Klassifikation stimmhaft vs. stimmlos auch die Opposition fortis vs. lenis dienen. Diese Unterscheidung beruht auf dem Druck bei der Verschlusslösung (fortis – hoher Druck, lenis – geringer Druck, vgl. KOHLER 1995, 59) und den darauf beruhenden auditiven Auswirkungen. Mit Lenisierung ist daher die Überführung eines Fortis bspw. [p(ʰ)] in einen Lenis [b̥]292 gemeint. In vielen deutschen Dialekten können Lenisierungen beobachtet werden (vgl. SIMMLER 1983),293 oft kann zudem ein Zusammenfall von stimmhaften und stimmlosen Plosiven in Lenes nachgewiesen werden. Dies betrifft den In- und Anlaut, so auch im hier untersuchten Raum. Für Frankfurt beschreibt RAUH (1921b, 11) einen Zusammenfall von an- und inlautend [d] und [t] in den „stimmlosen dentalen Verschlusslaut“ [d̥] (Bsp. Tag, Vater). Auch VEITH (1983, 85) belegt eine Lenisierung von /t/ vor Vokal (Bsp. Tag, Tier). Dies bedeutet, dass mhd. t anlautend vor Vokal in Frankfurt als [d̥] realisiert wird (vgl. 289 Im Zentralhessischen gibt es jedoch ein gerundetes Phonem: der Diphthong /ɔ͡ɪ, ɔ͡ʏ/, der auf mhd. üe, ǖ zurückgeht. 290 Vgl. dazu auch FREILING (1924, 187) und RAUH (1921a, b) sowie die Wenkerbogen und das Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten (vgl. PURSCHKE 2016) aus Frankfurt (Aufnahmenummer: LD60282 / MD017), die dies bestätigen. 291 Auch hier stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung Entrundung zutreffend ist. In der Tradition der bisherigen Forschung wird sie dennoch beibehalten. 292 Dargestellt werden Lenis-Plosive mit dem Symbol der stimmhaften Plosive und dem Diakritikum für entstimmt (vgl. auch KOHLER 1995, 60). 293 Oft wird dieses Phänomen als binnenhochdeutsche Konsonantenschwächung bezeichnet. Dies betrifft nicht nur, wie hier beschrieben Plosive, sondern auch Affrikaten und Frikative (vgl. SIMMLER 1983). Vgl. zum Zentralhessischen BRAUN (1988).
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
SIMMLER 1983, 1122).294 Dies ist hier von Interesse, da in diesem Fall ein eindeutiger Kontrast zur Standardsprache besteht, in der mhd. t in dieser Position eine Fortis (tw. aspiriert) entspricht.295 Die kontrastierenden Varianten der Variable /t/Lenisierung sind somit standardsprachlich [t(ʰ)] und dialektal [d̥]; hierbei wurden voll stimmhafte Plosive der dialektalen Variante subsumiert. Untersucht wurden alle Reflexe von mhd. t in anlautender, prävokalischer Position.296 4.4.2.3 Rheinfränkisch Für die beiden Untersuchungsorte im Rheinfränkischen wurden drei Variablen zusätzlich analysiert, deren Varianten im Vergleich zu den anderen beiden Räumen spezifisch für dieses Gebiet sind. 4.4.2.3.1 mhd. ê Mhd. ê entspricht in der neuhochdeutschen Standardsprache der Langmonophthong [eː] (vgl. etwa gehen, stehen, weh). In den östlichen Teilen des Rheinfränkischen wird mhd. ê als Diphthong [ɛ͡ɪ] ausgesprochen. Dies gilt auch für die beiden hier betrachteten Orte (vgl. WIESINGER 1980, Karte 10). Für den Odenwald und somit Erbach hält FREILING (1929, § 352) fest, dass mhd. ê als [ɛ͡ɪ] erscheint, mit der Ausnahme, dass vor /r/ teilweise [iː] erscheint (Bsp. Ehre).297 BORN beschreibt für den Raum um Darmstadt, dass für mhd. ê meist [eː] zu finden ist, im Südosten aber [ɛ͡ɪ]. Ein Abgleich mit den Karten von BORN (1938, o. A.) zeigt, dass Reinheim im Südosten des Gebietes liegt und somit hier ebenso der Diphthong im Dialekt auftritt. Dies zeigt beispielsweise auch Wenkerkarte 113 (weh) (vgl. REDE VI). Für die Variable mhd. ê wurden daher die beiden Varianten standardsprachlich [eː] und dialektal [ɛ͡ɪ] definiert. Bis auf die genannte Position vor /r/ wurden alle Fälle der Variable untersucht.
294 Eine weitere Differenzierung und ein Bezug zum Westgermanischen sind hier nicht notwendig. 295 Die anlautenden stimmhaften Plosive /d, b, g/ können in der Standardaussprache auch als stimmlose Lenes artikuliert werden (vgl. KRECH et al. 2009, 76), sodass hier kein Kontrast besteht. Zu anderen anlautenden Kontexten vgl. die Variable Fortisierung (Kap. 4.4.4.1). 296 VEITH (1983, 85) gibt an, dass es bei der Lenisierung in Frankfurt Ausnahmen gibt (er nennt Turm und Tasse), äußert sich aber nicht zum Status dieser Ausnahmen. Beide Lexeme sind im Korpus enthalten und wurden tw. mit Lenes artikuliert, sodass hier keine Einschränkungen vorgenommen wurden. 297 Die Angaben bei FREILING (1929, § 80, 352) scheinen sich auf die ursprünglich heterosyllabische Folge mhd. ê vor /r/ zu beziehen (bspw. Lehrer, Ehre). Für den absoluten Auslaut – explizit für sehr – gibt er die Variante [ɛ͡ɪ] an. Deshalb wurde dieser Kontext einbezogen und der zuerst genannte ausgeschlossen.
4.4 Beschreibung der Variablen
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4.4.2.3.2 mhd. ô Wie bereits unter 4.4.2.1.2 beschrieben wurde, entspricht mhd. ô in der Standardsprache [oː] (Bsp. hoch). Im Zentralhessischen wurde die Variante [uː] beschrieben. In Teilen des Rheinfränkischen erscheint mhd. ô analog zu mhd. ê als Diphthong [ɔ͡ʊ] (vgl. WIESINGER 1980, 90). FREILING (1929, § 354) belegt für Odenwald die Variante [ɔ͡ʊ].298 Ebenso nennt BORN (1938, § 229) für den Ort Reinheim den Diphthong als Entsprechung von mhd. ô.299 Diese Verteilung der Variante zeigt auch Wenkerkarte 411 (hoch); die Diphthonggebiete im östlichen Rheinfränkischen für mhd. ê und ô entsprechen sich weitestgehend. Die beiden sich hier gegenüberstehenden Varianten für mhd. ô sind demnach [oː] (Standard) und [ɔ͡ʊ] (Dialekt). Da in der Literatur keine regelmäßige Ausnahme der dialektalen Entsprechung von mhd. ô zu finden war, wurden bis auf die einzellexematischen Ausnahmen keine Beschränkung der zu untersuchenden Fälle vorgenommen. 4.4.2.3.3 Palatalisierung Mit Palatalisierung ist allgemein die Veränderung des Artikulationsortes zum Palatum gemeint. Die hier behandelte Variable Palatalisierung bezieht sich auf die Palatalisierung von westgerm. s (d. h. die Verschiebung des alveolaren Frikativs [s] zu einem palato-alveolaren [ʃ]), die sich in einigen Fällen in der Standardsprache und im Rheinfränkischen unterscheidet. In der Entwicklung des Hochdeutschen ist die Palatalisierung von westgerm. s nur im Anlaut vor Konsonant eingetreten (bspw. ahd. swīn und nhd. Schwein oder ahd. storah [st] und nhd. Storch [ʃt]) (vgl. SCHMIDT 2007, 382–383, auch zur Schreibung).300 In einigen Gebieten des Rheinfränkischen (und vor allem im Alemannischen, vgl. KEHREIN 2012, 123–125) wurde westgerm. s auch vor [t] und [p] in in- und auslautender Position regulär palatalisiert und unterscheidet sich in diesen Fällen von der Standardsprache.301 FREILING (1929, § 405) beschreibt für den Odenwald, dass mhd. s vor t, p in allen Stellungen als [ʃ] erscheint und gibt unter anderem folgende Beispiele:
298 Als Ausnahmen dieser Regel nennt er explizit für Erbach Drossel, Ohren, Bohnen und schon (FREILING 1929, § 354), die entsprechend ausgeschlossen wurden. 299 Auch er beschreibt einzellexematische Ausnahmen, die deshalb nicht berücksichtigt wurden (vgl. BORN 1938, § 229). 300 Ausnahmen hiervon sind nur bei Entlehnungen neueren Ursprungs festzustellen (bspw. Stereo, Spray) (vgl. KEHREIN 2012, 123–124). 301 KEHREIN (2012, 124) fasst den Kontrast zwischen der Standardvarietät und dem Alemannischen, der auch für das Rheinfränkische gelten kann, wie folgt zusammen: „Die Variation tritt auf nach Vokalen, Nasalen und Liquiden sowie grammatischen Morphemen, wie etwa bei dem Flexiv der 2. Person Singular Präsens -st oder bei den Morphemen, die den Superlativ und die Ordinalzahlen bilden (z.B. in wichtigster, zwanzigster).“ Zum Flexiv -st vgl. auch KEHREIN (2012, 122–123).
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
bist [bɪʃd̥], beste [bɛʃd̥] und Wespe [vɪʃbəl].302 KEHREIN (2012, 124) zeigt für das Alemannische in seiner Untersuchung zu Waldshut-Tiengen, dass die Palatalisierung regulär nicht erfolgt, wenn zwischen westgerm. s und folgendem [t] eine Morphemgrenze liegt oder /s/ in der Lautfolge /st/ auf westgerm. t zurückgeht. Als Beispiele nennt er isst (3. Sg.) oder müsst (2. Pl.) (vgl. KEHREIN 2012, 124). Ein Abgleich mit dem vorliegenden Korpus und dem Wenkerbogen aus Erbach (WB 34342) ergab für das Rheinfränkische eine Übereinstimmung dieser Beschränkung, weswegen sie bei der Auswahl der Fälle berücksichtigt wurde. Die Palatalisierung von westgerm. s gilt jedoch nicht für das gesamte Gebiet des Rheinfränkischen (vgl. Kap. 3.3). Für den Raum um Darmstadt belegt BORN (1938, § 258– 259) lediglich für den südwestlichen Teil die Variante [ʃ] für in- und auslautendes /s/ vor [t, p]. Der Untersuchungsort Reinheim fällt nicht in dieses Gebiet. Dies zeigt auch Wenkerkarte 353 (fest) (vgl. REDE VI). Das heißt, dass bei dieser Variable für den Untersuchungsort Reinheim kein Kontrast zur Standardsprache besteht, was bei der Analyse und der Interpretation der Ergebnisse zu beachten ist. Die Variable wurde dennoch ausgewählt und für beide Orte analysiert, da sie einerseits als ein charakteristisches Merkmal des südlichen Rheinfränkischen gilt und andererseits eine Merkmalsgrenze innerhalb des Rheinfränkischen begründet (vgl. 3.3.2). Zudem ist von Interesse, ob sich diese Grenze zwischen den Orten weiterhin als stabil erweist oder Veränderungen zu beobachten sind.303 Untersucht wurden alle Fälle, in denen standardsprachliches [st] dem dialektalen [ʃt] (Erbach) gegenübersteht. 4.4.3 Variablen der Gruppe 3 4.4.3.1 Koronalisierung Unter Koronalisierung wird die Vorverlagerung des palatalen Frikativs [ç] zu [ɕ] bis hin zur palato-alveolaren Variante [ʃ] verstanden (vgl. HERRGEN 1986, 11).304 HERRGEN (1986, 10–11) setzt für den gesamten Zwischenbereich von [ç] bis [ʃ] den Laut [ɕ]305 an und fasst alle Vorverlagerungen bis zur palato-alveolaren Variante als Koronalisierung. LAMELI (2004, 162) unterscheidet in diesem Kontinuum 302 Einzellexematische Abweichungen in Erbach (vgl. FREILING 1929, § 405) (bspw. Schwester) wurden nicht berücksichtigt. 303 Im Kontrast zur Standardsprache tritt in vielen Dialekten die Palatalisierung von westgerm. s nach [r] bzw. in der Lautfolge [rst] auf (z.B. Wurst, anders) (vgl. SCHMIDT 2007, 383). Dies ist auch für Reinheim der Fall (vgl. BORN 1938, § 258). Deswegen wurde dieser Fall der Palatalisierung ausgeschlossen, um den korrekten Vergleich zu gewährleisten. 304 Die Bezeichnung Koronalisierung begründet sich dadurch, dass die Enge bei dem Frikativ [ɕ] mit dem Zungenkranz (Korona) und nicht dem Zungenrücken (Dorsum) wie bei [ç] gebildet wird. Zur weiteren Beschreibung des Phänomens und des Begriffs vgl. HERRGEN (1986, 4– 24). 305 Zur Transkription vgl. HERRGEN (1986, 10, Fn. 1).
4.4 Beschreibung der Variablen
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vier Laute: [ç, ɕ, ʃ̠, ʃ]. Diese Differenzierung wurde zunächst auch bei der Auswertung der vorliegenden Daten getroffen. Es zeigte sich aber, dass keine (bzw. keine systematischen) Unterschiede in der Qualität und Quantität des Auftretens der drei Laute [ɕ, ʃ̠, ʃ] zu erkennen sind, weswegen sie zusammengefasst wurden und gemeinsam als standarddifferente Variante der Koronalisierung dem standardsprachlichen Frikativ [ç] gegenübergestellt wurden.306 Untersucht wurde die Variable Koronalisierung, da sie in allen Beschreibungen der regionalsprachlichen Entwicklungen und möglichen neuen Formen des regionalen Sprechens im Untersuchungsraum als charakteristisches Merkmal genannt wird (vgl. bspw. DINGELDEIN 1994, 286–287, VEITH 1983, 84 oder BRINK307 MANN TO BROXTEN 1986, 46). Hervorzuheben ist, dass das Phänomen der Koronalisierung relativ jung ist und zu Anfang kein Phänomen der Basisdialekte ist. HERRGEN (1986, 97) datiert das Aufkommen der Koronalisierung auf die Mitte des 19. Jh. (vgl. auch REIS 1892, 424) in den städtischen Zentren des mitteldeutschen Sprachraums. Entwickelt hat sie sich dort in einem Bereich zwischen Basisdialekt und der damaligen Standardsprache (zu verstehen als explizite Aussprache der Schrift, vgl. u. a. REIS 1892). Reis (1892, 424) schreibt, dass die „eigentliche Mundart […] hiervon unberührt [blieb], es betrifft nur die Zwischenstufe zwischen ihr und der Schriftsprache“.308 Dieser Zwischenbereich oder mittlere Bereich (bzw. nennt HERRGEN ihn in der damaligen Terminologie Neuer Substandard, vgl. HERRGEN 1986, 103, BELLMANN 1983) ist mit den Konzepten und Termini der Sprachdynamiktheorie als landschaftliches Hochdeutsch (bzw. rezent Regiolekt) zu interpretieren (vgl. Kap. 2.2.2). Dies bedeutet, dass sich in diesem Bereich eine sowohl standard- als auch dialektdifferente Entwicklung vollzieht. Während sowohl die damalige Standardsprache als auch die entsprechenden Basisdialekte den Laut [ç] aufweisen und somit zwischen ihnen ein Nullkontrast besteht, wird dieser in den damaligen regiolektalen Sprechlagen koronalisiert (vgl. zum Vorgang HERRGEN 1986, 101–105).309 Das Phänomen entsteht in diesem Bereich und breitet sich aus (vgl. HERRGEN 1986, 103, Fn. 7). HERRGEN weist zum einen eine vertikale Ausbreitung nach (vgl. HERRGEN 1986, 105–109). Das bedeutet, dass sich das Merkmal an den jeweiligen Orten auf weitere Sprechlagen
306 Hinzu kommen stimmhafte Varianten der jeweiligen Laute, die meist in Abhängigkeit des Kontextes, d. h. in stimmhafter Umgebung, auftreten. Auch hier ließen sich innerhalb dieser Varianten und zwischen diesen und den stimmlosen Varianten keine Unterschiede erkennen, die eine Differenzierung der Varianten notwendig erscheinen ließen. In den Fällen, in denen relevante Unterschiede erkannt wurden, werden diese bei der Analyse berücksichtigt. 307 DINGELDEIN (1997, 131) stellt explizit heraus, „dass sich die Koronalisierung […] im gesamten west- und ostmitteldeutschen Raum zu einem regionalsprachlichen Schibboleth der Substandardvarietäten zu entwickeln scheint“. 308 Auch HERRGEN (1986, 103): „In ihrem ersten Stadium gehört Koronalisierung also einem ‚mittleren‘ Bereich der gesprochen Sprache an.“ 309 Vgl. zur Motivation bzw. Erklärung dieses Phänomens HERRGEN (1986, 112–135), der die Kombination verschiedener Faktoren als Ursache herausstellt (vgl. auch Kap. 8.4.3).
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
und auch auf den Basisdialekt ausdehnt.310 Zum anderen zeigt HERRGEN (1986, 110–111) eine horizontale Ausdehnung des Merkmals. Es stellt sich nun die Frage, wie sich das Phänomen in dem hier untersuchten Raum verhält. In einer der ersten Quellen zu den standardnäheren Sprechlagen im Rhein-Main-Gebiet (vgl. VIËTOR 1875, Kap. 3.4) ist noch kein Hinweis auf Koronalisierung zu finden (vgl. VIËTOR 1875, 7). Dies erscheint nicht verwunderlich, da VIËTOR die rheinfränkische Umgangssprache in und um Nassau beschreibt. Da er selbst aus Nassau311 stammte, wird er in der damaligen Tradition seine eigene Sprechweise notiert haben. Als aufkommendes Merkmal in den städtischen Zentren scheint die Koronalisierung damals in der Kleinstadt Nassau noch nicht vorzukommen. Einige Jahre später hat sich dies, zumindest für die in der Nähe gelegene Stadt Bad Ems, bereits geändert. In ihrer Arbeit zum landschaftlichen Hochdeutsch kann GANSWINDT (2016, 124) die Koronalisierung als Merkmal des landschaftlichen Hochdeutschs in Bad Ems nachweisen (vgl. auch VIËTOR 1890, 128– 129). REIS (1892, 424) datiert für den Mainzer Raum die Anfänge der Koronalisierung auf die Mitte des 19. Jh. (s. o.).312 In seiner Betrachtung des Großherzogtums Hessen313 schreibt er Folgendes: In den letzten Jahrzehnten sind in Mainz, Darmstadt und anderen Orten g, ch, sch einander gleich gemacht worden. Zunächst ist sch für g und ch da eingetreten, wo die Mundarten dafür j oder gar keinen Laut hatten, in gehorsche für horje, masche für morje (morgen), gleisch für glei. Dies geschah wahrscheinlich in dem Bestreben, den in der echten Mundart ausgestorbenen oder recht schwach gesprochenen Laut gründlich hervorzuheben. Bald aber sind g und ch durchweg, soweit sie wie in selig und ich (nicht wie in geben und ach) gesprochen wurden, dem sch immer mehr angenähert worden. (REIS 1910, 39–40)
Hier findet sich somit der erste Beleg für die Koronalisierung für die hier behandelten Orte (bzw. zumindest für die nähere Umgebung Darmstadt/Reinheim). Interessant erscheint auch die Erklärung des Phänomens durch REIS. Auch wenn sie aus heutiger Sicht nicht uneingeschränkt aufrechterhalten werden kann (vgl. Fn. 309 zur Erklärung des Phänomens), ist sie dennoch ein weiterer Beleg dafür, dass die Koronalisierung ihren Ursprung in einem Zwischenbereich nimmt. REIS beschreibt das Auftreten der Koronalisierung, beim Versuch der Sprecher, Hochdeutsch zu sprechen, – also im landschaftlichen Hochdeutsch. In seiner Zusammenfassung der Sprachstufen in dem Raum nennt er die Koronalisierung explizit nicht für die Basisdialekte, sondern für die zweite und dritte Zwischenstufe von 310 Dass es sich hierbei nicht um Dialektabbau, sondern einen Wandel in den Basisdialekten handelt, führt HERRGEN (1986, 108–109) aus. Tritt die Koronalisierung in Basisdialekten bei gleichzeitiger Beibehaltung der überwiegenden Anzahl an basisdialektalen Merkmalen auf, ist von Dialektwandel auszugehen. 311 Heute heißt die Stadt Nassau (Lahn), sie liegt im Rhein-Lahn-Kreis und im ZentralhessischMoselfränkischen Übergangsgebiet. 312 Vgl. auch HASTER (1908, §35b): „[Dem] […] ç-Laut entspricht in Mainzer-Gegend ein šähnlicher Laut.“ 313 Dieses umfasste damals genau die hier behandelten Orte in den Provinzen Oberhessen und Starkenburg, lediglich Frankfurt war zur damaligen Zeit preußisch.
4.4 Beschreibung der Variablen
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Dialekt und Schriftsprache und auch für die gewählte Rede (vgl. REIS 1910, 79– 80, Kap. 3.4). Für den Untersuchungsort Frankfurt hält RAUH (1921b, 11) fest, dass [ʃ] und [ç] „in einem Laut zusammengefallen sind, der ein Zwischending darstellt zwischen sch und ch. Der heutige Frankfurter spricht also [vɪɕə] wischen, [va͡ ̠ ɪɕə] weichen und [viːɕə] wiegen mit demselben š=Laut aus.“314 Dies bedeutet, dass die Koronalisierung bereits am Anfang des 20. Jh. Merkmal des Frankfurter „Regiolekts“ (vgl. Kap. 3.3.4) ist, dies aber eine neue Entwicklung gewesen sein muss, da RAUH (1921b, 11) vom „heutigen Frankfurter“ spricht. Einen weiteren Hinweis auf die Koronalisierung findet sich im Wenkerbogen aus Sachsenhausen (WB 27264), einem Stadtteil Frankfurts. Am Ende des Bogens heißt es: „Die Nachsilbe er wird meist wie ein kurzes helles a gesprochen, â wie oa, ch wie sch.“ Der Bogen entspricht weitestgehend den Beschreibungen der Merkmale für Frankfurt bzw. Sachsenhausen. Die Koronalisierung kommt also schon zur Zeit der Erhebung WENKERS (1879/1880) (zumindest teilweise) in Frankfurt vor und dies auch in den „tiefsten“ Sprechlagen, das heißt im intendierten Dialekt. Geht man davon aus, dass sich die Koronalisierung in den oberen Sprechlagen (d. i. landschaftliches Hochdeutsch) entwickelt hat, ist für Frankfurt um die Jahrhundertwende bereits anzunehmen, dass sich die Koronalisierung im gesamten regionalsprachlichen Spektrum etabliert hat.315 Dies bedeutet, dass für die Analyse des Untersuchungsortes Frankfurt die Variante [ɕ] als standarddifferente, der „tiefsten“ Sprechlage entsprechende und im gesamten Spektrum etablierte Variante dem standardsprachlichen Frikativ [ç] gegenübergestellt werden muss.316 Im Rheinfränkischen belegt REIS (1910, 39) für Darmstadt schon recht früh die Koronalisierung und gibt die Stadt als einen der Ursprungsorte an. Seinen Ursprung nimmt das Phänomen auch hier in einem mittleren Bereich des regionalsprachlichen Spektrums (vgl. REIS 1910, 39, RUDOLPH 1927, 13, GRUND 1935, 12)317 und breitet sich dann in einem komplexen Prozess vertikal wie horizontal aus. FREILING (1929, § 407–412) beschreibt für den Odenwald Anfang des 20. Jh., dass für manche Gebiete [ɕ] zu hören ist. Die Gebiete des koronalen Lauts unterscheiden sich zum Teil je nach Lemma. Für kriegst beobachtet er für den Osten des Gebiets die Koronalisierung (vgl. FREILING 1929, § 409.6), für Mädchen hingegen im südwestlichen Teil (vgl. FREILING 1929, § 412.9). Diese Verteilung spricht dafür, dass die Koronalisierung zur damaligen Zeit gerade in der Ausbrei-
314 Die Notation RAUHS wurde durch den Verfasser in eine phonetische Notation nach IPA überführt. 315 Vgl. dazu auch Kap. 6. 316 Bestätigt wird dies auch durch die Aufnahme des Lautdenkmals Reichsdeutscher Mundarten (vgl. Fn. 290), in der der aufgenommene Sprecher durchgehend koronalisiert. 317 RUDOLPH (1927, 13) gibt folgendes Beispiel: „Soll die Negation (z. B. im Affekt) besonders hervorgehoben werden, so gebraucht der Hbd [= Halbdialekt, L. V.] nicht mit einer nach sch hin lautenden Aussprache des ch“. Dies kann als klares Indiz für eine Entstehung in eher standardorientierten Sprechweisen gedeutet werden.
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4 Anlage der empirischen Untersuchung
tung begriffen war.318 Diese angenommene Ausbreitung im Dialekt bestätigt auch BORN (1938). Er hält für den nördlichen Teil seines Untersuchungsgebietes (also das Gebiet zwischen Frankfurt und Darmstadt) fest, dass beispielsweise. westgerm. g generell nach Palatalvokal als [ɕ] erscheint, wenn kein Ausfall eintritt (vgl. BORN 1938, § 261). Für einzelne Lemmata belegt er aber auch weiter südlich schon koronale Varianten (vgl. BORN 1938, § 261–266), für den Untersuchungsort Reinheim z. B. in Sarg (vgl. BORN 1938, § 261.2). Einige Jahrzehnte später schreibt BAUER (1957, § 150) über den südlichen Odenwald, dass mhd. h, ch nach Palatalvokalen und Liquiden als [ɕ] erscheinen und gibt keine Ausnahmen an.319 Die Koronalisierung hat sich somit vom Norden aus (Darmstadt, vgl. REIS 1910, 39, BORN 1938, 108) bis in den Süden des Odenwalds und somit vollständig über den gesamten Raum des Rheinfränkischen (in Hessen) ausgebreitet. Für diesen Raum kann die Koronalisierung nach ihrer skizzierten Ausbreitung ab Mitte des 20. Jh. als Merkmal der Basisdialekte gelten.320 Aus diesem Grund wurde für Erbach und Reinheim bei der Variablenanalyse dem standardsprachlichen Frikativ die dialektale Variante [ɕ] gegenübergestellt. Für das Zentralhessische ergibt sich bei der Betrachtung der Variable Koronalisierung ein anderes Ergebnis. Für den Vogelsberg beschreibt HASSELBACH (1971, # 162, 176, 182) für die Entsprechungen von westgerm. k, g und h, dass sie nach velaren Vokalen als [x] und nach palatalen als [ç] artikuliert werden. Somit gibt es für das Gebiet um Ulrichstein auch vergleichsweise spät (1969)321 keine Hinweise auf die Koronalisierung. Diese Verteilung für die Entsprechung von westgerm. k, g und h stellt auch ALLES (1993, 44–49) für die 1950er Jahre in Gießen fest. Für die Wetterau gibt ALLES (1954, § 430, 433, 461) ebenso an, dass
318 Vgl. zur lexemweisen Umphonologisierung, die hier als Beispiel fungieren kann, SCHMIDT / HERRGEN (2011, 189–198). 319 Sie ist außerdem der Auffassung, dass Freiling mit seiner Angabe „nicht den reinen ich-Laut meinen“ kann (BAUER 1957, 157) und geht eher von einer koronalen Variante aus. Dies ist schwierig zu entscheiden. Da FREILING aber in seiner Erläuterung der Lautschrift für den palatalen Frikativ das Symbol χ angibt (vgl. FREILING 1929, 8) und zwischen š (alveo-palatal) und χ für mhd. ch differenziert, ist anzunehmen, dass er mit dem Symbol χ den palatalen Frikativ meint und sich die Koronalisierung, wie es seine Angaben annehmen lassen, zu dieser frühen Zeit (FREILINGS Arbeit ist zwar erst 1929 gedruckt worden, war aber bereits 1913 fast abgeschlossen, vgl. FREILING 1929, o. S.) erst ausgebreitet hat. 320 Auch hier lässt sich diese Annahme empirisch belegen. Im Lautdenkmal reichsdeutscher Mundarten wurde eine Aufnahme in Klein-Gerau (nordwestlich von Darmstadt) aufgezeichnet (LD60120 / MD015). Die beiden Sprecher verwenden durchgehend den koronalen Laut [ɕ], bei gleichzeitigem Gebrauch basisdialektaler Merkmale. Vgl. zur Expansion der Koronalisierung im Mosel- und Rheinfränkischen auch HERRGEN (1986, 81–94, 105–111), LAMELI (2004, 159–161) und bspw. Karte 413 (Lemma 31.1 Licht) des MRhSA, Bd. 4. 321 HASSELBACH erhob seine Daten (Tonaufnahmen) 1952 und 1969 nochmals, um einen Vergleich anzustellen. Für die oben genannten Laute beschreibt er keine Veränderung (vgl. HASSELBACH 1971, 3). Für das Rheinfränkische ist bereits für die Mitte des 20. Jh. davon auszugehen, dass sich die Koronalisierung vollständig vertikal und horizontal ausgebreitet hat (s. o.).
4.4 Beschreibung der Variablen
133
westgerm. k, g und h vor palatalen Vokalen als [ç] und vor velaren als [x] erscheinen. Für westgerm. k und h beschreibt er allerdings, dass in einigen Dörfern im Südwesten seines Untersuchungsgebiets „χ als š auftritt“ (ALLES 1954, 156). Er gibt hierfür unter anderem die Beispiele durch und Furche (vgl. ALLES 1954, § 430, 461, 358). Schaut man sich seinen Untersuchungsraum genauer an, so ist mit den Dörfern im Südwesten das Gebiet der Gemeinden/Städte Bad Vilbel, Wöllstadt, Karben, Rosbach und Niddatal gemeint. Dieses Gebiet grenzt unmittelbar an die Stadt Frankfurt. Dieser Beleg der Koronalisierung in den 1950er Jahren kann als Hinweis darauf gesehen werden, dass sich von Frankfurt aus die Koronalisierung nach Norden ins Gebiet des Zentralhessischen ausbreitet. ALLES gibt zudem an, dass der neue Laut [ɕ] im ganzen Westen der Wetterau an Raum gewinnt (vgl. ALLES 1954, 195, vgl. Kap. 3.4.2). Da er Friedberg und Bad Nauheim aus seiner Untersuchung ausschließt, kann hier leider keine genaue Aussage zum Untersuchungsort getroffen werden. Da beide Städte aber an das Gebiet grenzen, für das ALLES Koronalisierungsbelege angibt, sie dem Westen der Wetterau zuzuordnen sind und sich die Koronalisierung über die Städte auszubreiten scheint (vgl. HERRGEN 1986, 97), ist nicht auszuschließen, dass dort auch schon in der Mitte des 20. Jh. koronale Varianten im Dialekt auftreten. Auch für den Ort Büdingen lassen sich bei ALLES keine detaillierten Angaben zu diesem Merkmal finden. Zwar ist Büdingen auch eine Stadt, doch liegt sie nicht in unmittelbarer Nähe zu dem beschriebenen Gebiet. Auch hier kann ein frühes Auftreten der Koronalisierung nicht ausgeschlossen werden, ist aber weniger wahrscheinlich als in Bad Nauheim. Insgesamt kann das Merkmal der Koronalisierung für die Basisdialekte des Zentralhessischen als neu gelten und wird daher als neues regionalsprachliches Merkmal bezeichnet.322 Diese Variante kontrastiert daher mit der standardsprachlichen Form [ç], die mit der basisdialektalen identisch ist. Die Belege für den Süden des Zentralhessischen sind dabei als Hinweis auf eine vertikale (auf die Basisdialekte) und horizontale (nach Norden) Ausbreitung des Phänomens zu werten und bei der Analyse zu berücksichtigen.323 Bei der Variable Koronalisierung stehen sich für die Untersuchungsorte im Rheinfränkischen und im Übergangsgebiet die dialektale Variante [ɕ] und die standardsprachliche [ç] gegenüber. Für die Orte im Zentralhessischen wird die koronale Variante als neues regionalsprachliches Merkmal betrachtet und vom standardsprachlichen Frikativ [ç] unterschieden, der auch die dialektale Variante
322 Die Aufnahme (LD60117 / MD010) des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten aus Berstadt (nördliche Wetterau) bestätigt diese Annahme. In dem Gespräch zwischen zwei ortsansässigen Bauern lässt sich kein Beleg für die Koronalisierung finden. Auch Karte 11 des WSAH (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988) zum CH-Auslaut bestätigt die Klassifizierung als n e u. Hier treten im südlichen Zentralhessischen – (explizit) für den mittleren (regiolektalen) Bereich – relativ viele Belege für die Koronalisierung auf, im nördlichen (fast) keine (zur Dateninterpretation des WSAH vgl. Kap. 3.5.1). 323 Eine Ausbreitung dieser neuen regionalsprachlichen Merkmale kann u. a. PURSCHKE (2008, 198–201) nachweisen.
134
4 Anlage der empirischen Untersuchung
darstellt. Erste Hinweise auf die Ausbreitung der Koronalisierung im Süden des Zentralhessischen sind dabei zu beachten. Untersucht wurden alle Reflexe von westgerm. g, k und h, die in den untersuchten Varietäten theoretisch einem [ç] entsprechen, das heißt beispielsweise für die Standardsprache richtig, ich, König oder für das Zentralhessische lügen, ärgern, Sarg. 4.4.3.2 Tiefschwa-Vorverlagerung Die Variable Tiefschwa-Vorverlagerung bezieht sich wie die Variable (s. 4.4.2.1.4) auf die Phonemfolge /ər/ im Auslaut. Für diese konnten für die Standardsprache und das Zentralhessische die beiden kontrastierenden Varianten [ɐ] (standardsprachlich) und [ər] (dialektal) bestimmt werden. In den Beschreibungen der regionalsprachlichen Entwicklungen im hessischen Sprachraum wird zudem eine dritte Variante beobachtet: „Die Lautkombination [ər] […] im Silbenauslaut […] [wird] meist als schwach artikulierter a-Laut [ɒ] realisiert, der in den einzelnen Teillandschaften unterschiedliche Öffnungsgrade besitzt und sich im engeren Rhein-Main-Gebiet einem schwach betonten, vom normalen zentral artikulierten Schwa-Laut [ə] deutlich zu unterscheidenden vorderen offenen e-Laut nähert“ (DINGELDEIN 1994, 287). Für die Basisdialekte des rheinfränkischen Raums und den Frankfurter Regiolekt kann auch von der vorverlagerten Variante des -Auslauts ausgegangen werden. Hinweise auf diese vorverlagerte Variante gibt REIS (1910, 25) für Darmstadt: „Die Endung er wird wie a, doch mit einem kleinen Anklang von ö, gesprochen so in Vada (Vater), Modda (Mutter), weida (weiter).“ Zwar deutet „der Anklang von ö“ auf eine Rundung des Auslauts, doch auf jeden Fall auch auf eine vordere Artikulation. Auch RUDOLPH (1927, 10–11, 17) hält für das gesamte regionalsprachliche Spektrum in Darmstadt die Realisierung von als [ɐ], bzw. [ɛ] fest.324 Für Frankfurt beschreibt RAUH (1921a, b) den -Auslaut nicht explizit. Er transkribiert ihn stets mit dem Symbol ä und erklärt, dass er dieses Zeichen für -er in Nebensilben verwendet (vgl. RAUH 1921b, 4). Er unterscheidet bei seinen Aussprachezeichen [æ] „sehr offenen ä“, [ɛ] „ä wie in Jäger“ und [ϵ] „e wie in Brett“ (vgl. RAUH 1921, 4), sodass das Symbol [ä] wahrscheinlich nicht konkret für einen dieser Laute steht. Es bleibt somit unklar, welche Vokalqualität das Symbol genau bezeichnet. Dennoch kann eine vokalische Variante mit [ɐ]bzw. [ɛ]-Qualität für Frankfurt angenommen werden.325 Dafür spricht auch der bereits erwähnte Wenkerbogen aus Sachsenhausen (WB 27264), in dem es in dem
324 Vgl. für das Rheinfränkische in Rheinhessen (d. i. linksrheinischer Teil des Großherzogtums Hessen) auch HASTER (1908, § 33), der für den -Auslaut generell eine vorverlagerte Variante [æ] angibt. 325 Da für [ɐ] zur damaligen Zeit kein Transkriptionszeichen bestand, wird oft ein a-haltiges Symbol, wie hier bei RAUH, verwendet. Vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen sowie Fn. 328.
4.4 Beschreibung der Variablen
135
Kommentar am Ende des Bogens über den -Auslaut heißt: „Die Nachsilbe er wird meist wie ein kurzes helles a gesprochen“. Diese Beschreibung deutet auf ein vorverlagertes Tiefschwa. Erstens kann aufgrund der Beschreibung kurz auf einen Zentralvokal geschlossen werden und zweites aufgrund der Beschreibung als hell auf eine vordere (palatale) Aussprache. In IPA-Transkription entspricht dies folgendem Symbol: [ɜ]. Auch VEITH (1983, 86) führt für den „Frankfurter Dialekt“ aus, dass auslautendes -er als [ɛ] realisiert wird und nennt als Bsp. Kinder, Winter, aber. Im Rheinfränkischen gibt RUDOLPH (1927, 10–11) für Darmstadt den ersten Beleg der vorverlagerten Variante (vgl. auch GRUND 1935). FREILING (1929, § 395.1) beschreibt für den Odenwald, eine „Verschiedenheit in der Aussprache der Endung -er“. Er zählt folgende Varianten auf: (1) „mehr oder weniger deutliches a“ im Südosten, (2) ein „einmaliger Schlag des Zäpfchens verbunden mit einem fast in der Kehle articulierten ǫ“ im Südwesten, (3) „getrilltes r“ in einem kleinen zentralen Bereich des Gebietes und sonst hauptsächlich (4) „-ər“326, das um Groß-Umstadt nach [ɛ] klingt (FREILING 1929, § 395.1). Für den Odenwald am Anfang des 20. Jh. gilt also, dass teilweise noch konsonantische Varianten des Auslauts bestehen, aber vokalisierte Varianten (1) + (4) vorherrschen und auch schon vorverlagerte Varianten (bei Groß-Umstadt) zu hören sind. BAUER (1957, § 81) gibt 30 Jahre später an, dass „die Endung ‚-er‘ als -a327 […], im Norden als -ə, gelegentlich als -ę“ erscheint, also ausschließlich vokalische Varianten realisiert werden. BORN (1938, § 93.c) stellt für Darmstadt die Formen „-ęɒ̤“ und „-ɒ̤“ fest (Metzger, höher) und für den Raum um Darmstadt meist -ɒ̤, in den östlichen Teilen des Gebietes auch [ə] (dies betrifft auch den Untersuchungsort Reinheim) (vgl. BORN 1938, § 243). In den Ausführungen zur Lautschrift schreibt BORN (1938, 11) Folgendes: „ɒ und ɒ̤ sind nachlässig artikulierte a- bzw. ä-Laute, die als r-Ersatzlaut erscheinen“. Daher ist ɒ̤ als zentralisierte/reduzierte Form von [ɛ], also [ɜ] zu interpretieren.328 Für das Rheinfränkische ist davon auszugehen, dass sich die vokalischen Varianten der Lautfolge [ər] im Auslaut ausbreiten und ab der Mitte des 20. Jh. als basisdialektale Variante gelten können. Die beschriebenen vokalischen Varianten lassen sich zu drei Hauptvarianten kategorisieren: [a̠], [ə] und [ɜ]. Sie unterscheiden sich alle von der standardsprachlichen Variante [ɐ]. Die Form [a̠] kommt im vorliegenden Korpus nicht vor, die Variante [ə] äußerst selten, [ɜ] hingegen sehr häufig, teilweise sogar der Kardinalvokal [ɛ],329 sodass davon ausgegangen werden muss, dass sich die vorverlagerte Variante, die für
326 327 328 329
Bei dieser Notation ist sehr wahrscheinlich von einem [ɐ] auszugehen. Gemeint ist [a̠], vgl. BAUER (1957, 7). Vgl. zu dieser Auslegung auch LAMELI (2004, 152). Die Varianten wurden zunächst getrennt analysiert. Nachdem sich das erwähnte Ergebnis zeigte, konnte [a̠] als Variante ausgeschlossen werden und [ə] der Variante [ɜ] zugerechnet werden. [ə] kommt sehr selten vor und kann in diesen Fällen als koartikulatorisch bedingt erklärt werden. Eine gesonderte Behandlung hätte die Ergebnisse verfälscht.
136
4 Anlage der empirischen Untersuchung
Frankfurt und Darmstadt fast ausschließlich beschrieben wurde, ausgebreitet hat und als dialektale Variante des gesamten Raums gewertet werden kann.330 Im Zentralhessischen wird die Lautfolge [ər] im Auslaut wie ausgeführt konsonantisch realisiert. Lediglich der Kommentar von ALLES (1954, § 452)331 kann als erster Hinweis auf eine mögliche Vokalisierung gedeutet werden. Dies passt auch zu den Beobachtungen bei der Koronalisierung, da diese sprachliche Veränderung wiederum im Südwesten des Gebietes lokalisiert ist; also auch hier Frankfurter Einfluss angenommen werden kann. Im Gegensatz zur Koronalisierung hält ALLES hier allerdings nur eine Tendenz fest, außerdem ist nicht eindeutig, zu welchem Ergebnis, der Wegfall des /r/ führt. Für die Variable Tiefschwa-Vorverlagerung wurde ebenfalls die Lautfolge [ər] im Auslaut untersucht. Hierbei kontrastiert die standardsprachliche Variante [ɐ] mit den standarddifferenten [ɛ, ɜ]. Diese standarddifferenten Varianten gelten für das Rheinfränkische und das Übergangsgebiet als dialektale Variante, für das Zentralhessische allerdings als neue regionalsprachliche Form. Für diesen Raum müssen für den -Auslaut also drei Varianten berücksichtigt werden: standardsprachlich [ɐ], neu regionalsprachlich [ɛ bzw. ɜ] und basisdialektal [ər].332 In die Analyse einbezogen wurde alle Fälle, die auch für die Variable gelten (s. 4.4.2.1.4). 4.4.4 Variablen der Gruppe 4 4.4.4.1 Fortisierung Für die Variable /t/-Lenisierung wurde bereits das Phänomen der Lenisierung beschrieben. Mit der Variable Fortisierung ist nun der gegenteilige Prozess gemeint, also die Überführung einer Lenis bspw. [b̥] in eine Fortis [p(ʰ)].333 Dieses Merkmal wird als explizit neues regionalsprachliches Phänomen für den untersuchten Raum beschrieben. So stellt VEITH (1983, 86) für eine „mittlere Varietät“ in Frankfurt fest, dass stimmhafte Plosive vor Konsonant fortisiert werden (/bl/ > /pl/, /br/ > /pr/, /gr/ > /kr/) und nennt als Beispiele unter anderem blau, Bruder, groß.334
330 Dies belegen u. a. auch LAMELI (2009), KIESEWALTER (2009) und PURSCHKE (2010). Auch in der Aufnahme des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten ist die Variante [ɜ] fast durchgehend zu beobachten. 331 „Der Südwesten neigt dazu, alle auslautenden r aufzugeben“ (ALLES 1954, § 452). 332 Für das Zentralhessische stehen die beiden Variablen und Tiefschwa-Vorverlagerung also im direkten Zusammenhang. Die Realisierungen der Varianten bedingen sich und müssen zusammen betrachtet werden. 333 Dies kann auch voll stimmhafte Laute betreffen. Des Weiteren kann zusätzlich zur Überführung in eine Fortis der Laut aspiriert werden. 334 VEITH (1983, 86) geht davon aus, dass die dialektale Lenisierung rückgängig gemacht wird und es dann durch verschiedene Varianten zur Verunsicherung der Sprecher und damit zu Hyperkorrekturen kommt, die in Fortisierungen resultieren.
4.4 Beschreibung der Variablen
137
Ebenfalls für Frankfurt beschreibt BRINKMANN TO BROXTEN (1986, 45) als explizit neue Regel der Stadtmundart II335, dass „[s]timmhafte Verschlusslaute b, d, g plus Sonant […] im Anlaut [zu p, t, k] fortisiert“ werden.336 In seiner Auswertung standardnaher Sprachproben aus allen hessischen Sprachräumen kann PURSCHKE (2008, 197) ebenso die Fortisierung von Lenis-Plosiven in Konsonantenverbindungen (Bsp. grün) beobachten (vgl. Kap. 3.5.2). Für das Phänomen der Fortisierung kann somit der Kontext anlautend vor Sonorant ({#}_Klen_{Kson}) bestimmt werden: vor /r, l, n, (m)/ erscheinen die (stimmhaften) Lenis-Plosive /b, d, ɡ/ also als Fortis [p, t, k]. In den Dialektbeschreibungen der Untersuchungsorte ist das Merkmal Fortisierung nicht genannt. Im Gegenteil, denn sowohl im Zentralhessischen als auch im Rheinfränkischen (und auch im Übergangsgebiet zwischen beiden) sind die westgermanischen Plosive in stimmlose Lenes zusammengefallen (vgl. bspw. HASSELBACH 1971, # 175 für westgerm. g, Bsp. groß [ɡ̊ruːs], ALLES 1993, 45 für westgerm. t, Bsp. Trost [d̥ruːsd̥], ALLES 1954, § 154 für westgerm. b, 438, Bsp. bringen [b̥rɛŋə] und BORN 1938, § 133 für westgerm. d, Þ, Bsp. Dreck [d̥rɛɡ̊]).337 Dies bedeutet, dass in den Basisdialekten des untersuchten Raums unabhängig vom historischen Bezugslaut vor Sonorant stets Lenes artikuliert werden. Das Merkmal kann also generell als neues, nicht-dialektales regionalsprachliches Merkmal definiert werden.338 In der Standardaussprache werden Lenes und Fortes vor Sonorant differenziert (vgl. bspw. das Minimalpaar Kreis [kʁa͡ ̠ es] und Greis [ɡʁa͡ ̠ es]) (vgl. DUDEN Bd. 6 2005, 55–57). Es kann bei der Realisierung der Standardaussprache jedoch zu einer „Entstimmlichung von [b, d, ɡ] im absoluten Wortanlaut, auch vor “ kommen (z. B. Gleis [ɡ̊la͡ ̠ es], Gnu [ɡ̊nuː], Brett [b̥ʁɛt]) (KRECH et al. 2009, 108). Diese realisationsphonetisch bedingte Aussprache ist nicht mit der Fortisierung gleichzusetzen, sie resultiert nicht in Fortis-Plosiven, sondern in entstimmte Lenes [b̥, d̥, ɡ̊], die daher von [p, t, k] zu unterscheiden sind. Für die Aussprache der Lenis-Plosive vor Sonorant können somit zwei kontrastierende Variantengruppen festgehalten werden.339 In den untersuchten Basisdialekten und in der Standardaussprache werden die Lenis-Plosive als stimmhafte oder stimmlose Le-
335 Diese entspricht nicht mehr dem nach ihr definierten alten Dialekt in Frankfurt (= Stadtmundart I), sondern einer mittleren Varietät wie bei VEITH (1983) (vgl. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 52 und Kap. 3.4.2). 336 Auch sie geht von Hyperkorrekturen als Ursprung des Merkmals aus. 337 Vgl. für das Rheinfränkische auch BARRY / PÜTZER (1995). 338 Auch in den genannten Aufnahmen des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten ist das Merkmal nicht zu beobachten. 339 Betrachtet man alle Plosive v o r Sonorant, so liegen drei unterschiedliche Systeme vor. In den Basisdialekten wird kein Unterschied zwischen Lenes und Fortes gemacht und alle Plosive werden als Lenes realisiert. Das neue regionalsprachliche Merkmal führt in den betreffenden Sprechlagen dazu, dass ebenfalls nicht mehr differenziert wird, aber vor Sonorant ausschließlich Fortes artikuliert werden. In der Standardsprache wird die Differenzierung vorgenommen.
138
4 Anlage der empirischen Untersuchung
nes realisiert [b, d, ɡ, b̥, d̥, ɡ̊], als neue regionalsprachliche, sowohl dialekt- als auch standarddifferente Variante kann die Aussprache als Fortes beschrieben werden [p, t, k], bei der zusätzlich eine Aspiration eintreten kann [pʰ, tʰ, kʰ]. Einbezogen in die Analyse wurden alle Fälle von standardsprachlichen Lenis-Plosiven im absoluten Anlaut vor Sonorant.340 4.4.4.2 /s/-Sonorisierung Auch die /s/-Sonorisierung kann als neues regionalsprachliches Phänomen gelten. Mit dieser Variable ist die stimmhafte Realisierung des stimmlosen alveolaren Frikativs [s] in intervokalischer Position gemeint (Bsp. Wasser [va̠zɐ]).341 DINGELDEIN (1994, 285–286) schreibt dazu: „Im Neuhessischen ist in jüngerer Zeit allerdings eine zunehmende, allerdings unsystematische Verwendung auch des stimmhaften Frikativs [z] zu beobachten. So ist die im Sinne der Standardsprache und der südhessischen Dialekte ‚falsche‘ intervokalische Verwendung des stimmhaften [z] etwa in vazər ‚Wasser‘ mittlerweile fast zu einem Kennzeichen des [sic!] Sprache des Rhein-Main-Gebiets geworden“. DINGELDEIN beschreibt das Aufkommen der stimmhaften Variante für die jüngere Zeit, es ist also von einem recht neuen Merkmal auszugehen, das allerdings schon charakteristisch für die Region geworden ist.342 Auch LAMELI (2004, 158) beschreibt die Variante als ein nicht-dialektales (also neues regionalsprachliches) Merkmal, „das […] im oberen Bereich der Standard-Dialekt-Achse erwartbar ist“. Er kann zudem eine Ausbreitung der neuen Variante anhand der Karte für beißen des MRhSA (Bd. 4, Karte 332) im intergenerationellen Vergleich nachweisen. Das Merkmal kann deshalb zusätzlich als progressiv gewertet werden. Für die behandelten Basisdialekte ist das Merkmal nicht beschrieben. In den untersuchten Räumen sind westgerm. t und s (mhd. ʒ, ʒʒ und s) zu [s] zusammengefallen, das heißt in allen Positionen wird der stimmlose alveolare Frikativ realisiert (vgl. bspw. für das Rheinfränkische FREILING 1929, § 231, Bsp. sauber [sa̠͡ovɐ], Essig [ɛsɪç], für das Zentralhessische ALLES 1954, § 457, Bsp. Sache [sa̠x], lösen [liːsə]).343 Dies bestätigt die Ein-
340 Da das Merkmal explizit in den nicht-dialektalen Sprechlagen (eher standardnahen) Sprechlagen beobachtet wurde und als ne u gelten muss, ist der Bezug zur Standardsprache hier ausreichend. 341 Es besteht ein distinktiver Unterschied der Sonorität (s. o.), weshalb die Variable als sSonorisierung bezeichnet wird. 342 Allerdings führt VIËTOR (1875, 9) das Merkmal in seiner Beschreibung der rheinfränkischen Umgangssprache auf. Es handelt sich um den frühesten Beleg, der in den anderen Beschreibungen nicht zu finden ist (vgl. Kap. 3.3.4). Die Frage nach dem Zeitpunkt des Entstehens ist somit schwierig zu bestimmen. Eindeutig zu bestimmen ist aber, dass das Merkmal seinen Ursprung nicht im dialektalen, sondern im „oberen“ Bereich der Regionalsprachen nimmt (vgl. dazu auch Kap. 8.4.2). 343 Vgl. auch BORN (1938, § 140), ALLES (1993, 49) und HASSELBACH (1971, # 189).
4.4 Beschreibung der Variablen
139
stufung als neues regionalsprachliches Phänomen.344 In der Standardaussprache werden der stimmhafte und der stimmlose alveolare Frikativ in intervokalischer Position differenziert, es besteht ein distinktiver Unterschied (vgl. bspw. das Minimalpaar reisen [ʁa͡ ̠ ezən] und reißen [ʁa͡ ̠ esən]) (vgl. DUDEN Bd. 6 2005, 45, 50). Für die Realisierung des stimmlosen alveolaren Frikativs /s/ in intervokalischer Position ist so von zwei kontrastbildenden Varianten auszugehen. In den Basisdialekten und der Standardsprache wird der Frikativ stimmlos [s] artikuliert, als neue regionalsprachliche (dialekt- und standarddifferente) Variante ist die stimmhafte Realisierung [z] zu bezeichnen. Untersucht wurden alle standardsprachlichen stimmlosen alveolaren Frikative in intervokalischer Position.345 Tab. 4-5 fasst die untersuchten Phänomene zusammen: übergreifend mhd. ou mhd. ei /t, d/-Assimilation /b/-Spirantisierung /n/-Apokope Negationspartikel Koronalisierung TiefschwaVorverlagerung Fortisierung /s/-Sonorisierung
Zentralhessisch mhd. uo mhd. ô Flachdiphthonge
Rheinfränkisch mhd. ê mhd. ô Palatalisierung
Übergangsgebiet Entrundung /t/-Lenisierung
Tab. 4-5: Übersicht der untersuchten Phänomene
In den folgenden Kapiteln werden die Analysen zu den einzelnen Orten präsentiert. Diese können jeweils – für die ortsspezifischen Ergebnisse – einzeln gelesen werden. Die Orte Reinheim (DA) und Erbach (ERB), Ulrichstein (VB) und Gießen (GI) sowie Büdingen (BÜD) und Bad Nauheim (FB) bilden Paare. Der jeweils zweite Ort validiert die Ergebnisse des ersten und ist somit für die Gesamtergebnisse wichtig. Ausreichend für das Verständnis der Gesamtergebnisse (Kap. 8) wäre – mit geringen Einschränkungen – die Lektüre des jeweils ersten Ortskapitels.
344 Auch in den genannten Aufnahmen des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten ist das Merkmal nicht zu beobachten. Karte 46 des WSAH (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1988) zu reißen vs. reisen zeigt, dass das Merkmal in den regiolektalen Sprechlagen im Süden und der Mitte Hessens schon vorkommt und bestätigt die Einordnung als neu und nichtdialektal. Vgl. dazu auch Fn. 322. 345 Zum Bezugssystem vgl. Fn. 341. Durch andere dialektale Merkmale (bspw. e-Apokope) müssen manche Belege aufgrund der Veränderung der Wortposition des Frikativs ausgeschlossen werden (vgl. z.B. std. Füße vs. dial. Fiis).
5 RHEINFRÄNKISCH 5.1 REINHEIM346 5.1.1 Einführung347 Die Stadt Reinheim, deren Namensherkunft nicht endgültig geklärt ist, wurde 1260 gegründet. Sie liegt zwischen dem Odenwald und dem Rhein-Main-Gebiet, ungefähr 15 km südöstlich von Darmstadt und 40 km südlich von Frankfurt am Main (vgl. Karte 5-1). Gemeinhin wird sie noch zum Rhein-Main-Gebiet gezählt, gleichzeitig als „Tor zum Odenwald“ bezeichnet.
Karte 5-1: Lage der Städte Reinheim (5.1) und Erbach (5.2) – erstellt mit dem REDE SprachGIS
346 Zum Aufbau der Ortskapitel ist zu sagen, dass zunächst der jeweilige Untersuchungsort kurz allgemein beschrieben und ein Überblick der untersuchten Sprecher gegeben wird. Die dialektgeografische Einordnung der Orte erfolgte bereits in Kap. 3. Darauf folgt die Besprechung der Analyseergebnisse (empirische und theoretische Analysen), um auf deren Grundlage die Struktur des Spektrums herzuleiten und Sprechlagen zu charakterisieren. Danach werden die Sprecher genauer betrachtet, d. h. das individuelle Sprachverhalten wird untersucht, um darüber Sprechertypen zu ermitteln. Außerdem erfolgt ein intergenerationeller Vergleich (apparent-time-Analyse). Die Kapitel schließen mit einer tabellarischen Zusammenfassung. Als Lesehinweis zu den Ortskapiteln vgl. S. 139. 347 Vgl. zu diesem Abschnitt und für weitere Informationen zur Stadt die Internetseite von Reinheim ().
141
5.1 Reinheim
Die Stadt ist seit 1971 Teil des Landkreises Darmstadt-Dieburg und mit 16.277 Einwohnern (Stand 31.12.2015) eine mittelgroße Stadt im Landkreis. Zu ihr zählen fünf Stadteile: Kernstadt Reinheim, Georgenhausen, Spachbrücken, Ueberau und Zeilhard. Sowohl im Straßen- als auch im Schienenverkehr ist Reinheim gut an Darmstadt (Entfernung mit dem Auto und mit der Bahn ca. 25 Min.) und an den Kern des Rhein-Main-Gebiets (Entfernung mit dem Auto ca. 55 Min., mit der Bahn ca. 50 Min.) angebunden. Untersucht wurden für Reinheim vier Sprecher, die kurz tabellarisch präsentiert werden, bevor sie in Kap. 5.1.3 näher betrachtet werden: Sprecher
Geburtsjahr Wohnort (seit
Beruf
Geburt)
Rentner (früher
Datum der Aufnahme
DAALT2
1930
Reinheim
DA1
1954
Reinheim Groß-Zimmern,
POK
Nov. 2010
DA5
1957
(seit 1987 Reinheim)
PHK
Nov. 2010
DAJUNG1
1992
Reinheim
Abiturient
Jan. 2011
Landwirt)
Nov. 2010
Tab. 5-1: Sprecherübersicht Reinheim (DA)
5.1.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums 5.1.2.1 Empirische Analysen In Abb. 5-1 sind die gemessenen Dialektalitätswerte für die Sprachproben der Reinheimer Sprecher zu sehen. Im Diagramm sind die Werte symbolisch und schwarz-weiß kodiert und in der Tabelle numerisch aufgeführt. Am oberen Ende der Skala des Diagramms ist mit dem Wert 0 die normierte Standardaussprache dargestellt. Die Dialektalitätswerte nehmen nach unten hin zu. Die Kodierung der Sprachproben (vgl. Abb. 4-1) bleibt innerhalb der gesamten Arbeit erhalten. Bei der Betrachtung der Ergebnisse für Reinheim ist zunächst auffallend, dass es absolut wie relativ Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei den Sprechern gibt. Der Sprecher der älteren Generation weist absolut die höchsten Werte auf, wohingegen der Sprecher der jüngeren Generation die niedrigsten Werte zeigt. Die Relationen der phonetischen Dialektalitätswerte der Sprachproben zeigen, dass die Sprecher der älteren und mittleren Generation anscheinend dasselbe Variationsverhalten zeigen (vgl. in Abb. 5-1 die Unterschiede zwischen dem Freundesgespräch und dem Interview), wohingegen der junge Sprecher in den freien Gesprächen kaum zu variieren scheint. Das individuelle Sprachverhalten wird in Kap. 5.1.3 genauer untersucht.
142
5 Rheinfränkisch
phon. Dialektlitätswerte
ͲǡͲ Ͳǡͷ ͳǡͲ ͳǡͷ ʹǡͲ ʹǡͷ ͵ǡͲ
ʹ
ͳ
ͷ
ͳ
òǤ
ͳǡͳ
ͳǡͲ
ͳǡͳ
Ͳǡ
ͳǡʹ
Ͳǡͻ
Ͳǡͻ
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Abb. 5-1: D-Werte für Reinheim (DA)
Für die Struktur des Spektrums insgesamt, die sich aus dem gesamten Sprachverhalten der Sprecher ergibt, lassen sich aufgrund der Dialektalitätswerte erste Vermutungen ableiten. Eine Abgrenzung zur Standardsprache wird insofern deutlich, als keiner der Sprecher – auch in den Erhebungen der Standardkompetenz – niedrigere Werte als 0,6 erreicht. Aufgrund größerer Abstände zwischen den Sprachproben könnten Abgrenzungen im Bereich von 0,9 und von 1,6–1,7 vorgenommen werden. Diese treten nicht sehr deutlich hervor. Sie ließen sich als mögliche Varietätengrenzen interpretieren, die durch die weiteren Analysen zu bestätigen oder zu verwerfen sind. Für die Sprachproben wurden des Weiteren Variablenanalysen durchgeführt (vgl. Kap. 4.3.2 und 4.4).348 Diese bilden die Grundlage der Clusteranalysen (vgl. Kap. 4.3.3). Deren Ergebnisse sind als Dendrogramm in Abb. 5-2 zu sehen. Links neben der Grafik sind die klassifizierten Untersuchungsobjekte abgetragen (d. s.
348 Für die Notrufe von DA1 war für eine Variablenanalyse keine ausreichende Datengrundlage vorhanden. Sie wurden qualitativ untersucht.
143
5.1 Reinheim
Sprachproben, abgekürzt mit Erhebungssituation und Informantenkürzel).349 Die Sprachproben wurden anhand der Variantenverteilungen klassifiziert, der Abstand der Cluster zueinander wird durch die horizontale Ausdehnung der Balken ausgedrückt. Die Reihenfolge der Sprachproben innerhalb der Cluster ist nicht standardisiert, dies bedeutet, dass beispielsweise Interview_DA1 nicht ähnlicher zu FG_DAJUNG1 ist als zu WSD_DAJUNG1. Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
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Interview_DA1 FG_DAJUNG
3 Interview_DAJUNG1 WSD_DAJUNG1 WSS_DA1
II
WSS_DA5
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WSS_DAALT2 Interview_DA5 WSS_DAJUNG1 FG_DA1
2
FG_DA5 Interview_DAALT2
I
FG_DAALT2 WSD_DA1
1 WSD_DAALT2 WSD_DA5
Abb. 5-2: Dendrogramm für Reinheim (DA)
349 Die Abkürzungen sind wie folgt aufzulösen: FG = Freundesgespräch, WSS = Wenkersätze Standard (Übertragung der Wenkersätze in das individuell beste Hochdeutsch), WSD = Wenkersätze Dialekt (Übertragung der Wenkersätze in den individuell besten Dialekt).
144
5 Rheinfränkisch
Das Dendrogramm für die Reinheimer Sprachproben zeigt zunächst die Aufteilung in zwei Subcluster (I und II). Diese Cluster können wiederum auch in jeweils zwei Subcluster gegliedert werden. Auf der untersten Ebene kann somit von vier Clustern ausgegangen werden: Cluster 1 mit vier Sprachproben (WSD_DA5 bis FG_DAALT2), Cluster 2 mit drei Sprachproben (Interview_DAALT2 bis FG_DA1), Cluster 3 mit vier Sprachproben (WSD_DAJUNG1 bis Interview_DA1) und Cluster 4 mit fünf Sprachproben (WSS_DAJUNG1 bis WSS_DA1). Der Hauptunterschied liegt zwischen den beiden Subclustern der ersten Stufe (I und II), was durch die Trennlinie gekennzeichnet wurde. Dies kann als Hinweis auf eine mögliche Varietätengrenze gewertet werden, die weitere Subclusterung könnte auf Sprechlagen innerhalb der Varietäten deuten. Um dies zu bestätigen oder zu widerlegen und die Sinnhaftigkeit der vorgestellten VierClusterlösung zu überprüfen, müssen die Cluster genauer analysiert und zusammen mit linguistischen Kriterien betrachtet werden. Dazu folgt eine Kombination dieser Ergebnisse mit den Ergebnissen der Variablenanalyse (vgl. Abb. 5-3–6). Die Grafiken sind wie folgt zu lesen: auf der yAchse sind die prozentualen Realisierungen der regionalsprachlichen Varianten der einzelnen Variablen, die auf der x-Achse aufgeführt sind, dargestellt.350 Hier bedeutet 0 %, dass keine regionalen Varianten, sondern nur standardkonforme Varianten realisiert wurden und im Umkehrschluss bedeuten 100 %, dass ausschließlich regionale Formen produziert wurden. Es wurde die gängige Darstellung der standarddifferenten Varianten gewählt (d. h. 100 % am oberen Ende der Skala stehen für die regionale Sprachform/den Dialekt). Im Vergleich zu den Grafiken der phonetischen Dialektalitätswerte (vgl. Abb. 5-1) ist zu beachten, dass hier die Reihenfolge von Standardsprache und Dialekt genau umgekehrt ist (Standardsprache = oben, Dialekt = unten). Die einzelnen Sprachproben, für die die Analysen durchgeführt wurden, sind oben abgetragen, die Kennzeichnung entspricht der des Dendrogramms. Sie sind auch hier farblich (schwarz-weiß) und symbolisch kodiert. Da hier aber alle Sprachproben aller Sprecher dargestellt sind und die Variablen fokussiert werden, ist keine Einzeldarstellung für die Sprecher möglich und die ansonsten verwendete Kodierung wäre unübersichtlich und nicht eindeutig. Hier wurde eine willkürliche, aber eindeutige Kodierung verwendet. Das heißt ein Symbol mit entsprechender Tönung repräsentiert eine Sprachprobe und die Position auf der y-Achse zeigt die prozentuale Realisierung der regionalen Varianten der entsprechenden Variablen in dieser Sprachprobe an. Die durchgezogenen Linien, die die Mittelwerte der einzelnen Verteilungen miteinander verbinden, dienen der Illustration. Sie sind mathematisch nicht korrekt, da es sich um keinen Verlauf handelt, sondern um Verbindungen unabhängiger Punkte (vgl. KEHREIN 2012, 195, Fn. 220). Um die Gesamtergebnisse der Variablenanalysen – auch optisch – besser zu vergleichen, wurde diese Darstellung als Linie ge-
350 Vgl. für die absoluten und relativen Werte Tab. A.7 im Anhang. Zur Dateninterpretation und -kombination vgl. Kap. 4.3.2.
5.1 Reinheim
145
wählt.351 Im Folgenden werden die einzelnen Variantenverteilungen der vier Subcluster besprochen und danach zusammenfassend betrachtet, um Rückschlüsse auf die Struktur des regionalsprachlichen Spektrums zu ziehen. Verteilungsmuster der Varianten lassen sich auf Sprachverwendungsmuster der Sprecher zurückführen. Aus der Gesamtbetrachtung des Sprachverhaltens der Sprecher lassen sich dann Hinweise auf die Struktur des Spektrums ableiten (vgl. auch Kap. 4.3). Die Analyse des individuellen Sprachverhaltens erfolgt in Kap. 5.1.3 (vgl. zu den Zusammenhängen Kap. 8.5). Zuvor werden zentrale Begriffe erläutert und definiert: Unter (a) Variabilisierung des Gebrauchs standarddifferenter Merkmale wird der sukzessive sprecher- und/oder situationsbedingte Rückgang der Realisierung dieser Merkmale verstanden. Der Prozess kann innerhalb gewisser Frequenzbereiche oder durchgehend (d. h. von 100 %–0 %) stattfinden. Er kann zudem mit Verwendungsschwerpunkten (vgl. c) einhergehen und im Vergleich zunehmen. Abzugrenzen ist die Variabilisierung gegen (b) abrupte Frequenzrückgänge ohne bzw. mit geringer Varianz der Werte, die als klare Umbrüche in den Variantenverteilungen zu verstehen sind.352 Die Folge einer Variabilisierung ist der Zustand der Variabilität. Unter (c) Verwendungsschwerpunkt wird hier die kombinierte Realisierung der standarddifferenten Varianten einer Variablen in einem gewissen Frequenzbereich – ohne oder mit lediglich geringer Varianz der Werte – verstanden. Der Terminus (d) kategorialer Unterschie d bezieht sich hier auf das Vorkommen bzw. Nichtvorkommen standarddifferenter Varianten im Sinne einer binären Kategorisierung. Diese Unterschiede müssen qualitativ und quantitativ überprüft werden und können kombiniert Hinweise auf mögliche Varietätengrenzen geben. Begriffe wie (e) Abbau oder Rückgang von Varianten beziehen sich – wenn nicht anders expliziert – auf das synchrone Sprachverhalten der Sprecher. Im ersten Cluster (Abb. 5-3) sind die Wenkersatzübertragungen in den Dialekt des älteren und der beiden mittleren Sprecher sowie das Freundesgespräch des älteren Sprechers zusammengefasst. Dieses Cluster lässt sich als Dialekt identifizieren.
351 Generell wurde diese Art der Darstellung gewählt, da hier – trotz eventueller Unübersichtlichkeit bei der ersten Betrachtung – die Variation dargestellt werden kann. Zusammenfassende Grafiken verdecken, wie sich die Werte zusammensetzen, was hier jedoch von zentraler Bedeutung ist. Zu den Abkürzungen: nicht bezeichnet die Variable Negationspartikel, Tiefschwa-VV die Vorverlagerung des Tiefschwas. 352 Die Unterscheidung zwischen Variabilisierung und abrupten Frequenzrückgängen (ohne vorhergehende Variabilisierung) ist nicht diskret. Es handelt sich vielmehr um die Pole einer Skala, sodass die Beschreibungen stets als Annäherung zu verstehen sind und eine umfassende Gesamtbetrachtung erforderlich ist. Wichtig ist zudem, dass nicht die Merkmale einer Variabilisierung unterliegen, sondern ihr Gebrauch. Diese korrekte Formulierung geht zwar auf Kosten der Lesbarkeit, ist aber meist notwendig.
146
5 Rheinfränkisch
Alle Merkmale werden hochfrequent realisiert.353 Es zeigt sich bei den vokalischen Merkmalen, dass die dialektalen Varianten im Vergleich etwas seltener realisiert werden und dass sie dabei variabel sind, was gut an der Streuung der Werte für mhd. ê zu sehen ist. Bei den dialektalen Merkmalen des Konsonantismus und dem des Nebensilbenvokalismus ist zu beobachten, dass sie hochfrequent verwendet und kaum variiert werden. ̴ʹ
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Abb. 5-3: Variablenanalyse Cluster 1 (DA)
Cluster 2 (Abb. 5-4) enthält die Freundesgespräche der beiden mittleren Sprecher und das Interview des älteren Sprechers. Hier zeigen sich im Vergleich zum ersten Cluster Unterschiede. Die Frequenzen der dialektalen Varianten für mhd. ê und ô gehen stark zurück. Für mhd. ô werden nur in einer Sprachprobe dialektale Diphthonge realisiert. Die Anzahl der Realisierungen des Diphthongs für mhd. ê ist im Vergleich höher. In einer Sprachprobe sind diese Varianten schon vollständig abgebaut. Die Verteilung bei mhd. ê zeichnet sich bereits durch die Variabilität in
353 Mit Ausnahme der Fortisierung. Diese verhält sich in allen Sprachproben anders, als alle anderen Merkmale, sodass sie bei der Besprechung der Cluster und des Sprachverhaltens zunächst unberücksichtigt bleibt, und in Kap. 8.4.5 genauer untersucht wird.
147
5.1 Reinheim
Cluster 1 ab.354 Die regionalen Merkmale von mhd. ei bis s-Sonorisierung zeigen eine Variabilisierung der Realisierung, was sich im Rückgang der Frequenzen in unterschiedlichem Maße im Vergleich zu Cluster 1 zeigt – eine vergleichsweise große Reduktion der Frequenzen mit zunehmender Varianz ist bei den standarddifferenten Varianten von mhd. ei und der t/d-Assimilation festzuhalten. Lediglich die Verteilungen bei der Koronalisierung, der Negationspartikel und der Tiefschwa-Vorverlagerung sind nahezu unverändert, das heißt die regionalen Varianten werden zu ~ 100 % realisiert und zeigen dabei keine/kaum Variabilität. ̴ʹ
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Abb. 5-4: Variablenanalyse Cluster 2 (DA)
In Cluster 3 (vgl. Abb. 5-5) werden das Interview von DA1 und die Sprachproben des jungen Sprechers (außer seiner Standardkompetenzerhebung) zusammengefasst. Hier zeigt sich, dass die Diphthonge für mhd. ô und ê vollständig durch standardsprachliche Formen ersetzt werden (vgl. Verteilung in Cluster 2). Die standarddifferenten Varianten für mhd. ei und ou werden sehr selten – teilweise in unterschiedlichen Sprachproben – verwendet und in manchen der enthaltenen Sprachproben bereits vollständig vermieden. Die Realisierungen der vokalischen
354 Dass Sprecher DA1 im Freundesgespräch im Vergleich einen recht hohen Wert für die Varianten für mhd. ê aufweist, liegt v. a. an dem wiederholten Vorkommen des Lexems zehn, das er diphthongisch realisiert.
148
5 Rheinfränkisch
Dialektmerkmale in den dialektalen Wenkersätzen des jungen Sprechers beruhen hauptsächlich auf einzellexematischen Erinnerungsformen (vgl. Kap. 5.1.3.4). Ein weiterer, unterschiedlich hoher Rückgang der Frequenzen und somit eine zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs der dialektalen Merkmale lässt sich bei den Variablen n-Apokope, t/d-Assimilation, b-Spirantisierung und s-Sonorisierung erkennen. Stabilität in einem sehr hohen Frequenzbereich zeigen die dialektalen Formen der Variablen nicht, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung. ̴ͳ ̴ ͳ
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Abb. 5-5: Variablenanalyse Cluster 3 (DA)
Cluster 4 (vgl. Abb. 5-6) enthält die Standardkompetenzerhebungen aller Sprecher und das Interview von DA5. In diesem Cluster werden zusätzlich die standarddifferenten Varianten der vokalischen Merkmale und der n-Apokope nicht mehr artikuliert, ein starker Rückgang der Frequenzen, der teilweise zum vollständigen Rückgang führt, zeigt sich bei den standarddifferenten Varianten von nicht, der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung. Eine hohe Variabilität lässt sich für die Realisierung der regionalen Formen der s-Sonorisierung beobachten, wohingegen die entsprechenden Varianten der Koronalisierung und Tiefschwa-Vorver-
149
5.1 Reinheim
lagerung weiterhin hohe Frequenzwerte aufweisen und insgesamt hohe Stabilität zeigen.355 ̴ ͳ ̴ͷ
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Abb. 5-6: Variablenanalyse Cluster 4 (DA)
Insgesamt betrachtet sind die Ergebnisse für die Variablen Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung eindeutig. Die regionalen Formen werden durchschnittlich zu fast 100 % realisiert und variieren dabei kaum bis gar nicht. An ihnen lässt sich die schon bei den Dialektalitätswerten sichtbare Varietätengrenze zur Standardsprache deutlich zeigen.356 Die dialektalen Varianten für mhd. ê und ô weisen insgesamt die geringsten Frequenzwerte auf. Die Diphthonge für mhd. ô werden in den Sprachproben des ersten Clusters hochfrequent verwendet. In jeweils einer Sprachprobe des zweiten und dritten Clusters kommen wenige dieser Varianten vor. Im dritten Cluster handelt es sich um eine Erinnerungsform. Die dialektalen Varianten von mhd. ô wer355 DAJUNG1 realisiert die regionalen Varianten für Tiefschwa im intendierten Standard „nur“ noch zu 70 %. Hier zeigt sich möglicherweise ein erstes Anzeichen für eine beginnende Variabilisierung der Verwendung des Merkmals. 356 Zur endgültigen Klärung der Varietätengrenze zur Standardsprache vgl. Kap. 8.4.6. Merkmale, deren standarddifferente Varianten in (fast) allen Sprachproben hochfrequent (oder überhaupt nicht, vgl. Kap. 7.1) realisiert werden, können nicht bzw. nur tw. der Differenzierung der Sprachproben dienen.
150
5 Rheinfränkisch
den also ohne Variabilisierung des Gebrauchs fast vollständig durch standardentsprechende Formen ersetzt. Die Verwendung des dialektalen Diphthongs für mhd. ê unterliegt einer durchgehenden Variabilisierung. Der Diphthong wird erst in den Sprachproben des dritten Clusters vollständig abgebaut. Für die standarddifferenten Merkmale von mhd. ei, n-Apokope, t/d-Assimilation und b-Spirantisierung kann ebenfalls eine durchgehende Variabilisierung der Verwendung festgehalten werden. Die standardabweichenden Varianten der s-Sonorisierung sind durchgehend bis in einen mittleren Frequenzbereich gestreut. Bei mhd. ou und der Negationspartikel lässt sich eine Variabilisierung des Gebrauchs der regionalen Variante in einem hohen Frequenzbereich mit einem starken, abrupten Rückgang der Variantenfrequenzen an einer Stelle beobachten. Es lässt sich zusammenfassen, dass viele der regionalen Merkmale eine durchgehende Variabilisierung der Realisierung zeigen. Stärkere Frequenzrückgänge innerhalb dieser Variabilisierungen finden zwischen verschiedenen Clustern bzw. Sprachproben statt (vgl. bspw. mhd. ei innerhalb des dritten Clusters und n-Apokope zwischen Cluster 3 und 4).357 Dies gilt auch für die abrupten Frequenzrückgänge in der Verteilung der regionalen Varianten (vgl. bspw. mhd. ô zwischen Cluster 1 und 2 und nicht zwischen Cluster 3 und 4).358 Auch die totalen Rückgänge der Varianten finden zwischen unterschiedlichen Clustern bzw. Sprachproben statt (vgl. bspw. mhd. ou innerhalb des dritten Clusters und mhd. ê innerhalb des zweiten Clusters). Es kann daher absolut im Gesamtvergleich (vgl. dazu auch Abb. 5-7) und relativ für die meisten einzelnen regionalen Merkmale ein sukzessiver Abbau festgehalten werden. Das bedeutet, dass sich in den Variantenverteilungen, die zur Differenzierung beitragen (vgl. Fn. 356), kein kombinierter und systematischer Unterschied ermitteln lässt.359 Die Werte der Variantenfrequenzen streuen also über die Sprachproben und die Wertdifferenzen über die Variablen. Dieser empirische Befund spricht gegen eine Varietätengrenze und somit gegen diskrete Varietäten im Reinheimer Spektrum. Innerhalb der Sprachdynamiktheorie halten SCHMIDT / HERRGEN (2011, 329–330) fest: Das Gegenteil [d. h. keine Varietätengrenze anzunehmen, L. V.] wäre der Fall, wenn zwei Sprechergruppen nur für eine oder zwei Variablen geringfügige Wertdifferenzen aufweisen (= eine Varietät oder Sprechlage) oder Wertdifferenzen über alle Variablen streuen (keine Sprechlagen erkennbar).
Die Annahme wird hier bestätigt, wenn man die Ergebnisse der Variablenanalyse direkt mit denen der Clusteranalyse in Bezug setzt. Betrachtet man Sprachproben,
357 Gemeint sind damit keine Prozesse, sondern eine Beschreibung der Differenzen zwischen den hier zusammen betrachteten Sprachproben, d. h. Differenzen zwischen den Sprachverhaltensmustern aller Sprecher. 358 Vgl. dazu auch Kap. 5.2.2.2. 359 Lediglich bei mhd. ou und der n-Apokope kann zwischen Cluster 2 und 3 ein ähnlicher Frequenzrückgang beobachtet werden (s. u.), der jedoch insgesamt mit unterschiedlichen Variantenverteilungen bzw. unterschiedlichen Variabilisierungen einhergeht und keinem systematischen und kombinierten Unterschied entspricht.
5.1 Reinheim
151
die den beiden differenzierten Hauptclustern zugeordnet werden, aber untereinander am ähnlichsten sind (d. h. die ähnlichsten der unähnlichsten Sprachproben), lassen sich die Unterschiede der Clusterbildung herausstellen. Im Falle der Reinheimer Sprachproben handelt es sich um das Interview von DAALT2 (Cluster 2) und das Interview von DA1 (Cluster 3). Zwischen den beiden Sprachproben besteht ein großer Unterschied der Variantenfrequenzen der Variablen mhd. ou und n-Apokope (vgl. Abb. 5-4 und 5-5), deren Gesamtverteilung jedoch differiert (vgl. Fn. 359). Ansonsten weisen die Proben ähnliche, oft sogar dieselben Frequenzwerte auf. Ein kategorialer Unterschied besteht in der Verteilung der dialektalen Variante von mhd. ei, die von DAALT2 in der Sprachprobe verwendet wird und von DA1 nicht. Der totale Rückgang dieses Merkmals geht mit einer Variabilisierung des Gebrauchs einher. Die regionale Variante von mhd. ei wird zudem in manchen Sprachproben des dritten Clusters – wenn auch selten – realisiert, sodass kein kategorialer Unterschied zwischen den Clustern besteht (vgl. auch Abb. 5-7). Es kommt hinzu, dass sich diese Differenz relativ gesehen aus sehr geringen Frequenzunterschieden zusammensetzt. Dies bedeutet, dass die Hauptgrenze der Clusteranalyse hauptsächlich durch Frequenzunterschiede bei den Variablen mhd. ou und n-Apokope bedingt wird, und somit die mögliche Varietätengrenze dadurch begründet wäre. Dies scheint weder empirisch (quantitativ) noch theoretisch (qualitativ) bei der näheren Betrachtung dieser Merkmale (s. u.) sinnvoll und bestätigt eher den bisherigen Befund, von keiner Varietätengrenze auszugehen (vgl. als Kontrast Kap. 7.1.2) – muss aber bei der Modellierung des Spektrums beachtet werden. Es gibt ein weiteres Indiz dafür, dass keine Varietätengrenze ermittelt werden kann. Die Clusteranalyse in Erbach, die mit denselben Variablen durchgeführt wurde (vgl. Kap. 5.2.2), ergibt eine andere Unterteilung in Hauptcluster, das heißt hier würde sowohl von der Qualität und Quantität der regionalen Merkmale und den Dialektalitätswerten die Varietätengrenze innerhalb eines Dialektraums nicht an vergleichbarer Stelle liegen. Dies spricht eher für die hier vorgeschlagene Annahme und wird in Kap. 5.2.2 detaillierter beschrieben.360 Der Befund wird zusätzlich durch die Implikationsanalyse bestätigt. Die Ergebnisse der Analyse sind in Abb. 5-7 zu sehen. Diese ist wie folgt zu lesen: in den Zeilen sind die untersuchten Sprachproben aufgeführt (s. o.) und in den Spalten die untersuchten Variablen.361 Die Anordnung (bzw. Skalierung) der Sprachproben und Variablen richtet sich nach der Verteilung der regionalsprachlichen Varianten (1 = ist vorhanden, 0 = ist nicht vorhanden) und ist an die übliche Dar-
360 Zu einer Hyperform bei DAJUNG1 vgl. Fn. 397. 361 Legende für Abb. 5-7: Kor. = Koronalisierung, [ɐ]-VV = Tiefschwa-Vorverlagerung, [s] = sSonorisierung, [b] = b-Spirantisierung, [nd] = t/d-Assimilation, nicht = Negationspartikel, [n] = n-Apokope, ou = mhd. ou, ei = mhd. ei, ê = mhd. ê, ô = mhd. ô. Bei der Variable Fortisierung handelt sich es um einen besonderen Fall, der sich von allen weiteren unterscheidet. Die Variable wird in Kap. 8.4.5 genauer untersucht. Die regionalsprachliche Variante tritt in allem Sprachproben auf, sodass mit der Auslassung hier kein Erkenntnisverlust verbunden ist. Vgl. auch Fn. 353.
152
5 Rheinfränkisch
stellungsweise angelehnt (vgl. Kap. 4.3.4). Zu entnehmen ist dieser Abbildung also die binär kodierte kategoriale – oder mit anderen Worten absolute – Verteilung der standarddifferenten Varianten auf die untersuchten Sprachproben. Für die Untersuchung muss – analog zur Variablenanalyse – ermittelt werden, ob in der Gesamtverteilung Muster zu erkennen sind, die Rückschlüsse auf kombinierte und systematische Unterschiede in der Verteilung und somit mögliche Varietätengrenzen zulassen.362 Kor.
[ɐ]VV
[s]
[b]
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Abb. 5-7: Implikationsanalyse Reinheim
In den Sprachaufnahmen lässt sich ein klares Muster erkennen. Die regionalen Varianten der Variablen Koronalisierung, Tiefschwa-Vorverlagerung und sSonorisierung treten in allen Sprachaufnahmen auf und können daher als remanent klassifiziert werden. An ihnen zeigt sich keine Differenzierung zwischen den Sprachproben, sondern die bereits identifizierte Varietätengrenze zur Standardsprache (s. o.). Bei den anderen standardabweichenden Merkmalen, die eine Differenzierung innerhalb des regionalsprachlichen Spektrums ermöglichen, kann 362 Es müssen also die Fragen beantwortet werden, wie viele Gruppen bei den Variablen aufgrund identischer Verteilungsmuster der Varianten gebildet werden können (die Größe der Gruppen ist von der Anzahl der untersuchten Variablen abhängig) sowie in direkter Abhängigkeit dazu, wie viele Gruppen bei den Sprachproben aufgrund identischer Verteilungsmuster der Varianten gebildet werden können (die Größe der Gruppen ist von der Anzahl abhängig) und durch wie viele regionale Merkmale diese jeweils unterschieden werden können.
5.1 Reinheim
153
kein übergreifendes Verteilungsmuster erkannt werden. Lediglich die b-Spirantisierung und die t/d-Assimilation zeigen ein gemeinsames Verteilungsmuster der Varianten. Ansonsten können keine Gruppen gebildet werden bzw. sechs Gruppen, die aus jeweils einer Variable bestehen, was bedeutet, dass sich die regionalsprachlichen Varianten im Vergleich alle unterschiedlich auf die Sprachproben verteilen. Die Deviation bei mhd. ou steht der idealen Skalierung entgegen, was hier derart interpretiert werden kann, dass sie im Gesamtvergleich eine Variabilität innerhalb der Variantenverteilung indiziert.363 Bei einer Fokussierung der Sprachproben können insgesamt acht Gruppen gebildet werden, die teilweise nur aus einzelnen Aufnahmen bestehen, und die in einem Fall durch Verteilungsdifferenzen bei zwei dialektalen Merkmalen und ansonsten nur durch Verteilungsdifferenzen bei einem einzigen Merkmal unterschieden werden können. Mit anderen Worten die jeweiligen Sprachproben bzw. Gruppen unterscheiden sich kategorial nur in dem Vorhandensein von einem (bzw. zwei) regionalen Merkmal(en). Die regionalsprachlichen Varianten werden – alle Sprachproben und Merkmale zusammen betrachtet – sukzessive (d. h. nacheinander) durch standardkonforme Varianten ersetzt, was an dem stufenartigen Schema in Abb. 5-7 deutlich wird. Das bedeutet, dass sich bei dieser Analyse ebenfalls kein kombinierter und systematischer Unterschied, sondern ein stufenweiser, das heißt sukzessiver Abbau der regionalen Merkmale in der – absoluten – Gesamtverteilung der Varianten erkennen lässt (vgl. als Kontrast Abb. 7-7), was die Annahme eines regionalsprachlichen Kontinuums nahelegt und die bisherigen Ergebnisse bestätigt (zum Modell des Kontinuums s. u.).364 5.1.2.2 Theoretische Analysen Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass für das regionalsprachliche Spektrum in Reinheim eine Varietätengrenze zur Standardsprache ermittelt werden kann, aber keine innerhalb der Regionalsprache. Es kann ein regionalsprachliches Kontinuum angenommen werden (zur genaueren Beschreibung und Modellierung s. u.). Dieser Befund wird ebenfalls durch die theoretische Betrachtung der Merkmale bestätigt. Die Definitionskriterien für die Vollvarietät Dialekt nach SCHMIDT / HERR363 Die Deviation bei mhd. ô kann auf eine Erinnerungsform zurückgeführt werden (vgl. Kap. 5.1.3.4), stützt aber unabhängig davon das Gesamtergebnis der variablen Verteilung der standarddifferenten Varianten. 364 Wie in Kap. 4.3.4 ausgeführt verdeckt die Implikationsanalyse die Variation der Variantenverteilung, d. h. die Variabilität der Realisierungen. Es kann daher keine Aussage darüber getroffen werden, wie die einzelnen regionalen Varianten verteilt sind und wie sie abgebaut werden, sondern nur wann sie absolut abgebaut sind und wie die kategoriale Verteilung im Gesamtvergleich aussieht. D. h. alleine ist diese Methode für eine Spektrumsanalyse nicht ausreichend. Die notwendige Analyse der Variation erfolgte bereits bei der Variablenanalyse (s. o.) und kommt zu demselben Ergebnis. Die Implikationsanalyse dient hier der Bestätigung der bisherigen Analysen, weitere Auswertungen werden deshalb mit ihr nicht vorgenommen.
154
5 Rheinfränkisch
(2011, 51, 59) (vgl. Kap. 2.2.2) sind (1) die Verbreitung, also lokale oder kleinregionale Geltung und (2) die Systemhaftigkeit, also eigenständige prosodisch-phonologische und morpho-syntaktische Strukturen, gegenüber einer potentiell zweiten regionalsprachlichen Varietät (Regiolekt). Die untersuchten Merkmale des Rheinfränkischen müssen auf diese beiden Bedingungen geprüft werden (zum Verhältnis Dialekt – Regiolekt – Standardsprache vgl. Fn. 378, 379). Wie Karte 3-3 und die Ausführungen in Kap. 4.4 zeigen, weisen lediglich zwei der untersuchten Merkmale eine kleinregionale Verteilung auf und gelten nur für einen kleinen Raum innerhalb des Rheinfränkischen: die Dialektformen für mhd. ê und mhd. ô. Alle anderen dialektalen Merkmale weisen eine großräumige, teilweise auch überregionale Verbreitung auf (vgl. bspw. mhd. ou, Kap. 4.4.1.1, dessen monophthongische Realisierung als [a̠ː] im gesamten Zentralhessischen, Rheinfränkischen und Ostfränkischen gilt). Bei den Variablen mhd. ê und ô ließe sich annehmen, dass die dialektale Variante einen systematischen Unterschied zu einer möglichen Varietät Regiolekt und somit eine Varietätengrenze konstituieren könnte. Hierfür spricht die Beschränkung der diphthongischen Realisierung auf mhd. ê und ô. Das bedeutet, dass kompetente Dialektsprecher, nicht alle langen Laute, die in der Standardsprache [eː, oː] entsprechen, als Diphthong realisieren, sondern nur die, die auf mhd. ê und ô zurückgehen. Dies entspricht einer systematischen Regel. Auch die Verteilung der dialektalen Varianten in den Reinheimer Sprachproben könnte als Hinweis auf eine eigenständige Struktur des Dialekts gelten. Die diphthongischen Formen werden hauptsächlich in den Sprachproben des Clusters 1, das als Dialekt identifiziert wurde, verwendet. In den anderen Sprachproben treten sie selten auf. Dies spräche für eine systematische Verteilung und eine mögliche Grenze, wenn auch an anderer Stelle, als es die Clusteranalyse nahelegt. Untersucht man die dialektalen Merkmale und die Verteilung jedoch genauer, dann wird deutlich, dass diese beiden Merkmale keinen strukturellen Unterschied (= Grenze) konstituieren.365 Zwischen den kontrastierenden Varianten dialektal [ɔ͡ʊ, ɛ͡ɪ] und standardsprachlich (regiolektal) [oː, eː] ist der phonetische Unterschied relativ gering. Rein artikulatorisch bedingt ändert sich die Qualität von Monophthongen mit zunehmender Artikulationsdauer und kann zu einer leichten diphthongischen Realisierung führen. Es lässt sich annehmen, dass die Dialektsprecher kein System wechseln müssen (Umschalten von bspw. [ɛ͡ɪ] zu [eː]), um sich der Standardsprache anzunähern, sondern sich sukzessive – rein phonetisch und nicht phonologisch – der Zielvariante annähern, indem sie den Diphthong immer weiter abflachen. Dies wird auch dadurch ermöglicht, dass ein eindeutiger Bezug zwischen den Varianten besteht. Die Laute [ɔ͡ʊ, ɛ͡ɪ] sind in der Standardsprache nicht vorhanden, die Varianten können also den (phonetischen ähnlichen) Lauten [oː, eː] zugeordnet werden. Für die Dialektsprecher heißt dies, dass hier keine Umphonologisierung (vgl. bspw. Kap. 7.1.2) notwendig ist, sonGEN
365 Zu diesen Überlegungen kommt das quantitative Argument hinzu, dass es sich lediglich um zwei kleinräumig verteilte Merkmale handelt, die den Systemkontrast und somit die Grenze konstituieren würden.
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dern eine phonetische Annäherung ausreicht. Dass diese phonetische Annäherung möglich ist und kein phonologischer Kontrast zwischen den Lauten besteht, konnte jüngst empirisch für mhd. ô belegt werden. LANWERMEYER (2019) kann in neurolinguistischen Studien nachweisen, dass Sprecher aus dem Diphthonggebiet (nahe Reinheim) die Variante [ɔ͡ʊ] phonetisch verarbeiten.366 Die Sprecher besitzen keine zwei verschiedenen Systeme mit kontrastierenden Phonemen, sondern ein System mit dem Phonem /oː/ und unter anderem dem Allophon [ɔ͡ʊ]. Dies zeigt, dass hier keine individuell-kognitive Grenze und somit auch keine strukturelle Grenze vorliegen. Die Ergebnisse können auf die die hier untersuchten Sprecher und das Spektrum in Reinheim übertragen werden. SCHMITT (1992, 127, 175–177) kann des Weiteren in einer Studie zum Dialektverstehen im Mosel- und Rheinfränkischen nachweisen, dass die Opposition [oː] vs. [ɔ͡ʊ] (bzw. [eː] vs. [ɛ͡ɪ]) keine Verständnisprobleme verursacht, was als weiterer Beleg für die phonetische Verarbeitung durch Sprecher und Hörer gewertet werden kann. Auch die genauere Betrachtung der vorliegenden Daten bestätigt dieses Ergebnis. Zwar deuten die Ergebnisse der Variablenanalyse für mhd. ô und ê auf eine typische Verteilung eines dialektalen Merkmals (vgl. bspw. Kap. 7.1.2), doch produzieren die Sprecher DAALT2, DA1 und DA5 auch für mhd. o und e gedehnt teilweise Diphthonge – also in Positionen, in denen sie lauthistorisch im Dialekt eigentlich nicht auftreten.367 Auch in den standardintendierten Sprachproben der Reinheimer Sprecher kommen für [eː, oː] Diphthongoide als Varianten vor – unabhängig der lauthistorischen Bezüge. Sie sind qualitativ von den dialektalen Diphthongen zu unterscheiden, da sie sich durch geringe Bewegung zwischen den Komponenten auszeichnen – mitunter weisen sie nur minimale Bewegungen auf.368 Die Verteilung lässt sich wie folgt erklären. Eine Annahme wäre, dass es sich um Hyperdialektalismen handelt. Die Sprecher beherrschen die Regel des Dialekts nicht mehr und wissen nicht, welche Lexeme die Anwendung der Regel (Realisierung als [ɛ͡ɪ, ɔ͡ʊ]) betrifft und übergeneralisieren diese. Da die Sprecher – vor allem DAALT2 – jedoch ansonsten die dialektalen Formen beherrschen und auch spezifische Einzelformen realisieren (vgl. Kap. 5.1.3), ist nicht davon auszugehen, dass es sich um Hyperdialektalismen handelt. Die Verteilung spricht eher
366 In der neurolinguistischen Studie wurde den Probanden innerhalb eines Oddball-Paradigmas der Kontrast zwischen Monophthong und Diphthong präsentiert und Ereigniskorrelierte Potentiale gemessen. Es konnten in den Elektroenzephalogrammen keine Effekte nachgewiesen werden, was zur Schlussfolgerung der phonetischen Verarbeitung führt (vgl. LANWERMEYER 2019). Die Ergebnisse können auch auf mhd. ê bezogen werden. 367 Mhd. o gedehnt entspricht in Reinheim [oː, ɔː]. Für mhd. e gedehnt gilt [eː, ɛː] (vgl. BORN 1938, 76–77, 66–67). BORN (1938, 66) gibt für mhd. e gedehnt aber an, dass im Südosten des Gebiets selten auch der Diphthong vorkommt, und für mhd. o gedehnt, dass in Reinheim bspw. für Ofen [ɔ͡ʊvə] gilt (77). 368 Es wurden zusätzlich Kontrollmessungen (Formantwerte) durchgeführt. Sehr flache Diphthonge mit minimaler Bewegung zwischen den Komponenten – tw. als Monophthong transkribiert – wurden der standardsprachlichen Variante und nicht dem dialektalen Diphthong zugewiesen. Eine andere Handhabung hätte die Ergebnisse verfälscht. Vgl. auch Fn. 369.
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für den allophonischen Status der Diphthonge. Die Sprecher verarbeiten die Diphthonge als Varianten der Langmonophthonge (s. o.), sodass sie diese einerseits auch als Varianten der dialektalen Langmonophthonge verwenden (bspw. Kohle, Weg) und andererseits – mit phonetischer Annäherung – als Varianten der standardsprachlichen Langmonophthonge (bspw. Steg, Trog). Die Varianten bilden ein artikulatorisches Kontinuum (~ [ɔ͡ʊ - ɔ͡ ̝ ʊ̠ - o͡ ̞ o - oː]) und sind als freie Allophone keinen Beschränkungen unterworfen, wie die unsystematische Verteilung in den Sprachproben der Sprecher nahelegt.369 Die rezente Verteilung kann somit durch den allophonischen Status der Varianten für mhd. ê und ô im Rheinfränkischen erklärt werden und wird durch weitere empirische Ergebnisse (vgl. SCHMITT 1992, LANWERMEYER 2019) belegt. Für das Spektrum in Reinheim bedeutet dies, dass die Varianten für mhd. ê und ô zwar als Dialektmarker fungieren, aber keinen phonologischen Kontrast bilden und somit keine regionalsprachliche Varietätengrenze konstituieren.370 Dies gilt auch für alle weiteren untersuchten Dialektmerkmale. Für sie trifft erstens die Bedingung der lokalen oder kleinregionalen Verteilung nicht zu. Zweitens konstituieren die untersuchten Merkmale als Ganzes sehr wenig strukturelle Unterschiede. Das heißt, es ist, um Regiolekt zu sprechen bzw. sich der Standardsprache anzunähern, kein Systemwechsel bzw. keine Umphonologisierung notwendig. Für die Realisierung oder Nichtrealisierung der regionalen Varianten der nApokope und der Negationspartikel ist keine Anwendung einer strukturellen Regel notwendig. Die jeweiligen Varianten müssen nicht über den Aufbau kognitiver Strukturen erlernt werden. Bei ihnen sind eindeutige Korrespondenzregeln zwischen Standardsprache und Dialekt möglich. Zudem sind sie in beide Richtungen einfach zu handhaben, indem beispielsweise am Ende des Wortes [n] angehängt oder entsprechend elidiert wird371 bzw. statt nicht – ohne jegliche Einschränkung 369 Dennoch scheinen die (deutlichen) Diphthonge mit dem Dialekt assoziiert zu sein und treten dort vermehrt, wenn auch nicht (mehr) regelmäßig auf. Die Flachdiphthonge treten in allen standardintendierten Proben des untersuchten Sprachraums auf – scheinen also keine rheinfränkischen Spezifika zu sein. Es ist somit nicht zu entscheiden, ob es sich hier um remanente Merkmale handelt oder einen allgemeinen sprechsprachlichen Prozess (Qualitätsänderung mit zunehmender Quantität). Auf jeden Fall ist diese Gesamtverteilung ein weiterer Beleg für die Kategorisierung der (Flach)Diphthonge (vgl. auch Kap. 8.1, 8.6). 370 Dadurch dass die Verteilungsbeschränkung aufgehoben wird, ist die Verwendung der standarddifferenten Variante, ausgehend von einem theoretisch anderen System, noch einfacher – die Varianten können generell angewendet werden. Eine phonetische Annäherung ist somit in beide Richtungen möglich. 371 Die Einschränkung der n-Apokope in der Position nach /r, l/ (vgl. Kap. 4.4.1.5) wird – bei Anwendung durch Sprecher eines theoretisch anderen Systems – durch die standardsprachliche Aussprache gestützt und scheint daher kein Erschwernis der Handhabung des Merkmals zu sein. Vgl. bspw. die Aussprache von fahren std. [fa̠ː(ɐ)n] – hier müsste zusätzlich ein [ʁ] artikuliert werden, um die Apokopierung überhaupt vorzunehmen. Hinzu kommt, dass es sich hier, wie in Kap. 4.4.1.5 gezeigt wurde, um ein phonetisch-phonologisches Phänomen handelt und kein morphologisches, sodass der Auftretenskontext nicht grammtisch gebunden ist.
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– einfach [nɛt] verwendet wird oder v. v. Zwar besteht auch hier ein diskreter Unterschied zwischen den Varianten, doch ist dieser nicht strukturbildend (m. a. W. der Unterschied ist systematisch, aber nicht systemisch). Das heißt, dass bei der Spektrumsanalyse nicht nur ausschlaggebend ist, ob regionale Merkmale kontrolliert werden können, sondern auch wie sie kontrolliert werden können. Hierbei ist die Frage zu beantworten, ob die Kontrolle den Aufbau eigener, aus Sprecherperspektive neuer Strukturverbindungen erfordert oder ob dies unkompliziert, ohne großen Aufwand möglich ist. Die Komplexität des Verhältnisses eines regionalen Merkmals zur Standardsprache (u. a. die Korrespondenzregel zwischen den Varianten) ist somit als weiterer Faktor zu beachten. Die standardabweichenden Varianten der Variablen t/d-Assimilation, bSpirantisierung, s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung sind remanent und somit innerhalb des regionalsprachlichen Kontinuums kaum bis gar nicht zu kontrollieren (vgl. Kap. 8.4). Sie bilden daher aus sich heraus keinen systemischen – wenn nur einen relativen – Unterschied und sind daher nicht strukturbildend.372 Für die regionalen Varianten der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung gilt allerdings, dass sie hier eine Varietätengrenze zur Standardsprache konstituieren. Bei den Variablen mhd. ei und ou kontrastieren die Varianten dialektal [a̠ː] und standardsprachlich [a͡ ̠ e] bzw. [a͡ ̠ o]. Hier ist von einem strukturellen Kontrast auszugehen. Es ist keine phonetische Annäherung oder Verarbeitung möglich. Die jeweiligen Laute existieren in beiden Systemen und sind jeweils auf bestimmte, unterschiedliche Kontexte beschränkt, mit anderen Worten für das Verhältnis der Varianten lassen sich nur komplexe Korrespondenzregel aufstellen. Die dem jeweiligen System entsprechenden Realisierungen müssen systematisch – durch den Erwerb neuer Regeln (Graphem-Phonem-Zuordnungen) (= Aufbau kognitiver Strukturen) – erlernt werden. Zwar ist dies ausgehend vom Dialekt nicht komplex, da die Realisierung über die Schrift kontrolliert werden kann (Bsp. alle werden [a͡ ̠ e] artikuliert), doch ist dies ausgehend von einem anderen System in Bezug auf den rheinfränkischen Dialekt komplex und bedarf des Erwerbs von Strukturen (Bsp. weiß (Farbe) wird [a͡ ̠ e] realisiert, die 1. Ps. Sg. Pr. Ind. von wissen aber [a̠ː]). Diese Varianten konstituieren somit einen diskreten und absoluten Unterschied und sind strukturbildend. Der Fall widerspricht jedoch nicht der bisherigen Analyse. Der Vokalismus der rheinfränkischen Dialekte muss als Ganzes betrachtet und in Bezug zur Standardsprache gesetzt werden. Insgesamt stellt der rheinfränkische Vokalismus ein strukturell relativ standardnahes System dar (s. u., vgl. Tab. 5-6). Die beiden dialektalen Varianten für mhd. ei und ou stellen im Gesamtsystem eine Ausnahme dar (vgl. als Kontrast Kap. 7.1.2) und scheinen alleine nicht ausreichend für eine systemische Abgrenzung innerhalb der Regionalsprache. Dies zeigt sich auch an der Verteilung in den untersuchten Sprachproben. Sie 372 Bei den entsprechenden Varianten der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung ist zudem von einer phonetischen Verarbeitung und Annäherung an die standardsprachliche Variante auszugehen (allophonischer Unterschied).
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werden unabhängig voneinander und von weiteren vokalischen Varianten (mhd. ô, ê) verwendet, was gegen einen systemischen Unterschied und für freie Variation in einem Kontinuum spricht. Zudem sind sie großräumig distribuiert und die Verwendung scheint stark lexikalisch beeinflusst zu sein. Es betrifft im Reinheimer Korpus entweder hochfrequente Wörter wie bspw. auch, glaube, kein oder stereotype Wörter, die in ihrer dialektalen Form mit regionalsprachlichem Sprechen assoziiert sind wie bspw. Frau373. Bei weniger frequenten Wörtern (Haupt, Kleider) wird der Monophthong eher selten verwendet. Insgesamt fügen sich die beiden Dialektmerkmale in das regionalsprachliche Gesamtsystem ein. Die vorliegende Analyse der Systemhaftigkeit von Varianten kann für eine Variantentypologie genutzt werden. Ausgehend von der Einteilung von KEHREIN (2012; 2015)374 lässt sich auf Grundlage der vorliegenden Ergebnisse folgende trinäre Typologie von regionalen Varianten für die Spektrumsanalyse erstellen. Typ1a-Variante
Typ1b-Variante
Typ2-Variante
komplexe Korrespondenzregeln
simple Korrespondenzregeln
(meist) keine eindeutigen Korrespondenzregeln
phonologischer Unterschied
phonologischer Unterschied
(meist) allophonischer/ phonetischer Unterschied
nicht remanent
nicht remanent
(meist) remanent
diskreter & absoluter Unterschied
diskreter & absoluter Unterschied
(meist) tendenzieller & relativer Unterschied
strukturbildend
nicht strukturbildend
nicht strukturbildend
Bsp. mhd. ei (RF, ZH), mhd. ô (ZH)
Bsp. n-/e-Apokope
Bsp. Tiefschwa-Vorverlagerung, mhd. ê (RF)
Tab. 5-2: Variantentypologie für die Spektrumsanalyse
373 Hier ist das Frankfurter Original Fraa Rauscher zu nennen, das in ganz Südhessen ein Begriff ist und u. a. in Liedern und zum Fasching häufig vorkommt. 374 KEHREIN (2012; 2015) unterscheidet – mit dem Fokus auf der Remanenz – aufgrund des strukturellen Verhältnisses von regionalen Varianten zur Schrift- bzw. Standardsprache zwei Variantentypen. Bei Typ1-Varianten kann die standardsprachliche Realisierung eindeutig aus der Schrift hergeleitet werden (mit Hilfe von Korrespondenzregeln), sodass sie nicht remanent sind. Es bestehen zwischen den Varianten (regional vs. standardsprachlich) potentiell phonologische Unterschiede. Typ2-Varianten sind dagegen remanent, da das standardsprachliche Pendant nicht eindeutig aus der Schrift hergeleitet werden kann (keine Korrespondenzregeln). Die Unterschiede zwischen den Varianten sind tendenziell bzw. allophonisch. Die Typologien lassen sich in Bezug zueinander setzen und bestätigen sich gegenseitig.
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Von Bedeutung bei Typ 1 a -Varianten ist, dass hier komplexe Korrespondenzregeln zwischen den dialektalen und standardsprachlichen Varianten bestehen. Die dialektalen Varianten lassen sich zwar eindeutig auf standardsprachliche Entsprechungen beziehen, aber nicht umgekehrt. Hinzu kommt, dass die Unterschiede zwischen den Varianten phonologisch und somit diskret sind (tw. gibt es keine Entsprechungen in dem jeweiligen anderen System, vgl. als Bsp. v. a. Kap. 7.1.2.2). Die empirischen Analysen zeigen, dass in den Variantenverteilungen absolute Unterschiede auftreten und die dialektalen Varianten somit nicht remanent sind. Die Varianten dieses Variantentyps sind also innerhalb der Regionalsprache strukturbildend. Typ 1 b -Varianten entsprechen den Typ1a-Varianten in weiten Teilen. Ein zentraler Unterschied ist, dass der Bezug der standardsprachlichen und dialektalen Varianten in beide Richtungen mit simplen Korrespondenzregeln beschrieben werden kann. Für die Realisierung der jeweiligen Variante bedeutet dies, dass keine neuen Regeln erlernt werden müssen. Die Varianten sind nicht strukturbildend. Als dritte Klasse lassen sich Typ 2 -Varianten bestimmen. Zwischen den dialektalen und standardsprachlichen Varianten lassen sich (meist) keine eindeutigen Korrespondenzregeln erstellen. Wie die empirischen Analysen zeigen, sind sie remanent und konstituieren somit aus sich heraus keine absoluten, sondern nur relative Unterschiede (innerhalb einer Regionalsprache). Zudem handelt es sich bei den Unterschieden zwischen den Varianten in den meisten Fällen um tendenzielle und allophonische Unterschiede (d. h. nicht diskret). Diese werden von Sprechern und Hörern oft als Allophone verarbeitet (vgl. KEHREIN 2015). Diese Varianten sind demnach innerhalb der Regionalsprache nicht strukturbildend.375 Betrachtet man nun den rheinfränkischen Vokalismus insgesamt, lässt sich Folgendes festhalten: Auch die nicht in der Variablenanalyse berücksichtigten dialektalen Merkmale widersprechen dem herausgearbeiteten Kontinuum nicht. Der rheinfränkische Vokalismus weist eine große Nähe zur Standardsprache auf und stellt – wie erwähnt – in Bezug zu dieser ein strukturell sehr ähnliches System dar – die meisten dialektalen Merkmale lassen sich als Typ2-Variante kategorisie-
375 Zur Erklärung der Remanenz vgl. KEHREIN (2012; 2015). Es ließe sich auch bei Typ 2Varianten eine weitere Einteilung diskutieren. Manche von ihnen scheinen auch phonologischen Regularitäten zu unterliegen (bspw. wortphonologische Prozesse bei der s-Sonorisierung oder Fortisierung, vgl. Kap. 8.4). Dies betrifft aufgrund ihrer Remanenz jedoch das gesamte regionalsprachliche System, sodass sie ebenso innerhalb der Regionalsprache nicht strukturbildend sind. Sie konstituieren die Varietätengrenze zur Standardsprache. Deshalb wird diese Differenzierung hier – mit dem Fokus auf der regionalsprachlichen Struktur – nicht getroffen, aber mit der Einschränkung (meist, vgl. Tab. 5-2) berücksichtigt. Andere Typ2-Varianten müssen – trotz allophonischen Status – nicht remanent sein wie bspw. mhd. ê (RF) (vgl. auch Fn. 369).
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ren.376 Tab. 5-3 illustriert dies, indem sie die beiden Vokalsysteme (Standardsprache und Rheinfränkisch) mit den jeweiligen Bezugswörtern synchron zeigt.377 std. Laut [i] [ɪ] [y] [ʏ] [e] [ø] [ɛ] [œ] [a̠] [ɔ] [o] [ʊ] [u] [a͡ ̠ e] [a͡ ̠ o] [ɔ͡ɪ]
std. Bsp. lieb Kind Bühne Schüssel weh böse besser Löffel an offen Ofen Luft Bruder Eis Haus Feuer
Schwester Mann hoch
Seife auch
rf. Entsprechung lieb Bühne Kind Schüssel – – besser weh – – Löffel Schwester – – Mann auch – offen Ofen, hoch Luft Bruder Eis Feuer Haus –
Allophon: [ɛ͡ɪ]
Allophon: [ɔ͡ʊ]
Tab. 5-3: Vokalsystem der Standardsprache und des Rheinfränkischen (vereinfacht dargestellt)
Im Vergleich der beiden Systeme überwiegen die Überschneidungen, Differenzen haben meist einen allophonischen (tendenziellen) Status und die systemischen Differenzen bilden die Ausnahme. Im rheinfränkischen Vokalismus dominieren also Typ2-Varianten. Die beiden Systeme sind also strukturell ähnlich, was jedoch nicht bedeutet, dass ein Kontinuum mit der Standardvarietät besteht. Zur Standardsprache kann eine Varietätengrenze bestimmt werden (s. o.), 378 sie dient zudem als abstrakte Bezugsgröße.379 Dies bedeutet vielmehr, dass auch aus theoreti-
376 Vgl. Kap. 3.3.2, 3.4.1 und v. a. SCHIRMUNSKI (2010/1962, 667–668), WIESINGER (1983a, 849), REIS (1910) und MAURER (1929). 377 Die Darstellung ist vereinfacht und dient der Illustration der Bezüge zwischen den Systemen. 378 Hierfür sind tw. andere Kriterien, wie bspw. Freiheit salienter Regionalismen, zu erfüllen (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 62). Vgl. zur Bestimmung der Grenze auch Kap. 8.4.6. Aus systemischer Perspektive bedeutet dies Folgendes: Dadurch dass beide Systeme so ähnlich sind, ist eine sukzessive Annäherung, ohne Erreichen des anderen Systems, möglich. 379 Bei dieser theoretischen Analyse der Struktur der Vertikale wird untersucht, ob zwischen der standardfernsten und der standardnächsten Sprechlage eine Varietätengrenze ermittelt werden kann. Dazu wird aus folgenden Gründen – theoretisch – das Verhältnis Standardsprache – Basisdialekt untersucht: (1) Beide dienen als objektive, unabhängige und umfassend erforschte Bezugsgrößen, die (quasi) den abstrakten Rahmen der möglichen Variation vorgeben und (2) beide dienen zudem als subjektive Bezugsgrößen für die Sprecher. Dies wird gerade bei
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scher Sicht keine Varietätengrenze innerhalb des regionalsprachlichen Teils des Spektrums bestimmt werden kann (s. u. zur Perspektive der Sprecher). Die Kriterien der Dialektdefinition – als Vollvarietät – und der Abgrenzung von regionalsprachlichen Varietäten werden nicht hinreichend erfüllt, sodass von einem Gesamtsystem von Dialekt und Regiolekt (Kontinuum) auszugehen ist.380 Dies gilt auch für den Konsonantismus. Auch hier kann keine strukturelle Grenze innerhalb des Kontinuums ermittelt werden, die dialektalen Merkmale sind großräumig distribuiert (bspw. Lenisierung) und sind in den meisten Fällen als Typ1b- und Typ2Varianten zu bestimmen (bspw. b-Spirantisierung). Aber auch hier gilt, dass eine Varietätengrenze zur Standardsprache bestimmt werden kann.381 Die Analysen können auf den einzelnen Sprecher und die Sprachdynamiktheorie zurückgeführt werden. Aufgrund des beschriebenen strukturellen Verhältnisses der rheinfränkischen Dialekte zur Standardsprache (häufig überregionale Verbreitung der Merkmale, wenige Typ1a- und viele Typ1b- und Typ2-Varianten) können Dialektsprecher in überregionaler Kommunikation ihren Dialekt (die dialektalen Merkmale) verwenden. Zumindest ist dies theoretisch möglich und würde die Kommunikation – im Sinne der Verständigung – nicht (vollständig) einschränken (vgl. als Kontrast Kap. 7.1.2). Bei Bedarf – bspw. aufgrund sozialer Konventionen und Erwartungen – müssen die Sprecher kein System erwerben und wechseln. Sie können die Zielvarietät Standardsprache auf Basis ihres kognitiven Steuerungssystems umsetzen, das heißt sich ihr annähern, ohne sie dabei aber zu erreichen. Dies geschieht über eine Variabilisierung des Gebrauchs der Merkmale des Typs 2 oder den vollständigen Ersatz der Dialektvarianten des Typs 1b durch standardsprachliche Pendants. Es ist theoretisch aber nicht notwendig, da eben auch Hörer die Möglichkeit haben, die Varianten mit ihrem kognitiven Steuerungssystem zu verarbeiten (vgl. auch KEHREIN 2015). Es zeigt sich auch im Sprachverhalten der untersuchten Sprecher (vgl. Kap. 5.1.3). Dies stellt aus theoretischkommunikativer Sicht die Grundlage des regionalsprachlichen Kontinuums in Reinheim dar.
der Standardsprache deutlich, indem Dialektsprecher versuchen, sich anhand der Schriftsprache der Standardsprache zu nähern (d. i. gesprochenes Schriftdeutsch, vgl. KEHREIN 2012). 380 Vgl. für die großräumige Verteilung der Merkmale bspw. die Entrundung und Wenkerkarte 184 (böse) und zur Karteninterpretation SCHMIDT / HERRGEN (2011, 108–111). 381 Bei spezifisch rheinfränkischen bzw. kleinregional verbreiteten Merkmalen scheint es sich um einzellexikalische Formen (und Relikte) zu handeln (bspw. heïcher für höher (Wenkerbogen, 33457_Reinheim, vgl. auch SCHIRMUNSKI 2010/1962, 667, der hier isolierte Verbalformen (bspw. [la͡ ̠ ɪd̥] liegen nennt).
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5.1.2.3 Zusammenführung Die Zusammenführung der Ergebnisse führt zur Annahme eines regionalsprachlichen Kontinuums als Spektrumstyp für Reinheim. Auch die eingangs aufgeführten phonetischen Dialektalitätswerte fügen sich in das Gesamtergebnis ein. Die theoretischen Abgrenzungen, die nicht sehr deutlich hervortreten (vgl. Abb. 5-1, als Kontrast Abb. 7-1), können nicht bestätigt werden. Auch die Dialektalitätswerte bilden ein Kontinuum ohne klare Abgrenzung, was sich durch die Kombination mit den anderen Auswertungen und den qualitativen Analysen (vgl. auch Kap. 5.1.3) bekräftigt. Kontinuum meint hier tatsächlich ein Kontinuum ohne diskrete Abgrenzungen (d. h. ohne Varietäten)382 und regionalsprachlich bezieht sich auf den Bereich der Regionalsprache, da zur Standardsprache eine diskrete Abgrenzung vorgenommen werden kann. Dieses Kontinuum kann mit Hilfe der Sprachdynamiktheorie hergeleitet und definiert werden. Das Kontinuum wiederum kann die Theorie der modernen Regionalsprachen bzw. die Sprachdynamiktheorie sinnvoll erweitern. Dort werden moderne Regionalsprachen bisher als „Gesamt an Varietäten und Sprechlagen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 66) definiert. Es kann aufgrund der spezifischen Verhältnisse der Dialekte zur Standardsprache dazu kommen, dass durch dieselben Prozesse wie bei den Varietätengefügen – nur auf anderer Grundlage – die Regionalsprache ein Kontinuum ohne feste Grenzen darstellt (zum Verhältnis der Kontinua und der Varietätengefüge vgl. Kap. 8.1). Das Kontinuum kann daher als mögliche Form einer Regionalsprache integriert werden. Für das regionalsprachliche Kontinuum können aufgrund der empirischen und theoretischen Analysen ein dialektaler und ein regiolektaler Bereich angenommen werden. Beide bilden keine diskreten Varietäten, sondern ein regionalsprachliches Gesamtsystem. Deshalb werden sie als Bereiche bezeichnet – auch in Anlehnung an die bisherige Forschungsliteratur (vgl. bspw. Zwischenbereich). Eine Varietätengrenze kann nicht ermittelt werden, beide Bereiche gehen kontinuierlich ineinander über. Eine gewisse Struktur lässt sich erkennen (vgl. Ergebnisse der Variablenanalysen, bspw. Fn. 359)383, weswegen ein Übergangsraum zwischen den beiden Bereichen angenommen wird, der dem Kontinuum entspricht.384 Die bei-
382 Die Modellierung der regionalsprachlichen Spektren wird in der linguistischen Forschung lange und intensiv diskutiert (vgl. bspw. AMMON 1973, SCHMIDT 1998). Hier wird angenommen, dass sich Stufenmodelle (mit diskreten Varietäten) und Kontinuumsmodelle (ohne diskrete Varietäten) gegenseitig ausschließen, wenn sie sich auf denselben Untersuchungsgegenstand beziehen (vgl. dazu DURRELL 1998, zur Kombination der Modelle bspw. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 181). 383 Dies bedeutet, dass trotz „Heterogenität des […] Zwischenbereichs“ (BELLMANN 1983, 118) keine willkürliche, völlig freie Variation stattfindet, sondern die Sprecher in gewissen Maße systematisch, aber nicht systemisch variieren. 384 Die qualitativen Ergebnisse bestätigen diese Struktur. Die weiteren Unterschiede zwischen den Interviews von DAALT2 und DA1 liegen in einer zunehmenden Variabilisierung der
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den Bereiche können über Merkmale und Variantenfrequenzen näherungsweise bestimmt werden und Sprachproben können ihnen näherungsweise zugeordnet werden. Die beiden Pole des Spektrums lassen sich aufgrund der Sprachverhaltensmuster als Sprechlagen Basisdialekt und Regionalakzent definieren und nach unten (Basisdialekt) und oben (Regionalakzent) abgrenzen. Es könnte auch weitere Sprechlagen geben, doch ist weder empirisch noch theoretisch eine genaue Begrenzung möglich, weswegen sie ausbleibt. Stattdessen werden die Bereiche Dialekt und Regiolekt und der Übergangsraum sowie die Sprechlagen Basisdialekt und Regionalakzent angenommen und das Spektrum wie folgt modelliert.385 Die Modellierung der Spektren lehnt sich an KEHREIN (2012) an. Am oberen Ende ist die Standardsprache als überdachende Varietät dargestellt. Mit dem durchgezogenen schwarzen Balken wird die Varietätengrenze verdeutlicht. Darunter befindet sich das regionalsprachliche Spektrum – im Falle Reinheims das Kontinuum. Der Umfang des Kontinuums wird durch die Dialektalitätswerte der Kompetenzerhebungen der Sprecher im Dialekt und im Standard begrenzt, die mit den weiteren Analysen kombiniert wurden. Dargestellt sind hier in farblicher Kodierung die Sprachproben der Übertragung der Wenkersätze in den besten Dialekt (schwarz) und das beste Hochdeutsch (hellgrau) der einzelnen Sprecher – in der bekannten Reihenfolge der Generationen. Hierbei werden die gemessenen Dialektalitätswerte der Sprachproben und somit das Verhältnis zur Standardsprache und untereinander präzise berücksichtigt und entsprechend dargestellt (vgl. Abb. 5-1). Am rechten Rand befindet sich die Bezeichnung des Spektrums (hier: regionalsprachliches Kontinuum), am linken Rand die Bezeichnungen der identifizierten Bereiche und etwas abgesetzt die Sprechlagen. Des Weiteren sind die Sprachproben der Performanz ebenfalls anhand ihrer Dialektalitätswerte dargestellt (Interview: grau, Freundesgespräch: dunkelgrau). Dies dient neben der Darstellung der Struktur des Spektrums der Verdeutlichung des Sprachverhaltens der Sprecher und der Dynamik vor Ort im intergenerationellen Vergleich. Sie werden zusätzlich abstrahiert dargestellt (gestrichelte Umrandung), damit die Dynamik besser hervortritt. Der Grafik (Abb. 5-8) sind somit eine schematische Modellierung des Spektrums in Reinheim sowie die Darstellung des individuellen Sprachverhaltens und eine Modellierung der sprachlichen Dynamik im intergenerationellen Vergleich zu entnehmen (vgl. dazu Kap. 5.1.3).386
Verwendung regiolektaler Merkmale (vgl. Tab. A4 im Anhang) begründet. Es handelt sich dabei um Typ2-Varianten (vgl. bspw. g-Spirantisierung, a-Verdumpfung). Vgl. auch Fn. 396. 385 Innerhalb einer sukzessiven Standardannäherung kann es zu Sprechlagen- bzw. Bereichswechseln kommen. Dies lässt sich bspw. bei DAALT2 zwischen dem Interview und der Standardkompetenzerhebung feststellen. Dieser vollzieht sich über eine zunehmende Variabilisierung der Realisierung von Typ2-Varianten und über einen vollständigen Ersatz von Typ1b-Varianten durch standardsprachliche Formen (vgl. dazu auch DAVIES 1995). Insgesamt wird hier die Terminologie – in der Tradition der Regionalsprachenforschung – beibehalten, wenn auch konzeptuell erweitert. 386 Die Grafik dient v. a. als Vergleichsgrundlage mit den anderen Untersuchungsorten.
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Standardsprache
regionalsprachliches Kontinuum
Regionalakzent
Regiolekt
Übergangsraum
Dialekt Basisdialekt
Abb. 5-8: Modellierung des Spektrums für Reinheim (DA)
5.1.3 Sprachverhalten 5.1.3.1 DAALT2 Sprecher DAALT2 ist 1930 in Reinheim geboren und hat sein ganzes Leben dort verbracht. Seine Eltern und Großeltern stammen auch aus Reinheim. Er war vor seinem Ruhestand als Landwirt tätig. Laut eigenen Angaben wurde er im Dialekt primärsozialisiert und verwendet diesen auch heute noch im Alltag. Die Ergebnisse der Variablenanalyse (vgl. Kap. 5.1.2) für die Sprachproben des Sprechers sind in Abb. 5-9 zu sehen.387 Über die Variantenverteilung lässt sich sein Sprachverhalten analysieren und der Sprecher typisieren.
387 Die Darstellung wurde zur Illustration der Ergebnisse gewählt. Vgl. Tab. A.7 im Anhang für die absoluten und relativen Werte. Vgl. auch Kap. 4.3.2 und 4.3.5.
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ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 5-9: Variablenanalyse DAALT2
Die Übertragung der Wenkersätze in den tiefsten Dialekt kann dem dialektalen Bereich zugeordnet werden (vgl. auch Kap. 5.1.2).388 Wie Abb. 5-9 zeigt, produziert er alle dialektalen Varianten hochfrequent. Dies gilt auch für die in Tab. A.1 aufgelisteten Merkmale. Er ist der einzige Sprecher, bei dem apikale r-Varianten und der Rhotazismus relativ regelmäßig vorkommen. Zudem verwendet er Einzelformen (bspw. [ɡ̊əb̥rɛntʰ] gebrannt oder [lajə] liegen), die im Abgleich mit dem Wenkerbogen (33457) und BORN (1938) als typische Dialektformen identifiziert werden können.389 Dieser Kompetenz390 entspricht auch seine Selbsteinschätzung. Er gibt an, den Dialekt sowohl aktiv als auch passiv sehr gut zu beherrschen und
388 Die näherungsweise Einordnung der Sprachproben im Reinheimer Spektrum im Abgleich mit den Dialektalitätswerten und den qualitativen Analysen ist auch in Abb. 5-8 visualisiert. 389 Die Analyse der diphthongischen Varianten für [eː, oː] in Kap. 5.1.2 hat gezeigt, dass hier nicht von Hyperdialektalismen auszugehen ist, sondern von einem Dialektwandel, sodass dies der Zuordnung zum Dialekt nicht widerspricht. Ihre Verteilung hier (keine Realisierung zu 100 %) könnte durch den allophonischen Status bedingt sein oder auf eine beginnende Variabilisierung deuten. 390 Es ist auch von einer Kompetenz der Bereiche des regionalsprachlichen Kontinuums auszugehen, die sich u. a. darin äußert, die spezifischen Merkmale abrufen zu können. Analog zu den sprachsystemischen Strukturen (Kontinuum) kann davon ausgegangen werden, dass eine Gesamtkompetenz des Kontinuums bei den Sprechern vorhanden ist, die sich aus den Teilkompetenzen der Bereiche zusammensetzt.
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5 Rheinfränkisch
auch, dass er ihn vor allem in informellen Situationen auch verwendet. Dass dies tatsächlich der Fall ist, lässt sich Abb. 5-9 entnehmen. Sein Freundesgespräch führt er mit einem befreundeten, ehemaligen Landwirt. Er verwendet in diesem Gespräch eine dialektale Sprechlage. Lediglich die Frequenzen der regionalen Varianten für mhd. ê, ei und ou nehmen im Vergleich zur Sprachprobe der dialektalen Wenkersätze geringfügig ab, ansonsten entsprechen sich die beiden Sprachproben in der Variantenverteilung weitgehend. Die in den Wenkersätzen beschriebenen Einzelformen sind im Freundesgespräch nicht vorhanden. Dies kann aber auch durch die Vorlage der Wenkersätze bedingt sein. Das Sprachverhalten von DAALT2 ändert sich, wenn er mit Fremden spricht, also in formellen Situationen. Dies wird auch durch seine subjektive Sicht deutlich, da er angibt, in diesen Situationen Hochdeutsch zu sprechen. Die Sprachprobe seines Interviews unterscheidet sich von der des Freundesgesprächs durch eine größere Standardnähe, dennoch ist sie deutlich regional markiert. Im Vergleich zu den Sprachproben WSD und FG gehen die Varianten der vokalischen Dialektmerkmale – außer mhd. ou – und der t/d-Assimilation stark, teilweise auch vollständig zurück. Ansonsten sind die Frequenzen der dialektalen Varianten etwas niedriger oder nahezu unverändert (vgl. auch Tab. A.5). Im Bemühen, sein bestes Hochdeutsch zu artikulieren, nähert sich DAALT2 noch stärker der Standardsprache an. Er produziert aber auch in dieser Sprachprobe regionale Merkmale. Remanent bei ihm sind in einem mittleren bis niedrigen Frequenzbereich die standarddifferenten Varianten der t/d-Assimilation und der bSpirantisierung, in einem hohen Frequenzbereich die der s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung. Weitere regiolektale Merkmale verwendet er nicht mehr (e-Apokope) oder seltener (r-Ausfall ohne Ersatzdehnung). Er ordnet sein bestes Hochdeutsch auf einer Skala von 1–7, mit dem Wert 4 auch in einen Bereich der deutlichen regionalen Markierung ein. Zusammenfassen lässt sich, dass DAALT2 den Dialekt beherrscht und ihn in informellen Situationen des Alltags auch verwendet. Er nähert sich in formellen Situationen der Standardvarietät an (Übergangsbereich) und kann sich noch stärker unter Abruf seiner Kompetenzen an der Standardsprache orientieren. Er zeigt also Eigenschaften eines klassischen Dialektsprechers, mit der Besonderheit, dass er aufgrund der Struktur des Spektrums nicht zwischen Varietäten wechselt, sondern innerhalb eines Kontinuums sein Sprachverhalten variiert. Die intersituative Variation lässt sich daher als Shiften identifizieren und DAALT2 kann als Dialekt-Shifter typisiert werden.391
391 Individuell ließe sich bei DAALT2 ein Umschalten im Sinne eines Systemwechsels (Interview > WSS) annehmen. Es handelt sich hierbei aber um einen Bereichswechsel (vgl. Fn. 385). Vgl. auch Kap. 5.1.3.3.
5.1 Reinheim
167
5.1.3.2 DA1 DA1 ist 1954 geboren und hat außer zwei Jahren während der Ausbildung in Kassel, in denen er aber stets am Wochenende nach Hause fuhr, sein bisheriges Leben in Reinheim verbracht. Auch seine Herkunftsfamilie stammt aus Reinheim, ebenso die Ehefrau. Er wurde nach eigenen Angaben „auf Platt“ aufgezogen. Zur Zeit der Aufnahme war DA1 Polizeioberkommissar im Polizeipräsidium Südhessen in Darmstadt.
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Abb. 5-10: Variablenanalyse DA1
Die dialektalen Wenkersätze von DA1 können dem dialektalen Bereich zugeordnet werden – entsprechen aber nicht mehr vollständig dem standardfernsten Bereich des Kontinuums. Er realisiert alle regionalen Merkmale (hoch-)frequent (vgl. Abb. 5-10), auch die in Tab. A.1 beschriebenen Merkmale – den Rhotazismus ausgenommen – und verwendet auch – ähnlich wie DAALT2 – Einzelformen (bspw. [b̥ɒːl] bald). Erste Anzeichen, dass die Dialektkompetenz nicht mehr so stark ausgebaut ist wie bei DAALT2, lassen sich in den etwas niedrigeren Frequenzen und bspw. dem nicht vorhanden Rhotazismus erkennen. Insgesamt ist er aber dialektkompetent, was auch zu seiner Selbsteinschätzung (sehr gute aktive wie passive Beherrschung des Platt) passt. Sein Freundesgespräch führt DA1 mit seinem Freund und Kollegen DA5. Die Sprachprobe ist als etwas standardnäher einzuordnen als die Dialektübertragung. Die Varianten für mhd. ô werden nicht mehr realisiert, die Frequenzen der dialek-
168
5 Rheinfränkisch
talen Variante für mhd. ê gehen stark zurück (hier wird diese aufgrund des Lexems zehn, vgl. Fn. 354 nicht vollständig abgebaut). Die Häufigkeit der Merkmalsrealisierung für mhd. ou geht im Vergleich zu den dialektalen Wenkersätzen leicht zurück, ansonsten sind die Verteilungen mit der dieser Sprachprobe vergleichbar. Dies bedeutet, dass DA1 zwar dialektkompetent ist, seine Kompetenz aber nicht vollständig in der Performanzerhebung umsetzt. Das Interview von DA1, das heißt das Sprachverhalten in formellen Situationen, kann dem regiolektalen Bereich des Spektrums subsumiert werden. Der Sprecher orientiert sich hier stärker als im Freundesgespräch an der Standardsprache. Vokalische Dialektmerkmale produziert er keine mehr392 und auch bei den anderen standarddifferenten Merkmalen gehen die Frequenzen stark zurück. Nur die regionalen Varianten der Variablen nicht393, Koronalisierung und TiefschwaVorverlagerung realisiert er im Interview fast durchgängig zu ~100 %.394 DA1 nähert sich der Standardvarietät nochmals an, wenn er gebeten wird, sein bestes Hochdeutsch zu realisieren. Diese Sprachprobe entspricht weitestgehend den WSS von DAALT2 und ist als Regionalakzent zu beschreiben. Remanent sind in einem niedrigen Frequenzbereich die standardabweichenden Formen der Variablen nicht, t/d-Assimilation und b-Spirantisierung sowie hochfrequent die der s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung. Um die regionale Markiertheit seiner formellen Sprechweise weiß DA1, da er sie selbst als Hochdeutsch mit Bemühungen bezeichnet und auch seine Standardkompetenz schätzt er auf der Skala mit 2 als deutlich regional markiert ein. Es handelt sich bei DA1 also um einen Sprecher, der den Dialekt (noch) beherrscht, diese Kompetenz aber in den Performanzaufnahmen nicht vollständig abruft. Er zeigt einen deutlichen sprachlichen Unterschied zwischen formellen und informellen Situationen. In formellen Situationen nähert er sich deutlich der Standardsprache an (Shiften). Auch bei ihm lässt sich eine nochmalige Annäherung an die Standardvarietät, ohne diese zu erreichen, bei der Kompetenzerhebung des besten Hochdeutschs beobachten. Der Sprechertyp kann im Vergleich mit DAALT2 als Kontinuum-Shifter bezeichnet werden.
392 Mit der Ausnahme eines Monophthongs in auch. 393 Die regionale Variante der Negationspartikel scheint in Reinheim allgemein kein Informalitätsmarker zu sein, da sie bei allen Sprechern durchgehend, außer bei den standardintendierten Wenkersätzen, verwendet wird. 394 Analog dazu ist auch sein Sprachverhalten in den Notrufen zu bewerten, wie die qualitative Auswertung ergeben hat.
5.1 Reinheim
169
5.1.3.3 DA5 DA5 ist 1957 geboren und lebt seit 1987 in Reinheim. Aufgewachsen ist er im benachbarten Groß-Zimmern.395 Die Vorfahren des Sprechers kommen alle aus der näheren Umgebung Reinheims. Er gibt an, von seinen Eltern im „versuchten Hochdeutsch“ erzogen worden zu sein, aber in der Kindheit im sonstigen Umfeld Platt erlernt zu haben. Zur Zeit der Aufnahme arbeitete DA5 als Polizeihauptkommissar im Polizeipräsidium Südhessen in Darmstadt.
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Abb. 5-11: Variablenanalyse DA5
Die Dialektkompetenzerhebung von DA5 kann dem dialektalen Bereich in Reinheim zugeordnet werden, unterscheidet sich aber beispielsweise von der Dialektübersetzung von DAALT2. Er produziert zwar alle dialektalen Merkmale (vgl. Abb. 5-11) und teilweise auch die in Tab. A.1 beschriebenen Varianten sowie manche lexikalische Einzelformen (bspw. [ɡɘkʰɛntʰ]gekannt). Bei DA5 lässt sich jedoch deutlicher als bei DA1 ein Rückgang der Kompetenz im Vergleich zu DAALT2 beobachten. Einerseits realisiert er zum Teil die dialektalen Varianten absolut gesehen selten (vgl. mhd. ê), andererseits sind relativ zu den beiden ande395 Laut BORN (1938, 163–163) weist Groß-Zimmern sprachliche Merkmale auf, die den dortigen Dialekt hauptsächlich gegen den Norden abgrenzen und zum Osten öffnen. Die beschriebenen Eigenheiten betreffen entweder die vorliegende Analyse nicht oder sind bei DA5 nicht (mehr) vorhanden.
170
5 Rheinfränkisch
ren Sprechern die Frequenzen allgemein etwas niedriger. Insgesamt kann der Sprecher (noch) als dialektkompetent gelten, doch zeichnen sich – stärker als bei DA1 – erste Tendenzen der Variabilisierung der Verwendung dialektaler Merkmale bzw. des Abbaus dieser Merkmale und einer damit einhergehenden Standardadvergenz ab. Dies lässt sich ggf. auf die Primärsozialisation des Sprechers zurückführen und entspricht der Selbsteinschätzung. Er gibt an, den Dialekt sehr gut zu verstehen, aber nicht mehr sehr gut zu sprechen. Ähnlich wie DA1, mit dem er das Freundesgespräch führt, weicht sein Sprachverhalten in informellen Situationen von dem der Kompetenzerhebung des Dialekts ab und lässt sich ebenfalls einem standardnäheren Bereich zuordnen. Die standardabweichenden Varianten von mhd. ô werden nicht mehr verwendet, die Frequenzen der entsprechenden Variante von mhd. ê gehen in einem niedrigen Bereich leicht zurück, ebenso werden die regionalen Varianten von mhd. ei deutlich seltener realisiert. Ansonsten bestehen nur geringfügige Frequenzunterschiede zu den WSD – die Frequenzen bei der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung bleiben unverändert. DA5 schätzt sich auch entsprechend ein. Er meint, im Alltag nicht ganz so tief Platt zu sprechen, da sein Umfeld kaum Platt spricht und bezeichnet diese Sprechweise als Mischmasch. In formellen Situationen nähert sich DA5 deutlich der Standardsprache an. Die Sprechweise kommt dem Regionalakzent sehr nahe. Er realisiert keine vokalischen Dialektmerkmale mehr, auch keine e-/n-Apokope und nur sehr selten die regionale Variante der Negationspartikel. Auch weitere Merkmale (vgl. Tab. A.5) nehmen in ihrer Auftretenshäufigkeit ab. In einem mittleren Frequenzbereich kommen die standarddifferenten Formen der b-Spirantisierung und der t/dAssimilation vor, in einem hohen die der s-Sonorisierung, der Tiefschwa-Vorverlagerung und der Koronalisierung. Sein Sprachverhalten in der Standardkompetenzerhebung ähnelt dem der formellen Situation stark und kann dem Regionalakzent zugeschrieben werden. DA5 unterdrückt hier die regionalen Merkmale der b-Spirantisierung und der t/dAssimilation und realisiert nur die entsprechenden Varianten der Variablen sSonorisierung, Tiefschwa-Vorverlagerung und Koronalisierung – dies aber zu hundert Prozent. Er bezeichnet seine Sprechweise in formellen Situationen als versuchtes Hochdeutsch und bewertet sein bestes Hochdeutsch als relativ regional markiert. Diese subjektive Sicht kommt der objektsprachlich analysierten Sprachverwendung relativ nahe. Er orientiert sich stark an der Standardvarietät – er erreicht in den Performanzerhebungen die größte Standardnähe –, manche Merkmale sind in einem hohen Frequenzbereich allerdings remanent, was DA5 bewusst zu sein scheint. DA5 kann deshalb – analog zu DA1 – als Kontinuum-Shifter kategorisiert werden. Bei ihm zeichnet sich die Tendenz des Abbaus dialektaler Kompetenz und Aufbau standardsprachlicher Kompetenz deutlicher ab als bei DA1. Das Sprachverhalten von DAALT2, DA1 und DA5 entspricht in gewisser Weise jeweils einem Umschalten (entweder vom Interview zur Standardkompetenzerhebung oder vom Freundesgespräch zum Interview). Es handelt sich dabei wie aufgezeigt aus struktureller Sicht nicht um einen Varietätenwechsel, sondern
5.1 Reinheim
171
um Sprechlagen- oder Bereichswechsel (d. i. Shiften, vgl. Fn. 385). Insofern widerspricht dieses Sprachverhalten auch nicht der Annahme des regionalsprachlichen Kontinuums. Das Spektrum eines Ortes ergibt sich aus dem Sprachverhalten der Sprecher insgesamt (vgl. KEHREIN 2012, vgl. auch Kap. 8.5) und das individuelle Sprachverhalten muss als Teil dessen analysiert werden.396 Es stehen den Sprechern (theoretisch) verschiedene Bereiche und Sprechlagen zur Verfügung, sodass die Sprecher sprachlich variieren und funktional Sprechlagen (bzw. Bereiche) verwenden können – mit der Besonderheit, dass sie sich strukturell gesehen sprachlich in einem Kontinuum bewegen (und keine Systeme wechseln).397 5.1.3.4 DAJUNG1 DAJUNG1 ist 1992 geboren und war zur Zeit der Aufnahme Abiturient im benachbarten Groß-Bieberau. Außer seiner Großmutter mütterlicherseits, die aus dem benachbarten Odenwald kommt, sind alle seine Verwandten aus Reinheim. Er selbst gibt an, im „Mischmasch“ primärsozialisiert worden zu sein. Die Primärsozialisierung im „Mischmasch“ spiegelt sich auch in seiner Übertragung der Wenkersätze in den tiefsten Dialekt wider. Die Sprachprobe lässt sich nicht mehr dem Dialekt zuordnen, sie kann als regiolektal klassifiziert werden (vgl. Abb. 5-12). Die regionalen Varianten der Variablen mhd. ô, ei und ou realisiert er nur in Einzellemmata und mitunter erst auf Nachfrage des Explorators. Dies lässt darauf schließen, dass er die dialektalen Regeln nicht (mehr) vollständig beherrscht, sondern eher einzelne Wörter kennt, die dem Dialekt entsprechen.398
396 Betrachtet man die Interviews der drei Sprecher zusammen (vgl. Abb. 5-9–11), so wird die sukzessive Annäherung an die Standardsprache deutlich. Die Unterschiede liegen hauptsächlich in den Frequenzen der einzelnen regionalen Varianten begründet. Auch bei den einzelnen Sprechern kann die Struktur des Spektrums erkannt werden. In den Variantenverteilungen lassen sich keine kombinierten und systematischen Unterschiede feststellen. Die Sprecher nähern sich im Gesamtvergleich sukzessive der Standardsprache an, wobei es zu einzelnen starken, aber meist unterschiedlichen Frequenzreduktionen kommen kann. 397 Dieses Variationsverhalten samt funktionaler Verwendung von Sprechlagen ist auch bei monovarietären Sprechern innerhalb eines Spektrums mit verschiedenen Varietäten denkbar. Individuelles „Umschalten“ muss also stets mit dem Sprachverhalten der anderen Sprecher und daher mit der Struktur des regionalsprachlichen Spektrums insgesamt in Bezug gesetzt werden (vgl. auch Kap. 6). 398 DAJUNG1 produziert in der Dialektkompetenzerhebung zwei hyperdialektale Monophthonge (hause und bauen < mhd. û). Dies widerspricht nicht den bisherigen Ergebnissen. Die dialektalen Merkmale für mhd. ei und ou können einen strukturellen Unterschied konstituieren. Dieser muss in Bezug zum gesamten dialektalen System gesetzt werden und stellt im Rheinfränkischen eine Ausnahme dar (vgl. Kap. 5.1.2). Bei diesen Merkmalen kann es somit zu Hyperformen kommen, die die Klassifikation der Merkmale bestätigen. Diese müssen aber nicht im Widerspruch zur Struktur des Spektrums stehen. Dafür spricht auch die Quantität. Es handelt sich lediglich um zwei Belege. Auffallend ist zudem, dass die Form in (nach) hause auch bei den Sprechern FJUNG1 und BÜDJUNG1 vorkommt, bei denen sonst keine Hyper-
172
5 Rheinfränkisch
Die diphthongische Variante von mhd. ê verwendet er überhaupt nicht. Hochfrequent realisiert er nur die standarddifferenten Varianten der Negationspartikel, der t/d-Assimilation, der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung. Der Sprecher gibt auch an, den Dialekt des Ortes sowohl aktiv wie passiv nur noch mittelmäßig zu beherrschen.399
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Abb. 5-12: Variablenanalyse DAJUNG1
Dieser regiolektalen Kompetenz entspricht auch sein Sprachverhalten in den Performanzerhebungen – die Einzelformen ausgenommen.400 Der Sprecher ändert sein Sprachverhalten in informellen und formellen Situationen kaum. Er besitzt also eine regiolektale Normalsprechlage, die er in seinem gesamten kommunikatidialektalismen ermittelt werden können. Ggf. kann diese Form als lexikalisch klassifiziert werden. Diese Annahme wird zusätzlich dadurch gestützt, dass die drei Sprecher in WS 30 (Haus) einen dialektentsprechenden Diphthong realisieren. 399 Interessant ist, dass diese regiolektale Kompetenz des jungen Sprechers der Performanz des Sprechers DA1 in formellen Situationen entspricht (Performanzmittel = Kompetenzjung). DA1 ist im selben Alter wie die Eltern von DAJUNG1. Das „Mischmasch“ seiner Primärsozialisation von den Eltern scheint somit dem Sprachverhalten dieser Generation in formellen Situationen (Regiolektbereich) zu entsprechen (vgl. dazu auch KEHREIN 2012, 149). Dies scheint auch für die einzellexikalischen Dialektformen zu gelten (s. o.). 400 Für mhd. ei verwendet er in einem Fall einen Monophthong (heim). Dies kann ggf. eine einzellexikalische, dialektale Markierung der Sprechweise darstellen, spricht aber dafür, dass das Merkmal auch im regiolektalen Bereich noch vorhanden ist.
5.1 Reinheim
173
ven Alltag verwendet.401 Diese lässt sich im Vergleich zu den anderen Sprechern als relativ standardnah beschreiben. Sie zeichnet sich durch niedrige bis hohe Frequenzen der meisten regionalen, konsonantischen Merkmale und sehr hohe Frequenzen der standardabweichenden Varianten der Variablen s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung aus. Die Frequenzen variieren dabei kaum zwischen den Situationen, teilweise sind sie im Interview sogar höher. Dieser geringen Variation steht seine eigene Einschätzung entgegen, da er auf die Frage nach den Sprechweisen in verschiedenen Situationen antwortet, in formellen Situationen Hochdeutsch und in informellen den Mischmasch zu sprechen. DAJUNG1 nähert sich der Standardsprache deutlich an, wenn er die Wenkersätze in sein bestes Hochdeutsch übertragen soll. Er weist von allen Sprechern die höchste Standardkompetenz auf, ohne die Standardsprache zu erreichen. In der Sprachprobe realisiert er die geringsten Frequenzwerte der regionalen Merkmale. In der qualitativen Auswertung wird dies auch deutlich, da DAJUNG1 seltener als die anderen Sprecher weitere Merkmale (bspw. Lenisierung) produziert. Remanent sind mit niedrigen Frequenzen die regionalen Formen der s-Sonorisierung, b-Spirantisierung und t/d-Assimilation sowie mit hohen Frequenzen der Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung.402 Für den -Auslaut produziert er häufiger als die anderen Sprecher standardkonforme Varianten, diese aber insgesamt seltener als die regionale Form. Hierin sind Tendenzen eines weiteren Ausbaus der Standardkompetenz zu sehen. Der Sprecher DAJUNG1 hat keine Dialektkompetenz mehr, im kommunikativen Alltag verwendet er eine Normalsprechlage, die dem Regiolekt zugeordnet werden kann und auf deren Basis er die Wenkersätze in den Dialekt überträgt. Er weist die größte Annäherung an die Standardsprache von allen Sprechern in Reinheim auf, ohne diesen aber zu erreichen. Er kann als Regiolektsprecher typisiert werden, der keinen Dialekt mehr beherrscht, intersituativ allenfalls minimal variiert und seine Kompetenzen zur Standardsprache ausbaut. Deshalb wird er hier als Regiolektsprecher mit dem Zusatz moveless bezeichnet. 5.1.3.5 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich Für das rezente Sprachverhalten in Reinheim lässt sich festhalten, dass der Dialekt – als Teil des Kontinuums – noch von Bedeutung ist. Es gibt Sprecher, die ihn beherrschen und ihn auch noch im kommunikativen Alltag verwenden. Der Großteil der Kommunikation findet jedoch im regiolektalen Bereich statt.
401 Ausgehend von dieser Sprechlage produziert DAJUNG1 auch seinen „tiefsten Dialekt“, indem er Einzelwörter, die er wahrscheinlich aus seinem Umfeld kennt, zusätzlich gebraucht. 402 An den regionalen Merkmalen der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung wird die beschriebene Varietätengrenze zur Standardsprache an dieser Stelle nochmals deutlich.
174
5 Rheinfränkisch
Im intergenerationellen Vergleich ergeben sich Unterschiede sowohl in der Kompetenz als auch der Performanz der Sprecher. Dies wird auch an den drei identifizierten Sprechertypen deutlich: a) Dialektshifter b) Kontinuum-Shifter c) Regiolektsprecher (moveless) Der Dialektshifter weist die höchste Dialektkompetenz auf und verwendet den Dialekt noch im Alltag (v. a. informelle Situationen). Er variiert sein Sprachverhalten in formellen Situationen und nähert sich der Standardsprache an. Die beiden Kontinuum-Shifter haben eine etwas geringere Dialektkompetenz. Sie zeigen eine klare intersituative Variation: während ihr Sprachverhalten in informellen Situationen als dialektnah beschrieben werden kann, verwenden sie in formellen Kontexten eine regiolektale Sprechlage. Die Standardkompetenz der Shiftertypen gleicht sich. Der Regiolektsprecher (moveless) ist nicht mehr dialektkompetent, er verwendet eine regiolektale Normalsprechlage im kommunikativen Alltag und variiert minimal. Er weist insgesamt die höchste Standardkompetenz auf. Der Vergleich der Verteilung der Merkmale zwischen den Sprechern (d. i. intergenerationeller Vergleich, bzw. Wandel in apparent-time)403 resultiert in folgendem Ergebnis: Bei den regionalen Varianten der Variablen n-Apokope, Negationspartikel, t/d-Assimilation, b-Spirantisierung und s-Sonorisierung lässt sich eine Variabilisierung des Gebrauchs mit starkem Rückgang der Variantenfrequenzen in der jungen Generation beobachten. Ein totaler Rückgang der Realisierung zur jungen Generation kann für die regionalen Varianten von mhd. ô und ê sowie bedingt auch für mhd. ei und ou beobachtet werden. Die Frequenzen der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung sind stabil und die Realisierungen der Fortisierung nehmen in der jüngsten Generation sogar zu. Im intergenerationellen Vergleich der Reinheimer Sprecher zeigen sich also eine Variabilisierung des Gebrauchs dialektaler Merkmale und zur jungen Generation ein Abbau dieser Merkmale sowie eine Verlagerung des Sprachverhaltens in den Performanzaufnahmen in standardnähere Bereiche des Spektrums. Des Weiteren lässt sich vor allem in der jüngeren Generation ein weiterer Ausbau des Regionalakzents in Richtung Standardvarietät beobachten. Die kann insgesamt als Standardadvergenz des Kontinuums gewertet werden. Der entscheidende Umbruch innerhalb dieser Dynamik zeigt sich zwischen den Sprechern der mittleren und jungen Generation (vgl. Abb. 5-8). Die beiden Kontinuum-Shifter bilden quasi das Bindeglied zwischen den beiden anderen Sprechertypen und auch intern zeichnet sich der Umbruch ab. DA1 ähnelt mehr dem Sprechertyp 1, während DA5 schon in der Entwicklung zu Sprechertyp 3 zu sein scheint. Als einer der entscheidenden Faktoren kann hier die Primärsozialisation bestimmt werden, die
403 Die Verteilungen sind den Abbildungen der Variablenanalysen der Sprecher sowie Tab. A.7. im Anhang zu entnehmen. Eine Erklärung der Remanenz und ausführliche Analysen der Variablen der Gruppe drei und vier erfolgt in Kap. 8.4.
5.1 Reinheim
175
das unterschiedliche Sprachverhalten erklären kann (vgl. für weitere Erklärungen Kap. 8.2). Die Analyse konnte zudem zeigen, dass in einem regionalsprachlichen Kontinuum dieselben Sprechertypen vorkommen (können), die bisher nur für andere Spektrumstypen beschrieben wurden. 5.1.4 Zusammenfassung Spektrumstyp
regionalsprachliches Kontinuum
Verhältnis Dialekt – Standardsprache
wenige Typ1a-Varianten viele Typ1b- und Typ2-Varianten
Prozess der Standardannäherung
sukzessive Standardannäherung (Shiften)
Sprechertypen
Dialektshifter Kontinuum-Shifter Regiolektsprecher (moveless)
rezente Dynamik/Entwicklungen
sukzessiver und zur jung. Gen. vollständiger Abbau des Dialekts Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, mit Umbruch zur jung. Gen. + weiterer Ausbau der Standardkompetenz (jung. Gen.)
Dieses Ergebnis kann zu den Auswertungen von STEINER (1994) in Mainz im rheinfränkischen Übergangsgebiet in Bezug gesetzt werden (vgl. Kap. 3.6). STEINER (1994, 184) kommt auf Grundlage ihrer empirischen Analysen zu dem Gesamtergebnis eines sprachlichen Kontinuums. Dies bestätigen auch SCHMIDT / HERRGEN (2011, 325) und weisen zugleich auf die notwendige Erweiterung durch zusätzliche Methoden hin. Diese Kombination der Methoden ist hier erfolgt und erzielt dasselbe Ergebnis, sodass beide Studien zusammen das regionalsprachliche Kontinuum bestätigen können.404
404 Auch die weiteren Ergebnisse STEINERS gleichen denen der vorliegenden Arbeit. Die gemessenen phonetischen Dialektalitätswerte liegen in einem ähnlichen Bereich (vgl. Abb. 3-2, 5-1), das Variationsverhalten der Sprecher ist ebenso weitgehend ähnlich (vgl. STEINER 1994, 127, Kap. 5.1.3) und auch die ermittelten remanenten Merkmale sind dieselben (vgl. STEINER 1994, 170–179, Kap. 5.1.4).
176
5 Rheinfränkisch
5.2 ERBACH 5.2.1 Einführung405 Die Elfenbeinstadt Erbach entstand aus der 1200 gegründeten Burg und wurde nach dem nahegelegenen Erdbach (früher Ertpach) benannt (vgl. DUDEN Bd. 25, 100). Sie liegt im südöstlichen Hessen auf 200–500 Metern Höhe im Odenwald, direkt an der Grenze zu Bayern (vgl. Karte 5-1). Nach Frankfurt beträgt die Entfernung ungefähr 65 km. Aufgrund dieser Lage wird Erbach nicht mehr zum Rhein-Main-Gebiet im engeren Sinne gezählt. Die Stadt war lange Residenzstadt der Grafen zu Erbach-Erbach. Seit der Gründung des Bundeslands Hessen ist sie Kreisstadt des Odenwaldkreises (früher: LK Erbach) und ist mit 13.401 Einwohnern nach Michelstadt die zweitgrößte Stadt im Landkreis, der der einwohnerärmste Landkreis in Hessen ist. Die Stadt setzt sich aus folgenden Stadtteilen zusammen: Bullau, Dorf-Erbach, Ebersberg, Elsbach, Erlenbach, Ernsbach, Kernstadt Erbach, Erbuch, Günterfürst, Haisterbach, Lauerbach, Weiler Roßbach und Schönnen. Die Stadt ist noch heute durch das Schloss und die mittelalterliche Altstadt geprägt. Trotz der Größe weist sie die Strukturen einer Kreisstadt auf, sodass es unter anderem eine eigene Polizeidirektion Erbach gibt. Verkehrstechnisch ist die Anbindung an das Rhein-Main-Gebiet und Frankfurt jedoch schlechter als bspw. in Reinheim. Die nächste Autobahn ist über 30 km entfernt, im Straßenverkehr benötigt man in der Regel 75–80 Min. nach Frankfurt und mit dem Schienenverkehr über Darmstadt oder Hanau ungefähr 90 Min. Innerhalb Hessens liegt der Odenwald daher eher peripher. Folgende Sprecher wurden für Erbach untersucht: Sprecher
Geburtsjahr Wohnort (seit
Beruf
Geburt)
Datum der Aufnahme
ERBALT1
1944
Erbach
Rentner (früher Bankkaufmann)
Okt. 2013
ERB2
1963
Erbach
POK
Okt. 2013
ERB3
1961
Erbach
Polizeibeamter
Okt. 2013
ERBJUNG1
1995
Erbach
Abiturient
Dez. 2013
Tab. 5-4: Sprecherübersicht Erbach (ERB)
405 Vgl. zu diesem Abschnitt und für weitere Informationen zur Stadt die Internetseite von Erbach ().
177
5.2 Erbach
5.2.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums 5.2.2.1 Empirische Analysen In Abb. 5-13 sind die für die Erbacher Sprecher ermittelten phonetischen Dialektalitätswerte zu sehen. Bei der ersten Betrachtung fällt auf, dass die Werte in einem ähnlichen Bereich wie in Reinheim liegen (zwischen 0,6 und 2,2). Im Vergleich zu Reinheim zeigen die Erbacher Sprecher aber ein recht ähnliches Variationsverhalten. Zwar erreicht auch hier der Sprecher der älteren Generation die höchsten Dialektalitätswerte und der Sprecher der jüngeren Generation die niedrigsten, doch sind die Werte untereinander ähnlich – vor allem in den freien Gesprächen.
phon. Dialektalitätswerte
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Abb. 5-13: D-Werte für Erbach (ERB)
Für die Struktur des Spektrums lassen sich auf Grundlage der Dialektalitätswerte folgende Vermutungen anstellen: Neben der Grenze zur Standardsprache, die im oberen Bereich der Darstellung deutlich wird, ließen sich aufgrund der Abstände zwischen den Sprachproben zwei weitere Abgrenzungen im Bereich von ~1,9 und ~1,4 vornehmen, die auf mögliche Varietäten oder Sprechlagen schließen lassen könnten.
178
5 Rheinfränkisch
Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
5
10
15
20
25
FG_ERB2 WSD_ERBJUNG1 WSD_ERB3 WSD_ERBALT1
1 WSD_ERB2 FG_ERBALT1
I
FG_ERB3 FG_ERBJUNG1 Interv._ERB2 Interv._ERB3
2 Interv._ERBALT1 Interv._ERBJUNG1 WSS_ERB2 WSS_ERB3
II 3 WSS_ERBALT1 WSS_ERBJUNG1
Abb. 5-14: Dendrogramm für Erbach (ERB)
Die Ergebnisse der Clusteranalyse sind in Abb. 5-14 dargestellt. Die Clusterung auf der ersten Stufe zeigt zwei Subcluster (I und II). Das erste dieser Cluster lässt sich wiederum in zwei Subcluster einteilen. Das Ergebnis legt daher auf der untersten Stufe eine Einteilung in drei Cluster nahe. Cluster 1 besteht aus acht Sprachproben (WSD und FG aller Sprecher), Cluster 2 aus vier Sprachproben (Interviews aller Sprecher) und das dritte Cluster beinhaltet wiederum vier Sprachproben (WSS aller Sprecher). Somit zeigt auch die Clusteranalyse das Ergebnis eines recht homogenen Sprachverhaltens der Sprecher, da die Cluster jeweils dieselben Sprachproben der Sprecher zusammenfassen. In Cluster 1 und 3 kann eine Subdifferenzierung vorgenommen werden (FG von ERB3 und ERBJUNG1 sowie WSS von ERBJUNG1). Die Annahme eigener Cluster scheint aber aufgrund der geringen Unterschiede im Gesamtvergleich nicht sinnvoll. Bei der Betrachtung der Cluster muss dies aber beachtet werden. Der Hauptunterschied
179
5.2 Erbach
zwischen den Clustern liegt zwischen Cluster I und II, sodass hier eine mögliche Varietätengrenze vermutet werden kann. Die angenommene Clusterlösung (drei Cluster) muss auch hier mit linguistischen Kriterien in Verbindung gebracht werden, um zu überprüfen, ob diese sinnvoll ist, und um umfassende Ergebnisse zum regionalsprachlichen Spektrum zu erhalten. Die Ergebnisse der Variablenanalysen406 sind für alle Sprachproben in Abb. 5-15–17 dargestellt. In Cluster 1 werden die dialektalen Wenkersätze und die Freundesgespräche der vier Sprecher zusammengefasst (vgl. Abb. 5-15). ̴ͳ
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Abb. 5-15: Variablenanalyse Cluster 1 (ERB)
Die Frequenzwerte der diphthongischen Varianten von mhd. ô und ê streuen stark in einem mittleren Bereich. In manchen der Sprachproben – teilweise in unterschiedlichen – werden die Varianten bereits vollständig vermieden. Der Gebrauch der Merkmale kann daher als variabel eingestuft werden. Eine geringe Variabilisierung der Verwendung der standardabweichenden Variante in einem recht hohen Frequenzbereich lässt sich bei den Variablen Palatalisierung, mhd. ei und ou sowie b-Spirantisierung feststellen. Alle anderen Dialektformen – die Fortisierung 406 Für Erbach sind die Ergebnisse der Variable Palatalisierung aufgeführt. Diese wurde auch in Reinheim untersucht. Da hier die Sprecher dem Dialekt entsprechend keine regionalen Varianten produzieren, wurde die Variable nicht aufgeführt. Vgl. für die absoluten und relativen Werte Tab. A.7 im Anhang. Zur Dateninterpretation und -kombination vgl. Kap. 4.3.2.
180
5 Rheinfränkisch
ausgenommen (vgl. Kap. 5.2.4, 8.4.5) – werden durchgehend hochfrequent realisiert. Insgesamt kann mit den Sprachproben dieses Clusters der Dialekt identifiziert werden. Die Variablisierungen könnten dadurch erklärt werden, dass in diesem Cluster nicht nur Kompetenzerhebungen enthalten sind, sondern auch Performanzerhebungen und damit die freie Verwendung des Dialekts. Die Subdifferenzierung in Cluster 1 (vgl. Abb. 5-15), die die Freundesgespräche von ERB3 und ERBJUNG1 von den anderen Sprachproben geringfügig unterscheidet, könnte darin begründet liegen, dass beide Sprecher in diesen Aufnahmen keine Diphthonge für mhd. ê und ô produzieren. Sie entsprechen aber der Gesamtverteilung des Clusters, wie auch die qualitativen Analysen bestätigen (vgl. auch das Freundesgespräch von ERBALT1, in dem keine Dialektvarianten für mhd. ô realisiert werden). ̴ͳ ̴ ͳ
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Abb. 5-16: Variablenanalyse Cluster 2 (ERB)
Cluster 2 fügt die Interviews aller Sprecher zusammen (vgl. Abb. 5-16). In diesen Sprachproben werden die regionalen Varianten der Variablen mhd. ê, ô und Palatalisierung nicht mehr realisiert – lediglich ERBJUNG1 verwendet im Interview selten palatalisierte Formen (vgl. auch Abb. 5-23). Die Anzahl der standarddifferenten Realisierungen für mhd. ei und ou sowie der n-Apokope geht in diesem Cluster im Vergleich zu Cluster 1 stark zurück. Es zeigt sich dabei eine große Varianz der Werte, die sich schon in Cluster 1 abzeichnet. ERBALT1 verwendet für mhd. ou deutlich häufiger monophthongische Varianten als die anderen Sprecher.
181
5.2 Erbach
Teilweise sind die dialektalen Varianten bereits in den Sprachproben dieses Clusters vollständig zurückgegangen. Die Anzahl der regionalen Varianten der nApokope wird ebenso reduziert, allerdings nicht so stark wie die der entsprechenden Varianten von mhd. ei und ou. Bei den restlichen regionalen Merkmalen lässt sich entweder keine Veränderung der Realisierungen im Vergleich zu Cluster 1 feststellen (bspw. nicht) oder ein geringer Rückgang der Frequenzen (t/dAssimilation – Tiefschwa-Vorverlagerung), der hauptsächlich durch die Sprachprobe von ERBJUNG1 bedingt wird. Insgesamt zeigen diese Merkmale eine hohe Stabilität. ̴ͳ
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Abb. 5-17: Variablenanalyse Cluster 3 (ERB)
Die Übertragungen der Wenkersätze in das beste Hochdeutsch der Sprecher werden zu Cluster 3 klassifiziert (vgl. Abb. 5-17). Die standarddifferenten Varianten der vokalischen Variablen, der Palatalisierung, der n-Apokope und der Negationspartikel werden von den Sprechern vollständig unterdrückt, das heißt nicht mehr realisiert.407 Die Frequenzen der regionalen Formen der t/d-Assimilation und 407 ERBALT2 apokopiert in den standardintendierten Wenkersätzen in zwei von 67 Fällen std. [n]. Dies geschieht in direkter Folge in WS 26 (schönen, roten). Vor der Übertragung des Teilsatzes verspricht sich der Informant und korrigiert sich. Es kann vermutet werden, dass seine Aufmerksamkeit deshalb eher auf die korrekte Wiedergabe des Satzes als auf die Zielvarietät gerichtet ist.
182
5 Rheinfränkisch
der b-Spirantisierung gehen stark zurück und variieren geringfügig, sie sind aber als remanent zu kategorisieren. Im Vergleich zu den anderen beiden Clustern werden die regionalen Varianten der s-Sonorisierung, der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung weiterhin hochfrequent realisiert, sodass sie als stabil und remanent klassifiziert werden können. Lediglich Sprecher ERBJUNG1 produziert diese Formen im Vergleich zu den anderen drei Sprechern seltener – insgesamt aber noch hochfrequent. Dies kann als Grund der Subdifferenzierung in Cluster 3 (vgl. Abb. 5-14) identifiziert werden und zeigt, dass die Annahme eines eigenen Clusters nicht sinnvoll erscheint. In der zusammenfassenden Betrachtung der einzelnen Variablenanalysen wird die Grenze zur Standardsprache, die sich bereits bei der Betrachtung der Dialektalitätswerte abzeichnete, deutlich. Sie lässt sich in der Variantenverteilung der Merkmale s-Sonorisierung, Tiefschwa-Vorverlagerung und Koronalisierung erkennen. Die standarddifferenten Varianten werden durchgehend hochfrequent realisiert.408 Ansonsten ist insgesamt kein übergreifendes Muster der Variantenverteilung erkennbar, allenfalls lassen sich Verwendungsschwerpunkte mit eher abrupten Frequenzrückgängen erkennen, die sich untereinander jedoch teilweise unterscheiden. Es lässt sich zusammenfassen, dass bei einigen Dialektmerkmalen (Variablen mhd. ê, ô, ei, ou) eine durchgehende Variabilisierung der Verwendung zu beobachten ist, sich aber bei diesen Variablen die Variantenverteilungen jeweils unterscheiden. Im Gebrauch einiger standardabweichender Merkmale lassen sich hohe Frequenzrückgänge erkennen (Variablen Palatalisierung, n-Apokope, t/d-Assimilation, Negationspartikel und b-Spirantisierung), doch gehen diese erstens in den meisten Fällen mit einer Variabilisierung einher, die bei der bSpirantisierung und der t/d-Assimilation aufgrund der Verteilung auch als durchgehende Variabilisierungen mit höheren Frequenzrückgängen eingeordnet werden können. Zweitens finden die Reduktionen nicht immer zwischen denselben Sprachproben bzw. Clustern statt (vgl. bspw. Palatalisierung zwischen Cluster 1 und 2 und nicht zwischen Cluster 2 und 3). Auch der totale Rückgang der standarddifferenten Varianten findet im Gesamtvergleich zwischen unterschiedlichen Sprachproben (bzw. unterschiedlichen Clustern, tw. innerhalb einzelner Cluster) statt (vgl. bspw. mhd. ô innerhalb des ersten Clusters und mhd. ou innerhalb des zweiten Clusters). Ein – wenn auch schwaches – Muster lässt sich in dem Frequenzrückgang der dialektalen Varianten der n-Apokope, der t/d-Assimilation, der Negationspartikel und der b-Spirantisierung zwischen Cluster 2 und 3 erkennen. Dieser geht zwar mit einer differenten Variantenverteilung einher (vgl. bspw. nicht und b-Spirantisierung), muss aber bei der weiteren Analyse berücksichtigt werden (s. u.). Übergreifend kann kein systematischer und kombinierter Unterschied in den Variantenverteilungen, die zur Differenzierung dienen, ermittelt werden. Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass hauptsächlich die Werte 408 Vgl. zu den Variantenverteilungen bei ERBJUNG1 Kap. 5.2.3.4 und zur Varietätengrenze allgemein Kap. 8.4.6. Die Variantenverteilungen dienen somit nur tw. der Differenzierung der Sprachproben (vgl. Fn. 356).
5.2 Erbach
183
der Variantenfrequenzen über die Sprachproben streuen und die Wertdifferenzen über die Variablen. Die Variablenanalyse deutet somit – analog zu Reinheim (vgl. Kap. 5.1.2) – auf keine Varietätengrenze innerhalb des regionalsprachlichen Spektrums hin und somit auch nicht auf diskrete Varietäten, wobei der Hinweis auf eine mögliche Abgrenzung (ähnliche Frequenzrückgänge) überprüft werden muss. Dies kann durch den direkten Bezug zur Clusteranalyse erfolgen. Sie zeigt den Hauptunterschied zwischen den Clustern I und II und indiziert zwischen den entsprechenden Sprachproben eine mögliche Varietätengrenze. Auch hier können zur genaueren Analyse die beiden ähnlichsten Sprachproben aus den unähnlichsten Clustern miteinander verglichen werden (vgl. Kap. 5.1.2). In Erbach sind dies das Interview von ERB2 und die Standardübertragung der Wenkersätze von ERB2. Kategoriale Unterschiede zwischen den Variantenverteilungen der Sprachproben liegen für die Variablen nicht und n-Apokope vor, da ERB2 die regionalen Formen im Interview realisiert und in den Wenkersätzen nicht. Zusätzlich verwendet ERB2 die standarddifferenten Varianten der t/d-Assimilation und der bSpirantisierung im Interview häufiger, ansonsten ist die Variantenverteilung identisch. Dies entspricht dem ermittelten Muster der Gesamtverteilung. Es würde jedoch bedeuten, dass die mögliche Varietätengrenze durch einen systematischen Unterschied in der Verwendung der regionalen Varianten der Negationspartikel und der n-Apokope sowie durch Frequenzunterschiede bei den entsprechenden Varianten der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung begründet wäre. Diese Annahme scheint weder quantitativ (vgl. Kap. 5.2.2.2) sinnvoll zu sein, sondern legt nahe, dass keine Varietätengrenze vorliegt (vgl. dazu auch Kap. 7.1.2).409 Dafür sprechen in Erbach zwei weitere Aspekte. Es lassen sich keine Hyperdialektalismen in den Erbacher Sprachproben finden. Diese wären ein klares Indiz für eine mögliche Varietätengrenze zwischen Dialekt und Regiolekt. Dieses Ausbleiben der Hyperformen ist alleine kein hinreichendes Argument gegen eine Varietätengrenze, bestätigt aber die bisherigen Ergebnisse.410 409 Theoretisch könnte auch angenommen werden, dass eine mögliche Varietätengrenze zwischen Cluster 1 und 2 anzusetzen wäre. Eine Prüfung dieser Annahme bestätigt jedoch, dass diese auch verworfen werden kann. Bei der Betrachtung der ähnlichsten Sprechlagen der beiden unähnlichen Cluster (FG von ERBJUNG1 und Interview von ERBALT1) zeigt sich, dass es nur einen größeren Frequenzunterschied in der Realisierung der dialektalen Variante der Palatalisierung gibt. Ansonsten weisen die Proben sehr ähnliche, tw. auch identische Werte auf. Dies hieße, nur anhand eines dialektalen Merkmals die Varietätengrenze festzulegen, was aus rein quantitativer Sicht keinen Systemunterschied darstellt. Zur Qualität des Merkmals s. u. 410 Der Sprecher ERBJUNG1 realisiert im Freundesgespräch Dienstag und Donnerstag mit [ʃ]. Dies entspricht nicht der dialektalen Verteilung des Dialektmerkmals (vgl. Kap. 4.4.2.3.4), da hier eigentlich eine Morphemgrenze vorliegt Diens#tag. KEHREIN (2012, 125, Fn. 141) erzielt für den vergleichbaren Fall Samstag dieselben Ergebnisse im Alemannischen. Er geht von einer Reanalyse aus, die die Morphemgrenze opak werden lässt und dazu führt, „dass in solchen Verbindungen von den Sprechern keine Zweigliedrigkeit mehr erkannt wird“. An dieser Stelle kann daher ein Hyperdialektalismus eher ausgeschlossen und ein Dialektwandel angenommen werden.
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5 Rheinfränkisch
Zu demselben Ergebnis führt der Vergleich mit den Reinheimer Analysen (vgl. Kap. 5.1.2). Die Clusteranalysen der Erbacher und Reinheimer Sprachproben – basierend auf denselben Variablen – führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, was bedeuten würde, dass innerhalb eines Dialektraums die Varietäten quantitativ und qualitativ unterschiedlich definiert wären und die Varietätengrenze nicht an derselben oder ähnlichen Position im Spektrum verliefe. In Reinheim würde die Varietätengrenze weiter unten im Spektrum liegen und auch durch andere Merkmalsverteilungen konstituiert werden. Für Reinheim hat die Analyse ergeben, dass der Hauptunterschied zwischen den Clustern in Frequenzunterschieden der Verwendung der regionalen Varianten von mhd. ou und der n-Apokope und einem kategorialen Unterschied bei den Varianten von mhd. ê besteht. In Erbach hingegen ergibt sich diese Differenzierung durch einen kategorialen Unterschied der Verteilung der Varianten der Negationspartikel und der n-Apokope sowie durch Frequenzunterschiede der standarddifferenten Varianten der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung.411 Hinzu kommt, dass die regionalen Varianten der nApokope und der Negationspartikel noch in den Reinheimer Sprachproben hochfrequent realisiert werden, die dem zweiten Hauptcluster (Cluster 3 und 4) zugeordnet werden können (vgl. Kap. 5.1.2, Cluster 3, Abb. 5-5), wohingegen diese Varianten in Erbach im zweiten Hauptcluster (Cluster 3, Abb. 5-17) überhaupt nicht mehr vorkommen.412
411 Bei der Variablen Palatalisierung liegt zwischen den beiden rheinfränkischen Untersuchungsorten ein systematischer Unterschied vor – die dialektalen Varianten gelten für Erbach, jedoch nicht für Reinheim (vgl. Kap. 4.4.2.3.4). Die Annahme, die Unterschiede könnten durch diese differente Verteilung begründet werden, lässt sich bei einer genauen Betrachtung der Ergebnisse nicht bestätigen. Die Clusteranalyse in Erbach zeigt den Hauptunterschied zwischen den Clustern 2 und 3, die palatalen Varianten gehen aber bereits von Cluster 1 zu 2 vollständig zurück – mit der Ausnahme bei ERBJUNG1, sodass diese Variable keinen empirischen Effekt auf die Strukturierung hat. Dies bestätigen auch Kontrollanalysen. Es kommt hinzu, dass ein einzelnes Merkmal hier den Varietätenunterschied verursachen würde. Zur Verwendung und Funktion der Palatalisierung s. u. 412 Dies gilt auch für die monophthongischen Varianten von mhd. ei, ou. Diese werden in den entsprechenden Reinheimer Aufnahmen allerdings nur vereinzelt und tw. lexikalisch verwendet. Insgesamt entsprechen sie aber dem skizzierten Muster. Dass der Vergleich der Analysen für Erbach und Reinheim gegen regionalsprachliche Varietätengrenzen spricht, zeigt auch ein direkter Vergleich der Interviews der beiden Sprecher DA1 und ERB2. Das Interview von DA1 wird bei der Analyse für Reinheim dem zweiten Hauptcluster (Cluster 3) zugeordnet und würde daher oberhalb einer möglichen Varietätengrenze liegen und einer anderen Varietät angehören als der Dialekt (erstes Hauptcluster). In Erbach ergibt die Analyse, dass das Interview von ERB2 dem ersten Hauptcluster (Cluster 2) subsumiert wird, das auch das dialektale Cluster (1) umfasst. Diese Sprachprobe würde also unterhalb einer möglichen Varietätengrenze liegen und der Varietät des Dialekts entsprechen. Vergleicht man die Variantenverteilungen der beiden Sprachproben, lässt sich festhalten, dass beide Sprachproben sehr ähnlich sind. In über der Hälfte der untersuchten Variablen sind die Variantenfrequenzen identisch bzw. nahezu identisch. Kategoriale Unterschiede bestehen nicht, sondern nur relative bei den Variablen n-Apokope, b-Spirantisierung, t/d-Assimilation und s-Sonorisierung (durchschnittlich realisiert ERB2 bei diesen Variablen häufiger regionale Varianten).
185
5.2 Erbach
Die Ergebnisse sprechen für die Annahme von Kontinua. Diese können dann die Ergebnisse der Clusteranalysen – genauer: die Unterschiede – schlüssig erklären. Da es insgesamt keine kombinierten und systematischen Wertdifferenzen in den Variantenverteilungen, die zur Unterscheidung der Sprachproben herangezogen werden können, gibt, unterteilt das quantitative Verfahren Clusteranalyse die Sprachproben an der Stelle, wo die Durchschnittsfrequenzen die größten Unterschiede zeigen. Durch die unterschiedlichen, freien Sprachverwendungsmuster der Sprecher in Reinheim (vgl. Kap. 5.1.3) und Erbach (vgl. Kap. 5.2.3) innerhalb der Kontinua, differieren daher auch die Clusterbildungen der Sprachproben. Die Ergebnisse werden durch die Implikationsanalyse bestätigt (vgl. Abb. 518). In der absoluten Verteilung der standarddifferenten Varianten ist zu sehen, dass in Erbach fünf regionale Merkmale (Koronalisierung, Tiefschwa-Vorverlagerung, s-Sonorisierung, b-Spirantisierung und t/d-Assimilation) in allen Sprachproben vorhanden sind, somit als remanent klassifiziert werden können und die Varietätengrenze zur Standardsprache indizieren. Kor.
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Abb. 5-18: Implikationsanalyse Erbach
Bei den nicht-remanenten standardabweichenden Varianten kann folgende kategoriale Verteilung ermittelt werden: ein übergreifendes Verteilungsmuster ist nicht zu erkennen. Es lassen sich lediglich zwei Variablen aufgrund gemeinsamer Variantenverteilungen zu einer Gruppe zusammenfassen (mhd. ou, ei), ansonsten können keine bzw. sechs Gruppen mit jeweils einer Variablen gebildet werden. Insgesamt verteilen sich die regionalsprachlichen Varianten also unterschiedlich auf die
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5 Rheinfränkisch
Sprachproben. Bei der Betrachtung der Sprachproben können sieben Gruppen gebildet werden (tw. aus einzelnen Proben bestehend), die sich im kategorialen Vorhandensein von einem bzw. zwei regionalen Merkmalen unterscheiden. Im Gesamtvergleich der Sprachaufnahmen und der Variablen kann daher kein systematischer und kombinierter Unterschied in der Variantenverteilung ermittelt werden – die fünf remanenten Merkmale ausgenommen. Es zeigt sich übergreifend ein sukzessiver Ersatz der standarddifferenten Varianten durch standardkonforme Pendants, was sich in dem stufenartigen Schema in Abb. 5-18 zeigt (vgl. als Kontrast Abb. 7-7). Dieses Ergebnis legt die Annahme eines regionalsprachlichen Kontinuums nahe und kann somit den bisherigen Befund bestätigen. 5.2.2.2 Theoretische Analysen Dieses empirische Ergebnis kann – analog zu Reinheim – auch hier theoretisch durch die Untersuchung der Systemhaftigkeit und der lokalen bzw. kleinräumigen Verteilung der Merkmale fundiert werden (vgl. Kap. 2.2.2 und 5.1.2.2). Da in Erbach dieselben Variablen analysiert wurden wie in Reinheim, können die Ergebnisse übertragen werden (vgl. Kap. 5.1.2.2): Es lassen sich auch für Erbach keine kleinräumig verteilten dialektalen Merkmale identifizieren, die aus theoretischer Sicht eine Varietätengrenze innerhalb des regionalsprachlichen Teils des Spektrums konstituieren könnten (d. h. viele Typ1b- und Typ2-Varianten, wenige Typ1a-Varianten).413 Für Erbach muss zusätzlich die Palatalisierung betrachtet werden. Wie die Variablenbeschreibung (vgl. Kap. 4.4.2.3.4) gezeigt hat, unterliegt das dialektale Merkmal einer beschränkten Verteilung (die Realisierung erfolgt nicht bei Morphemgrenzen und [s] < westgerm. t). Das bedeutet, dass Dialektsprecher dieses Merkmal im intendierten Standard leicht kontrollieren und vermeiden können – indem sie schriftsprachliches nur wortinitial als [ʃt] artikulieren –, die dialektale Realisierung ausgehend von Nichtdialektsprechern jedoch den Erwerb von Regeln und somit zumindest teilweise den Aufbau neuer Strukturen erfordert.414 Dieses dialektale Merkmal kann daher als Typ1a-Variante bestimmt werden und wäre ein Anzeichen für eine Varietätengrenze. Zwei Aspekte können jedoch gegen eine Bildung einer Varietätengrenze durch dieses Merkmal angeführt werden. Erstens ist es nicht kleinräumig verbreitet – Wenkerkarte 202 (bist, WS 15) zeigt, dass sich die Palatalisierung auf ein Gebiet zwischen
413 In den Erbacher Sprachproben kann ebenfalls die Ausbreitung der diphthongischen Varianten beobachtet werden (vgl. Kap. 5.2.3). Außerdem können die Ausführungen zu den Variablen mhd. ou und ei übertragen werden, da in den Erbacher Aufnahmen eine ähnliche Verteilung vorliegt und die dialektalen Varianten hauptsächlich (tw. in den Interviews der Sprecher ausschließlich) in hochfrequenten Lexemen (bspw. auch) vorkommen. Des Weiteren gelten auch die allgemeinen Angaben zum strukturellen Verhältnis der rheinfränkischen Dialekte zur Standardsprache, d. h. für weitere, hier nicht untersuchte Merkmale, für Erbach. 414 Ansonsten können Hyperdialektalismen wie [ɪʃt] für isst auftreten.
5.2 Erbach
187
Bingen im Norden, Waldshut-Tiengen im Süden, Saarbrücken im Westen und Augsburg im Osten erstreckt. Zweitens kommt hinzu, dass es für das Erbacher Spektrum zusammen mit mhd. ei und ou eines der wenigen standardabweichenden Merkmale (Typ1a-Varianten) wäre, das die Varietätengrenze – aus theoretischer Sicht – konstituieren würde. Dies scheint für die Abgrenzung zweier diskreter Systeme nicht ausreichend. Die empirischen Analysen zeigen außerdem, dass anhand der Palatalisierung keine Abgrenzung vorgenommen werden kann (vgl. Fn. 411). Es ist auch daran zu erkennen, dass die Variantenverteilung von denen der Variablen mhd. ou und ei (sowie mhd. ê und ô) differiert, was gegen eine kombinierte und systematische Verteilung, jedoch für eine relativ freie Variation in einem Kontinuum spricht (vgl. auch die Ausführungen zu mhd. ei und ou in Kap. 5.1.2). An dieser Stelle soll nochmals auf die regionalen Merkmale eingegangen werden, die in Erbach bei den empirischen Analysen ähnliche Verteilungsmuster aufweisen und so eine Abgrenzung innerhalb des Spektrums nahelegen (d. s. n-Apokope, t/d-Assimilation, Negationspartikel und b-Spirantisierung). Wie die Ausführungen zu Reinheim zeigen (vgl. Kap. 5.1.2), handelt es sich in allen Fällen um großräumig verteilte Typ1b- und Typ2-Varianten. Das heißt, keines dieser Merkmale erfüllt die Kriterien der Dialektdefinition – sie konstituieren deshalb alleine – trotz ihrer Verteilung – keine regionalsprachliche Varietätengrenze.415 Hier kann stattdessen eine Sprechlagengrenze (zum Regionalakzent) angenommen werden (s. u.). Auch für Erbach kann also davon ausgegangen werden, dass aufgrund der strukturellen Nähe des Dialekts zur Standardsprache eine Annäherung ohne Systemwechsel möglich erscheint. 5.2.2.3 Zusammenführung Die Kombination aus empirischen und theoretischen Analysen lässt die Schlussfolgerung zu, dass das regionalsprachliche Spektrum in Erbach als Kontinuum zu beschreiben ist.416 Das regionalsprachliche Kontinuum in Erbach besteht aus dem Dialekt417 und dem Regiolekt, die keine diskreten Varietäten, sondern Bereiche bilden, die kontinuierlich ineinander übergehen. Auf Grundlage der Ergebnisse kann ein Übergangsraum zwischen beiden Bereichen angenommen werden, der diese qua Status nicht diskret, sondern näherungsweise differenziert (vgl. Kap. 5.1.2). Als Sprechlagen können der Basisdialekt und der Regionalakzent bestimmt werden. Sie bilden die Pole des Spektrums und lassen sich nach unten (Basisdialekt) und oben (Regionalakzent) abgrenzen – im Fall des Regionalakzents zeichnet sich eine Abgrenzung der Sprechlage aufgrund des Sprachverhaltens der Er-
415 Dies zeigen auch die Analysen zu Ulrichstein (vgl. Kap. 7.1.2). 416 Hierfür wurden die Ergebnisse auch mit den phonetischen Dialektalitätswerten und qualitativen Analysen abgeglichen (vgl. Abb. 5-13). Zur Sprecherperspektive vgl. Kap. 5.1.2.2. 417 Als Dialektmarker fungieren für die Erbacher Sprecher die dialektalen Varianten von mhd. ê, ô und der Palatalisierung.
188
5 Rheinfränkisch
bacher Sprecher deutlicher ab als in Reinheim. Theoretisch kann es noch weitere Sprechlagen geben, aufgrund der Analyseergebnisse scheint eine weitere Abgrenzung schwierig. Das Spektrum kann wie in Abb. 5-19 dargestellt modelliert werden. Die Modellierung wurde im Abgleich mit den Reinheimer Ergebnissen vorgenommen. Die Struktur der beiden Spektren ist – entsprechend demselben Dialektgebiet – identisch (Kontinuum), die Unterschiede können auf differentes Sprachverhalten innerhalb des regionalsprachlichen Kontinuums zurückgeführt werden und daher mit diesem sinnvoll erklärt werden (vgl. auch Kap. 8.5). Standardsprache
regionalsprachliches Kontinuum
Regionalakzent
Regiolekt
Übergangsraum
Dialekt Basisdialekt
Abb. 5-19: Modellierung des Spektrums für Erbach (ERB)
5.2.3 Sprachverhalten 5.2.3.1 ERBALT1 Sprecher ERBALT1 ist 1944 in Erbach geboren und verbrachte sein ganzes Leben dort, ebenso stammen seine Vorfahren aus der Stadt. Da in Erbach Schwierigkeiten bei der Sprecherakquise bestanden, wurde ERBALT1 ausgewählt, obwohl er eine Ausbildung als Bankkaufmann absolvierte und während seiner beruflichen Tätigkeit bei der Sparkasse arbeitete. Diese Ausübung einer kommunikativen Tä-
5.2 Erbach
189
tigkeit muss bei der Analyse des Sprechers berücksichtigt werden. 418 Laut Angaben im Interview wurde ERBALT1 im Dialekt aufgezogen und hat die Standardsprache erst in der Schule erworben.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 5-20: Variablenanalyse ERBALT1
Die dialektale Übertragung der Wenkersätze ist dem dialektalen Bereich zuzuordnen (vgl. Abb. 5-20). Mit zwei Ausnahmen produziert der Sprecher alle standarddifferenten Varianten hochfrequent. Außerdem sind bei ihm fast alle der weiteren für Erbach beschriebenen und im Wenkerbogen (34342) vorhandenen Varianten (bspw. [ɡɘ̹b̥ɹo̟ːxt̠ ʰ] gebracht) und lexikalischen Einzelformen (bspw. [mɑ̙͡ o̟ɵ̟] schlechte) zu finden. Er verwendet zudem als einziger Sprecher apikale rVarianten. Die Ausnahmen betreffen die beiden Variablen mhd. ê und ô. In beiden Fällen produziert der Sprecher in den Wenkersätzen die dialektalen Varianten selten, im Freundesgespräch hingegen verwendet er für mhd. ô gar keine regionalen Formen, für mhd. ê hingegen hochfrequent den dialektalen Diphthong. Er scheint die dialektalen Varianten also noch zu kennen, verwendet sie in der Per-
418 Der größte Teil der Tätigkeit von ERBALT1 bestand darin, mit einem kleinen Sparkassenwagen als mobile Bank durch die Dörfer der näheren Umgebung zu fahren. Dabei hat er nach eigener Aussage sehr oft Dialekt gesprochen. Die Tätigkeit bei der Bank schränkte so zumindest den Dialektgebrauch nicht stark ein.
190
5 Rheinfränkisch
formanzerhebung auch häufig (zumindest für mhd. ê),419 jedoch in der Übertragung der Wenkersätze in den intendierten Dialekt nicht. Dies kann mehrere Gründe haben. Es kann angenommen werden, dass der Sprecher hier keine vollständige Dialektkompetenz mehr aufweist und so die Merkmale nicht mehr konsequent produziert/produzieren kann. Dieser mögliche Rückgang seiner Dialektkompetenz könnte eventuell von seiner beruflichen Tätigkeit abhängen. Eine zweite Erklärung könnte ein Dialektwandel bzw. eine spezifische Entwicklung in Erbach sein. Insgesamt sind die Frequenzen dieser Varianten für mhd. ê und ô im dialektalen Bereich bei den Erbacher Sprechern erstens recht niedrig – und niedriger als in Reinheim und zweitens ist die Realisierung variabel.420 Schon FREILING (1929, § 352, 354, 78–80, 83–87) nennt einige systematische Ausnahmen (bspw. bei mhd. ô vor Nasal) oder einzellexematische Ausnahmen (bspw. Drossel) der diphthongischen Realisierungen. Mit FREILINGS Angabe (1929, §83) lässt sich explizit die durchgängige Realisierung von Brot mit Monophthong (vgl. Fn. 420) erklären: „Mhd. ô erscheint als ǫu: brǫud ’Brot‘ (schriftsprachliches brōd dringt daneben ein) […]“. Hier scheint sich der bei FREILING erwähnte, beginnende Wandel vollzogen zu haben, sodass rezent im Erbacher Dialekt für Brot die monophthongische Form gilt. Es ließe sich annehmen, dass sich die Monophthonge im Erbacher Dialekt auf weitere Lexeme ausgebreitet haben und somit für Erbach – ggf. durch die Funktion als städtisches Zentrum – eine eigene Entwicklung festzustellen ist.421 Die Verteilung und die Angaben bei FREILING (1929) sprechen bei gleichzeitiger Stabilität der meisten Dialektmerkmale dafür, hier eher einen Dialektwandel, als einen Rückgang der Dialektkompetenz bei ERBALT1 zu beobachten, auch wenn dieser nicht ganz auszuschließen ist. Deshalb kann ERBALT1 insgesamt als dialektkompetent gelten – ggf. mit der Tendenz einer Variabilisierung des Gebrauchs (bzw. Abbau) von Dialektmerkmalen. Seine Selbsteinschätzung (aktive Dialektbeherrschung = 4, passive = 2)422 könnte einen Hinweis darauf geben, entspricht aber nicht uneingeschränkt den objektlinguistischen Analysen. Das Freundesgespräch führt ERBALT1 mit einem gleichaltrigen, ehemaligen Kollegen. Er setzt seine Dialektkompetenz in der Performanzerhebung um. Die Sprachprobe ist dem dialektalen Bereich zuzuordnen. Zwar verwendet er hier keine Diphthonge für mhd. ô mehr, was jedoch nicht gegen die Zuordnung spricht (s. o.), für mhd. ê hingegen hochfrequent dialektale Formen. Ansonsten ähneln die Werte denen der dialektintendierten Wenkersätze. Leichte Frequenzrückgänge 419 Ggf. liegt hier ein lexikalischer Bezug vor. Im Freundesgespräch realisiert ERBALT2 das Lemma zehn oft und stets mit Diphthong. Aber auch andere Lemmata (stehen, mehr). Das Ausbleiben der Diphthonge für mhd. ô kann dadurch bedingt sein, dass sich das Vorkommen der Entsprechungen von mhd. ô auf die Lemmata groß-, so und hoch beschränkt. In diesen Lemmata verwendet er in den dialektintendierten Wenkersätzen auch keine Diphthonge. 420 Zudem scheint auch hier ein lexikalischer Bezug zu bestehen. So wird bspw. bei Brot von keinem der Sprecher ein Diphthong realisiert, bei rot bspw. von allen. 421 Der allophonische Status dieser Merkmale könnte den Wandel begünstigen. Zur Einordnung der Varianten vgl. Fn. 369. 422 Zur Erinnerung: 1 = perfekt, 7 = gar nicht
5.2 Erbach
191
können für die standardabweichenden Varianten der Palatalisierung und t/dAssimilation festgehalten werden. ERBALT1 verwendet den Dialekt also in informellen Situationen. Hierbei lässt sich nur eine tendenzielle Variabilisierung erkennen. Er äußert im Interview, dass er den Dialekt, so gut er ihn beherrscht, auch verwende. Im Interview lässt sich insofern eine Änderung des Sprachverhaltens feststellen, als sich ERBALT1 etwas stärker an der Standardsprache orientiert, sich sprachlich jedoch weiterhin im unteren Bereich des Spektrums bewegt. Diese Änderung wird dadurch deutlich, dass er die Dialektmerkmale der Variablen mhd. ê, ô und die Palatalisierung nicht mehr realisiert; die Anzahl der Monophthonge für mhd. ou geht stark zurück. Bei allen anderen standarddifferenten Merkmalen lassen sich, wenn, nur geringfügige Unterschiede im Vergleich zu den beiden anderen Sprachproben bestimmen. Diese Sprachverwendung fügt sich gut zu den Aussagen des Sprechers, da er angibt, in formellen Situationen Hochdeutsch mit Bemühung bzw. mit Dialekteinflüssen zu sprechen. Er orientiert sich an der Standardsprache, bleibt aber in einem relativ standardfernen Bereich. Eine deutliche Annäherung an die Standardsprache lässt sich für die standardintendierten Wenkersätze festhalten. Die regionalen Varianten für mhd. ei, ou, der n-Apokope (vgl. Fn. 407) und nicht werden zusätzlich vollständig abgebaut und die Verwendung der entsprechenden Varianten der t/d-Assimilation und der bSpirantisierung geht stark zurück. Hochfrequent (und ohne Variation) realisiert der Sprecher die regionalen Formen der s-Sonorisierung, TiefschwaVorverlagerung und Koronalisierung. Die Sprachverwendung lässt sich dem Regionalakzent zuordnen. Mit drei Punkten schätzt der Informant seine Standardkompetenz auch als recht regional markiert ein. ERBALT1 beherrscht den Dialekt noch – es gibt bei ihm und den anderen Sprechern Hinweise auf Wandeltendenzen – und verwendet ihn auch noch in informellen Situationen des Alltags. Er nähert sich der Standardsprache in formellen Situationen an und orientiert sich beim Abruf seiner Standardkompetenz deutlich an der Standardsprache. Er zeigt somit dasselbe Sprachverhalten (samt Kompetenzen) wie DAALT2 und lässt sich ebenso als Dialektshifter typisieren (vgl. Kap. 5.1.3.2).423 5.2.3.2 ERB2 ERB2 ist 1963 geboren und hat bisher sein ganzes Leben in Erbach verbracht. Auch seine Familie kommt aus der Stadt. Er hat zwar während der polizeilichen Ausbildung ein Jahr in Kassel gelebt, war an den Wochenenden aber stets in Er-
423 Auch für die Erbacher Sprecher gelten die Besonderheiten des regionalsprachlichen Kontinuums und der für Reinheim beschriebenen Sprachverhaltensmuster, die individuell eher einem Umschalten entsprechen können (vgl. dazu Kommentar in Kap. 5.1.3.3).
192
5 Rheinfränkisch
bach. Heute arbeitet er als Polizeioberkommissar in der Polizeidirektion Erbach. Primärsozialisiert wurde er im Erbacher Platt.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 5-21: Variablenanalyse ERB2
Auch ERB2 kann als dialektkompetent eingestuft werden. In seiner Übertragung der Wenkersätze in den möglichst tiefen Dialekt, die dem Erbacher Dialekt zugeordnet werden kann, realisiert er alle regionalen Varianten hochfrequent, im Gebrauch mancher Dialektmerkmale deuten sich leichte Variabilisierungstendenzen an. Nur die dialektalen Varianten von mhd. ê und ô verwendet er ähnlich wie ERBALT1 deutlich seltener als die anderen Varianten. Dies kann einen Rückgang der Dialektkompetenz bedeuten oder, da die Verteilung bei ERBALT1 ähnlich ist, tatsächlich auf den skizzierten Dialektwandel deuten. Auch die weiteren Dialektmerkmale (vgl. Tab. A.1) – ausgenommen apikale r-Varianten – verwendet der Sprecher sehr frequent. Ähnlich wie ERBALT1 sieht auch er seine Dialektkompetenz nicht als perfekt an (aktive Beherrschung = 3, passive = 1), was auf die Variabilisierungstendenzen zurückgeführt werden könnte. ERB2 führt das Freundesgespräch mit seinem Freund und Kollegen ERB3. Diese Sprachprobe lässt sich ebenfalls dem dialektalen Bereich zuordnen. ERB2 nutzt in seinem kommunikativen Alltag seine Dialektkompetenz. Im Vergleich zu seiner Dialektübertragung lässt sich lediglich bei wenigen Variablen (mhd. ei und ou) ein geringer Rückgang der Frequenzen der dialektalen Varianten feststellen, was sich auch für weitere Merkmale (vgl. Tab. A.1, bspw. Entrundung, a-Verdumpfung) zeigt. ERB2 spricht also in informellen Situationen Dialekt, bei dem
5.2 Erbach
193
sich aber Tendenzen einer Standardannäherung abzeichnen. Dies könnte der Grund sein, dass er angibt, in diesen Situationen „Mischmasch“ zu sprechen. Das Interview von ERB2 kann dem regiolektalen Bereich zugeordnet werden. Es ist eine deutliche Annäherung an die Standardsprache zu beobachten: die dialektalen Varianten von mhd. ê, ô, ei, ou und der Palatalisierung verwendet der Sprecher nicht mehr und die Frequenzen bei der n-Apokope sinken. Bei den übrigen Variablen entsprechen die Frequenzen der regionalen Varianten denen des Freundesgesprächs. Er ändert somit in formellen Situationen sein Sprachverhalten, was auch durch die Eigenbenennung der Sprechweise als Hochdeutsch deutlich wird, bleibt sprachlich aber im unteren Kontinuumsbereich.424 Bei der Standardkompetenzerhebung erreicht der Sprecher eine noch stärkere Annäherung an die Standardsprache. Er vermeidet die standardabweichenden Varianten der n-Apokope und von nicht vollständig, die b-Spirantisierung und t/dAssimilation realisiert er deutlich seltener. Hochfrequent, ohne jegliche intersituative Variation, verwendet er die regionalen Formen der Koronalisierung, sSonorisierung und vorverlagerte Tiefschwa-Varianten. Die Aufnahme lässt sich als Regionalakzent typisieren. Der regionalen Markiertheit ist sich ERB2 sehr wahrscheinlich auch bewusst, da er mit einem Wert von 4 angibt, dass sein „bestes Hochdeutsch“ recht regional geprägt sei. ERB2 ist dialektkompetent, verwendet den Dialekt auch noch in informellen Situationen in seinem Alltag, wobei sich Variabilisierungstendenzen abzeichnen. Er ändert sein Sprachverhalten in formellen Situationen (Verwendung des Regiolekts) und orientiert sich im Versuch, sein bestes Hochdeutsch zu sprechen, noch stärker an der Standardsprache, wenn auch diese Sprachprobe regional markiert ist (Regionalakzent). ERB2 kann also analog zu ERBALT1 als Dialektshifter klassifiziert werden.425 5.2.3.3 ERB3 ERB3 ist 1963 geboren und lebt seitdem, wie auch seine gesamte Herkunftsfamilie, in Erbach. Er verbrachte lediglich während der Ausbildung bei der Polizei zwei Jahre in Kassel, war an freien Tagen jedoch meist in Erbach. Zur Zeit der Aufnahme war er Polizeibeamter in der Direktion Erbach. Nach eigener Aussage wurde er im ortsüblichen Platt erzogen.
424 Dies bestätigen auch die qualitativen Auswertungen. Die meisten konsonantischen Merkmale (vgl. Tab. A.1) produziert der Sprecher weiterhin hochfrequent. 425 Der direkte Vergleich der Interviews von ERBALT1 und ERB2, die demselben Cluster (2) subsumiert werden (vgl. Abb. 5-14), zeigt nochmals die sukzessive Annäherung der Sprecher an die Standardsprache (vgl. v. a. mhd. ei und ou).
194
5 Rheinfränkisch
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Abb. 5-22: Variablenanalyse ERB3
ERB3 ist auch als dialektkompetent zu klassifizieren, wie die Übertragung der Wenkersätze in den intendierten Basisdialekt zeigt (vgl. Abb. 5-22). Er realisiert alle dialektalen Varianten hochfrequent, bei ERB3 lassen sich in den Wenkersätzen die höchsten Frequenzwerte für die diphthongischen Varianten von mhd. ê und ô beobachten (vgl. auch Fn. 428), was auf eine gewisse Kompetenz in der Beherrschung dieser Merkmale schließen lässt. Er verwendet zudem die meisten der in Tab. A.1 aufgelisteten Merkmale, sodass die Sprachprobe dem Basisdialekt zugeordnet werden kann. Er selbst gibt an, den Dialekt recht gut zu verstehen und zu sprechen. Das Freundesgespräch führt er mit ERB2 und verändert sein Sprachverhalten insofern, als er die Diphthonge für mhd. ô und ê vollständig kontrolliert und nicht mehr realisiert. Ansonsten ist eine stärkere Reduktion der Frequenz des Monophthongs für mhd. ei, bei allen anderen standarddifferenten Merkmalen jedoch kaum bzw. keine Veränderungen der Frequenzen im Vergleich zu der Dialektkompetenzerhebung zu beobachten. Die Sprachprobe lässt sich aufgrund dieser Variantenverteilung dem unteren Bereich des Spektrums zuordnen, entspricht aber nicht mehr vollständig seiner Kompetenz (vgl. auch Tab. A.1) In seinem Selbstverständnis entspricht diese Sprechweise dem Dialekt. Eine intersituative Variation des Sprachverhaltens kann bei der Betrachtung des Interviews von ERB3 ermittelt werden. In dieser formellen Situation produziert der Sprecher zusätzlich die dialektalen Varianten von mhd. ei und der Palatalisierung nicht mehr und verwendet Monophthonge für mhd. ou deutlich seltener.
5.2 Erbach
195
Ansonsten bleiben die Variantenfrequenzen im Vergleich zum Freundesgespräch auf einem ähnlichen Niveau. Die Sprachprobe lässt sich dem regiolektalen Bereich subsumieren. Dies passt zu seinen eigenen Angaben im Interview. Hier bezeichnet er diese Sprechweise als Mittelplatt, also eine Stufe höher – im Sinne einer Standardadvergenz – als das Platt.426 Auch bei ERB3 kann eine deutliche Annäherung an die Standardvarietät bei der Übertragung der Wenkersätze in das individuell beste Hochdeutsch beobachtet werden, ohne diese jedoch zu erreichen (Zuordnung zum Regionalakzent). In dieser Sprachprobe kommen zusätzlich keine regionalen Varianten für mhd. ou, nApokope und nicht mehr vor. Die Frequenzen für die b-Spirantisierung und die t/d-Assimilation gehen stark zurück. Ein leichter bzw. kein Rückgang der Realisierungen kann für die s-Sonorisierung, die Tiefschwa-Vorverlagerung und die Koronalisierung festgestellt werden. ERB3 gibt an, dass sein bestes Hochdeutsch sehr stark regional markiert ist (Wert = 1). Der Sprecher ERB3 ist dialektkompetent, nutzt diese Kompetenz in informellen Situationen seines Alltags nicht mehr vollständig. In formellen Situationen verwendet er eine regiolektale Sprechweise, variiert also sein Sprachverhalten intersituativ. Eine weitere Annäherung an die Standardsprache kann für die Standardkompetenzerhebung festgestellt werden, die dem Regionalakzent entspricht. Ähnlich wie DA1 und DA5 kann der Sprecher als Kontinuum-Shifter typisiert werden, der zwar eine recht hohe Dialektkompetenz zeigt, diese aber in den Performanzaufnahmen nicht vollständig umsetzt und intersituativ variiert.427 5.2.3.4 ERBJUNG1 Der junge Sprecher aus Erbach ist 1995 geboren und in Erbach aufgewachsen. Auch seine gesamte Familie stammt aus der Stadt. Er war zur Zeit der Aufnahme Abiturient in Erbach. Der Informant nennt den Dialekt in Erbach „Odenwälder/Odenwälderisch“ und wurde in diesem nach Eigenangabe primärsozialisiert. ERBJUNG1 kann noch als dialektkompetent gelten. Er realisiert alle dialektalen Varianten (vgl. Abb. 5-23), wenn auch nicht mehr alle hochfrequent. Die Diphthonge für mhd. ê und ô verwendet er in der Dialektkompetenzerhebung deutlich seltener als die anderen Varianten, was auch für die Monophthonge für mhd. ei gilt.428 Die Probe kann noch dem dialektalen Bereich zugeordnet werden,
426 Dies kann als sprecherseitiger Beleg für das regionalsprachliche Kontinuum mit „Mittelbereich“ und sukzessiver Standardannäherung gewertet werden. 427 Die Unterschiede zu ERB2 sind nicht sehr ausgeprägt. Kriterium für die unterschiedliche Typisierung ist der jeweilige Abruf der dialektalen Kompetenz im Freundesgespräch. Vgl. zur weiteren Diskussion Kap. 8.2. 428 Die Verteilung der diphthongischen Varianten für mhd. ê und ô bei allen Erbacher Sprechern zeigt, dass der Gebrauch des Merkmals in Erbach insgesamt sehr variabel ist. In den Sprachproben des ersten Clusters streuen die Werte stark. Dies scheint die Annahme, dass hier ein
196
5 Rheinfränkisch
zeigt aber aufgrund der Realisierung für mhd. ê und ô und der Variabilität mancher regionaler Merkmale (bspw. mhd. ei und b-Spirantisierung) klare Tendenzen in Richtung eines standardnäheren Bereichs. ERBJUNG1 schätzt seine aktive (Wert = 2) und passive (Wert = 1) Kompetenz im Dialekt als recht gut ein.429
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Abb. 5-23: Variablenanalyse ERBJUNG1
Das Freundesgespräch führt ERBJUNG1 mit einem guten Freund. Er nutzt seine Dialektkompetenz nicht vollständig, sodass eine Veränderung des Sprachverhaltens festgestellt werden kann. Die Dialektvarianten für mhd. ô und ê realisiert er nicht mehr, die Frequenz der standarddifferenten Realisierung für mhd. ou geht deutlich zurück. Ansonsten sind die Frequenzen im Vergleich zur Sprachprobe der dialektintendierten Wenkersätze nahezu unverändert. Das Freundesgespräch lässt sich mit dem von ERB3 vergleichen, zeigt aber insgesamt noch stärkere Tendenzen der Standardannäherung.430 ERBJUNG1 gibt an, je nach Gesprächspartner in informellen Situationen entweder Odenwälderisch oder Mischmasch zu sprechen – was den objektlinguistischen Ergebnissen nahekommt.
Wandel innerhalb des Dialektes stattfindet und die Merkmale nach und nach abgebaut werden, zu bestätigen. 429 Dies kann ggf. mit einer anderen Konzeptualisierung des Dialekts, die bei den anderen Sprechern der jungen Generation tw. auch zu bestimmen ist, einhergehen. 430 Dies zeigt sich auch daran, dass er weitere regionale Merkmale (bspw. Entrundung) seltener realisiert.
5.2 Erbach
197
Eine weitere Veränderung der Sprachverhaltens lässt sich im Interview beobachten. Diese Sprachprobe kann dem regiolektalen Bereich zugeordnet werden. Die Verwendung der regionalen Formen der Variablen mhd. ei, ou, Palatalisierung, nApokope, Koronalisierung und s-Sonorisierung geht in unterschiedlich starkem Maß im Vergleich zum Freundesgespräch zurück. Bei den anderen regionalen Merkmalen bleiben die Frequenzwerte recht stabil. ERBJUNG1 bewertet sein Sprachverhalten in formellen Situationen als Hochdeutsch. Dies entspricht der Änderung des Sprachverhaltens, das aber nach wie vor deutlich regional markiert ist. In seiner Standardkompetenzerhebung vermeidet ERBJUNG1 zusätzlich die standarddifferenten Varianten der Variablen Palatalisierung, mhd. ei, mhd. ou, nApokope und nicht vollständig. Eine deutliche Reduzierung der Frequenzen lässt sich bei den regionalen Merkmalen der t/d-Assimilation, b-Spirantisierung, sSonorisierung und Koronalisierung beobachten. Remanent in einem sehr hohen Frequenzbereich sind nur die vorverlagerten Tiefschwa-Varianten. Der Sprecher nähert sich also deutlich der Standardsprache an, bleibt aber sprachlich im Regionalakzent. Diese Annäherung wird vor allem bei den Variablen s-Sonorisierung und Koronalisierung deutlich. Im Gegensatz zu den anderen Erbacher Sprechern realisiert er die regionalen Varianten im intendierten Standard seltener. Er baut seine Standardkompetenz also aus und scheint im Aufbau standardsprachlicher Strukturen zu sein (bspw. Aneignung der standardsprachlichen Verteilung von [ʃ] und [ç]) und beginnt, die Varietätengrenze zur Standardvarietät – zumindest für diese beiden Merkmale431 – zu überwinden. Der Sprecher ERBJUNG1 ist noch dialektkompetent, zeigt in seiner Dialektkompetenzerhebung jedoch schon Variabilisierungstendenzen. Er verwendet in informellen Situationen seines kommunikativen Alltags zwar eine dialektnahe Sprechweise, die aber nicht mehr dem „tiefsten“ Dialekt in Erbach und der Kompetenz des Sprechers entspricht. ERBJUNG1 variiert intersituativ, indem er sich in formellen Situationen stärker an der Standardsprache orientiert. Sein Interview wurde dem regiolektalen Bereich zugewiesen. Er weist die höchste Standardkompetenz der Sprecher aus Erbach auf (Zuordnung zum Regionalakzent) und baut diese weiter aus. Er lässt sich als Kontinuum-Shifter typisieren. Im Vergleich zu ERB3 ist sein Sprachverhalten in allen Situationen etwas standardnäher, aber noch nicht derart different, dass ein anderer Sprechertypus vorliegt. Es lassen sich allenfalls Tendenzen der Standardadvergenz feststellen.
431 Vgl. dazu auch Kap. 8.4.
198
5 Rheinfränkisch
5.2.3.5 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich Die Untersuchung des rezenten Sprachverhaltens in Erbach zeigt, dass der Dialekt noch von Sprechern aller Generationen sowohl beherrscht als auch – obschon in unterschiedlichem Maß – in informellen Situationen des kommunikativen Alltags verwendet wird. Beim Sprecher der jüngeren Generation zeigen sich klare Tendenzen zum regiolektalen Bereich. Für die Alltagskommunikation ist der Regiolekt fast gleichbedeutend (Verwendung in formellen Situationen). Tendenzen einer Verlagerung des Sprachverhaltens in den regiolektalen Bereich lassen sich erkennen – vielfach befinden sich die Sprecher sprachlich im Übergangsraum zwischen dialektalem und regiolektalem Bereich. Insgesamt lässt sich das Sprachverhalten aller Sprecher als recht homogen beschreiben. Dies zeigt sich auch bei der Analyse der Sprechertypen. Im intergenerationellen Vergleich können zwei Sprechertypen ermittelt werden: a) Dialektshifter b) Kontinuum-Shifter Der Dialektshifter ist ausgewiesen dialektkompetent und gebraucht den Dialekt vor allem in informellen Situationen. Er variiert intersituativ, sodass sein Sprachverhalten in formellen Situationen einem geringfügig standardnäheren Bereich zugeordnet werden kann. Die Sprechlage Regionalakzent verwendet er nur, wenn er sein individuell bestes Hochdeutsch abruft. Die Kontinuum-Shifter beherrschen den Dialekt auch (noch), bei ihnen sind erste Tendenzen des Rückgangs der Dialektkompetenz zu erkennen. Sie variieren intersituativ auch, im Vergleich zum Dialektshifter insgesamt in einem etwas standardnäheren Bereich und rufen ihre Kompetenz im Alltag nicht mehr vollständig ab. Ihre Standardkompetenzerhebung entspricht dem Regionalakzent, teilweise (d. h. der Sprecher der jüngeren Generationen) bauen sie diese Kompetenz weiter in Richtung Standardsprache aus. Die Sprecher zeigen also ein ähnliches Variationsverhalten. Aus einer apparent-time-Perspektive kann festgehalten werden, dass die Verwendung der Diphthonge für mhd. ô und ê sehr variabel ist, was auf einen allmählichen Wandel (d. h. Abbau) schließen lässt, der auch an dem leichten Rückgang der Frequenzen sichtbar wird. Für alle anderen Variationsphänomene – außer der Fortisierung – ist eine leichte Variabilisierung der Verwendung der standardabweichenden Variante – vor allem in der jungen Generation – zu beobachten. Sie deutet allenfalls auf einen beginnenden, langfristigen Abbau. In Erbach besteht daher im intergenerationellen Vergleich eine recht geringe Dynamik. Es lassen sich – bei an sich hoher Stabilität des Dialekts – Variabilisierungstendenzen erkennen. Das Sprachverhalten im kommunikativen Alltag verlagert sich tendenziell in den regiolektalen Bereich. Bei dem jungen Sprecher ist zudem der weitere Ausbau der Standardkompetenz zu beobachten. Im Bezug zu Reinheim liegt hier kein Umbruch im Vergleich der Sprachverhaltensmuster vor, sondern geringfügige Unterschiede, sodass – im Sinne einer Entwicklung – von kontinuierlichen Übergängen auszugehen ist (vgl. v. a. Abb. 5-19). Auch für Erbach kann als ein entscheidender Faktor für das Sprachverhalten die Primärsozialisation identifiziert werden. Alle Sprecher wurden im Dialekt erzogen, was sich darin äußert, dass sie
5.2 Erbach
199
diesen beherrschen und teilweise verwenden. Die Unterschiede des Sprachverhaltens und dessen Dynamik zu Reinheim werden in Kap. 8 thematisiert. 5.2.4 Zusammenfassung Spektrumstyp
regionalsprachliches Kontinuum
Verhältnis Dialekt – Standardsprache
wenige Typ1a-Varianten viele Typ1b- und Typ2-Varianten
Prozess der Standardannäherung
sukzessive Standardannäherung (Shiften)
Sprechertypen
Dialektshifter Kontinuum-Shifter
rezente Dynamik/Entwicklungen
sukzessiver Abbau des Dialekts Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, ohne Umbrüche + weiterer Ausbau d. Standardkompetenz in jung. Gen.)
6 FRANKFURT 6.1 EINFÜHRUNG432 Die Stadt Frankfurt wird erstmals 794 als Franconofurd (‘Furt der Frankenʼ vgl. DUDEN Bd. 25, 110) urkundlich erwähnt. Sie liegt im südlichen Zentrum Hessens am Untermain zwischen Wetterau und Oberrheinebene (vgl. Karte 6-1). Die Stadt bildet nicht nur den Mittelpunkt der Metropolregion Rhein-Main, sondern ist auch innerhalb Deutschlands und Europas zentral gelegen.
Karte 6-1: Lage der Stadt Frankfurt
Mit über 730.000 Einwohnern ist Frankfurt mit Abstand die größte Stadt im Bundesland Hessen und die fünftgrößte Stadt Deutschlands – mit stetigem Bevölkerungszuwachs. In der Stadtregion Frankfurt leben mehr als 2,5 Millionen Menschen. Das Stadtgebiet hat sich im Laufe der Geschichte stets erweitert. Zu größe-
432 Vgl. zu diesem Abschnitt und für weitere Informationen zur Stadt die Internetseite von Frankfurt ().
201
6 Frankfurt
ren Eingemeindungen kam es zwischen 1877 und 1930. Heute besteht die Stadt aus 43 Stadtteilen.433 Frankfurt ist eine geschichtlich bedeutende Stadt (vgl. dazu Kap. 3.3.4). Sie war Krönungs- und Wahlstadt deutscher Kaiser, Sitz der Bundes- und Nationalversammlung im 19. Jh. und entwickelte sich zur Handels-, Industrie- und Finanzmetropole. Nachdem sie lange Zeit eine Freie Stadt war, fiel sie zu 1866 zu Preußen und ist seit 1946 wieder eine kreisfreie Stadt. Heute ist Frankfurt als Finanzmetropole Sitz der Europäischen Zentralbank, der Bundesbank sowie der deutschen Börse und zählt zu den wirtschaftsstärksten Regionen in Deutschland. Frankfurt ist zudem ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt. Hier befindet sich Deutschlands größter Flughafen, der Hauptbahnhof ist laut Deutscher Bahn AG gemessen an der Größe und der Kapazität einer der bedeutendsten Bahnhöfe in Deutschland434 und die Autobahnen rund um das Frankfurter Kreuz gehören zu den meistbefahrenen Deutschlands.435 2015 pendelten täglich 350.454 Personen nach Frankfurt.436 Frankfurt kann als kulturelles, wirtschaftliches und infrastrukturelles Zentrum des Rhein-Main-Gebiets und Hessens bezeichnet werden. Folgende REDE-Sprecher wurden für Frankfurt untersucht. Hinzu kommt eine dialektintendierte Aufnahme der Wenkersätze der Frankfurter Volksschaupielerin LIESEL CHRIST (LC) aus dem Tonarchiv Hessischer Mundarten (TAHM) von 1981. Sprecher
Geburtsjahr Wohnort (seit
Beruf
Datum der Aufnahme
Schauspielerin
1981
Geburt)
FLC
1919
Frankfurt
Rentner (früher:
FALT1
1931
Frankfurt
F1
1954
Frankfurt
POK
Feb. 2009
F4
1965
Frankfurt
KHK
Aug. 2013
FJUNG1
1993
Frankfurt
Student
April 2014
Mechaniker)
April 2009
Tab. 6-1: Sprecherübersicht Frankfurt (F)
433 Vgl. ; Stand: 25.01.2017 434 Vgl. ; Stand: 25.01.2017 435 Vgl. Manuelle Straßenverkehrszählung der Bundesanstalt für Straßenwesen 2011. ; Stand: 25.01.2017 436 Vgl. Statistisches Jahrbuch Frankfurt am Main (2016, 84).
202
6 Frankfurt
6.2 STRUKTUR DES REGIONALSPRACHLICHEN SPEKTRUMS 6.2.1 Empirische Analysen Die Ergebnisse der phonetischen Dialektalitätsmessung sind in Abb. 6-1 dargestellt. Für die Frankfurter Sprecher lässt sich festhalten, dass die Werte insgesamt niedriger sind (0,4–1,9) als bei den rheinfränkischen Sprechern. Im Sprachverhalten der einzelnen Sprecher werden Unterschiede deutlich. Der Sprecher der älteren Generation weist die höchsten Werte auf, der Sprecher der jungen Generation die niedrigsten. Auch die intersituative Variation der Sprecher unterscheidet sich stark.
phon. Dialektalitätswerte
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Abb. 6-1: D-Werte für Frankfurt (F)
Zur Strukturierung des regionalsprachlichen Spektrums lassen sich den Dialektalitätswerten folgende Hinweise entnehmen: Die Sprecher – vor allem FJUNG1 – nähern sich zwar der Standardvarietät an, doch erreichen sie diese nicht. Das heißt, am oberen Ende der Grafik wird die Varietätengrenze zur Standardsprache deutlich. Weitere Abgrenzungen innerhalb des regionalsprachlichen Teils des Spektrums erscheinen aufgrund der geringen Abstände der Sprachproben nicht sinnvoll.
203
6 Frankfurt
Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
5
10
15
20
25
WSD_FALT1 WSD_LC FG_FALT1
1 WSD_F1 FG_F1
I
WSD_F4 Interview_FALT1 Notruf_F1
2 Interview_F1 WSD_FJUNG1 WSS_FALT1 WSS_F1 WSS_F4 WSS_FJUNG1
II
3 Interview_F4 FG_F4 Interview_FJUNG1 FG_FJUNG1
Abb. 6-2: Dendrogramm für Frankfurt (F)
Abb. 6-2 präsentiert die Ergebnisse der Clusteranalyse. Das Dendrogramm zeigt auf der ersten Stufe zwei Cluster (I und II). Das erste dieser Cluster lässt sich wiederum in zwei Subcluster aufteilen, sodass auf dieser Stufe der Clusterung die Annahme von drei Clustern nahegelegt wird. Cluster 1 besteht aus sechs Sprachproben: den dialektalen Wenkersätzen von FALT1, FLC, F1 und F4 sowie den Freundesgesprächen von FALT1 und F1. Das zweite Cluster enthält vier Sprachproben und zwar die Interviews von FALT1 und F1 sowie die Notrufe von F1 und die dialektalen Wenkersätze von FJUNG1. Cluster 3 fasst acht Sprachproben (standardintendierte Wenkersätze aller Sprecher sowie Freundesgespräche und Interviews von F4 und FJUNG1) zusammen. Der Hauptunterschied zwischen den
204
6 Frankfurt
Clustern besteht zwischen Cluster I und II (Clusterung erster Stufe), was als Hinweis auf eine mögliche Varietätengrenze innerhalb des Spektrums interpretiert werden kann. Für zwei Cluster ist zudem eine Subdifferenzierung möglich. Im ersten Cluster unterscheiden sich die dialektintendierten Wenkersätze von FALT1 und FLC von den restlichen Sprachproben und im dritten Cluster betrifft dies die standardintendierten Wenkersätze von FALT1 und F1. Die Annahme eigener Cluster scheint aufgrund der geringen Unterschiede im Vergleich zu den anderen Clusterbildungen jedoch nicht sinnvoll. Dies wird bei den weiteren Analysen überprüft. Die Clusterlösung (Annahme von drei Clustern) muss mit den Ergebnissen der Variablenanalyse für die Frankfurter Aufnahmen kombiniert werden. Die Ergebnisse der Variablenanalysen für die Sprachproben aus Frankfurt sind in Abb. 6-3–5 dargestellt.437 ̴ ͳ
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Abb. 6-3: Variablenanalyse Cluster 1 (F)
Im ersten Cluster sind die Dialektkompetenzerhebungen von FALT1, F1 und F4 sowie die Wenkersätze von LIESEL CHRIST und die Freundesgespräche von FALT1 und F4 zusammengefasst (vgl. Abb. 6-3). Die Verwendung der standard-
437 Vgl. für die absoluten und relativen Werte Tab. A.7 im Anhang. Zur Darstellung und Dateninterpretation sowie -kombination vgl. Kap. 4.3.2., 5.1.2.
205
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differenten Varianten der Variablen mhd. ei und Entrundung sowie mhd. ou und tLenisierung variiert bei den Sprechern stark und vor allem die ersten beiden Varianten weisen durchschnittlich relativ geringe Frequenzwerte auf. Alle anderen regionalen Varianten werden hochfrequent von den Sprechern realisiert und dabei kaum variiert. Die etwas geringeren Frequenzen für die Koronalisierung bei F1 lassen sich dadurch erklären, dass der Sprecher beim Lemma ich die Koronalisierung erfolgreich vermeidet. Durch die hohe Auftretensfrequenz des Lemmas sind bei ihm die Werte entsprechend in allen Sprachproben geringer. Es handelt sich hierbei um eine einzellexematische Ausnahme (vgl. Fn. 442). Sprecher F4 realisiert die b-Spirantisierung allgemein vergleichsweise selten, was den geringeren Wert in Cluster 1 erklärt. Auffallend ist zudem, dass FALT1 und FCL in den Wenkersatzaufnahmen die standardabweichenden Varianten von mhd. ei, ou, der Entrundung und der Lenisierung am häufigsten produzieren. Dies könnte die Differenzierung innerhalb des Clusters (vgl. Abb. 6-2) erklären, entspricht aber dem übergreifenden Verteilungsmuster des Clusters. Insgesamt betrachtet sind die Sprachproben dieses Clusters als die standardfernsten und regional markiertesten zu klassifizieren. Die Einordnung in das regionalsprachliche Spektrum erfolgt nach der Analyse aller Cluster.
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Abb. 6-4: Variablenanalyse Cluster 2 (F)
Cluster 2 enthält die Interviews von FALT1 und F1, die Notrufe von F1 und die dialektintendierten Wenkersätze von FJUNG1 (vgl. Abb. 6-4). Im Vergleich zu
206
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Cluster 1 wird die standarddifferente Variante von mhd. ei nicht mehr realisiert, die Frequenzen der regionalen Varianten für mhd. ou, Entrundung und t-Lenisierung gehen stark zurück. Beides zeichnet sich bereits durch die Verteilung der Varianten in Cluster 1 ab. FJUNG1 produziert für mhd. ou auf direkte Nachfrage in wenigen Fällen monophthongische Varianten, die als einzellexematisch zu werten sind. Bei allen anderen Variablen außer der Tiefschwa-Vorverlagerung ist ebenso ein Rückgang der regionalen Formen im Vergleich zu Cluster 1 zu verzeichnen. Bei der Negationspartikel und der t/d-Assimilation fällt der Rückgang gering aus, bei der Koronalisierung und der n-Apokope stärker. Die Frequenzwerte der standarddifferenten Varianten der t/d-Assimilation und der Koronalisierung streuen zudem vergleichswiese stark innerhalb des Clusters. Die regionale Variante der Tiefschwa-Vorverlagerung wird im Vergleich zum ersten Cluster nahezu unverändert oft realisiert und lässt sich als stabil klassifizieren.
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Abb. 6-5: Variablenanalyse Cluster 3 (F)
Im dritten Cluster (vgl. Abb. 6-5), das die standardintendierten Wenkersätze aller Sprecher und die freien Gespräche der Sprecher F4 und FJUNG1 zusammenfasst, ist im Vergleich zu Cluster 2 ein totaler Rückgang der regionalen Varianten für
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mhd. ou, Entrundung438, t-Lenisierung und n-Apokope zu beobachten. Die Frequenz der standarddifferenten Varianten für nicht, t/d-Assimilation und s-Sonorisierung nimmt stark ab, die Anzahl der entsprechenden Varianten der Variablen b-Spirantisierung und Koronalisierung geht im Vergleich dazu etwas schwächer zurück. Bei allen regionalen Varianten – außer nicht – ist außerdem eine hohe Varianz der Frequenzwerte – besonders bei der Koronalisierung und der sSonorisierung – zu erkennen. Wiederum nahezu unverändert häufig im Vergleich zu den anderen Clustern wird die regionale Variante der TiefschwaVorverlagerung produziert. Die relativ hohen Frequenzwerte bei den standarddifferenten Formen der Koronalisierung und s-Sonorisierung der Sprecher FALT1 und F1 können die Subdifferenzierung innerhalb des Clusters (vgl. Abb. 6-2) erklären. Sie entsprechen insgesamt der Variantenverteilung des Clusters, sodass die Annahme eines eigenen Clusters verworfen werden kann. Fasst man die Ergebnisse der Variablenanalyse zusammen, lässt sich anhand des regionalen Merkmals der Tiefschwa-Vorverlagerung die Varietätengrenze zur Standardsprache zeigen. Dieses Merkmal wird durchgehend mit geringer Variation der Realisierungen verwendet. Ein weiteres Indiz für diese Varietätengrenze sind Hyperkorrekturen und Vermeidungsstrategien (s. u.). Ansonsten lässt sich in der Variantenverteilung kein systematisches Muster erkennen. Der Monophthong für mhd. ei ist im ersten Cluster in der Verwendung variabel und wird in diesem bereits vollständig abgebaut. Bei den Variablen Entrundung, mhd. ou und tLenisierung ist eine durchgehende Variabilisierung im Gebrauch der standardabweichenden Formen zu sehen, die in unterschiedlichen Sprachproben – auch innerhalb der Cluster – zum totalen Rückgang führt. Innerhalb dieser Variabilisierung können teilweise stärkere Frequenzrückgänge der regionalen Varianten erkannt werden, die sich aber jeweils in Ausmaß und Position unterscheiden. Für die n-Apokope und die regionale Negationspartikel lässt sich ein Verwendungsschwerpunkt in einem hohen Frequenzbereich ermitteln, der jedoch auch von einer Varianz der Werte der regionalen Merkmale geprägt ist. Der Verwendungsschwerpunkt geht mit einem starken (nicht) bzw. einem totalen (n-Apokope) Rückgang der Realisierung einher. Für die Variationsphänomene t/d-Assimilation und b-Spirantisierung kann ebenso eine durchgehende Variabilisierung der Verwendung der standarddifferenten Varianten festgehalten werden, die bei der bSpirantisierung bis in einen mittleren Frequenzbereich reicht. Diese durchgehende Variabilisierung lässt sich ebenfalls in der Realisierung der regionalen Merkmale der s-Sonorisierung und Koronalisierung erkennen. Bei ihnen kann an einer Stelle ein vergleichsweise hoher Rückgang der Frequenzen – zwischen unterschiedli-
438 F4 realisiert zu 8 % (3/36) entrundete Varianten. Dies betrifft die Bezeichnung der Frankfurter Spezialität Grüne Soße. Es handelt sich also hier um eine einzellexematische Ausnahme, die einer bewussten Imitation der regionalen Aussprache der Spezialität entspricht. Dies trifft auch auf die Realisierungen der n-Apokope zu (3 %, 2/66), da der Sprecher in einem Fall von der besten Grünen Soße spricht und in beiden Positionen [n] apokopiert. Die Fälle können daher aus der Analyse ausgeschlossen werden.
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chen Sprachproben – beobachtet werden. Es können daher jeweils zwei Verwendungsschwerpunkte der regionalen Varianten ausgemacht werden, um die die Frequenzwerte streuen. Das heißt, dass im Gebrauch der meisten regionalen Merkmale in den Frankfurter Sprachproben eine durchgehende Variabilisierung zu beobachten ist. Diese lässt sich auch innerhalb der Cluster erkennen wie beispielweise bei der Entrundung in den Sprachproben von Cluster 1 (vgl. Abb. 6-3). Die Variabilisierung führt bei einigen Variablen zu einem totalen Rückgang der regionalen Varianten, meist zwischen unterschiedlichen Sprachproben (vgl. bspw. mhd. ei innerhalb von Cluster 1 und t-Lenisierung zwischen Cluster 2 und 3), sodass im Gesamtvergleich ein sukzessiver totaler Rückgang dieser Varianten besteht (vgl. auch Abb. 6-7).439 Die Variablenanalyse zeigt demnach, dass auch in den Frankfurter Sprachaufnahmen übergreifend kein kombinierter und systematischer Rückgang der regionalen Varianten identifiziert werden kann, der eine auf eine mögliche systemische Abgrenzung schließen lassen könnte. Der empirische Befund – analog zu Reinheim und Erbach – legt nahe, dass keine Varietätengrenze im regionalsprachlichen Teil des Spektrums vorliegt. Es lassen sich keine diskreten Einheiten bestimmen, stattdessen ist von einem kontinuierlichen Bereich des regionalsprachlichen Spektrums auszugehen. Die Modellierung dieses Bereichs erfolgt nach der theoretischen Betrachtung der Merkmale am Ende des Kapitels. Diese Annahme wird durch den konkreten Abgleich der Cluster- und Variablenanalysen bestätigt. Vergleicht man für die Frankfurter Daten die Sprachaufnahmen, die aus den beiden unähnlichsten Hauptclustern einander am ähnlichsten sind – dies sind die Notrufe von F1 und das Freundesgespräch von F4 – so ergibt sich folgendes Ergebnis: Die beiden Sprachproben ähneln sich sehr, sie weisen für die meisten regionalen Varianten ähnliche, teilweise auch identische Frequenzwerte auf. Größere Frequenzunterschiede in der Variantenverteilung gibt es bei den Variablen b-Spirantisierung und s-Sonorisierung440 sowie bei nicht. Ein kategorialer Unterschied besteht bei der Entrundung, der t-Lenisierung und der nApokope (vgl. Fn. 438), deren regionale Varianten von F1 in einem niedrigen bis mittleren Frequenzbereich realisiert werden und von F4 nicht.441 Dies würde bedeuten, dass wenige Frequenzunterschiede und zwei kategoriale Verwendungsun-
439 Ähnliche Frequenzrückgänge der regionalen Varianten können für die t-Lenisierung, die nApokope und nicht zwischen Cluster 2 und 3 ermittelt werden. Sie führen nur bei den Variablen t-Lenisierung und n-Apokope zu einem totalen Rückgang der standardabweichenden Varianten. Hier lässt sich also ein schwach ausgeprägtes gemeinsames Muster der Variantenverteilung, d. h. ein Sprachverhaltensmuster, erkennen (vgl. auch Kap. 5.1.2, 5.2.2). Einem systematischen und kombinierten Unterschied entspricht es nicht (vgl. auch SCHMIDT / HERRGEN 2011, 329–330). Es muss aber als Hinweis zur Strukturierung bei der Zusammenführung der Analyseergebnisse beachtet bzw. überprüft werden. 440 Die Verwendung der s-Sonorisierung ist bei F4 jedoch sehr variabel (vgl. auch Fn. 466). 441 Die Entrundung wird tw. bereits in den Sprachproben des zweiten Clusters nicht mehr produziert, was bedeutet, dass nur für zwei regionale Merkmale kategoriale Unterschiede zwischen den Clustern bestehen (vgl. auch Kap. 5.1.2).
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terschiede eine mögliche Varietätengrenze konstituieren würden. Dies scheint weder quantitativ noch qualitativ (zu den Merkmalen s. u.) sinnvoll, muss aber berücksichtigt werden (vgl. Fn. 439). Ein weiteres Indiz dafür, dass keine Varietätengrenze innerhalb der Regionalsprache ermittelt werden kann, ist, dass keine Hyperdialektalismen auftreten (zu FJUNG1 vgl. Fn. 398). Diese wären ein eindeutiger Hinweis auf eine mögliche Varietät Dialekt, die von Sprechern nicht beherrscht werden würde. Hyperformen kommen in den Frankfurter Proben jedoch vor und zwar in Richtung der Standardvarietät. Sprecher F4 verwendet in seinem Interview und dem Freundesgespräch koronale Varianten selten (x̅ = 25 %). In beiden Sprachproben kommen jedoch systematisch Hyperkorrekturen vor, so realisiert er beispielsweise praktisch, inzwischen mit [ç]. Das heißt, dass der Sprecher die Standardvarietät mit ihren Strukturverbindungen zwar intendiert, aber (noch) nicht beherrscht und die Grenze nicht (vollständig) überwinden kann, deren Vorhandensein dadurch belegt wird.442 Auch der Bezug zur Analyse von BRINKMANN TO BROXTEN (1987) (vgl. Kap. 3.4.2, Fn. 141) unterstützt die oben getroffene Annahme. Ein direkter Vergleich ist aufgrund unterschiedlicher Sprechergruppen, Aufnahmesituationen und teilweise unterschiedlichen Variablen nicht möglich, doch können den Ergebnissen von BRINKMANN TO BROXTEN Hinweise entnommen werden. In Abb. 6-6 sind die Ergebnisse der Variablenanalyse von BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 112–118) dargestellt.443 Wie der Grafik zu entnehmen ist, werden die regionalen Varianten der ersten vier Variablen insgesamt sehr selten realisiert und variieren dabei teilweise stark. Die Frequenzwerte streuen über unterschiedliche Sprachproben hinweg. Bei den Variablen g-Spirantisierung bis Lenisierung und t/d-Assimilation ist eine durchgehende Variabilisierung der Realisierung der standardabweichenden Formen festzustellen, die teilweise zum totalen Rückgang führt (bspw. e- und n-Apokope). Für die Koronalisierung ist ein Verwendungsschwerpunkt mit geringer Variabilität der Verwendung des regionalen Merkmals in einem hohen Frequenzbereich zu sehen, was ein Hinweis auf die Varietätengrenze zur Standardsprache sein kann. Bei den standarddifferenten Varianten der Variablen mhd. ei, ou, b-Spirantisierung, Entrundung und Partizipbildung scheint es Verwendungsschwerpunkte zu geben. Insgesamt werden diese Varianten aber selten verwendet und die Schwerpunkte sind unterschiedlich auf die Sprachproben verteilt. Bei genauer Betrachtung der Daten von BRINKMANN TO BROXTEN ist kein systematisches Muster der
442 Gleiches gilt für F1, bei dem v. a. im Interview, ebenfalls Hyperkorrekturen (bspw. Frankfurterisch) vorkommen. Bei ihm ist zusätzlich eine Vermeidungsstrategie zu beobachten (vgl. Kap. 6.3.3). 443 Es wurde die Darstellung dieser Arbeit gewählt, um eine bessere Übersicht zu erhalten und die Frequenzen sowie die Variation besser abzubilden. Die Werte sind als Näherungswerte zu verstehen. BRINKMANN TO BROXTEN (1987, 112–118) gibt keine genauen Angaben zu den Frequenzen, weswegen diese – so gut wie möglich – an den Grafiken abgelesen wurden. Die Ziffer bezieht sich auf den Sprecher, „B“ bedeutet Bürgerversammlung und „I“ Interview.
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Variantenverteilung zu erkennen, das eine Identifizierung von Varietäten – im Sinne der Sprachdynamik – ermöglichen würde. Dies bestätigt somit die Annahme des kontinuierlichen Bereichs ohne Varietätengrenzen.444 Ein Vergleich der Variablen erfolgt in Kap. 6.3.5.
ͳͲͲΨ
Ͳͳ̴ Ͳ͵̴ Ͳ̴ Ͳͺ̴ ͳͳ̴
Ͳͳ̴ ͲͶ̴ Ͳ̴ Ͳͻ̴ ͳͳ̴
Ͳʹ̴ ͲͶ̴ Ͳ̴ Ͳͻ̴ ͳʹ̴
Ͳʹ̴ Ͳͷ̴ Ͳ̴ ͳͲ̴ ͳʹ̴
Ͳ͵̴ Ͳͷ̴ Ͳͺ̴ ͳͲ̴
ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 6-6: Variablenanalyse BRINKMANN TO BROXTEN (1987)
Die Ergebnisse der Implikationsanalyse für die Frankfurter Daten sind in Abb. 6-7 aufgeführt und können den bisherigen Befund bestätigen.445 Für die Frankfurter Aufnahmen ist zu erkennen, dass zwei regionale Merkmale in allen Sprachaufnahmen vorhanden sind (Tiefschwa-Vorverlagerung, b-Spirantisierung). Sie sind remanent und zeigen die Varietätengrenze zur Standardsprache an (s. o.). Bei den Varianten, die zur Differenzierung der Sprachproben dienen, lässt sich kein übergreifendes kategoriales Verteilungsmuster der regionalsprachlichen Varianten 444 Auch die Clusterung der Sprachproben von BRINKMANN TO BROXTEN (1987) ergibt kein Muster, das einer Differenzierung in drei Varietäten entspräche. Zwar ergeben sich zwei Hauptcluster, doch diese sind derart intern differenziert (bis zu sieben Subcluster), dass dies eher der Annahme des kontinuierlichen Bereichs ohne systematische Grenzen entspricht. 445 Zur Legende vgl. Fn. 361. Entr. = Entrundung, Len. = t-Lenisierung. Die Realisierungen der Imitation wurden ausgeschlossen (vgl. Fn. 438).
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ermitteln. Es kann zwar aufgrund einer ähnlichen Verteilung der standardabweichenden Varianten eine Gruppe von drei Variablen gebildet werden (Entrundung, n-Apokope, t-Lenisierung), doch zeigt die Deviation (Abweichung innerhalb des Musters, vgl. Kap. 4.3.4), dass kein identisches Verteilungsmuster vorliegt und die Entrundung sich in der Variantenverteilung von den anderen Merkmalen unterscheidet. Ansonsten können keine Gruppen, bzw. vier Gruppen mit jeweils einer Variablen gebildet werden.446 [ɐ]VV
[b]
[s]
Kor.
[nd]
nicht
[n]
Len.
Entr.
ou
ei
WSD_FALT1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
WSD_F4
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
FG_FALT1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
FG_F1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
WSD_F1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
0
WSD_FJUNG1
1
1
1
1
1
1
1
1
0
1
0
Interview_FALT1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
0
0
Interview_F1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
0
0
Notruf_F1
1
1
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1
1
1
1
1
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0
0
FG_F4
1
1
1
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1
0
0
0
0
0
Interview_F4
1
1
1
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0
0
0
0
0
0
WSS_F4
1
1
1
1
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0
0
0
0
0
WSS_FJUNG1
1
1
1
1
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0
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FG_FJUNG1
1
1
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1
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0
Interv._FJUNG1
1
1
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0
0
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0
WSS_FALT1
1
1
1
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0
0
0
0
WSS_F1
1
1
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0
0
0
0
0
0
0
Abb. 6-7: Implikationsanalyse Frankfurt
Die regionalsprachlichen Varianten verteilen sich insgesamt unterschiedlich auf die Sprachproben und die Deviationen belegen zusätzlich, dass dies auch für die Variablen gilt, die eine mögliche Gruppe aufgrund der Variantenverteilungen bilden könnten. Die Sprachproben lassen sich zu sechs Gruppen (tw. nur einzelne Aufnahmen) zusammenfassen, die sich in einem Fall durch die Verwendung von drei regionalen Merkmalen – mit Ausnahmen (s. o.) – und ansonsten nur jeweils durch die Verwendung von einem einzigen regionalen Merkmal unterscheiden. Im Gesamtvergleich der Sprachaufnahmen und Variablen kann also kein kombinier-
446 Bei der s-Sonorisierung und der Koronalisierung sind ebenfalls Deviationen zu erkennen, die einer Gruppenbildung entgegenstehen. Die Analyse der relativen Werte, die hier verdeckt werden, bestätigt dies. FJUNG1 produziert in den freien Gesprächen und den standardintendierten Wenkersätzen kaum koronale Varianten.
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ter und systematischer Unterschied in der kategorialen Verteilung der regionalsprachlichen Varianten ermittelt werden, sondern ein übergreifender sukzessiver Ersatz der regionalsprachlichen durch standardsprachliche Varianten. Dieses Ergebnis bekräftigt somit zusätzlich den bisherigen Befund.447 6.2.2 Theoretische Analysen Zur vollständigen Spektrumsanalyse erfolgt auch für Frankfurt eine theoretische Betrachtung der Merkmale. Zur Bestimmung eines Dialekts als Vollvarietät müssen – wie erwähnt – die beiden Kriterien kleinräumige Verbreitung und Systemhaftigkeit hinreichend erfüllt werden. Wie in Kap. 3.3.4 bereits beschrieben ist für Frankfurt seit dem 19. Jh. kein Dialekt mehr anzunehmen. Dies bestätigt auch die theoretische Analyse der standarddifferenten Varianten. Alle für Frankfurt beschriebenen Merkmale – einschließlich der hier untersuchten – weisen eine großräumige Verbreitung auf. Sie decken sich meist sowohl mit dem Zentralhessischen im Norden als auch dem Rheinfränkischen im Süden. Es gibt daher keine kleinräumig verteilten bzw. exklusiven Frankfurter Varianten. Keines der hier analysierten Phänomene erfüllt das erste Kriterium. Zusätzlich wird das zweite Kriterium auch von keinem erfüllt. Für die Analyse der Systemhaftigkeit der Merkmale und die Bedeutung für die Sprecher können die Ausführungen zu Reinheim gelten (vgl. insg. Kap. 5.1.2, v. a. Tab. 5-3).448 Das regionalsprachliche System in Frankfurt setzt sich also strukturell aus vielen Typ1b- und Typ2Varianten und sehr wenigen Typ1a-Varianten zusammen. Insgesamt weist es zudem noch weniger standarddifferente Merkmale auf (vgl. Kap. 3.3.4) als beispielsweise das Rheinfränkische. Diese strukturelle Nähe des Frankfurter regio-
447 Das identifizierte Muster (vgl. Fn. 439) zeichnet sich auch hier tw. ab. Es entspricht zwar keiner kombinierten und systematischen Differenz, scheint aber einen Hinweis auf die Struktur des Spektrums zu geben. 448 Für die regionalen Varianten von mhd. ei und v. a. mhd. ou gilt auch hier, dass sie hauptsächlich in bestimmten Einzellexemen verwendet werden. In den freien Gesprächen aus Frankfurt tritt diese Variante fast ausschließlich im Lemma auch auf. Die Varianten scheinen daher – sehr wahrscheinlich bewusst – zur Markierung von Dialektalität/Regionalität von den Sprechern eingesetzt zu werden. Die Verteilungsbeschränkung deutet daraufhin, dass es sich – zumindest partiell – um ein lexikalisiertes Merkmal handelt – bzw. dass die Entwicklung zu diesem Ergebnis führt. Als lexikalisiertes Merkmal könnte es für die Konstituierung einer Varietätengrenze per se ausgeschlossen werden. Die t-Lenisierung, die hier zusätzlich untersucht wurde (vgl. Kap. 4.4.2.2.2), ist als Typ2-Variante zu klassifizieren. Insgesamt lassen sich bei dieser regionalen Variante keine eindeutigen Korrespondenzregeln mit der standardsprachlichen Variante erstellen. In vielen Kontexten ist das Merkmal remanent. Zudem kann von einer allophonischen Verarbeitung und keiner phonologischen Relevanz der Variante ausgegangen werden (vgl. dazu auch KEHREIN 2015).
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nalsprachlichen Systems zur Standardsprache bestätigt somit das empirische Ergebnis, dass innerhalb des Systems keine diskrete Abgrenzung möglich ist.449 6.2.3 Zusammenführung Sowohl die empirischen Analysen und der Bezug zu BRINKMANN TO BROXTEN (1987) als auch die theoretischen Überlegungen haben gezeigt, dass zur Standardsprache eine Varietätengrenze bestimmt werden kann, nicht jedoch innerhalb der modernen Regionalsprache in Frankfurt. Es handelt sich um ein System, das als kontinuierlicher Bereich beschrieben werden kann. Ferner kann gezeigt werden, dass in Frankfurt kein Dialekt – nach der Definition der Sprachdynamiktheorie – (mehr) existiert. Für die Modellierung des Spektrums bedeutet dies, dass in Frankfurt von einem Regiolekt als einzige regionalsprachliche Varietät auszugehen ist. Innerhalb dieses Regiolekts können auf Grundlage der empirischen Ergebnisse zwei Sprechlagen (Verdichtungsbereiche des Sprachverhaltens) identifiziert und über Merkmale charakterisiert werden: (1) unterer Regiolekt und (2) Regionalakzent. Zwischen den Sprechlagen besteht keine harte Grenze, sondern im Sinne von Sprechlagen ein kontinuierlicher Übergang.450 Aus diesem Grund sind in der Modellierung auch keine Grenzen eingezeichnet.451 Für den unteren Regiolekt ist anzunehmen, dass er die Funktion eines Dialekts übernimmt. So scheint es auch typische Marker dieser Sprechlage zu geben, die dabei jedoch keine Varietätengrenze konstituieren. Der Regionalakzent ist in Frankfurt relativ standardnah. Er weist zwar dieselben Merkmale wie der des Rheinfränkischen auf, teilweise aber mit niedrigeren Frequenzen. Insgesamt entspricht der Frankfurter Regiolekt dem Regiolekt/regiolektalen Bereich des Rheinfränkischen sowohl in der Qualität als auch der Quantität der Merkmale (sowie den phonetischen Dialektalitätswerten) (vgl. Kap. 8), wird aber weiter in Richtung Standardsprache ausgebaut.452
449 Zu den standarddifferenten Varianten, die ein Verteilungsmuster zeigen, vgl. Kap. 5.2.2. Hier kann analog zu Erbach bei Betrachtung der Qualität der Merkmale von einer Sprechlagengrenze ausgegangen werden. Aus Sprechersicht bedeutet es, dass – wenn erforderlich – eine sukzessive Annäherung an die Standardsprache ohne den Aufbau neuer Strukturen (eines neues Systems) möglich ist (vgl. Kap. 5.1.2, 5.2.2). 450 Das sich abzeichnende Muster (s. o.) indiziert somit den Übergang der Sprechlagen in der Variation der Sprecher (also eine Sprechlagengrenze, vgl. Fn. 449). Dies entspricht auch den empirischen Ergebnissen. 451 Hinzu kommt, dass die Grenzen per se innerhalb eines Kontinuums nicht exakt zu bestimmen sind. Die Sprachproben können über Merkmalsverteilungen/-kombinationen Sprechlagen näherungsweise zugeordnet werden (vgl. Kap. 5.1.2). 452 Dies und auch die anderen Ergebnisse werden durch den Bezug zu den phonetischen Dialektalitätswerten bestätigt, die auch zur Modellierung herangezogen werden (vgl. Abb. 6-8).
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Standardsprache
Regiolekt
Regionalakzent
unterer Regiolekt
Abb. 6-8: Modellierung des Spektrums für Frankfurt (F)
6.3 SPRACHVERHALTEN 6.3.1 LIESEL CHRIST453 LIESEL CHRIST ist 1919 in Frankfurt geboren, 1996 auch dort verstorben und hat bis auf wenige (Kriegs-)Jahre in Heilbronn, Koblenz und Görlitz auch ihr ganzes Leben dort verbracht. Sie arbeitete als Schauspielerin in Theater und Rundfunk und erlangte durch ihre Rolle der Mama Hesselbach (vgl. Kap. 1) große Bekanntheit. 1971 gründete sie das Frankfurter Volkstheater. Die hier ausgewertete Aufnahme entstammt dem Korpus TAHM (Tonaufnahmen der hessischen Mundarten).454 Über die Aufnahme von LIESEL CHRIST liegen leider keine näheren Infor453 Vgl. zu diesem Abschnitt HOCK (2004). 454 In Vorbereitung des Hessischen Dialektzensus (vgl. FRIEBERTSHÄUSER / DINGELDEIN 1989) wurden die Aufnahmen in Kooperation mit den Sparkassen innerhalb der Imagekampagne „Ich sag's hessisch“ erhoben. Die Informanten sollten in Eigenaufnahme auf der A-Seite einer Kassette freie Texte im Dialekt sprechen und auf der B-Seite die Wenkersätze übersetzen. Somit ist die Aufnahmesituation nicht rekonstruierbar. Im Allgemeinen wurde eine eher jüngere Generation angesprochen. Für den Dialektgebrauch sind sie jedoch weitgehend repräsen-
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mationen vor, sodass die Bewertung schwierig erscheint. Insgesamt ist die Authentizität der Aufnahme als eher gering einzuschätzen, da LIESEL CHRIST als Volksschaupielerin nicht nur sprachbewusst war, sondern auch sensibel für regionalsprachliche Merkmale gewesen sein muss. Als typische Vertreterin der Frankfurter Sprechweise wurde die Probe dennoch untersucht. LIESEL CHRIST produziert alle regionalen Merkmale hochfrequent, allenfalls bei mhd. ei und der Entrundung (geringfügig auch bei der t-Lenisierung) lässt sich eine geringe Variabilität in der Realisierung der regionalen Variante erkennen. Die Aufnahme kann demnach dem unteren Regiolekt zugeordnet werden.455 ͳͲͲΨ
ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 6-9: Variablenanalyse FLC
6.3.2 FALT1 Der Sprecher FALT1 ist 1931 in Frankfurt geboren. Seine Großeltern mütterlicherseits, die er aber nicht mehr kennengelernt hat, stammten aus Unterfranken, ansonsten kamen seine Verwandten auch alle aus Frankfurt. Außer einem Jahr in Schlitz (Vogelsbergkreis) mit 16 Jahren hat er sein ganzes Leben in Frankfurt verbracht. Zur Zeit der Aufnahmen war er Rentner und hat in seiner Erwerbsphase als Mechaniker gearbeitet. Er gibt an, von seinen Eltern in einem „Hessisch/Darmstädtischen Dialekt“ erzogen worden zu sein, was ein Hinweis darauf tativ. (Persönliche Auskunft von H. DINGELDEIN, 14.03.2011). Die Tondateien lassen sich im REDE SprachGIS (s. o.) abrufen. 455 Von dieser Sprechweise ist die Sprachverwendung bei den Hesselbachs (also dem Medienhessisch) zu unterscheiden. In dieser kommen – mitunter aus Gründen der Verständlichkeit – hauptsächlich konsonantische Regiolektmerkmale vor (vgl. VORBERGER i. E.).
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sein könnte, dass er sich der besonderen sprachlichen Situation Frankfurts (vgl. Kap. 3.3.4) und der Rolle des Rheinfränkischen (vgl. Kap. 3.4) bewusst ist.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 6-10: Variablenanalyse FALT1
Die Dialektkompetenzerhebung von FALT1 lässt sich dem unteren Regiolekt zuordnen (vgl. Abb. 6-10). Er realisiert alle regionalen Varianten456 – überwiegend hochfrequent. Die standardabweichenden Varianten von mhd. ei und der Entrundung produziert der Sprecher im Vergleich dazu seltener. FALT1 verwendet ebenso einzellexematische Relikte (Bsp. [́_ۅľʏܱ ٫ liegen). Dies sowie die höchste Dialektalität – im Sinne des regional bedingten Abstands von der Standardsprache – insgesamt könnte durch die Zeit im zentralhessischen Schlitz bedingt sein. Er verwendet aber ansonsten keine genuin zentralhessischen Merkmale. Diese Kompetenz457 passt zu seiner Selbsteinschätzung, er wertet seine aktive wie passive Kompetenz im Frankfurterischen als nahezu perfekt. Durch die Analyse der Wenkersätze von LIESEL CHRIST wird bestätigt, dass es sich hierbei um die „tiefste“
456 Vgl. zur Fortisierung Kap. 8.4.5. 457 Gemäß der Sprachdynamiktheorie ist hier – streng genommen – nicht von Kompetenz zu sprechen, da es sich um eine Sprechlage handelt (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 51). Analog zu den Bezeichnungen der anderen Untersuchungsorte, aufgrund der Funktion der Sprechlage und um der Sprecherperspektive gerecht zu werden, wird hier und im Folgenden dennoch der Begriff verwendet – nicht ohne nochmals auf die Einschränkung hinzuweisen – und bezieht sich hier auf den unteren Regiolekt (bzw. den standardfernsten Bereich der Sprechlage).
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Sprechlage des Frankfurterischen handelt, bei der allerdings die Verwendung mancher regionaler Merkmale (v. a. mhd. ei und Entrundung) variabel ist. Die Sprechweise im Freundesgespräch, das er mit einem gleichaltrigen Freund führt, entspricht weitgehend der der dialektintendierten Wenkersätze. Es lässt sich allenfalls eine geringe Standardannäherung über eine zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs regionaler Merkmale feststellen. Die Frequenzen der standarddifferenten Varianten für die Entrundung, die t-Lenisierung, die nApokope, die s-Sonorisierung und die Koronalisierung gehen leicht zurück, für mhd. ei und ou sinkt die Anzahl der Realisierungen der regionalen Form etwas stärker. Die Realisierungen beziehen sich hauptsächlich auf hochfrequente Wörter wie auch, kein, weiß (vgl. Fn. 448). Für nicht, die t/d-Assimilation, die bSpirantisierung und die Tiefschwa-Vorverlagerung bleibt die Anzahl der Realisierungen der Frankfurter Formen im Vergleich unverändert. Das Sprachverhalten in informellen Situationen von FALT1 lässt sich also auch noch dem unteren Regiolekt zuordnen.458 Der Sprecher variiert intersituativ. Sein Interview, das heißt die Sprechweise in formellen Situationen, ist als etwas standardnäher einzuordnen. Die monophthongischen Varianten für mhd. ei und ou (außer zweimal in auch) gehen vollständig zurück. Relativ starke Frequenzreduktionen der regionalen Varianten im Vergleich zum Freundesgespräch gibt es außerdem bei den Variablen Entrundung, n-Apokope, nicht und b-Spirantisierung. Ansonsten tritt kaum bzw. für die Tiefschwa-Vorverlagerung keine Variation durch den Sprecher auf.459 Dies bedeutet, dass sich FALT1 in formellen Situationen hauptsächlich über eine weitere Variabilisierung des Gebrauchs Frankfurter Merkmale der Standardsprache annähert, dabei aber sprachlich im unteren Bereich des Regiolekts bleibt. In der Standardkompetenzerhebung orientiert sich FALT1 deutlich an der Standardsprache. Er realisiert zusätzlich für die Variablen Entrundung, tLenisierung, n-Apokope, nicht und t/d-Assimilation keine regionalen Varianten mehr. Bei allen anderen Phänomenen sind die Variantenverteilungen im Vergleich zum Interview ähnlich. Die Sprachprobe ist dem Regionalakzent zuzuordnen. Dieser regionalen Prägung ist sich FALT1 auch im Interview bewusst, er gibt mit einem Wert von 2 an, dass sein bestes Hochdeutsch deutlich regional markiert ist. FALT1 hat also eine ausgewiesene Kompetenz in der standardfernsten Sprechweise in Frankfurt und verwendet eine dieser Kompetenz nahekommende Sprechweise in informellen Situationen seines kommunikativen Alltags. Er variiert intersituativ – wenn auch nicht sehr ausgeprägt –, hauptsächlich indem er in formellen Situationen manche Varianten seltener gebraucht. Im Versuch, sein bestes Hochdeutsch zu produzieren, nähert er sich der Standardsprache deutlich an
458 Der Informant gibt im sprachbiografischen Interview leider nicht an, wie er seine Sprechweisen benennt. 459 Die qualitative Analyse ergibt, dass FALT1 die meisten konsonantischen Merkmale (vgl. Tab. A.4) weiterhin hochfrequent verwendet.
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(Zuordnung zum Regionalakzent). Er kann aufgrund dieses Variationsmusters (Shiften) als Regiolekt-Shifter typisiert werden. 6.3.3 F1 F1 ist 1954 in Frankfurt geboren und hat seitdem dort gelebt. Auch seine Verwandten kommen aus Frankfurt, die Großmutter väterlicherseits ausgeschlossen, die aus der Nähe von Grünberg kam, zu der er aber kaum Kontakt hatte. Er arbeitete zur Zeit der Aufnahme als Polizeioberkommissar in der Polizeidirektion Frankfurt. Es benennt die Sprechweise seiner Primärsozialisation als Frankfurterisch. Er spezifiziert es insofern, als er es als Dialekt, nicht aber als Platt betrachtet.460
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 6-11: Variablenanalyse F1
Seine Übertragung der Wenkersätze in den möglichst tiefen Dialekt entspricht nicht mehr dem standardfernsten Bereich des Regiolekts (vgl. FALT1). Dies zeigt sich daran, dass er keine monophthongischen Varianten für mhd. ei mehr reali-
460 Was dies konkret bedeutet, bleibt leider offen. Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass er die Frankfurter Sprechweise nicht mehr als tiefes Platt, sondern gemäß dem objektlinguistischen Status als weitere, großräumigere Form regionalen Sprechens bewertet.
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siert. Für die Variable Entrundung produziert er nur sehr selten und für die Variablen mhd. ou und t-Lenisierung im Vergleich zu den anderen Variablen weniger standarddifferente Formen. Er kennt also nicht mehr alle typischen Varianten dieser Sprechweise und beherrscht manche von ihnen nur eingeschränkt. Alle anderen regionalen Merkmale produziert er hochfrequent, wobei sich bei einigen eine leichte Variabilität der Verwendung beobachten lässt (vgl. bspw. Koronalisierung, n-Apokope). Im Vergleich zu FALT1 ist seine Übertragung also standardnäher und F1 hat keine derart ausgewiesene Kompetenz im unteren Regiolekt. Er gibt auch an, das Frankfurtersiche zwar perfekt zu verstehen, aber nicht mehr sehr gut zu sprechen. Sein Sprachverhalten im Freundesgespräch, das er mit seiner Frau führt, gleicht dem der Dialektkompetenzerhebung. Es bestehen lediglich geringe Frequenzunterschiede. Die Monophthonge für mhd. ei lassen sich alle auf das Lemma keiner zurückführen. Dadurch, dass er aber kein/e/s mit Diphthong realisiert – wie in WS 32 in der Dialektkompetenzerhebung –, ist diese Verwendung als rein lexikalisch zu werten. Für die Variablen mhd. ou, t-Lenisierung und bSpirantisierung sinkt die Anzahl regionaler Realisierungen. Bei der Koronalisierung ist der Unterschied der Variantenverteilung zu den Wenkersätzen recht deutlich. Dies ist durch die Tatsache zu erklären, dass der Sprecher im Lemma ich keine koronalen Laute verwendet, sondern ausschließlich den palatalen Frikativ.461 Durch die höhere Frequenz des Lemmas in den freien Gesprächen ist die Häufigkeit der koronalen Variante entsprechend geringer. Für alle weiteren standarddifferenten Varianten sind die Frequenzwerte (fast) identisch. Dies bedeutet, dass F1 seine noch vorhandene Kompetenz in der standardfernsten Frankfurter Sprechweise in der Performanzerhebung umsetzt. Er selbst bezeichnet die Sprechweise als abgeschwächten Dialekt bzw. gebrochenes Hochdeutsch. Er scheint sich also bewusst zu sein, dass es Frankfurter Sprecher gibt, die eine im vertikalen Sinne tiefere Sprechweise des Frankfurterischen verwenden. In den beiden formellen Situationen des Interviews und der Notrufe, die beide sehr ähnliche Ergebnisse der Variablenanalyse zeigen und deshalb zusammen behandelt werden können,462 nähert sich der Sprecher der Standardvarietät an. Für mhd. ei und ou gebraucht er keine regionalen Varianten mehr, die Frequenzen der Entrundung bleiben im Vergleich zum Freundesgespräch auf einem niedrigen Niveau. Außer bei der Tiefschwa-Vorverlagerung gehen die Realisierungen der regionalen Variante ansonsten zurück. Teilweise ist der Rückgang hoch wie bei der n-Apokope oder der Koronalisierung, mitunter wie bei der Negationspartikel oder der b-Spirantisierung eher gering. F1 variiert intersituativ und nähert sich der
461 Hierbei scheint es sich um eine lexikalisierte Vermeidungsstrategie zu handeln. In allen anderen Kontexten, auch für die Lautfolge [ɪç] (bspw. in sich, mich), verwendet der Sprecher die regionale Variante. Hinzukommen – v. a. im Interview – zahlreiche Hyperkorrekturen (vgl. Fn. 442). Auch die Tokenfrequenz kann hier einen Einfluss haben. 462 Größere Unterschiede sind nur in der Verteilung der Varianten der t/d-Assimilation festzustellen.
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6 Frankfurt
Standardsprache (deutlich) an – seine Sprechweise ist dennoch deutlich regional markiert. Er nennt die Sprechweise in formellen Situationen ebenfalls gebrochenes Hochdeutsch und ist der Ansicht, dass er intersituativ nicht die Sprechlagen wechselt. Er scheint sich also der intersituativen Variation nicht bewusst zu sein.463 In seiner Standardkompetenzerhebung orientiert sich F1 klar an der Standardvarietät. Es ist somit eine Veränderung des Sprachverhaltens verglichen mit dem Interview und den Notrufen festzustellen. Die Sprachprobe kann dem Regionalakzent zugewiesen werden. F1 produziert zusätzlich für die Variablen Entrundung, t-Lenisierung, Negationspartikel, n-Apokope und t/d-Assimilation keine regionalen Formen mehr. Für die b-Spirantisierung gehen die Frequenzwerte der Frankfurter Varianten zurück, für die Koronalisierung steigen sie wieder, da das Lemma ich hier vergleichsweise selten vorkommt. Nahezu unverändert sind die Variantenverteilungen bei den Variablen s-Sonorisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung. F1 bewertet die regionale Markiertheit seines besten Hochdeutschs mit einem Wert von 4 in einem mittleren Niveau. F1 beherrscht – im Vergleich zu FALT1 – die standardfernste Frankfurter Sprechweise nicht mehr uneingeschränkt. Dieser Kompetenz entspricht sein Sprachverhalten in informellen Situationen des kommunikativen Alltags. Er variiert intersituativ stärker als FALT1, bleibt aber in formellen Situationen mit seinem Sprachverhalten in einem mittleren Bereich des Spektrums. Seine Standardkompetenzerhebung lässt sich dem Regionalakzent zuordnen. Hyperkorrekturen und die Vermeidungsstrategie sind eindeutige Indikatoren für die Varietätengrenze zur Standardsprache. Der Sprecher kann somit ebenso als Regiolekt-Shifter typisiert werden. 6.3.4 F4 Der Sprecher F4 ist 1965 in Frankfurt geboren, hat bisher nur dort gelebt und ist der Stadt unter anderem durch politisches Engagement sehr verbunden. Seine Großeltern väterlicherseits kommen aus der Nähe von Darmstadt, ansonsten stammen seine Verwandten alle aus Frankfurt. Zur Zeit der Aufnahme war er als Kriminalhauptkommissar im Polizeipräsidium Frankfurt tätig. Laut eigener Angabe wurde er in einem abgeschwächten Frankfurterisch erzogen. Das „echte Frankfurterische“ ist laut F4 rezent in Frankfurt nicht mehr zu hören. Die Sprachproduktion des Sprechers in der Dialektkompetenzerhebung ist im Vergleich zu F1 wiederum standardnäher. Sie entspricht eindeutig nicht mehr der standardfernsten Frankfurter Sprechweise und somit hat F4 keine ausgewiesene Kompetenz mehr in dieser Sprechweise (vgl. FALT1, FCL). Er realisiert für mhd. 463 Dies könnte auch daran liegen, dass sich der Sprecher hauptsächlich durch einen sukzessiven Ersatz der regionalen durch standardkonforme Varianten (absolut wie relativ) der Standardsprache annähert. Es liegen hier also keine Switching-, sondern nur Shifting-Prozesse vor.
6 Frankfurt
221
ei, Entrundung und t-Lenisierung nur selten (tw. singulär) regionale Varianten. Die Frequenzwerte des Monophthongs für mhd. ou sind zwar vergleichsweise hoch, doch verwendet er die regionale Form meist erst auf Nachfrage. Ebenfalls recht niedrig sind die Werte für die b-Spirantisierung, die er generell selten realisiert. Alle anderen regionalen Varianten produziert er hochfrequent, bei der nApokope, der s-Sonorisierung und der Koronalisierung lässt sich eine geringe Variabilität der Verwendung erkennen. Dieses Ergebnis kommt der Selbsteinschätzung von F4 nahe, der angibt das Frankfurterische zwar ganz gut zu verstehen, aber fast gar nicht mehr zu sprechen.
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Abb. 6-12: Variablenanalyse F4
Das Sprachverhalten von F4 im informellen Freundesgespräch, das er mit einer befreundeten Kollegin aus Frankfurt führt, unterscheidet sich erheblich von dem der Dialektkompetenzerhebung. Für mhd. ei, ou, die Entrundung, die t-Lenisierung und die n-Apokope verwendet er keine regionalen Varianten mehr.464 Für die Variablen nicht, t/d-Assimilation, b-Spirantisierung, s-Sonorisierung und Koronalisierung ist ein starker Rückgang der standardabweichenden Formen zu verzeichnen. Das einzige stabile regionale Merkmal, das F4 weiterhin hochfrequent produziert, ist das der Tiefschwa-Vorverlagerung. Die Sprachprobe kann dem
464 Die Ausnahme bei den Variablen Entrundung und n-Apokope wurde oben bereits besprochen (vgl. Fn. 438).
222
6 Frankfurt
Regionalakzent zugewiesen werden. F4 bezeichnet diese Art zu sprechen als saloppes Hochdeutsch. Dies scheint eher auf die Wahl der Lexik bzw. stilistische Variation zu referieren als auf regionalsprachliche Variation.465 Der Sprecher variiert intersituativ kaum. Die Sprachverwendung im formellen Interview entspricht der des Freundesgesprächs weitestgehend. Es lassen sich – außer bei den Frankfurter Merkmalen, die ohnehin im Freundesgespräch nicht mehr vorkommen, – nur wenige Unterschiede feststellen. Für die Variablen nicht und Koronalisierung geht die Anzahl der Frankfurter Varianten zurück, für die t/d-Assimilation und die s-Sonorisierung steigt sie.466 Fast unverändert sind die Frequenzwerte für die Varianten der b-Spirantisierung und die TiefschwaVorverlagerung. Auch diese Sprachprobe kann dem Regionalakzent zugeordnet werden. F4 bezeichnet die Sprechweise demgemäß als Hochdeutsch. Der Sprachgebrauch des Sprechers im kommunikativen Alltag entspricht weitgehend seiner Standardkompetenz, wie den Ergebnissen für die Standardkompetenzerhebung zu entnehmen ist. Die Verteilung ist im Vergleich zu Freundesgespräch und Interview fast für alle Varianten identisch. Lediglich für die regionalen Varianten der Variablen t/d-Assimilation, s-Sonorisierung und für weitere konsonantische Merkmale (vgl. Tab. A.4) lassen sich geringere Belegzahlen ermitteln. Demnach entspricht auch diese Sprechweise dem Regionalakzent. F4 scheint im Vergleich zu FALT1 und F1 – hauptsächlich durch eine seltenere Verwendung der regionalen Merkmale – seine Standardkompetenz weiter auszubauen, die Hyperkorrekturen (für die Koronalisierung) zeigen aber, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Er selbst schätzt sein bestes Hochdeutsch als recht standardnah, ohne deutliche regionale Markierung ein. F4 kann in der Dialektkompetenzerhebung eine Sprechweise abrufen, die einem mittleren Bereich des Regiolekts entspricht. Diese verwendet er nicht im kommunikativen Alltag. Er bewegt sich in diesem sprachlich im Bereich des Regionalakzents und variiert intersituativ nur minimal. Seine alltägliche Sprachverwendung entspricht der Umsetzung seiner Standardkompetenz weitgehend. Er kann daher als Regionalakzent-Sprecher – mit dem Zusatz moveless – bezeichnet werden.
465 Dazu könnte die Verwendung der lexikalischen Regiolektvariante von nicht im Freundesgespräch im Gegensatz zum Interview passen, die dann für F4 eher als Informalitätsmarker dient. 466 Der Anstieg könnte darauf deuten, dass entweder die Verwendung dieser Merkmale im Regionalakzent in Frankfurt sehr variabel ist und deshalb die Frequenzwerte stark streuen oder die Verwendung stark lexikalisch beschränkt ist. Für die zweite Erklärung spricht die Tatsache, dass im Interview von F4 oft das Lexem große- vorkommt, das stets mit sth. Frikativ realisiert wird.
6 Frankfurt
223
6.3.5 FJUNG1 Der Sprecher FJUNG1 ist 1993 in Frankfurt geboren und aufgewachsen. Sein Abitur machte er im angrenzenden Königstein im Taunus. Auch seine Familie stammt aus Frankfurt. Zur Zeit der Aufnahme war FJUNG1 Student der Universität Gießen und wohnte seit einem halben Jahr in Frohnhausen, nördlich von Gießen. Seine Primärsozialisation fand im Hochdeutschen statt, wie FJUNG1 im Interview erwähnt.
ͳͲͲΨ
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Abb. 6-13: Variablenanalyse FJUNG1
FJUNG1 kann die standardfernste Form des Frankfurterischen nicht mehr abrufen. In seiner Dialektkompetenzerhebung realisiert er für mhd. ei und die Entrundung keine regionalen Varianten. Für mhd. ou und die t-Lenisierung produziert er die entsprechenden Varianten nur nach wiederholter Nachfrage des Explorators und nur in bestimmten Lexemen (bspw. auch, tat). Für die Phänomene nicht, t/dAssimilation, s-Sonorisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung produziert er vergleichsweise häufig regionale Varianten. Die Frequenzwerte der regionalen Formen für die n-Apokope, die b-Spirantisierung und die Koronalisierung befinden sich auf einem mittleren Niveau. Die Sprachprobe kann aufgrund dieser Variantenverteilung einem mittleren Bereich des Regiolekts zugeordnet werden (vgl. Abb. 6-8). Es scheint, dass FJUNG1 ausgehend von seiner Normalsprechlage
224
6 Frankfurt
(s. u.) einige Frankfurter Merkmale, die er noch kennt,467 meist einzellexikalisch realisiert, dies aber nicht konsequent. Er beherrscht die Sprechlage des unteren Regiolekts nicht und weiß darum – er gibt an, das Frankfurterische mittelmäßig zu verstehen und kaum zu sprechen. Sein Sprachverhalten in der Unterhaltung mit seiner Partnerin (Freundesgespräch) unterscheidet sich – ähnlich wie bei F4 – stark von dem der Dialektkompetenzerhebung. Zusätzlich zu mhd. ei und der Entrundung produziert er für mhd. ou, die t-Lenisierung, die n-Apokope und die Negationspartikel überhaupt keine standarddifferenten Varianten mehr. Die Frequenz der standardabweichenden Varianten für die t/d-Assimilation, die s-Sonorisierung und die Koronalisierung geht im Vergleich zu den dialektintendierten Wenkersätzen stark zurück. Die Variantenverteilungen für die b-Spirantisierung und die Tiefschwa-Vorverlagerung sind nahezu unverändert. Die Probe kann demnach dem Regionalakzent zugeordnet werden. Im Interview verwendet der Sprecher dieselbe Sprechlage (Regionalakzent). Die einzigen Unterschiede zur Sprachverwendung im Freundesgespräch sind eine Frequenzreduktion der regionalen Varianten der t/d-Assimilation und s-Sonorisierung sowie eine geringfügig höhere Frequenz der entsprechenden Form der bSpirantisierung. Ansonsten entsprechen sich die beiden Sprachproben weitestgehend, sodass (fast) keine intersituative Variation vorliegt. Dieses Sprachverhalten gleicht dem seiner Standardkompetenzerhebung weitestgehend. Hier lässt sich eine weitere geringe Standardadvergenz im Vergleich zur Sprachverwendung in den Performanzaufnahmen beobachten. Die Anzahl der standardabweichenden Realisierungen der Variablen t/d-Assimilation, b-Spirantisierung und die Verwendung weitere konsonantischer Regiolektmerkmale (bspw. Lenisierung, vgl. Tab. A.4) geht zurück, alle anderen Verteilungen sind fast identisch mit denen des Interviews. Also kann auch diese Sprachprobe dem Regionalakzent zugewiesen werden. FJUNG1 weist somit eine vergleichsweise hohe Standardkompetenz auf. Er kontrolliert die regionalen Varianten der s-Sonorisierung und der Koronalisierung, die bei vielen Sprechern die Varietätengrenze zur Standardsprache indizieren, fast vollständig und produziert auch keine Hyperformen. Dies bedeutet, dass er für diese beiden Merkmale im Begriff ist, die Grenze zur Standardvarietät zu überwinden. Remanent sind unter anderem die regionalen Merkmale der Tiefschwa-Vorverlagerung und der Fortisierung – FJUNG1 realisiert sie hochfrequent und ohne Variation. Das Sprachverhalten kann also noch dem Regiolekt zugeordnet werden.468
467 Im Interview gibt es an, dass er das Frankfurterische hauptsächlich von seiner Großmutter gehört hat, meist aber nicht in direkter Kommunikation. Es handelt sich dabei auch um die regionalen Varianten, die der Sprecher der älteren Generation (vgl.6.3.2) in formellen Situationen des Alltags noch verwendet. Auch hier steht die Kompetenz des jungen Sprechers in Verbindung zur Performanz des älteren Sprechers (vgl. Fn. 399). 468 Zur Bewertung der Variationsphänomene Tiefschwavorverlagerung und Fortisierung und zur Varietätengrenze zur Standardsprache vgl. Kap. 8.4.
6 Frankfurt
225
FJUNG1 beherrscht den unteren Regiolekt nicht mehr, seine Dialektkompetenzerhebung ist einem mittleren Regiolektbereich zuzuordnen. Er verwendet im kommunikativen Alltag eine Normalsprechlage und variiert intersituativ nicht. Diese Verwendung entspricht der Umsetzung seiner Standardkompetenz weitgehend. Es handelt sich also um einen ähnlichen Sprechertyp wie F4 (Regionalakzent-Sprecher moveless), nur dass sein Sprachverhalten insgesamt etwas standardnäher ist. 6.3.6 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich Die Analyse des rezenten Sprachverhaltens in Frankfurt zeigt, dass die zur Verfügung stehende Varietät Regiolekt umfassend von den Sprechern genutzt wird. Der untere Regiolekt ist dabei vor allem für den Sprecher der älteren Generation und einen Sprecher der mittleren Generation von Bedeutung. Insgesamt lässt sich beobachten, dass sich das Sprachverhalten im Vergleich der Sprecher in den oberen Bereich des Regiolekts (Regionalakzent) verlagert (vgl. Abb. 6-8). Es können zwei Sprechertypen unterschieden werden, bei denen es sich per se um Regiolektsprecher handelt: a) Regiolekt-Shifter b) Regionalakzent-Sprecher (moveless) Sprechertyp 1 beherrscht und verwendet die standardfernste Sprechlage des Regiolekts im kommunikativen Alltag in unterschiedlicher Ausprägung. Er variiert intersituativ, indem er sein Sprachverhalten in formellen Situationen der Standardsprache annähert. Der zweite Sprechertyp weist keine bzw. geringe Kompetenz in dieser Sprechweise auf. Er verwendet im kommunikativen Alltag eine Normalsprechlage, die dem Regionalakzent zu subsumieren ist, und variiert intersituativ kaum bzw. gar nicht. Die Standardkompetenzerhebungen der zwei Sprechertypen lassen sich dem Regionalakzent zuordnen, bei den RegionalakzentSprechern – vor allem dem der jungen Generation – wird der Regionalakzent deutlich in Richtung der Standardvarietät ausgebaut. Im Vergleich mit dem Rheinfränkischen lassen sich Ähnlichkeiten im Sprachverhalten erkennen (Shiften). In Frankfurt steht den Sprechern allerdings nur der Regiolekt zur Verfügung. Innerhalb dieser Varietät scheinen die Sprechlagen jedoch dieselben Funktionen zu erfüllen wie im Rheinfränkischen, wo sich ein Dialekt identifizieren lässt. Der intergenerationelle Vergleich der Frankfurter Sprecher zeigt eine ausgeprägte Dynamik. Die typischen Marker der standardfernsten Frankfurter Sprechlage (die standarddifferenten Varianten der Variablen mhd. ei, mhd. ou, Entrundung und t-Lenisierung) werden vollständig abgebaut. Bei allen anderen Variablen ist ebenso eine Frequenzreduktion der regionalen Varianten im intergenerationellen Vergleich zu beobachten (t/d-Assimilation, b-Spirantisierung), die zu einem langfristigen Abbau führt bzw. bereits geführt hat (nicht, n-Apokope). Auch die Koronalisierung unterliegt in Frankfurt einem Wandel. Dieser kann als Abbau über Variabilisierung des Gebrauchs zusammengefasst werden. Als einziges durchgehend hochfrequent realisiertes und stabiles regionales Merkmal ist die
226
6 Frankfurt
Tiefschwa-Vorverlagerung zu nennen. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Kompetenz im unteren Regiolekt abnimmt. Im Vergleich der Sprecher FALT1 und F1 – bedingt auch F4 – lässt sich ein sukzessiver Abbau über eine Variabilisierung der Merkmale beobachten. Setzt man dazu den Sprecher FJUNG1 in Bezug, ist bei diesem von einem totalen Rückgang dieser Kompetenz zu sprechen. Seine Kompetenz im unteren Regiolekt beschränkt sich auf einzellexikalische Formen. Als weiterer Prozess kann die Verlagerung des Sprachverhaltens in den Performanzerhebungen in den Regionalakzent festgehalten werden. Auch hier lässt sich zwischen FALT1 und F1 eine eher sukzessive Entwicklung erkennen, im Vergleich dazu zeigt sich bei F4 und FJUNG1 ein radikaler Umbruch im Sprachverhalten. Dies bedeutet, dass die Sprechlage unterer Regiolekt abgebaut wird. Gleichzeitig wird der Regionalakzent in Richtung Standardvarietät ausgebaut. Für Frankfurt lässt sich also insgesamt eine Standardadvergenz des Regiolekts im intergenerationellen Vergleich festhalten. Die Dynamik dieses Prozesses ist sehr ausgeprägt, was sich in einem deutlichen Umbruch des Sprachverhaltens innerhalb der mittleren Generation zeigt. Auch für die Frankfurter Sprecher scheint die Primärsozialisation ein wichtiger Faktor für die Erklärung der Sprachverhaltensmuster zu sein – so gibt FALT1 als Sprecher des unteren Regiolekts an, im Dialekt primärsozialisiert worden zu sein, FJUNG1 als RegionalakzentSprecher hingegen, dass dies im Hochdeutschen stattfand. Ein direkter Vergleich der Variablenanalysen von BRINKMANN TO BROXTEN (1987) (vgl. Abb. 6-6) und der hier durchgeführten Analyse (vgl. Abb. 6-3–5) ist nur bedingt möglich. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass die Sprecherauswahl stark differiert, dass zum Teil unterschiedliche Variablen untersucht wurden und dass die Aufnahmesituationen sich unterscheiden. Dennoch scheint ein Vergleich zwischen den Ergebnissen lohnend. Dabei können das Interview und die Aufnahmen der Bürgerversammlung von BRINKMANN TO BROXTEN mit den beiden Performanzsituationen der REDE-Aufnahmen in Bezug gesetzt werden. Die Variantenverteilung der Variablen mhd. ei und ou sowie die Entrundung ähneln sich in beiden Untersuchungen. Die regionalen Formen werden insgesamt selten realisiert und variieren dabei zwischen den Sprechern und Situationen – in vielen Aufnahmen kommen sie nicht mehr vor. Der Gebrauch der Merkmale ist also variabel und sie scheinen langfristig abgebaut zu werden. Für die Variable tLenisierung ist der Vergleich schwierig, da BRINKMANN TO BROXTEN (1987) alle Plosive in allen anlautenden Positionen untersucht. In beiden Analysen zeigt sich eine Variabilität der regionalen Realisierung des Phänomens, bei BRINKMANN TO BROXTEN sind die durchschnittlichen Frequenzwerte etwas höher, in der vorliegenden Untersuchung werden die lenisierten Varianten (für [t]) teilweise nicht mehr realisiert. Dies könnte darauf hinweisen, dass der Abbau des Merkmals über eine zunehmende Variabilisierung weiter fortgeschritten ist. Für die b-Spirantisierung ergeben sich Unterschiede in den Verteilungen. Bei BRINKMANN TO BROXTEN (1987) variieren die Frequenzwerte der spirantisierten Formen in einem
6 Frankfurt
227
niedrigen Bereich, in den hier untersuchten freien Gesprächen in einem relativ hohen Bereich. Mögliche Gründe für diesen Unterschied sind schwierig zu ermitteln.469 BRINKMANN TO BROXTEN fasst die e- und n-Apokope zusammen, für die REDE-Daten wurde nur die n-Apokope untersucht. Beide Variantenverteilungen sind recht ähnlich. Die Werte der standardabweichenden Varianten sind durchgängig gestreut, in manchen Proben kommen sie nicht mehr vor. Somit kann – mit aller gebotenen Vorsicht – auch hier von einer noch stabilen Variabilität der Verwendung des Merkmals gesprochen werden, die zu einem langfristigen Abbau führt. Die standarddifferenten Formen der t/d-Assimilation variieren in ihrer Produktion in beiden Untersuchungen in einem relativ hohen Frequenzbereich, ohne vollständig abgebaut zu werden. Hier lässt sich somit eine Stabilität feststellen. Für die Koronalisierung kann eine unterschiedliche Verteilung beobachtet werden. Bei BRINKMANN TO BROXTEN wird die regionale Variante hochfrequent und nahezu invariant realisiert, in der vorliegenden Untersuchung konnten eine durchgehende Variabilisierung der Realisierung sowie in manchen Proben ein totaler Rückgang ermittelt werden. Der skizzierte Wandel des regionalen Merkmals – 1. zunehmende Variabilisierung und 2. Abbau – kann also im Bezug zu den früheren Daten, in denen dieser noch nicht zu beobachten ist, als relativ neues Phänomen herausgestellt werden. Der – eingeschränkt mögliche und mit gebotener Vorsicht zu interpretierende – Vergleich zur Variablenanalyse von BRINKMANN TO BROXTEN (1987) bestätigt bei den verglichenen Merkmalen die angenommen Prozesse (Variabilisierung, langfristiger Abbau) bzw. die Stabilität und stellt den Abbau der Koronalisierung als recht neues Phänomen heraus. 6.4 ZUSAMMENFASSUNG Spektrumstyp
Ein-Varietäten-Spektrum (Regiolekt)
Verhältnis Dialekt – Standardsprache
kein Dialekt mehr vorhanden (seit dem 19. Jh.) Regiolekt: wenige Typ1a-Varianten, viele Typ1b- und Typ2-Varianten
Prozess der Standardannäherung
sukzessive Standardannäherung (Shiften)
Sprechertypen
Regiolekt-Shifter Regionalakzent-Sprecher (moveless)
rezente Dynamik/Entwicklungen
Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, in mittl. Gen. mit Umbruch + weiterer Ausbau der Standardkompetenz bei RA-Sprechern)
469 Es ist bei einem solchen Unterschied weniger von einem sprachlichen Wandel auszugehen als von einem unterschiedlichen methodischen Vorgehen.
7 ZENTRALHESSISCH 7.1 ULRICHSTEIN 7.1.1 Einführung470 Die Stadt Ulrichstein geht auf die Gründung einer Burg im 12. Jh. zurück, von der auch der heutige Name stammt. Sie liegt im Mittelgebirge Vogelsberg in der Mitte Hessens und gilt mit dem höchsten Punkt von 614 m ü NN als höchste Stadt Hessens. Ulrichstein ist ungefähr 70 km von Frankfurt entfernt und zählt offiziell zur Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main (Rhein-Main-Gebiet i. w. S.), nimmt dort aber eine Randlage ein.
Karte 7-1: Lage der Städte Ulrichstein (VB) und Gießen (GI)
Seit 1971 ist die Stadt Ulrichstein Teil des Vogelsbergkreises, der der Landkreis mit der geringsten Bevölkerungsdichte in Hessen ist. Mit 3.017 Einwohnern ist sie
470 Vgl. zu diesem Abschnitt und für weitere Informationen zur Stadt die Internetseite von Ulrichstein ().
229
7.1 Ulrichstein
die kleinste Stadt des Landkreises und besteht aus folgenden Stadtteilen: Kölzenhain, Feldkrücken, Rebgeshain, Bobenhausen II, Helpershain, Ober-Seibertenrod, Unter-Seibertenrod und Wohnfeld. Durch die beschriebene Lage ist die Anbindung von und nach Ulrichstein im Vergleich zu den anderen Untersuchungsorten eher schlecht. Die nächste Autobahn ist 20 km entfernt, die Autofahrt nach Gießen dauert ungefähr 45 Min. und nach Frankfurt ungefähr 80 Min. Eine Bahnanbindung gibt es nicht, die nächsten Bahnhöfe in Mücke und Lauterbach sind 14 bzw. 18 km entfernt. Folgende Sprecher wurden in Ulrichstein untersucht: Wohnort (seit
Geburtsjahr
VBALT2
1933
Ulrichstein
VB1
1958
Ulrichstein
Polizist
Nov. 2010
VB2
1958
Ulrichstein
Polizist
Nov. 2010
VBJUNG1
1989
Ulrichstein
Student
März 2013
Geburt)
Beruf
Datum der Aufnahme
Sprecher
Rentner (früher: Heizungsbauer)
Nov. 2010
Tab. 7-1: Sprecherübersicht Ulrichstein (VB)
7.1.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums 7.1.2.1 Empirische Analysen In Abb. 7-1 sind die Ergebnisse der phonetischen Dialektalitätsmessung für die Sprecher aus Ulrichstein zu sehen. Es fällt auf, dass die Werte insgesamt recht hoch sind (0,8–2,9)471 und auch eine vergleichsweise große Spanne (∆ = 2,1) aufweisen. Vergleicht man die Werte der einzelnen Sprecher miteinander, lässt sich beobachten, dass der ältere Sprecher die höchsten Dialektalitätswerte erreicht und der jüngere Sprecher sowie VB2 die niedrigsten. Es können jedoch im Gesamtvergleich nur geringfügige Unterschiede erkannt werden. Insgesamt zeigen alle Sprecher ein sehr ähnliches Sprachverhalten. Für die Struktur des Spektrums in Ulrichstein können folgende Hinweise den Ergebnissen der D-Wertmessung entnommen werden. Am oberen Ende der Abbildung wird die Grenze zur Standardvarietät deutlich (niedrigster D-Wert 0,8). Im regionalsprachlichen Teil des Spektrums gibt es ebenso eine deutliche interne
471 Der für die dialektintendierten Wenkersätze von VBALT2 gemessene D-Wert von 2,9 ist der höchste Wert aus dem gesamten Korpus.
230
7 Zentralhessisch
Abgrenzung im Bereich von 2,4–1,7, die auf eine mögliche Varietätengrenze schließen lässt.
phon. Dialektalitätswerte
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Abb. 7-1: D-Werte für Ulrichstein (VB)
Auf Grundlage der Variablenanalysen wurde auch für die Sprachproben aus Ulrichstein eine Clusteranalyse durchgeführt. Die Ergebnisse sind in Abb. 7-2 zu sehen und zeigen auf der ersten Stufe eine deutliche Aufteilung in zwei Cluster (I und II). Die nächste Stufe der Clusterung zeigt, dass diese beiden Cluster wiederum in zwei Cluster differenziert werden können. Auf dieser Ebene kann eine Vier-Cluster-Lösung angenommen werden. Das erste Cluster besteht aus den Dialektkompetenzerhebungen aller vier Sprecher. Cluster 2 fasst die Freundesgespräche der Sprecher zusammen. Das dritte Cluster setzt sich aus den Interviews der Sprecher VBALT2 und VB1 zusammen. Die Interviews von VB2 und VBJUNG1 und die vier Standardkompetenzerhebungen werden als Cluster 4 klassifiziert. In Cluster 2 und 4 sind weitere Differenzierungen möglich. So unterscheiden sich das Freundesgespräch von VBJUNG1 bzw. das Interview und die Standardkompetenzerhebung von VB2 von den anderen Sprachproben der Cluster. Bei einem Vergleich der Unterschiede erscheint es nicht sinnvoll, eigene Cluster anzunehmen. Bei der genaueren Analyse müssen die Subdifferenzierungen dennoch berücksichtigt werden. Der Hauptunterschied liegt zwischen den Clustern I und II. Die Balkenausdehnungen zeigen – auch im Vergleich zu den Ergebnissen der an-
231
7.1 Ulrichstein
deren Orte, dass die beiden Cluster I und II jeweils recht homogen sind, der Unterschied zwischen ihnen aber sehr groß ist. Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
5
10
15
20
25
WSS_VB1 WSS_VBJUNG1 WSS_VBALT2
4 Interv._VBJUNG1
II
WSS_VB2 Interview_VB2 Interview_VBALT2
3 Interview_VB1 WSD_VBALT2 WSD_VB2
1 WSD_VB1 WSD_VBJUNG1
I FG_VBALT2 FG_VB2
2 FG_VB1 FG_VBJUNG1
Abb. 7-2: Dendrogramm für Ulrichstein (VB)
Die Ergebnisse der Clusteranalysen müssen mit den Ergebnissen der Variablenanalysen kombiniert werden (vgl. Abb. 7-3–6)472, um die hier vorgeschlagene Clusterlösung zu überprüfen und detailliertere Erkenntnisse zu gewinnen. Im ersten Cluster (vgl. Abb. 7-3), das die dialektalen Wenkersätze der vier Sprecher aus Ulrichstein zusammenfasst, werden alle dialektalen Merkmale (mhd. ô bis b-Spirantisierung) hochfrequent und ohne ausgeprägte Variation realisiert. 472 Vgl. für die absoluten und relativen Werte Tab. A.7 im Anhang. Zur Darstellung und Dateninterpretation sowie -kombination vgl. Kap. 4.3.2., 5.1.2.
232
7 Zentralhessisch
Zwei Ausnahmen bestehen. Zum einen verwendet VBJUNG1 den konsonantischen -Auslaut nur noch zu 40 % und zum anderen produzieren VB2 und VBJUNG1 die monophthongischen Varianten für mhd. ei im Vergleich zu anderen Varianten und den beiden anderen Sprechern seltener. Beides könnte Hinweise auf erste Wandeltendenzen geben. Eine ähnliche Verteilung wie bei mhd. ei ist bei dem neuen regionalen Merkmal der s-Sonorisierung zu beobachten, was bedeutet, dass dieses bereits Bestandteil der dialektalen Kompetenz der Sprecher zu sein scheint. Die ebenfalls neue Tiefschwa-Vorverlagerung ist stets mit der Variable std. /ɐ/ in Bezug zu setzen (vgl. Fn. 332). Hier zeigt sich, dass die neuen Varianten sehr selten produziert werden, am häufigsten von VBJUNG1, der also den konsonantischen Auslaut nicht durch eine standardentsprechende Variante, sondern eine neue regionalsprachliche Form ersetzt (vgl. auch Kap. 7.1.3.4). Aufgrund dieser Variantenverteilung kann das Cluster mit dem Dialekt identifiziert werden.473 ̴ʹ
̴ͳ
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̴ ͳ
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-3: Variablenanalyse Cluster 1 (VB)
Cluster 2 (vgl. Abb. 7-4) enthält die Freundesgespräche der vier Sprecher. Im Vergleich zum ersten Cluster kann bei den Variablen des Vokalismus insgesamt eine Variabilisierung der Verwendung der dialektalen Varianten beobachtet wer473 Eine genauere Zuordnung erfolgt nach der Betrachtung aller Analysen.
233
7.1 Ulrichstein
den. Der Rückgang ist bei den Variablen mhd. ô, ei und den Flachdiphthongen stärker, bei mhd. ou geringer. Die Frequenzwerte für den konsonantischen Auslaut sind nahezu unverändert. Für die Variablen n-Apokope, nicht, t/dAssimilation, b-Spirantisierung und s-Sonorisierung lässt sich ein geringfügiger Rückgang der (standarddifferenten) Variantenfrequenzen erkennen. Die Realisierung der neuen Variante des -Auslauts ist ebenso unverändert, was hauptsächlich durch VBJUNG1 bedingt ist. Die Subdifferenzierung in diesem Cluster (FG VBJUNG1) könnte durch die Realisierung der neuen Merkmale (TiefschwaVorverlagerung und Fortisierung) erklärt werden. Die Tatsache, dass die Unterschiede nur wenige Variablen betreffen und die Frequenzunterschiede vergleichsweise gering sind, bestätigt die vorgenommene Clusterlösung für diesen Bereich. ̴ʹ
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Abb. 7-4: Variablenanalyse Cluster 2 (VB)
Der Vergleich von Cluster 2 und 3 zeigt deutliche Unterschiede. In Cluster 3 (Interviews von VBALT2 und VB1) werden die vokalischen Dialektvarianten nicht mehr realisiert, das heißt es besteht ein totaler Rückgang der Varianten in diesem Cluster. VBALT2 verwendet zwar für die Variablen std. /ɐ/ und mhd. ou noch
234
7 Zentralhessisch
dialektale Varianten, doch widersprechen diese singulären Fälle474 nicht dem systematischen Unterschied. Bei den Variablen n-Apokope, nicht, t/d-Assimilation und b-Spirantisierung ist eine zunehmende Variabilisierung der Verwendung der standarddifferenten Form im Vergleich zu Cluster 2 zu erkennen sowie bei den Variablen n-Apokope und t/d-Assimilation eine recht hohe Variabilität innerhalb des Clusters und damit einhergehend ein größerer Rückgang der Durchschnittsfrequenzen. Die Anzahl der regionalen Varianten der s-Sonorisierung sind unverändert, während die Anzahl für die Tiefschwa-Vorverlagerung antiproportional475 zur Reduktion des konsonantischen -Auslauts zunimmt. ̴ʹ
̴ͳ
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-5: Variablenanalyse Cluster 3 (VB)
In Cluster 4 (Standardkompetenzerhebungen aller Sprecher und Interviews von VB2 und VBJUNG1) sind die Frequenzen der konsonantischen -Auslaut im Durchschnitt höher. Dies liegt daran, dass VB2 diese Variante in beiden Erhebungssituationen frequent realisiert. Da alle anderen Sprecher ein identisches Va474 In absoluten Zahlen handelt es sich um vier konsonantische -Auslaute und zweimal einen Monophthong für mhd. ou in auch. Es kann demnach von singulären – bei mhd. ou zudem lexikalischen – Formen ausgegangen werden. Vgl. auch Fn. 498 und 499. Zur Bewertung s. u. 475 Es besteht allerdings keine exakt reziproke Proportionalität, da tw. auch standardkonforme Varianten realisiert werden. Näherungsweise besteht dieses Verhältnis allerdings, wie die empirischen Daten zeigen.
7.1 Ulrichstein
235
riationsverhalten bezüglich dieses Merkmals zeigen, das sich von dem von VB2 unterscheidet, scheint es sich hierbei um eine individuelle Ausnahme zu handeln.476 Des Weiteren können für die n-Apokope und die Negationspartikel ein starker bzw. teilweise totaler Rückgang der dialektalen Varianten und für die t/dAssimilation, die b-Spirantisierung und die s-Sonorisierung eine zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs der entsprechenden Formen festgestellt werden.477 Die Frequenzwerte für die vorverlagerten Tiefschwa-Varianten nehmen im Vergleich leicht ab, was an den konsonantischen Realisierungen von VB2 liegt. Die Subdifferenzierung in diesem Cluster (WSS und Interview VB2) ist durch die konsonantischen Varianten des -Auslauts zu erklären, die in ihrer Ausprägung eher auf ein individuelles Sprachverhaltensmuster schließen lassen.
ͳͲͲΨ
̴ʹ ̴ʹ
̴ʹ ̴ ͳ
̴ͳ ̴ ͳ
ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-6: Variablenanalyse Cluster 4 (VB)
476 Auffallend ist auch, dass VB2 eine approximantische Variante des -Auslauts verwendet, die anderen Sprecher hingegen meist einen alveolaren Vibranten (vgl. auch 7.1.3.3). Zur Bewertung s. u. 477 Vgl. zur n-Apokope in den standardintendierten Wenkersätzen von VBALT2 Fn. 500.
236
7 Zentralhessisch
Bei der zusammenfassenden Betrachtung der Ergebnisse zeichnet sich in den Variablenanalysen der Ulrichsteiner Sprachproben die Varietätengrenze zur Standardsprache bei der s-Sonorisierung und insgesamt am -Auslaut ab.478 Ein Muster der Variantenverteilung lässt sich durch den Vergleich der Einzelbetrachtungen erkennen. Für die vokalischen Variablen – std. /ɐ/ eingeschlossen – gilt, dass die dialektalen Varianten hochfrequent verwendet werden und an einer Stelle vollständig und kombiniert durch standardsprachliche Formen ersetzt werden. Dieser totale Rückgang – mit anderen Worten der Abbau der Dialektmerkmale – findet bei allen Merkmalen zwischen denselben (Cluster 2 und 3) statt (zu den Ausnahmen s. u.). Die dialektalen Varianten der n-Apokope und der Negationspartikel werden hochfrequent mit geringer Variation realisiert und gehen zwischen denselben Sprachproben im Spektrum wiederum abrupt nahezu total zurück. Dieser Rückgang findet für die n-Apokope fast an derselben Stelle wie bei den vokalischen Merkmalen (zwischen den Sprachproben der Cluster 2 und 3) statt,479 für nicht allerdings erst zwischen den Sprachproben der Cluster 3 und 4. Für die t/d-Assimilation und die b-Spirantisierung lässt sich eine durchgehende Variabilisierung der Realisierung der regionalen Varianten beobachten. Für die t/d-Assimilation ist innerhalb dieser Variabilisierung ein starker Rückgang der Variantenfrequenzen erkennbar, der fast an derselben Stelle (d. h. zwischen denselben Sprachproben der Clustern) stattfindet wie bei den vokalischen Merkmalen und der n-Apokope.480 Für die restlichen regionalsprachlichen Merkmale kann festgehalten werden, dass sie überhaupt nicht vorkommen (Koronalisierung), es einen Verwendungsschwerpunkt in einem relativ hohen Frequenzbereich mit geringer Variation und einzelnen Abweichungen gibt (s-Sonorisierung) und ihre Realisierung – in einem antiproportionalen Verhältnis zu den dialektalen Merkmalen – zunimmt (Tiefschwa-Vorverlagerung). Die Ergebnisse der Variablenanalysen für Ulrichstein zeigen also, dass viele Frequenzwerte ähnlich über die Variablen streuen sowie kombiniert systematisch differieren und dass die Wertdifferenzen kaum streuen, bzw. bei diesen eine zusammenfassende Gruppenbildung möglich ist. Es besteht also ein systematischer und kombinierter Unterschied der Variantenverteilungen bei den meisten Variablen. Dieser äußert sich einerseits bei den Variablen des Vokalismus in einem vollständigen Abbau der Dialektvarianten und andererseits bei der t/d-Assimilation und der n-Apokope in hohen Frequenzrückgängen. Die Verteilung bei std. /ɐ/ ist genau zwischen diesen beiden Fällen einzuordnen, da die dialektalen Varianten
478 Vgl. dazu auch Kap. 8.4. Belegt wird die Grenze auch durch weitere Merkmale. So realisieren die Sprecher u. a. fast durchweg konsonantische /r/-Varianten. 479 VBALT2 verwendet im Interview (Cluster 3) die n-Apokope noch relativ häufig. Zur Bewertung s. u. 480 Auch hier gibt es eine Ausnahme, da VB1 im Interview (Cluster 3) die dialektale Variante relativ häufig realisiert. Vgl. Fn. 479.
7.1 Ulrichstein
237
zwar stark, aber nicht in allen Sprachproben vollständig zurückgehen. 481 Beide Prozesse konnten zwar auch in den Analysen für das Rheinfränkische und Frankfurt ermittelt werden, doch im Gegensatz dazu finden die Prozesse bei den Ulrichsteiner Sprechern zwischen denselben Sprachproben und nicht innerhalb der Cluster statt und sie betreffen mehrere, nicht nur einzelne Merkmale. Es gibt daher insgesamt in sieben Fällen gebündelte und dadurch systematische absolute und relative Unterschiede.482 Der Befund spricht dafür, dass hier zwei eindeutig differente Sprachverhaltensmuster und somit strukturell zwei distinkte Systeme vorliegen, die klar voneinander abgegrenzt werden können. Dies legt nahe, dass im regionalsprachlichen Teil des Spektrums eine Varietätengrenze besteht.483 Die beiden Systeme könnten daher vorerst als die Varietäten Dialekt und Regiolekt definiert werden.484 Diese Annahme wird auch durch den konkreten Bezug zur Clusteranalyse bestätigt. Diese bildet den Hauptunterschied der Sprachproben zwischen Cluster 2 und 3. Vergleicht man auch in diesem Fall die beiden ähnlichsten Sprachproben der beiden unähnlichen Cluster, so betrifft dies das Freundesgespräch von VBJUNG1 und das Interview von VBALT2. Zwischen beiden Sprachproben lassen sich systematische Unterschiede ermitteln. Kategoriale Unterschiede bestehen für die Variablen Flachdiphthonge, mhd. ô, ei und mhd. ou, deren dialektale Vari-
481 Für die Variablen std. /ɐ/, t/d-Assimilation und n-Apokope treten jeweils bei einem Sprecher Variantenverteilungen auf, die nicht diesem Muster entsprechen. Dies widerspricht jedoch weder quantitativ noch qualitativ den bisherigen Erkenntnissen. Zur Quantität kann gesagt werden, dass es jeweils singuläre Fälle sind und alle anderen Sprecher sich jeweils identisch different dazu verhalten (s. o. bspw. Cluster 4). Qualitativ betrachtet handelt es sich in den drei Fällen um Typ1b- und Typ2-Varianten (vgl. zu t/d-Assimilation und n-Apokope Kap. 5.1.2, zu std. /ɐ/ s. u.). D. h. theoretisch ist bei diesen Merkmalen eine freie Variation bzw. sukzessive Annäherung an die Standardsprache möglich (vgl. Kap. 5, 6). Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass die Realisierungen übergreifend der Struktur des Spektrums entsprechen. 482 Bei std. /ɐ/ ist das Muster auch bei VBALT2 zu erkennen, jedoch nur in geringer Ausprägung, sodass ein Systemwechsel und wenige remanente Varianten angenommen werden können. Vgl. auch Fn. 498. 483 Die Variantenverteilung zeigt dies deutlich. Es gibt Varianten, die eindeutig dem dialektalen System zugeordnet sind und durch andere Varianten vollständig im regiolektalen System ersetzt werden (d. s. kategoriale Unterschiede, vgl. vokalische Variablen). Außerdem bestehen für die beiden Systeme unterschiedliche Verwendungsschwerpunkte der standarddifferenten Varianten (d. s. relative Unterschiede, vgl. t/d-Assimilation und n-Apokope). Wiederum andere regionale Varianten prägen – entweder invariant oder variant – beide Systeme (vgl. bSpirantisierung, nicht und s-Sonorisierung). Auf dieser Grundlage können die singulären Formen des Monophthongs für mhd. ou im Interview von VBALT2 (vgl. auch Fn. 499) als lexikalische Interferenz gewertet werden und widersprechen dem systematischen Unterschied nicht. Dieses Beispiel illustriert die Notwendigkeit der umfassenden Dateninterpretation und -kombination – auch im Vergleich mit den rheinfränkischen Daten. 484 Der Regiolekt kann damit nicht nur ex negativo (nicht dialektal, nicht standardsprachlich), sondern hier auch positiv über Merkmale und Variantenverteilungen definiert werden.
238
7 Zentralhessisch
anten VBJUNG1 im Gegensatz zu VBALT2 verwendet.485 Relativ hohe Frequenzunterschiede bestehen zwischen den Variantenwerten der t/d-Assimilation und der Negationspartikel. Geringere Frequenzunterschiede sind bei den Varianten des -Auslauts zu erkennen. Lediglich bei drei Variantenverteilungen sind die Werte ähnlich bzw. identisch. Es handelt sich um die Variablen bSpirantisierung, n-Apokope und s-Sonorisierung.486 Zwischen den beiden Proben ist somit ein eindeutiger, distinktiver Unterschied der Sprachverwendung zu erkennen. Hyperdialektalismen treten in den Sprachproben der Ulrichsteiner Sprecher nicht auf. Diese wären ein zusätzliches Indiz für eine Varietätengrenze zwischen Dialekt und Regiolekt. Dass sie jedoch nicht vorkommen, bedeutet nicht etwa, dass es keine Grenze gibt (vgl. rheinfränkisches Kontinuum), sondern ist dadurch zu erklären, dass alle Sprecher den Dialekt beherrschen und korrekt verwenden (vgl. Kap. 7.1.3). Kor.
[ɐ]VV
[b]
[s]
[nd]
nicht
[n]
[ɐ]
ou
ei
ô
FD
WSD_VBALT2
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
WSD_VB1
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
WSD_VB2
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
WSD_VBJUNG1
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
FG_VBALT2
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
FG_VB2
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
FG_VB1
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
FG_VBJUNG1
0
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
Interview_VBALT2
0
1
1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
Interview_VB1
0
1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
Interview_VBJUNG1
0
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
Interview_VB2
0
1
1
1
1
0
0
1
0
0
0
0
WSS_VBALT2
0
1
1
1
1
0
1
0
0
0
0
0
WSS_VB1
0
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
WSS_VBJUNG1
0
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
WSS_VB2
0
1
1
1
0
0
0
1
0
0
0
0
Abb. 7-7: Implikationsanalyse Ulrichstein
Die Ergebnisse der Implikationsanalyse für Ulrichstein sind in Abb. 7-7 zu sehen und können zur Bestätigung der bisherigen Ergebnisse herangezogen werden.487
485 Vgl. zu mhd. ou Fn. 483. 486 Die Koronalisierung ist hier ebenfalls auszuschließen, da sie überhaupt nicht auftritt. 487 Zur Legende vgl. Fn. 361. [ɐ] = std. /ɐ/, ô = mhd. ô, FD = Flachdiphthonge. Zu mhd. ou vgl. Fn. 483.
239
7.1 Ulrichstein
Die regionalen Varianten von vier Variablen können nicht zur Differenzierung der Sprachproben beitragen, da sie entweder überhaupt nicht vorhanden sind (Koronalisierung) oder in allen Sprachproben vorkommen (t/d-Assimilation, b-Spirantisierung, s-Sonorisierung). Letzte sind daher als remanent zu bewerten und indizieren die Varietätengrenze zur Standardsprache. Bei den anderen Variablen kann in der Variantenverteilung ein übergreifendes, gemeinsames Muster ermittelt werden. Vier Variablen (mhd. ou, mhd. ei, mhd. ô, Flachdiphthonge) lassen sich aufgrund identischer Variantenverteilung als Gruppe zusammenfassen. Ansonsten können keine bzw. drei Gruppen aus je einer Variablen gebildet werden.488 Bei den Sprachproben können demnach fünf Gruppen zusammengefasst werden, die sich in einem Fall durch die Verwendung von fünf regionalen Merkmalen und in drei Fällen von einem regionalen Merkmal unterscheiden. Das bedeutet, dass sich in den Ulrichsteiner Sprachproben in der kategorialen Variantenverteilung ein kombinierter und systematischer Unterschied erkennen lässt (wie am Schema in Abb. 7-7 zu sehen ist, vgl. als Kontrast bspw. Abb. 5-7). Fast bei der Hälfte der untersuchten Variablen werden die standarddifferenten Formen kombiniert durch standardsprachliche oder neue regionale Varianten ersetzt. Die sonstige Verteilung deutet auf einen sukzessiven Abbau der regionalen Merkmale bzw. eine Variation der Realisierung nach dem systematischen Unterschied hin. Es lassen sich also eine Varietätengrenze und zwei distinkte Varietäten annehmen, was die bisherigen Ergebnisse zu Ulrichstein bestätigt. 7.1.2.2 Theoretische Analysen Zusätzlich zu den empirischen Befunden werden auch für Ulrichstein die untersuchten Variationsphänomene theoretisch betrachtet. Auch hier müssen die Kriterien der Dialektdefinition erfüllt werden: die Merkmale des Dialekts müssen kleinräumig verteilt sein und ein eigenständiges System bilden. Die standarddifferenten Varianten der Variablen mhd. ô und Flachdiphthonge sind kleinräumig verteilt, sie gelten im Untersuchungsraum nur im Zentralhessischen. Sie sind außerdem als Typ1a-Variante zu kategorisieren. Dies kann am Beispiel für mhd. ô illustriert werden sowie an mhd. i1, i2, e und ë, die hier nicht quantitativ untersucht wurden, die sich aber, wie die qualitative Auswertung ergeben hat, identisch auf die Sprachproben verteilen. mhd. ô mhd. o [gedehnt]
hoch Ofen
zh. [uː] zh. [oː]
– –
std. [oː] std. [oː]
488 Bei std. /ɐ/ wird die komplementäre Variantenverteilung in der Implikationsanalyse verdeckt. Die Variable [ɐ] kann – unter Einbezug dieser Ergebnisse – auch der ersten Gruppe zugewiesen werden. Zu den Ausnahme (Deviation) bei VB2 und VBALT2 vgl. Kap. 7.1.3.1, 7.1.3.2.
240 mhd. uo mhd. i1 mhd. i2 mhd. i2 (vor χ) mhd. ë mhd. e mhd. e (< UL wg. a) mhd. e (vor r)
7 Zentralhessisch
Bruder Kind binden Gesicht Schwester besser Hemd Herbst
zh. [uː]489 zh. [ɪ͡ə] zh. [e] zh. [ɪ] zh. [ɛ͡ə] zh. [ɛ] zh. [e] zh. [ɪ͡ə]
– – – – – – – –
std. [uː] std. [ɪ] std. [ɪ] std. [ɪ] std. [ɛ] std. [ɛ] std. [ɛ] std. [ɛ]
Wie zu sehen ist, sind die Laute in den beiden Varietäten mit einer anderen Systematik verteilt. Es kann zu Überschneidungen kommen, insgesamt liegen jedoch keine eindeutigen Bezüge vor. Ausgehend vom Dialekt kann zwar die standardsprachliche Realisierung über die Schrift eindeutig hergeleitet werden (vereinfacht wird [oː] artikuliert), doch ist eine umgekehrte Zuordnung nicht einfach möglich – es bestehen komplexe Korrespondenzbeziehungen. Dadurch, dass die Varianten unterschiedlich verteilt sind (tw. diametral) und es zum Teil keine Entsprechungen in dem jeweilig anderen System gibt, kann zudem von phonologischen Kontrasten ausgegangen werden. Die dialektalen Varianten sind des Weiteren nicht remanent. Sie bilden einen absoluten, diskreten Unterschied und sind strukturbildend. Sie können als prototypische Typ1a-Varianten gelten (vgl. auch KEHREIN 2012; 2015). Diese Variantentypisierung (Typ1a) bezieht sich auf den Großteil des zentralhessischen Vokalismus, wie an Tabelle 7-2 zu sehen ist, die die beiden Vokalsysteme (Zentralhessisch u. Standardsprache) mit den jeweiligen Bezugswörtern synchron zeigt.490 Es gibt zum Teil Ähnlichkeiten mit der Standardsprache, doch in toto besteht ein großer struktureller Abstand zwischen dem Vokalismus des Zentralhessischen und dem der Standardsprache (d. h. viele Typ1a-Varianten, vgl. dazu auch Tab. 5-3). Dies bedeutet, dass zwar Korrespondenzregeln erstellt werden können und eine Kontrolle der dialektalen Merkmale möglich ist, diese aber komplex sind. Ausgehend von Dialektsprechern können sie sich – im Umsetzen der Standardsprache – dieser nicht sukzessive annähern. Sie müssen ein neues System (er)lernen, das heißt die jeweiligen Phonem-Graphem-Korrespondenzen, die (differenten) Laute und deren Verteilung. Ein Rückgriff auf ihr dialektales System würde diesen Prozess eher einschränken, wie die obigen Bezüge zeigen, sodass ein Systemerwerb und -wechsel sinnvoll bzw. notwendig erscheint.491
489 Dies gilt nur für den Untersuchungsort Ulrichstein. Im sonstigen Gebiet des Zentralhessischen gilt mhd. uo > [ɔ͡ʊ]. 490 Die Darstellung ist vereinfacht und dient der Illustration der Gegensätze der Systeme. 491 Die Dialektsprecher orientieren sich an der Standardsprache, um sich dieser anzunähern, und bauen darüber neue Strukturen auf. Bei dem dadurch neu erworbenen System handelt es sich um den Regiolekt – nicht etwa um die Standardsprache selbst. Zwischen dieser und dem Regiolekt besteht – aufgrund remanenter Merkmale – eine Varietätengrenze (s.o.).
241
7.1 Ulrichstein
std. Laut [i] [ɪ] [y] [ʏ] [e] [ø] [ɛ] [œ] [a̠] [ɔ] [o] [ʊ] [u] [a͡ ̠ e] [a͡ ̠ o] [ɔ͡ɪ] zh. Laut [ɛ͡ɪ] [ɔ͡u] [u͡ə] [ɛ͡ə] [ɪ͡ə]
std. Bsp. lieb Kind Bühne Schüssel weh böse besser Löffel an offen Ofen Luft Bruder Eis Haus Feuer std. Bsp. (lieb) (Bruder) Aas Schwester Kind
Schiefer
Schwester Hand hoch Buch Seife auch
zh. Entsprechung Bühne weh Schüssel – – Schiefer – besser Löffel – auch Seife anders Hand Luft an Buch hoch (Bruder) Eis Haus Feuer
böse
Ofen
keine lautliche Entsprechung im Std.
Herbst
Tab. 7-2: Phonologisches System der Standardsprache und des Zentralhessischen (vereinfacht dargestellt)
Die dialektalen Varianten von mhd. ou und ei sind – wie oben ausgeführt – nicht kleinräumig verteilt und als Typ1a-Varianten zu klassifizieren. Ihre Verteilung entspricht denen der anderen vokalischen Merkmale. Sie stellen für das zentralhessische System in Ulrichstein keine Ausnahme dar (vgl. 5.1.2.2), sondern gliedern sich in die Systematik ein. Im Konsonantismus ist keines der dialektalen Merkmale kleinräumig verbreitet, ebenso wenig erfüllen sie den Status der Systemhaftigkeit – es handelt sich um Typ2-Varianten (vgl. dazu das Rheinfränkische, v. a. Kap. 5.1.2.2). Dies gilt auch für die lexikalische Variable.492 Die dialektale Variante des -Auslauts ist als Typ2 zu bestimmen und konstituiert somit keinen systemischen Unterschied. Zwar sind relativ einfache Korrespondenzregeln zwischen den Varianten möglich: ausltd. : Vater zh. [ər] – (reg. [ɛ]) – std. [ɐ], doch werden konsonantische /r/-Varianten als regionale Allophone verar492 Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass manche von ihnen (n-Apokope, t/d-Assimilation) eine den beiden Varietäten entsprechende Verteilung (hohe Frequenzen im Dialekt, niedrige Frequenzen im Regiolekt) aufweisen.
242
7 Zentralhessisch
beitet und wahrgenommen (vgl. KEHREIN 2015, 463, Kap. 8.4.4). Die Kontrolle (Realisierung oder Nichtrealisierung) des Merkmals ist aus theoretischer Sicht möglich und erfordert nicht den Aufbau neuer Strukturen, sondern kann durch simple Ersatzregeln geschehen (Ersatz von [ər] durch [ɐ, ɛ] bei , und v. v.). Die Verteilung der Dialektvariante entspricht teilweise der einer vokalischen Dialektvariante (Realisierung im Dialekt, Ersatz durch neue/standardsprachliche Varianten im Regiolekt). Dies könnte an der Auffälligkeit dieses Merkmals (konsonantischer vs. vokalischer Auslaut) liegen, quod esset demonstrandum. Der Variantentyp kann wiederum die individuellen Ausnahmen (Remanenz, v. a. bei VB2, geringfügig auch bei VBALT2) erklären (vgl. auch Fn. 375). Zusammengefasst bedeutet dies aus theoretischer Sicht, dass vor allem der Vokalismus den zentralhessischen Dialekt insgesamt als eigenständiges System (d. i. Varietät) konstituiert. Es besteht eine regionalsprachliche Varietätengrenze und der Dialekt kann diskret vom System Regiolekt abgrenzt werden. Die Analysen können auf den einzelnen Sprecher und die Sprachdynamiktheorie zurückgeführt werden (vgl. Kap. 5.1.2). Aufgrund des beschriebenen strukturellen Verhältnisses der zentralhessischen Dialekte zur Standardsprache (relativ viele Typ1a-, relativ wenige Typ1b- und Typ2-Varianten) können Dialektsprecher in überregionaler Kommunikation ihren Dialekt (die dialektalen Merkmale, Typ1a) nicht verwenden. Die Verwendung würde die Kommunikation – im Sinne der Verständigung – stark bzw. vollständig einschränken. Erfolgreiche Sprachverstehensakte würden eher die Ausnahme darstellen (vgl. Tab. 7-2, Fn. 628).493 Die Sprecher können sich aufgrund dieser Struktur auch nicht sukzessive der Standardsprache annähern, sondern müssen in diesen Fällen das System wechseln, das heißt in den Regiolekt switchen. Dies stellt aus theoretisch-kommunikativer Sicht die Grundlage des regionalsprachlichen Spektrums in Ulrichstein dar. 7.1.2.3 Zusammenführung Die Kombination der empirischen und theoretischen Analysen der Ulrichsteiner Sprachproben ergibt, dass das regionalsprachliche Spektrum in Ulrichstein aus zwei Varietäten besteht:494 dem Dialekt und dem Regiolekt. Eine Varietätengrenze zwischen beiden Systemen kann eindeutig nachgewiesen werden. Aufgrund von Sprachverhaltensmustern innerhalb der Varietäten können die Sprechlagen Basisdialekt und Regionalakzent als Pole am unteren und oberen Ende der jeweiligen Varietät bestimmt und über Merkmale definiert werden (vgl. Tab. A.2, A.6).
493 Dies könnte nicht nur zu Irritationen der Kommunikation führen ([ʃeːfɐ] Schiefer oder Schäfer?), sondern auch zu Missverständnissen, da zh. [viː] nicht wie, sondern weh bedeutet (u. w. m.). 494 Dies zeigt sich auch den phonetischen Dialektalitätswerten (vgl. Abb. 7-1), die genau an der herausgearbeiteten Stelle im Spektrum die deutliche Differenzierung anzeigen. Sie werden auch zur Modellierung verwendet (vgl. Abb. 7-8).
243
7.1 Ulrichstein
Innerhalb der Varietäten sind die Verteilungen der standarddifferenten Varianten durch Varianz geprägt, sodass analog zu den Spektren im Rheinfränkischen und in Frankfurt die Bestimmung weiterer Sprechlagen schwierig erscheint und deshalb ausbleibt. Das Spektrum für Ulrichstein kann wie folgt modelliert werden:495 Standardsprache
Regiolekt
Regionalakzent
Dialekt
Basisdialekt
Abb. 7-8: Modellierung des Spektrums für Ulrichstein (VB)
495 Der Regiolekt in Ulrichstein ist vergleichsweise standardfern. Dies liegt v. a. daran, dass in diesem durchgängig apikale r-Varianten realisiert werden und tw. die Frequenzen der in Tab. A.6 aufgelisteten Merkmale recht hoch sind (bspw. Lenisierung).
244
7 Zentralhessisch
7.1.3 Sprachverhalten 7.1.3.1 VBALT2 Sprecher VBALT2 ist 1933 in Ulrichstein geboren und lebt seitdem in der Stadt. Auch seine Herkunftsfamilie stammt aus Ulrichstein. Zur Zeit der Aufnahme war VBALT2 Rentner, während seiner Erwerbsphase arbeitete er als Heizungsbauer. Laut eigenen Angaben wurde er im Vogelsberger Platt primärsozialisiert und hat die Standardsprache erst in der Schule erworben.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-9: Variablenanalyse VBALT2
Die Ergebnisse für die Dialektkompetenzerhebung von VBALT2 zeigen eindeutig, dass der Sprecher eine ausgeprägte Dialektkompetenz aufweist. Er produziert alle dialektalen Varianten durchgehend hochfrequent und die als neu bezeichneten regionalsprachlichen Merkmale verwendet er entweder überhaupt nicht (Koronalisierung) oder nur äußerst selten (Tiefschwa-Vorverlagerung, Fortisierung).496 Auch alle sonstigen Dialektmerkmale (vgl. u. a. Tab. A.2) verwendet der Sprecher hochfrequent (bspw. mhd. ê [ʃnɪː̃ ] Schnee, Rhotazismus) – im Sprechervergleich produziert er die meisten Formen. Dieser Kompetenz entspricht auch seine 496 Die s-Sonorisierung scheint Bestandteil des Ulrichsteiner Dialekts zu sein (s. o.), weswegen sie hier auch als dialektales Merkmal behandelt wird. Zum Merkmal insgesamt vgl. Kap. 8.4.4.
7.1 Ulrichstein
245
Selbsteinschätzung. Er bewertet seine aktive wie passive Kompetenz als sehr gut bzw. perfekt. Das Freundesgespräch führt VBALT2 mit einem befreundeten ehemaligen Schreiner aus Ulrichstein. Das Sprachverhalten in dieser informellen Situation zeigt Unterschiede zur Dialektkompetenzerhebung, das heißt er setzt seine Kompetenz nicht vollständig um. Die Frequenzen der dialektalen Varianten für mhd. ô, die Flachdiphthonge, mhd. ei und mhd. ou gehen zurück. Sie werden jedoch nicht vollständig abgebaut, sodass sich von einer Variabilisierung der Verwendung ausgehen lässt. Alle anderen Variantenverteilungen sind im Vergleich nahezu unverändert. Da keine kategorialen, sondern nur relative Unterschiede auftreten – dies gilt auch für die weiteren Merkmale (vgl. Tab. A.2) –, lässt sich die Sprachprobe dem Dialekt zuordnen, entspricht jedoch nicht mehr dem Basisdialekt, sondern deutet auf eine mögliche weitere Sprechlage im Dialekt hin.497 Entsprechend der Zuordnung zum Dialekt benennt VBALT2 sein Sprachverhalten in informellen Situationen als Platt. Betrachtet man das Sprachverhalten des Sprechers in formellen Situationen (Interview), lässt sich eine deutliche Veränderung im Vergleich zum Freundesgespräch festhalten. Alle vokalischen Dialektmerkmale werden, bis auf singuläre, lexikalische Relikte (vgl. Fn. 474), vollkommen kontrolliert und nicht mehr realisiert (vgl. auch Tab. A.2).498 Ein starker Frequenzrückgang lässt sich bei den standarddifferenten Varianten der t/d-Assimilation beobachten, geringere Rückgänge bei der n-Apokope und der Negationspartikel. Keine Veränderungen sind bei der b-Spirantisierung, der s-Sonorisierung sowie bei weiteren konsonantischen Merkmalen (bspw. g-Spirantisierung, Lenisierung) zu sehen. Fast vollständig gehen auch die konsonantischen Varianten des -Auslauts zurück. In Bezug dazu realisiert VBALT2 die neue vorverlagerte Tiefschwa-Variante hochfrequent. Das heißt, die konsonantischen Varianten des -Auslauts werden im Interview hauptsächlich durch neue regionalsprachliche Varianten ersetzt.499 Die 497 Diese mögliche Sprechlage ist aufgrund der Qualität der Unterschiede (rein quantitativ) schwierig zu begrenzen, weswegen eine genauere Bestimmung ausbleibt (s. o.). 498 VBALT2 verwendet im Regiolekt (Interview und WSS) tw. unabhängig der sprachhistorischen Bezüge einen zentralen, flachen Diphthong (bspw. [ɐ͡ɞv̊] auf) für std. /a͡ ̠ o/, der auditiv einem Monophthong ähneln kann. Dies könnte eine phonetische Annäherung und Generalisierung ausgehend vom dialektalen System darstellen, scheint aber auf jeden Fall einen systemischen Unterschied zum Dialekt zu bilden, da dort der Kontrast zwischen [a̠ː] (< mhd. ou) und [ɒ͡o] (< mhd. û) besteht (weshalb auch Hyperformen ausgeschlossen werden können). Die Entsprechungen von std. /a͡ ̠ o/ wurden in diesen Sprachproben zusätzlich akustisch untersucht. In zwei Fällen im Interview konnte ein eindeutiger langer Monophthong [a̠ː] identifiziert werden (in auch < mhd. ou), der als lexikalische Interferenz gewertet wurde. 499 VBALT2 realisiert im Regiolekt – vereinzelt auch im Dialekt – tw. stark reduzierte vokalische Varianten für den -Auslaut (bspw. [mʊ̟də̆] Mutter), die keiner der Varianten der Variable zugeordnet werden können (eine Zuordnung zur Standardvariante erscheint schwierig, würde aber die Ergebnisse nicht verändern) und somit gesondert betrachtet wurden. Eine Zuordnung zu den Varianten erfolgte nur in deutlichen Fällen (vgl. Kap. 4.4.2.1.4). Ggf. ist hier eine vierte Variante anzusetzen. Die qualitative Analyse der Verteilung (deutlich höhere
246
7 Zentralhessisch
Sprachprobe kann aufgrund dieser Differenzen nicht dem Dialekt zugeordnet werden, sondern entspricht dem unteren Bereich des Regiolekts. Dies fügt sich zur Eigenwahrnehmung des Sprechers, der angibt, in formellen Situationen „gekünsteltes Hochdeutsch“ zu sprechen. Eine weitere Annäherung an die Standardsprache und somit Veränderung des Sprachverhaltens im Vergleich zum Interview lässt sich in der Sprachprobe der standardintendierten Wenkersätze erkennen. Zusätzlich verwendet VBALT2 die regionalen Varianten der Negationspartikel und der n-Apokope500 nicht mehr. Die Frequenz der Realisierung der entsprechenden Varianten der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung geht zurück. Ansonsten bestehen keine Unterschiede in den Variantenverteilungen. Er realisiert zudem viele regionale Merkmale weiterhin frequent (bspw. Lenisierung). Die Sprachprobe kann als gesprochenes Schriftdeutsch identifiziert werden und ist deutlich regional markiert. VBALT2 bewertet diese Kompetenz dennoch als relativ gering regional markiert (Wert = 5). Gegebenenfalls lässt sich dies mit dem Kontrast zum Dialekt erklären. Insgesamt zeigt VBALT2 das typische Sprachverhaltensmuster eines bivarietären Dialektsprechers, der intersituativ switcht. Eine endgültige Sprechertypisierung erfolgt am Ende des Kapitels, nachdem alle Sprecher untersucht wurden. 7.1.3.2 VB2 Sprecher VB2 ist 1958 geboren und lebt seitdem – wie seine gesamte Familie – in Ulrichstein. Heute arbeitet VB2 als Polizeihauptkommissar im Polizeipräsidium Gießen. Gemäß den Angaben im Interview haben ihn seine Eltern auf Platt erzogen. VB2 realisiert in seiner Dialektkompetenzerhebung ebenfalls alle dialektalen Merkmale hochfrequent, lediglich bei der Variable mhd. ei lässt sich ein vergleichsweise geringer Wert der Dialektform beobachten. Da er sonst alle Merkmale des Dialekts (vgl. u. a. Tab. A.2, bspw. [ɡ̊ɵfʌn] gefallen) hochfrequent verwendet, spricht dies nicht gegen seine Dialektkompetenz, es könnte ggf. auf einen Wandel im Dialekt deuten. Für die Dialektkompetenz des Sprechers lässt sich auch anführen, dass er die neuen Merkmale gar nicht (Koronalisierung) oder sehr selten (Tiefschwa-Vorverlagerung) produziert. Die Sprachprobe ist daher auch dem Basisdialekt zuzuordnen. VB2 schätzt seine aktive Kompetenz jedoch eher mittelmäßig, die passive allerdings als sehr gut ein.
Frequenzen im Regiolekt) scheint auf jeden Fall den Systemwechsel zu bestätigen. Es könnte – analog zu mhd. ou (vgl. Fn. 498) – eine Sprachproduktionsstrategie von VBALT2 sein. 500 In vier von 70 Fällen in den Wenkersätzen verwendet VBALT2 die standarddifferente Variante. Diese können dadurch erklärt werden, dass er anfangs Schwierigkeiten mit der Übersetzung hat. An zwei Stellen korrigiert er die regionale Variante gleich. Dies deutet eher auf eine Behandlung als Ausnahmen und keine systematische Remanenz des Merkmals hin.
7.1 Ulrichstein
247
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-10: Variablenanalyse VB2
Das Freundesgespräch führt VB2 mit VB1. In dieser informellen Situation lässt sich wiederum ein ähnliches Variationsverhalten wie bei VBALT2 beobachten. Im Vergleich zu den dialektintendierten Wenkersätzen gehen die Frequenzen der vokalischen Dialektvarianten zurück – bei mhd. ei und ou nur geringfügig. Für alle anderen Variablen bleiben die Frequenzwerte der standarddifferenten Varianten nahezu unverändert. Die Sprachprobe kann demnach dem oberen Bereich des Dialekts zugeordnet werden und zeigt in der Variantenverteilung die typische Variabilisierung der Realisierung von vokalischen Dialektmerkmalen. VB2 bezeichnet diese Sprachverwendung auch entsprechend als Platt. Im Interview lässt sich wiederum ein großer Unterschied zum Freundesgespräch feststellen. Die dialektalen Varianten des Vokalismus werden überhaupt nicht mehr realisiert, ebenso wenig die der n-Apokope. Starke Frequenzrückgänge der standarddifferenten Varianten sind bei der t/d-Assimilation und der Negationspartikel zu erkennen, leichte Rückgänge bei der b-Spirantisierung und s-Sonorisierung. Auffallend ist bei VB2 die Verwendung des konsonantischen Auslauts. Es lässt sich zwar übergreifend ein ähnliches Verteilungsmuster wie bei den anderen Sprechern erkennen (d. h. höhere Frequenzen im Dialekt als im Regiolekt bzw. Realisierung im Dialekt und nicht im Regiolekt), doch sind die Frequenzwerte bei VB2 anders ausgeprägt, wie sich im Interview zeigt. Im Vergleich zum Freundesgespräch realisiert er die Variante nur seltener, dementsprechend nimmt die Frequenz der Tiefschwa-Vorverlagerung im reziprok proportionalen Verhältnis auch geringer zu. Im Verteilungsmuster lässt sich die Struktur des Spektrums (d. s. die beiden Varietäten) erkennen. Warum aber VB2 im Gegensatz
248
7 Zentralhessisch
zu den anderen Sprechern den konsonantischen Auslaut im Regiolekt so frequent realisiert (auch im intendierten Standard ist er remanent), kann nur vermutet werden. Ein relevanter Aspekt hierbei kann sein, dass es sich zwar um ein wahrscheinlich auffälliges Merkmal handelt, die Verwendung dessen aber nicht kommunikationsbehindernd ist. Es ist nicht von einem Nichtverstehen auszugehen, was bedeutet, dass zumindest keine Notwendigkeit des Abbaus besteht. Hinzu kommt der Status des Merkmals (Typ2). Insgesamt kann die Sprachprobe dem Regiolekt zugewiesen werden. Auch VB2 benennt die Sprechweise als Hochdeutsch (vgl. VB1). In der Standardkompetenzerhebung lassen sich im Vergleich zum Interview Veränderungen feststellen. VB2 verwendet zusätzlich die regionalen Varianten der t/d-Assimilation und der Negationspartikel nicht mehr und reduziert deutlich die entsprechenden Frequenzen bei der b-Spirantisierung und s-Sonorisierung. Ansonsten bestehen nur minimale bzw. keine Unterschiede. Es handelt sich somit bei dieser Sprachprobe um den Regionalakzent. VB2 schätzt seine Kompetenz demgemäß ein (Wert = 3). Bis auf geringe Unterschiede lässt sich VB2 als Sprecher ähnlich typisieren wie VBALT2. 7.1.3.3 VB1 VB1 ist ebenfalls 1958 geboren und hat bisher sein ganzes Leben in Ulrichstein verbracht. Außer den Großeltern väterlicherseits aus dem Raum Limburg, die er aber selten gesehen hat, kommen seine Vorfahren ebenso aus Ulrichstein. Zur Zeit der Aufnahmen war VB1 als Polizeibeamter in der Polizeidienststelle im benachbarten Nidda tätig. Auch er wurde auf Platt primärsozialisiert. Die dialektintendierten Wenkersätze von VB1 können – analog zu VBALT2 und VB2 – dem Basisdialekt zugeordnet werden. Er produziert alle dialektalen Varianten durchgängig hochfrequent und die neuen Merkmale entweder gar nicht (Koronalisierung) oder äußerst selten (Tiefschwa-Vorverlagerung). Ebenso verwendet er die weiteren Merkmale des Ulrichsteiner Basisdialekts (vgl. u. a. Tab. A.2, bspw. [ʋo͡ ̞ ɵzɵ] wachsen). VB1 besitzt daher eine ausgewiesene Dialektkompetenz. Er selbst schätzt seine aktive und passive Dialektkompetenz allerdings eher mittelmäßig ein. Das Freundesgespräch führt VB1 mit VB2. In dieser Situation ist das bekannte Variationsverhalten zu beobachten. Er realisiert nach wie vor alle dialektalen Merkmale, jedoch gehen die Realisierungen der vokalischen Dialektvarianten und der Negationspartikel im Vergleich zur Dialektkompetenzerhebung zurück. Ansonsten sind die Frequenzwerte der Varianten nahezu unverändert. Die Sprach-
7.1 Ulrichstein
249
probe kann also auch dem Dialekt zugeordnet werden, entspricht aber nicht mehr uneingeschränkt der Kompetenz.501 Er benennt diese Sprechweise auch als Platt.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-11: Variablenanalyse VB1
Das Sprachverhalten des Sprechers im Interview kann dem Regiolekt zugeordnet werden. Die Variantenverteilung zeigt deutlich einen Systemwechsel. Die dialektalen Varianten des Vokalismus und des -Auslauts werden nicht mehr realisiert,502 die entsprechenden Frequenzen bei der n-Apokope gehen stark zurück, bei der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung leicht. Unveränderte Variantenrealisierungen sind nur bei der s-Sonorisierung und der Koronalisierung zu sehen.503 Antiproportional zum Rückgang des konsonantischen Auslauts nehmen
501 Wie oben bereits erwähnt, zeichnet sich die freie Verwendung des Dialekts durch eine Variabilisierung des Gebrauchs – jedoch keinen Abbau – der Merkmale aus. 502 Bei VB1 sind Tendenzen der bei VBALT2 beschriebenen Auslautvarianten (vgl. Fn. 499) zu beobachten. Es deutet sich ggf. ein übergreifendes Sprachverhaltensmuster an, das näher untersucht werden muss. Unabhängig davon entspricht auch hier die Verteilung dem Sprachverhaltensmuster Switchen. 503 Im Interview der beiden Sprecher der mittleren Generation treten insgesamt drei Belege für die Koronalisierung auf. Dies betrifft Lexeme, die sonst keine koronalen Varianten enthalten. Es kann hier ein möglicher südlicher Einfluss nicht endgültig ausgeschlossen werden, doch ist die Anzahl der Belege derart gering, dass sie an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben können. Ein Beleg (VB1) deutet auf einen Versprecher hin. Dennoch treten erste – singuläre – Belege der Koronalisierung im Regiolekt auf (vgl. 8.4.3).
250
7 Zentralhessisch
die Tiefschwa-Vorverlagerungen zu – an diesen beiden Varianten lässt sich der Systemwechsel gut erkennen. VB1 nennt die Sprechweise Hochdeutsch, was ggf. durch den (systemischen) Kontrast zum Dialekt und ein möglicherweise fehlendes Konzept Regiolekt zu erklären wäre. In den standardintendierten Wenkersätzen orientiert sich VB1 noch stärker an der Standardsprache. Zusätzlich zu den Veränderungen im Interview realisiert er die regionalen Varianten der n-Apokope und der Negationspartikel nicht mehr. Starke Frequenzrückgänge sind bei den standardabweichenden Formen der t/dAssimilation zu erkennen, ansonsten aber im Vergleich zum Interview nur geringfügige bzw. keine Unterschiede. Die Sprachprobe kann dem Regionalakzent in Ulrichstein zugeordnet werden. Dieser regionalen Markierung scheint sich VB1 mit seiner Bewertung von 3 auch bewusst zu sein. Auch bei VB1 kann das bereits beschriebene Sprachverhaltensmuster beobachtet werden, sodass auch hier derselbe Sprechertyp wie bei VBALT2 und VB2 anzunehmen ist. 7.1.3.4 VBJUNG1 Sprecher VBJUNG1 ist 1989 geboren und lebt seitdem in Ulrichstein. Seine Verwandten stammen auch alle aus der Stadt. Zur Zeit der Aufnahme studierte VBJUNG1 in Marburg. Der Sprecher wurde vom Vater im Platt primärsozialisiert, seine Mutter und Schwester sprechen jedoch kein Platt (mehr). Der junge Sprecher verwendet in der Dialektkompetenzerhebung ebenfalls alle dialektalen Merkmale hochfrequent, mit einer Ausnahme. Er realisiert den konsonantischen -Auslaut nur noch zu 40 % und dementsprechend oft die neue vorverlagerte Tiefschwa-Variante (55 %). Dies widerspricht als singulärer Fall nicht der sonstigen Dialektkompetenz (vgl. auch Tab. A.2, bspw. [ɪːzɘ] unsere), sondern deutet eher auf einen rezenten Dialektwandel hin. Der konsonantische Auslaut scheint in der jüngeren Generation durch neue Varianten ersetzt zu werden. Die Variantenverteilung insgesamt – die Koronalisierung verwendet er wie die anderen Sprecher nicht – ermöglicht die Zuordnung der Sprachprobe zum Basisdialekt und indiziert somit eine Dialektkompetenz des Sprechers. Ähnlich wie VB1 und VB2 schätzt er seine Kompetenz – aktiv wie passiv – als mittelmäßig bis gut ein. Das Freundesgespräch führt VBJUNG1 mit einem befreundeten Mechaniker gleichen Alters aus Ulrichstein. Auch hier lässt sich dasselbe Variationsmuster wie bei den anderen Sprechern erkennen. Die vokalischen Dialektvarianten werden nicht vollständig abgebaut, sondern nur seltener verwendet. Dies gilt auch in geringem Maße für die n-Apokope, ansonsten treten keine oder nur minimale Differenzen auf. Dies bedeutet, dass auch die Sprachprobe des Freundesgesprächs dem Dialekt zugeordnet werden kann. Bis auf den angenommen Dialektwandel (std. /ɐ/) zeigt der Sprecher dasselbe Sprachverhalten wie die anderen Sprecher und benennt dieses entsprechend als Platt.
7.1 Ulrichstein
251
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-12: Variablenanalyse VBJUNG1
Auch bei VBJUNG1 können im Vergleich zum Freundesgespräch im Interview erhebliche Veränderungen festgestellt werden, die dem Wechsel der Varietät entsprechen. Die vokalischen Dialektmerkmale werden nicht mehr verwendet, ebenso wenig der konsonantische -Auslaut und die n-Apokope. Starke Frequenzrückgänge sind bei den regionalen Varianten der Negationspartikel, der t/dAssimilation und der b-Spirantisierung zu erkennen, leichte Rückgänge bei der sSonorisierung. Wie zu sehen ist, entspricht das Gebrauchsmuster des konsonantischen -Auslauts der Struktur des Spektrums, wenn auch mit insgesamt niedrigeren Frequenzen. Die Sprachprobe kann demnach dem Regiolekt zugeordnet werden. VBJUNG1 benennt die Sprechweise als Hochdeutsch (vgl. VB1 und VB2). Der Vergleich der Standardkompetenzerhebung mit dem Interview zeigt leichte Veränderungen des Sprachverhaltens aufgrund einer etwas stärkeren Orientierung an der Standardsprache. Zusätzlich zu den beschriebenen Fällen verwendet VBJUNG1 die standarddifferenten Varianten der Negationspartikel nicht mehr und reduziert die entsprechenden Frequenzen bei der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung (sowie bei weiteren Phänomenen bspw. a-Verdumpfung, Lenisierung). Ansonsten sind die Variantenverteilungen vergleichbar. Die Sprachprobe kann dem Regionalakzent zugewiesen werden. Die Bewertung des Sprechers (3) deutet darauf hin, dass er sich der regionalen Markiertheit seiner Standardkompetenzerhebung bewusst ist.
252
7 Zentralhessisch
Bei VBJUNG1 zeichnen sich zwar wenige Unterschiede im Vergleich zu den anderen Sprechern ab, aber insgesamt zeigt er dasselbe Sprachverhalten und lässt sich somit auch als derselbe Sprechertyp klassifizieren. 7.1.3.5 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich Alle Sprecher aus Ulrichstein sind dialektkompetent und gebrauchen den Dialekt in informellen Situationen des kommunikativen Alltags. Er ist genauso relevant wie der Regiolekt, der in formellen Situationen verwendet wird. Zwischen den Sprechern lassen sich deshalb nur geringe Unterschiede im Sprachverhalten ermitteln, was zur Bestimmung nur eines Sprechertyps führt. Dieser Sprechertyp in Ulrichstein kann als Dialekt-Regiolekt-Switcher bezeichnet werden. Der DialektRegiolekt-Switcher zeichnet sich dadurch aus, dass er dialektkompetent ist und den Dialekt in informellen Situationen des Alltags verwendet. Die Verwendung des Dialekts zeichnet sich dabei durch eine Variabilisierung des Gebrauchs dialektaler Merkmale aus. In formellen Situationen wechselt der Sprechertyp die Varietät (Switchen) und verwendet den Regiolekt. Er nähert sich im Abrufen seiner Standardkompetenz etwas weiter der Standardsprache an (Regionalakzent).504 Es handelt sich bei diesem Typ also um den typischen – oft in der Literatur beschriebenen – Dialektsprecher, der eine bivarietäre Kompetenz hat (Dialekt und Regiolekt) und beide Varietäten mit klarer Domänenverteilung verwendet. Diese Verteilung unterscheidet sich zwischen den Sprechern nur minimal. Für den Dialekt kann deshalb von einer ausgeprägten Stabilität ausgegangen werden. Lediglich der konsonantischer -Auslaut unterliegt in der jüngeren Generation einem Wandel und wird zunehmend durch die neue Variante ersetzt. Im Regiolekt können bei übergreifender Stabilität der meisten Merkmale ein Abbau der standarddifferenten Varianten der Negationspartikel und der n-Apokope sowie eine zunehmende Variabilisierung bei der b-Spirantisierung festgestellt werden. Die Tatsachen, dass nur ein Sprechertyp ermittelt werden kann und dass nur geringe Unterschiede zwischen den Variantenverteilungen der Sprechern bestehen, verdeutlichen bereits, dass aus einer apparent-time-Perspektive kaum sprachliche Dynamik in Ulrichstein zu erkennen ist, sondern eine übergreifende Stabilität. Sowohl die Varietäten als solche als auch das Sprachverhaltensmuster der Sprecher sind stabil. Lediglich im Regiolekt lässt sich eine leichte Standardadvergenz erkennen. Auch in Ulrichstein scheint die Primärsozialisation einen entscheidenden Einfluss auf das Sprachverhalten der Sprecher zu nehmen. Alle Sprecher wurden im Dialekt als L1 primärsozialisiert und erlernten die Standardsprache erst nebenbei oder in der Schule. 504 Die standardintendierten Wenkersätze von VBALT2 wurden dem mittleren Bereich des Regiolekts zugeordnet (vgl. Kap. 7.3.1.1). Er zeigt in allen Aufnahmesituationen ein etwas standardferneres Sprachverhalten als die anderen Sprecher. Dabei handelt es sich stets um tendenzielle Unterschiede, sodass kein eigener Sprechertyp vorliegt bzw. definiert wird.
7.2 Gießen
253
7.1.4 Zusammenfassung Spektrumstyp
Zwei-Varietäten-Spektrum
Verhältnis Dialekt – Standardsprache
viele Typ1a-Varianten (relativ) wenige Typ1b- und Typ2-Varianten
Prozess der Standardannäherung
Wechsel der Varietät (Switchen)
Sprechertypen
Dialekt-Regiolekt-Switcher
rezente Dynamik/Entwicklungen
Stabilität des Dialekts sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts
7.2 GIESSEN 7.2.1 Einführung505 Die Stadt Gießen geht auf eine Burggründung im 12. Jh. zurück (Stadtrecht 1248). Der Name stammt von der Lage der Stadt an der Mündung der Wieseck in die Lahn (zu den Giessen – ‘an den Bächenʼ vgl. DUDEN Bd. 25, 122). Die Stadt liegt an der Lahn zentral in Hessen zwischen Marburg und Frankfurt (vgl. Karte 7-1). Offiziell zählt die Stadt zur Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main (RheinMain-Gebiet i. w. S.), bildet deren nördlichen Rand und ist mit einer Entfernung von ca. 60 km relativ weit vom Zentrum Frankfurt entfernt. Mit knapp 84.500 Einwohnern gilt Gießen als die siebtgrößte Stadt Hessens. Sie besteht aus den Stadtteilen Kernstadt, Rödgen, Wieseck, Kleinlinden, Allendorf und Lützellinden. Nach einigen administrativen Veränderungen (u. a. Gründung der Stadt Lahn) ist Gießen seit 1977 Kreisstadt des Landkreises Gießen. Sie ist kreisangehörig, genießt jedoch einen Sonderstatus. Mitunter als Sitz des Regierungsbezirks Gießen ist die Stadt Verwaltungs- und Oberzentrum in Mittelhessen. Zudem ist sie einer der wichtigsten Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorte in der Region. Durch die zentrale Lage ist Gießen Verkehrsknotenpunkt der Region und daher sowohl im Straßen- als auch im Schienenverkehr gut angebunden. Mit dem Auto benötigt man ungefähr 55 Min. nach Frankfurt und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ca. 45 Min. Folgende Sprecher wurden für Gießen untersucht:506
505 Vgl. zu diesem Abschnitt und für weitere Informationen zur Stadt die Internetseite von Gießen ().
254 Sprecher
7 Zentralhessisch
Geburtsjahr Wohnort (seit
Beruf
Geburt)
Datum der Aufnahme
GIALT1
1944
Gießen
Rentner (früher: Schlosser)
Jan. 2014
GI11
1961
Gießen (+Vorort)
KHK
April 2013
GI12
1960
Gießen
KHK
April 2013
GIJUNG1
1993
Gießen
Abiturient
Juni 2013
Tab. 7-3: Sprecherübersicht Gießen (GI)
7.2.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums 7.2.2.1 Empirische Analysen In Abb. 7-13 sind die gemessenen phonetischen Dialektalitätswerte für die Gießener Sprachproben zu sehen. Die Werte liegen zwischen 0,5 und 2,2 und damit in einem vergleichbaren Bereich in Bezug auf die rheinfränkischen Werte und in einem niedrigeren Bereich als in Ulrichstein. Dies gilt auch für die Spanne der Werte (∆ = 1,7). Die Symbole für die Dialektkompetenzerhebung von GIALT1 und GIJUNG1 sind transparent, da sie einen besonderen Status haben, der im Fortlauf des Kapitels behandelt wird. Unterschiede zwischen den Sprechern treten für den intendierten Dialekt deutlich hervor, bei allen anderen Sprachproben sind die Werte recht ähnlich. Der junge Sprecher erzielt dabei insgesamt die niedrigsten Werte. Für die Struktur des Spektrums können den Ergebnissen folgende Hinweise entnommen werden. Die Grenze zur Standardsprache wird am oberen Ende der Grafik deutlich. Innerhalb des regionalsprachlichen Teils des Spektrums wäre eine Abgrenzung in einem Bereich von 1,5–2,0 aufgrund größerer Abstände zwischen den Sprachproben möglich.
506 Von Sprecher GIALT1 fehlt die Aufnahme des Freundesgesprächs, die leider nicht erhoben werden konnte. Aufgrund von Schwierigkeiten in der Akquise eines alternativen Informanten wurde der Sprecher dennoch für die Untersuchung gewählt.
255
7.2 Gießen
phon. Dialektalitätswerte
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Abb. 7-13: D-Werte für Gießen (GI)
Das Dendrogramm in Abb. 7-14 zeigt die Ergebnisse der Clusteranalyse auf Grundlage der Variablenanalysen der Gießener Sprachaufnahmen (vgl. Abb. 715–19). Auf der ersten Stufe wird eine Sprachprobe von allen anderen unterschieden. Das Cluster der anderen Sprachproben (II) zeigt wiederum eine zweiteilige Differenzierung, die in einem nächsten Schritt der Clusterung auch jeweils in zwei Cluster aufgeilt wird. Auf dieser Stufe der Clusterung kann daher eine FünfCluster-Lösung angenommen werden. Cluster 1 besteht nur aus einer Sprachprobe, den dialektalen Wenkersätzen von GI11. Cluster 2 enthält die Dialektübersetzungen von GIALT1 und GIJUNG1. Das dritte Cluster gruppiert die Freundesgespräche der Sprecher der mittleren Generation und die dialektalen Wenkersätze von GI12. Cluster 4 besteht aus den Interviews der vier Sprecher und dem Freundesgespräch von GIJUNG1. Cluster 5 enthält die Standardkompetenzerhebungen aller Sprecher. Der Hauptunterschied besteht zwischen Cluster I und II. Das heißt, dass sich eine Sprachprobe erheblich von allen anderen unterscheidet und darin ein Hinweis auf eine mögliche Varietätengrenze gesehen werden kann. Innerhalb des zweiten Hauptclusters (II) sind die Unterschiede recht groß. Cluster 2 unterscheidet sich von Cluster 3 und beide sind wiederum deutlich von Cluster 4 und 5
256
7 Zentralhessisch
zu unterscheiden. Dies kann teilweise durch den besonderen Status der Sprachproben erklärt werden (vgl. Abb. 7-16). Innerhalb des dritten Clusters ist eine Subdifferenzierung möglich. Diese ist eher nicht als eigenes Cluster zu interpretieren, da der Unterschied gering ist. Die Unterscheidungen müssen bei der weiteren Analyse berücksichtigt werden. Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
5
10
15
20
25
Interview_GI11 Interview_GI12
4
Interview_GIALT1 Interv._GIJUNG1 FG_GIJUNG1 WSS_GI12 WSS_GIJUNG1
II
5 WSS_GIALT1 WSS_GI11 FG_GI11
3
FG_GI12 WSD_GI12 WSD_GIALT1
2 WSD_GIJUNG1
I
1
WSD_GI11
Abb. 7-14: Dendrogramm für Gießen (GI)
Im Folgenden werden die einzelnen Cluster näher betrachtet.507 Cluster 1 besteht nur aus der Dialektkompetenzerhebung von GI11. Alle dialektalen Merkmale – einschließlich der s-Sonorisierung – werden durchgängig hochfrequent realisiert. Die neuen Merkmale Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung werden 507 Vgl. für die absoluten und relativen Werte Tab. A.7 im Anhang. Zur Darstellung und Dateninterpretation sowie -kombination vgl. Kap. 4.3.2., 5.1.2.
7.2 Gießen
257
nicht bzw. kaum verwendet. Das Cluster und somit die Sprachprobe können daher mit dem Dialekt identifiziert werden (vgl. Abb. 7-3).508 Dieser Dialekt scheint auch relativ stabil zu sein, lediglich für den konsonantischen -Auslaut und den Diphthong für mhd. uo lässt sich ggf. eine leichte Variabilisierung des Gebrauchs feststellen. ̴ ͳͳ ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-15: Variablenanalyse Cluster 1 (GI)
Der besondere Status der Sprachproben aus Cluster 2 (Dialektkompetenzerhebungen von GIALT1 und GIJUNG1) wurde bereits erwähnt. Die Ergebnisse der Variablenanalyse (vgl. Abb. 7-16) zeigen, dass die dialektale Variante von mhd. uo sowie der konsonantische -Auslaut nur noch von GIALT1 realisiert werden. Für mhd. ô produzieren beide Sprecher einzelne dialektale Formen. Es lässt sich hier von relikthaften Belegen ausgehen, auch deshalb, da die Formen häufig erst auf Nachfrage des Explorators produziert werden. Im Vergleich zu Cluster 1 gehen die Realisierungen der Dialektformen für mhd. ei stark und für mhd. ou und die n-Apokope etwas schwächer zurück. Die regionalen Varianten der Negationspartikel und der s-Sonorisierung werden hochfrequent produziert. Bei den Variablen t/d-Assimilation und b-Spirantisierung reduziert der junge Sprecher die Frequenzen der standardabweichenden Varianten. Hohe Frequenzwerte und damit ein
508 Eine genaue Zuordnung erfolgt am Ende aller Analysen.
258
7 Zentralhessisch
deutlicher Anstieg der Frequenzen im Vergleich zu Cluster 1 zeigen die regionalen Varianten der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung. ̴ ͳ
̴ ͳ
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-16: Variablenanalyse Cluster 2 (GI)
Die typisch zentralhessischen Merkmale des Vokalismus werden also nur noch relikthaft realisiert, die dialektale Variante von mhd. ei etwas häufiger und von mhd. ou noch frequenter. Im Konsonantismus sind durchschnittlich relativ hohe Frequenzen der standarddifferenten Varianten zu verzeichnen und die neuen regionalsprachlichen Merkmale werden ebenso hochfrequent verwendet. Bei genauerer Analyse der Proben fällt auf, dass sich Passagen standardnaher Realisierungen mit Passagen dialektnaher Realisierungen abwechseln, was dem Phänomen der Alternanz (vgl. DAHL 1974) nahekommt. Zusätzlich treten in beiden Proben Hyperdialektalismen (bspw. [ve̞͡ɘm] wem und [kʰɑːm] kaum) auf. Dies belegt, dass diese Sprachproben nicht dem Dialekt zugeordnet werden können, sie auf der anderen Seite aber auch nicht dem Regiolekt (vgl. Cluster 3 bis 5) entsprechen. Die Sprechweise lässt sich als artifizieller Versuch klassifizieren, den Dialekt zu produzieren. Die beiden Sprecher realisieren ausgehend von ihrer Normalsprechlage (vgl. Kap. 7.2.3) Merkmale des Basisdialekts – dies aber nicht konsistent und
7.2 Gießen
259
teilweise nicht dem Dialekt entsprechend (bspw. [b̥ɾɛ̝ːt] Brot).509 Beide Informanten äußern dies auch entsprechend. GIALT1 gibt an, dass seine realisierten Formen nicht immer aus dem Gießener Dialekt stammen und er sie aus dem Umland kenne. GIJUNG1 ist der Sohn von GI11 (vgl. Abb. 7-15) und erwähnt, dass er keinen Dialekt mehr beherrsche, manche Wörter jedoch von seinem Vater kenne. Diese Sprechweise gibt Hinweise darauf, dass es noch Wissen über den Dialekt gibt – bzw. über den Dialekt des Umlands und die dialektalen Merkmale, die großräumig verbreitet sind, – und wie das Wissen und der Dialekt konzeptualisiert sein könnten. Sie wird aber für die Modellierung des Spektrums ausgeschlossen. Für die weitere Analyse muss zu Cluster 1 demnach das dritte Cluster (vgl. Abb. 7-17) in Bezug gesetzt werden. Dieses gruppiert die Freundesgespräche der Sprecher der mittleren Generation und die dialektalen Wenkersätze von GI12. Es zeigen sich große Unterschiede im Vergleich zum ersten Cluster. Die dialektalen Merkmale des Vokalismus und der konsonantische -Auslaut werden in den Sprachproben dieses Clusters nicht mehr realisiert. Die geringen Frequenzwerte der entsprechenden Varianten gehen auf die dialektintendierten Wenkersätze von GI12 zurück, der auf explizite Nachfrage wenige Formen realisiert (vgl. 7.2.3.3). Sie treten nicht systematisch auf und können deshalb als lexikalische Relikte ausgeschlossen werden. Ein im Vergleich zu Cluster 1 starker Frequenzrückgang kann in der Realisierung der regionalen Form der n-Apokope beobachtet werden. Frequenzrückgänge mit geringer Variation innerhalb des Clusters und einen Verwendungsschwerpunkt im mittleren Frequenzbereich zeigen die standarddifferenten Varianten der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung. Die Variantenverteilungen der s-Sonorisierung und der Negationspartikel sind stabil, wohingegen die Frequenzwerte der beiden neuen regionalsprachlichen Varianten der Koronalisierung und vor allem der Tiefschwa-Vorverlagerung zunehmen. Für die TiefschwaVorverlagerung zeigt sich wiederum ähnlich wie in Ulrichstein die fast reziprok proportionale Verteilung in Bezug zu std. /ɐ/. Dieses Cluster kann demnach eindeutig nicht dem Dialekt zugeordnet werden. Die Differenzierung innerhalb des Clusters (vgl. Abb. 7-14) kann für die Dialektkompetenzerhebung von GI12 auf die lexikalischen Dialektrelikte für mhd. ei und ou zurückgeführt werden. Die Unterschiede sind in Anzahl und Ausprägung gering und bestätigen, dass die Differenzierung als eigenständiges Cluster im Vergleich nicht sinnvoll erscheint.
509 Interessant ist zudem, dass sie besonders die Merkmale hochfrequent produzieren, die dem standardfernen Bereich des regionalsprachlichen Kontinuums im Rheinfränkischen gleichen (v. a. Koronalisierung, mhd. ou). Es kann vermutet werden, dass das Konzept Dialekt durch die südlichen Sprachformen und deren mediale Präsenz beeinflusst wird. Bei einer Clusteranalyse aller untersuchten Sprachproben werden die beiden Dialektübertragungen auch den Clustern mit den standardfernen Sprachproben des Rheinfränkischen zugeordnet, was die Annahmen stützen könnte. Bei GIJUNG1 lässt sich zudem beobachten, dass er sich stark an der Vorgabe der Wenkersätze orientiert (bspw. in WS 38 [fɛl̠ də] dem Felde).
260
7 Zentralhessisch ̴ ͳͳ
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Abb. 7-17: Variablenanalyse Cluster 3 (GI)
Cluster 4 (vgl. Abb. 7-18) gruppiert die Interviews der vier Sprecher und das Freundesgespräch des jungen Sprechers. Für mhd. ei werden keine dialektalen Monophthonge mehr produziert. Dies gilt mit einer Ausnahme auch für mhd. ou.510 Im Vergleich zu Cluster 3 gehen die Frequenzen der regionalen Varianten der n-Apokope und der Koronalisierung leicht zurück – die n-Apokope wird dabei nur noch von GIALT1 verwendet. Die Realisierungen der regionalen Form von nicht nehmen ab. Im Cluster streuen die Frequenzwerte in einem niedrigen bis mittleren Bereich, teilweise wird die Variante bereits vollständig durch standardsprachliche Formen ersetzt. Die Verteilungen bei den restlichen Variablen ähneln sich sehr. Bei der s-Sonorisierung realisiert nur GIJUNG1 im Interview vergleichsweise wenig standarddifferente Varianten. Insgesamt ist kein großer Unterschied in den Variantenverteilungen im Vergleich zu Cluster 3 zu erkennen.
510 GIALT1 realisiert für mhd. ou in einem von 16 Fällen einen Monophthong in auch. Zur Bewertung vgl. Fn. 516.
261
7.2 Gießen
ͳͲͲΨ
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Abb. 7-18: Variablenanalyse Cluster 4 (GI)
Cluster 5 enthält die standardintendierten Wenkersätze der vier Sprecher. Im Vergleich zu Cluster 4 ergeben sich wiederum keine großen Unterschiede. Zusätzlich zu den Veränderungen zwischen Cluster 3 und 4 gehen die Realisierungen der standarddifferenten Varianten der n-Apokope und der Negationspartikel absolut zurück (zu mhd. ou vgl. Fn. 510). In beiden Fällen wurde die regionale Form teilweise in den Sprachproben des vierten Clusters schon nicht mehr realisiert. Die Durchschnittsfrequenzen der regionalen Varianten der t/d-Assimilation und der bSpirantisierung gehen bei gleichbleibender Varianz der Werte zurück (der Verwendungsschwerpunkt rückt in einen niedrigeren Frequenzbereich). Bei der sSonorisierung lässt sich eine Variabilisierung der Verwendung erkennen. Die Frequenzen der Koronalisierung nehmen weiter ab – in manchen Sprachproben wird die koronale Variante vollständig kontrolliert. Die Tiefschwa-Vorverlagerung wird (weiterhin) hochfrequent verwendet.
262
7 Zentralhessisch
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ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-19: Variablenanalyse Cluster 5 (GI)
Nach den Betrachtungen der Variablenanalysen für die einzelnen Cluster bestätigt sich die Annahme einer Varietätengrenze zur Standardsprache, die durch die remanenten Merkmale, insbesondere in der Verteilung der regionalen Varianten der s-Sonorisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung deutlich wird (vgl. Kap. 7.1.2). Ein weiteres systematisches Muster in den Variablenanalysen ist zu erkennen: Die dialektalen Varianten des Vokalismus und von std. /ɐ/ werden nur in einer Sprachprobe (WSD GI11) (hochfrequent) realisiert.511 Ein starker Frequenzrückgang kann in der Produktion der n-Apokope genau zwischen dieser Sprachprobe und allen anderen beobachtet werden. Bei den anderen Variablen ist hingegen eine zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs der standarddifferenten Variante festzuhalten. Bei den neuen Varianten der Koronalisierung und der TiefschwaVorverlagerung können ebenso zwischen der besagten Sprachprobe und den anderen Sprachproben Frequenzzunahmen – bei der Tiefschwa-Vorverlagerung ein abrupt hoher Anstieg – ermittelt werden. Der totale Rückgang der dialektalen Varianten und die starken Frequenzrückgänge bzw. -zunahme treten ohne Ausnahme alle zwischen denselben Sprachproben auf und zwar zwischen den dialektintendierten Wenkersätzen von GI11 und den anderen Sprachproben. Es besteht also 511 Zu den lexikalischen Ausnahmen (bzw. Relikten) bei GI12 und GIALT1 vgl. Abb. 7-16–17 sowie Kap. 7.2.3.1, 7.2.3.3. Cluster 2 wird aus den genannten Gründen ausgeschlossen.
7.2 Gießen
263
auch hier ein systematischer und kombinierter Unterschied (absolut wie relativ) in der Verteilung der standarddifferenten Varianten von acht (bzw. zehn) Variablen. Analog zu den Ergebnissen in Ulrichstein kann daher an dieser Stelle im Spektrum, das heißt zwischen Cluster 1 und Cluster 3, eindeutig eine distinkte Abgrenzung vorgenommen werden, was wiederum bedeutet, dass hier eine Varietätengrenze anzunehmen ist. Für das regionalsprachliche Spektrum in Gießen können somit zunächst zwei Varietäten (Dialekt und Regiolekt) und somit ein ZweiVarietäten-Spektrum angenommen werden.512 Außer diesem Muster der Variantenverteilungen sind keine weiteren übergreifenden Muster erkennbar. Das bedeutet, dass innerhalb der Cluster 3 bis 5 keine kombinierten und systematischen Differenzen in den Variantenverteilungen auftreten. Die regionalen Merkmale sind in dieser angenommenen Varietät entweder durch ausgeprägte Variabilität der Verwendung und durch Frequenzrückgänge zwischen unterschiedlichen Sprachproben (d. h. keine kombinierten Verwendungsschwerpunkte) gekennzeichnet (vgl. bspw. nicht und t/d-Assimilation sowie Koronalisierung).513 Oder sie zeichnen sich durch Invarianz der Realisierung in einem relativ hohen Frequenzbereich aus und markieren auf diese Weise die Varietätengrenze zur Standardsprache (vgl. s-Sonorisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung).514 Kategoriale Unterschiede bestehen zwischen den Clustern nicht. Die regionalen Varianten werden im Gesamtvergleich sukzessive abgelegt (vgl. auch Abb. 7-20). Hauptsächlich streuen also die Frequenzwerte über die Variablen und die Wertdifferenzen über die Sprachproben. Es handelt sich um die Variation innerhalb einer Varietät (vgl. auch Kap. 7.1.2 zum Regiolekt in VB). Die Abgrenzungen, die im Dendrogramm sichtbar werden, können durch die Variablenanalysen sowie die phonetischen Dialektalitätswerte (vgl. Abb. 7-13) und die qualitativen Analysen (vgl. Kap. 7.2.3) als mögliche Sprechlagengrenzen herausgestellt werden.515 Für Gießen kann somit ein regionales Zwei-Varietäten-Spektrum an512 Die Variantenverteilung verdeutlicht dies. Es sind Varianten vorhanden, die eindeutig und ausschließlich dem Dialekt zugeordnet werden können und im Regiolekt vollständig durch andere (standardnahe) Formen ersetzt werden (vgl. vokalische Variablen). Bei anderen Merkmalen ist die Verteilung genau umgekehrt, sie kommen im Dialekt überhaupt nicht bzw. kaum vor und werden im Regiolekt (hoch-)frequent realisiert, sind demnach eindeutig dem Regiolekt zuzuordnen (vgl. Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung). Hier liegen kategoriale Differenzen vor. Einen großen, relativen Unterschied (d. h. unterschiedliche Frequenzwerte) in der Verteilung in den beiden Varietäten zeigt die regionale Variante der nApokope. Die restlichen regionalen Merkmale prägen das gesamte Spektrum in Gießen. 513 Ein starker Rückgang der regionalen Varianten ist nur für die Variable Negationspartikel zwischen den Sprachproben aus Cluster 3 und 4 zu ermitteln. Er geht mit einer Variabilisierung einher. 514 Für die s-Sonorisierung können in drei Sprachproben etwas geringere Frequenzwerte der regionalen Variante beobachtet werden (vgl. Kap. 7.2.4). 515 Das Ergebnis der Clusteranalyse kann u. a. durch Reiheneffekte erklärt werden. Durch die grundlegende Differenzierung einer Sprachprobe werden die restlichen Proben umso feiner unterschieden. Der durchgeführte Abgleich mit den anderen Methoden ist demnach notwendig. Zur Modellierung des Spektrums s. u.
264
7 Zentralhessisch
genommen werden.516 Dies kann durch den direkten Bezug zur Clusteranalyse bestätigt werden. Diese bildet den Hauptunterschied zwischen Cluster 1 und den anderen Clustern (also hier Cluster 3+4). Der Vergleich der ähnlichsten Sprachproben aus den unähnlichsten Clustern erübrigt sich für Gießen, da Cluster 1 nur aus einer Sprachprobe besteht und somit die bisherigen Ausführungen diesen Vergleich bereits abbilden. Eine weitere Bestätigung der Varietätengrenze sind die beschriebenen Hyperformen. GIALT1 und GIJUNG1 beherrschen die Varietät Dialekt nur noch eingeschränkt und kennen daher die Strukturen des Systems nicht mehr (vollständig).517 Die Sprecher scheitern quasi im Versuch, die Varietätengrenze zu überwinden – was diese Grenze indiziert – und produzieren falsche Formen, in dem Sinne, dass diese nicht dem Dialekt entsprechen (vgl. dazu auch Kap. 2.2.2, v. a. Fn. 32). Ein Abgleich mit den Ergebnissen in Ulrichstein kann als weiterer Beleg für die Interpretation der Befunde in Gießen dienen. Der direkte Vergleich – soweit er möglich ist518 – zeigt, dass die Varietätengrenzen in beiden Orten desselben Dialektverbandes sowohl von den Merkmalen sowie den phonetischen Dialektalitätswerten ähnlich sind.519 Die Implikationsanalyse bestätigt die Spektrumsanalyse zusätzlich. Die Ergebnisse sind in Abb. 7-20 dargestellt.520 Auch bei den Aufnahmen in Gießen gibt es Variablen (Tiefschwa-Vorverlagerung, t/d-Assimilation, b-Spirantisierung und s-Sonorisierung), deren regionale Varianten in allen Proben vorhanden sind und die demnach als remanente Merkmale die Varietätengrenze zur Standardsprache markieren. Bei den anderen Variablen zeichnet sich in der kategorialen Variantenverteilung ein Muster ab. Eine Sprachprobe (WSD_GI11) unterscheidet sich in der Verteilung von vier bzw. sechs regionalen Merkmalen – also systematisch – von allen anderen Proben. Nur in dieser Aufnahme sind die standarddifferenten Varianten von std. /ɐ/, mhd. uo und mhd. ô vorhanden bzw. die Varianten der Koronalisierung nicht vorhanden.521 Da die Aufnahme WSD_GI12 eine Ausnahme darstellt (vgl. Abb. 7-17 bzw. Kap. 7.2.3.3, vgl. die Deviation), können auch die dialektalen Varianten von mhd. ou und mhd. ei zur Differenzierung herangezogen
516 Die singuläre monophthongische Form für mhd. ou (auch) in Interview von GIALT1 (vgl. Fn. 510) kann somit als lexikalische Interferenz gewertet werden. Vgl. auch Kap. 7.2.3.1. 517 Meist produzieren sie die Formen erst auf Nachfrage. Tw. kann von einzellexikalischem Wissen (auch) ausgegangen werden. 518 Die Variablenanalyse und somit auch die Clusteranalyse unterscheiden sich in einer Variablen mhd. uo vs. Flachdiphthonge. Die qualitative Analyse ergibt, dass in Gießen die Flachdiphthonge eine ähnliche Verteilung wie mhd. uo zeigen. 519 Dies ist der erwartbare Fall, sofern es zwei distinkte Varietäten gibt. Vgl. als Gegenbeispiel und zusätzliche Bestätigung des vorliegenden Falls die Verhältnisse im Rheinfränkischen bzw. den direkten Vergleich zwischen ERB und DA (Kap. 5.2.2). 520 Zur Legende vgl. Fn. 361. uo = mhd. uo. Die beiden Sonderfälle (WSD des alten und jungen Sprechers) und die lexikalische Interferenz (vgl. Fn. 516) sind hier nicht aufgeführt. 521 Es handelt sich hierbei um einen anderen Fall als bei dem Nichtvorhandensein in den weiteren Aufnahmen (s. o.) bzw. vgl. Kap. 7.2.4.
265
7.2 Gießen
werden. An dieser Stelle kann ein systematischer und kombinierter Unterschied im Sprachverhalten festgehalten werden. Bei den restlichen Variablen können aufgrund der Variantenverteilung keine bzw. nur Gruppen aus einzelnen Variablen bestimmt werden, was bedeutet, dass deren Varianten unterschiedlich verteilt sind. Die restlichen Sprachproben können demnach zu vier Gruppen zusammengefasst werden, die sich jeweils nur durch das Vorhandensein eines regionalen Merkmals unterscheiden. Bei diesen Aufnahmen ist im Vergleich ein sukzessiver Ersatz der standarddifferenten durch standardsprachliche Varianten zu beobachten. Das Ergebnis legt für Gießen die Annahme von zwei Varietäten und somit einer regionalsprachlichen Varietätengrenze nahe und zeigt zudem einen sukzessiven Abbau der regionalen Merkmale in der zweiten Varietät. Somit können die bisherigen Ergebnisse bestätigt werden. [ɐ]VV
[nd]
[b]
[s]
Kor.
nicht
[n]
ou
ei
[ɐ]
uo
ô
WSD_GI11
1
1
1
1
0
1
1
1
1
1
1
1
WSD_GI12
1
1
1
1
1
1
0
1
1
0
0
0
FG_GI11
1
1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
FG_GI12
1
1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
Interview_GIALT1
1
1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
Interview_GI11
1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
Interview_GI12
1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
Interview_GIJUNG1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
FG_GIJUNG1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
WSS_GIALT1
1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
WSS_GI11
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
0
WSS_GI12
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
0
WSS_GIJUNG1
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
0
0
Abb. 7-20: Implikationsanalyse Gießen
7.2.2.2 Theoretische Analysen Auch für die Gießener Aufnahmen folgt auf die empirischen Ergebnisse eine theoretische Betrachtung der Merkmale. Hier können die Erkenntnisse für Ulrichstein herangezogen werden, da es sich um denselben Dialektverband handelt (vgl. Kap. 7.1.2). Diese lassen sich derart zusammenfassen, dass es eine große strukturelle Distanz zwischen der zentralhessischen und der standardsprachlichen Phonologie (viele Typ1a-Varianten, wenige Typ1b- und Typ2-Varianten) gibt und dass die zentralhessischen Merkmale größtenteils kleinräumig verbreitet sind. Die Dialektsprecher können sich aufgrund der strukturellen Distanz nicht ohne den kombinierten Aufbau neuer Strukturen der Standardsprache annähern. Sie müssen ein neues System erwerben und bei Bedarf das System wechseln (vgl. auch Kap.
266
7 Zentralhessisch
7.1.2). Dialekt und Regiolekt können daher als jeweils eigenständiges System (Varietät) bestimmt werden. Eine Variable wurde für die Gießener Aufnahmen untersucht, was in Ulrichstein aufgrund der Verteilung nicht möglich war: mhd. uo (vgl. Kap. 4.4.2.1.1). Die lautlichen Entsprechungen von mhd. uo bekräftigen die bisherigen Ausführungen zum zentralhessischen Vokalismus, da eine weitere Typ1a-Variante besteht.522 mhd. ô mhd. o [gedehnt] mhd. uo
hoch Ofen Bruder
zh. [uː] zh. [oː] zh. [ɔ͡u]
– – –
std. [oː] std. [oː] std. [uː]
Die Korrespondenzbeziehungen sind noch komplexer; zusätzlich kommt es zu einem phonologisch relevanten Unterschied, da der Laut [ɔ͡u] in der Standardsprache nicht vorhanden ist.523 Dies bedeutet zusammengefasst, dass für Gießen dieselben Verhältnisse wie für Ulrichstein bestehen. Aus theoretischer Sicht kann auch für Gießen der Dialekt als Varietät diskret von der Varietät Regiolekt abgegrenzt werden (vgl. ausführlicher dazu Kap. 7.1.2). 7.2.2.3 Zusammenführung Für die Gießener Sprachproben kann synchron aufgrund der empirischen und theoretischen Analysen ein Zwei-Varietäten-Spektrum ermittelt werden. Dieses besteht aus den beiden Varietäten Dialekt und Regiolekt, die über eine Varietätengrenze diskret voneinander getrennt sind. Die Sprecher könn(t)en in ihrem Sprachverhalten switchen, indem sie Varianten kombiniert (fast) vollständig durch andere Varianten ersetzen und somit das System wechseln. Innerhalb des Regiolekts zeichnen sich die Verwendung der meisten standarddifferenten Merkmale durch eine ausgeprägte Variabilität aus. Die Sprecher nähern sich in dieser Varietät sukzessive – hauptsächlich über eine zunehmende Variabilisierung – der Standardsprache an. Der Regionalakzent kann anhand der Standardkompetenzerhebungen als Sprechlage über Merkmale definiert, allerdings nicht präzise abgegrenzt werden. Es lassen sich zwar Tendenzen in den Variantenverteilungen erkennen, insgesamt aber keine eindeutigen Muster, die eine Abgrenzung von weiteren Sprechlagen ermöglichen würde (vgl. bspw. Abb. 7-17–19 sowie Kap. 7.2.3
522 Gleiches gilt für mhd. ie (vereinfacht dargestellt): mhd. ê wie in weh entsprechen zh. [iː] – std. [eː]; mhd. e [gedehnt] wie in ledig entsprechen zh. [eː] – std. [eː] und mhd. ie wie in lieb entsprechen zh. [ɛ͡ɪ] – std. [iː]. 523 Der Laut kann zwar in Bezug zu std. [oː] als Allophon verarbeitet werden (vgl. Kap. 5.1.2.1), nicht jedoch in Bezug auf andere standardsprachliche Bezugslaute (vgl. LANWERMEYER et al. 2016 und LANWERMEYER 2019).
267
7.2 Gießen
zu den qualitativen Auswertungen). Im Dialekt wurde keine Sprechlage definiert, da dieser in Gießen nur anhand einer Sprachprobe nachweisbar ist. Bezieht man die Analysen der Sprachverwendung und der Sprecherbiografien ein,524 so kann davon ausgegangen werden, dass der Dialekt in Gießen als Relikt beschrieben werden kann und bereits im vollständigen Abbau begriffen ist. Das Spektrum in Gießen kann also im Abgleich mit den Dialektalitätswerten und den qualitativen Analysen wie folgt modelliert werden – aufgrund der besonderen sprachlichen Verhältnisse ist die Varietät Dialekt perforiert dargestellt: Standardsprache
Regiolekt
Regionalakzent
Abb. 7-21: Modellierung des Spektrums für Gießen (GI)
524 Vgl. Kap. 7.2.3. Der Dialekt ist nur noch in der Abfrage zu erheben und ihm kommt keine kommunikative Relevanz für den Alltag in Gießen (mehr) zu.
268
7 Zentralhessisch
7.2.3 Sprachverhalten 7.2.3.1 GIALT1 GIALT1 ist 1944 in Gießen geboren und lebt seitdem in der Stadt. Seine Vorfahren sind ebenfalls alle Gießener. Zur Zeit der Aufnahme war GIALT1 Rentner, während seiner Erwerbsphase arbeitete er als Schlosser. Er benennt die Sprechweise seiner Primärsozialisation als Hochdeutsch mit Einflüssen der Gießener Umgangssprache.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-22: Variablenanalyse GIALT1
Die Variablenanalyse der dialektintendierten Wenkersätze des Sprechers (vgl. Abb. 7-22) zeigt, dass er für mhd. ô, uo, ei und std. /ɐ/ einzelne dialektale Varianten produziert. Bei diesen ist von singulären und sehr wahrscheinlich lexikalisierten Formen auszugehen. GIALT1 realisiert sie teilweise erst auf explizite Nachfrage und gibt – wie erwähnt – an, dass er sie vom Umland kenne und sie nicht der Gießener Sprechweise entsprechen. Hochfrequent realisiert der Sprecher die dialektalen Varianten von mhd. ou und die Merkmale, die gemäß der Analyse ebenfalls im Regiolekt vorkommen, sowie die neuen regionalsprachlichen Merkmale (Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung). Zusammen mit den auftretenden Hyperdialektalismen und der beschriebenen Alternanz (s. o.) bedeutet
7.2 Gießen
269
dies, dass diese Sprachprobe nicht dem Dialekt zugeordnet werden kann und der Sprecher nicht mehr dialektkompetent ist, teilweise aber noch Wissen über dialektale Merkmale hat. Dies entspricht auch seiner Primärsozialisation.525 Im Interview von GIALT1 zeigt sich eine deutliche Orientierung an der Standardsprache und somit ein großer Unterschied zur Dialektkompetenzerhebung. In formellen Situationen verwendet er die Relikte des Dialekts nicht mehr. Die regionalen Varianten der Negationspartikel und der n-Apokope realisiert er nur vereinzelt.526 In einem mittleren Frequenzbereich verwendet er die entsprechenden Formen der t/d-Assimilation und hochfrequent nur die der b-Spirantisierung, sSonorisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung. Im Vergleich zu den dialektintendierten Wenkersätzen nimmt die Frequenz der Koronalisierung ab, was einen Hinweis darauf geben könnte, dass der Sprecher dieses Merkmal als dialektal konzeptualisiert. Die Probe lässt sich eindeutig dem Regiolekt zuordnen, GIALT1 bezeichnet die Sprechweise als Hochdeutsch. In der Standardkompetenzerhebung lässt sich eine weitere Annäherung an die Standardsprache erkennen. Die im Interview bereits nur vereinzelt realisierten Dialektformen von mhd. ou, nicht und der n-Apokope kommen in dieser Aufnahme nicht mehr vor. Frequenzrückgänge können für die regionalen Varianten der t/d-Assimilation, b-Spirantisierung und s-Sonorisierung festgestellt werden. Ansonsten ähnelt die Variantenverteilung der des Interviews, sodass diese Probe ebenso dem Regiolekt zuzuordnen ist. Im Vergleich zu den anderen Sprechern lässt sie sich nicht vollständig dem Regionalakzent zuweisen. GIALT1 ist also nicht mehr dialektkompetent. Er verwendet in formellen Situationen des kommunikativen Alltags den Regiolekt und nähert sich bei Abruf seiner Standardkompetenz etwas stärker der Standardsprache an.527 7.2.3.2 GI11 Sprecher GI11 ist 1961 in Gießen geboren und verbrachte seine Kindheit im Gießener Vorort Heuchelheim, aus dem auch seine Eltern und Großeltern stammen. Seit seiner Berufstätigkeit als Polizist im Polizeipräsidium Gießen (zur Zeit der Aufnahme als Kriminalhauptkommissar) wohnt er in Gießen. Er gibt an, im Gie-
525 Bei GIALT1 fehlen nicht nur das Freundesgespräch, sondern auch die Bewertungen der Dialektkompetenz und der regionalen Markiertheit des besten Hochdeutschs. 526 Die singuläre monophthongische Form für mhd. ou (auch) kann als lexikalische Interferenz klassifiziert werden. Dieses Merkmal beherrscht GIALT1 tw. Da die Realisierung in auch in einigen Proben des Untersuchungsraums als Interferenz auftritt bzw. in regiolektalen Sprechweisen der jungen Sprecher, die das Merkmal sonst nicht beherrschen, vorkommt, kann angenommen werden, dass es sich hier um eine Lexikalisierung handelt, die als regionaler Marker dient. 527 Eine Typisierung der Sprecher erfolgt in Kap. 7.2.3.5.
270
7 Zentralhessisch
ßener Hessisch erzogen worden zu sein, dass tatsächliche Platt aber in der Kindheit oft gehört zu haben.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-23: Variablenanalyse GI11
Die Auswertung der dialektintendierten Wenkersätze des Sprechers (vgl. auch Abb. 7-15) zeigt, dass der Sprecher alle Merkmale des Dialekts hochfrequent realisiert. Eine leichte Variabilität kann ggf. für die Verwendung der Dialektformen von mhd. uo und std. /ɐ/ festgehalten werden. Die neuen regionalsprachlichen Varianten verwendet er überhaupt nicht (Koronalisierung) oder äußerst selten (Tiefschwa-Vorverlagerung). Somit kann GI11 als dialektkompetent eingestuft werden. Er selbst schätzt seine aktive wie passive Kompetenz als mittelmäßig ein, was eventuell daran liegen kann, dass er den Dialekt nicht mehr verwendet (s. u.) bzw. einige dialektale Varianten selten realisiert (vgl. Tab. A.2, bspw. Rhotazismus [vɛɹ̩ ] Wetter). Das Freundesgespräch führt GI11 mit dem befreundeten Kollegen GI12.528 Der Wechsel der Varietät wird in Abb. 7-23 deutlich. Der Sprecher ersetzt die vokalischen Dialektmerkmale vollständig durch standardnahe Varianten und den konsonantischen -Auslaut durch die neue regionalsprachliche Form. Er realisiert die n-Apokope singulär (2/66) und verwendet die standarddifferenten Vari-
528 GI11 gab an, den Dialekt mit niemandem mehr zu verwenden und am ehesten mit Kollegen regional markiert zu sprechen, weswegen GI12 als Gesprächspartner ausgewählt wurde.
7.2 Gießen
271
anten der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung deutlich seltener. Im Vergleich zur Dialektübersetzung bleiben nur die Frequenzwerte der regionalen Variante von nicht und der s-Sonorisierung relativ stabil auf hohem Niveau. Der Systemwechsel wird auch dadurch deutlich, dass GI11 im Freundesgespräch nun koronale Varianten verwendet, die in den Wenkersätzen nicht vorkommen. Dies bedeutet, dass die Sprachprobe eindeutig dem Regiolekt zugeordnet werden kann. Dies benennt auch GI11 entsprechend. Er sagt, er spreche eine Mischung aus Hochdeutsch und Hessisch, was er explizit nicht auf den Dialekt bezieht. Diese Mischung deutet von Sprecherseite auf den Regiolekt. In der formellen Situation des Interviews lässt sich im Sprachverhalten von GI11 keine große Veränderung im Vergleich zum Freundesgespräch beobachten. Lediglich für die Variablen Negationspartikel und Koronalisierung können Frequenzrückgänge der regionalen Varianten festgehalten werden. Ansonsten entsprechen die Werte und die regionalen Merkmale (vgl. Tab. A.6) denen des Freundesgesprächs weitgehend. Die Sprachprobe ist somit auch regiolektal und GI variiert intersituativ kaum bzw. gar nicht. Dennoch benennt er die Sprechweise als Hochdeutsch. In der Standardkompetenzerhebung zeigt sich – verglichen mit dem Interview – eine Veränderung des Sprachverhaltens, was durch eine etwas stärkere Orientierung an der Standardsprache zu erklären ist. Die regionalen Varianten der Negationspartikel und der Koronalisierung verwendet GI11 nicht mehr. Er reduziert zudem die Anzahl der standarddifferenten Varianten der t/d-Assimilation sowie der b-Spirantisierung und verwendet weitere regiolektale Merkmale seltener (bspw. gSpirantisierung, Lenisierung). Identische Frequenzwerte im Bezug zum Interview können für die Realisierung der s-Sonorisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung festgehalten werden. Die Sprachprobe entspricht dem Regionalakzent. Der regionalen Markiertheit der Sprechweise ist sich GI11 bewusst, da er diese mit einem mittleren Wert versieht. Der Sprecher GI11 ist dialektkompetent, verwendet den Dialekt jedoch nicht mehr, wie er auch selbst im Interview bestätigt. Im kommunikativen Alltag bewegt er sich sprachlich im Regiolekt und variiert situativ minimal, sodass eine regiolektale Normalsprechweise angenommen werden kann. Die Standardkompetenz entspricht dem Regionalakzent. 7.2.3.3 GI12 GI12 ist in Gießen geboren und hat wie seine gesamte Herkunftsfamilie sein ganzes Leben dort verbracht. Während der zweijährigen Ausbildung in Frankfurt war er an den Wochenenden stets zu Hause. Zur Zeit der Aufnahme war GI12 als Kriminalhauptkommissar im Polizeipräsidium Gießen tätig. Er wurde nach eigenen Angaben in der typisch Gießener Sprechweise primärsozialisiert, die insofern spezifiziert werden kann, als sie für GI12 keinem (bzw. nicht dem) Dialekt entspricht.
272
7 Zentralhessisch
Der Variantenverteilung der Dialektkompetenzerhebung von GI12 ist zu entnehmen, dass der Sprecher nicht mehr dialektkompetent ist. Für mhd. ô und uo sowie std. /ɐ/ produziert er keine dialektalen Varianten529 und für mhd. ei und ou nur noch vereinzelt dialektale Formen, dies jedoch nicht konsistent und nur auf explizite Nachfrage. Ebenso selten verwendet er die n-Apokope und die Koronalisierung. Einzig die standarddifferente Form von nicht realisiert er hochfrequent. Relativ häufig verwendet er die t/d-Assimilation, die s-Sonorisierung und die Tiefschwa-Vorverlagerung. Die regionalen Varianten der b-Spirantisierung sind vergleichsweise selten, was an der Erhebungssituation zu liegen scheint (vgl. WSS). Weitere regiolektale Merkmale (vgl. Tab. A.6) realisiert er hochfrequent. Es handelt sich bei dieser Sprachprobe daher eindeutig nicht um den Dialekt. Es ist davon auszugehen, dass GI12 in dieser Erhebungssituation ausgehend von seiner regiolektalen Normalsprechlage (s. u.) einige singuläre, lexikalisierte Dialektformen auf Nachfrage verwendet.
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Abb. 7-24: Variablenanalyse GI12
Im Freundesgespräch, das er mit GI11 führt, ist sein Sprachverhalten dem in der Übertragung der Wenkersätze relativ ähnlich. Die wenigen dialektalen Relikte verwendet er nicht mehr, die standardabweichenden Varianten der t/d-Assimilation etwas seltener. Die entsprechenden Varianten der b-Spirantisierung neh-
529 Dies gilt auch für die in Tab. A.2 enthaltenen Merkmale.
7.2 Gießen
273
men zu, was aber eher an der Erhebungssituation zu liegen scheint. Eine Zunahme der Frequenzen kann auch für die neuen Varianten der Koronalisierung beobachtet werden.530 Ansonsten sind die Variantenverteilungen und die regiolektalen Merkmale (vgl. Tab. A.6) nahezu identisch mit denen der Dialektkompetenzerhebung. Das Freundesgespräch kann daher dem Regiolekt zugeordnet werden. GI12 beschreibt die Sprechweise mit „so wie mir der Schnabel gewachsen ist“. Dies deutet auf seine gewohnte Sprachverwendung hin, gibt aber wenig Aufschluss über eine vertikale Einordnung. Im formellen Interview können nur wenige Differenzen zum Sprachverhalten im Freundesgespräch ermittelt werden. GI12 verwendet die regionalen Varianten für die Negationspartikel und die Koronalisierung deutlich seltener, die der nApokope, die im Freundesgespräch selten vorkommen, nicht mehr. Eine geringe Abnahme der Frequenzen kann zudem für die Realisierung der t/d-Assimilation beobachtet werden. Für die anderen regionalen Varianten gelten ähnliche bis identische Frequenzwerte wie im Freundesgespräch. Somit ist diese Sprachprobe ebenfalls dem Regiolekt zuzuweisen und bei GI12 ähnlich wie bei GI11 eine geringe intersituative Variation zu erkennen. GI12 benennt die Sprechweise – passend zur Zuordnung zum Regiolekt – als versuchtes Hochdeutsch. In der Standardkompetenzerhebung realisiert GI12 im Vergleich zum Interview die standarddifferenten Formen der Negationspartikel und der Koronalisierung nicht mehr. Die regionalen Varianten der t/d-Assimilation, b-Spirantisierung und s-Sonorisierung verwendet er seltener. Ansonsten gleichen sich die Verteilungen. Dies bedeutet, dass sich GI12 in dieser Erhebung etwas stärker an der Standardsprache orientiert, diese Veränderung des Sprachverhaltens im Vergleich zum Sprachverhalten in den Performanzerhebungen jedoch nicht stark ausgeprägt ist. Die Probe kann dem Regionalakzent zugeordnet werden. GI12 bewertet sein bestes Hochdeutsch als relativ standardnah, was im Vergleich bspw. zu Ulrichstein für den Gießener Regionalakzent zutrifft. Der Sprecher GI12 ist nicht dialektkompetent. Er verwendet im kommunikativen Alltag den Regiolekt und variiert intersituativ kaum. Im Abruf seiner Standardkompetenz nähert er sich ausgehend von der Performanz etwas der Standardvarietät an.
530 Dies könnte ggf. durch seine Zeit in Frankfurt beeinflusst sein. Da GI11 jedoch dasselbe Variationsverhalten hinsichtlich dieser Variablen zeigt, scheint es eher ein typisches Muster für diese Sprechweise zu sein.
274
7 Zentralhessisch
7.2.3.4 GIJUNG1 Der Sprecher GIJUNG1 ist 1993 in Gießen geboren und lebt seitdem in der Stadt. Sein Vater ist Informant GI11 (vgl. 7.2.3.2). Seine Mutter stammt ursprünglich aus Kiel, lebt aber seit ihrer Jugend in Gießen.531 Zur Zeit der Aufnahme war GIJUNG1 Abiturient. Er wurde laut eigenen Angaben auf Hochdeutsch mit leichten hessischen Einflüssen primärsozialisiert.
ͳͲͲΨ
ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-25: Variablenanalyse GIJUNG1
Die Variablenanalyse der dialektintendierten Wenkersätze von GIJUNG1 zeigt, dass der Sprecher nur für mhd. ô eine dialektale Form auf Nachfrage abrufen kann und ansonsten keine Merkmale des zentralhessischen Vokalismus und des Nebensilbenvokalismus realisiert. Dies betrifft auch die weiteren spezifischen Dialektmerkmale. Singuläre Formen (bspw. [fo͡ɪ̹̽ s] Füße) produziert GIJUNG1 noch. Für mhd. ei verwendet er selten dialektale Varianten, meist auch hier nur auf Nachfrage. Die standarddifferenten Formen von mhd. ou und der n-Apokope verwendet er vergleichsweise häufig. Hochfrequent realisiert er nur die regionale Form von nicht, der s-Sonorisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung. Die Frequenzen der Koronalisierung deuten darauf hin, dass er das Merkmal mit dem Dialekt as531 Dies kann einen Einfluss auf das Sprachverhalten haben. Aufgrund der Schwierigkeiten der Akquise eines alternativen Sprechers in Gießen und der Möglichkeit des Vergleichs zu GI11 wurde der Informant dennoch für die Untersuchung verwendet.
7.2 Gießen
275
soziiert. Die sonstige Variantenverteilung entspricht der des Freundesgesprächs. GIJUNG1 verwendet nur vereinzelt typisch zentralhessische Merkmale, hinzu kommen die beschriebene Alternanz und die Hyperformen, sodass die Sprachprobe nicht dem Dialekt entspricht und GIJUNG1 nicht dialektkompetent ist. Die verwendeten Formen kennt er nach eigener Aussage von seinem Vater (GI11). Dass er seine aktive und passive Kompetenz als relativ gut einschätzt, scheint schwierig zu erklären und kann eventuell mit einer anderen Konzeptualisierung des Dialekts einhergehen. Das Freundesgespräch führt GIJUNG1 mit einem Schulfreund. Im Vergleich zum Sprachverhalten in der Dialektkompetenzerhebung ergeben sich wenige Unterschiede. Die dialektalen Formen für mhd. ei und ou sowie der n-Apokope realisiert er nicht mehr – ebenso wenig die zentralhessischen Relikte. Er verwendet die regionalen Varianten der Negationspartikel und der Koronalisierung deutlich seltener. Ansonsten liegen die Frequenzwerte in einem ähnlichen (mittleren) Bereich wie in der Aufnahme der Wenkersätze. Die Sprachprobe kann eindeutig dem Regiolekt zugewiesen werden. Sie ist insgesamt (hauptsächlich durch weitere Frequenzunterschiede, bspw. g-Spirantisierung) etwas standardnäher als die Freundesgespräche der Sprecher der mittleren Generation. GIJUNG1 nennt die Sprechweise Hochdeutsch mit – je nach Bedarf – hessischen Begriffen. Die Sprachprobe des Interviews von GIJUNG1 kann ebenfalls dem Regiolekt zugeordnet werden. Es lässt sich im Abgleich mit dem Sprachverhalten im Freundesgespräch lediglich eine geringe intersituative Variation feststellen. Die wenigen Realisierungen der regionalen Varianten der Negationspartikel gehen ganz zurück. Frequenzunterschiede zeigen die Variantenverteilungen bei der t/dAssimilation und der s-Sonorisierung. Bei den anderen Variationsphänomenen können hingegen ähnliche bis identische Werte der regionalen Varianten beobachtet werden. GIJUNG1 bezeichnet die Sprechweise als Hochdeutsch. In der Standardkompetenzerhebung von GIJUNG1 lassen sich wenige Differenzen zum Interview erkennen. Die standarddifferenten Formen der t/dAssimilation und der Koronalisierung verwendet er seltener bzw. die der Koronalisierung nicht mehr. Die Sprachprobe kann dem Regionalakzent zugeordnet werden. Die geringen Unterschiede bedeuten, dass das Sprachverhalten von GIJUNG1 in den Performanzerhebungen weitgehend seiner Kompetenz entspricht. Unterschiede ergeben sich aus höheren Frequenzen anderer Merkmale (vgl. Tab. A.6) und weiterer Merkmale in den freien Gesprächen (bspw. tElision). GIJUNG1 schätzt sein bestes Hochdeutsch als sehr standardnah ein, was mit den objektlinguistischen Analysen übereinstimmt. GIJUNG1 ist nicht dialektkompetent und verwendet im kommunikativen Alltag den Regiolekt. Er variiert dabei intersituativ kaum und nähert sich im Abruf
276
7 Zentralhessisch
seiner Kompetenz geringfügig der Standardsprache an. Insgesamt erzielt er die größte Annäherung an die Standardvarietät.532 7.2.3.5 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich Die Analyse des rezenten Sprachverhaltens der Gießener Sprecher zeigt, dass der Dialekt keine Bedeutung mehr für den kommunikativen Alltag hat. Ein Sprecher (GI11) beherrscht den Dialekt noch, verwendet ihn im Alltag jedoch nicht mehr. Alle anderen Sprecher kennen lediglich einzelne Dialektformen, bei denen von lexikalisierten Relikten oder bekannten Formen aus dem Umland auszugehen ist. Die bestimmende Varietät in Gießen ist der Regiolekt. Die gesamte Sprachverwendung im kommunikativen Alltag der Gießener Sprecher ist dieser Varietät zuzuordnen. Ein Vergleich zeigt nur geringe Unterschiede im Sprachverhalten der Sprecher, sodass nur ein Sprechertyp ermittelt werden kann. Dieser kann als Regiolektsprecher bezeichnet werden. Der Regiolektsprecher ist nicht (mehr) dialektkompetent und verwendet in der Alltagskommunikation mit geringer (bis minimaler) intersituativer Variation den Regiolekt. In der Erhebung der Standardkompetenz nähert sich der Sprechertyp geringfügig der Standardvarietät an. Aufgrund dieses Variationsverhaltens erhält der Typ den Zusatz moveless. Als Spezifizierung dieses Sprechertyps kann GI11 betrachtet werden, da er dialektkompetent ist. Diese Dialektkompetenz zeigt aber, wie in den Analysen zu sehen ist, keinen Einfluss auf seine sonstige Sprachverwendung. Deswegen scheint dieses Muster nicht die Kriterien eines eigenen Sprechertyps zu erfüllen und kann als Unterkategorie des Regiolektsprechers aufgefasst werden. Der junge Sprecher nähert sich in seinem gesamten Sprachverhalten geringfügig stärker der Standardsprache an. Die quantitativen Unterschiede zu den anderen Sprechern sind jedoch derart gering, dass er demselben Sprechertyp zugeordnet werden kann. Zudem zeigt er dasselbe Variationsmuster.533 Der Vergleich der Variantenverteilung der Sprecher (apparent-time) führt zu dem Ergebnis, dass die vokalischen Dialektmerkmale alle vollständig abgebaut werden bzw. da sie alle kombiniert nur als Ausnahme realisiert werden, dass der Dialekt abgebaut wird. Eine Variabilisierung im Regiolekt lässt sich für die Negationspartikel und Tendenzen bei der s-Sonorisierung und der Koronalisierung festhalten. Ansonsten sind die Merkmale im Regiolekt stabil. Der intergenerationelle Vergleich führt zu zwei Ergebnissen. Der Dialekt stellt für die Stadt Gießen ein Relikt (s. o.) dar. Er hat keine Bedeutung für die
532 An dieser Stelle kann ein Einfluss des Sprachverhaltens der Mutter nicht ausgeschlossen werden. Dass der junge Sprecher die größte Standardannäherung erreicht, entspricht aber den Ergebnissen aller bisher untersuchten Orte. 533 Dennoch ist auch hier zu diskutieren, ob eine weitere Differenzierung vorgenommen werden kann. Vgl. zur Diskussion Kap. 8.2.
7.2 Gießen
277
Kommunikation in der Stadt und ist im vollständigen Abbau begriffen.534 Als zweites Ergebnis kann eine Stabilität für den Regiolekt festgehalten werden. Die Sprecher zeigen ein sehr ähnliches Sprachverhalten. Somit können das Variationsmuster und auch die Varietät als solche als stabil gelten. Als Entwicklungstendenz innerhalb dieser übergreifenden Stabilität kann eine leichte Standardadvergenz des Regiolekts beim jungen Sprecher beobachtet werden. Da es sich um Tendenzen handelt, ist rezent in Gießen nur eine geringe sprachliche Dynamik festzustellen. Die Ergebnisse zu Gießen stimmen mit denen von KEHREIN (2008) überein. KEHREIN (vgl. Kap. 3.5.3) ermittelt einen Regiolektsprecher, der nicht mehr dialektkompetent ist und sich sprachlich in einem schmalen, relativ standardnahen Bereich (Regiolekt) bewegt, ohne dabei stark zu variieren. Zudem schlussfolgert KEHREIN, dass der Dialekt noch nicht vollständig abgebaut wurde. 7.2.4 Zusammenfassung Spektrumstyp
Zwei-Varietäten-Spektrum (Dialekt als Relikt)
Verhältnis Dialekt – Standardsprache
viele Typ1a-Varianten (relativ) wenige Typ1b- und Typ2-Varianten
Prozess der Standardannäherung
sukzessive Standardannäherung (Shiften im Regiolekt)
Sprechertypen
Regiolektsprecher (moveless)
rezente Dynamik/Entwicklungen
Dialektabbau nahezu vollständig vollzogen sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts (+ tw. weiterer Ausbau der Standardkompetenz in jung. Gen.)
534 Der Dialekt als Relikt ist jedoch stabil (geringe Variabilisierungstendenzen und keine neuen regionalsprachlichen Merkmale). Der Dialekt wird hier nicht sukzessive über eine Variabilisierung der Verwendung der Merkmale und regionalsprachliche Interferenzen (vgl. Kap. 7.3) abgebaut, sondern durch eine Nichtweitergabe an Folgegenerationen. Der fortgeschrittene Abbau des Dialekts in Gießen hat Einfluss auf die Entwicklung des Regiolekts. Im Vergleich zu Ulrichstein fällt – trotz gleicher Ausgangslage – auf, dass der Gießener Regiolekt dem aus Ulrichstein zwar prinzipiell ähnelt, aber insgesamt standardnäher ist (vgl. Kap. 7.1.2). Dies lässt sich auf geringere Frequenzen mancher regionaler Merkmale und auf das Fehlen mancher Merkmale (bspw. apikale /r/-Varianten) zurückführen. Als Erklärung könnte folgender Prozess angenommen werden: Durch den fortgeschrittenen Abbau des Dialekts wurden auch remanente Merkmale des Dialekts im Regiolekt abgebaut (bspw. die apikalen /r/-Varianten, wie sie heute noch in Ulrichstein erhoben werden können). Zusätzlich hat sich der Regiolekt im weiteren Verlauf unabhängig vom Dialekt entwickelt, was womöglich eine zunehmende Standardadvergenz zur Folge hatte.
278
7 Zentralhessisch
7.3 BÜDINGEN 7.3.1 Einführung535 Die Gründung der Stadt Büdingen geht auf alte Besiedlungen seit dem 7. Jh. zurück. Seit 1131 ist der Name Budingen durch die Herren zu Büdingen belegt. Er scheint noch älter zu sein und könnte den Namen Bodo/Budo enthalten. Die genaue Namensherkunft ist jedoch umstritten (vgl. DUDEN Bd. 25, 74). Büdingen liegt in der östlichen Wetterau am Übergang zum Vogelsberg an der Seemenbach (vgl. Karte 7-2). Die Stadt zählt zum Rhein-Main-Gebiet (i. e. S.) und ist rund 35 km in nordöstlicher Richtung von Frankfurt entfernt.
Karte 7-2: Lage der Städte Büdingen (BÜD) und Bad Nauheim (FB)
Büdingen gilt als Mittelstadt und ist mit knapp 22.000 Einwohnern die sechstgrößte Stadt im Wetteraukreis. Bis 1972 war sie Kreisstadt des ehemaligen Landkreises Büdingen, bis dieser im Wetteraukreis aufging. Aufgrund dieser Situation bestehen bis heute teilweise Strukturen einer Kreisstadt. Die Stadt setzt sich aus 16 Stadtteilen zusammen (Aulendiebach, Büches, Büdingen, Calbach, Diebach am Haag, Düdelsheim, Dudenrod, Eckartshausen, Lorbach, Michelau, Orleshau-
535 Vgl. zu diesem Abschnitt und für weitere Informationen zur Stadt die Internetseite von Büdingen ().
279
7.3 Büdingen
sen, Rinderbügen, Rohrbach, Vonhausen, Wolf und Wolferborn). Geprägt ist die Kernstadt noch heute von der mittelalterlichen Altstadt, die zu den am besten erhaltenen in Europa zählt. Trotz der relativen Nähe zum Zentrum des Rhein-Main-Gebiets ist die verkehrstechnische Anbindung nicht so gut wie beispielsweise in der westlichen Wetterau. Die nächsten Autobahnanbindungen sind 10 km entfernt und im Straßenverkehr benötigt man ca. 55 Min. nach Frankfurt. Zuganbindungen gibt es im Stundentakt nach Gießen und Gelnhausen. Eine direkte Verbindung nach Frankfurt gibt es nicht, man benötigt ungefähr 60 Min. mit dem Zug. Folgende Sprecher wurden für Büdingen untersucht:536 Sprecher
Geburtsjahr
Wohnort (seit
Beruf
Geburt)
Datum der Aufnahme
Rentner (früher: Mai 2012 Schreiner) Rentner (früher: Mai 2012 Kfz-Mechaniker)
BÜDALT1
1936
Büdingen
BÜDALT2
1939
Büdingen
BÜD1
1955
Büdingen
Berufskraftfahrer April 2011
BÜD3
1957
Büdingen
POK
Mai 2012
BÜDJUNG1
1987
Büdingen
Student
April 2012
Tab. 7-4: Sprecherübersicht Büdingen (BÜD)
7.3.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums 7.3.2.1 Empirische Analysen Die Ergebnisse der phonetischen Dialektalitätsmessung sind in Abb. 7-26 zu sehen. Die Werte liegen im Bereich von 0,5 bis 2,2 und die Spanne zwischen ihnen beträgt somit 1,7. Sowohl der Bereich als auch die Spanne gleichen den Ergebnissen für Gießen (vgl. 7.2.2). Im Vergleich zu Gießen liegen viele Werte der Büdinger Sprachproben eher im unteren Bereich, was eher den Ergebnissen der rhein536 In Büdingen wurde zusätzlich ein zweiter Sprecher der älteren Generation untersucht. Der Sprecher BÜD1 entspricht nicht den REDE-Kriterien (vgl. Kap. 4.2.2). Er wurde für vorherige Studien zu Büdingen erhoben, u. a. da er den Basisdialekt noch tw. beherrscht. Für Büdingen konnte kein zweiter Polizist akquiriert werden, der den Kriterien entsprochen hätte, weswegen BÜD1 für die vorliegende Studie ausgewählt wurde. Die Analysen zeigen, dass er dem Sprechertypen der mittleren Generation (BÜD3) entspricht (vgl. Kap. 7.3.3), sodass keine Verzerrungen in den Analysen zu Büdingen im Vergleich mit den anderen Untersuchungsorten zu erwarten sind. Weitere mögliche Einflüsse werden im Fortlauf des Kapitels diskutiert.
280
7 Zentralhessisch
fränkischen Orte ähnelt (vgl. 5.1.2, 5.2.2). Vergleicht man die Büdinger Sprecher miteinander, lässt sich feststellen, dass der Sprecher BÜDALT1 insgesamt die höchsten Werte erreicht und der Sprecher BÜDJUNG1 die niedrigsten. Des Weiteren scheint es Unterschiede im Sprach- und Variationsverhalten zu geben. Hinweise auf eine mögliche Strukturierung des Spektrums werden am oberen Ende der Grafik deutlich, in dem sich die mögliche Varietätengrenze zur Standardsprache abzeichnet. Weitere Abgrenzungen sind vergleichsweise schwierig zu erkennen. Möglicherweise könnte es aufgrund der Abstände zwischen den Sprachproben im Bereich von 2,0 sowie im Bereich zwischen 1,3–1,4 weitere Differenzierungen im regionalsprachlichen Teil des Spektrums geben, die auf Varietäten- und Sprechlagengrenzen hindeuten.
phon. Dialektalitätswerte
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o ͳ
Abb. 7-26: D-Werte für Büdingen
In Abb. 7-27 sind die Ergebnisse der Clusteranalyse für die Büdinger Sprachaufnahmen dargestellt, die auf Grundlage der Variablenanalysen (vgl. Abb. 7-28–31) durchgeführt wurden. Die erste Clusterung führt zu den Clustern I und II, die wiederum jeweils in zwei Cluster unterschieden werden können. Auf dieser Stufe der Clusterung legen die Ergebnisse eine Vier-Cluster-Lösung nahe.
281
7.3 Büdingen
Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
5
10
15
20
25
Interv._BÜDALT2 FG_BÜDALT2 FG_BÜD1 WSD_BÜDJUNG1
2 FG_BÜD3
I
Interv._BÜDALT1 WSD_BÜDALT2 FG_BÜDALT1 WSD_BÜDALT1
1
WSD_BÜD3 WSD_BÜD1 WSS_BÜDJUNG1
4
Interv._BÜDJUNG1 FG_BÜDJUNG1 Interview_BÜD1
II
Interview_BÜD3 WSS_BÜDALT2
3 WSS_BÜD3 WSS_BÜDALT1 WSS_BÜD1
Abb. 7-27: Dendrogramm für Büdingen (BÜD)
Cluster 1 setzt sich aus den Dialektkompetenzerhebungen der Sprecher BÜDALT1, BÜD1 und BÜD3 zusammen. Das zweite Cluster (2) besteht aus acht Sprachaufnahmen: den Dialektkompetenzerhebungen der anderen beiden Sprecher, den Freundesgesprächen der Sprecher der älteren und mittleren Generation und den Interviews der Sprecher der älteren Generation. Cluster 3 fasst die Interviews der Sprecher der mittleren Generation und die Standardkompetenzerhebungen der Sprecher der älteren und mittleren Generation zusammen. Cluster 4 ent-
282
7 Zentralhessisch
hält das Freundgespräch, das Interview und die Standardkompetenzerhebung des jungen Sprechers. Der Hauptunterschied wird zwischen den Clustern I und II gebildet (Clusterung erster Stufe), was einen Hinweis auf eine mögliche Varietätengrenze gibt. Innerhalb des zweiten Clusters ist eine Subdifferenzierung möglich. Die Sprachproben der Performanzerhebung von BÜDALT1 und der dialektintendierten Wenkersätze von BÜDALT2 scheinen sich von den restlichen Aufnahmen des Clusters zu unterscheiden. Dieser Unterschied ist im Vergleich der Abstände jedoch derart gering, dass die Annahme zweier getrennter Cluster nicht sinnvoll erscheint. Die Clusterlösung und die darauf abgeleiteten Hinweise müssen mit den Ergebnissen der Variablenanalysen kombiniert werden, um sie zu überprüfen und weitere Erkenntnisse zur Struktur des Spektrums zu erhalten.537 Cluster 1 fasst die dialektintendierten Wenkersätze von BÜDALT1, BÜD1 und BÜD3 zusammen (vgl. Abb. 7-28). Die dialektalen Varianten von mhd. ô werden in zwei Sprachproben hochfrequent realisiert und sind in den Wenkersätzen des alten Sprechers nicht (mehr) vorhanden, das heißt bereits vollständig abgebaut. Der dialektale Diphthong für mhd. uo wird im gesamten Cluster (hoch-)frequent verwendet. Die Realisierungen variieren dabei gering. Der konsonantische -Auslaut wird von BÜD1 vergleichsweise häufig verwendet und kommt in den anderen beiden Aufnahmen selten vor. Die standarddifferenten Varianten von mhd. ei bis zur Koronalisierung werden in diesem Cluster durchgängig hochfrequent realisiert. Lediglich bei der Koronalisierung sind die durchschnittlichen Frequenzwerte der standardabweichenden Variante im Vergleich zu den anderen konsonantischen Dialektformen geringfügig niedriger. Die Variable Tiefschwa-Vorverlagerung steht im Verhältnis zur Variable std. /ɐ/. Es liegt keine exakt reziprok proportionale Variantenverteilung vor, doch annäherungsweise lässt sich diese erkennen. Insgesamt sind die Frequenzwerte der neuen regionalen Varianten recht hoch.538 In diesem Cluster werden also die ausschließlich zentralhessischen Varianten teilweise nicht mehr realisiert, teilweise (hoch-)frequent, insgesamt also mit ausgeprägter Variation. Alle anderen standardabweichenden Merkmale werden durchgängig hochfrequent verwendet – inklusive der neuen regionalsprachlichen Merkmale mit der genannten Ausnahme bei der TiefschwaVorverlagerung. Es gibt in dieser standardfernsten Sprechweise in Büdingen Hinweise auf den Basisdialekt, gleichzeitig aber auch auf regionalsprachliche Entwicklungen.539
537 Vgl. für die absoluten und relativen Werte Tab. A.7 im Anhang. Zur Darstellung und Dateninterpretation sowie -kombination vgl. Kap. 4.3.2., 5.1.2. 538 Die s-Sonorisierung wird analog zu den anderen Untersuchungsorten als Merkmal des Basisdialekts gewertet. Vgl. Kap. 7.1.2 und Kap. 8.4.2. 539 Eine genaue Zuordnung erfolgt am Ende aller Analysen.
283
7.3 Büdingen ̴oͳ
̴oͳ
̴o͵
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-28: Variablenanalyse Cluster 1 (BÜD)
In Cluster 2 (vgl. Abb. 7-29) werden die dialektalen Varianten von mhd. ô, uo und std. /ɐ/ nicht mehr realisiert.540 Sie sind in diesem Cluster vollständig abgebaut, was für mhd. ô teilweise schon in Cluster 1 der Fall ist und sich bei std. /ɐ/ dort bereits abzeichnet. Im Vergleich zum ersten Cluster lässt sich bei mhd. ei, ou, der n-Apokope, der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung eine Variabilisierung im Gebrauch der standarddifferenten Variante erkennen. Mitunter sind die Rückgänge der Durchschnittsfrequenzen der dialektalen Varianten hoch (bspw. mhd. ei), zum Teil aber auch niedrig (bspw. t/d-Assimilation). Die Verteilung der standarddifferenten Varianten von mhd. ei und ou ist insgesamt durch Varianz der Frequenzwerte gekennzeichnet; für mhd. ei sind die Dialektformen in manchen Sprachproben des Clusters bereits vollständig abgebaut. Die Frequenzwerte der regionalen Varianten der s-Sonorisierung, der Negationspartikel und der Koronalisierung sind nahezu identisch mit denen des ersten Clusters. Der Frequenzwert für die Tiefschwa-Vorverlagerung steigt im Vergleich zu Cluster 1, da keine dialektalen Varianten für den -Auslaut mehr produziert werden. Das Cluster lässt sich nicht mehr mit dem Basisdialekt in Verbindung bringen und scheint
540 Im Freundesgespräch von BÜD1 kommt es für mhd. uo in einem von elf Fällen zu einer dialektalen Realisierung. Hier kann bei diesem singulären Auftreten von einem besonderen Fall ausgegangen werden. Am Ende der Analysen wird hierauf nochmals Bezug genommen.
284
7 Zentralhessisch
daher dem Regiolekt zu entsprechen. Die Subdifferenzierung tritt nicht sehr deutlich hervor. Sie kann auf allgemein höhere Frequenzwerte der regionalsprachlichen Varianten in den drei Sprachproben (Interview und dialektintendierte Wenkersätze von BÜDALT2 und Freundesgespräch von BÜDALT1) zurückgeführt werden. Insgesamt scheint die Zusammenfassung zu einem Cluster gerechtfertigt. ̴oͳ ̴oʹ ̴o͵
̴oͳ ̴oʹ ̴o ͳ
̴oʹ ̴oͳ
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-29: Variablenanalyse Cluster 2 (BÜD)
Cluster 3 (vgl. Abb. 7-30) gruppiert die Interviews der Sprecher der mittleren Generation und alle Standardkompetenzerhebungen außer der des jungen Sprechers. Im Vergleich zum zweiten Cluster werden in diesem Cluster die dialektalen Formen von mhd. ei vollständig abgebaut, was auch in manchen Sprachproben des zweiten Clusters bereits der Fall ist. Realisierungen in einem niedrigen Frequenzbereich mit geringer Variabilität und dem vollständigen Rückgang in einigen Sprachproben können für die regionalen Varianten von mhd. ou, der n-Apokope und der Negationspartikel festgehalten werden. Etwas frequenter und mit höherer Variation werden die dialektalen Merkmale der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung produziert. Im Vergleich zu Cluster 2 lässt sich im Gebrauch von vier regionalen Merkmalen also eine zunehmende Variabilisierung erkennen. Ein hoher und abrupter Frequenzrückgang ist allerdings nur bei den standarddifferenten Formen von nicht zu sehen. Die Frequenzwerte der regionalen Varianten der sSonorisierung, der Koronalisierung und der Tiefschwa-Vorverlagerung bleiben unverändert auf hohem Niveau.
285
7.3 Büdingen
ͳͲͲΨ
̴oͳ ̴oͳ
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̴oͳ
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ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-30: Variablenanalyse Cluster 3 (BÜD)
Das vierte Cluster enthält die Sprachproben der Performanzerhebungen und der Standardkompetenzerhebung des jungen Sprechers (vgl. Abb. 7-31). Es zeichnet sich dadurch aus, dass zusätzlich die dialektalen Varianten von mhd. ou und der n-Apokope nicht mehr realisiert werden.541 Für die standarddifferenten Varianten von nicht, der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung lassen sich eine ähnliche Verteilung und ähnliche Frequenzwerte wie im dritten Cluster ermitteln. Ein deutlicher Unterschied zum vorherigen Cluster wird bei der s-Sonorisierung und der Koronalisierung sichtbar. Die regionalsprachlichen Merkmale werden deutlich seltener realisiert und die Verwendung variiert kaum. Sie werden aber nicht vollständig abgebaut. Für die standarddifferente Variante der Tiefschwa-Vorverlagerung sind in Bezug zu Cluster 3 etwas niedrigere Frequenzen bei geringer Variation der Realisierungen zu erkennen.
541 Auch dies ist bereits in einigen Sprachproben in Cluster 3 der Fall. Im Freundesgespräch von BÜDJUNG1 tritt für die n-Apokope eine singuläre dialektale Form auf.
286
7 Zentralhessisch
̴o ͳ
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̴o ͳ
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Abb. 7-31: Variablenanalyse Cluster 4 (BÜD)
Die Betrachtung der einzelnen Cluster zeigt, dass die Varietätengrenze zur Standardsprache an den remanenten regionalen Merkmalen, insbesondere der s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung, deutlich wird. Die standardabweichenden Varianten der s-Sonorisierung und Koronalisierung werden in allen Sprachproben, außer den freien Gesprächen und der Standardkompetenzerhebung des jungen Sprechers, hochfrequent produziert und kaum variiert. Sie scheinen von diesen Sprechern nicht kontrolliert werden zu können und prägen das gesamte regionalsprachliche Spektrum (vgl. auch das rheinfränkische Spektrum). Nur der junge Sprecher realisiert sie deutlich seltener, kontrolliert sie jedoch auch nicht vollständig. Er scheint bei diesen beiden regionalen Merkmalen an der Überwindung der Varietätengrenze zu „arbeiten“ (vgl. dazu Kap. 6.2, 6.3.5, zur Struktur des Spektrums s. u.). Die neue Variante des -Auslauts wird in fast allen Sprachproben hochfrequent verwendet und variiert dabei geringfügig. Hier zeichnet sich die Grenze deutlich ab und scheint auch nicht überwunden zu werden. Etwas geringere Frequenzen dieser Variante kommen in den Sprachproben des ersten Clusters vor und sind dort durch die konsonantischen Varianten bedingt. Dies betrifft jedoch das untere Ende des Spektrums und nicht die Grenze zur Standardsprache (s. u.). Außerdem kann ein ähnliches Verteilungsmuster bei den Variablen mhd. ô, uo und std. /ɐ/ beobachtet werden. Die dialektalen Varianten werden nur in den Sprachproben aus Cluster 1 realisiert. Die Verwendung der Merkmale ist dort jedoch durch Variabilität gekennzeichnet. Die standarddifferen-
7.3 Büdingen
287
te Variante von mhd. ô wird in einer Sprachprobe des Clusters bereits nicht mehr realisiert und in zwei Sprachproben gibt es sehr geringe Frequenzwerte für den konsonantischen -Auslaut. Es handelt sich also um ein ähnliches, nicht aber identisches Verteilungsmuster. In der Verwendung der anderen regionalsprachlichen Merkmale kann eine durchgehende Variabilisierung festgestellt werden. Die Realisierungen der standarddifferenten Varianten sinken sukzessive ohne erkennbares Muster. Ein hoher Rückgang der Auftretenshäufigkeit, dem keine Variabilisierung vorausgeht, ist lediglich in der Verteilung der regionalen Variante der Negationspartikel zu sehen (vgl. Abb. 7-29–30). Das bedeutet, dass sich keine kombinierten und systematischen Unterschiede in den Frequenzrückgängen erkennen lassen. Auch vollständige Rückgänge der regionalen Varianten gehen stets mit einer Variabilisierung einher und finden zwischen verschiedenen Sprachproben (verschiedener Clustern), oft auch innerhalb der Sprachproben eines Clusters statt – so wird der Monophthong für mhd. ei bereits innerhalb des zweiten Clusters abgebaut, der für mhd. ou erst innerhalb des dritten Clusters.542 Außer bei den Variationsphänomenen s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung streuen die Frequenzwerte über die Sprachproben und die Wertdifferenzen über die Variablen. Dies ähnelt dem Ergebnis der Analysen zu den rheinfränkischen Orten. Eine Ähnlichkeit zu den zentralhessischen Orten ist in der Verteilung bei mhd. ô, uo und std. /ɐ/ zu erkennen, obwohl die dialektalen Varianten in Büdingen seltener realisiert werden und dabei stärker variieren. Als weiterer Unterschied kommt hinzu, dass sie im Gegensatz zu den Ulrichsteiner und Gießener Sprachproben unabhängig von den Monophthongen für mhd. ou und ei abgebaut werden – der kombinatorische Ersatz der vokalischen Dialektvarianten durch standardsprachliche Formen ist ein Kennzeichen der bisherigen Spektren im Zentralhessischen. In Büdingen werden diese regionalen Merkmale unabhängig von mhd. ou und ei und für mhd. ô auch unabhängig voneinander nicht (mehr) realisiert. Es lässt sich zwar ein gewisses Muster erkennen, dieses ist aber in sich nicht konsistent und quantitativ schwach ausgeprägt – es betrifft zwei bis drei Variablen, drei Sprachproben und die Streuung der Frequenzwerte ist relativ hoch. Zusammengefasst werden kann, dass für den regionalsprachlichen Teil des Spektrums in Büdingen die Variantenfrequenzwerte stark gestreut sind und es keine kombinierten und systematischen Unterschiede in der Variantenverteilung
542 Zwar lässt sich zwischen den Sprachproben des zweiten und dritten Clusters eine große Differenz vieler Mittelwerte erkennen, was einen systematischen und kombinierten Unterschied zwischen den Clustern nahelegen würde. Es muss jedoch auch die Streuung der Frequenzwerte beachtet werden, die insgesamt eine durchgehende Variabilisierung der Merkmalsrealisierungen zeigt. Als Beispiel kann die b-Spirantisierung dienen. Die Mittelwerte der regionalen Varianten differieren deutlich, gleichzeitig sind die einzelnen Werte stark gestreut, sodass sich insgesamt bei dieser Variable eine sukzessive Reduktion der dialektalen Varianten im Vergleich von Cluster 2 und 3 beobachten lässt (vgl. auch Abb. 7-29 und 7-30).
288
7 Zentralhessisch
gibt. Das heißt, dass sich empirisch keine regionalsprachliche Varietätengrenze ermitteln lässt und es in Büdingen keine diskreten Varietäten zu geben scheint. Dieser Befund wird durch den konkreten Bezug zur Clusteranalyse bestätigt. Diese bildet den Hauptunterschied zwischen Cluster 2 und 3. Bei der Analyse der Variantenverteilungen kann zwischen beiden kein kategorialer Unterschied beobachtet werden, so wird beispielsweise die standarddifferente Variante von mhd. ei bereits in einigen Sprachproben des zweiten Clusters nicht mehr produziert. Vergleicht man auch hier die beiden ähnlichsten Sprachproben der unähnlichsten Cluster miteinander, so betrifft dies das Freundesgespräch von BÜD3 und das Interview von BÜD1. Im direkten Abgleich sind die Frequenzwerte für vier standardabweichende Merkmale identisch und bei weiteren sieben ergeben sich nur minimale Frequenzdifferenzen. Einzig die regionale Formen von nicht und der nApokope produziert BÜD3 häufiger als BÜD1. Es liegt demnach zwischen beiden Sprachproben kein kategorialer Unterschied, sondern lediglich für zwei Variablen ein (großer) Unterschied in den Variantenfrequenzen vor, der die mögliche Varietätengrenze konstituieren würde. Dies spricht sowohl aus quantitativen als auch aus qualitativen Gründen543 gegen eine mögliche Varietätengrenze und bestätigt die bisherigen Schlussfolgerungen.544 Ein weiteres Argument gegen eine mögliche Varietätengrenze ist, dass keine Hyperdialektalismen vorkommen (zu BÜDJUNG1 vgl. Fn. 398). Dies ist – wie in den anderen Untersuchungsorten – kein hinreichender Grund gegen eine Varietätengrenze, stützt in den Büdinger Analysen aber die bisherigen Erkenntnisse.545 Die empirischen Ergebnisse deuten somit – ähnlich wie im Rheinfränkischen – auf ein regionalsprachliches Kontinuum ohne diskrete Varietäten hin.546 Eine zusätzliche Bestätigung der empirischen Ergebnisse kann durch die Implikationsanalyse erbracht werden, deren Ergebnisse in Abb. 7-32 dargestellt sind.547 Für Büdingen können vier Variablen bestimmt werden, deren regionale Varianten in allen Sprachproben vorhanden sind. Sie sind somit als remanent zu bezeichnen und zeigen die Varietätengrenze zur Standardsprache an. Bei den anderen Variablen kann in der kategorialen Variantenverteilung kein übergreifendes,
543 Es handelt sich lediglich bei zwei Merkmalen um Frequenzunterschiede. Zudem sind, wie gezeigt wurde, beide Merkmale nicht konstitutiv für eine Varietätengrenze (vgl. Kap. 5.1.2). 544 Dass die Clusteranalyse hier die Hauptdifferenzierung vornimmt, liegt daran, dass kein systematischer und kombinierter Unterschied in den zur Differenzierung beitragenden Variantenverteilungen besteht, hier aber sowohl in der Anzahl der Merkmale als auch in der Höhe der Werte die größte Frequenzreduktion der Mittelwerte besteht. Wie gezeigt werden kann, geht diese jedoch mit einer ausgeprägten Variabilisierung der Verwendung der Merkmale (außer bei nicht) einher (s. o.). 545 Vgl. auch die Ergebnisse zu Bad Nauheim (Kap. 7.4.2). 546 Dass es sich hierbei nicht um eine methodisch bedingte Verzerrung der Ergebnisse handelt (bspw. ein zu geringe Anzahl verschiedener Variablen), zeigt der direkte Vergleich mit Gießen und Ulrichstein, deren Analysen mit denselben Merkmalen und derselben Anzahl andere Ergebnisse erzielen. 547 Vgl. zur Legende Fn. 361.
289
7.3 Büdingen
gemeinsames Muster erkannt werden. Es lassen sich aufgrund identischer Variantenverteilungen zwei Gruppen aus je zwei Variablen bilden (std. /ɐ/ und mhd. uo, mhd. ou und n-Apokope),548 ansonsten lassen sich keine Gruppen bzw. vier Gruppen aus je einer Variablen zusammenfassen. Die standarddifferenten Varianten verteilen sich insgesamt unterschiedlich auf die Sprachproben. Bei der Fokussierung der Sprachproben können sieben Gruppierungen (tw. einzelne Aufnahmen) vorgenommen werden, die sich in zwei Fällen – eingeschränkt (vgl. Fn. 548) – durch das Vorhandensein zweier regionaler Merkmale und sonst nur durch das Vorhandensein eines regionalen Merkmals unterscheiden. [ɐ]VV
Kor.
[s]
[b]
[nd]
nicht
[n]
ou
ei
[ɐ]
uo
ô
WSD_BÜD1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
WSD_BÜD3
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
WSD_BÜDALT1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
0
FG_BÜDALT1
1
1
1
1
1
1
1
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Abb. 7-32: Implikationsanalyse Büdingen
Im Gesamtvergleich der kategorialen Verteilungen der standarddifferenten Varianten, die zur Differenzierung beitragen, kann kein kombinierter und systematischer Unterschied festgestellt werden. Die regionalen Merkmale werden – insge548 Die Deviation bei mhd. uo und der n-Apokope (vgl. Abb. 7-32) zeigen, dass die Gruppenbildung nur eingeschränkt möglich ist und hier keine identische Variantenverteilung vorliegt.
290
7 Zentralhessisch
samt betrachtet – sukzessive abgebaut (vgl. Stufenschema in Abb. 7-32). Daher kann angenommen werden, dass ein regionalsprachliches Kontinuum ohne Varietätengrenze vorliegt, was die bisherigen Ergebnisse bekräftigt. 7.3.2.2 Theoretische Analysen Es erfolgt wie in den anderen Untersuchungsorten eine theoretische Betrachtung der Merkmale, um die bisherigen Ergebnisse zu überprüfen. Büdingen liegt dialektgeografisch in demselben Dialektverband wie Ulrichstein und Gießen (Zentralhessisch), weswegen die Ergebnisse der dortigen Analysen herangezogen werden können. Diese haben ergeben, dass der zentralhessische Dialekt als Ganzes strukturell eine große Distanz zur Standardsprache aufweist (viele Typ1a-, wenige Typ1b- und Typ2-Varianten). Die Dialektsprecher können sich nicht sukzessive der Standardsprache annähern, sondern müssen über den Aufbau neuer Strukturen ein neues System erwerben (den Regiolekt) und die Systeme bei Bedarf wechseln. Des Weiteren sind die meisten dialektalen Merkmale kleinräumig verbreitet, sodass die Kriterien für die Dialektdefinition als Vollvarietät in Abgrenzung zur Vollvarietät Regiolekt erfüllt werden (vgl. v. a. Kap. 7.1.2, Tab. 7-2).549 Im Cluster 1 der Büdinger Analysen zeichnet sich der Basisdialekt aufgrund der Variantenverteilung der zentralhessischen Vokalmerkmale ab (vgl. Abb. 7-28). Diese Merkmale werden in den zugeordneten Sprachproben produziert, hinzu kommen teilweise weitere spezifisch zentralhessische Merkmale, wie die qualitative Auswertung ergeben hat. Zu nennen sind hier beispielsweise die Realisierung von mhd. üe als [ɔ͡ɪ], die Realisierung von mhd. i1 als [ɪ͡ə] und der Rhotazismus (vgl. Tab. A.3).550 Zudem ist zu erkennen, dass in zwei der Sprachproben die neuen regionalsprachlichen Phänomene der Koronalisierung und der TiefschwaVorverlagerung im Vergleich seltener produziert werden. Das heißt, in diesen Sprachproben könnte vor allem aufgrund der Qualität der Merkmale der Dialekt – ähnlich wie bei den Gießener Analysen – abgegrenzt werden. Bei diesen theoretischen Ausführungen muss die tatsächliche Verteilung berücksichtigt werden. Wie zu sehen ist, werden die ausschließlich zentralhessischen Varianten nur noch selten, nicht konsistent und nicht von allen Sprechern des Clusters produziert und variieren dabei insgesamt stark. Dies gilt auch für die sonstigen, in Tab. A.3 aufgeführten Merkmale (vgl. Fn. 550). Des Weiteren werden die neuen regionalsprachlichen Merkmale in diesen Sprachproben, wenn auch im Vergleich seltener, so doch insgesamt hochfrequent verwendet – im Gegensatz zum ermittelten Dialekt in Ulrichstein und Gießen. Insgesamt sind die basisdialektalen Merkmale also
549 Dies gilt nicht für alle Merkmale des Konsonantismus und die lexikalischen Variable. Vgl. Kap. 5.1.2. 550 Aufgrund zu geringer Belegzahlen (v. a. in den Wenkersätzen) konnten die Merkmale nicht quantitativ analysiert werden. Die qualitative Auswertung zeigt aber eine vergleichbare Verteilung.
7.3 Büdingen
291
in ihrer Realisierung bereits variabel und kommen selten, meist nur in der Abfrage des Dialektes vor. Gleichzeitig werden die neuen regionalsprachlichen Merkmale im intendierten Dialekt hochfrequent verwendet. Es lässt sich bei dieser Sprechweise mit BELLMANN (1983, 123) von „Restdialektalität“ bzw. „Reste(n) des Basisdialekts“ sprechen. Dieser Basisdialektrest bildet kein eigenes, vom Regiolekt diskret differentes System mehr (vgl. bspw. Kap. 7.1.2). Insgesamt sind keine eigenständigen Strukturen mehr vorhanden. Es scheint kein System als Ganzes mehr zu bestehen, sondern einzelne Formen und singuläre Strukturen, die noch teilweise abgerufen werden können – mitunter ist bei singulärem Vorkommen von lexikalischen Relikten auszugehen.551 Gleichzeitig werden im intendierten Basisdialekt die neuen, genuin nicht basisdialektalen Merkmale hochfrequent realisiert. Synchron lässt sich also ein Basisdialektrest als Produkt eines Sprachwandelprozesses feststellen – ein absoluter Abbau basisdialektaler Merkmale und ein Aufbau neuer regionalsprachlicher Merkmale (vgl. zu den sprachdynamischen Prozessen und zum Vergleich mit Gießen Kap. 7.3.4).552 Aus der Perspektive der Sprachdynamiktheorie und des einzelnen Sprechers bedeutet dies, dass der Büdinger „Dialekt“-Sprecher über kein eigenständiges dialektales System mehr verfügt. Er kann einerseits bei Bedarf dialektale Formen produzieren. Andererseits kann er in überregionaler Kommunikation eine dialektnahe (regiolektale) Sprechweise verwenden. Diese gleicht dem standardfernen Bereich des rheinfränkischen Kontinuums (vgl. Kap. 5.1.2). Ausgehend von dieser Sprechweise kann sich der Sprecher bei Bedarf sukzessive der Standardsprache annähern.553 Dies scheint aus theoretisch-kommunikativer Sicht die Grundlage des Ausbaus des Spektrums zu sein (vgl. auch Fn. 578). 7.3.2.3 Zusammenführung In Büdingen könnte theoretisch – hauptsächlich aufgrund der Struktur des zentralhessischen Vokalismus – eine regionalsprachliche Varietätengrenze angenommen werden.554 Die Verbindung der theoretischen mit den empirischen Analysen zeigt,
551 Kein Merkmal wird durchgehend realisiert und kein Sprecher kann alle Merkmale abrufen. 552 Aufgrund dieser Struktur ist die Sprechweise auch als Basisdialektrest zu definieren. Einzelne basisdialektale Merkmale bleiben (tw.) erhalten, gleichzeitig treten neue Merkmale hinzu. Dies kann als Mischung beschrieben werden, bzw. als Rest eines sich verändernden Basisdialekts im Gesamtspektrum, der noch nicht vollständig abgebaut ist. 553 Dies zeigt sich deutlich im Vergleich des Sprachverhaltens aller Sprecher (vgl. Abb. 7-33). Das Spektrum wird von unten sukzessive ausgebaut. Dadurch entstehen rezent ein mittlerer Bereich und das Kontinuum (vgl. Kap. 5.1.2 und als Kontrast Kap. 7.1.2). 554 Die Monophthonge für mhd. ei und ou sind nicht kleinräumig verteilt und oft lexikalisch gestützt, sodass sie nicht der Dialektabgrenzung dienen können. Dass sie einen anderen Status als der restliche Vokalismus haben, zeigt auch die Verteilung der Varianten in den vorliegenden Sprachproben. Sie werden nicht in Kombination mit den anderen vokalischen Dialekt-
292
7 Zentralhessisch
dass dies jedoch nicht der Fall ist.555 Sie legt folgende Modellierung des Spektrums nahe: es gibt in Büdingen einen Basisdialektrest,556 der kein eigenständiges System mehr darstellt. Er ist mit den Worten BELLMANNS (1983, 123) „Bestandteil des mittleren Bereichs [… eines] sprechsprachlichen Gesamtsystem[s]“, also in der Terminologie dieser Arbeit Teil eines regionalsprachlichen Kontinuums. Dieses ergibt sich aus den empirischen Analysen. Sie zeigen, dass keine regionalsprachliche Varietätengrenze ermittelt werden kann, sodass – analog zum Rheinfränkischen – ein Kontinuum angenommen wird (s. o.) und als Teil dessen der Basisdialektrest. Dieser indiziert zwar eine alte Varietätengrenze, wie sie bspw. in Ulrichstein nachgewiesen werden kann, in Büdingen aber im Schwinden begriffen ist.557 Er geht rezent kontinuierlich – verbunden durch einen Übergangsraum – in den Regiolekt über.558 Innerhalb des Kontinuums können der Basisdialektrest und der Regiolekt als Bereiche näherungsweise bestimmt und über Merkmale charakterisiert werden (vgl. Tab. A.3). Der Regionalakzent zeichnet sich aufgrund von Sprachverwendungsmustern als Sprechlage am oberen Pol des Kontinuums ab. Eine genaue Abgrenzung ist schwierig, doch ist eine Charakterisierung über Merkmale möglich. Die Standardkompetenzerhebungen aller Sprecher und die freien Gespräche des jungen Sprechers können dem Regionalakzent zugeordnet werden.559 Hierbei baut der junge Sprecher seine Standardkompetenz aus und ver-
555
556 557 558
559
merkmalen abgebaut wie in Ulrichstein und Gießen, sondern auch unabhängig von diesen realisiert (ähnlich wie im Rheinfränkischen). Vgl. auch Abb. 7-26, in der keine deutliche Abgrenzung wie bspw. in Ulrichstein (Kap. 7.1.2) zu sehen ist. Ein Abgleich mit der Zusammensetzung der Dialektalitätswerte (vgl. auch Kap. 7.3.3) bestätigt dies zusätzlich. Dies wird auch von den Sprechern so gesehen (vgl. Kap. 7.3.3) und stützt damit die Konzeptualisierung als Basisdialektrest. Der Prozess, der zum Schwinden dieser Varietätengrenze führt, wird in Kap. 7.3.4 genauer beschrieben. Für die Klassifizierung des Sprechweise müssen auch an dieser Stelle die zugeordneten Sprachproben (das Sprachverhalten) zusammen betrachtet werden. Dies lässt für Büdingen die Annahme des Basisdialektrests zu. Individuell können dabei höhere Kompetenzen vorhanden sein (vgl. BÜD1), doch zeigt sich auch in der Sprachverwendung dieser Sprecher, dass es sich um einen basisdialektalen Rest handelt. Durch die Variabilität der Verwendung der regionalen Merkmale und dadurch, dass keine diskrete Varietätengrenze (mehr) vorliegt, kann auch keine genaue Abgrenzung vorgenommen werden, sondern können lediglich Sprachproben – ähnlich wie im Rheinfränkischen – näherungsweise einem Bereich zugeordnet werden. So ist es auch zu erklären, dass in Sprachproben, die im Vergleich zur standardfernsten Probe einem standardnäheren Bereich zugeordnet wurden (vgl. FG BÜD1, Fn. 540), mitunter basisdialektale Formen produziert werden. Es ist keine feste Grenze (mehr) vorhanden und die Verwendung variiert relativ frei – im Gegensatz zu VB und GI. Vgl. auch Kap. 7.3.3.1. und 7.3.3.3. Tw. können Lexikalisierungen nicht ausgeschlossen werden, da diese Verteilung aber unterschiedliche Sprecher und Fälle betrifft, spricht dies für die vorliegende Interpretation. Auch der Abgleich mit den Dialektalitätswerten und den qualitativen Analysen bestätigt, dass in diesem Bereich (zwischen den Interviews von BÜD1+3 und den Standardkompetenzerhebungen) von einer Sprechlagengrenze auszugehen ist. Bei weiteren Merkmalen des Regio-
293
7.3 Büdingen
sucht, für die genannten Merkmale die Grenze zur Standardvarietät zu überwinden. Das heißt, er baut den Regiolekt nach oben aus bzw. überwindet ggf. irgendwann die Grenze zur Standardsprache (vgl. Kap. 7.3.3.5). Weitere Sprechlagen können – analog zu den anderen Untersuchungsorten – auf Grundlage der empirischen Ergebnisse nur schwer ermittelt werden, sodass darauf verzichtet wird. Das Spektrum in Büdingen kann also grafisch unter Hinzuziehung der phonetischen Dialektalitätswerte wie folgt modelliert werden:
regionalsprachliches Kontinuum
Standardsprache
Regionalakzent
Regiolekt
Übergangsraum Basisdialektrest
Abb. 7-33: Modellierung des Spektrums für Büdingen (BÜD)
lekts (vgl. Tab. A.4) ist eine zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs zu beobachten. Die Qualität der regionalen Merkmale (bspw. g-Spirantisierung, a-Verdumpfung, Lenisierung) zeigt, dass sie keine Varietätengrenze konstituieren. Aufgrund der Verteilung scheint keine genaue Abgrenzung möglich (vgl. Kap. 5.1.2), deutet sich aber an. Bei genauerer Betrachtung der Variablenanalysen zeichnet sich diese Abgrenzung dort ebenso ab.
294
7 Zentralhessisch
7.3.3 Sprachverhalten 7.3.3.1 BÜDALT1 Der Sprecher BÜDALT1 ist 1936 in Büdingen geboren und lebt seitdem in der Stadt. Seine Eltern und Großeltern kommen ebenfalls aus Büdingen. Zur Zeit der Aufnahmen war er Rentner, zuvor leitete er als Meister seine eigene Schreinerei in Büdingen. Er gibt an, dass er im Büdinger Platt primärsozialisiert worden sei, in der Kindheit aber auch viel Zeit mit einer Tante verbracht habe, die kein Platt sprach.
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Abb. 7-34: Variablenanalyse BÜDALT1
In seiner Dialektkompetenzerhebung realisiert BÜDALT1 keine zentralhessischen Varianten für mhd. ô mehr und den konsonantischen -Auslaut nur sehr selten. Den zentralhessischen Diphthong für mhd. uo verwendet er häufiger, ebenso weitere typisch zentralhessische Merkmale (vgl. Tab. A.3, bspw. mhd. üe [fro͡ ̽ ɪɐ] früher), diese aber zum Teil selten. Alle anderen regionalen Merkmale realisiert er durchgängig hochfrequent, die neuen eingeschlossen.560 Die Sprachprobe kann (noch) dem Basisdialektrest zugeordnet werden, da die spezifischen Merkmale
560 BÜDALT1 verwendet für std. [oː] vereinzelt einen Diphthongoid, vgl. zur Einschätzung Fn. 573.
7.3 Büdingen
295
vorkommen; im Vergleich zu BÜD1 und BÜD3 verwendet er jedoch die wenigsten spezifischen Merkmale des Basisdialekts.561 Er scheint sich dessen bewusst zu sein und schätzt seine aktive Kompetenz im Büdinger Platt als mittelmäßig ein.562 Im Sprachverhalten beim Freundesgespräch, das er mit BÜDALT2 führt, sind keine großen Veränderungen im Vergleich zur Dialektkompetenzerhebung festzustellen. Die dialektalen Varianten für mhd. uo, std. /ɐ/ und weitere vokalische Merkmale (vgl. Tab. A.3) realisiert der Sprecher nicht mehr. Vereinzelt verwendet er noch spezifisch zentralhessische Formen wie beispielsweise die zentralhessischen Varianten für mhd. â oder basisdialektale Flexionsformen von sein. Er reduziert für mhd. ei die Frequenzen der standarddifferenten Variante, ansonsten lassen sich keine, allenfalls minimale Frequenzunterschiede im Vergleich zu den dialektintendierten Wenkersätzen erkennen. Die Sprachprobe entspricht nicht mehr vollständig dem Basisdialektrest, ist jedoch dem sehr standardfernen Bereich des Kontinuums zuzurechnen. BÜDALT1 benennt die Sprechweise in diesen informellen Situationen als modernes Büdinger Platt, das ein Gemisch aus Platt und Hochdeutsch darstellt, was dem entsprechenden Bereich des Kontinuums aus objektlinguistischer Perspektive nahekommt. Im Interview ändert BÜDALT1 sein Sprachverhalten im Vergleich zum Freundesgespräch nur minimal. Die Anzahl der regionalen Varianten von mhd. ei, der n-Apokope und der b-Spirantisierung sinkt, ansonsten sind die Auftretenshäufigkeiten unverändert. Die spezifisch zentralhessischen Merkmale verwendet er nicht mehr. Die Sprachprobe ist analog zum Freundesgespräch einzuordnen. BÜDALT1 bezeichnet die Sprechweise als abgewandeltes Hochdeutsch, trotz der geringen intersituativen Variation. Dies liegt ggf. an einer unterschiedlichen Bewertung der Situationen, weniger aber am Variationsverhalten. In der Standardkompetenzerhebung lassen sich deutliche Unterschiede zum Interview erkennen. Die standarddifferenten Varianten von mhd. ei, mhd. ou, der Negationspartikel und der t/d-Assimilation produziert der Sprecher nicht mehr. Dies kann mit singulären Realisierungen insgesamt auch für die n-Apokope gelten.563 Der Sprecher verwendet die standarddifferente Variante der b-Spirantisierung seltener, die der s-Sonorisierung, Tiefschwa-Vorverlagerung und Koronalisierung mit (fast) denselben Häufigkeiten wie zuvor. Die Sprachprobe lässt sich
561 Hier (sowie bei BÜD1 und BÜD3) wird deutlich, wie die Sprecher den intendierten Dialekt umsetzen. Die Sprachproben entsprechen dem Sprachverhalten in informellen Situationen und enthalten zusätzlich mehr oder weniger basisdialektale Merkmale, die tw. als lexikalisierte Relikte bewertet werden können. Vgl. Fn. 558. 562 Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass BÜDALT1 diese Sprechweise selbst nicht mehr als ursprünglichen Basisdialekt sieht. Als Erklärung für die Sprachproduktion in der Dialektkompetenzerhebung könnte der Einfluss der Tante herangezogen werden. 563 Zweimal produziert der Sprecher in den standardintendierten Wenkersätzen die regionale Variante. Es lässt sich deshalb allenfalls von einer sehr geringen Remanenz sprechen, wenn die Realisierungen nicht als Ausnahme unberücksichtigt bleiben.
296
7 Zentralhessisch
dem Regionalakzent zuweisen. Der regionalen Prägung seiner Sprechweise scheint sich der Sprecher in seiner Bewertung (Wert = 3) bewusst zu sein.564 Es lässt sich zusammenfassen, dass BÜDALT1 den Basisdialektrest teilweise noch abrufen kann. In seinem kommunikativen Alltag bewegt er sich sprachlich in einem standardfernen Bereich des Kontinuums, der der Sprachproduktion der Dialektkompetenzerhebung sehr nahekommt, und variiert dabei intersituativ kaum. Seine Standardkompetenz entspricht dem Regionalakzent. Der Sprecher weist somit Eigenschaften eines diglossischen Sprechers auf. Eine Typisierung der Sprecher erfolgt am Ende des Kapitels. 7.3.3.2 BÜDALT2 BÜDALT2 ist 1939 in Büdingen geboren und hat bisher sein ganzes Leben dort verbracht. Auch seine Familie stammt aus der Stadt. Zur Zeit der Aufnahme ist er Rentner und hat während seiner Erwerbsphase als Kfz-Mechaniker gearbeitet. Seiner Meinung nach wurde er nicht mehr im tiefen, sondern im „mittleren“ Büdinger Platt erzogen. In seiner Dialektkompetenzerhebung produziert BÜDALT2 keine ausschließlich zentralhessischen Varianten mehr (auch keine in Tab. A.3 aufgeführten). Den Diphthong für mhd. ei verwendet er selten, aller anderen regionalen Varianten jedoch durchgehend hochfrequent. Die Sprachprobe kann demnach nicht dem Basisdialektrest zugeordnet werden, sondern einem standardnäheren (regiolektalen) Bereich des Kontinuums.565 Dennoch schätzt BÜDALT2 seine aktive wie passive Dialektkompetenz als (sehr) gut ein.566 Das Sprachverhalten von BÜDALT2 im Freundesgespräch, das er mit BÜDALT1 führt, zeigt im Vergleich zur Dialektkompetenzerhebung keine großen Unterschiede. Die monophthongische Variante für mhd. ei verwendet er nicht mehr, die dialektalen Varianten für mhd. ou und die b-Spirantisierung seltener. Eine geringfügige Frequenzreduktion ist zudem bei der dialektalen Form der t/dAssimilation zu sehen, ansonsten sind die Frequenzwerte auch für weitere regionale Merkmale (vgl. Tab. A.4) nahezu unverändert hoch. Die Sprachprobe lässt sich also einem unteren Bereich des Regiolekts subsumieren. BÜDALT2 benennt die Art zu sprechen als Zwischending („so, wie wir uns unterhalten“), spezifiziert 564 Bei BÜDALT1 lässt sich – vereinzelt auch bei anderen Sprechern – tendenziell dasselbe Phänomen für die Realisierung von std. [a͡ ̠ o] wie bei VBALT1 (vgl. Fn. 498) beobachten (Flachdiphthonge unabhängig von den historischen Bezugslauten). Diese Form ist von den dialektalen Monophthongen für mhd. ou zu unterscheiden. Sie deutet ggf. auf eine neue regionale Variante für std. [a͡ ̠ o] hin. 565 BÜDALT2 verwendet ebenso für std. [oː] an manchen Stellen einen Diphthongoid, vgl. Fn. 573. 566 Dies steht ggf. im Zusammenhang mit einer anderen Konzeptualisierung von Dialekt. Er selbst gibt an, das tiefe Büdinger Platt auch nicht mehr zu sprechen. So könnte sich seine Kompetenzeinschätzung ggf. auf ein „mittleres“ Platt beziehen.
7.3 Büdingen
297
dabei aber, dass dies kein Platt mehr sei, was die Zuordnung sprecherseitig bestätigen könnte.
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Abb. 7-35: Variablenanalyse BÜDALT2
Dem regiolektalen Bereich des Kontinuums kann auch das Interview von BÜDALT2 zugewiesen werden. Der Sprecher verhält sich in dieser Situation sprachlich – bis auf leichte Frequenzunterschiede (vgl. t/d-Assimilation) – wie im Freundesgespräch. Er verwendet unter anderem im Interview keine lexikalischen Formen wie [ʊf] auf und [ʁɪn] rein mehr. Es ist eine sehr geringe intersituative Variation festzustellen. Der Sprecher gibt an, in solchen Situationen „ein bisschen mehr“ Hochdeutsch zu sprechen. Dies kann objektlinguistisch nur bedingt ermittelt werden, gleicht aber der Einschätzung von BÜDALT1 (vgl. Kap. 7.3.3.1). In der Übertragung der Wenkersätze in das individuell beste Hochdeutsch nähert sich BÜDALT2 stark der Standardsprache an. Die standarddifferenten Varianten von mhd. ou, der n-Apokope,567 der Negationspartikel und der t/d-Assimilation verwendet er nicht mehr, die der b-Spirantisierung äußerst selten; wohingegen er die s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung unverändert hochfrequent produziert. Die Sprachprobe kann dem Regionalakzent
567 Auch bei BÜDALT2 lässt sich eine dialektale Variante der n-Apokope identifizieren. Vgl. dazu Fn. 563.
298
7 Zentralhessisch
zugewiesen werden. Dass die Sprechweise regiolektal ist, scheint BÜDALT2 zu wissen, da er sie mit einem Wert von drei als recht regional markiert einschätzt. BÜDALT2 hat demnach keine Kompetenzen des Basisdialektrests mehr. In seinem kommunikativen Alltag verwendet er eine standardferne, regiolektale Sprechlage und variiert intersituativ kaum. Seine Standardkompetenz liegt im Regionalakzent. Er zeigt Ähnlichkeiten zum Sprachverhalten der bisher beschriebenen Regiolektsprecher (moveless). 7.3.3.3 BÜD1 Der Sprecher BÜD1 ist 1955 in Büdingen geboren und hat seither in Büdingen gelebt. Auch seine Familie stammt aus der nächsten Umgebung von Büdingen. Nach einer Ausbildung zum Schreiner hat er lange Jahre als Berufskraftfahrer gearbeitet. Er wurde nach eigener Einschätzung im Platt primärsozialisiert.568
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Abb. 7-36: Variablenanalyse BÜD1
In der Dialektkompetenzerhebung produziert BÜD1 alle spezifisch zentralhessischen Merkmale, aber nicht durchgehend hochfrequent. Es lassen sich zudem Merkmale, die in Tab. A.3 aufgeführt sind, bestimmen, die eine ähnliche Vertei-
568 Zur Sprecherauswahl vgl. Fn. 536.
7.3 Büdingen
299
lung zeigen (bspw. [ʃniː] Schnee, [pɛ͡əv̊r̩] Pfeffer). Alle anderen standarddifferenten Varianten außer den neuen Formen realisiert er hochfrequent. Die Frequenzwerte der regionalen Variante der Koronalisierung sind etwas niedriger und bei der Tiefschwa-Vorverlagerung liegen sie bedingt durch die Realisierungen des konsonantischen Auslauts auf mittlerem Niveau. Die Sprachprobe kann dem Basisdialektrest zugeordnet werden. BÜD1 realisiert die meisten der basisdialektalen Merkmale, gleichzeitig verwendet er die neuen Merkmale hochfrequent. Er schätzt seine Kompetenz noch recht gut ein, berichtet aber im Interview, dass er das Platt überhaupt nicht mehr spreche, deshalb auch nicht mehr so gut wie früher beherrsche und einiges bereits verlernt habe.569 Im Sprachverhalten des Freundesgesprächs, das BÜD1 mit seiner Ehefrau führt,570 können Unterschiede im Vergleich zu den dialektintendierten Wenkersätzen erkannt werden. Die zentralhessischen Vokalmerkmale werden, bis auf eine singuläre dialektale Realisierung von mhd. uo (vgl. Fn. 558), nicht mehr vom Sprecher verwendet, ebenso wenig die standarddifferente Variante von mhd. ei. Seltener produziert er die regionalen Formen von mhd. ou und der b-Spirantisierung. Die Tiefschwa-Vorverlagerungen nehmen bei gleichzeitiger Nichtrealisierung des konsonantischen Auslauts zu – ein Muster, das bereits in Gießen und Ulrichstein zu sehen war. Ansonsten sind die Frequenzwerte nahezu unverändert. BÜD1 verwendet den Basisdialektrest also nicht mehr, sein Sprachverhalten in informellen Situationen lässt sich dennoch dem unteren Bereich des Spektrums zuordnen. Er selbst nennt die Sprechweise mittelhessisches Hochdeutsch, das teilweise etwas dialektnäher sei. Dies entspricht den objektlinguistischen Ergebnissen und bestätigt zudem sprecherseitig die Modellierung des Spektrums. Im Vergleich des Sprachverhaltens in Interview und Freundesgespräch kann eine intersituative Variation festgehalten werden. BÜD1 verwendet keine Relikte mehr, leichte Frequenzreduktionen sind für die standarddifferenten Varianten von mhd. ou und die b-Spirantisierung zu erkennen, stärkere für die der n-Apokope, der Negationspartikel und der t/d-Assimilation. Ansonsten liegen vergleichbare Frequenzwerte und Merkmalsrealisierungen (bspw. g-Spirantisierung, a-Verdumpfung, vgl. Tab. A.4) vor. Der Sprecher nähert sich also der Standardvarietät an. Er bezeichnet die Art zu sprechen als „etwas hochdeutscheres mittelhessisches Hochdeutsch“ – was der intersituativen Variation entspricht. In der Standardkompetenzerhebung lässt sich eine weitere Annäherung an die Standardsprache beobachten. BÜD1 realisiert nun keine regionalen Varianten für mhd. ou, n-Apokope (mit einer einzigen Realisierung vgl. Fn. 563) und nicht mehr. Er verwendet die dialektalen Formen der t/d-Assimilation und der bSpirantisierung seltener, die restlichen regionalen Merkmale ähnlich frequent wie
569 Dies kann als weitere sprecherseitige Bestätigung angesehen werden, diese Sprechweise als Basisdialektrest zu konzeptualisieren. 570 Der Sprecher gibt an, keinen Dialekt mehr zu sprechen, mit seiner Ehefrau aber am ehesten relativ standardfern.
300
7 Zentralhessisch
zuvor.571 BÜD1 bewertet die Sprechweise als recht regional geprägt (Wert = 3). Sie kann dem Regionalakzent zugewiesen werden. BÜD1 weist im Vergleich mit den anderen Sprechern die höchste Kompetenz im restlichen Basisdialekt auf. Er verwendet diesen im kommunikativen Alltag nicht, sondern den Regiolekt und variiert dabei intersituativ. Seine Standardkompetenz liegt im Bereich des Regionalakzents. Er ähnelt den bereits beschriebenen Shiftern. 7.3.3.4 BÜD3 Sprecher BÜD3 ist 1957 in Büdingen geboren und lebt seitdem in der Stadt. Seine Vorfahren kommen ebenfalls aus Büdingen. Zur Zeit der Aufnahme arbeitete BÜD3 als Polizeioberkommissar in der Polizeidienststelle in Büdingen. Er wurde laut eigener Angabe im Büdinger Platt primärsozialisiert, wobei auch „Mischmasch“ dabei gewesen sei.
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Abb. 7-37: Variablenanalyse BÜD3
571 Der Unterschied des Sprachverhaltens in Interview und Standardkompetenzerhebung (vgl. Abb. 7-33) wird zudem durch eine zunehmende Variabilisierung der Verwendung weiterer Merkmale (bspw. Lenisierung, g-Spirantisierung) bedingt (vgl. Tab. A.4, Fn. 559).
7.3 Büdingen
301
BÜD3 verwendet die ausschließlich zentralhessischen Merkmale in der Dialektkompetenzerhebung, die basisdialektalen Varianten von mhd. ô und uo relativ frequent, den konsonantischen -Auslaut eher selten. Einige der weiteren Merkmale (vgl. Tab. A.3) können zudem, wenn auch selten, in dieser Sprachprobe bestimmt werden (bspw. [sa̠ːlz̥] Salz). Alle anderen standarddifferenten Varianten realisiert der Sprecher durchgehend hochfrequent, nur die Tiefschwa-Vorverlagerungen etwas seltener, was durch die konsonantischen Formen bedingt ist. Die Sprachprobe kann demnach ebenfalls dem Basisdialektrest zugewiesen werden. Dementsprechend bewertet BÜD3 seine passive Kompetenz als gut, seine aktive eher als mittelmäßig. Eine Änderung des Sprachverhaltens kann im Freundesgespräch (mit einem Kollegen aus Büdingen) festgehalten werden. BÜD3 verwendet hier keine spezifisch zentralhessischen Varianten mehr, ebenso keine für mhd. ei. Seltener realisiert er die standarddifferenten Formen für mhd. ou, die n-Apokope, die t/dAssimilation und die b-Spirantisierung. Ansonsten entsprechen die Frequenzwerte denen der dialektintendierten Wenkersätze. Das Freundesgespräch kann somit im (unteren) Regiolektbereich eingeordnet werden. BÜD3 benennt die Sprechweise als „Mischmasch“, was einer Konzeptualisierung des Regiolekts nahekommt. Das Sprachverhalten im formellen Interview unterscheidet sich von dem im Freundesgespräch. BÜD3 verwendet die standarddifferenten Varianten für mhd. ou, die n-Apokope, die t/d-Assimilation und die b-Spirantisierung seltener und die der Negationspartikel fast gar nicht mehr. Ansonsten entsprechen sich die Realisierungen (vgl. auch Tab. A.4). BÜD3 variiert daher intersituativ und die Probe ist als standardnäher einzuordnen. Er selbst bezeichnet sie entsprechend als „halbes Hochdeutsch mit Platt gemischt“. In der Standardkompetenzerhebung kann eine nochmalige Annäherung an die Standardvarietät konstatiert werden. BÜD3 realisiert keine regionalen Varianten für die Variablen mhd. ou, n-Apokope, Negationspartikel und t/d-Assimilation mehr. Seltener verwendet er die regionale Variante der b-Spirantisierung, gleich oft die der s-Sonorisierung, Tiefschwa-Vorverlagerung und Koronalisierung. Das Sprachverhalten entspricht dem Regionalakzent. BÜD3 sieht in diesem nur eine leichte regionale Prägung (Wert = 4) (vgl. Fn. 571). BÜD3 hat also auch noch Kompetenzen im Dialekt, die dem Basisdialektrest entsprechen. Diesen verwendet er im kommunikativen Alltag nicht. In diesem bewegt er sich sprachlich im Regiolekt und variiert intersituativ. Er gleicht dem Sprecher BÜD1, wobei sein Sprachverhalten insgesamt geringfügig standardnäher ist. 7.3.3.5 BÜDJUNG1 Der Sprecher der jungen Generation ist 1987 in Büdingen geboren und hat bis zu seinem Studienbeginn in München (ein dreiviertel Jahr vor der Aufnahme) in Büdingen gelebt. Auch seine Familie stammt aus Büdingen. Er äußert, dass seine Eltern stets versucht hätten, Hochdeutsch mit ihm zu sprechen.
302
ͳͲͲΨ
7 Zentralhessisch
ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-38: Variablenanalyse BÜDJUNG1
Die Variablenanalyse zeigt, dass er in der Dialektkompetenzerhebung keine ausschließlich zentralhessischen Varianten mehr produziert. Dies betrifft auch die in Tab. A.3 aufgeführten Merkmale.572 Ebenso wenig realisiert der Sprecher den Monophthong für mhd. ei. Relativ frequent verwendet er die standarddifferenten Varianten für mhd. ou, die n-Apokope, die b-Spirantisierung und die TiefschwaVorverlagerung; hochfrequent die regionalen Formen für nicht, die t/d-Assimilation, die s-Sonorisierung und die Koronalisierung. Die Sprachprobe entspricht demnach nicht dem Basisdialektrest, sondern lässt sich im Regiolektbereich einordnen. Sie gleicht dem alltäglichen Sprachverhalten der Sprecher der mittleren Generation (Performanzmittel = Kompetenzjung; vgl. Fn. 399) – das bedeutet, dass er die Merkmale, die in Büdingen im Alltag noch zu hören sind, produziert/produzieren kann.573
572 Eine Ausnahme stellt die zentralhessische Realisierung von Füße und müde dar. Hier ist aber von lexikalisierten Formen auszugehen, da der Sprecher sonst keine weiteren Merkmale verwendet. Zu einer hyperkorrekten Form vgl. Fn. 398. 573 Zudem produziert BÜDJUNG1 (wie BÜDALT1+2, vgl. Fn. 560, 565) unabhängig von den lauthistorischen Bezügen für std. [oː] vereinzelt Diphthongoide im intendierten Dialekt. Dieses Merkmal wurde für das Rheinfränkische in Reinheim und Erbach beschrieben. Es könnte ein Hinweis auf eine mögliche Ausbreitung dieser Formen sein und/oder auf eine Veränderung des Konzepts des Dialekts in der Region sein (der zentralhessische Basisdialekt spielt in der Kommunikation keine Rolle mehr, sodass bekannte, einfach zu handhabende (phoneti-
7.3 Büdingen
303
Im Vergleich zu den dialektintendierten Wenkersätzen zeigt sein Sprachverhalten im Freundesgespräch, das er mit einem ehemaligen Schulfreund führt, große Unterschiede. BÜDJUNG1 verwendet keine regionalen Varianten für mhd. ou und die n-Apokope (mit einer singulären Ausnahme) mehr. Die standardabweichenden Formen für nicht, die t/d-Assimilation, die b-Spirantisierung, die s-Sonorisierung und die Koronalisierung realisiert er deutlich seltener. Nur die neuen Varianten der Tiefschwa-Vorverlagerung bleiben auf einem hohen Frequenzniveau. Das Sprachverhalten entspricht bis auf wenige Ausnahmen dem Regionalakzent der anderen Sprecher. Die Ausnahmen betreffen vor allem wenige standardabweichende Realisierungen von nicht, was im Freundesgespräch als Informalitätsmarker betrachtet werden kann, und die geringeren Realisierungen der sSonorisierung und der Koronalisierung. Der Sprecher benennt die Sprechweise als Hessisch, was dadurch bedingt sein könnte, dass noch regionale Merkmale enthalten sind. Im Interview kann ein ähnliches Sprachverhalten wie im Freundesgespräch ermittelt werden, was bedeutet, dass der Sprecher nur minimal intersituativ variiert. Er verwendet die regionale Form der Negationspartikel nicht mehr und die der t/d-Assimilation seltener. Sonst gleichen sich die Werte. Diese Art zu sprechen bezeichnet BÜDJUNG1 als Hochdeutsch. Dies kann durch die geringe intersituative Variation begründet sein. In der Standardkompetenzerhebung kann eine weitere, geringfügige Standardannäherung beobachtet werden. BÜDJUNG1 produziert in dieser Sprachprobe zusätzlich die standardabweichende Variante der t/d-Assimilation nicht mehr und die der b-Spirantisierung seltener. Ansonsten ist die Verwendung der regionalsprachlichen Formen für die Variablen s-Sonorisierung und Koronalisierung unverändert auf einem niedrigen Niveau, für die Tiefschwa-Vorverlagerung unverändert auf hohem Niveau. Entsprechend dieser Annäherung an die Standardvarietät schätzt BÜDJUNG1 diese Sprachproduktion als kaum regional markiert ein (Wert = 6). Die drei Sprachproben können dem Regionalakzent zugeordnet werden. Das Sprachverhalten in den Performanzsituationen des jungen Sprechers entspricht also weitgehend dem der Kompetenzerhebung (mit wenigen weiteren Merkmalen (g-Spirantisierung) und höheren Frequenzen mancher Merkmale (Lenisierung), vgl. Tab. A.5). Er realisiert die s-Sonorisierung und die Koronalisierung im Vergleich zu den anderen Sprechern seltener und kann sie recht erfolgreich, jedoch
sche) Varianten aus dem südlich angrenzenden Gebiet als dem eigenen Dialekt entsprechend aufgefasst werden). Es bestätigt auf jeden Fall, dass die Sprecher den Basisdialektrest nicht bzw. nicht mehr vollständig beherrschen, sodass sein Abbau deutlich wird (s. u.). Es ist an dieser Stelle auch nicht von Hyperdialektalismen auszugehen, da keine falschen Analogien gebildet werden – die Sprecher kennen wenige bzw. keine Merkmale des alten Dialekts (mehr) –, sondern verwenden benachbarte Formen, die sie ggf. schon als dem eigenen Dialekt entsprechend konzeptualisieren. Weitere individuelle Einflüsse sind nicht auszuschließen.
304
7 Zentralhessisch
nicht vollständig kontrollieren. Er baut seine Kompetenz also aus und ist im Begriff, bei diesen standarddifferenten Merkmalen die Varietätengrenze zur Standardsprache zu überwinden (vgl. auch Kap. 7.3.4). BÜDJUNG1 kann den Basisdialektrest nicht produzieren. Seine Dialektkompetenz entspricht der Alltagssprechweise der mittleren Generation. Im kommunikativen Alltag verwendet er wiederum den Regionalakzent mit geringer intersituativer Variation. Dieses Sprachverhalten stimmt mit seiner Standardkompetenz weitgehend überein. Er ähnelt dem Regionalakzentsprecher aus Frankfurt. 7.3.3.6 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich Die Auswertung des rezenten Sprachverhaltens in Büdingen resultiert darin, dass die Reste des Basisdialekts noch teilweise abgerufen werden können, jedoch für den kommunikativen Alltag keine Bedeutung haben. In diesem wird ausschließlich der Regiolekt verwendet. Der Großteil der Kommunikation findet in einem relativ standardfernen Bereich des Kontinuums statt. Die Einzelanalysen der Sprecher ergeben vier Sprechertypen: a) diglossischer Kontinuum-Sprecher b) Regiolektsprecher (moveless) c) Kontinuum-Shifter d) Regionalakzent-Sprecher Der diglossische Sprecher (BÜDALT1) hat Kompetenzen im Basisdialektrest und verwendet im kommunikativen Alltag eine standardferne Sprechweise, die dieser Sprachproduktion weitestgehend entspricht. Die Standardkompetenz liegt im Bereich des Regionalakzents.574 Der Regiolektsprecher (BÜDALT2) kann keine Reste des Basisdialekts mehr abrufen. Der Sprechertyp bewegt sich im sprachlichen Alltag in einem relativ standardfernen (regiolektalen) Bereich des Kontinuums und variiert dabei intersituativ kaum. Seine Standardkompetenz lässt sich dem Regionalakzent zuweisen. Der Kontinuum-Shifter (BÜD1+3) weist gewisse Kompetenzen im Basisdialekt (bzw. Basisdialektrest) auf. Dieser ist jedoch in der freien Sprachverwendung nicht von Bedeutung für diesen Sprechertyp. Er verwendet in der alltäglichen Kommunikation ausschließlich regiolektale Sprechweisen und variiert dabei intersituativ (Shiften). Die Standardkompetenz entspricht auch hier dem Regionalakzent. Der Regionalakzent-Sprecher (BÜDJUNG1) kann keine Reste des Basisdialekts abrufen. Er verwendet im kommunikativen Alltag eine Normalsprechlage – den Regionalakzent – und variiert dabei intersituativ kaum. Dieses Sprachverhal-
574 Zur Diskussion, ob es diglossische Sprecher, auch in einem regionalsprachlichen Kontinuum gibt, vgl. Kap. 8.2.
7.3 Büdingen
305
ten entspricht weitgehend seiner Standardkompetenz, die er zudem weiter in Richtung der Standardvarietät ausbaut.575 Der Vergleich der Variantenverteilungen der Sprecher (apparent-time) ergibt einen vollständigen Abbau der dialektalen Varianten von mhd. ô, uo, ei und std. /ɐ/. Einer zunehmenden Variabilisierung des Gebrauchs – und teilweise fortgeschrittenem Abbau – unterliegen die Merkmale mhd. ou, nicht, n-Apokope und t/d-Assimilation. Der Abbau der s-Sonorisierung und Koronalisierung setzt erst in der jüngeren Generation ein. Stabilität lässt sich für die b-Spirantisierung und die Tiefschwa-Vorverlagerung festhalten. Dies und die Bestimmung von vier Sprechertypen indiziert bereits, dass ein umfassender intergenerationeller Vergleich deutliche Unterschiede ergibt. Es können drei Entwicklungen festgehalten werden. Der (Basis-)Dialekt wird in Büdingen vollständig abgebaut. Rezent sind nur noch Reste zu erheben, deren Merkmale in der Abfrage sehr variabel sind. Ein Sprecher der älteren Generation und der Sprecher der jüngeren Generation können selbst keine Reste mehr produzieren.576 Das Sprachverhalten in den Performanzerhebungen verlagert sich im Vergleich der älteren zur mittleren Generation sukzessive in einen standardnäheren Bereich – unter anderem durch Zunahme der intersituativen Variation in der mittleren Generation. Ein Umbruch dazu zeigt sich in der jüngeren Generation. Hier wird im kommunikativen Alltag ausschließlich der Regionalakzent verwendet. Des Weiteren wird der Regiolekt in der jüngeren Generation weiter in Richtung der Standardsprache ausgebaut. Die Sprechertypen ähneln teilweise den Typen aus den anderen Untersuchungsorten. Eine zusammenfassende Betrachtung aller Sprecher(typen) erfolgt in Kap. 8.2. Auch für die Büdinger Sprecher scheint die Primärsozialisation einen entscheidenden Einfluss auf das Sprachverhalten der Sprecher zu nehmen. Weitere Faktoren sind in den kommunikativen Anforderungen und dem Sprach- sowie Sprachgebrauchswandel zu sehen (vgl. auch Kap. 8.2).
575 Die Differenzierung von BÜDALT1 und BÜDALT2 in zwei verschiedene Sprechertypen ist zu diskutieren. Ihr Variationsverhalten weist Ähnlichkeiten auf, doch besteht ein Unterschied darin, dass BÜDALT1 noch Kompetenzen im Basisdialektrest hat und auch im Alltag eine (maximal) standardferne Sprechweise verwendet (analog zu klassischen diglossischen Sprechern). BÜDALT1 verwendet also – im Gegensatz zu BÜDALT2 – nicht eine relativ standardferne, sonder eine absolut standardfern(st)e Sprechweise. Dies kann als typbildender Unterschied gewertet werden. 576 Dieser Dialektabbau unterscheidet sich von dem in Gießen. In Büdingen findet kein abrupter Dialektabbau (durch Nichtweitergabe) wie in Gießen statt, sondern durch den Frankfurter Einfluss ein Dialektabbau durch Dialektwandel. Dieser setzt früh ein und vollzieht sich sukzessive durch die Variabilisierung des Gebrauchs und den Abbau von basisdialektalen Merkmalen und Interferenz neuer regionalsprachlicher Merkmale, sodass die Dialektreste rezent Teil des regionalsprachlichen Kontinuums sind (vgl. Kap. 7.2.5). Dies führt zu einer unterschiedlichen Struktur der Spektren/Regiolekte (vgl. Kap. 8).
306
7 Zentralhessisch
7.3.4 Regionalsprachliche Entwicklungen Die Entstehung des regionalsprachlichen Kontinuums mit Basisdialektrest kann über regionalsprachliche Entwicklungen nachvollzogen werden. Auf Grundlage älterer Sprachdaten (s. o.), der Beschreibungen früher regionalsprachlicher Entwicklungen (vgl. ALLES 1954) und der aktuellen Daten und Ergebnisse ist von einem umfassenden sprachlichen Wandel in Büdingen auszugehen, der aus drei Teilprozessen besteht: (1) Interferenz neuer regionalsprachlicher Merkmale, (2) Abbau basisdialektaler Merkmale und (3) Stabilität (und Gebrauchswandel) der Merkmale, die dem rheinfränkischen Dialekt und Frankfurter Regiolekt entsprechen. Bedingt werden diese Prozesse durch den Einfluss Frankfurts bzw. des RheinMain-Gebiets (vgl. dazu ALLES 1954, 181–182, bzw. Kap. 3.4.2). Die Interferenz neuer regionalsprachlicher Merkmale (1) lässt sich gut am Beispiel der Koronalisierung zeigen. Diese ist – wie in Kap. 4.4.3.1 ausgeführt – für das gesamte Spektrum im Rheinfränkischen und in Frankfurt belegt, nicht jedoch für das Zentralhessische. In den frühen Dialektaufnahmen aus dem Büdinger Raum, das sind die Aufnahme des Lautdenkmals reichsdeutscher Mundarten aus der Wetterau (LD60117/MD010) und die Wenkersätze der Lautabteilung der Preußischen Staatsbibliothek aus Büdingen (Eckartshausen) (LA 379 + 381, vgl. Fn. 260), gibt es keine Hinweise auf die Koronalisierung. ALLES (1954, 195) beschreibt erste Koronalisierungsbelege für die Dialekte der südlichen Wetterau in den 1950er Jahren. In den rezenten Daten wird die regionale Variante hochfrequent realisiert. Sie hat sich somit vollständig im regionalsprachlichen Spektrum Büdingens etabliert. Hierbei gibt es neben den geringen Frequenzen der entsprechenden Variante bei BÜDJUNG1, die hier ausgeschlossen werden können, da er sie aufgrund des Ausbaus der Standardkompetenz seltener realisiert, eine weitere Ausnahme. BÜD1, der Sprecher mit der höchsten Kompetenz im Basisdialektrest, produziert die koronalen Varianten durchgehend hochfrequent und nur in den dialektintendierten Wenkersätzen etwas seltener. Obwohl der Unterschied nicht stark ausgeprägt ist, scheint diese Verteilung ein Hinweis darauf zu sein, dass er diese Variante im intendierten Dialekt (bewusst) seltener verwendet als in seinem sonstigen Sprachverhalten, in dem er nicht variiert. Das heißt, aufgrund der Restkompetenzen im Basisdialekt, kann er die Koronalisierung geringfügig im intendierten Dialekt kontrollieren. Diese rezente Verteilung und die frühen Dialektaufnahmen lassen die Schlussfolgerung zu, dass die Koronalisierung in Büdingen ihren Ursprung nicht im Basisdialekt genommen hat, sondern im Regiolekt (bzw. landschaftlichen Hochdeutsch). Dies bedeutet, dass das regionalsprachliche Merkmal ausgehend vom Frankfurter Regiolekt (s. u.) den Regiolekt in Büdingen interferiert hat (horizontale Ausbreitung) und dann wiederum als zweiter Schritt ausgehend vom Regiolekt den Dialekt in Büdingen interferiert hat (vertikale Ausbrei-
7.3 Büdingen
307
tung).577 Für diesen angenommenen Prozess gibt es einen weiteren Beleg: die Sprecher der älteren und mittleren Generation geben an, dass der Frankfurter Sprecher Vorbildcharakter für sie habe.578 Aus der Perspektive des Büdinger Dialektsprechers ist also anzunehmen, dass er im Kontakt mit Sprechern aus Frankfurt/dem Rhein-Main-Gebiet versucht hat, Hochdeutsch zu reden – objektsprachlich gesehen: den Regiolekt verwendet hat. Der Frankfurter Sprecher hat ebenso den Regiolekt verwendet, zu dessen Merkmalen die Koronalisierung gehört (vgl. Kap. 6). Da der Frankfurter Sprecher Vorbildcharakter hat, kann die Koronalisierung als Prestigeform der Stadt gelten. Der Büdinger Sprecher wird sie deshalb durch den Kontakt in eben jener Sprechweise übernommen haben – objektlinguistisch gesehen handelt es sich dann um den Übergang/die Interferenz dieses Merkmals in den/im Regiolekt Büdingens (vgl. zur Übernahme regionaler Prestigeformen u. a. MAURER 1927, 160). Es hat sich in der Folge im Regiolekt etabliert, den Dialekt interferiert und sich auch dort gefestigt.579 Das Ergebnis lässt sich an den aktuellen Daten beobachten, die Koronalisierung prägt das gesamte regionalsprachliche Spektrum – den Basisdialektrest inbegriffen.580 Als zweiter Prozess kann der Abbau basisdialektaler Merkmale (2) beschrieben werden. In den frühen Dialektaufnahmen (s. o.) gibt es erste Hinweise darauf. Zwar werden alle für das Zentralhessische beschriebenen Merkmale verwendet, jedoch nicht durchgehend. Dies kann auch durch die jeweilige Erhebungssituation bedingt sein,581 aber auch als erster Hinweis auf den Abbau der Merkmale, zumindest auf eine Variabilisierung der Verwendung gesehen werden. ALLES (1954, 194–195) beschreibt ebenso den Ersatz basisdialektaler Formen durch standardkonforme Varianten (vgl. Kap. 3.4.2). Dieser Prozess findet ausgehend von Frankfurt räumlich gestaffelt statt. Da Büdingen bei ALLES (1954, 182) als ein „Vorposten“ dieser Entwicklung gilt, kann davon ausgegangen werden, dass viele dieser Entwicklungen schon zu dieser Zeit auch Büdingen betreffen. Das Resultat dieser Entwicklungen lässt sich heute beobachten: die basisdialektalen Merkmale 577 Dies ist genau der Prozess, den HERRGEN (1986, 101–111) für die Koronalisierung beschreibt: (1) Etablierung im Regiolekt (neuer Substandard), (2) vertikale, (3) horizontale und (4) wiederum vertikale Ausbreitung (vgl. auch Kap. 4.4.3.1). 578 BÜD1 äußert ohne explizite Nachfrage sogar, dass er sich sprachlich an den Sprechern der Region Frankfurt orientiert habe und orientiere. 579 Vgl. zur Erklärung dieser vertikalen Ausbreitung der Koronalisierung HERRGEN (1986, 112– 135). Diese Entwicklung der Ausbreitung eines Merkmals/einer sprachlichen Neuerung beschreibt auch HARD (1966, 12, Abb. 4) mithilfe eines Schemas. Vgl. auch Kap. 8.4.2. 580 Hervorzuheben ist in diesem Fall auch die Verwendung der Koronalisierung von BÜDJUNG1. Er kontrolliert sie im Regionalakzent relativ erfolgreich und produziert sie sehr oft im intendierten Dialekt. Dieses Gebrauchsmuster deutet daraufhin, dass er das neue regionalsprachliche Merkmal bereits mit dem Dialekt assoziiert. Ein ehemals regiolektales Merkmal scheint nun bei den Sprechern, die keine Kompetenzen mehr im Basisdialektrest haben und ihre Standardkompetenz gleichzeitig ausbauen, als dialetales Merkmal konzeptualisiert zu werden (vgl. zu diesem Prozess auch KEHREIN 2012, 98 und VORBERGER 2017). 581 Bei der Aufnahme des Lautdenkmals handelt es sich um ein gestelltes Gespräch im Beisein Dritter. Zur Aufnahmesituation der Lautabteilung liegen keine genaueren Informationen vor.
308
7 Zentralhessisch
sind nur noch relikthaft vorhanden bzw. bei einigen Sprechern bereits vollständig abgebaut. Die vorliegenden Ergebnisse stimmen mit den Beschreibungen von ALLES (1954) überein. ALLES (1954, 194) hält fest, dass beispielsweise der Ersatz von [r] für mhd. d, t durch [d̥] (Bsp. Wetter, wieder) oder von [ɪ͡ə, e] für mhd. i durch [ɪ] (Bsp. Kind, Winter) bereits zu seiner Erhebungszeit weit fortgeschritten ist. In den rezenten Daten werden diese basisdialektalen Varianten nur noch sehr vereinzelt realisiert. Für die Form [ɔ͡ʊ] für mhd. uo (Bsp. Bruder) gibt ALLES (1954, 195) an, dass sie in seinem gesamten Untersuchungsgebiet erhalten ist. Wie die Analysen zeigen, ist dieses Merkmal von den untersuchten basisdialektalen Merkmalen das am häufigsten und von den meisten Sprechern verwendete Merkmal – also zwar von einem Abbau betroffen, aber noch am stabilsten. Als übergreifende Motivation dieser Prozesse kann aus Perspektive der Sprachdynamiktheorie wiederum der Einfluss Frankfurts/des Rhein-Main-Gebiets in Betracht gezogen werden (vgl. auch ALLES 1954, FREILING 1924, MAURER 1929). Die Beibehaltung der Merkmale würde in der überregionalen Kommunikation zu Miss- und Nichtverstehen bzw. kommunikativen Irritationen führen, da der Vokalismus des Frankfurter Regiolekts bzw. des rheinfränkischen Dialekts weitgehend dem der Standardsprache entspricht und sich dieser systematisch vom zentralhessischen Vokalismus unterscheidet.582 Mit zunehmender überregionaler Kommunikation und zunehmendem Einfluss Frankfurts werden diese Merkmale zur Optimierung der Kommunikation (durch Vorbeugung von kommunikativem Missoder Nichtverstehen) immer seltener realisiert und im weiteren Verlauf total abgebaut (vgl. dazu auch u. a. SCHNELLBACHER 1963, 448–450, BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 3–12; dies kann über Mesosynchroniserungen erklärt werden: Abnahme der Verwendung, keine Weitergabe an die jüngere Generation). Dies trifft nicht auf die Merkmale zu, die auch im Frankfurter bzw. im rheinfränkischen Regiolekt (bzw. Dialekt) vorhanden sind. Diese Varianten können als relativ stabil gelten (3). Die Verwendung dieser Formen ist im Großraum nicht kommunikationseinschränkend. Dies kann als ein Grund ihrer Stabilität angenommen werden (bei der Verwendung kann von stabilisierenden Synchronisierungen ausgegangen werden). Diese Stabilität ist in den Ergebnissen der Analysen zu Büdingen zu erkennen (vgl. bspw. mhd. ei und ou), die auch ALLES (1954, 195) belegt.583 Neben dieser Stabilität ist auch ein Gebrauchswandel in den Daten zu erkennen. Dies kann am Beispiel von mhd. ei und ou gezeigt werden. Bei deren standarddifferenten Varianten handelt es sich um genuin basisdialektale Merkmale, bei deren Varianten im Zentralhessischen nicht davon auszugehen ist, dass sie im landschaftli-
582 Die genannten Beispiele in Kap. 7.1 für die systematischen Unterschiede und theoretischen Kollisionen in den Phonem-Lexem-Zuordnungen (bspw. [viː] - zh. weh, rf. wie usw.) können auch hier herangezogen werden. 583 Dies gilt auch für den Großteil des Konsonantismus. Zu sehen ist dies in den aktuellen Daten überwiegend an höheren Frequenzen der entsprechenden standarddifferenten Varianten im unteren Bereich des Regiolekts in Büdingen im Vergleich zum Regiolekt in Ulrichstein und Gießen.
7.3 Büdingen
309
chen Hochdeutsch (später: Regiolekt) verwendet wurden.584 Dies zeigen auch die Ergebnisse von Ulrichstein und Gießen, bei denen im Dialekt kein Einfluss durch Frankfurt zu beobachten ist und bei denen die dialektalen Varianten im Regiolekt nicht verwendet werden (vgl. Kap. 7.1, 7.2). Für Büdingen kann angenommen werden, dass die Sprecher diese dialektalen Varianten – gestützt durch die Verwendung durch Sprecher aus dem Rhein-Main-Gebiet – im Dialekt beibehalten haben. In einem weiteren Schritt haben sie – analog zu der Verwendung der Frankfurter Sprecher – die standardabweichenden Varianten im Regiolekt und unabhängig von den anderen vokalischen Dialektmerkmalen verwendet (bzw. in überregionaler Kommunikation und formellen Situationen). Dem Gebrauchswandel entspricht strukturell ein Ausbau der Merkmale bzw. Übergang in den Regiolekt. Er kann die rezente Verwendung der Merkmale im Regiolekt – im Gegensatz zu Ulrichstein und Gießen – erklären bzw. unter anderem die unterschiedliche Struktur der Regiolekte (vgl. Kap. 8). Folgende Entwicklung kann zusammenfassend angenommen werden: Die drei sprachdynamischen Prozesse ((1) Interferenz neuer regionalsprachlicher Merkmale (Typ2-Varianten), (2) Abbau basisdialektaler Merkmale (Typ1a-Varianten) und (3) Stabilität (und Gebrauchswandel/Ausbau) der dem Frankfurter Regiolekt entsprechenden Merkmale)585 führen insgesamt zu einem Abbau struktureller Unterschiede (2) und zu einem Aufbau struktureller Gemeinsamkeiten (1, 3) der beiden Varietäten Regiolekt und Dialekt. Der übergreifende sprachliche Wandel lässt sich somit als Konvergenz der beiden Varietäten beschreiben.586 Das heißt, die beiden ehemals diskreten Systeme konvergieren und die bestehende Varietätengrenze schwindet. Die Konvergenz führt durch eine Fusion der beiden ehemaligen Varietäten zu einem regionalsprachlichen Kontinuum, in dem die ehemals diskrete Varietät Dialekt und die ehemalige Varietätengrenze durch die beschriebenen Prozesse nur noch als Reste zu erkennen sind (vgl. Kap. 7.3.2, Abb. 7-33). Das Ergebnis des Prozesses stellt das rezente regionalsprachliche Kontinuum in Büdingen dar.587
584 Darauf deuten auch die Beschreibungen von VIËTOR (1875), REIS (1910), RUDOLPH (1927) und BORN (1938), die diese Merkmale in ihren Beschreibungen regionaler (nicht-dialektaler) Sprechweisen im rheinfränkischen und Frankfurter Raum nicht auflisten. 585 Es handelt sich bei der Ausbreitung der Koronalisierung in diesem Fall nicht um einen singulären Dialektwandel, sondern um einen umfassenden Wandel, der in einem Dialektabbau resultiert, da gleichzeitig basisdialektale Merkmale abgebaut werden (vgl. HERRGEN 1986, 108–109). 586 Von einer Konvergenz, statt einer möglichen Advergenz des Dialekts, ist auszugehen, da gezeigt werden kann, dass neben Entwicklungen im Dialekt gleichzeitig dialektale Merkmale den Regiolekt interferieren (Prozess 3). Beide Varietäten nähern sich also an. Dieser Skizze der Entwicklungen liegt die naheliegende Annahme zugrunde, dass früher das regionalsprachliche Spektrum in Büdingen dem heutigen in Ulrichstein glich. Weitere Analysen müssen dies bestätigen. 587 Aus der Sprecherperspektive sind diese Entwicklung und das strukturelle Resultat optimal. Folgendes kann angenommen werden: Die relevante überregionale Kommunikation ist opti-
310
7 Zentralhessisch
7.3.5 Zusammenfassung regionalsprachliches Kontinuum mit Basisdialektrest (ehemals) viele Typ1a-Varianten; (relativ) wenige Typ1b- und Typ2-Varianten; rezent: Reste des Basisdialekts (nur in der Abfrage)
Spektrumstyp Verhältnis Dialekt – Standardsprache Prozess der Standardannäherung
sukzessive Standardannäherung (Shiften)
Sprechertypen
rezente Dynamik/Entwicklungen
diglossischer Kontinuum-Sprecher Regiolektsprecher (moveless) Kontinuum-Shifter Regionalakzent-Sprecher sukzessiver und zur jung. Gen. vollständiger Abbau des Basisdialektrests (tw. schon vorher vollzogen) Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, mit Umbruch zur jung. Gen. + weiterer Ausbau der Standardkompetenz in jung. Gen.)
7.4 BAD NAUHEIM 7.4.1 Einführung588 Die Stadt Bad Nauheim ist im 13. Jh. in der Nähe wichtiger Salzquellen entstanden. Der Name ist seit 1236 belegt (Nuweheim – ‘neue Wohnstätteʼ). 1869 hat sie den Zusatz Bad aufgrund der Heilbäder in der Stadt erhalten (vgl. DUDEN Bd. 25, 207–208). Die Stadt liegt in der westlichen Wetterau, am Rande des Taunus an Wetter und Usa. Sie ist 30 km in nördlicher Richtung von Frankfurt entfernt und gehört somit zum Rhein-Main-Gebiet (i. e. S., vgl. Karte 7-2). Bad Nauheim ist mit knapp 32.000 Einwohnern nach Bad Vilbel die zweitgrößte Stadt des Wetteraukreises, dem sie seit dessen Gründung 1972 angehört. Die Stadt besteht aus den Stadtteilen Kernstadt, Nieder-Mörlen, Rödgen, Schwalheim, Steinfurth und
miert. Die Sprecher können theoretisch (aufgrund der Struktur des regiolektalen Bereichs) auch in überregionaler Kommunikation eine standardferne Sprechweise des regiolektalen Bereichs verwenden (vgl. Kap. 5.1.5). Gleichzeitig erfüllt der Regiolekt (standardferner Bereich) die Funktionen des (ehemaligen) Dialekts (bspw. Identifikation, regionale Markierung). Zusätzlich können bei Bedarf noch basisdialektale Merkmale verwendet werden. 588 Vgl. zu diesem Abschnitt und für weitere Informationen zur Stadt die Internetseite von Bad Nauheim ().
311
7.4 Bad Nauheim
Wisselsheim. Zusammen mit dem benachbarten Friedberg (Kreisstadt) bildet Bad Nauheim in Hessen ein Mittelzentrum mit oberzentralen Teilfunktionen. Geprägt ist die Stadt noch heute durch die (Heil-)Bäder und die Gradierwerke zur Salzgewinnung. Die Anbindung an den Kern des Rhein-Main-Gebiets und die Stadt Frankfurt ist im Vergleich zu den anderen Untersuchungsorten sehr gut. Im Straßenverkehr benötigt man ca. 35 Min., mit dem Schienenverkehr auf direktem Weg ca. 30 Min. nach Frankfurt. Folgende Sprecher wurden für Bad Nauheim untersucht: Sprecher
Geburtsjahr Wohnort (seit
Beruf
Geburt)
Rentner (frü-
Datum der Aufnahme
FBALT2
1939
Bad Nauheim
FB3
1958
Bad Nauheim
POK
August 2010
FB1
1961
Bad Nauheim
PHK
August 2010
FBJUNG1
1994
Bad Nauheim
Student
Mai 2014
her: Landwirt)
Dezember 2010
Tab. 7-5: Sprecherübersicht Bad Nauheim (FB)
7.4.2 Struktur des regionalsprachlichen Spektrums 7.4.2.1 Empirische Analysen Die gemessenen phonetischen Dialektalitätswerte für die Bad Nauheimer Sprachproben sind in Abb. 7-39 zu sehen. Die Werte liegen im Bereich von 0,4 bis 2,2 und weisen somit eine Spanne von 1,8 auf. Sowohl der Wertebereich als auch die Spanne sind den Büdinger Ergebnissen sehr ähnlich. Der Sprechervergleich zeigt, dass der Sprecher der älteren Generation insgesamt die höchsten Werte erreicht und der der jüngeren Generation die niedrigsten. Unterschiede im Sprachverhalten der Sprecher sind klar zu erkennen. Hinweise auf die mögliche Struktur des regionalsprachlichen Spektrums zeichnen sich in den Ergebnissen ab. Am oberen Ende der Grafik wird die Varietätengrenze zur Standardsprache deutlich. Im regionalsprachlichen Teil könnten aufgrund der Dialektalitätswertdifferenzen der Sprachproben weitere Abgrenzungen im Bereich von ~1,6 und ~1,2 vorgenommen werden, die auf potentielle Varietäten- und/oder Sprechlagengrenzen hindeuten könnten.
312
7 Zentralhessisch
phon. Dialektalitätswerte
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Abb. 7-39: D-Werte für Bad Nauheim
Die Ergebnisse der Clusteranalyse für Bad Nauheim, die auf Basis der Variablenanalysen durchgeführt wurden, sind in Abb. 7-40 als Dendrogramm dargestellt. Auf der ersten Stufe der Clusterung werden drei Sprachproben (I) von den weiteren differenziert (II). Diese weiteren Sprachproben werden nochmals unterschieden – in zwei Cluster (2 + 3 und 4). Das zweite dieser Cluster kann wiederum in zwei Subcluster (2 und 3) differenziert werden. Das Dendrogramm legt auf dieser Stufe der Clusterung eine Vier-Cluster-Lösung nahe. Cluster 1 besteht aus den dialektintendierten Wenkersätzen von FBALT2, FB1 und FB3. Das zweite Cluster (2) setzt sich aus den dialektintendierten Wenkersätzen von FBJUNG1 und jeweils Freundesgespräch und Interview von FBALT2 und FB3 zusammen. Cluster 3 gruppiert die Notrufe von FB1 und die standardintendierten Wenkersätze von FBALT2 und FB3. Das vierte Cluster besteht aus den Freundesgesprächen, Interviews und Standardübertragungen von FB1 und FBJUNG1. Die Hauptunterscheidung wird zwischen Cluster I und II getroffen, was als Hinweis auf eine mögliche Varietätengrenze gewertet werden kann. Aber auch zwischen den Clustern 2 + 3 und Cluster 4 bestehen größere Differenzen. Außerdem sind in allen Clustern außer dem vierten Subdifferenzierungen zu sehen. Im ersten Cluster un-
313
7.4 Bad Nauheim
terscheidet sich die Dialektübertragung von FBALT2 stark von denen der anderen beiden Sprecher. Hier wäre die Annahme eines eigenen Clusters aufgrund der deutlichen Differenzierung (vgl. horizontale Balkenausdehnung) zu diskutieren. Dieser Fall muss bei den weiteren Auswertungen genauer betrachtet werden. In Cluster 2 differieren die dialektintendierten Wenkersätze des jungen Sprechers und jeweils das Freundesgespräch und das Interview von FB3 und FBALT2. Im dritten Cluster unterscheiden sich die Notrufe von FB1 von den anderen beiden Sprachproben. Die Unterschiede in den letzten beiden Clustern sind jedoch vergleichsweise gering, sodass hier eher keine eigenen Cluster anzunehmen sind. Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
5
WSS_FBJUNG1 FG_FBJUNG1 Interv._FBJUNG1
4 FG_FB1 WSS_FB1 Interview_FB1 WSS_FBALT2
II
3
WSS_FB3 Notruf_FB1 Interview_FBALT2 FG_FBALT2
2
Interview_FB3 FG_FB3 WSD_FBJUNG1 WSD_FB1
I
1
WSD_FB3 WSD_FBALT2
Abb. 7-40: Dendrogramm für Bad Nauheim (FB)
10
15
20
25
314
7 Zentralhessisch
Die Ergebnisse der Variablenanalysen sind in Abb. 7-41–44 zu sehen.589
ͳͲͲΨ
̴ ʹ
̴ ͳ
̴ ͵
ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-41: Variablenanalyse Cluster 1 (FB)
Das erste Cluster (vgl. Abb. 7-41) gruppiert die dialektintendierten Wenkersätze der Sprecher der älteren und mittleren Generation. Die dialektalen Varianten von mhd. ô, uo und std. /ɐ/ werden nur in der Sprachprobe von FBALT2 hochfrequent verwendet, die Realisierung des konsonantischen Auslauts ist jedoch auch hier schon variabel. Die dialektale Variante von mhd. uo kommt zusätzlich nur in der Sprachprobe von FB3 vor, die Varianten von mhd. ô und std. /ɐ/ nur bei FB1. Sie werden in diesen Sprachproben so selten realisiert, dass von singulären Realisierungen, das heißt Relikten, auszugehen ist. Die Frequenzwerte des Monophthongs für mhd. ei streuen recht stark in einem mittleren bis hohen Bereich. Alle anderen dialektalen Merkmale werden hochfrequent mit geringer Variation verwendet. Bei der b-Spirantisierung lassen sich vergleichsweise niedrige Frequenzwerte bei FB1 und FB3 erkennen.590 Die geringeren Frequenzwerte bei der regionalsprachlichen Variante der Tiefschwa-Vorverlagerung sind mit den damit in Zusammenhang stehenden Realisierungen des konsonantischen -Auslauts zu erklären – die 589 Vgl. für die absoluten und relativen Werte Tab. A.7 im Anhang. Zur Darstellung und Dateninterpretation sowie -kombination vgl. Kap. 4.3.2., 5.1.2. 590 Beide Sprecher realisieren die regionalen Varianten in allen Aufnahmesituationen in einem mittleren Frequenzbereich mit geringer intersituativer Variation. Vgl. Kap. 7.4.3.
315
7.4 Bad Nauheim
näherungsweise reziprok proportionale Verteilung wird hier gut sichtbar. Die relativ deutliche Subdifferenzierung in diesem Cluster (vgl. Abb. 7-40) ist auf die Verteilung bei den ersten drei Variablen zurückzuführen. Die Bedeutung wird bei der Zusammenführung der Ergebnisse diskutiert. In diesen Sprachproben ist die Verwendung der spezifisch zentralhessischen Merkmale variabel. Sie werden teilweise nicht bzw. nur relikthaft produziert. Die neuen regionalsprachlichen Varianten treten schon hochfrequent auf (Bsp. Koronalisierung). Es lassen sich hier also Hinweise auf den Basisdialekt sowie regionalsprachliche Entwicklungen erkennen.591
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Abb. 7-42: Variablenanalyse Cluster 2 (FB)
Im zweiten Cluster, das die freien Gespräche von FB3 und FBALT2 sowie die dialektintendierten Wenkersätze des jungen Sprechers zusammenfasst, wird der konsonantische -Auslaut nicht mehr realisiert, was teilweise schon im ersten Cluster der Fall war. Die dialektalen Varianten von mhd. ô und uo kommen nur noch in einer Sprachprobe mit geringen Frequenzen vor – sie sind demnach noch nicht vollständig abgebaut. Bei mhd. ei und ou lässt sich eine zunehmende Variabilisierung des Gebrauchs des Monophthongs im Vergleich zu Cluster 1 beobachten. Die Werte für beide Varianten streuen in einem mittleren bis niedrigen Fre-
591 Eine genaue Einordnung wird am Ende der Auswertungen vorgenommen.
316
7 Zentralhessisch
quenzbereich. Teilweise gehen sie vollständig zurück. Der Durchschnittsfrequenzwert bei der n-Apokope geht stark zurück. Die Verteilung lässt zwei Verwendungsschwerpunkte (in einem hohen und niedrigen Frequenzbereich) erkennen. Bei den Variablen Negationspartikel, t/d-Assimilation und s-Sonorisierung ist eine geringfügig zunehmende Variabilisierung in den Realisierungen der regionalen Formen festzustellen. Sie werden mit geringer Variation in einem mittleren Frequenzbereich realisiert. Die regionale Form der b-Spirantisierung wird ähnlich häufig wie in Cluster 1 realisiert und variiert dabei nur geringfügig. Die Koronalisierung und die Tiefschwa-Vorverlagerung werden in allen Aufnahmen durchgehend hochfrequent verwendet. Nur in der Sprachprobe von FBJUNG1 sind für die Koronalisierung vergleichsweise wenig regionale Varianten zu bestimmen (vgl. Kap. 7.4.3.4). Die Subdifferenzierung in diesem Cluster tritt nicht sehr deutlich hervor. Die Übertragung der Wenkersätze des jungen Sprechers unterscheidet sich von den anderen Aufnahmen durch die geringen Frequenzwerte bei der Koronalisierung, die Sprachproben des älteren Sprechers durch höhere Frequenzwerte bei manchen dialektalen Varianten. Insgesamt scheint die Zusammenfassung zu einem Cluster gerechtfertigt. Das Cluster ist nicht (mehr) mit dem Dialekt in Verbindung zu bringen.
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Abb. 7-43: Variablenanalyse Cluster 3 (FB)
In Cluster 3 (vgl. Abb. 7-43), das die Standardübertragungen von FB3 und FBALT2 und die Notrufe des anderen Polizisten enthält, werden zusätzlich zu den
317
7.4 Bad Nauheim
beschriebenen Differenzen bei Cluster 2 die standarddifferenten Varianten von mhd. ô, uo, ei und ou sowie der n-Apokope592 nicht mehr realisiert, was bereits in einigen Sprachproben des zweiten Clusters der Fall war. Die Frequenzen der standardabweichenden Varianten von nicht, der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung gehen im Vergleich stark und teilweise vollständig zurück – die Werte streuen in einem mittleren bis niedrigen Frequenzbereich. Mit der Ausnahme bei der Koronalisierung in den Notrufen von FB1 (vgl. dazu Kap. 7.4.3.3) werden diese sowie die s-Sonorisierung und die Tiefschwa-Vorverlagerung weiterhin durchgehend hochfrequent verwendet. Die Notrufe von FB1 unterscheiden sich von den anderen beiden Aufnahmen (vgl. Abb. 7-40) durch niedrigere Frequenzwerte der Koronalisierung und höhere Frequenzwerte der regionalen Negationspartikel und der t/d-Assimilation. Insgesamt sind die Unterschiede in Anzahl und Ausprägung aber derart gering, dass die Proben zu einem Cluster zusammengefasst werden können.
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Abb. 7-44: Variablenanalyse Cluster 4 (FB)
592 In vier von insgesamt 104 Fällen apokopiert FB1 in den Notrufen [n] (4 %). Hier kann also – wie in den anderen Untersuchungsorten bei vergleichbaren Fällen – von singulären Realisierungen ausgegangen werden.
318
7 Zentralhessisch
Das vierte Cluster besteht aus den freien Gesprächen und Standardübertragungen des zweiten Sprechers der mittleren Generation und des Sprechers der jungen Generation (vgl. Abb. 7-44). Zusätzlich werden in diesen Sprachproben die standarddifferenten Varianten der Negationspartikel (fast) nicht mehr realisiert. Die Verteilung der Varianten der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung sind im Vergleich zu Cluster 3 sehr ähnlich. Die Durchschnittsfrequenzen der regionalen Formen sind im vierten Cluster geringfügig höher, was möglicherweise durch die Aufnahmesituation der Standardübertragung (d. h. bewusste Sprachproduktion) in Cluster 3 zu erklären ist.593 Ein zunehmender Frequenzrückgang – in einigen der Aufnahmen auch ein vollständiger Rückgang der Frequenzen – ist bei den standardabweichenden Varianten der s-Sonorisierung und Koronalisierung zu sehen. Lediglich die Tiefschwa-Vorverlagerung wird weiterhin – nahezu invariant – hochfrequent verwendet. Die Einzelanalysen zeigen, dass die Varietätengrenze zur Standardsprache an der Verteilung der remanenten Merkmale und hier vor allem der vorverlagerten Tiefschwa-Variante sichtbar wird. Sie wird in allen Sprachproben durchgehend hochfrequent realisiert, das heißt sie kann nicht kontrolliert werden.594 Teilweise gilt dies auch für die Koronalisierung und die s-Sonorisierung. Zwei Sprecher (FBALT2 und FB3) verwenden die Merkmale ebenso durchgehend hochfrequent und können sie nicht kontrollieren, sodass sich hier zusätzlich die Varietätengrenze abzeichnet. Die anderen beiden Sprecher bauen ihre Standardkompetenz aus und kontrollieren die Merkmale – teilweise erfolgreich. Im Fall der beiden Merkmale „arbeiten“ sie daher an der Überwindung der Varietätengrenze – der junge Sprecher vermag dies bereits (zur Struktur des Spektrums s. u.). Ein zweite Muster ist nur schwach ausgeprägt und in sich nicht konsistent. Die spezifisch zentralhessischen Varianten werden insgesamt selten und in nur vier Sprachproben realisiert, verteilen sich jedoch unterschiedlich auf diese Proben. Zum Teil sind die dialektalen Varianten in den Aufnahmen des ersten Clusters nicht mehr vorhanden, werden aber in einer Sprachprobe des zweiten Clusters (außer std. /ɐ/) verwendet (vgl. Abb. 7-41–42). Lediglich die dialektintendierten Wenkersätze des alten Sprechers heben sich von den anderen beiden Sprachproben ab und lassen das Muster deutlicher erkennen, da hier die genannten Merkmale (hoch-)frequent und kombiniert verwendet sowie gleichzeitig die neue Variante des Auslauts seltener realisiert werden. In der Realisierung der meisten anderen regionalen Merkmale ist eine durchgehende Variabilisierung festzuhalten. Es lassen sich bei manchen Merkmalen Verwendungsschwerpunkte ermitteln, partiell mit starken Frequenzrückgängen (vgl. bspw. s-Sonorisierung, Koronalisierung). In der Verwendung n-Apokope können zwei Verwendungsschwerpunkte ermittelt wer-
593 Die Frequenzwerte der regionalen Varianten der beiden Variablen sind in den Standardübertragungen aller vier Sprecher sehr ähnlich, was die Vermutung stützt. 594 Eine Ausnahme gibt es in Cluster 1 (WSD_FBALT2). Diese wird durch die konsonantischen Varianten des Auslauts bedingt und betrifft den unteren Bereich des regionalsprachlichen Spektrums.
7.4 Bad Nauheim
319
den, zwischen denen ein großer Frequenzunterschied besteht. Die Schwerpunkte und damit auch die Frequenzrückgänge unterscheiden sich jeweils untereinander (vgl. bspw. n-Apokope zwischen den Sprachproben des zweiten Clusters und sSonorisierung zwischen der Sprachproben der Cluster 3 und 4). Das heißt, sie finden nicht zwischen denselben Sprachproben statt, was wiederum bedeutet, dass es in diesen Variantenverteilungen keine kombinierten und systematischen Differenzen der Frequenzwerte gibt. Der vollständige Rückgang von dialektalen Varianten geht oft mit einer Variabilisierung einher und findet für verschiedene Varianten in unterschiedlichen Sprachproben statt (vgl. bspw. std. /ɐ/ zwischen den Sprachproben des ersten und n-Apokope zwischen denen des dritten Clusters). Es treten zudem Fälle auf, bei denen die standarddifferenten Varianten in manchen Sprachproben eines Clusters bereits vollständig abgelegt werden, in manchen Sprachproben des nächsten Clusters aber realisiert werden (vgl. bspw. mhd. ei und ou in Cluster 2 und 3). In den Variantenverteilungen können daher keine systematischen und kombinierten Unterschiede ermittelt werden. Die Frequenzwerte streuen auch hier über die Sprachproben und die Wertdifferenzen über die Variablen. Dies ähnelt den Ergebnissen aus Büdingen und Frankfurt sowie den rheinfränkischen Untersuchungsorten. Ähnlichkeiten zu den Ergebnissen in Büdingen gibt es auch bei der Verteilung der spezifisch zentralhessischen Merkmale. Sie sind in der Realisierung variabel und verteilen sich nur auf wenige Sprachproben. Im Gegensatz zu Ulrichstein und Gießen werden in den Bad Nauheimer Aufnahmen weder diese Merkmale gemeinsam, noch diese in Kombinationen mit den standarddifferenten Varianten von mhd. ei und ou abgebaut. Häufig ist zudem von relikthaften bzw. lexikalisierten Realisierungen auszugehen. Das heißt, dass dieses Muster noch schwächer ausgeprägt ist als in Büdingen und noch am deutlichsten in den dialektintendierten Wenkersätzen des älteren Sprechers zu erkennen ist. Es lässt sich also empirisch keine Varietätengrenze im regionalsprachlichen Teil des Spektrums ermitteln. Diese Schlussfolgerung wird durch den direkten Bezug zur Clusteranalyse bestätigt. Diese bildet den Hauptunterschied zwischen dem ersten Cluster und den drei weiteren.595 Die Einzelauswertungen (vgl. Abb. 7-41–42) zeigen bereits, dass zwischen beiden Clustern kein kategorialer Unterschied besteht.596 Vergleicht man in diesem Fall die ähnlichsten der unähnlichen Sprachproben, betrifft dies die dialektintendierten Wenkersätze von FB3 aus Cluster 1 und das Freundesgespräch von FBALT2 aus Cluster 2. Zwischen beiden besteht ein kategorialer Unterschied (vgl. Fn. 596). Die dialektale Variante von mhd. ô wird von FBALT2 verwendet und von FB3 nicht produziert. Dies ist jedoch – ebenso wie die Verteilung der Varianten von mhd. uo – eine genau entgegengesetzte Verteilung, die nicht den Mustern der Cluster entspricht und somit einer diskreten Grenze widerspräche. 595 Als Bezug wird aus diesen drei Clustern Cluster 2 gewählt (vgl. Abb. 7-40). 596 Alle Merkmale, deren standarddifferente Varianten in Cluster 2 vollständig zurückgehen, werden bereits in Cluster 1 in manchen Sprachproben nicht mehr realisiert bzw. werden in Cluster 2 dialektale Formen realisiert, die zum Teil in Cluster 1 nicht mehr vorkommen.
320
7 Zentralhessisch
Ansonsten bestehen zwischen den beiden Sprachproben bei den Variablen mhd. ei, ou, nicht, t/d-Assimilation und s-Sonorisierung eher geringe Frequenzunterschiede in den Variantenverteilungen, bei den restlichen Variablen keine bzw. minimale Unterschiede. Zusammenfassen lässt sich, dass lediglich in der Realisierung von fünf regionalen Varianten Frequenzunterschiede in niedriger bis mittlerer Ausprägung auftreten und zusätzlich eine dem Muster entgegengesetzte Verteilung zu sehen ist. Dies spricht insgesamt gegen eine diskrete Abgrenzung. In den Bad Nauheimer Aufnahmen können Hyperdialektalismen ermittelt werden. FB1 produziert in den dialektintendierten Wenkersätzen Analogiebildungen zu mhd. ei und ou – er realisiert beißen, bleib, schreien (< mhd. î) und braune (< mhd. û) nicht mit dialektalen Diphthongen, sondern mit [a̠ː]. Außerdem verwendet er einen Diphthong [u͡ɞ] in gute, der nicht dem Dialekt entspricht. Dies lässt sich als Indiz für eine Varietätengrenze werten, muss aber nicht den bisherigen Ergebnissen widersprechen. Das Vorkommen der Hyperformen kann bei der Synthese der Auswertungen erklärt werden und entspricht dem bisherigen Befund (vgl. Fn. 603). Der direkte Bezug zu den Auswertungen zu Büdingen ist als weiteres Argument gegen eine Varietätengrenze zu werten. Die Ergebnisse der Clusteranalysen in den beiden Orten desselben Dialektverbandes auf Grundlage identischer Variablen legen – bei Annahme einer Grenze bzw. ohne weitere Auswertungen – Varietätengrenzen nahe, die sowohl von den Dialektalitätswerten (BÜD ~ 1,6, FB ~ 2) als auch von den Merkmalen unterschiedlich konstituiert wären. Dass dieser Befund gegen diskrete Varietätengrenzen spricht, wird bei einem Vergleich zweier Sprachproben noch deutlicher. Das Sprachverhalten von FBALT2 im Interview und das von BÜD3 im Freundesgespräch sind sehr ähnlich. Bei neun von zwölf Variablen können keine bzw. nur minimale Frequenzunterschiede in der Verteilung der standarddifferenten Varianten festgestellt werden. Bei drei Variablen sind etwas höhere Wertedifferenzen zu sehen. So produziert FBALT2 die nApokope etwas häufiger als BÜD3 und BÜD3 wiederum die s-Sonorisierung geringfügig häufiger und die regionale Form von nicht ungefähr doppelt so oft wie FBALT2. Kategoriale Unterschiede bestehen keine. Das heißt, dass in der Realisierung der regionalen Form von nicht höhere Frequenzunterschiede bestehen, ansonsten die Variantenverteilung jedoch ähnlich bzw. identisch ist. Dennoch würden die Proben, folgt man den Ergebnissen der Clusteranalysen bzw. nimmt man Varietätengrenzen an, unterschiedlichen Varietäten angehören. In Büdingen wird die Probe dem standardfernen Cluster und Bad Nauheim dem standardnäheren Cluster zugeordnet. Dies spricht – ähnlich wie in den beiden rheinfränkischen Orten (vgl. Kap. 5.2.2) – gegen harte Varietätengrenzen.597 Die empirischen Be-
597 Die unterschiedlichen Clusterungen im BÜD und FB kommen deshalb zustande, da es in den Variantenverteilungen beider Orte, die der Differenzierung der Sprachproben dienen, keine systematischen und kombinierten Unterschiede gibt und die Clusteranalyse in diesem Fall bei den meisten und höchsten quantitativen Unterschieden die Hauptunterteilung vornimmt. Aufgrund unterschiedlicher Sprachverhaltensmuster unterscheiden sich demnach die Ergebnisse
321
7.4 Bad Nauheim
funde resultieren somit in der Schlussfolgerung, dass auch in Bad Nauheim ein regionalsprachliches Kontinuum ohne diskrete Varietäten angenommen werden kann. [ɐ]VV
[b]
[nd]
[s]
Kor.
nicht
[n]
ou
ei
uo
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Abb. 7-45: Implikationsanalyse Bad Nauheim
Zusätzliche Bestätigung erfährt der bisherige Befund durch die Ergebnisse der Implikationsanalyse, die in Abb. 7-45 dargestellt sind. In den Bad Nauheimer Sprachaufnahmen sind vier Variablen zu identifizieren, deren regionale Varianten in allen Aufnahmen vorhanden sind (Tiefschwa-Vorverlagerung, b-Spirantisierung, t/d-Assimilation und s-Sonorisierung).598 Sie können als remanent klassifiziert werden und indizieren die Varietätengrenze zur Standardsprache. Bei den restlichen Variablen kann in der kategorialen Variantenverteilung kein gemeinsames Muster bestimmt werden. Es lässt sich eine Gruppe aus zwei Variablen (mhd. ei und ou) aufgrund gleicher Variantenverteilungen bilden, ansonsten können keine Gruppen geformt werden, bzw. sechs Gruppen, die aus jeweils einer Variablen
in FB und BÜD (vgl. Kap. 7.3.3 und 7.4.3). Wie in Büdingen (vgl. Fn. 544) bedingen in den Bad Nauheimer Aufnahmen die höchsten Frequenzunterschiede der Mittelwerte die Hauptdifferenzierung, diese gehen jedoch fast immer mit einer Variabilisierung einher. 598 Die Deviation bei der s-Sonorisierung zeigt auch hier an, dass bei diesen Variablen keine identische Verteilung der Varianten vorliegt, was dem grundlegenden Ergebnis gleicht.
322
7 Zentralhessisch
bestehen. Für sie gilt, dass die regionalen Varianten im Vergleich alle unterschiedlich auf die Sprachproben verteilt sind, was zusätzlich durch die Deviationen verdeutlich wird (vgl. Kap. 5.1.2). Bei den Sprachproben wiederum können sieben Gruppen (tw. einzelne Aufnahmen) gebildet werden, die sich in einem Fall im Vorhandensein von zwei regionalen Merkmalen und sonst jeweils nur im Vorhandensein eines regionalen Merkmals unterscheiden. In der Variantenverteilung kann kein systematischer und kombinierter Unterschied festgestellt werden. Im Gesamtvergleich der Variablen und Sprachproben zeigt sich ein sukzessiver Ersatz der standarddifferenten durch standardsprachliche Varianten (Stufenschema in Abb. 7-45) bzw. eine differente kategoriale Verteilung der Varianten (vgl. Deviationen).599 7.4.2.2 Theoretische Analysen Für die theoretische Betrachtung können aufgrund desselben Dialektverbandes für Bad Nauheim die Ergebnisse aus Ulrichstein, Gießen und Büdingen herangezogen werden. Der zentralhessische Dialekt kann aufgrund seiner Struktur (Verhältnis der Typ1a- und Typ1b-/Typ2-Varianten) distinkt vom Regiolekt differenziert werden. Die Merkmale sind hauptsächlich kleinräumiger verteilt, sodass auch hier die Kriterien für eine Dialektdefinition als Vollvarietät erfüllt wären. Ähnlich wie in Büdingen zeichnet sich in den Bad Nauheimer Daten in Cluster 1 der Basisdialekt ab. Die spezifisch zentralhessischen Merkmale werden in den dazugehörigen Proben realisiert. Hinzu kommen, wie die qualitative Auswertung ergibt, weitere Merkmale dieser Kategorie (vgl. Tab. A.3), wie beispielsweise die Realisierung von mhd. ie als [ɛ͡ɪ] (liebes) oder von mhd. i1 als [ɪ͡ɘ] (Kind).600 Durch den konsonantischen Auslaut wird auch die Tiefschwa-Vorverlagerung in diesem Cluster vergleichsweise selten produziert. Hier könnte also die Varietät Dialekt angenommen werden. Wie in Büdingen darf bei diesen theoretischen Ausführungen die tatsächliche Verteilung nicht unberücksichtigt bleiben. Die ausschließlich zentralhessischen Merkmale kommen lediglich in einer Sprachprobe des Clusters (Dialektübertragung des älteren Sprechers) (hoch-)frequent vor, sind dabei aber insgesamt bereits variabel. In den anderen beiden Sprachproben des Clusters werden diese Varianten gar nicht oder nur sehr selten verwendet, sodass von einzelnen Relikten ausgegangen werden muss. Hinzu kommt, dass die neuen regionalsprachlichen Merkmale im gesamten Cluster – mit der beschriebenen Ausnahme
599 Ähnlich wie bei den anderen Auswertungsmethoden bestätigt auch der Abgleich der Implikationsanalysen in Bad Nauheim und Büdingen durch unterschiedliche Differenzen in den kategorialen Variantenverteilungen die Annahme, dass keine Varietätengrenze vorliegt (s. o.). Auch die weiteren Ergebnisse für Bad Nauheim (bspw. Sprachverhalten der Sprecher) – gerade im Vergleich zu Büdingen – sind in der Implikationsanalyse zu erkennen. 600 Es lassen sich jedoch nicht alle spezifisch zentralhessischen Merkmale mehr erheben, wie es in den anderen drei Orten der Fall war.
7.4 Bad Nauheim
323
bei – insgesamt hochfrequent realisiert werden (v. a. die Koronalisierung). Auch die weiteren Merkmale (vgl. Tab. A.3) werden nur sehr selten, teilweise nur von FBALT2, fast nur in der Abfrage und nie durchgehend verwendet. Analog zu Büdingen lässt sich auch hier insgesamt von Resten des Basisdialekts ausgehen601 und dies vor allem bei der Sprachaufnahme des Sprechers der älteren Generation, die sich aufgrund ihrer spezifischen Verteilung auch von den anderen beiden Sprachproben des Clusters abhebt (vgl. Abb. 7-40). In dieser Sprachprobe tritt der basisdialektale Rest am deutlichsten hervor, viele Dialektmerkmale kann der Sprecher noch abrufen (vgl. auch Kap. 7.4.3.1), manche von diesen aber nur noch singulär und nur sehr selten durchgehend (vgl. dazu Fn. 558). Diese Ergebnisse sprechen – wie in Büdingen – dafür, dass der Dialekt kein eigenständiges System mehr bildet (vgl. Kap. 7.3.2). Es gibt übergreifend keine kombinierten Strukturverbindungen mehr, die ein System konstituierten, sondern singuläre Strukturen, die noch abgerufen werden können, bzw. ist häufig sogar nur noch von lexikalischen Einheiten (Relikten) auszugehen, die produziert werden (vgl. Dialektübertragungen der beiden Sprecher der mittleren Generation). Gleichzeitig werden die neuen regionalsprachlichen Merkmale hochfrequent produziert. Für Bad Nauheim kann demnach auch ein regionalsprachliches Kontinuum mit Basisdialektrest als Spektrumstyp ermittelt werden. Innerhalb dieses Kontinuums ist keine feste Varietätengrenze vorhanden,602 eine ehemalige, weiter schwindende Varietätengrenze ist an der Verteilung mancher Varianten noch erkennbar.603
601 Auch in den sprachbiografischen Interviews der Bad Nauheimer Sprecher lassen sich Hinweise finden, die die Konzeptualisierung als Basisdialektrest bestätigen (vgl. Fn. 556). 602 Dass keine feste Varietätengrenze mehr besteht, die Reste aber noch erkennbar sind, zeigt die Verteilung der dialektalen Varianten von mhd. ô und uo. Diese sind in den Sprachproben des Clusters 1 bereits tw. abgebaut, werden wiederum in Cluster 2, das theoretisch gemäß der Clusteranalyse einer anderen Varietät angehören würde, verwendet. Die Verteilung indiziert demnach eine Variabilität der Realisierung ohne feste Grenze – m. a. W. eine gewisse freie Variation ohne Sprachverwendungsmuster, die den zwei Varietäten entspräche. 603 Dies belegen auch die Hyperkorrekturen. Diese geben einen Hinweis auf eine mögliche Varietätengrenze. Sie treten nur bei einem Sprecher auf und tw. nur einzellexematisch (braune, gute). Die Qualität und Quantität der Hyperformen (v. a. bei mhd. ei; insgesamt wenige Belege) kann als Bestätigung der bisherigen Ausführungen betrachtet werden. Es ist noch eine (ehemalige) Varietätengrenze anhand einiger Strukturen (eben jenen Hyperformen) erkennbar. Die Grenze ist aber im Schwinden begriffen.
324
7 Zentralhessisch
7.4.2.3 Zusammenführung Für Bad Nauheim ergibt die Kombination der empirischen und theoretischen Ergebnisse als Spektrumstyp ein regionalsprachliches Kontinuum mit Basisdialektrest. Empirisch können keine Varietätengrenze und somit keine distinkten Varietäten ermittelt werden. Der Basisdialektrest, der synchron kein eigenständiges System mehr bildet, und der Regiolekt können als Bereiche des Kontinuums bestimmt werden und sind durch einen Übergangsraum miteinander verbunden. Eine genaue Abgrenzung ist per definitionem nicht möglich (vgl. Fn. 558) und wird durch die Variabilität der Verwendung der dialektalen Varianten deutlich.604 Als Sprechlage kann neben dem unteren Pol des Basisdialektrests aufgrund von Sprachverwendungsmustern der obere Pol des Spektrums als Regionalakzent bestimmt werden. Ihm können Sprachproben der Cluster 3 und 4 zugeordnet werden.605 Eine genaue Abgrenzung ist auch hier nicht möglich. Das regionalsprachliche Spektrum in Bad Nauheim kann also durch die Kombination der Auswertungen wie folgt modelliert werden:
604 Die Sprecher shiften im Kontinuum und können sich sukzessive durch Frequenzreduktionen, die auch zum totalen Rückgang standarddifferenter Varianten führen können, oder Sprechlagen-/Bereichswechsel der Standardvarietät annähern. Zur Realisierung des basisdialektalen Rests vgl. Fn. 558 in BÜD. In Bad Nauheim wird dies besonders durch den Gesamtvergleich des Sprachverhaltens deutlich (vgl. Abb. 7-46). 605 Die Sprachproben der Cluster unterscheiden sich in der Verteilung der standarddifferenten Varianten der s-Sonorisierung und Koronalisierung, die FB1 und FBJUNG1 partiell kontrollieren können. Die qualitative Analyse (vgl. Kap. 7.4.3) und die Auswertung der Dialektalitätswerte zeigen, dass in den freien Gesprächen von FB1 und FBJUNG1 weitere regionale Merkmale frequent realisiert werden (bspw. Lenisierung, a-Verdumpfung, Elisionen). Diese Verteilung der Varianten entspricht den Standardkompetenzerhebungen der Sprecher FBALT2 und FB3. Die Freundesgespräche und die Interviews der beiden Sprecher können demnach dem Regionalakzent zugeordnet werden. Die Sprecher „arbeiten“ an der Kontrolle der s-Sonorisierung und Koronalisierung, was als Ausbau der Sprechlage in Richtung Standardvarietät gewertet werden kann. Dass hier eine Sprechlagengrenze nach unten vorliegt, bestätigt der Abgleich mit den freien Gesprächen von FB3. Zusätzliche Unterschiede zwischen den Sprachproben ergeben sich aus einer zunehmenden Variabilisierung des Gebrauchs weiterer regionaler Merkmale (bspw. Lenisierung) und nahezu totalen Rückgängen von Typ 1bVarianten (bspw. nicht).
325
7.4 Bad Nauheim
regionalsprachliches Kontinuum
Standardsprache
Regionalakzent
Regiolekt
Übergangsraum
Basisdialektrest
Abb. 7-46: Modellierung des Spektrums für Bad Nauheim (FB)
7.4.3 Sprachverhalten 7.4.3.1 FBALT2 Sprecher FBALT2 ist 1939 in Bad Nauheim geboren und hat sein ganzes Leben dort verbracht. Auch seine Familie stammt aus der Stadt. Zur Zeit der Aufnahme war FBALT2 Rentner; er arbeitete während seiner Erwerbsphase als Landwirt. Laut Eigenaussage wurde er im Platt primärsozialisiert, was aber im Laufe der Jugend immer weniger gesprochen wurde. In den dialektintendierten Wenkersätzen realisiert der Sprecher die spezifisch zentralhessischen Formen für mhd. ô und uo hochfrequent, den -Auslaut auch noch mehrheitlich dialektal, obschon er diesen fast in der Hälfte der Fälle bereits durch neue regionalsprachliche Varianten ersetzt (vgl. Abb. 7-47). Auch die monophthongische Variante von mhd. ei produziert er vergleichsweise selten, alle anderen standarddifferenten Varianten verwendet er durchgehend hochfrequent – auch die neuen regionalsprachlichen Varianten. In der Sprachprobe können zudem weitere zentralhessische Formen (bspw. [ʋe͡ ̞ ɪ̽ ] wie, vgl. Tab. A.3) identifiziert werden. Diese werden nie durchgehend hochfrequent und zum Teil auch nur vereinzelt (bspw. mhd. ê [ʃd̥iː] stehen) verwendet. Die Probe kann insgesamt
326
7 Zentralhessisch
dem Basisdialektrest zugewiesen werden; von allen Bad Nauheimer Sprechern weist FBALT2 die höchste Kompetenz auf (vgl. Kap. 7.3.3.3). Seiner Einschätzung nach beherrscht er den Dialekt nicht mehr perfekt, was auf die Struktur des basisdialektalen Rests deuten könnte.
ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
Abb. 7-47: Variablenanalyse FBALT1
Im Freundesgespräch, das er mit einem Freund aus Bad Nauheim führt, realisiert er die dialektalen Varianten von mhd. uo und ô nur noch sehr selten (hauptsächlich in wenigen Lemmata, bspw. Schule). Den konsonantischen Auslaut und die weiteren Dialektmerkmale (vgl. Tab. A.3) verwendet er nicht mehr. Ein starker Frequenzrückgang kann zudem bei den standarddifferenten Varianten von mhd. ei und ou beobachtet werden, ebenso geringe Rückgänge bei den entsprechenden Varianten der Negationspartikel, t/d-Assimilation und s-Sonorisierung. Die Häufigkeit der Verwendung der Tiefschwa-Vorverlagerung steigt, da der konsonantische Auslaut nicht mehr realisiert wird. Ansonsten sind die Frequenzwerte mit denen der Dialektübertragung vergleichbar. In der Sprachprobe kommen zwar vereinzelt basisdialektale Formen vor, insgesamt kann sie aber nicht mehr dem Basisdialektrest, sondern einem geringfügig standardnäheren Bereich zugeordnet werden. FBALT2 bezeichnet die Sprechweise als Mischung aus Platt und Hochdeutsch, was den objektlinguistischer Analysen nahekommt. In der formellen Situation des Interviews realisiert FBALT2 die wenigen dialektalen Varianten von mhd. ô und uo des Freundesgesprächs nicht mehr, die standarddifferente Variante von mhd. ei fast nicht mehr. Die Frequenzwerte der
7.4 Bad Nauheim
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regionalen Varianten von mhd. ou und der t/d-Assimilation sinken im Vergleich zum Freundesgespräch. Bei den anderen regionalen Merkmalen sind keine, allenfalls minimale Veränderungen der Verwendung zu beobachten. Dies betrifft auch weitere Merkmale (vgl. Tab. A.4). Das bedeutet, dass diese Sprachprobe analog zum Freundesgespräch eingeordnet werden kann und dass der Sprecher intersituativ minimal variiert. Er nennt die Sprechweise selbst Hochsprache. Dies könnte ggf. daran liegen, dass er in dieser keine basisdialektalen Relikte mehr verwendet – ansonsten entspricht sie weitgehend der Sprachverwendung in informellen Situationen. In der Standardkompetenzerhebung gehen die regionalen Varianten von mhd. ei, ou, der n-Apokope und der Negationspartikel vollständig zurück. Des Weiteren verwendet der Sprecher die standarddifferenten Formen der t/d-Assimilation und der b-Spirantisierung seltener als im Interview. Nur die Werte bei der s-Sonorisierung, Koronalisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung bleiben auf hohem Niveau. Zudem produziert er einige der in Tab. A.5 aufgeführten Merkmale weiterhin (hoch-)frequent (bspw. das). Die Sprachprobe kann mit dem Regionalakzent in Verbindung gebracht werden. Die Restarealität scheint FBALT2 bewusst zu sein, da er seine Standardkompetenz als recht stark regional markiert bewertet. FBALT2 hat also noch Kompetenzen im Basisdialekt (Basisdialektrest). Er bewegt sich im kommunikativen Alltag sprachlich in einem (absolut gesehen) sehr standardfernen Bereich des Kontinuums, der dem Basisdialektrest nahekommt, und variiert dabei intersituativ kaum. Die Standardkompetenz entspricht dem Regionalakzent. Er ähnelt somit dem Sprecher BÜDALT2 (vgl. Kap. 7.3.3.1). 7.4.3.2 FB3 Der Sprecher FB3 ist 1958 in Bad Nauheim geboren und lebt seitdem dort. Außer seinen Großeltern mütterlicherseits – aus Ungarn –, die er aber nicht mehr kennenlernte, stammt seine Familie auch aus Bad Nauheim. Zur Zeit der Aufnahme war FB3 als Polizeihauptkommissar tätig, während seiner Ausbildung bei der Polizei lebte er kurzzeitig in Kassel und Wiesbaden, war aber regelmäßig zu Hause in Bad Nauheim. Er gibt an, auf Hochdeutsch von seinen Eltern erzogen worden zu sein und das Platt erst im Laufe der Kindheit und Jugend „aufgenommen“ zu haben. FB3 produziert in der Dialektübertragung (vgl. Abb. 7-48) nur noch wenige dialektale Formen für mhd. uo und vereinzelt weitere spezifische Merkmale des Zentralhessischen (bspw. mhd. üe [mo͡ ̞ e̞t̬ ʰ] müde). Viele der dialektalen Varianten – darunter mhd. ô und std. /ɐ/ – können bei ihm nicht mehr abgefragt werden. Auch die monophthongische Variante von mhd. ei realisiert er selten. Alle weiteren standardabweichenden Merkmale verwendet er hochfrequent, bei der nApokope und der b-Spirantisierung lässt sich eine gewisse Variabilität der Realisierung festhalten. Die neuen regionalsprachlichen Varianten produziert er durchgehend hochfrequent. Dies bedeutet, dass der Informant entsprechend seiner Pri-
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märsozialisation keine Kompetenzen mehr im Basisdialekt hat und lediglich wenige lexikalische Relikte abrufen kann. Um diese fehlende Kompetenz weiß auch FB3, der seine aktive Kompetenz als gering einschätzt.
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Abb. 7-48: Variablenanalyse FB3
Im Freundesgespräch, das er mit einem Kollegen führt, sind Unterschiede des Sprachverhaltens im Vergleich zu den dialektintendierten Wenkersätzen zu erkennen. FB3 verwendet die standarddifferenten Varianten von mhd. uo, ei, und ou nicht mehr. Deutliche Frequenzreduktionen sind in den Realisierungen der regionalen Varianten der n-Apokope, t/d-Assimilation und s-Sonorisierung festzustellen. Ansonsten ähneln die Werte denen der Dialektübertragung (vgl. auch Tab. A.4). Die Sprachprobe kann einem mittleren Bereich des Spektrums zugeordnet werden. FB3 bezeichnet sie als Hochdeutsch, was möglicherweise an einer Kontrastierung zu den basisdialektalen Resten liegen könnte. Die meisten Variantenverteilungen und produzierten Merkmale im Interview ähneln bzw. gleichen denen des Freundesgesprächs. Lediglich bei der Negationspartikel und der n-Apokope kann ein Rückgang der regionalen Variante beobachtet werden. Das heißt, dass FB3 intersituativ kaum variiert und die Sprachprobe analog zum Freundesgespräch bewertet werden kann. FB3 bezeichnet auch diese Sprechweise als Hochdeutsch, was der minimalen intersituativen Variation entspricht. In der Standardübertragung der Wenkersätze verwendet FB3 zusätzlich die regionalen Varianten der n-Apokope, der Negationspartikel und der t/d-Assimilation nicht mehr. Außerdem lässt sich ein leichter Rückgang der Frequenzen
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der b-Spirantisierung sowie bei weiteren standardabweichenden Merkmalen (bspw. bei das, vgl. Tab. A.5) erkennen. Die Frequenzen der s-Sonorisierung nehmen zu.606 Nur die Koronalisierung und die Tiefschwa-Vorverlagerung werden weiterhin hochfrequent ohne Variation realisiert. Die Aufnahme kann dem Regionalakzent zugeordnet werden. FB3 bewertet sie – trotz der Restarealität – als nicht sehr stark regional geprägt. Der Sprecher FB3 hat keine Kompetenzen im Basisdialekt mehr, er kann nur singuläre Relikte abrufen. Im kommunikativen Alltag verwendet er eine regiolektale Sprechlage und variiert intersituativ kaum. Die Standardkompetenz ist dem Regionalakzent zuzuordnen. Der Sprecher ähnelt in seinem Sprachverhalten dem Typ des Regiolektsprechers (moveless). 7.4.3.3 FB1 Sprecher FB1 ist 1961 in Bad Nauheim geboren und hat bisher sein ganzes Leben dort verbracht. Seine Vorfahren kommen auch aus der Stadt, mit Ausnahme seiner Großeltern mütterlicherseits, die aus Pommern stammten, an die er sich aber nicht mehr erinnern kann. Zur Zeit der Aufnahme arbeitete FB1 als Polizeioberkommissar. Er ist nach eigenen Angaben auf Hochdeutsch von den Eltern primärsozialisiert worden und hat moderates Platt in der Kindheit von Freunden gehört. In der Dialektübertragung realisiert FB1 die zentralhessischen Varianten von mhd. ô und std. /ɐ/ selten (vgl. Abb. 7-49). Die dialektalen Varianten von mhd. uo können bei ihm nicht mehr abgefragt werden. Auch von den weiteren in Tab. A.3 aufgelisteten Merkmalen produziert er viele nicht mehr und die wenigen, die er abrufen kann, äußerst selten (bspw. [uːs] unserem). Die standarddifferenten Varianten von mhd. ei, ou, der n-Apokope, der Negationspartikel, der t/d-Assimilation und der s-Sonorisierung verwendet er hochfrequent. Die b-Spirantisierung realisiert er vergleichsweise selten, was der Verteilung in den anderen Aufnahmen entspricht. Er scheint das Merkmal nicht kontrollieren zu können. Die ebenfalls vergleichsweise niedrigen Frequenzen bei der Koronalisierung können auch durch die allgemeine Verwendung des Merkmals erklärt werden (s. u.), die der Tiefschwa-Vorverlagerung durch die konsonantischen Relikte. Hinzu kommen bei diesem Sprecher – wenn auch nur in wenigen Fällen – Hyperdialektalismen (vgl. Kap. 7.4.2). Das bedeutet, dass der Sprecher nur noch eingeschränkt dialektkompetent ist und vereinzelt dialektale Formen produziert. FB1 schätzt seine Kompetenz als mittelmäßig ein, was diesem Ergebnis nahekommt.
606 Hier scheint es eine Abhängigkeit der Realisierungen von der Erhebungssituation zu geben. Bei bewusster Sprachproduktion werden die stimmhaften Varianten öfter realisiert als in freier Rede.
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7 Zentralhessisch
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Abb. 7-49: Variablenanalyse FB1
Das Sprachverhalten von FB1 im Freundesgespräch, das er mit einem befreundeten Nachbarn führt, zeigt deutliche Unterschiede zu dem der dialektintendierten Wenkersätze. FB1 verwendet hier keine standarddifferenten Varianten für mhd. ô, std. /ɐ/, mhd. ei und ou, die n-Apokope und die Negationspartikel mehr. Die Anzahl der regionalen Formen der t/d-Assimilation, s-Sonorisierung und Koronalisierung sinkt deutlich. Das heißt, dass der Sprecher die beiden Merkmale sSonorisierung und Koronalisierung partiell kontrollieren kann. Lediglich die Tiefschwa-Vorverlagerung wird hochfrequent vom Sprecher realisiert. Die Frequenzen nehmen zu, da keine konsonantischen Formen mehr produziert werden. Die Sprachprobe kann dem Regionalakzent zugeordnet werden (vgl. Kap. 7.4.2). Sie indiziert zugleich eine gewisse Kontrolle der Merkmale s-Sonorisierung und Koronalisierung durch den Sprecher. FB1 bezeichnet die Sprechweise als hessische Umgangssprache, was ggf. durch das Erhebungssetting (Umgangssprache) und die geringe Restarealität (hessisch) zu erklären ist. In der formellen Situation des Interviews verhält sich der Sprecher sprachlich fast genauso wie im Freundesgespräch, was bedeutet, dass er intersituativ kaum variiert. Er verwendet lediglich die regionalen Formen der b-Spirantisierung und der s-Sonorisierung seltener, was bei der s-Sonorisierung zum totalen Rückgang der regionalen Variante führt. Ansonsten bestehen keine, allenfalls minimale Frequenzunterschiede. Diese Sprechweise wird von FB1 als Umgangssprache beschrieben. Die Umgangssprache kann sich auf die freie Sprachverwendung bezie-
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hen, die fehlende Attribuierung mit hessisch ist anhand der Daten nicht zu erklären. In den Notrufen besteht ein geringer Unterschied im Vergleich zum Sprachverhalten des Freundesgesprächs und des Interviews. Das Sprachverhalten in dieser Situation ist etwas standardferner, da FB1 die regionalen Varianten der Negationspartikel und der s-Sonorisierung deutlich häufiger verwendet, die der t/dAssimilation und der n-Apokope geringfügig häufiger. Ansonsten liegen die Werte in einem ähnlichen Frequenzbereich wie bei den anderen beiden Performanzsituationen. Auch die weiteren regionalen Merkmale gleichen denen der anderen freien Gespräche (vgl. Tab. A.4). Die geringe Variation kann mit dem Gesprächspartner zu tun haben, da FB1 angibt, sich auf diesen einzustellen.607 Trotz der Variation kann auch diese Sprachprobe dem Regionalakzent zugeordnet werden. Bei der Übertragung der Wenkersätze in das individuell beste Hochdeutsch lässt sich bei FB1 eine weitere Annäherung an die Standardsprache erkennen. Im Vergleich zum Interview realisiert er die standarddifferenten Varianten der t/dAssimilation und der b-Spirantisierung seltener. Die Werte der s-Sonorisierung steigen leicht in einem niedrigen Frequenzbereich. Lediglich die TiefschwaVorverlagerung wird unverändert hochfrequent verwendet. Sonstige typische Merkmale des Regionalakzents produziert FB1 selten (bspw. Lenisierung, Nasalierung, vgl. Fn. 609). Auch diese Sprachprobe ist dem Regionalakzent zu subsumieren und deutet auf einen standardadvergenten Ausbau des Regionalakzents hin. FB1 bewertet die regionale Markierung entsprechend der objektlinguistischen Ergebnisse als relativ gering. FB1 kann den Basisdialektrest nur bedingt abrufen. Er verwendet nur einzelne Formen, die meist als Relikte zu beschreiben sind. Sein Sprachverhalten des kommunikativen Alltags liegt im Bereich des Regionalakzents. Der Sprecher variiert dabei intersituativ kaum, kann sich aber geringfügig dem Gesprächspartner anpassen. Auch seine Standardkompetenz entspricht dem Regionalakzent. Er ähnelt dem Regionalakzent-Sprecher aus Büdingen. 7.4.3.4 FBJUNG1 Der Sprecher der jungen Generation ist 1994 geboren und lebt seitdem in Bad Nauheim. Seine Vorfahren sind auch Bad Nauheimer, sein Großvater väterlicherseits ist zwar in Karlsruhe geboren, aber früh nach Bad Nauheim gezogen. Zur Zeit der Aufnahme studierte FBJUNG1 im benachbarten Friedberg. Er wurde nach eigenen Angaben auf Hochdeutsch mit „hessischem Einschlag“ primärsozialisiert.
607 Hier ist anzunehmen, dass die Anrufer der Notrufe eine standardfernere, regiolektale Sprechweise verwendet haben, der sich FB1 geringfügig angepasst hat. Die Anrufer konnten leider nicht ausgewertet werden.
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Abb. 7-50: Variablenanalyse FBJUNG1
Die Variantenverteilung der Dialektübertragung zeigt, dass der Sprecher keine spezifisch zentralhessischen Varianten mehr produziert – dies gilt auch für die in Tab. A.3 enthaltenen Merkmale. FBJUNG1 realisiert die standarddifferenten Varianten von mhd. ei, ou, der n-Apokope und der Koronalisierung selten. In einem mittleren Frequenzbereich liegen die Werte für die b-Spirantisierung, die regionale Negationspartikel und die s-Sonorisierung. Hochfrequent verwendet er in dieser Situation nur die t/d-Assimilation und die Tiefschwa-Vorverlagerung. Das heißt, dass der Sprecher keine Kompetenz im Basisdialektrest mehr hat und auch keine zentralhessischen Einzelformen mehr abrufen kann. Die Sprachprobe ist dem Regiolektbereich zuzuordnen. Es kann angenommen werden, dass FBJUNG1 ausgehend von seiner Normalsprechlage einige ihm bekannte dialektale Formen produziert.608 Dementsprechend schätzt der Sprecher seine Dialektkompetenz auch als sehr gering ein. Im Freundesgespräch, das er mit einem Freund führt, realisiert FBJUNG1 keine standarddifferenten Varianten für mhd. ou, ei, der n-Apokope und der Koronalisierung mehr, was bedeutet, dass er die Koronalisierung vollständig kontrollieren kann. Sehr selten verwendet er die regionale Form von nicht. Im Vergleich
608 FBJUNG1 produziert genau die dialektalen Merkmale, die der Sprecher der alten Generation im kommunikativen Alltag verwendet (vgl. Kap. 7.4.3.1), also diejenigen Formen, die im Alltag in Bad Nauheim noch zu hören sind. Vgl. bspw. BÜDJUNG1 (Kap. 7.3.3.5).
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zu den dialektintendierten Wenkersätzen kann zudem ein hoher Frequenzrückgang bei den standarddifferenten Formen der t/d-Assimilation beobachtet werden, schwache Rückgänge bei der b-Spirantisierung und s-Sonorisierung. Einige der in Tab. A.4 aufgelisteten Merkmale gebraucht er recht häufig (Bsp. Lenisierung). Hochfrequent realisiert er außerdem die Tiefschwa-Vorverlagerung. Die Sprachprobe kann dem Regionalakzent zugewiesen werden. FBJUNG1 bezeichnet sie selbst als „normale“ Sprechweise und spezifiziert, dass es sich dabei um Hochdeutsch mit regionalem Akzent handelt. Das Interview ist ebenso dem Regionalakzent zuzuordnen, es ist fast keine intersituative Variation festzustellen. Lediglich die bereits im Freundesgespräch niederfrequenten regionalen Formen von nicht verwendet er nicht mehr. Ansonsten bestehen im Vergleich zum Freundesgespräch nur sehr geringe Unterschiede. FBJUNG1 beschreibt diese Sprechweise als Hochdeutsch. In der Standardkompetenzerhebung zeigt der Sprecher ein ähnliches Sprachverhalten wie in den beiden Performanzsituationen. Im Vergleich zum Interview realisiert er die regionalen Varianten der t/d-Assimilation seltener und vermeidet weitere standardabweichende Merkmale (v. a. Vokalismus, vgl. Tab. A.5) fast vollständig. Alle anderen Werte sind identisch oder sehr ähnlich. Dementsprechend ist die Probe dem Regionalakzent zuzuweisen und gibt Hinweise auf den Ausbau der Sprechlage. FBJUNG1 bewertet sie trotzdem als relativ regional markiert, was mit einer bewussten Wahrnehmung der remanenten Merkmale erklärt werden kann, die er im Interview thematisiert. Für den Sprecher kann zusammengefasst werden, dass er keine Kompetenz im Basisdialektrest mehr hat und auch keine Relikte abrufen kann. In der alltäglichen Kommunikation verwendet er ohne intersituative Variation den Regionalakzent, dem auch seine Standardkompetenz entspricht. Er baut zudem den Regionalakzent weiter in Richtung Standardsprache aus, indem er regionalsprachliche Merkmale kontrolliert. Er ähnelt dem Büdinger Regionalakzent-Sprecher. 7.4.3.5 Sprechertypen und intergenerationeller Vergleich Die Auswertung des rezenten Sprachverhaltens zeigt, dass der Basisdialektrest keine Bedeutung für die alltägliche Kommunikation in Bad Nauheim (mehr) hat. Er kann zwar noch erhoben werden, wird aber im Alltag bis auf wenige – lexikalische – Relikte nicht mehr verwendet. Die Kommunikation findet im Regiolekt statt. Dabei verteilt sich das Sprachverhalten auf den gesamten regiolektalen Bereich. Es können aufgrund der unterschiedlichen Sprachverwendungsmuster drei Sprechertypen ermittelt werden: a) diglossischer Kontinuum-Sprecher b) Regiolektsprecher (moveless) c) Regionalakzent-Sprecher (moveless) Der diglossische Kontinuum-Sprecher (FBALT2) hat noch Kompetenzen im Basisdialekt, die sich dem basisdialektalen Rest zuordnen lassen. Sein Sprachverhalten im kommunikativen Alltag entspricht diesem standardfernsten Bereich des
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7 Zentralhessisch
Kontinuums weitgehend. Er variiert dabei intersituativ kaum. Seine Standardkompetenz entspricht dem Regionalakzent. Dieser Sprechertyp stimmt mit dem Sprechertyp (1) aus Büdingen überein (vgl. Kap. 7.3.3.6). Der Regiolektsprecher (moveless) (FB3) hat keine Kompetenz im Basisdialektrest mehr und kann nur Relikte in der Kompetenzerhebung abrufen. Er verwendet im Alltag eine Normalsprechlage, die einem mittleren Regiolektbereich zuzuweisen ist, und variiert intersituativ kaum. Auch seine Standardkompetenz ist dem Regionalakzent zu subsumieren. Dieser Sprechertyp entspricht den bisher identifizierten Regiolektsprechern (moveless). Der Regionalakzent-Sprecher (FB1 und FBJUNG) hat keine Kompetenz im Basisdialektrest, kann aber teilweise noch Relikte produzieren, was aber keine Auswirkungen auf das sonstige Sprachverhalten zu haben scheint. Dieses ist dem Regionalakzent zuzuordnen. Der Sprechertyp variiert intersituativ ebenfalls kaum und baut seine Standardkompetenz weiter in Richtung Standardsprache aus. Er entspricht dem Regionalakzent-Sprecher aus Büdingen und Frankfurt. Der intergenerationelle Vergleich indiziert einen vollständigen Abbau der standarddifferenten Varianten von mhd. uo, ô und std. /ɐ/. Eine zunehmende Variabilisierung der Verwendung, teilweise mit fortgeschrittenem Abbau (v. a. bei Sprechertyp 3) kann für die regionalen Varianten von mhd. ou, ei, der n-Apokope, nicht, der s-Sonorisierung und der Koronalisierung, geringfügig auch für die der t/d-Assimilation festgehalten werden. Die b-Spirantisierung und die TiefschwaVorverlagerung sind stabil. Die Bestimmung von drei Sprechertypen und die Variantenverteilungen im intergenerationellen Vergleich zeigen eine rezente Dynamik. Drei Entwicklungen lassen sich dabei erkennen. Der Basisdialektrest wird weiter abgebaut. Bei einigen Sprechern ist er rezent schon vollständig abgebaut. Nur noch die Dialektkompetenzerhebung des Sprechers der älteren Generation kann eindeutig dem Basisdialektrest zugeordnet werden, die Sprecher der mittleren Generation können lediglich wenige Merkmale abrufen, der junge Sprecher hat kein Wissen mehr darüber. Das Sprachverhalten in den Performanzaufnahmen verlagert sich von einem sehr standardfernen Bereich in den Regionalakzent. Das Variationsverhalten bleibt dabei ähnlich, alle Sprecher variieren intersituativ kaum. Diese Verlagerung kann im Vergleich der ersten beiden Sprechertypen als sukzessive Entwicklung beschrieben werden. Innerhalb der mittleren Generation ist ein Umbruch zu erkennen (vgl. Kap. 6.3.5). Als dritte Entwicklung kann der weitere Ausbau des Regiolekts bei den Regionalakzent-Sprechern festgehalten werden. Auch in Bad Nauheim scheint die Primärsozialisation einen entscheidenden Einfluss auf das Sprachverhalten der Sprecher zu nehmen. Die jeweiligen Dialektkompetenzen entsprechen den Eigenangaben zur Primärsozialisation, die als Grundlage wiederum Bedeutung für das restliche Sprachverhalten hat. Einen wei-
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teren Einfluss scheinen die kommunikativen Anforderungen des Berufs auf das Sprachverhalten der Performanz zu haben.609 7.4.4 Zusammenfassung Spektrumstyp
regionalsprachliches Kontinuum mit Basisdialektrest
Verhältnis Dialekt – Standardsprache
(ehemals) viele Typ1a-Varianten; (relativ) wenige Typ1b- und Typ2-Varianten rezent: Reste des Basisdialekts (nur in der Abfrage)
Prozess der Standardannäherung
sukzessive Standardannäherung (Shiften)
Sprechertypen
diglossischer Kontinuum-Sprecher Regiolektsprecher (moveless) Regionalakzent-Sprecher (moveless)
rezente Dynamik/Entwicklungen
sukzessiver und zur jung. Gen. vollständiger Abbau des Basisdialektrests Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, mit Umbruch in mittl. Gen. + weiterer Ausbau der Standardkompetenz bei RA-Sprechern)
609 Hierbei sind auch individuelle Faktoren bedeutsam. Im Interview von FB1 wird implizit deutlich, dass er sich im kommunikativen Alltag bewusst um standardorientiertes Sprechen bemüht bzw. für manche regionale Merkmale ein besonderes Bewusstsein hat.
8 ZUSAMMENFÜHRUNG 8.1 REGIONALSPRACHLICHE SPEKTREN Im folgenden Kapitel werden zunächst die Ergebnisse der theoretischen und empirischen Analysen zur Struktur der regionalsprachlichen Spektren an den sieben Untersuchungsorten zusammengefasst. Für die Spektren aller Untersuchungsorte gilt, dass bei ihnen die Varietätengrenze zur Standardsprache bestimmt werden kann, deren Konstitution in Kapitel 8.4 nochmals aufgegriffen wird. In den rheinfränkischen Orten Erbach und Reinheim konnte als Spektrumstyp ein regionalsprachliches Kontinuum ermittelt werden. Der jeweilige rheinfränkische Dialekt kann in diesem Spektrum bestimmt werden, ist aber ein Teil des Kontinuums und geht somit kontinuierlich in den Regiolekt über, beide sind daher keine distinkten Varietäten, sondern bilden ein Kontinuum. Deshalb lässt sich keine Varietätengrenze bestimmen, sondern ein Übergangsraum, der die beiden Bereiche des Kontinuums miteinander verbindet. Als Sprechlagen können der Basisdialekt und der Regionalakzent herausgearbeitet werden. In Frankfurt liegt ein Ein-Varietäten-Spektrum vor, das nur aus dem Regiolekt besteht. Ein Dialekt lässt sich in der Stadt nicht mehr erheben. Dementsprechend kann nur die Varietätengrenze zur Standardsprache definiert werden. Als Sprechlagen innerhalb des Regiolekts ergeben sich der untere Regiolekt und der Regionalakzent. In den zentralhessischen Orten Ulrichstein und Gießen ist als Spektrumstyp ein Zwei-Varietäten-Spektrum bestehend aus dem Dialekt und dem Regiolekt festzuhalten. Sowohl der Dialekt als auch der Regiolekt sind als diskrete Varietäten zu bestimmen, die eindeutig durch eine Varietätengrenze voneinander abgegrenzt sind. Als Sprechlagen können in diesem Spektrum der Basisdialekt und der Regionalakzent identifiziert werden. In Gießen ist der Dialekt rezent noch zu erheben und als eigenständige Varietät klar von der Varietät Regiolekt zu unterscheiden. Er ist jedoch als Relikt zu klassifizieren und im vollständigen Abbau begriffen, sodass die Entwicklung zu einem Ein-Varietäten-Spektrum bestehend aus dem Regiolekt abzusehen ist. In den beiden Untersuchungsorten Büdingen und Bad Nauheim ergibt sich aus den Analysen der Spektrumstyp eines regionalsprachlichen Kontinuums mit Basisdialektrest. Insgesamt stellt das Spektrum ein Kontinuum ohne interne Varietätengrenze dar. Die Reste des ehemaligen zentralhessischen Basisdialekts sowie eine ehemalige Varietätengrenze sind in den aktuellen Daten noch zu erkennen. Rezent sind die Reste des Basisdialekts als Bereich des Kontinuums zu bestimmen und werden als Basisdialektrest bezeichnet. Dieser geht verbunden durch einen Übergangsraum kontinuierlich in den Regiolekt über.
8.1 Regionalsprachliche Spektren
337
Als Sprechlage kann in dem Spektrumstyp ebenfalls der Regionalakzent ermittelt werden.610 An jeweils zwei Untersuchungsorten können dieselben Spektrumstypen ermittelt werden (DA + ERB sowie BÜD + FB).611 Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, ergibt ein Vergleich der Spektren zusätzliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten, sodass eine weitere Zusammenfassung bzw. Typisierung vorgenommen werden kann. Das Frankfurter Spektrum kann synchron als Untertyp des rheinfränkischen Spektrums definiert werden. Es stimmt in Struktur und Merkmalen mit dem regionalsprachlichen Kontinuum des Rheinfränkischen ohne den dialektalen Bereich überein. Zudem entspricht dies auch den regionalsprachlichen Entwicklungen in Frankfurt. In der Stadt wurden vor allem durch südlichen, rheinfränkischen Einfluss zentralhessische Dialektmerkmale durch rheinfränkische oder standardnahe Formen ersetzt und durch spezifisch stadtsprachliche Entwicklungen auch regionale Merkmale im Allgemeinen abgebaut, was zu einem frühen Abbau des Dialekts und zum rezenten Spektrum führte – einem Regiolekt, der dem des Rheinfränkischen entspricht (vgl. Kap. 3.3.4, 6). Diachron handelt es sich daher um ein Folgestadium des rheinfränkischen Spektrums. Das Gießener Spektrum entspricht dem Spektrumstyp aus Ulrichstein. Das Zwei-Varietäten-Spektrum ist heute noch in Gießen zu erkennen, auch wenn der Dialekt ein Relikt ohne kommunikative Relevanz darstellt. Der Regiolekt in beiden Untersuchungsorten ist ähnlich, aber nicht identisch (vgl. Kap. 7.2.5). Er ist klar vom Regiolekt in den anderen Orten abzugrenzen (s. u., sowie Kap. 8.5). Die Entwicklung zu einem Ein-Varietäten-Spektrum (Regiolekt) ist in Gießen schon deutlich zu erkennen, sodass sich hier ein Folgestadium des Spektrumstyps abzeichnet und rezent ein Untertyp angenommen werden kann. Die Spektren in Büdingen und Bad Nauheim können rezent als eigener Spektrumstyp gelten. Auf Grundlage der aktuellen Ergebnisse und der älteren Sprachdaten und Beschreibungen (vgl. Kap. 7.3) ist davon auszugehen, dass im südlichen Zentralhessischen in einem früheren Stadium auch ein Zwei-VarietätenSpektrum bestand, wie es heute in Ulrichstein ermittelt werden kann. Dieses Zwei-Varietäten-Spektrum hat sich vor allem durch südlichen Einfluss über Konvergenzprozesse der beiden Varietäten zu einem regionalsprachlichen Kontinuum entwickelt. Das Kontinuum gleicht rezent eher dem Spektrumstyp aus dem Rheinfränkischen – sowohl in der Gesamtstruktur des Spektrums (Kontinuum), als auch in den Merkmalen (bspw. Koronalisierung). Es ist aber durch den dialektalen Bereich, dem im südlichen Zentralhessischen der Basisdialektrest entspricht, noch von diesem Typ zu unterscheiden. Das bedeutet, dass für die Spektren im südlichen Zentralhessischen ein eigener Spektrumstyp bestimmt werden kann, der 610 Eine zusammenfassende Darstellung der Gesamtergebnisse erfolgt in Kap. 8.5. 611 Unterschiede zwischen den Orten ergeben sich nicht aus der Struktur der Spektren, sondern durch das Sprachverhalten der untersuchten Sprecher und der Dynamik bzw. dem Fortschritt der regionalsprachlichen Prozesse (vgl. Kap. 8.2, 8.3).
338
8 Zusammenführung
Ähnlichkeiten mit dem südlich angrenzenden Gebiet (Frankfurt, Rheinfränkisch) und Unterschiede zum nördlich angrenzenden Gebiet (nördliches Zentralhessisch) aufweist.612 Es lassen sich somit in der vorliegenden Untersuchung drei Spektrumstypen unterscheiden, bei denen in zwei Fällen ein Untertyp differenziert werden kann. Diese Differenzierung beruht hauptsächlich auf den sprachdynamischen Prozessen und deren Fortschritt bzw. dem zugrundeliegenden Sprachverhalten der Sprecher (vgl. dazu Fn. 611 und Kap. 8.2, 8.3).613 Spektrumstyp
Untertyp
Beschreibung
Orte
Ia
regionalspr. Kontinuum
DA, ERB
Ib
Ein-VarietätenSpektrum (Regiolekt)
F
–
regionalspr. Kontinuum mit Basisdialektrest
BÜD, FB
IIIa
Zwei-VarietätenSpektrum
VB
I
II
III IIIb
Zwei-VarietätenSpektrum (Dialekt als Relikt; Entwicklung zum Ein-Varietäten-Spektrum)
GI
Gebiet
Übergangsgebiet, Rheinfränkisch
südliches Zentralhessisch
nördliches Zentralhessisch
Tab. 8-1: Zusammenfassung der Spektrumstypen
Die ermittelten Spektrumstypen können mit den bisherigen Analysen zu regionalsprachlichen Spektren in Bezug gesetzt werden. Typ Ia kommt dem Spektrum nahe, das KEHREIN (2012, 243–247) für seinen Untersuchungsort Bamberg und somit für das Ostfränkische analysiert hat. Das Spektrum dort besteht aus dem Dialekt und dem Regiolekt. KEHREIN (2012, 348) findet jedoch keine „[k]lare[n] Hinweise auf die Varietätengrenze“, die in weiteren Studien verifiziert werden müsse, und spricht insgesamt von einem „breite[n] vertikale[n] Variantenkontinuum“ (KEHREIN 2012, 347) in Bamberg. KEHREIN (2012, 243–247) erklärt diesen Spektrumstyp auch mit dem Verhältnis von Dialekt zu Standard- bzw. Schrift612 Die Spektrumstypen stehen in Bezug zueinander. Sie können als relative Kategorien aufgefasst werden. Wie gezeigt wurde, können sich Zwei-Varietäten-Spektren zu regionalsprachlichen Kontinua oder zu Ein-Varietäten-Spektren (Regiolekt) entwickeln (aber nicht v. v.). 613 Die beiden Untertypen können in der Perspektive einer regionalsprachlichen Entwicklung als eine Weiterentwicklung bzw. weiteres Stadium des jeweiligen Spektrumstypen betrachtet werden (vgl. auch Kap. 8.5).
8.1 Regionalsprachliche Spektren
339
sprache. Das Spektrum im Rheinfränkischen – hier im östlichen Teil des Gesamtrheinfränkischen und somit direkt benachbart mit dem Ostfränkischen – ist diesem Spektrum ähnlich, was unter anderem durch strukturelle Gemeinsamkeiten der beiden Dialektverbände zu erklären ist. Aufgrund ausführlicher Analysen zu den beiden rheinfränkischen Orten kann – zumindest für den hessischen bzw. östlichen Teil des Rheinfränkischen – gezeigt werden, dass es sich bei diesem Spektrum um ein strukturelles Kontinuum ohne regionalsprachliche Varietätengrenze handelt. Weitere Untersuchungen zum Ostfränkischen müssen dies überprüfen. Festgehalten werden kann, dass sich die Spektrumstypen in den beiden benachbarten Räumen Ost- und Rheinfränkisch ähneln und in der vorliegenden Arbeit erstmals – für das Rheinfränkische – der Spektrumstyp eines regionalsprachlichen Kontinuums ohne Varietätengrenze nachgewiesen werden kann. Die Struktur des Spektrumstyps Ib ähnelt der von KEHREIN (2012, 223–227) in Dresden ermittelten Struktur (Ein-Varietäten-Spektrum, Regiolekt). Aufgrund dieser Struktur und den regionalsprachlichen Entwicklungen in beiden Orten scheint hier derselbe Spektrumstyp vorzuliegen. Genauere Untersuchungen müssen dies bestätigen. Eine Gemeinsamkeit scheint allgemein darin zu bestehen, dass an manchen Orten oder in manchen Gebieten der Dialekt vollständig abgebaut wird/ist und das regionalsprachliche Spektrum dann eo ipso nur noch aus dem Regiolekt besteht. Die dafür verantwortlichen Prozesse können sich jedoch unterscheiden und müssen überprüft werden. Hier wäre dann ein eigener Spektrumstyp anzusetzen. Der Spektrumstyp III (Zwei-Varietäten-Spektrum) wurde bereits an mehreren Untersuchungsorten – unter anderem im Westmitteldeutschen – nachgewiesen (vgl. zusammenfassend KEHREIN 2012, 345–349). Die hier vorliegenden Spektren – hauptsächlich Spektrumstyp IIIa – können aus struktureller Sicht mit dem im westmitteldeutschen Wittlich analysierten Spektrum (vgl. LENZ 2003, KEHREIN 2012, 94–101) in Bezug gesetzt werden. Der Spektrumstyp II ist ein neuer Typ, der bisher noch nicht ermittelt wurde. Das liegt an den spezifischen Bedingungen der Orte dieses Typs und den sich daraus ergebenden regionalsprachlichen Entwicklungen, die zu eben jenem Spektrumstyp geführt haben. Die Zusammenstellung der Ergebnisse zeigt, dass die Annahmen zur Struktur der regionalsprachlichen Spektren, die sich aus den bisherigen Beschreibungen und Untersuchungen zum relevanten Sprachraum ergeben haben (vgl. v. a. Tab. 3-5), für Gießen und Ulrichstein sowie Reinheim und Erbach empirisch bestätigt werden können. Für Frankfurt können die bisherigen Annahmen spezifiziert werden. Des Weiteren können mit der vorliegenden Arbeit empirisch fundierte, neue Erkenntnisse zum südlichen Teil des Zentralhessischen gewonnen werden. Für diesen hat es bisher lediglich Beschreibungen der regionalsprachlichen Entwicklungen, nicht aber Untersuchungen der rezenten Sprachvariation und somit der Strukturen des regionalsprachlichen Spektrums gegeben. Für diesen Raum kann ein eigener Spektrumstyp (regionalsprachliches Kontinuum mit Basisdialektrest) bestimmt werden.
340
8 Zusammenführung
Auch bei der Zusammenführung der Auswertungen für die identifizierten Sprechlagen bzw. Bereiche der jeweiligen Spektren sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen.614 Für den dialektalen Bereich gilt, dass im Rheinfränkischen ein gemeinsamer Dialekt als Teil des regionalsprachlichen Kontinuums bestimmt werden kann, der sich von den umliegenden Dialekten – hier dem Zentralhessischen – nach wie vor durch spezifische Dialektmerkmale (vgl. u. a. mhd. ê und ô) unterscheidet und auch intern eine stabile Gliederung aufweist (vgl. Palatalisierung). Für Frankfurt kann kein Dialekt (mehr) bestimmt werden. Die standardfernste Sprechlage der Frankfurter Sprecher ist der untere Regiolekt, der dem vergleichbaren Bereich des Regiolekts aus dem Rheinfränkischen und südlichen Zentralhessischen entspricht. Innerhalb des Zentralhessischen sind für den dialektalen Bereich Unterschiede festzustellen. In Ulrichstein – teilweise auch noch in Gießen – besteht noch der historische zentralhessische Basisdialekt, der definiert ist durch das Vorhandensein der typischen zentralhessischen Merkmale (vgl. u. a. mhd. ô, uo) und dem Fehlen standardsprachlicher oder regionaler Interferenzen (vgl. Koronalisierung). In Büdingen und Bad Nauheim sind entsprechend der Struktur des Spektrums nur noch Reste des historischen Basisdialekts vorhanden, die definiert sind durch die variable Verwendung der typisch zentralhessischen Merkmale und durch zahlreiche standardsprachliche oder regionale Interferenzen. Auf dieser Ebene der regionalsprachlichen Spektren können also – ohne die Ausnahme Frankfurts – drei Gruppen gebildet werden: Rheinfränkisch (I), südliches Zentralhessisch (II) und nördliches Zentralhessisch (III). Dies ergibt aus einer horizontalen Perspektive einen Hinweis auf drei mögliche Räume auf dieser Ebene. Diese Gruppierung kann auch empirisch durch eine Clusteranalyse belegt werden. Untersucht wurden hierfür alle Aufnahmen, die an den jeweiligen Orten dem Basisdialekt bzw. dem Basisdialektrest zugeordnet werden konnten. Das Ergebnis ist in Abb. 8-1 zu sehen und zeigt nach einer Unterteilung in zwei Cluster auf der ersten Stufe (I und II) eine dreiteilige Differenzierung auf dieser Ebene der Spektren. Cluster 1 bilden die rheinfränkischen Aufnahmen, die aufgrund der unterschiedlichen Merkmale klar von den zentralhessischen Dialekten getrennt werden.615 Innerhalb des zentralhessischen Clusters (II) tritt eine zusätzliche Differenzierung hervor. Die Basisdialektreste in Bad Nauheim und Büdingen (2) werden von den relativ stabilen Basisdialekten in Gießen und Ulrichstein (3) unterschieden.616
614 Auf Gemeinsamkeiten der gesamten Regiolekte wird in Kap. 8.5 eingegangen. 615 Die deutliche Differenzierung ergibt sich schon alleine daraus, dass an den rheinfränkischen und zentralhessischen Orten jeweils drei spezifische Dialektmerkmale untersucht wurden, die an den jeweiligen anderen Orten nicht untersucht werden konnten, da sie nicht Teil des Dialekts sind oder in den Dialekten unterschiedliche Varianten vorkommen. Hier wurde entsprechend mit dem Wert 0 gerechnet. 616 Auf den ersten Blick scheint die Subdifferenzierung im Zentralhessischen nicht sehr deutlich hervorzutreten. Beachtet man aber die Reiheneffekte der Clusteranalyse, die aufgrund der
341
8.1 Regionalsprachliche Spektren
Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster 0
5
10
15
20
25
WSD_ERB2 WSD_ERBALT2 WSD_DA5
I
1
WSD_ERBJUNG1 WSD_DA1 WSD_ERB3 WSD_DAALT2 WSD_GI11 WSD_VBALT2
3
WSD_VB1 WSD_VB2
II
WSD_VBJUNG1 WSD_BÜD1 WSD_FBALT2
2 WSD_BÜD3 WSD_BÜDALT1
Abb. 8-1: Clusteranalyse der Basisdialekte/Basisdialektreste
Für den oberen Bereich der Spektren (d. h. den Regionalakzent) gilt qua Struktur der Sprechlage, dass allgemein weniger Unterschiede vorhanden sind. Bei dem Vergleich der Sprechlage bilden sich zwei Gruppen heraus, zwischen denen ein kategorialer Unterschied besteht. Der Regionalakzent in Reinheim, Erbach,
deutlichen Differenzierung der Hauptcluster zustande kommt und die Tatsache, dass bspw. die Subdifferenzierung innerhalb des Rheinfränkischen (vgl. Palatalisierung) nicht sichtbar wird, dann kann – auch statistisch – von einer klaren Unterscheidung ausgegangen werden. Clustert man nur die zentralhessischen Dialektaufnahmen, tritt diese Differenzierung noch deutlicher hervor.
342
8 Zusammenführung
Frankfurt, Büdingen und Bad Nauheim ist durch die Koronalisierung geprägt,617 die im Regionalakzent von Gießen und Ulrichstein nicht vorkommt. Innerhalb des gesamten Untersuchungsraums ist eine Subdifferenzierung möglich. Bei allen Sprechern, die im Dialekt oder Basisdialektrest/unteren Regiolekt apikale /r/Varianten verwenden, sind diese auch im Regionalakzent remanent. Daraus ergibt sich für die Differenzierung des Regionalakzents im gesamten Raum kein Muster, kann aber innerhalb des Spektrumstypen III unter anderem die Unterschiede im Regionalakzent erklären. In Ulrichstein verwenden alle Sprecher apikale /r/Varianten, weswegen ihr Regionalakzent – gerade im Vergleich zu Gießen – insgesamt etwas standardferner ist. Zusammenfassend ergibt sich auf der Ebene der Regionalakzente eine klare Differenzierung in zwei Gruppen, bei denen weitere Differenzierungen möglich sind: Rheinfränkisch + südliches Zentralhessisch (I) und nördliches Zentralhessisch (II). Aus einer horizontalen Perspektive kann die Annahme von zwei Räumen getroffen werden. Zusätzlich gibt es Hinweise auf eine weitere Entwicklung innerhalb des Regionalakzents – unabhängig vom Raum – bei den Regionalakzent-Sprechern (vgl. Kap. 8.2). Auch diese Differenzierung kann empirisch bestätigt werden. Hierfür wurden alle Sprachaufnahmen geclustert, die dem jeweiligen Regionalakzent zugeordnet wurden. Wie in Abb. 8-2 zu erkennen ist, werden zwei deutlich unterschiedliche Hauptcluster gebildet (I und II). Cluster I/1 führt den Regionalakzent in Erbach, Reinheim, Frankfurt, Büdingen und Bad Nauheim zusammen, Cluster II den Regionalakzent von Gießen und Ulrichstein. Im zweiten Cluster zeichnet sich eine weitere Differenzierung (Subclusterung, 2 und 3) ab, die in Kombination mit den linguistischen Daten sinnvoll erscheint.618 Die Standardkompetenzaufnahmen der Sprecher mit der höchsten Standardkompetenz (häufig junge Sprecher und Regionalakzentsprecher, vgl. Kap. 8.2) werden auch diesem Cluster subsumiert. Dies liegt unter anderem daran, dass sie die Koronalisierung – ähnlich wie in Ulrichstein und Gießen – nicht oder selten realisieren. Der Grund der Nichtrealisierung ist jedoch ein anderer. In Gießen und Ulrichstein ist das Merkmal kein Merkmal des Regionalakzents, die Sprecher der südlichen Orte dieses Clusters bauen das Merkmal, das Bestandteil der gesamten modernen Regionalsprachen dieser Orte ist, ab bzw. haben es teilweise schon abgebaut (vgl. Kap. 8.4).619 Das heißt, die
617 Zwar gibt es in diesen Orten Sprecher – hauptsächlich der jungen Generation –, die ihre Standardkompetenz ausbauen und das Merkmal der Koronalisierung tw. abbauen. Doch ist dies als weiterer Entwicklungsschritt – Ausbau des Regiolekts in Richtung Standardsprache oder individuelles Switchen in den Kolloquialstandard – anzusehen. Rezent ist die Koronalisierung als Merkmal des Regionalakzents in diesen Orten zu beschreiben (vgl. auch Kap. 8.5). 618 Auch im ersten Cluster gibt es Subdifferenzierungen, die aber nicht sinnvoll auf linguistische oder außerlinguistische Faktoren zurückgeführt werden können. 619 Hinzu kommt, dass weitere regionale Merkmale v. a. im Regionalakzent von Ulrichstein auftreten, die hier nicht quantitativ untersucht wurden (s. o., bspw. apikale /r/-Varianten). Der Sprecher VB2 wird dem Subcluster der Regionalakzent-Sprecher zugeordnet. Dies liegt an den geringen Frequenzwerten der meisten regionalen Varianten. Er produziert jedoch im Regionalakzent u. a. noch zu 60 % konsonantische -Auslaute (vgl. Kap. 7.1.3.3), was zeigt,
343
8.1 Regionalsprachliche Spektren
Clusteranalyse bestätigt die Zweiteilung bei den Regionalakzenten im untersuchten Sprachraum. Aus diesem Grund können zwei verschiedene regionale Oralisierungsnormen angenommen werden. Die Clusterung gibt zusätzlich Hinweise darauf, dass es aufgrund von Sprechern, die unabhängig vom Raum ihre Standardkompetenz weiter ausbauen, eine weitere Entwicklung im Regionalakzent gibt, der noch großräumiger verbreitet wäre. Möglich wäre auch die Annahme eines Kolloquialstandards (vgl. Fn. 617). Dies wird in Kap. 8.4 bzw. 8.5 aufgegriffen und diskutiert. In Tabelle 8-2 sind die Zusammenführungen für die Dialekte und die Regionalakzente abgebildet.620 Auf Grundlage der Struktur der regionalsprachlichen Spektren an den sieben Untersuchungsorten kann für eine Betrachtung der horizontalen Dimension gezeigt werden, dass es vergleichsweise große Unterschiede zwischen dem Spektrumstyp III und den Spektrumstypen I+II gibt und geringere Unterschiede zwischen den Typen I und II. Eine mögliche Abgrenzung innerhalb des Raums verliefe somit innerhalb des Zentralhessischen und differenzierte dieses in einen nördlichen und einen südlichen Teil, der sich dem Rheinfränkischen anschlösse. Der Befund muss mit den Zusammenführungen der weiteren Ergebnisse (Sprachverhalten, regionalsprachliche Entwicklungen) kombiniert werden. Typ Untersuchungsort
Dialekte zentralhessischer Basisdialekt zentralhessischer Basisdialekt zentralhessischer Basisdialektrest zentralhessischer Basisdialektrest
Regionalakzente
III
Ulrichstein (VB)
nördlicher Regionalakzent
III
Gießen (GI)
II
Büdingen (BÜD)
II
Bad Nauheim (FB)
I
Frankfurt (F)
–
südlicher Regionalakzent
I
Reinheim (DA)
rheinfränkischer Basisdialekt
südlicher Regionalakzent
I
Erbach (ERB)
rheinfränkischer Basisdialekt
südlicher Regionalakzent
nördlicher Regionalakzent südlicher Regionalakzent südlicher Regionalakzent
Tab. 8-2: Übersicht der Dialekte und Regionalakzente
dass er eher dem Regionalakzent der anderen Sprecher aus Ulrichstein (also dem unteren Subcluster) zuzuordnen ist. 620 Die Regionalakzente werden vor der Zusammenführung aller Ergebnisse vorerst als nördlich und südlich differenziert. Innerhalb des nördlichen Regionalakzents ist zudem, wie oben ausgeführt wurde, eine weitere Differenzierung möglich.
344
8 Zusammenführung
Dendrogramm mit Ward-Verknüpfung Kombination skalierter Abstands-Cluster
0 WSS_BÜD3 WSS_BÜDALT2 WSS_DA5 WSS_ERBALT1 WSS_BÜD1 WSS_DA1
I
1
WSS_DAALT2 WSS_FALT1 WSS_FB3 WSS_BÜDALT2 WSS_F1 WSS_ERB3 WSS_FBALT2 WSS_ERB2 WSS_DAJUNG1 WSS_FJUNG1 WSS_VB2 WSS_FBJUNG1 WSS_GI12
2
WSS_GIJUNG1 WSS_F4 WSS_FB1
II
WSS_ERBJUNG1 WSS_BÜDJUNG1 WSS_VB1 WSS_VBJUNG1
3
WSS_GI11 WSS_GIALT1 WSS_ VBALT2
Abb. 8-2: Clusteranalyse Regionalakzent
5
10
15
20
25
345
8.2 Sprechertypen
8.2 SPRECHERTYPEN Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Analyse des Sprachverhaltens der untersuchten Sprecher bzw. der Sprechertypisierung zusammengeführt werden. In Tab. 8-3 sind die Ergebnisse der Einzelanalyse der Orte zu sehen. Die Sprecher wurden für den jeweiligen Ort anhand ihres Sprachverhaltens in den Performanzerhebungen in Kombination mit ihren Kompetenzen typisiert. Daraus ergeben sich für jeden Ort je nach Spektrum und intersituativer Variation unterschiedliche Sprechertypen.621 Ort
DA
ERB
F
Interview
Sprechertyp
Sprecher
WSD
FG
Dialekt-Shifter
DAALT2
D
Shifting
RA
Kontinuum-Shifter
DA1, DA5
D
Shifting
RA
Regiolektsprecher (moveless)
DAJUNG1
RE
kaum/keine Variation
RA
Dialekt-Shifter
ERBALT1
D
Shifting
RA
Kontinuum-Shifter
ERB2, ERB3, ERBJUNG1
D
Shifting
RA
Regiolekt-Shifter
FALT1, F1
RE
Shifting
RA RA
WSS
Regionalakzent-Sprecher (moveless)
F4, FJUNG1
RE
kaum/keine Variation
VB
Dialekt-RegiolektSwitcher
VBALT2, VB1, VB2, VBJUNG1
D
Switching
RA
GI
Regiolektsprecher (moveless)
GIALT1, GI11, GI12, GIJUNG1
tw. D, tw. ø, tw. RE
kaum/keine Variation
RA
BÜD
diglossischer KontinuumBÜDALT1 Sprecher Regiolektsprecher BÜDALT2 (moveless) Kontinuum-Shifter
FB
BÜD1, BÜD3
Regionalakzent-Sprecher BÜDJUNG1 (moveless) diglossischer KontinuumFBALT2 Sprecher
BDR RE BDR RE BDR
kaum/keine Variation kaum/keine Variation Shifting kaum/keine Variation kaum/keine Variation
621 Legende: D = Dialekt, BDR = Basisdialektrest, RE = Regiolekt, RA = Regionalakzent
RA RA RA RA RA
346
8 Zusammenführung
Regiolektsprecher (moveless) Regionalakzent-Sprecher (moveless)
FB3
RE
FB1, FBJUNG1
RE
kaum/keine Variation kaum/keine Variation
RA RA
Tab. 8-3: Übersicht der Sprecher und Sprechertypen
Die Auswertung der Tab. 8-3 ergibt, dass es unter den verschiedenen Sprechertypen Gemeinsamkeiten gibt, die eine weitergehende Zusammenfassung ermöglichen. Sie lassen sich – zusätzlich zu dieser ortsspezifischen und detaillierten Typisierung – auch mit den bisher in ähnlichen Arbeiten identifizierten Sprechertypen (vgl. LENZ 2003, 396–399, KEHREIN 2012, 349–350) in Bezug setzen. Die Zusammenführung ist in Tab. 8-4 zu sehen. Die vier Sprecher aus Ulrichstein, die in Tab. 8-3 bereits von allen anderen Sprechern als Dialekt-Regiolekt-Switcher unterschieden wurden, können dem übergreifenden Sprechertyp Switcher zugeordnet werden.622 Dieser Typ zeichnet sich dadurch aus, dass er basisdialektkompetent ist und den Dialekt in informellen Situationen des Alltags auch verwendet. Er wechselt die Varietät in formellen Situationen, verwendet in diesen also den Regiolekt und nähert sich innerhalb dieser Varietät im Abruf der Standardkompetenz nochmals der Standardsprache an. Sprechertyp
Sprecher
bisher identifizierte Sprechertypen
Switcher
VBALT2, VB1+2, VBJUNG1
bivarietärer Switcher
diglossischer Sprecher
BÜDALT1, FBALT2
diglossischer Sprecher
Shifter
Moveless
DAALT2, DA1+5, ERBALT1, ERB2+3, ERBJUNG1, BÜD1+3, F1, FALT1 DAJUNG1, F4, FJUNG1, GIALT1, GI11+12, GIJUNG1, BÜDALT2, BÜDJUNG1, FB1, FB3, FBJUNG1
monovarietärer Shifter
Moveless
Tab. 8-4: Zusammenführung der Sprechertypen
Die in Tab. 8-3 als diglossische Kontinuum-Sprecher typisierten Sprecher BÜDALT1 und FBALT2 können dem Typ des diglossischen Sprechers subsumiert 622 Eine Attribuierung wie bspw. bei LENZ (2003) oder KEHREIN (2012) scheint nicht notwendig, da Switcher impliziert, dass dieser Sprechertyp sowohl zwei Varietäten beherrscht (bivarietär) als auch den Dialekt verwendet (dialektloyal).
8.2 Sprechertypen
347
werden. Dieser ist definiert durch Kompetenzen im Basisdialektrest und einem Sprachverhalten im kommunikativen Alltag, das sich dem standardfernsten Bereich der Spektren zuordnen lässt. Die Sprecher variieren dabei situativ nicht bzw. allenfalls geringfügig. Die Standardkompetenz ist dem oberen Bereich des Spektrums bzw. Regionalakzent zuzuordnen. Die Sprecher verändern ihr Sprachverhalten also erst, wenn sie ihr individuell bestes Hochdeutsch (hier: gesprochenes Schriftdeutsch) abrufen. Sie entsprechen daher dem klassischen DiglossieSprecher, der in der alltäglichen Kommunikation ausschließlich den (prestigehaltigen) Dialekt verwendet und die Standardsprache lediglich schriftlich realisiert, was hier der mündlichen Umsetzung der Schrift (gesprochenes Schriftdeutsch) entspricht (vgl. auch KEHREIN 2012, 350). Die Besonderheit hier besteht darin, dass sich die Sprecher – aus struktureller Sicht – sprachlich in einem regionalsprachlichen Kontinuum bewegen. Das Variationsverhalten und dessen Funktionen für die Sprecher sind jedoch identisch mit denen von klassischen DiglossieSprechern, sodass dieser Sprechertyp auch für regionalsprachliche Kontinua angesetzt werden kann (vgl. auch KEHREIN 2012, 240–247 für Bamberg). Die verschiedenen Shifter-Typen aus Tab. 8-3 können als Sprechertyp Shifter zusammengefasst werden.623 Der Sprechertyp hat Kompetenzen im Basisdialekt bzw. Basisdialektrest,624 nutzt diese Kompetenzen aber nicht (bzw. kaum, zu DAALT2 und ERBALT1 s. u.). Er verwendet in informellen Situationen der alltäglichen Kommunikation eine relativ standardferne Sprechweise und verändert sein Sprachverhalten in formellen Situationen, das einem standardnäheren Bereich des Spektrums zugeordnet werden kann. Entsprechend der Struktur der Spektren (d. s. regionalsprachliche Kontinua, Ein-Varietäten-Spektrum Regiolekt) handelt es sich dabei um Shifting-Prozesse (d. h. Variabilisierung des Gebrauchs standarddifferenter Merkmale). Die Standardkompetenz ist dem Regionalakzent zuzuordnen. Die Bereiche der Spektren, zwischen denen die Sprecher variieren, können sich in ihrer Standardnähe unterscheiden (vgl. bspw. DAALT2 und DA5), doch zeigen die Sprecher dasselbe Variationsverhalten, weswegen sie als ein Sprechertyp zusammengefasst werden können. Die beiden Sprecher DAALT2 und ERBALT1 unterscheiden sich von den anderen Sprechern des Typs, da sie ihre dialektale Kompetenz fast vollständig in informellen Situationen des Alltags nutzen und deshalb durchaus als Dialektsprecher gelten können. Sie zeigen Ähnlichkeiten mit den diglossischen Sprechern, da sie ihre standardfernste Sprechweise (d. h. den Dialekt) auch im kommunikativen Alltag verwenden. Dennoch variieren sie intersituativ – wenn auch nur gering – und ähneln deshalb auch den Switchern mit dem Unterschied, dass es sich bei dieser intersituativen Variation um Shifting handelt. Dieses Variationsverhalten ist spezifisch für regionalsprach-
623 Auch hier scheint eine zusätzliche Attribuierung nicht notwendig, da durch die Bezeichnung Shifter eindeutig beschrieben wird, dass dieser Sprechertyp innerhalb einer Varietät oder eines Kontinuums variiert (vgl. Fn. 622). 624 Für Frankfurt bezieht sich dies auf die standardfernste Sprechlage, d. i. der untere Regiolekt. Zur Terminologie vgl. Fn. 457.
348
8 Zusammenführung
liche Kontinua, sodass kein übergreifender eigener Sprechertyp oder Untertyp zu bestimmen ist, diese Sprecher aber – spektrumsspezifisch – als Dialekt-Shifter bezeichnet werden. Der Sprechertyp Moveless, dem alle Sprecher mit dem Zusatz moveless in Tab. 8-3 zugewiesen wurden, zeichnet sich dadurch aus, dass teilweise noch Kompetenzen im Dialekt (bzw. Basisdialektrest) bestehen. Die Kompetenzen beeinflussen das sonstige Sprachverhalten des Sprechertyps nicht. Er hält sich sprachlich im Regiolekt auf und variiert intersituativ allenfalls geringfügig. Seine Standardkompetenz entspricht dem Regionalakzent, er baut sie nicht weiter aus. Das Sprach- und Variationsverhalten der Sprecher des Typs ist ähnlich, lediglich die jeweilige Standardnähe des Sprachverhaltens kann sich unterscheiden (vgl. bspw. BÜDALT2 und BÜDJUNG1). Aufgrund dieser unterschiedlichen Standardnähe wäre eine Subdifferenzierung des Sprechertyps Moveless – je nach Bereich der Spektren, dem die alltägliche Sprechweise zugeordnet werden kann – möglich (vgl. dazu auch LENZ 2003, 397–399). Sinnvoll erscheint diese bei den Regionalakzent-Sprechern. Ihre Sprechweise im kommunikativen Alltag kann einer vergleichbaren und abgrenzbaren Sprechlage (d. i. Regionalakzent) zugewiesen werden, die sich in allen Spektrumstypen bestimmen lässt. Des Weiteren handelt es sich aus struktureller Sicht quasi um den Endpunkt einer Entwicklung von regionalsprachlichen Sprechertypen.625 Die Regionalakzent-Sprecher nutzen die Standardkompetenz fast vollständig auch im kommunikativen Alltag, ohne dabei intersituativ zu variieren. Nur wenn sie gebeten werden, ihren individuell tiefsten Dialekt zu produzieren, variieren sie sprachlich und realisieren einzelne regionalsprachliche Merkmale. Sie stellen im Vergleich zum diglossischen Sprecher genau den umgekehrten Sprechertyp dar. Aus diesen Gründen erscheint die Klassifikation des Regionalakzent-Sprechers als Untertyp des Sprechertyps Moveless als sinnvoll. Tab. 8-5 fasst die Ergebnisse der übergreifenden Sprechertypisierung und ihrer räumlichen Verteilung zusammen.626
625 Die einzig mögliche weitere Entwicklung wäre der Sprechertyp Standardsprachesprecher (vgl. KEHREIN 2012, 351), bei dem es sich um einen qualitativ anderen, da nichtregionalsprachlichen Typ handelt und der in dieser Untersuchung nicht nachgewiesen werden kann. 626 Eine durchgeführte Clusteranalyse auf Grundlage des Sprachverhaltens der Sprecher in den Performanzaufnahmen (die Merkmale der Clusteranalyse sind Situation + Variable und die Merkmalsausprägung die Frequenz der regionalen Variante der Variable in der jeweiligen Situation) bestätigt die Sprechertypisierung auch statistisch. Aufgrund des Umfangs der Analyse wurde auf eine grafische Darstellung verzichtet. Es lassen sich auch die besprochenen Differenzierungen (vgl. DAALT2 und ERBALT1) in den Subclustern des Dendrogramms wiederfinden. Die Clusteranalyse gruppiert den Sprecher GIJUNG1 zu den RegionalakzentSprechern. Dies wurde bereits in Kap. 7.2.3 diskutiert. Ein qualitativer und quantitativer Vergleich mit den anderen Sprechern bestätigt, dass sich der Sprecher GIJUNG1 als Regionalakzent-Sprecher typisieren lässt.
349
8.2 Sprechertypen
Sprechertyp Beschreibung
Sprecher
Gebiet
I
Switcher
VBALT2, VB1+2, VBJUNG1
Ulrichstein
II
diglossischer Sprecher
BÜDALT1, FBALT2
südl. ZH
III
Shifter (*DialektShifter)
IV
Moveless
IVRA
RegionalakzentSprecher
DAALT2*, DA1+5, ERBALT1*, ERB2+3, ERBJUNG1, BÜD1+3, FALT1, F1 DAJUNG1, GIALT1, GI11+12, BÜDALT2, FB3 F4, FJUNG1, GIJUNG1, BÜDJUNG1, FB1, FBJUNG1
nördl. RF, südl. ZH, F GI; nördl. RF, südl. ZH –
Tab. 8-5: Sprechertypen (gesamt)
Wie können die einzelnen Sprechertypen hergeleitet werden? Die Sprecher des Typs I sind alle im Basisdialekt primärsozialisiert und haben ihr individuell bestes Hochdeutsch erst in der Schule oder in der Familie als zweite Varietät (d. i. Regiolekt) erworben. Sie beherrschen den Dialekt und verwenden ihn auch. Die Verwendung zeichnet sich durch eine Variabilisierung des Gebrauchs der Merkmale aus. Die Struktur des Basisdialekts begründet sowohl die Änderung des Sprachverhaltens der Sprecher in formellen Situationen als auch die Art der Änderung (Switchen). Wie in Kap. 7.1 gezeigt wurde, zeichnet sich der Basisdialekt in Ulrichstein durch zahlreiche spezifisch zentralhessische und gleichzeitig systemisch von der Standardsprache differierende Merkmale aus, deren Verwendung in überregionaler Kommunikation einschränkend wäre (viele Typ1a-Varianten und wenige Typ1b- und Typ2-Varianten). Deshalb ändern die Sprecher im Gespräch mit Fremden ihr Sprachverhalten und dies geschieht, wie gezeigt werden konnte, nicht etwa durch sukzessive Annäherung an die Standardvarietät, sondern durch den vollständigen und kombinierten Ersatz basisdialektaler Varianten durch standardkonforme Pendants – also durch einen Systemwechsel. Aufgrund dieses strukturellen Verhältnisses zwischen Dialekt und Standardsprache können die Sprecher die Standardsprache nicht mit ihrem dialektalen kognitiven Steuerungssystem verarbeiten (vgl. Kap. 7.1). Sie müssen – gestützt durch die Schrift – ein neues System erwerben (d. i. gesprochenes Schriftdeutsch; vgl. Kap. 7.1, vgl. auch KEHREIN 2012, 351–360). Ausgehend von diesem neuen System (dem Regiolekt) verwenden sie selbiges auch in freien Gesprächen in formellen Situationen (bzw. mit Fremden), rufen dabei aber nicht vollständig ihre Kompetenz ab, sondern verwenden remanente Merkmale frequenter. Mitunter realisieren sie regionale Merkmale, die zwar theoretisch leicht zu kontrollieren sind, aber weder kommunikationseinschränkend sind, noch einen systemischen Unterschied zwischen den beiden Varietäten konstituieren (d. h. Typ1b-Varianten, bspw. n-Apokope). Die Sprecher des Typs II wurden im Basisdialektrest primärsozialisiert und haben eine standardnahe Sprechweise erst in der Schule erlernt. Sie verwenden im
350
8 Zusammenführung
kommunikativen Alltag eine relativ standardferne Sprechlage – nahe ihrer Kompetenz – und variieren dabei intersituativ minimal, das heißt sie verwenden auch mit Fremden bzw. in der überregionalen Kommunikation eine stark regional geprägte Sprechweise. Dies lässt sich vor dem Hintergrund der Struktur des Basisdialektrests verstehen. Er stellt kein eigenständiges System mehr dar. Die zahlreichen kleinräumigen, systemisch von der Standardsprache differierenden Merkmale des Zentralhessischen (Typ1a-Varianten) werden kaum noch verwendet, sind dabei variabel und teilweise fast vollständig abgebaut. Es liegen oft keine Strukturen, sondern vielfach eher lexikalisierte Einheiten vor. Gleichzeitig sind neue regionalsprachliche Merkmale im Basisdialektrest vorhanden, die großräumig verbreitet sind und keinen systemischen Unterschied zum Regiolekt konstituieren (Typ2-Varianten), da sie über diesen das ehemalige dialektale System interferierten (vgl. Kap. 8.3, 8.4). Dieser Rest des Basisdialekts ähnelt also von seiner Struktur den rheinfränkischen Basisdialekten (wenige Typ1a-Varianten und viele Typ1bund Typ2-Varianten). Die Ausnahmen sind insgesamt singulär und eher relikthaft und somit nicht mehr systembildend. Hinzu kommt, dass viele dialektale Merkmale im kommunikativen Alltag nicht mehr verwendet werden. Aufgrund dieses strukturellen Verhältnisses zwischen Dialekt/Basisdialektrest und Standardsprache können die Sprecher mit ihrem erworbenen regionalen kognitiven Steuerungssystem auch die Standardsprache verarbeiten (vgl. Kap. 5.1, 7.3).627 Das bedeutet, die Sprecher können sich theoretisch auch durch zunehmende Variabilisierung der Verwendung standarddifferenter Merkmale der Standardsprache annähern, was durch die Konstitution des Basisdialektrests kommunikativ nicht zwingend erforderlich ist. Dies ist bei den diglossischen Sprechern gut zu beobachten. Im kommunikativen Alltag verwenden sie durchgehend ihre standardfernste Sprechweise. Erst wenn es zwingend erforderlich ist, nähern sie sich der Standardsprache an. Die spezifisch zentralhessischen Merkmale wiederum werden bei Bedarf gezielt eingesetzt und können als Marker des alten Basisdialekts interpretiert werden. 628
627 Sie verfügen nur über ein kognitives Steuerungssystem, was in der Struktur des Spektrums einem Kontinuum entspricht. 628 Die Unterschiede zwischen den Dialektsprechern aus dem Zentralhessischen und Rheinfränkischen lassen sich mithilfe der Synchronisierung erklären (vgl. Kap. 2.2.2). Die Verwendung des Dialekts (bzw. einer maximal standardfernen Sprechweise) mit einem Hörer der Standardsprache führt bei den Sprechern des Rheinfränkischen insgesamt zu stabilisierenden Rückkopplungen, da der Gesprächspartner die meisten Differenzen allophonisch verarbeiten kann. Modifizierende Rückkopplungen oder nicht erfolgreiche Sprachverstehensakte sind insgesamt die Ausnahme und können theoretisch auf Grundlage einer übergreifend erfolgreichen Dekodierung zu sukzessiven Modifikationen des sprachlichen Wissens der Sprecher führen (Variabilisierung des Gebrauchs regionaler Merkmale). Die Verwendung des Dialekts eines zentralhessischen Sprechers mit einem Hörer der Standardsprache würde grundsätzlich nicht funktionieren, da hier erfolgreiche Sprachverstehensakte die Ausnahme darstellen würden – er verwendet also ein anderes System. Vgl. auch Kap. 5.1.2, 7.1.2.
8.2 Sprechertypen
351
Der Sprechertyp III (Shifter) ist wie Typ II auch im Basisdialekt bzw. Basisdialektrest primärsozialisiert worden und zeigt in informellen Situationen des kommunikativen Alltags ein ähnliches sprachliches Verhalten wie dieser (d. h. Verwendung einer relativ standardfernen Sprechweise). Im Unterschied zu diesem Typ variieren die Shifter intersituativ und nähern sich – unterschiedlich weit – der Standardsprache an. Bei dieser Variation handelt es sich aufgrund der Struktur der Spektren bzw. der dem zugrunde liegenden Basisdialekte bzw. Basisdialektreste um Shifting-Prozesse (wenige Typ1a-Varianten und viele Typ1b- und Typ2Varianten). Das bedeutet, dass sich die Sprecher über zunehmende Variabilisierung der Verwendung regionaler Merkmale der Standardvarietät annähern – teilweise werden auch Typ1b-Varianten vollständig abgelegt. Dies vollzieht sich in den meisten Fällen nicht kombiniert. Der Grund für dieses Sprachverhalten kann in den kommunikativen Anforderungen des Berufs (außer DAALT2, ERBALT1 und BÜD1) und des Privatlebens liegen. Die Ausübung der kommunikationsorientierten Tätigkeit als Polizist erfordert Anpassungen an den Gesprächspartner bzw. standardorientiertes Sprechen (bspw. bei Notrufen). Hinzu kommen vermehrt private Situationen, die eine Orientierung an der Standardsprache bzw. eine zunehmende Verwendung standardnäherer Sprechlagen erfordern – so berichtet bspw. BÜD3, dass in seinem privaten Umfeld (Nachbarschaft und Freundeskreis) vermehrt „Hochdeutsch“ gesprochen werde. Durch gleichgerichtete Synchronisierungsakte der Sprecher (Mesosynchronisierung) entsteht auf Dauer ein neues Sprachverhaltensmuster (vgl. dazu auch KEHREIN 2012, 360). Das Sprachverhalten der beiden Dialekt-Shifter, die in der Sprecherauswahl mit den diglossischen Sprechern vergleichbar sind und die theoretisch auch nicht variieren müssten, könnte durch die subjektiven Konzeptionen des Sprachverhaltens erhellt werden. Die beiden Dialekt-Shifter bezeichnen die Sprechweise in informellen Situationen als Dialekt und in formellen Situationen als Hochdeutsch. Die sprecherseitige Konzeption als Dialekt könnte – unabhängig von objektlinguistischen Faktoren – den subjektiven Bedarf der Variation bzw. Standardannäherung erklären. Die diglossischen Sprecher bezeichnen ihre Sprechweise in formellen Situationen zwar auch als Hochdeutsch, die Sprechweise in informellen Situationen jedoch als Gemisch aus Hochdeutsch und Platt. Diese sprecherseitige Konzeption könnte ggf. erklären, warum sie ihr Sprachverhalten – auch hier unabhängig von objektlinguistischen Faktoren und trotz subjektiv angenommener Variation – nicht derart ändern, wie die Dialekt-Shifter. Die Sprecher des vierten Typs wurden bis auf GI11, dessen Primärsozialisation im Basisdialekt aber keine Auswirkung auf sein restliches Sprachverhalten hat, nicht im Dialekt primärsozialisiert, sondern in einer regiolektalen Sprechlage. Dieser entspricht auch ihr Sprachverhalten im kommunikativen Alltag. In der Dialektkompetenzerhebung produzieren die Sprecher (außer GI11) – teilweise singulär – dialektale Merkmale, die sie noch kennen, da sie in der alltäglichen Kommunikation an ihren Orten noch zu hören sind oder aus dem Umland bekannt sind (vgl. Kap. 7.2). Dies gilt auch für die Sprecher des Untertyps (RegionalakzentSprecher). Deren Sprachverhalten ist noch standardnäher als das der anderen Moveless-Sprecher. In weiten Teilen entspricht es ihrer Standardkompetenz. Sie
352
8 Zusammenführung
verwenden in den Performanzerhebungen manche regionalen Merkmale in sozialsymbolischer Funktion, oder um Informalität zu markieren (bspw. Negationspartikel). Die Unterschiede zwischen den Sprechertypen IV und IVRA kann in einem weiteren Ausbau des Regiolekts (Sprechlage: Regionalakzent) erklärt werden. Bei den Regionalakzent-Sprechern nimmt die Variabilisierung des Gebrauchs der noch vorhandenen regionalen Merkmale zu. Die Typ1b-Varianten werden nicht mehr realisiert. Auch bei anderen Sprechern remanente regionale Merkmale kontrollieren sie partiell (bspw. Koronalisierung). Dies wiederum kann bei den jungen Sprechern des Typs IVRA u. a. durch die schulische Ausbildung und die damit einhergehende sprachliche Sensibilisierung erklärt werden. Hinzu kommen individuelle Faktoren, so gibt beispielsweise F4 an, sich bewusst um standardnahe Aussprache zu bemühen. Als Einflussfaktoren auf das Sprachverhalten der Sprecher können in der vorliegenden Untersuchung dieselben Faktoren ermittelt werden wie bei KEHREIN (2012, 355–360): – sprachliche Primärsozialisation – strukturelles Verhältnis des Dialekts zur Standardsprache (d. i. Anzahl der Typ1a- sowie Typ1b- und Typ2-Varianten)629 – kommunikative Anforderungen (samt individueller Faktoren). Zusätzlich sind in dieser kleinregionalen Studie diatopisch bedingte Unterschiede zu erkennen, auf die in der Zusammenführung in Kap. 8.5 eingegangen wird und die auch der Erklärung dienen können, warum beispielsweise die Primärsozialisation im Basisdialekt stattfindet oder eben nicht. Betrachtet man die regionale Verteilung der Sprechertypen geht hervor, dass der Sprechertyp I nur in Ulrichstein zu finden ist, der Sprechertyp II wiederum nur im südlichen Zentralhessischen. Der Sprechertyp III scheint typisch für das Rheinfränkische und südliche Zentralhessische zu sein, da er nur an diesen Orten nachzuweisen ist. Sprechertyp IV ist sowohl im Rheinfränkischen und südlichen Zentralhessischen zu finden, scheint aber auch für Gießen typisch zu sein. Der Sprechertyp IVRA kommt an vier Orten (BÜD, F, FB, GI) vor. Es lässt sich also auch bei den Sprechertypen eine räumliche Gliederung ermitteln, die jener der regionalsprachlichen Spektren entspricht – was sich eo ipso aus der Interdependenz des Sprachverhaltens und der regionalsprachlichen Spektren ergibt.630 Zudem wird auch durch die Anzahl der verschiedenen Sprechertypen die rezente
629 Das strukturelle Verhältnis des Dialekts zur Standardsprache (vgl. Kap. 5.1.2.2) kann nicht nur als Einflussfaktor auf das Sprachverhalten betrachtet werden, sondern bedingt über eben jenes auch den Ausbau des regionalsprachlichen Spektrums (d. h. den Spektrumstyp). Viele Typ1a- und wenige Typ1b- und Typ2-Varianten im Dialekt legen ein Zwei-VarietätenSpektrum nahe, das umgekehrte Verhältnis ein regionalsprachliches Kontinuum. 630 Einerseits ergibt sich das regionalsprachliche Spektrum aus der Zusammenführung des Sprachverhaltens aller Sprecher am Ort (den individuellen Spektren), andererseits bildet das regionalsprachliche Spektrum bzw. die Struktur der dialektalen Basis einen Einflussfaktor für das individuelle Sprachverhalten.
353
8.3 Regionalsprachliche Entwicklungen
sprachliche Dynamik an den Untersuchungsorten deutlich, die im nächsten Kapitel behandelt wird. 8.3 REGIONALSPRACHLICHE ENTWICKLUNGEN Für die regionalsprachlichen Entwicklungen lassen sich die Einzelergebnisse der intergenerationellen Vergleiche zusammenführen – es wird dazu zwischen Prozessen des Dialekts bzw. des dialektalen Bereichs bzw. des Basisdialektrests und des Regiolekts bzw. des regiolektalen Bereichs unterschieden. Ort DA
ERB
F VB GI
BÜD
FB
Prozesse - sukzessiver und zur jung. Gen. vollständiger Abbau des Dialekts - Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, mit Umbruch zur jung. Gen. + weiterer Ausbau des Regionalakzents (jung. Gen.) - sukzessiver Abbau des Dialekts - Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, ohne Umbrüche + weiterer Ausbau des Regionalakzents in jung. Gen.) - Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, in mittl. Gen. mit Umbruch + weiterer Ausbau des Regionalakzents bei RASprechern) - Stabilität des Dialekts - sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts - Dialektabbau (fast) vollzogen - sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts (+ tw. weiterer Ausbau des Regionalakzents in jung. Gen.) - sukzessiver und zur jung. Gen. vollständiger Abbau des Basisdialektrests (tw. schon vorher vollzogen) - Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, mit Umbruch zur jung. Gen. + weiterer Ausbau des Regionalakzents in jung. Gen.) - sukzessiver und zur jung. Gen. vollständiger Abbau des Basisdialektrests - Standardadvergenz des Regiolekts (sukzessive, mit Umbruch in mittl. Gen. + weiterer Ausbau des Regionalakzents bei RASprechern)
Dynamik hoch
gering
sehr hoch sehr gering sehr gering (unter Voraussetzung des vollzogenen Dialektabbaus)
hoch
sehr hoch
Tab. 8-6: Übersicht der rezenten regionalsprachlichen Prozesse und Dynamik
Für den Dialekt können folgende Prozesse zusammengefasst werden. In Ulrichstein ist eine übergreifende Stabilität des Dialekts zu beobachten. Alle Sprecher beherrschen und verwenden den Dialekt. Die dialektalen Varianten sind in der Verteilung und den Frequenzen stabil, lediglich beim konsonantischen Auslaut lässt sich ein zunehmender Ersatz durch die neue regionalsprachliche Variante beim jungen Sprecher beobachten. In Gießen kann von einem fast vollzogenen vollständigen Dialektabbau ausgegangen werden. Der Basisdialekt kann
354
8 Zusammenführung
als Relikt gewertet werden. Die basisdialektalen Merkmale sind wenn, jedoch noch weitgehend vorhanden und der Dialekt wird durch einen vollständigen und kombinierten Ersatz der dialektalen durch standardkonforme Varianten abgebaut (bzw. wird nicht weitergegeben). In Erbach ist ein leicht ausgeprägter, sukzessiver Dialektabbau, vor allem beim Sprecher der jungen Generation, festzuhalten. Dies äußert sich in einer leicht zunehmenden Variabilisierung des Gebrauchs dialektaler Varianten. In Büdingen, Reinheim und Bad Nauheim kann im Vergleich der Sprecher der älteren und der mittleren Generation ebenfalls ein sukzessiver Abbau des Dialekts (als Teil des Kontinuums bzw. des Basisdialektrests) ermittelt werden, der sich insgesamt deutlicher als in Erbach äußert. In den Orten unterliegt die Verwendung dialektaler Merkmale einer stark zunehmenden Variabilisierung. Die Dialektvarianten sind teilweise schon fast vollständig abgebaut (vgl. bspw. mhd. ô in BÜD). Bei den Sprechern der jungen Generation ist der Dialekt in den drei Orten bereits vollständig abgebaut – sie haben die spezifisch basisdialektalen Formen bereits durch standardkonforme Varianten ersetzt.631 Für den Regiolekt632 ist in Ulrichstein eine schwach ausgebildete, sukzessive Standardadvergenz festzustellen. Diese lässt sich vor allem beim jungen Sprecher anhand einer zunehmenden Variabilisierung der Realisierung regionaler Merkmale (u. a. b-Spirantisierung und Negationspartikel) beobachten. Dies gilt auch für den Untersuchungsort Gießen. Hier kann ebenfalls eine derartige sukzessive Standardadvergenz durch zunehmende Variabilisierung (u. a. Negationspartikel, sSonorisierung) hauptsächlich bei der jungen Generation beobachtet werden, die schon etwas stärker ausgeprägt ist als in Ulrichstein. Die Ergebnisse für Erbach sind den Ergebnissen dieser beiden Orte ähnlich. Die sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts (als Teil des Kontinuums) ist hier allerdings etwas stärker ausgeprägt – äußert sich aber auch vor allem beim Sprecher der jüngsten Generation. Zudem handelt es sich um einen anderen Regiolekt als im nördlichen Zentralhessischen (vgl. Kap. 8.1). Dies zeigt sich auch daran, dass zum Teil andere regionale Merkmale einer zunehmenden Variabilisierung im Gebrauch unterliegen (u. a. mhd. ou, ei, aber auch bspw. s-Sonorisierung). Für die Untersuchungsorte Frankfurt, Bad Nauheim, Reinheim und Büdingen ist eine stark ausgeprägte Standardadvergenz des Regiolekts festzuhalten. Dieser Prozess verläuft in Reinheim und Büdingen zwischen den Sprechern der älteren und mittleren Generation sukzessive, ein Umbruch lässt sich im Vergleich dazu beim Sprecher der jungen Generation beobachten. In Bad Nauheim und Frankfurt verläuft der Prozess zwischen dem Sprecher der älteren Generation und einem Sprecher der mittleren Generation sukzessive, ein Umbruch ist innerhalb der mittleren Generation zu erken-
631 Tw. sind in Bad Nauheim und Büdingen bereits in der älteren und mittleren Generation nur noch singuläre Relikte des Basisdialektrests vorhanden bzw. ist er wie bei BÜDALT2 schon abgebaut. Die oben genannten Prozesse werden aus einer übergreifenden Perspektive beschrieben, wie zu sehen ist, verlaufen sie aber aus einer apparent-time-Perspektive nicht immer linear. 632 Für den Regionalakzent s.u.
8.3 Regionalsprachliche Entwicklungen
355
nen. Das bedeutet, dass sich die Dynamik der Prozesse bzw. deren Fortschritt unterscheidet (s. u.), die Prozesse aber identisch sind. Die sukzessive Standardadvergenz äußert sich in einem sukzessiven Ersatz regionaler Varianten durch standardsprachliche Formen (u. a. mhd. ou, n-Apokope, t/d-Assimilation). Sie vollzieht sich auch durch eine zunehmende intersituative Variation bei diesen Sprechern. Der Umbruch ist definiert durch einen weiteren sukzessiven Ersatz regionaler Varianten und durch einen vollständigen Abbau von regionalen Merkmalen (u. a. mhd. ou, Negationspartikel, n-Apokope, tw. auch Koronalisierung). Als Teil dieser Prozesse innerhalb des Regiolekts können zusätzlich die Entwicklungen des Regionalakzents der Regionalakzent-Sprecher fokussiert werden. Hier kann für die jungen Sprecher aus Büdingen, Frankfurt, Bad Nauheim und Erbach633 ein Ausbau des Regiolekts, also eine weitere Annäherung des Regionalakzents an die Standardsprache beobachtet werden. Diese erzielen die Sprecher durch einen Abbau sonst remanenter Merkmale (u. a. s-Sonorisierung, Koronalisierung; Typ2-Varianten). Manche Sprecher „arbeiten“ am erfolgreichen Abbau, andere können diese regionalen Merkmale schon erfolgreich kontrollieren. Bei den jungen Sprechern in Gießen und Reinheim kann die Tendenz dieses weiteren Ausbaus erkannt werden, ist aber nicht derart ausgeprägt wie in den anderen Orten – in Ulrichstein ist diese Entwicklung nicht zu beobachten. Die Dynamik der rezenten Prozesse wird unter anderem bereits durch die Anzahl verschiedener Sprechertypen an einem Ort indiziert (vgl. Tab. 8-5) und kann am Fortschritt der Prozesse explizit ermittelt werden. Hier ergeben sich zwei Gruppen – eine mit geringer Dynamik (1–2 Sprechertypen) und einer mit hoher Dynamik (2–4 Sprechertypen). Der Gruppe mit geringer Dynamik lassen sich die Orte Ulrichstein, Erbach und Gießen zuweisen. In Ulrichstein finden kaum regionalsprachliche Entwicklungen statt, das heißt es gibt per se kaum sprachliche Dynamik. Der einzige Prozess (die sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts) ist erst in der jungen Generation zu beobachten und ist zudem als tendenziell zu beschreiben. In Erbach und Gießen – unter Voraussetzung des fast vollzogenen Dialektabbaus – vollziehen sich die Prozesse sukzessive, ohne Umbrüche und sind daher noch nicht weit fortgeschritten, sodass auch hier eine geringe sprachliche Dynamik festgehalten werden kann. Der Gruppe mit hoher Dynamik sind die Orte Büdingen, Bad Nauheim, Frankfurt und Reinheim zuzuordnen. Hier äußert sich die hohe Dynamik darin, dass es in den Prozessen einen Umbruch und keinen übergreifenden kontinuierlichen Verlauf gibt. Das heißt, dass die Prozesse nach dem Umbruch schon weiter fortgeschritten sind. Je nach dem zwischen welchen Sprechern dieser Umbruch zu beobachten ist, kann von einer hohen oder sehr hohen Dynamik ausgegangen werden. In Büdingen und Reinheim findet der Umbruch zwischen den Sprechern der mittleren und der jungen Generation statt, in Frankfurt und Bad Nauheim in-
633 In FB und F gilt dies tw. auch für einen Sprecher der mittleren Generation.
356
8 Zusammenführung
nerhalb der mittleren Generation. Bei den letzten beiden Orten ist somit von sehr hoher Dynamik auszugehen. Auch bei der Zusammenführung der rezenten regionalsprachlichen Entwicklungen und deren Dynamik ergeben sich regionale Muster (vgl. Tab. 8-7). Ulrichstein grenzt sich sowohl in der Stabilität des Dialekts als auch in der geringen Gesamtdynamik von den anderen Untersuchungsorten ab. In Gießen liegt ein spezifischer Fall vor, hier ist der Dialekt schon fast vollständig abgebaut, ansonsten ist eine sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts mit geringer Dynamik zu beobachten. In den vorliegenden Analysen unterscheidet sich auch Erbach von den anderen Orten und entspricht nicht dem Muster des Rheinfränkischen oder südlichen Zentralhessischen, wie in Kap. 8.1 und 8.2. Hier unterliegt der Dialekt im Generationenvergleich lediglich einem schwach ausgeprägten, sukzessiven Abbau durch leicht zunehmende Variabilisierung. Zudem ist eine sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts mit geringer Dynamik zu erkennen. Ein gemeinsames Muster der Entwicklungen zeigen die Orte Büdingen, Bad Nauheim, Reinheim und Frankfurt. An den Orten finden dieselben sprachlichen Entwicklungen statt (vgl. Tab. 8-6). Die Orte unterscheiden sich nur in ihrer Dynamik – in Frankfurt und Bad Nauheim sind diese Prozesse schon weiter fortgeschritten als in Reinheim und Büdingen. Dies bedeutet aus einer horizontalen Perspektive, dass auch bei den regionalsprachlichen Entwicklungen und deren Dynamik die Gemeinsamkeit des Rheinfränkischen und des südlichen Zentralhessischen hervortritt. Hier unterscheidet sich das rheinfränkische Erbach vom beschriebenen regionalen Muster. Die Unterschiede in den Prozessen können demnach nicht mit einem einfachen NordSüd-Gefälle beschrieben werden. Hier zeichnet sich vielmehr die Lage in Bezug zum Rhein-Main-Gebiet und dessen Zentrum Frankfurt als ein Einflussfaktor ab. Die vom Zentrum des Rhein-Main-Gebiets peripher gelegenen Orte unterscheiden sich in Entwicklungen und Dynamik von den zentral gelegenen Orten – bei diesen sind die noch zentraler gelegenen Orte (F, FB) von einer höheren sprachlichen Dynamik geprägt. Untersuchungsort Ulrichstein (VB) Gießen (GI)
Entwicklungen Stabilität des Dialekts sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts fast vollzogener Dialektabbau sukzessive Standardadvergenz des Regiolekts
Dynamik geringe Dynamik
Büdingen (BÜD) Bad Nauheim (FB)
sukzessiver > vollständiger Dialektabbau
Frankfurt (F)
Standardadvergenz des Regiolekts
(außer F)
hohe Dynamik
Reinheim (DA) Erbach (ERB)
sukzessiver Dialektabbau sukzessive Standardadvergenz d. Regiolekts
Tab. 8-7: regionale Übersicht der Entwicklungen und der Dynamik
geringe Dynamik
8.4 Regionalsprachliche Merkmale
357
8.4 REGIONALSPRACHLICHE MERKMALE 8.4.1 Merkmale des Regionalakzents Die Merkmale, die sich übergreifend in den Regionalakzenten bestimmen lassen, sind in Tab. 8-8 aufgeführt.634 Sie entsprechen weitgehend den Merkmalen, die KEHREIN (2015, 463) für einen moselfränkischen Regionalakzent des Westmitteldeutschen ermittelt.635 tend. a-Verdumpfung tend. Senkung von [ɪ, ʊ] t/d-Assimilation b-Spirantisierung Tiefschwa-Vorverlagerung Frikativrealisierung statt Affrikate s-Sonorisierung
tend. Nasalierung tend. Hebung von [eː, oː] r-Ausfall ohne Ersatzdehnung Lenisierung (inlautend) Koronalisierung Fortisierung
Tab. 8-8: Merkmale der Regionalakzente
Die Remanenz der Merkmale erklärt KEHREIN (2015) mithilfe der Einteilung in Typ1- und Typ2-Varianten. Alle Merkmale aus Tab. 8-8, die auch KEHREIN (2015) in den Regionalakzenten bestimmen kann, klassifiziert er als Typ2Varianten. Diese sind schwer über die Schrift zu kontrollieren, haben selten systemische Relevanz in der Standardsprache und/oder werden häufig allophonisch wahrgenommen (s. o., vgl. Kap. 5.1.2.2). Die Remanenz der Merkmale636 kann somit auch hier mit der Variantentypisierung von KEHREIN (2012; 2015) erklärt werden. Als Illustration dessen kann das Beispiel der Koronalisierung dienen. Diese ist nicht einfach zu kontrollieren, da keine simplen Korrespondenzregeln mit der Schrift aufgestellt werden können (vgl. std. [ç] – , [ʃ] – , – [x, ç, k, ʃ], dialektal sind [ʃ, ç] in [ɕ] zusammengefallen). Hinzu kommt, dass die Opposition [ʃ] : [ç] in der Standardsprache schwach belastet ist (vgl. KEHREIN 2015, 470, zur Opposition HERRGEN 1986, 43–46). Die t/d-
634 Tw. kommt es an einzelnen Orten zu weiteren regionalen Merkmalen, vgl. die entsprechenden Ortskapitel. Ihre Klassifizierung entspricht den hier vorgenommenen Ausführungen. Zum Diphthongoid vgl. Fn. 369. 635 In den hier untersuchten Regionalakzenten sind weder eine überoffene Artikulation des [ɛ], konsonantisches statt vokalisches /r/ vor Konsonant oder die regionale Variante der Negationspartikel zu finden. Die Merkmale, die KEHREIN (2015, 463) nicht für das Westmitteldeutsche nachweist, sind in anderen seiner Untersuchungsregionen zu finden (Ostmitteldeutsch: rAusfall ohne Ersatzdehnung, tend. a-Verdumpfung, Frikativrealisierung statt Affrikate; Ostfränkisch: tend. Senkung von [ɪ, ʊ], vgl. KEHREIN 2015, 464–465). 636 Es bleibt noch zu klären, ob bei allen Merkmalen das Auftreten im Regionalakzent auf Remanenz zurückzuführen ist.
358
8 Zusammenführung
Assimilation und die b-Spirantisierung beschreibt KEHREIN (2015) nicht. Die standarddifferenten Varianten können auch als Typ2-Varianten klassifiziert werden. Es ließen sich zwar Korrespondenzregeln mit der Schrift formulieren, doch können die Varianten allophonisch wahrgenommen werden. Die Opposition ist in der Standardsprache für diese Kontexte nicht stark belastet und zudem scheinen die standarddifferenten Formen sprechsprachlich gestützt (vgl. Kap. 4.4.1.3 u. 4.4.1.4). Die für das Zentralhessische bzw. den gesamten Sprachraum als neu definierten regionalsprachlichen Merkmale werden im Folgenden gesondert diskutiert. 8.4.2 s-Sonorisierung Die s-Sonorisierung wurde für den gesamten Sprachraum als neues Merkmal klassifiziert (vgl. Kap. 4.4.4.2). Die Gesamtverteilung der standarddifferenten Varianten ist in Tab. 8-9 zu sehen. Die standarddifferenten Varianten werden im gesamten Sprachraum realisiert und zeigen insgesamt die typische Verteilung einer dialektalen Form. Sie werden in den jeweiligen Basisdialekten (VB, DA, ERB) hochfrequent – selbst von Sprechern mit ausgewiesener Dialektkompetenz (vgl. bspw. DAALT2, ERBALT1, VBALT2, VB1) – verwendet, ebenso werden sie hochfrequent im Basisdialektrest in Büdingen und Bad Nauheim sowie im unteren Regiolekt Frankfurts realisiert. Die Regionalakzent-Sprecher produzieren diese Varianten im intendierten Dialekt frequent, ansonsten aber insgesamt deutlich seltener. Der intergenerationelle Vergleich zeigt, dass das Merkmal – ähnlich wie andere dialektale Merkmale (bspw. mhd. ô) – einem Abbau durch zunehmenden Rückgang der Verwendungshäufigkeit unterliegt. WSD
FG
Interview
WSS
Durchschnitt
DAALT2 DA1 DA5 DAJUNG1
71 % 100 % 100 % 43 %
90 % 69 % 60 % 67 %
72 % 69 % 86 % 83 %
75 % 88 % 100 % 38 %
77 % 82 % 87 % 58 %
ERBALT1 ERB2 ERB3 ERBJUNG1
100 % 100 % 100 % 100 %
100 % 100 % 100 % 91 %
100 % 100 % 89 % 70 %
100 % 100 % 75 % 38 %
100 % 100 % 91 % 75 %
FALT1 F1 F4 FJUNG1
100 % 100 % 88 % 89 %
81% 95% 40% 38%
70 % 72 % 73 % 6 %
75 % 88 % 22 % 13 %
82 % 89 % 56 % 37 %
VBALT2 VB1 VB2
83 % 100 % 67 %
100% 100% 79%
100 % 60 %
100 % 100 % 25 %
96 % 100 % 58 %
VBJUNG1
100 %
100%
73 %
75 %
87 %
359
8.4 Regionalsprachliche Merkmale WSD
FG
Interview
WSS
Durchschnitt
GIALT1 GI11 GI12 GIJUNG1
86 % 86 % 86 % 86 %
88 % 78 % 80 %
93 % 82 % 87 % 38 %
75 % 88 % 38 % 38 %
85 % 86 % 72 % 61 %
BÜDALT1 BÜDALT2 BÜD1 BÜD3 BÜDJUNG1
100 % 100 % 100 % 100 % 100 %
100 % 100 % 90 % 90 % 31 %
100 % 100 % 100 % 100 % 27 %
100 % 100 % 100 % 88 % 22 %
100 % 100 % 98 % 95 % 45 %
FBALT2 FB3 FB1 FBJUNG1
86 % 100 % 100 % 56 %
65 % 65 % 50 % 30 %
75 % 61 % 0 % 13 %
100 % 88 % 13 % 22 %
82 % 79 % 41 % 30 %
Tab. 8-9: Gesamtverteilung s-Sonorisierung
Die s-Sonorisierung kann demnach rezent aufgrund der vertikalen, horizontalen und intergenerationellen Verteilung als dialektales Merkmal klassifiziert werden. Die bisherigen Beschreibungen stellen es als neues regionales Merkmal heraus, sodass bei der vorliegenden Verteilung von einem sehr schnellen Lautwandel und einem sehr progressiven Merkmal ausgegangen werden muss. Wie ist dieser Wandel zu erklären? Ein möglicher Grund für die Entwicklung kann in einer phonologischen Optimierung gesehen werden. Dazu muss die Verteilung der beiden alveolaren Frikative [s, z] berücksichtigt werden. In den behandelten Basisdialekten wird in allen Positionen – unabhängig von der lauthistorischen Entsprechung – laut Literatur der stimmlose alveolare Frikativ realisiert (vgl. Kap. 4.4.4.2). Die rezenten Daten zeigen, dass im gesamten Gebiet in den modernen Regionalsprachen in wortmedialer, intervokalischer Position der stimmhafte Frikativ realisiert wird. Das bedeutet, dass rezent folgende Distribution der beiden Frikative in den modernen Regionalsprachen vorliegt: wortinitial und -final wird der stimmlose alveolare Frikativ realisiert, wortmedial die stimmhafte Variante.637 In dieser Verteilung liegt eine Optimierung des phonologischen Wortes vor,638 die sich der Tendenz der anlautenden Stärkung und der inlautenden Schwächung subsumieren lässt. Die Domäne für diesen Prozess, der zu dieser Distribution führt, ist das phonologische Wort oder der phonologische Fuß: die Distribution ist wort- oder fußpositionsbezogen. Es lässt sich sogar von einer komplementären Allophonie sprechen – analog zu [ç] und [x] in der Standardvari-
637 Vgl. zur Verteilung der stl. Variante bspw. KIESEWALTER (2011). Stichprobenartige Auswertungen bestätigen dies auch im vorliegenden Korpus. 638 Vgl. zum Konzept des phonologischen Worts und Wortsprachen AUER (1994), HALL (1999) und SZCZEPANIAK (2007).
360
8 Zusammenführung
etät (/s/ > [z] / V_V und > [s] / #_ + _#) (vgl. auch RAMERS 2001, 47). Im An- und Auslaut kommt nur der stimmlose Frikativ vor und in wortmedialer, intervokalischer Position die stimmhafte Variante. Es liegt somit eine klare wortpositionsbezogene Verteilung vor (vgl. für die Standardsprache SZCZEPANIAK 2007, 210). Diese Distribution ist gleichzeitig eine Hervorhebung des phonologischen Wortes, „weil dieses seit dem Mhd. tendenziell einfüßig ist“ (SZCZEPANIAK, 2007, 211). Der stimmlose Frikativ signalisiert den Beginn der Einheit des phonologischen Wortes oder Fußes und ebenso sein Ende.639 Die stimmhafte Variante [z] hingegen, die nur wortmedial vorkommt, repräsentiert die Mitte des phonologischen Wortes. Hinzu kommt, dass die inlautende Schwächung – die Sonorisierung hat eine Abnahme der konsonantischen Stärke bzw. Zunahme der Sonorität zur Folge (vgl. u. a. VENNEMANN 1988, 9, KOHLER 1995, 73–74, RAMERS 22007, 93–98) – und die anlautende Stärkung durch die komplementäre Distribution wiederum den kurvenförmigen Verlauf der Sonorität des phonologischen Wortes unterstützen (vgl. dazu u. a. SZCZEPANIAK 2007, 34). An den Rändern nimmt die Sonorität ab und in der Mitte steigt sie. Der Kontrast zwischen Rändern und Mitte nimmt zu und der Sonoritätsverlauf wird optimiert. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wie es zu dieser Entwicklung kam. VIËTOR (1875, 9) zählt das Merkmal in seiner Beschreibung des landschaftlichen Hochdeutschs (s. o.) auf; für die Dialekte wird es nicht beschrieben. Demnach kann davon ausgegangen werden, dass die s-Sonorisierung im landschaftlichen Hochdeutsch/Regiolekt ihren Ursprung genommen hat. Es kann ein ähnlicher Prozess wie bei der Koronalisierung angenommen werden (vgl. HERRGEN 1986). Die Grundlage einer phonologischen Optimierung liegt vor und diese wird im Regiolekt, dem eine Disposition für sprachliche Neuerung inhärent ist (vgl. HERRGEN 1986, 128–135), durchgeführt. Durch die damit verbundene Optimierung breitet sich das Merkmal ähnlich der Koronalisierung vertikal wie horizontal aus. Dieser Prozess muss relativ schnell verlaufen sein, wie die rezente Verteilung zeigt. Die Remanenz der standarddifferenten Variante kann wiederum durch eine Klassifikation als Typ2 erklärt werden. Auch hier ist die Aufstellung einfacher, kontextunabhängiger Korrespondenzregeln mit der Schrift nicht möglich (vgl. – [z, s, ʃ], – [s], [s] – u. [z] – ). Zudem ist die Opposition [s] : [z] in der Standardsprache schwach belastet (vgl. reißen vs. reisen).
639 Zwar kann wortmedial [s] in Verbindung mit [p, t, v, m, n, l] auftreten, doch ist dieses Cluster wiederum wortinitial nicht zu beobachten, da hier der palatal-alveolare Frikativ /ʃ/ auftritt, weswegen die Struktur dennoch hervorgehoben wird (vgl. auch SZCZEPANIAK 2007, 210). Das fußinitiale Auftreten hebt als solche zwar nicht das phonologische Wort, aber die morphologische Struktur bspw. bei Präfigierungen hervor (vgl. SZCZEPANIAK 2007, 211).
361
8.4 Regionalsprachliche Merkmale
8.4.3 Koronalisierung Die Koronalisierung ist für die zentralhessischen Dialekte als neues regionales Merkmal herausgestellt worden. Für die rheinfränkischen Dialekte gilt, dass sie dort ein dialektales Merkmal darstellt, das auch – wie in Frankfurt – im Regiolekt vorkommt. Die rezente Gesamtverteilung der koronalen Varianten ist in Tab. 8-10 dargestellt. WSD
FG
Interview
WSS
Durchschnitt
DAALT2 DA1 DA5 DAJUNG1
100 % 100 % 100 % 100 %
100 % 100 % 100 % 100 %
99 % 100 % 99 % 98 %
97 % 100 % 100 % 100 %
99 % 100 % 100 % 100 %
ERBALT1 ERB2 ERB3 ERBJUNG1
94 % 100 % 100 % 95 %
100 % 100 % 100 % 92 %
100 % 100 % 100 % 82 %
100 % 100 % 100 % 41 %
99 % 100 % 100 % 78 %
FALT1 F1 F4 FJUNG1
100 % 89 % 87 % 50 %
87 % 61 % 32 % 0 %
72 % 13 % 18 % 2 %
89 % 54 % 28 % 6 %
87 % 54 % 41 % 15 %
VBALT2 VB1 VB2 VBJUNG1
0 % 0 % 0 % 0 %
0 % 0 % 1 % 0 %
0 % 3 % 1 % 0 %
0 % 0 % 0 % 0 %
0 % 1 % 1 % 0 %
GIALT1 GI11 GI12 GIJUNG1
67 % 0 % 14 % 65 %
48 % 59 % 22 %
27 % 25 % 13 % 12 %
21% 0 % 0 % 0 %
38 % 18 % 22 % 25 %
BÜDALT1 BÜDALT2 BÜD1 BÜD3 BÜDJUNG1
96 % 100 % 70 % 91 % 97 %
78 % 86 % 88 % 94 % 11 %
95 % 84 % 83 % 90 % 12 %
82 % 100 % 88 % 90 % 12 %
88 % 93 % 82 % 91 % 33 %
FBALT2 FB3 FB1 FBJUNG1
96 % 97 % 76 % 23 %
89 % 89 % 36 % 0 %
85 % 93 % 26 % 0 %
95 % 87 % 26 % 0 %
91 % 92 % 41 % 6 %
Tab. 8-10: Gesamtverteilung Koronalisierung
In den rheinfränkischen Orten wird die Koronalisierung durchgehend hochfrequent realisiert, lediglich beim jungen Sprecher in Erbach kann ein Frequenzrück-
362
8 Zusammenführung
gang der koronalen Varianten in der Standardkompetenzerhebung erkannt werden. In Frankfurt wird das Merkmal im unteren Regiolekt ebenso frequent realisiert. Der Gebrauch unterliegt aber im intergenerationellen Vergleich einer Variabilisierung, was einen Abbau des Merkmals bedeutet. In Ulrichstein kommt die Koronalisierung nicht vor (vgl. Fn. 503). In Gießen wird sie im intendierten Basisdialekt der nichtkompetenten Sprecher (GIALT1, GIJUNG1) sowie in den Freundesgesprächen der Sprecher der mittleren Generation frequent verwendet, ansonsten liegen die Frequenzwerte eher in einem niedrigen Bereich. Das bedeutet, dass die Koronalisierung in ihrer horizontalen Ausbreitung (s. u.) Gießen schon teilweise erreicht hat. Die Verteilung gibt Aufschluss darüber, dass sie sich über den Regiolekt verbreitet. In den beiden Orten Büdingen und Bad Nauheim ist die Koronalisierung im gesamten Spektrum etabliert und hat bereits den Basisdialekt interferiert, wie die Verteilung in den Sprachproben des Basisdialektrests zeigt. Die Ausbreitung vollzieht sich wie in Kap. 7.3.5 geschildert. Das Merkmal wird als Prestigeform des Frankfurter Regiolekts im eigenen Regiolekt übernommen und interferiert davon ausgehend den Dialekt (zur vertikalen Ausbreitung s. u.). Der intergenerationelle Vergleich zeigt, dass das Merkmal in diesen Orten nach beschriebener Etablierung wieder abgebaut wird.640 Die Gesamtverteilung aus horizontaler, vertikaler und intergenerationeller Perspektive ermöglicht folgende Zusammenfassung. Im Rheinfränkischen ist die Koronalisierung stabil, sie hat sich nach Norden in das südliche Zentralhessische ausgebreitet, wobei erste Tendenzen der Ausbreitung auch in Gießen zu erkennen sind. Sie wird in Frankfurt und im südlichen Zentralhessischen aber bei den Sprechern der jüngeren Generation abgebaut. Die vertikale wie horizontale Ausbreitung der Koronalisierung verläuft progressiv, der „Siegeszug“ scheint aber vorbei zu sein, wie der Abbau zeigt. Die horizontale Ausbreitung (vgl. auch HERRGEN 1986, 110–111) kann durch die Übernahme einer Prestigeform (vgl. Kap. 7.3.5) aus dem Rhein-Main-Gebiet erklärt werden, die zudem im phonologischen System selbst stark motiviert ist (vgl. HERRGEN 1986, 135). Für die Erklärung der vertikalen Ausbreitung – also innerhalb eines Systems, bzw. im vorliegenden Fall die Interferierung des Basisdialekts – kann auf HERRGEN (1986, 115–125) verwiesen werden. Er nimmt als Grund der Ausbreitung der Koronalisierung phonetische und phonologische Optimierungen641 an (zur allgemeinen Motivation vgl. Kap.
640 Die Sprecher, die das Merkmal abbauen, produzieren es (hoch-)frequent im intendierten Basisdialekt. Die Konzeptualisierung des Merkmals ändert sich (vgl. Kap. 7.3.5): für ehemalige Dialektsprecher stellt es eher ein Merkmal des Regiolekts (aus ihrer Perspektive des „Hochdeutschen“) dar, bei den nicht-dialektkompetenten Sprechern ist es hingegen eher als dialektal konzeptualisiert. Vgl. dazu auch VORBERGER (2017). 641 HERRGEN (1986, 115–118) sieht die Koronalisierung phonetisch durch auditiv bedingte Substitution und segmentelle wie sequentielle artikulatorische Vereinfachungen begründet. Als phonologische Motivation (vgl. 119–125) betrachtet er aufgrund der Distribution und der schwach belasteten Opposition eine Umstrukturierung des Phonemsystems, die eine Vereinfachung bedeutet.
363
8.4 Regionalsprachliche Merkmale
4.4.3.1 und HERRGEN 1986, 109–135). Die Remanenz der regionalen Variante ist durch die Typisierung (Typ2-Variante, s. o.) zu erklären. 8.4.4 Tiefschwa-Vorverlagerung Die Tiefschwa-Vorverlagerung ist ähnlich zu klassifizieren wie die Koronalisierung. Für das Rheinfränkische kann sie als dialektal gelten, für das Zentralhessische als neu. Die Gesamtverteilung der vorverlagerten Varianten ist in Abb. 8-11 zu sehen. WSD
FG
Interview
WSS
Durchschnitt
DAALT2 DA1 DA5 DAJUNG1
94 % 86 % 100 % 100 %
100 % 100 % 100 % 91 %
100 % 92 % 97 % 95 %
93 % 88 % 100 % 70 %
97 % 92 % 99 % 89 %
ERBALT1 ERB2 ERB3 ERBJUNG1
100 % 93 % 95 % 92 %
96 % 94 % 96 % 98 %
95 % 94 % 93 % 92 %
100 % 96 % 96 % 85 %
98 % 94 % 95 % 92 %
FALT1 F1 F4 FJUNG1
100 % 97 % 100 % 75 %
96 % 98 % 85 % 78 %
97 % 96 % 91 % 83 %
100 % 100 % 88 % 73 %
98 % 98 % 91 % 77 %
VBALT2 VB1 VB2 VBJUNG1
12 % 13 % 15 % 55 %
3 % 26 % 8 % 67 %
85 % 96 % 45 % 87 %
83 % 95 % 40 % 92 %
46 % 58 % 27 % 75 %
GIALT1 GI11 GI12 GIJUNG1
82 % 15 % 78 % 100 %
92 % 98 % 94 %
98 % 93 % 94 % 93 %
100 % 88 % 96 % 92 %
93 % 72 % 92 % 95 %
BÜDALT1 BÜDALT2 BÜD1 BÜD3 BÜDJUNG1
89 % 100 % 40 % 60 % 68 %
98 % 92 % 85 % 84 % 84 %
96 % 92 % 94 % 92 % 68 %
100 % 100 % 90 % 93 % 75 %
96 % 96 % 77 % 82 % 74 %
FBALT2 FB3 FB1 FBJUNG1
40 % 100 % 72 % 96 %
94 % 100 % 95 % 94 %
89 % 95 % 98 % 91 %
82 % 96 % 100 % 92 %
76 % 98 % 91 % 93 %
Tab. 8-11: Gesamtverteilung Tiefschwa-Vorverlagerung
364
8 Zusammenführung
In den rheinfränkischen Orten und Frankfurt ist eine klare Verteilung zu erkennen. Die standarddifferente Variante wird durchgängig von allen Sprechern mit geringer Variation realisiert. Lediglich bei manchen Sprechern (v. a. junge) ist eine leichte Variabilisierung des Gebrauchs zu beobachten. Ein deutliches Muster ergibt sich auch in Ulrichstein. Dort wird die vorverlagerte Tiefschwa-Variante im Dialekt kaum realisiert, sondern der dialektale konsonantische Auslaut. Im Regiolekt wird dieser jedoch fast vollständig – außer bei VB2 (vgl. dazu Kap. 7.1.3.3) – durch die neue regionale Variante ersetzt. Beim jungen Sprecher in Ulrichstein lässt sich beobachten, dass er den konsonantischen Auslaut bereits im Dialekt vermehrt durch diese neue Variante ersetzt. In Gießen, Büdingen und Bad Nauheim wird die neue regionale Variante ebenfalls durchgängig hochfrequent realisiert, mit der Ausnahme der Sprachproben des Basisdialekts bzw. Basisdialektrests – dort verwenden manche Sprecher noch die konsonantische Form. In Büdingen sind zudem leichte Variabilisierungstendenzen im Generationenvergleich zu erkennen. Die Verteilung im Zentralhessischen kann wie folgt erklärt werden.642 Für das 20. Jh. kann aufgrund der historischen Beschreibungen und der rezenten Verteilung eine Entwicklung angenommen werden, die Parallelen zur Entwicklung der Koronalisierung aufweist. Es ist davon auszugehen, dass die Dialektsprecher im südlichen Zentralhessischen den konsonantischen -Auslaut im Regiolekt durch die südliche vorverlagerte Tiefschwa-Variante ersetzt haben. Diese wurde im dortigen Regiolekt verwendet (vgl. bspw. RUDOLPH 1927, 10, 17) und kann ähnlich wie die Koronalisierung als Prestigevariante gelten. Diese ist zudem der standardsprachlichen Aussprache, in der sich im Laufe des 20. Jh. zunehmend die vokalische Artikulation als [ɐ] durchsetzte (vgl. Kap. 4.4.2.1.4), ähnlicher, was als unterstützender Faktor gewertet werden kann.643 Als Teil der beschriebenen Entwicklungen im südlichen Zentralhessischen (vgl. Kap. 8.3) wird der konsonantische -Auslaut als dialektales Merkmal zunehmend auch im Dialekt durch die neue regionale Variante ersetzt. Aktuell ist er als Reliktform im Basisdialektrest in den dortigen Untersuchungsorten noch vorhanden. Diese Entwicklung breitet sich im Zentralhessischen aus. In Ulrichstein ist der konsonantische Auslaut im Dialekt relativ stabil, im Regiolekt wird die neue Variante, die die Sprecher durch die Kommunikation mit südlichen Sprechern kennen, schon hochfrequent von ihnen verwendet. Beim jungen Sprecher lässt sich der für das südliche Zentralhessische beschriebene Ersatz der konsonantischen Variante im Dialekt durch die neue Form beobachten. Die rezente Verteilung der Varianten in Ulrichstein kann somit als ein frühes Stadium der beschriebenen Entwicklung angesehen werden und bestätigt diese Annahme dadurch zusätzlich.
642 Zur Erklärung der Remanenz im Rheinfränkischen s. u. 643 Als zusätzlicher Faktor ist zu beachten, dass der Laut [ɐ] nicht im Phonemsystem der zentralhessischen Sprecher vorhanden war, der Laut des rheinfränkischen bzw. Frankfurter Regiolekts [ɛ] allerdings schon, weswegen diese Variante besser zur Substitution des konsonantischen Auslauts dient.
365
8.4 Regionalsprachliche Merkmale
Die Remanenz der neuen standarddifferenten Variante kann wiederum mithilfe der Klassifizierung als Typ2 erklärt werden (vgl. dazu konkret auch KEHREIN 2015, 463). Für die Variante lassen sich zwar relativ simple Korrespondenzregeln mit der Schrift aufstellen (vgl. Kap. 7.1.2.2), doch ist die Opposition [ɛ, ɜ] : [ɐ] in der Standardsprache nicht besetzt, hat demnach keine systematische/systemische Relevanz, das Vokalisierungsprodukt ist allgemein von Varianz und Koartikulation betroffen (vgl. Fn. 230) und eine phonetische Verarbeitung der regionalen Variante bzw. allophonische Wahrnehmung scheint auch gegeben. 8.4.5 Fortisierung Die Fortisierung von Lenis-Plosiven im Anlautcluster vor Sonorant kann als neues Merkmal im gesamten Sprachraum gewertet werden (vgl. 4.4.4.1). Die Verteilung der standarddifferenten Varianten ist in Tab. 8-12 dargestellt. Auf den ersten Blick ist kein übergreifendes Muster der Verteilung zu erkennen. Eine konsistente regionale Verteilung wird nicht sichtbar. In Büdingen wird das Merkmal zwar am seltensten verwendet und in Bad Nauheim am häufigsten, aber zwischen den Sprechern und den Sprachproben ergibt sich zunächst kein Muster. Insgesamt ist auch kein klares Verteilungsschema in Bezug auf Varietäten oder Sprechlagen zu erkennen. Lediglich bei manchen Sprechern mit Dialektkompetenz (vgl. bspw. DA1, ERB2, VBALT2, VB1, VB2, FBALT2, BÜD1) kann beobachtet werden, dass sie das Merkmal im Basisdialekt bzw. Basisdialektrest am seltensten realisieren, was zu bestätigen scheint, dass es sich nicht um ein genuin dialektales Merkmal handelt. Aber auch hier sind Ausnahmen zu erkennen (vgl. bspw. ERBALT1). Manche Sprecher verwenden in der intendierten Standardsprache die Fortisierung frequenter als in den anderen Erhebungssituationen (vgl. bspw. DAAL2, VBALT2), was zusammen mit den Dialektkompetenzerhebungen ein schwaches Muster erkennen lässt. WSD
FG
Interview
WSS
Durchschnitt
DAALT2 DA1 DA5 DAJUNG1
15 % 0 % 38 % 85 %
20 % 17 % 21 % 88 %
10 % 69 % 17 % 89 %
29 % 21 % 23 % 86 %
19 % 27 % 25 % 87 %
ERBALT1 ERB2 ERB3 ERBJUNG1
53 % 17 % 80 % 57 %
64 % 81 % 79 % 33 %
73 % 47 % 90 %
14 % 79 % 53 % 70 %
44 % 63 % 65 % 63 %
FALT1 F1 F4 FJUNG1
29 % 21 % 69 % 85 %
12 % 59 % 70 % 91 %
50 % 90 % 64 % 89 %
33 % 31 % 62 % 85 %
31 % 50 % 66 % 88 %
366
8 Zusammenführung WSD
FG
Interview
WSS
Durchschnitt
VBALT2 VB1 VB2 VBJUNG1
29 % 57 % 29 % 62 %
17 % 20 % 16 % 50 %
20 % 40 % 78 % 91 %
46 % 69 % 86 % 71 %
28 % 47 % 52 % 69 %
GIALT1 GI11 GI12 GIJUNG1
31 % 79 % 62 % 85 %
54 % 55 % 55 %
50 % 47 % 50 % 80 %
57 % 36 % 62 % 57 %
46 % 54 % 57 % 69 %
BÜDALT1 BÜDALT2 BÜD1 BÜD3 BÜDJUNG1
6 % 5 % 0 % 16 % 45 %
21 % 6 % 14 % 13 % 55 %
14 % 0 % 0 % 0 % 43 %
12 % 5 % 33 % 0 % 17 %
13 % 4 % 12 % 7 % 40 %
FBALT2 FB3 FB1 FBJUNG1
21 % 54 % 62 % 100 %
78 % 63 % 100 % 92 %
62 % 75 % 88 % 78 %
64 % 57 % 57 % 100 %
56 % 62 % 77 % 93 %
Tab. 8-12: Gesamtverteilung Fortisierung
Ein Muster ist jedoch zu bestimmen: im intergenerationellen Vergleich nehmen die Realisierungen der standarddifferenten Variante an allen Orten zu. Teilweise ist ein sehr starker Anstieg der Durchschnittsfrequenzen in der jungen Generation zu beobachten (vgl. bspw. DA). Dies ist auch an der Gesamtverteilung der fortisierten Varianten in Bezug auf die Generationen zu sehen (vgl. Abb. 8-3). ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ ͶͲΨ ͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
ʹΨ ͶͻΨ ͵͵Ψ
Abb. 8-3: Intergenerationelle Verteilung Fortisierung
Das bedeutet, dass eine Differenzierung möglich scheint. Ein schwach ausgeprägtes Muster lässt sich bei den meisten Sprechern der Typen I, II und III erkennen. Sie verwenden in den meisten Fällen die Fortisierung im Basisdialekt (bzw. in der
8.4 Regionalsprachliche Merkmale
367
standardfernsten Sprechweise) seltener und im Regionalakzent häufiger als in den anderen Situationen. Dies trifft allerdings nicht auf alle zu – die Verteilung der Varianten der Sprecher in Erbach entspricht nicht diesem Muster. Eine gewisse Tendenz lässt sich aber erkennen. Erklärt werden kann diese Verteilung über Hyperkorrekturen, wie sie beispielsweise VEITH (1983, 86) annimmt. Die Sprecher produzieren im Basisdialekt (bzw. in der standardfernsten Sprechweise) Lenisierungen, wie qualitative Analysen des Korpus belegen. Der Prozess ist der Fortisierung genau entgegengesetzt: Lenes statt Fortes im Anlautcluster vor Sonorant (vgl. bspw. [ɡ̊ˡlɒ̃ː] klein). Im Regionalakzent bzw. in der intendierten Standardsprache versuchen sie, das Merkmal zu vermeiden und übergeneralisieren die Vermeidung. So kann es zu Fortisierungen als Hyperkorrektur kommen. Dies kann nicht als Erklärung für das zweite Muster dienen. Die Regionalakzent-Sprecher bzw. Sprecher der jungen Generation verwenden die Fortisierung hochfrequent und variieren nur teilweise in der Verwendung. Sie lenisieren, wenn überhaupt nur wortmediale Fortes, nicht aber anlautende. Es kann sich hier also nicht um eine Hyperkorrektur handeln, sodass eine andere Erklärung gefunden werden muss. Auch hier kann eine phonologische Optimierung zur Erhellung des Phänomens beitragen. Es handelt sich hierbei wiederum um einen wortsprachlichen Prozess, der zur Verbesserung des phonologischen Wortes beiträgt. Zunächst ist die wortpositionsbezogene Distribution auffällig. Im Korpus kommt die Fortisierung fast ausschließlich in wortinitialer Position vor, wortmedial sind nur wenige Belege zu finden. Die Bezugsdomäne für diesen phonologischen Prozess scheint somit das phonologische Wort und der Prozess somit wortsprachlich zu sein.644 Des Weiteren spricht die Markierung des linken Wortrandes für ein wortsprachliches Merkmal. Die Markierung der Wortränder durch extrasilbische Konsonanten, komplexe Silben, Aspiration und die Auslautverhärtung (SZCZEPANIAK 2007, 207) ist auch in der Standardsprache – als ausgewiesener Wortsprache – vorhanden. Die Struktur (bzw. der Anfang) des phonologischen Worts wird durch die Markierung hervorgehoben und so dem Hörer bei der Dekodierung der Informationen geholfen; er bekommt das Signal des Beginns der Informationseinheit des phonologischen Wortes (vgl. SZCZEPANIAK 2007, 37). Im Sprachverhalten dieser Sprecher treten in den beschriebenen wortinitialen Konsonantenclustern oft Fortis-Plosive auf, die zum Teil noch aspiriert werden. Diese Fortisierung bedeutet eine Erhöhung der konsonantischen Stärke (vgl. u. a. VENNEMANN 1988, 9) bzw. Abnahme der Sonorität. Die Aspiration kann als zusätzliche Verstärkung interpretiert werden (vgl. AUER 1999, 316). Diese Anlautverstärkung (oder auch Anlautverhärtung) markiert somit zusätzlich den linken Wortrand und exponiert dadurch noch stärker das phonologische Wort. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der die Fortisierung 644 Es ist auch möglich, dass der phonologische Fuß als Bezugsdomäne auftritt. Die wortmedialen Belege beziehen sich bis auf wenige Ausnahmen, bei denen zusätzlich die Syllabierung nicht letztlich geklärt ist (bspw. Nörgler), auf fußinitiale Position. Dies entspricht einer wortsprachlichen Interpretation.
368
8 Zusammenführung
als wortsprachlich charakterisiert. Wie beschrieben sinkt durch die Fortisierung, die gleichbedeutend mit einer Zunahme der konsonantischen Stärke ist, automatisch die Sonorität am linken Wortrand. Im phonologischen Wort ist ein kurvenförmiger Verlauf der Sonorität optimal, da so in mehrsilbigen Wörtern die Silbengrenzen undeutlicher werden, der Sonoritätsverlauf die Kohäsion des Wortes erhöht und „[d]ie Sonoritätswerte der einzelnen Segmente [...] ebenfalls die Prominenzkontraste [und dadurch die Struktur, L. V.] innerhalb des phonologischen Fußes verdeutlichen“ (SZCZEPANIAK 2007, 34). Die Tendenz des kurvenförmigen Verlaufs wird durch die Fortisierung unterstützt. Sie senkt die Sonorität am linken Wortrand, was den optimalen Sonoritätsverlauf im phonologischen Wort forciert. Durch diese Wohlgeformtheit, die sich daraus ergebende Markierung der Struktur des phonologischen Wortes und die Verstärkung seiner Kohäsion kann die Anlautfortisierung als ein deutlicher wortsprachlicher Prozess dargestellt werden, der das phonologische Wort optimiert. Diese Interpretation kann auch erklären, warum bestimmte Konsonantencluster stärker von der Fortisierung betroffen sind als andere (vgl. Abb. 8-4). Wie zu sehen ist, tritt in Clustern, die als zweite Komponente /r/ enthalten, die Fortisierung häufiger auf als in Clustern mit /l/. Nun ist gemäß der Sonoritätshierarchie /r/ sonorer als /l/, sodass das Verhältnis umgekehrt sein müsste. In den Fällen, in denen die Fortisierung auftritt, wird /r/ jedoch stets als Frikativ [ѳ], teilweise sogar entstimmt [ѳ]ܚ, artikuliert, sodass dieses Allophon weniger sonor ist als der Liquid (vgl. u. a. VENNEMANN 1988, 9). Die Fortisierung optimiert den Sonoritätsverlauf daher in diesen Fällen stärker als vor /l/.645 ͳͲͲΨ ͻͲΨ ͺͲΨ ͲΨ ͲΨ ͷͲΨ
ͶͲΨ
͵ͲΨ ʹͲΨ ͳͲΨ ͲΨ
bl-
br-
dr-
gl-
gr-
Abb. 8-4: Kontextuelle Verteilung Fortisierung
645 Mithilfe der Sonoritätshierarchie kann allerdings nicht geklärt werden, warum die Fortisierung den velaren Plosiv häufiger betrifft als den alveolaren oder bilabialen, da diese dieselbe Sonorität aufweisen (vgl. u. a. VENNEMANN 1988, 9). Dies muss in weiteren Studien (v. a. Experimenten) geklärt werden.
8.4 Regionalsprachliche Merkmale
369
Die phonologische Optimierung kann als Erklärung des Prozesses dienen – daneben scheint es noch zusätzlich das Muster der Hyperkorrektur zu geben. Offen bleiben muss aber die Frage, warum der standarddivergente Prozess der „neuen“ Fortisierung einsetzt und warum er zu einem bestimmten Zeitpunkt einsetzt. Die Entwicklung als solche und die Ausbreitung kann jedoch erhellt werden. Die Ausbreitung im Regionalakzent kann nicht analog zur Remanenz anderer regionaler Merkmale erklärt werden. Es handelt sich um eine standarddifferente Variante, die vor allem von den jungen, vergleichsweise sehr standardkompetenten Sprechern verwendet wird. Außerdem scheint die Kontrolle über die Schrift nicht sehr schwer. Neben der phonologischen Optimierung scheint hier aber die Tatsache von Bedeutung zu sein, dass die Opposition der Varianten in der Standardsprache nicht stark besetzt ist (vgl. Greis – Kreis, klauben – glauben). 8.4.6 Zusammenfassung Die s-Sonorisierung hat sich ausgehend vom Regiolekt vertikal wie horizontal – über den gesamten Sprachraum – ausgebreitet. Der intergenerationelle Vergleich indiziert einen Abbau des Merkmals. Die Koronalisierung ist im Rheinfränkischen stabil und hat sich auf das südliche Zentralhessische ausgebreitet, wobei Interferenzen auch schon in Gießen zu beobachten sind. Sie wird, wie der intergenerationelle Vergleich zeigt, dort wieder abgebaut. Die Tiefschwa-Vorverlagerung ist ähnlich der Koronalisierung im Rheinfränkischen und in Frankfurt remanent und hat sich im Regiolekt des Zentralhessischen ausgebreitet. Im südlichen Zentralhessischen hat sie auch den Basisdialekt interferiert, erste Anzeichen dieses Prozesses sind rezent in Ulrichstein zu erkennen. Bei der Fortisierung sind zwei Verteilungsmuster festzuhalten. Neben den Sprechertypen I, II, III, die vereinzelt hyperkorrekte Fortisierungen produzieren, ist das Phänomen vor allem bei den Regionalakzent-Sprechern und Sprechern der jungen Generation als neu und progressiv zu beschreiben. Der intergenerationelle Vergleich zeigt eine deutliche Zunahme der Frequenzen. Nach dieser Betrachtung der Merkmale wird nun die Frage beantwortet, ob es sich bei der Sprechweise der Regionalakzent-Sprecher in der intendierten Standardsprache um einen standardadvergenten Regionalakzent oder einen möglichen Kolloquialstandard handelt. Dazu muss die sprachdynamische Definition der Standardsprache herangezogen werden: Sie ist definiert als „Vollvarietät, auf deren Literalisierungsnorm die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ihre Makrosynchronisierung ausrichten. Die – nationalen – Oralisierungsnormen dieser Vollvarietät sind durch Freiheit von (kommunikativ) salienten Regionalismen gekennzeichnet“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 62). Das heißt, es müssen die Kriterien der Vollvarietät (eigenständige Strukturen) und der Freiheit salienter Regionalismen erfüllt werden. Die Sprechweise der Regionalakzent-Sprecher ist vor allem durch hochfrequente Realisierungen der Fortisierung und Tiefschwa-Vorverlagerung mit geringer Variabilität geprägt. Wie gezeigt wurde, kann es sich bei der Fortisierung um eine phonologisch motivierte Verteilung der standarddifferenten Varianten
370
8 Zusammenführung
handeln, was ein Argument für eigenständige phonologische Strukturen und einen systemischen Unterschied zur Standardvarietät ist. Bei singulärem Auftreten ist dies nicht ausreichend für die Varietätenbestimmung. Eindeutig ist jedoch, dass es sich bei den beiden Merkmalen um kommunikativ saliente Regionalismen handelt. KIESEWALTER (2011, 360) kann nachweisen, dass die Fortisierung als – wenn auch leichte – Standardabweichung beurteilt wird und die TiefschwaVorverlagerung sogar „vergleichsweise hohe Salienzgrad[e]“ (KIESEWALTER 2011, 360) erzielt und in der Fremdwahrnehmung als noch dialektaler eingestuft wird. Gleiches gilt unter anderem für die Koronalisierung (vgl. KIESEWALTER 2011, 360), sodass für die gesamten Analysen anhand der Salienzgrade und der Definition der Standardsprache die Varietätengrenze zu dieser zusätzlich bestätigt werden kann.646 Für die Einordnung der Sprechweise der RegionalakzentSprecher bedeutet dies, dass sie nicht dem Kolloquialstandard zugeordnet werden kann. Hier zeichnet sich eine weitere, raumunabhängige Entwicklung im Regionalakzent ab. 8.5 GESAMTERGEBNISSE Auf Grundlage der Zusammenführung kann für die untersuchten Orte die Frage beantwortet werden, wie dort heute gesprochen wird – sowohl hinsichtlich der Struktur (d. h. regionalsprachliches Spektrum) als auch hinsichtlich der tatsächlichen Sprachverwendung. Die Ergebnisse können nun mit den Annahmen zu Sprachvariation und Sprachwandel (vgl. Tab. 3-5) in Bezug gesetzt werden. Für das Rheinfränkische deuten die bisherigen Untersuchungen ein regionalsprachliches Kontinuum an. Dieses kann für die beiden Untersuchungsorte (Erbach und Reinheim) durch die vorliegende Untersuchung erstmals empirisch nachgewiesen werden. Für Frankfurt liegt ein Sonderfall vor, da hier bereits seit langem kein Dialekt mehr vorhanden ist. Es schließt sich der Struktur des regionalsprachlichen Kontinuums im Rheinfränkischen an, mit der Besonderheit, dass das Spektrum nur (noch) aus dem Regiolekt besteht. Für die beiden Orte im südlichen Zentralhessischen (Büdingen und Bad Nauheim) kann empirisch geklärt werden, zu welchem Ergebnis der durch südlichen Einfluss bedingte, oft beschriebene Sprachwandel geführt hat. Hier liegt als regionalsprachliches Spektrum aktuell ebenfalls ein regionalsprachliches Kontinuum vor, in dem sich Reste des zentralhessischen Basisdialekts noch nachweisen lassen. Für die Untersuchungsorte im nördlichen Zentralhessischen (Gießen und Ulrichstein) können die bisherigen Annahmen empirisch bestätigt werden – hier liegt ein regionalsprachliches Zwei-Varietäten-
646 Hohe Salienzgrade erzielt bspw. auch die wortmediale Lenisierung (vgl. KIESEWALTER 2011, 360), die in den Regionalakzenten (bzw. Standardkompetenzerhebungen) aller Sprecher nachgewiesen werden kann und daher eine zusätzliche Bestätigung der Varietätengrenze darstellt.
8.5 Gesamtergebnisse
371
Spektrum vor, in Gießen ist der Dialekt allerdings bereits fast vollständig abgebaut. Setzt man die Gesamtergebnisse der Untersuchungsorte miteinander in Bezug, sind die Ähnlichkeiten der rheinfränkischen Orte, Frankfurt eingeschlossen, und der Orte des südlichen Zentralhessischen klar erkennbar. Davon zu unterscheiden sind die beiden Orte des nördlichen Zentralhessischen, bei denen zudem eine Binnendifferenzierung vorgenommen werden kann. Im Süden des Sprachraums (d. h. südlich von Gießen und Ulrichstein) sind die Spektren als regionalsprachliche Kontinua zu beschreiben, bei denen sich die dialektalen Bereiche der Kontinua unterscheiden. In Frankfurt gibt es keinen dialektalen Bereich, in den rheinfränkischen Orten ist er Bestandteil des Kontinuums und in den südlichen zentralhessischen Orten ist er als Basisdialektrest zu definieren. Die Sprecher dieser Orte nähern sich hauptsächlich durch einen sukzessiven Ersatz regionaler Varianten durch standardkonforme Pendants (relativ wie absolut) der Standardsprache an. Rezent liegt der Schwerpunkt der alltäglichen Kommunikation in diesem Raum im Bereich des Regiolekts, obwohl zu erkennen ist, dass in den beiden rheinfränkischen Orten der Dialekt stärker verwendet wird als in den anderen Orten. Ebenso finden an den fünf Orten dieselben regionalsprachlichen Entwicklungen statt. Der Dialekt als Teil des Kontinuums wird abgebaut und für den Regiolekt – ebenfalls als Teil des Kontinuums – kann eine Standardadvergenz beobachtet werden. Die Dynamik der Prozesse unterscheidet sich jedoch. Sie ist in Erbach am geringsten; die Entwicklungen dort sind als tendenziell und sukzessive zu beschreiben. Im Norden des Sprachraums (d. h. nördlich von Bad Nauheim und Büdingen) liegt für Ulrichstein und Gießen ein Zwei-Varietäten-Spektrum bestehend aus Dialekt und Regiolekt, wobei für Gießen der Dialekt ein Relikt darstellt und die Entwicklung zum Ein-Varietäten-Spektrum sichtbar ist. Die Sprecher wechseln die Varietät (switchen), wenn sie sich der Standardsprache annähern (Ulrichstein) bzw. shiften im Regiolekt (Gießen). Wenn der Dialekt noch vorhanden ist, wie in Ulrichstein, ist er für die Kommunikation des Alltags gleichbedeutend mit dem Regiolekt. Unter Voraussetzung des (fast) vollzogenen Dialektabbaus in Gießen ist in beiden Orten eine Stabilität der sprachlichen Verhältnisse und somit eine sehr geringe sprachliche Dynamik festzuhalten. Auf dieser Grundlage können nun die weiteren Forschungsfragen (vgl. Kap. 4.1) aufgegriffen werden. Für die horizontale Dimension bzw. die Gesamtgliederung des untersuchten hessischen Sprachraums sind zwei moderne Regionalsprachen anzunehmen (vgl. zur Definition Kap. 2.2.2). Die moderne Regionalsprache im nördlichen Zentralhessischen (nördlich der Wetterau) setzt sich aus verschiedenen Varietätenverbänden mit einer gemeinsamen Oralisierungsnorm zusammen und kann als nordzentralhessische Regionalsprache bezeichnet werden. Die Oralisierungsnorm wurde als nördlicher Regionalakzent beschrieben (vgl. Kap. 8.1) und ist eindeutig von der Oralisierungsnorm des Südens zu unterscheiden (vgl. Kap. 8.1). Teilweise bestehen Unterschiede in den remanenten Merkmalen, insgesamt zeigen die Ergebnisse aber, dass eine gemeinsame Oralisierungsnorm besteht und von der südlichen abzu-
372
8 Zusammenführung
grenzen ist. Diese regionale Oralisierungsnorm ermöglicht wiederum die vertikale Abgrenzung zur Standardsprache und den Nachweis des Regiolekts als Vollvarietät (vgl. Kap. 8.1, 8.4). Als zweite Vollvarietät lässt sich der Dialekt bestimmen, der wie in Gießen teilweise schon fast vollständig abgebaut wurde bzw. wie in Ulrichstein äußerst stabil ist. 647 Die zweite moderne Regionalsprache des Raums ist im südlichen Zentralhessischen (Wetterau), im Übergangsgebiet und im Rheinfränkischen lokalisiert und kann deshalb als Rhein-Main-Regionalsprache bezeichnet werden. Sie setzt sich auch aus verschiedenen regionalsprachlichen Spektren und einer gemeinsamen Oralisierungsnorm zusammen – mit der Besonderheit, dass hier keine Varietätenverbände im herkömmlichen Sinne bestehen, sondern regionalsprachliche Kontinua mit dialektalem und regiolektalem (auch: standardfernerem und standardnäherem) Bereich, die im Sinne der Sprachdynamiktheorie die Definition der modernen Regionalsprache erweitern (vgl. Kap. 5.1.6). Die gemeinsame Oralisierungsnorm wurde als südlicher Regionalakzent beschrieben (vgl. Kap. 8.1) und kann sowohl eindeutig von der nördlichen Norm differenziert als auch von der Standardvarietät abgegrenzt werden (vgl. Kap. 8.1, 8.4). Die Analysen zeigen zudem, dass der regiolektale Bereich der Kontinua in diesem Raum – hinsichtlich der Qualität und Quantität der Merkmale als auch von den phonetischen Dialektalitätswerten – identisch ist, das heißt, dass ein gemeinsamer Regiolekt als Teil der Kontinua vorliegt. Er kann als Rhein-Main-Regiolekt bezeichnet werden. Ortsspezifisch sind die jeweiligen dialektalen Bereiche der Spektren. In Frankfurt ist dieser nicht (mehr) vorhanden, in den rheinfränkischen Orten liegt ein dialektaler Bereich vor, der kontinuierlich in den regiolektalen Bereich übergeht und in den südlichen zentralhessischen Orten kann ein Basisdialektrest beschrieben werden, der rezent auch kontinuierlich in den regiolektalen Bereich übergeht. Auf dieser Ebene der Spektren können die rheinfränkischen und zentralhessischen Orte unterschieden werden (vgl. auch Kap. 8.1), doch zeigen die Ergebnisse, dass die Unterschiede aktuell – sowohl quantitativ als auch qualitativ – sehr gering sind und durch den Abbau der basisdialektalen Merkmale weiter schwinden.648 Zusätzlich nimmt die kommunikative Nutzung des Dialekts stark ab, wie der intergene-
647 Auswertungen von Sprachaufnahmen des zentralhessischen Teils des Marburger Hinterlandes und erste Analysen zum REDE-Ort Biedenkopf bestätigen diese Stabilität und zeigen, dass die sprachlichen Verhältnisse in Gießen als größerer Stadt in diesem Raum eine Ausnahme – bzw. wie aufgezeigt eine weitere Entwicklung – darstellen. 648 Die beiden spezifisch rheinfränkischen Merkmale (vgl. mhd. ê und ô) sind bereits in ihrer Verwendung variabel und unterliegen einem Abbau (vgl. Kap. 5.1, 5.2), für die spezifisch zentralhessischen Merkmale (vgl. mhd. ô, uo und std. /ɐ/) trifft dies ebenfalls zu. Sie sind hauptsächlich als Relikte zu beschreiben und unterliegen einem vollständigen Abbau, wenn dieser nicht bereits vollzogen ist (vgl. Kap. 7.3, 7.4). Das bedeutet, dass auch die Dialektgrenzen in der Auflösung begriffen sind. Hinzu kommt, dass erste Anzeichen einer Ausbreitung rheinfränkischer Dialektmerkmale bei Sprechern in Büdingen zu beobachten sind, die keine Kompetenzen im zentralhessischen Basisdialekt(rest) haben (vgl. Fn. 573). Dies kann als weiterer südlicher Einfluss und insgesamt als Konvergenzprozess gewertet werden.
8.5 Gesamtergebnisse
373
rationelle Vergleich des Sprachverhaltens zeigt. Gemäß der Definition der modernen Regionalsprachen können die dialektalen Bereiche einer gemeinsamen Regionalsprache subsumiert werden (vgl. für das Ostmitteldeutsche ROCHOLL 2015). Im Rhein-Main-Gebiet liegt somit e i n e moderne Regionalsprache vor, die aus regionalsprachlichen Kontinua mit einem gemeinsamen regiolektalen Bereich – einschließlich einer gemeinsamen regionalen Oralisierungsnorm – und jeweils spezifischen dialektalen Bereichen besteht, die zunehmend konvergieren bzw. im Abbau begriffen sind (vgl. Abb. 8-5).649 In dem untersuchten Sprachraum kann aus diachroner Perspektive empirisch eine Verschiebung der Grenzen der Regionalsprachen nachgewiesen werden. Die Grenze zwischen den modernen Regionalsprachen verläuft rezent innerhalb des Zentralhessischen zwischen den Untersuchungsorten Büdingen/Bad Nauheim und Ulrichstein/Gießen.650 Den Beschreibungen der Regionalsprachen (vgl. Kap. 3) zur Folge verlief die Grenze zwischen den Regionalsprachen im Übergangsgebiet zwischen dem Rheinfränkischen und dem Zentralhessischen. Sie hat sich also nach Norden verschoben. Dies ist auf den Einfluss Frankfurts bzw. des RheinMain-Gebiets als (u. a.) wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Region zurückzuführen. Dieser Einfluss hat einen umfassenden sprachlichen Wandel im südlichen Zentralhessischen bewirkt, der sich in folgende Prozesse differenzieren lässt.651 Durch den Abbau spezifisch zentralhessischer Merkmale wird der Dialekt insgesamt abgebaut. Der Regiolekt – inbegriffen die regionale Oralisierungsnorm – unterliegt durch Interferenz südlicher Merkmale (bspw. Koronalisierung) einem Wandel, der sich als Advergenz zum südlichen Regiolekt beschreiben lässt. Zusätzlich unterliegen die regionalsprachlichen Merkmale, die mit der rheinfränkischen Regionalsprache bzw. dem Frankfurter Regiolekt gemein sind, einem Gebrauchswandel. Diese Prozesse führen zu einem regionalsprachlichen Kontinuum im südlichen Zentralhessischen (vgl. Kap. 7.3.4) sowie zu einem gemeinsamen Regiolekt und als Teil dessen einer gemeinsamen regionalen Oralisierungs-
649 Es ist zu diskutieren, ob eher von der En t wi c k l u n g zu e in er modernen Regionalsprache auszugehen ist. In Anbetracht der vorliegenden Ergebnisse scheint es jedoch berechtigt, bereits von ei n er modernen Regionalsprache auszugehen (vgl. auch ROCHOLL 2015, 286, 313) 650 Wie bereits angemerkt (vgl. Fn. 202) kann in dieser Arbeit keine genaue Grenzziehung erfolgen. Die Räume der beiden Regionalsprachen können identifiziert und differenziert werden und somit auch eine Grenze zwischen ihnen. Wo genau die Grenze verläuft, müssen genuin diatopisch angelegt Studien zeigen. Dass sie besteht und dass sie innerhalb des ehemals zentralhessischen Dialektgebiets liegt, ist mit der vorliegenden Studie empirisch nachgewiesen worden. Zur Bewertungsgrenze innerhalb des Zentralhessischen, die ähnlich zu verlaufen scheint, vgl. Kap. 3.5.2, PURSCHKE (2008, 198). Objektlinguistische und subjektive Daten führen zu demselben Ergebnis und können zur gegenseitigen Validierung dienen. 651 Vgl. für eine konkrete Illustrierung dieses Einflusses – bezogen auf das im Mittelpunkt stehende individuelle Sprachverhalten – anhand der Sprachdynamiktheorie Kap. 7.3.4.
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8 Zusammenführung
norm.652 Durch den erheblichen sprachlichen Einfluss verschiebt sich die Grenze nach Norden und löst diesen Raum aus den alten Strukturgrenzen. Es kann von einer R h e i n - M a i n i s i e r u n g des südlichen Zentralhessischen gesprochen werden.653 Die beschriebenen regionalsprachlichen Entwicklungen (vgl. Kap. 3.4, u. a. MAURER 1929, DEBUS 1963) setzen sich also weiter fort und führen rezent zu dem Ergebnis einer Regionalsprache des Rhein-Main-Gebiets (vom Odenwald bis in die Wetterau).654 Dabei handelt es sich aber nicht um eine monodimensionale Ausbreitung des rheinfränkischen bzw. Frankfurter Regiolekts (vgl. bspw. BRINKMANN TO BROXTEN 1987, 12), sondern um einen komplexen Gesamtprozess (vgl. Kap. 7.3.4), der sich als Advergenzprozess der Regionalsprache im südlichen Zentralhessischen zur südlichen Regionalsprache zusammenfassen lässt (vgl. auch Abb. 8-6). Im Sinne dieser Zweiteilung lässt sich übergreifend betrachtet ein Nord-SüdGegensatz festhalten (vgl. bspw. DINGELDEIN 1997, 131). Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass die sprachlichen Verhältnisse im Raum differenzierter sind. Innerhalb der nordzentralhessischen Regionalsprache wird ein Stadt-Land-Gegensatz im Vergleich der Untersuchungsorte Ulrichstein und Gießen deutlich (in Gießen ist der Dialekt bereits fast vollständig abgebaut und der Regiolekt entwickelt sich unabhängig weiter). Außerdem scheint die Lage innerhalb des Rhein-MainGebiets bzw. die Entfernung vom Zentrum einen Einfluss auf die sprachlichen Verhältnisse zu haben. An Orten in peripherer Lage innerhalb der Rhein-MainRegionalsprache – hier: Erbach – ist der Dialekt am stabilsten, im Zentrum des Rhein-Main-Gebiets hingegen ist die Dynamik der regionalsprachlichen Entwicklungen am höchsten. Dies bedeutet auch, dass die allgemeinen Beschreibungen der Sprachverwendung im untersuchten Sprachraum (vgl. bspw. DINGELDEIN 1997, FRIEBERTSHÄUSER 1987) übergreifend zutreffen, dass aber bei genauerer (empirischer) Analyse differenzierte Ergebnisse erzielt werden können. So kann als ein Ergebnis hier festgehalten werden, dass der Dialekt sowohl in eher peripher gelegenen Gebieten der nordzentralhessischen Regionalsprache als auch der Rhein-Main-Regionalsprache jeweils in Struktur und Verwendung relativ stabil ist.
652 Einflussfaktoren dieser Prozesse sind im Prestige der Merkmale der südlichen Regionalsprache und der Optimierung der überregionalen Kommunikation (vgl. WIESINGER 1983a, 849) in Kombination mit gleichzeitig bewahrter regionaler Markierung (vgl. Kap. 7.3.4) zu sehen. 653 Vgl. zu einem ähnlichen Prozess ELMENTALER (2005), der die Genese eines rheinischen Regiolekts unter Einfluss der Stadt Köln und mit der Verschiebung alter Strukturgrenzen schriftsprachlich nachweist. 654 Aus sprachhistorischer Sicht kann von einer weiteren Stufe der Verhochdeutschung ausgegangen werden (vgl. Fn. 55).
8.5 Gesamtergebnisse
375
Abb. 8-5: Schematische Darstellung der Regionalsprachen655
Die Auswertungen der rezenten Daten geben des Weiteren Hinweise darauf, dass die regionalsprachlichen Entwicklungen im Sprachraum weiter fortschreiten. Für Merkmale der Rhein-Main-Regionalsprache (Koronalisierung und TiefschwaVorverlagerung) kann nachgewiesen werden, dass sie auch den Regiolekt im nördlichen Zentralhessischen interferieren. Bei der Koronalisierung gilt dies nur für Gießen. Hier ist im Sprachverhalten des jungen Sprechers zu erkennen, dass die Interferenzen bereits wieder abgebaut werden. Die vorverlagerten TiefschwaVarianten scheinen sich im gesamten Sprachraum auszubreiten, sind schon Bestandteil des nordzentralhessischen Regiolekts und interferieren bereits die Dialekte dieses Raums. Der Prozess verläuft analog zur Ausbreitung der Koronalisie-
655 Legende: BDR = Basisdialektrest, DB = Dialektbereich, D = Dialekt. Die Abbildung stellt die nordzentralhessische Regionalsprache anhand der Orte VB und GI und die Rhein-MainRegionalsprache anhand der Orte BÜD, DA und F schematisiert dar. Da der Grenzverlauf nicht genau bestimmt werden kann, wurden die beiden Räume der Regionalsprachen grob voneinander abgegrenzt. Insgesamt ist diese räumliche Darstellung nur als Annäherung zu verstehen.
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8 Zusammenführung
rung im südlichen Zentralhessischen (vgl. Kap. 7.3.4, 8.4.4). Die Auswertung der Dialektkompetenzerhebungen zweier – nicht-dialektkompetenter – Sprecher in Gießen kann zudem einen weiteren Einfluss des Rhein-Main-Regiolekts auf das dortige Sprachverhalten zeigen. Die Sprecher realisieren hauptsächlich und verstärkt Merkmale, die diesem Regiolekt entsprechen, jedoch keine bzw. kaum spezifisch zentralhessische Varianten. Der Rhein-Main-Regiolekt scheint hier somit auch die Konzeptualisierung von Dialekt zu beeinflussen (vgl. Kap. 7.2.2). Eine weitere Entwicklung ist im Regionalakzent vor allem bei den Sprechern der jungen Generation zu beobachten. Raumunabhängig, das heißt die beiden Regionalsprachen übergreifend, erweitern diese Sprecher ihre Standardkompetenz und bauen gleichzeitig neue standarddifferente Merkmale auf (vgl. Fortisierung, Kap. 8.5). Dies kann als ein raumübergreifender Konvergenzprozess zusammengefasst werden. Auf Grundlage der Gesamtergebnisse kann nun auch das Konzept des Neuhessischen erhellt werden. Eine Annahme der bisherigen Untersuchungen zum hier fokussierten Sprachraum ist die Ausbildung einer „neue[n] regionalsprachliche[n] Variante“ (DINGELDEIN 1997, 131), die teilweise als Neuhessisch (vgl. SCHIRMUNSKI 1962/2010, HARD 1966, DINGELDEIN 1994) bezeichnet wird. DINGELDEIN (1994, 276–277) führt aus, dass sich aus rheinfränkischem Substrat und standardsprachlichem Superstrat eine neue Varietät mit eigenständigen Strukturen entwickelt hat, die die alten Dialekte verdrängt und als der hessische Dialekt konzeptualisiert wird (vgl. auch Kap. 3.4). Die Beschreibungen sind zum Teil sehr vage und basieren – wenn überhaupt – auf eingeschränkten empirischen Daten. DINGELDEIN selbst (1994, 304, vgl. auch Fn. 198) verweist auf den dringenden Bedarf einer empirisch-analytischen Klärung. Diese liegt nun vor, sodass die Frage beantwortet werden kann, was mit dem Konzept des Neuhessischen assoziiert und wie dies auf Grundlage der empirischen Untersuchung beschrieben werden kann. Bei dem, was bisher teilweise als Neuhessisch benannt wurde, handelt es sich um den Rhein-Main-Regiolekt (m. a. W. um den gemeinsamen regiolektalen Bereich der jeweiligen regionalsprachlichen Kontinua).656 Die genaue Verbreitung des Regiolekts kann nicht bestimmt werden. Empirisch nachzuweisen ist er in den fünf Erhebungsorten Erbach, Reinheim, Frankfurt, Bad Nauheim und Büdingen – also bis in den Odenwald und die Wetterau. Zur Verwendung des Regiolekts kann festgehalten werden, dass der Großteil der alltäglichen Kommunikation der Sprecher dieses Raums im regiolektalen Bereich stattfindet. Im Süden des Sprachraums ist hingegen der Dialekt rezent – auch in der Verwendung – noch relativ stabil, das heißt die oft beschriebene Verdrängung der Dialekte (vgl. bspw. HARD
656 Es ist in der folgenden Gesamtbetrachtung vom Regiolekt der Regionalsprache/Rhein-MainRegiolekt die Rede. Er kann wie in Frankfurt die einzige Varietät der Regionalsprache darstellen oder wie in den anderen Orten als Teil des Kontinuums kontinuierlich in den dialektalen Bereich übergehen. Dies ist für die Analyse des regionalsprachlichen Spektrums bzw. der Regionalsprache insgesamt von Bedeutung, nicht aber für die Gesamtbetrachtung des Regiolekts.
8.5 Gesamtergebnisse
377
1966, 27) bezieht sich zwar auf das Gebiet des südlichen Zentralhessischen, aber nur partiell auf das Gebiet des Rheinfränkischen.657 Die Entwicklung kann wie folgt zusammengefasst werden: es handelt sich um die Ausbildung eines regiolektalen Bereichs als Teil der regionalsprachlichen Kontinua im Rheinfränkischen und im Übergangsgebiet sowie um eine Advergenz des Regiolekts im südlichen Zentralhessischen. Dies führt zum rezenten Ergebnis – dem regiolektalen Bereich der moderneren Rhein-Main-Regionalsprache. Der Prozess der Herausbildung von Regiolekten ist im gesamten deutschen Sprachraum zu beobachten (vgl. KEHREIN 2012), je nach Dialektverband und dem strukturellen Verhältnis der Basisdialekte zur Standardsprache führt dieser Prozess zu unterschiedlichen regionalsprachlichen Spektren. Die Besonderheit im untersuchten Sprachraum besteht in der Entstehung regionalsprachlicher Kontinua und den Sprachwandelprozessen, die als Rhein-Mainisierung des südlichen Zentralhessischen beschrieben wurden. Basierend auf diesen Erkenntnissen ist die Bezeichnung Neuhessisch eher zu vermeiden. Es handelt sich bei der Herausbildung des Regiolekts um allgemeine regionalsprachliche Prozesse, deren Ergebnisse zwar regional differieren, aber in anderen Gebieten nicht als neu attribuiert werden. Mit dem Begriff sind zudem viele Implikationen verbunden und die vorliegende Untersuchung kann zeigen, dass die sprachlichen Verhältnisse in diesem Raum sowohl aus diachroner als auch aus synchroner Perspektive differenzierter sind als teilweise angenommen. Aus diesen Gründen scheint es angemessener, vom Rhein-Main-Regiolekt – als Teil der regionalsprachlichen Kontinua – zu sprechen.658 Das individuelle Sprachverhalten steht im Mittelpunkt der Analysen. Mit der Darstellung der Einflüsse auf dieses und der sich daraus ergebenden Zusammenhänge kann ein Beitrag zur Erhellung der Gesamtergebnisse erbracht werden. Das individuelle Sprachverhalten wird beeinflusst von der sprachlichen Primärsozialisation durch die Vorgängergeneration (meist die Eltern) und die kommunikativen Anforderungen im Berufs- wie Privatleben (vgl. dazu Kap. 8.2 und KEHREIN 2012, 355–361). Das individuelle Sprachverhalten steht zudem in einem interdependenten Verhältnis zum regionalsprachlichen Spektrum (vgl. Kap. 8.2). Die Struktur des regionalsprachlichen Spektrums eines Ortes ergibt sich aus der Gesamtheit des Sprachverhaltens der untersuchten Individuen des Ortes (vgl. Kap. 5.1). Das regionalsprachliche Spektrum wiederum bildet quasi den Rahmen für das individuelle Sprachverhalten. Hier ist der bereits beschriebene Einflussfaktor des Verhältnisses der Basisdialekte zur Standardsprache enthalten (vgl. Kap. 8.2). Je nach Struktur des Dialekts (d. h. Verhältnis der Typ1a- zu den Typ1b- und Typ2Varianten) bauen beispielsweise die Sprecher, die im Dialekt/dialektalen Bereich primärsozialisiert wurden, ihr individuelles Spektrum unterschiedlich aus, was wiederum zu einer anderen Struktur des regionalsprachlichen Spektrums führt 657 Ein Grund dafür ist in der Struktur der Dialekte zu sehen (vgl. Kap. 8.2). Am Beispiel Frankfurts zeigt sich, dass tw. spezifische Entwicklungen vorliegen. Hier ist bereits vor der Genese der modernen Regionalsprache kein Dialekt mehr vorhanden. 658 Eine zusammenfassende Übersicht der Merkmale des Regiolekts ist in Tab. A.4 aufgeführt.
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8 Zusammenführung
(bspw. Kontinuum vs. Zwei-Varietäten-Spektrum). Änderungen des individuellen Sprachverhaltens (bspw. Aufbau neuer regionalsprachlicher Merkmale, Variabilisierung und Abbau dialektaler Merkmale) resultieren in regionalsprachlichen Entwicklungen bzw. beeinflussen in ihrer Gesamtheit diese Entwicklungen. Die Entwicklungen wiederum nehmen Einfluss auf das regionalsprachliche Spektrum – wie im Fall des südlichen Zentralhessischen gezeigt wurde – und dies hat wiederum Einfluss auf das individuelle Sprachverhalten. Die vorliegende Untersuchung innerhalb eines spezifischen Sprachraums kann zudem diatopische Unterschiede aufzeigen (s. o.). Das bedeutet, dass die Topologie – verstanden als die Verhältnisse im Raum – als zusätzlicher Einflussfaktor auf das individuelle Sprachverhalten und somit auf das Spektrum und die Entwicklungen bestimmt werden kann (vgl. dazu auch bspw. ROCHOLL 2015, 199–227). Als spezifisch topologischer Einflussfaktor innerhalb des untersuchten Gebiets kann die Lage innerhalb des Rhein-Main-Gebiets ermittelt werden. Die im Zentrum des Rhein-Main-Gebiets gelegenen Orte Büdingen und Bad Nauheim stehen unter direktem sprachlichen Einfluss Frankfurts und des Zentrums des Rhein-Main-Gebiets, der sich in den weiter entfernt gelegenen Orten Ulrichstein und Gießen nicht bzw. nur geringfügig nachweisen lässt. Der Odenwald, hier Erbach, ist auch weiter vom Zentrum des Rhein-Main-Gebiets entfernt. Dies scheint insofern einen Einfluss zu haben, als hier die beschriebenen regionalsprachlichen Prozesse im Vergleich beispielsweise zu Reinheim sukzessive verlaufen und die sprachliche Dynamik eher gering ist. Sie ist im Zentrum des Rhein-Main-Gebiets am stärksten ausgeprägt.659 Die Entwicklung in Frankfurt verweist auf StadtLand-Unterschiede, die auch im Vergleich zwischen Gießen und Ulrichstein deutlich werden. Dieser Einfluss der Topologie wird als übergreifend bezeichnet, da er mittelbar durch das Sprachverhalten anderer Individuen wirkt. Konkret kann dies am Beispiel der Büdinger Sprecher gezeigt werden (vgl. Kap. 7.3.4). Diese übernehmen das Merkmal der Koronalisierung in ihren Regiolekt, da sie direkt mit den Frankfurter Sprechern in Kontakt kommen, die dieses Merkmal in ihrem Regiolekt verwenden.660 Durch wiederholte sprachliche Interaktionen zwischen den Frankfurter und Büdinger Sprechern kommt es bei den Büdinger Sprechern zu einer Folge gleichgerichteter Synchronisierungsakte (Übernahme der Koronalisierung). Durch diese Mesosynchronisierungen etabliert sich die Koronalisierung im Regiolekt Büdingens.661 659 Die regionalsprachlichen Merkmale, die sich über Frankfurt nach Norden ausgebreitet haben, werden somit rezent in Frankfurt selbst abgebaut. 660 Weitere Faktoren, wie Prestige, sind in diesem konkreten Fall von Bedeutung (vgl. Kap. 7.3.5, 8.4.4). 661 Der Einflussfaktor Topologie kann hier als solcher bestätigt werden, zur weiteren Klärung bedarf es jedoch zusätzlicher Untersuchungen (vgl. Fn. 202). Die Darstellung der Einflussfaktoren und der Zusammenhänge kann für die Beantwortung der Frage, wi e die Gesamtergebnisse dieser Arbeit (Karte 8-2) zustande kommen, herangezogen werden. Tw. wurden zudem Aspekte möglicher Ursachen für die Prozesse vor dem Hintergrund der Sprachdynamiktheorie erörtert.
9 FAZIT Die besondere Rolle des hessischen Sprachraums innerhalb der Gesamtsprache Deutsch wurde vielfach thematisiert. Auf dialektaler Ebene liegt ein differenziertes und komplexes Gebiet vor. Diese Vielfalt der Basisdialekte kontrastiert mit einer wahrgenommenen Homogenität. Hinzu kommen seit über 150 Jahren Beobachtungen regionalsprachlicher Entwicklungen und vertikaler Sprachvariation – vor allem im Rhein-Main-Gebiet. Trotz dieser Ausgangslage liegt noch keine systematische und vergleichende Erforschung des hessischen Sprachraums mit den Methoden der modernen Regionalsprachenforschung vor, die sich mit dem gesamten Bereich regionaler Sprachvariation und der regionalsprachlichen Dynamik beschäftigt. Die Erforschung der modernen Regionalsprachen im hessischen Sprachraum – vor allem im Rhein-Main-Gebiet – stellt somit ein Forschungsdesiderat dar (vgl. DINGELDEIN 1994, 277, 305). Dieses Desiderat zu füllen, war das Ziel der vorliegenden Arbeit. Grundlage der Ergebnisse ist eine empirische Untersuchung mit den Erhebungs- und Auswertungsmethoden der modernen Regionalsprachenforschung, die sich dem aktuellen Forschungsprojekt Regionalsprache.de (REDE) und der Sprachdynamiktheorie anschließt. An sieben Orten in den Dialektverbänden – nach traditioneller Einteilung – Rheinfränkisch (Reinheim, Erbach), Zentralhessisch (Ulrichstein, Gießen, Büdingen, Bad Nauheim) und dem Übergangsgebiet zwischen beiden (Frankfurt) wurden mit Sprechern aus drei Generationen (ältere, mittlere und jüngere Generation) Sprachaufnahmen aufgezeichnet. Die Aufnahmen umfassen sowohl Kompetenzerhebungen (intendierter Dialekt, intendierte Standardsprache) als auch Performanzerhebungen in Situationen verschiedener Formalitätsgrade. Die Auswertung der Daten erfolgte durch eine umfassende Methodenkombination. In den beiden rheinfränkischen Orten Reinheim und Erbach kann als Spektrumstyp ein regionalsprachliches Kontinuum ohne regionalsprachliche Varietätengrenze bestimmt werden, in dem der Dialekt verbunden durch einen Übergangsraum kontinuierlich in den Regiolekt übergeht. Im Kontinuum nähern sich die Sprecher hauptsächlich über einen sukzessiven Ersatz der regionalen Varianten durch standardentsprechende Formen der Standardsprache an. Als Sprechertyp kann in beiden Orten der Shifter ermittelt werden, der im kommunikativen Alltag je nach Situation – innerhalb des Kontinuums – zwischen standardferneren und standardnäheren Sprechweisen wechselt (shiften). Hierbei kann der Dialekt als Teil des Kontinuums relevant sein (Dialekt-Shifter). In Reinheim kann zudem der Sprechertyp Moveless bestimmt werden, der sich durch eine regionale Sprechweise ohne intersituative Variation auszeichnet. Der dialektale und der regiolektale Bereich sind in Erbach für die alltägliche Kommunikation gleichbedeutend, in Reinheim hat sich der Schwerpunkt der Kommunikation bereits in den regiolekta-
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len Bereich verlagert. Der intergenerationelle Vergleich an beiden Orten führt zum Ergebnis eines sukzessiven Abbaus des Dialekts und einer Standardadvergenz des Regiolekts. Als Teil der letzten Entwicklung ist ein weiterer Ausbau der Standardkompetenz bei den Sprechern der jungen Generation festzuhalten. In Reinheim wird der Dialekt in der jungen Generation vollständig abgebaut, zudem lässt sich dort ein Umbruch innerhalb der Standardadvergenz des Regiolekts zur jungen Generation feststellen. In Frankfurt kann aufgrund früher regionalsprachlicher Entwicklungen rezent nur ein Ein-Varietäten-Spektrum bestehend aus dem Regiolekt ermittelt werden. Die Annäherung an die Standardsprache durch die Sprecher erfolgt – entsprechend der Bestimmung als Varietät – innerhalb des Regiolekts sukzessive (shiften). In der alltäglichen Kommunikation wird der gesamte Bereich des Regiolekts genutzt. Es können zwei Sprechertypen in Frankfurt identifiziert werden: Shifter (s. o.) und der Regionalakzent-Sprecher. Der Regionalakzent-Sprecher – als Untertyp des Typs Moveless – zeichnet sich dadurch aus, dass er ohne intersituative Variation im Alltag ausschließlich den Regionalakzent verwendet. Als regionalsprachliche Entwicklung kann in Frankfurt eine Standardadvergenz des Regiolekts mit einem Umbruch innerhalb der mittleren Generation sowie als Teil dessen ein weiterer Ausbau der Standardkompetenz bei den Regionalakzent-Sprechern beobachtet werden. In Ulrichstein kann ein regionalsprachliches Zwei-Varietäten-Spektrum bestehend aus den diskreten Varietäten Dialekt und Regiolekt nachgewiesen werden. In diesem nähern sich die Sprecher vorwiegend über einen systematischen und kombinierten vollständigen Ersatz dialektaler Varianten durch standardentsprechende Formen der Standardsprache an (switchen). In dem Untersuchungsort lässt sich nur ein Sprechertyp – der Switcher – identifizieren. Dieser entspricht einem bivarietären Sprecher, der intersituativ die Varietät wechselt. Für die Kommunikation im Alltag haben beide Varietäten dieselbe Bedeutung. Die Bestimmung nur eines Sprechertyps deutet bereits an, dass in Ulrichstein kaum regionalsprachliche Entwicklungen zu beobachten sind. Es ist eine Stabilität des Dialekts und lediglich eine tendenzielle Standardadvergenz des Regiolekts festzustellen. In Gießen kann ebenso ein Zwei-Varietäten-Spektrum bestimmt werden. Beim Dialekt handelt es sich jedoch um ein Relikt, sodass sich rezent die Entwicklung zu einem regionalsprachlichen Ein-Varietäten-Spektrum, das nur aus der Varietät Regiolekt besteht, deutlich abzeichnet. Gemäß der Bestimmung als Varietät nähern sich die Sprecher innerhalb des Regiolekts hauptsächlich über eine Variabilisierung der Verwendung regionaler Merkmale der Standardsprache an (shiften). Der Regiolekt ist bestimmend für die alltägliche Kommunikation in Gießen. Die Sprechertypen Moveless (s. o.) und Regionalakzent-Sprecher (s. o.) können bestimmt werden. Zur regionalsprachlichen Dynamik in Gießen lassen sich ein (fast) vollzogener Dialektabbau und eine tendenzielle Standardadvergenz des Regiolekts mit einem weiteren Ausbau der Standardkompetenz beim Sprecher der jungen Generation festhalten. In den beiden Orten Büdingen und Bad Nauheim lässt sich als Spektrumstyp ein regionalsprachliches Kontinuum mit Basisdialektrest ermitteln. Durch südli-
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chen Einfluss ist ein Kontinuum nach rheinfränkischem Muster entstanden, in dem der alte Basisdialekt als Rest und die ehemalige Varietätengrenze noch erkennbar sind. Der basisdialektale Rest geht rezent kontinuierlich in den regiolektalen Bereich über. Die Sprecher nähern sich in diesen Orten somit auch hauptsächlich durch einen sukzessiven Ersatz regionaler durch standardsprachliche Varianten der Standardvarietät an (shiften). Der Basisdialektrest wird nicht mehr verwendet, sodass der Regiolekt die Alltagskommunikation bestimmt. In Büdingen kann der diglossische Sprecher bestimmt werden. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er durchweg eine sehr standardferne Sprechweise verwendet und erst im Abruf seiner Standardkompetenz sprachlich variiert. Die Besonderheit hier besteht darin, dass er sich dabei in einem regionalsprachlichen Kontinuum bewegt. Hinzu kommen in Büdingen der Shifter, der Moveless und der RegionalakzentSprecher. In Bad Nauheim lassen sich der diglossische Sprecher, der Moveless und der Regionalakzent-Sprecher nachweisen. Ein intergenerationeller Vergleich der Sprecher in beiden Orten zeigt folgende Entwicklungen: der Basisdialektrest wird sukzessive und zur jungen Generation vollständig abgebaut. Außerdem ist eine Standardadvergenz des Regiolekts zu beobachten. Diese verläuft in Büdingen mit einem Umbruch zur jungen Generation. In Bad Nauheim ist der Umbruch innerhalb der mittleren Generation zu erkennen. Als Teil dieser Entwicklung bauen die Regionalakzent-Sprecher ihre Standardkompetenz weiter aus. Die Analysen liefern für die jeweiligen Orte und den hier behandelten Sprachraum erstmals empirisch fundierte, systematische und vergleichbare Ergebnisse zur Sprachvariation (Struktur und Verwendung) und zum Sprachwandel – also zu den modernen Regionalsprachen. Das Forschungsdesiderat kann damit als gefüllt betrachtet werden. Darüber hinaus kann die Arbeit den Spektrumstyp des regionalsprachlichen Kontinuums empirisch nachweisen und theoretisch herleiten. Mit diesem Spektrumstyp wird zudem die Definition der modernen Regionalsprache der Sprachdynamiktheorie insofern sinnvoll erweitert, als eine moderne Regionalsprache nicht nur aus einem Gefüge diskreter Varietäten bestehen kann, sondern auch aus einem Kontinuum. Des Weiteren wird mit den Ergebnissen zu Büdingen und Bad Nauheim erstmalig ein empirischer Nachweis erbracht, zu welchem Ergebnis die beobachteten regionalsprachlichen Entwicklungen im Rhein-MainGebiet geführt haben. Diese Erkenntnisse können auf ähnliche Gebiete und Prozesse des deutschen Sprachraums bezogen werden, sodass mit ihnen ein übergreifender Erkenntnisgewinn verbunden ist. Die Analyse von ausgewählten – zum Teil als neu zu konzeptualisierenden – regionalsprachlichen Merkmalen zeigt, wie sich diese im Sprachraum ausbreiten. Die s-Sonorisierung kann aufgrund der rezenten Verteilung der regionalen Varianten bereits als dialektales Merkmal im gesamten untersuchten Raum gelten. Die Koronalisierung breitet sich horizontal und vertikal ausgehend vom Rheinfränkischen nach Norden aus – erste Interferenzen sind in Gießen zu ermitteln. Eine ähnliche Entwicklung zeigt die Tiefschwa-Vorverlagerung, doch ist sie bereits Bestandteil der Regiolekte im gesamten Sprachraum und interferiert bereits den Dialekt im nördlichen Zentralhessischen. In der Verteilung der regionalen Varianten der Fortisierung ist ein deutliches Muster zu erkennen: die hochfrequente und
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9 Fazit
nahezu invariante Verwendung des Merkmals vor allem bei den Sprechern der jungen Generation. Als Gründe der Progressivität der Merkmale können unter anderem phonologische Optimierungen bestimmt werden. Die Remanenz der Merkmale lässt sich durch eine Typisierung der Varianten nach KEHREIN (2012; 2015) erklären. Die Zusammenführung der Ergebnisse zeigt, dass im untersuchten Sprachraum zwei moderne Regionalsprachen existieren. Die nordzentralhessische Regionalsprache kann in Gießen und Ulrichstein nachgewiesen werden. Sie zeichnet sich durch Varietätengefüge aus Dialekt und Regiolekt und einer gemeinsamen Oralisierungsnorm – dem nördlichen Regionalakzent – aus. In der Stadt Gießen sind regionalsprachliche Entwicklungen weiter fortgeschritten, sodass sich innerhalb der Regionalsprache Unterschiede erkennen lassen. Der empirische Nachweis der Rhein-Main-Regionalsprache kann für Reinheim, Erbach, Frankfurt, Bad Nauheim und Büdingen erbracht werden. Diese Regionalsprache besteht aus regionalsprachlichen Kontinua mit einem gemeinsamen regiolektalen Bereich bzw. Regiolekt – als Teil dessen eine gemeinsame Oralisierungsnorm (südlicher Regionalakzent) – und den spezifischen dialektalen Bereichen (Dialekt, Basisdialektrest). Innerhalb dieser Regionalsprache ist ein deutlicher Bedeutungszuwachs des Regiolekts für die alltägliche Kommunikation festzustellen. Die regionalsprachlichen Entwicklungen im Rhein-Main-Gebiet haben zu einer Rhein-Mainisierung des südlichen Zentralhessischen geführt. Dadurch haben sie die alten sprachlichen Strukturgrenzen aufgebrochen und zu einer rezenten Neugliederung des Sprachraums geführt. Neben dieser Differenzierung zweier moderner Regionalsprachen können weitere diatopische Unterschiede bestimmt werden. Es zeigt sich, dass in den beiden Orten mit peripherer Lage im Sprachraum (d. s. Ulrichstein und Erbach) der jeweilige Dialekt relativ stabil ist und auch im Alltag kommunikativ gleichbedeutend mit dem Regiolekt ist. Auf Grundlage dieser Ergebnisse kann die Arbeit auch eine empirisch fundierte Analyse und Klärung dessen erbringen, was oft als Neuhessisch bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um den Rhein-Main-Regiolekt. Bei vielen Sprechern der jungen Generation – partiell auch bei Sprechern der mittleren Generation – kann zudem eine weitere regionalsprachliche Entwicklung festgehalten werden. Für diese Sprecher übernimmt der Regiolekt die Funktion des Dialekts, wie die Analyse der Dialektkompetenzerhebungen dieser Sprecher nachweist. In ihrer Alltagskommunikation verwenden sie ausschließlich den Regionalakzent und bauen vor allem ihre Standardkompetenz weiter aus. Innerhalb dieser Standardadvergenz ist jedoch auch ein standarddivergenter Prozess zu beobachten: die Ausbreitung der Fortisierung. Zusammen mit den remanenten Regionalismen bedeutet dies, dass rezent auch bei diesen Sprechern eine regionsspezifische Markierung des Sprachverhaltens erhalten bleibt. Um auf WOLF SCHMIDT zurückzukommen: es mag heute zwar keine paar Hundert hessischen Dialekte mehr geben, aber als Hesse – dieses Sprachraums – wird man auch in Zukunft noch erkannt werden.
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Realisierung von mhd. â, a als [ɑː, ɔː, ɑ, ɔ]
Realisierung von mhd. ê als [Ųۅʏ]
tw. Vokalkürze
Realisierung von mhd. ei als [a̠ː]
Realisierung von mhd. ü, üe als [ɪ, iː]
Realisierung von mhd. ou als [a̠ː]
Realisierung von mhd. ö, œ als [ɛ, eː]
Nasalierung Konsonantismus & Nebensilben Realisierung von nicht als [nɛt]
unverschobene Formen für westgerm. p
t/d-Assimilation
r-Ausfall ohne Ersatzdehnung
b-Spirantisierung
g-Spirantisierung
e-Apokope
tw. e-Synkope (im Präfix )
Koronalisierung
Tiefschwa-Vorverlagerung
Palatalisierung (nur ERB)
apikale r-Varianten
n-Apokope
Lenisierung (in- und anlautend)
s-Sonorisierung
lex. Einzelformen
Tab. A.2: Merkmale des Basisdialekts im Zentralhessischen (VB, GI) Vokalismus Realisierung von mhd. ô als [uː]
Realisierung von mhd. i1 als [ʏۅũ]
Realisierung von mhd. ê als [ iː]
Realisierung von mhd. i2 als [e]
Realisierung von mhd. â, a als [ӕٝۅũ, oː, o]
Realisierung von mhd. ë als [Ųۅũ]
Realisierung von mhd. ü, üe als [ɪ, iː, Þۅʏ]
Realisierung von mhd. ö, œ als [ɛ, eː, iː]
Realisierung von mhd. ei als [a̠ː]
Realisierung von mhd. öü als [a̠ː]
Realisierung von mhd. ou als [a̠ː]
Realisierung von mhd. u als [o]
Nasalierung Konsonantismus & Nebensilben e-Apokope
Realisierung von nicht als [nɛt]
Rhotazismus
an- u. inlautende Lenisierung
apikale r-Varianten
Frikativelision
398
Anhang
g-Spirantisierung
unverschobene Formen für westgerm. p
b-Spirantisierung
s-Sonorisierung
n-Apokope t-Elision in bei gleichzeitiger [a̠]Längung r-Ausfall ohne Ersatzdehnung
konsonantischer -Auslaut t/d-Assimilation Realisierung von das als [dɛs]
viele morphologische und lexikalische Merkmale (bspw. Verbalflexion, Pronomina)
Tab. A.3: Merkmale des Basisdialektrests im Zentralhessischen (BÜD, FB) Vokalismus Realisierung von mhd. ô als [uː]
Realisierung von mhd. i1 als [ʏۅũ٫
Realisierung von mhd. ê als [iː]
Realisierung von mhd. i2 als [e]
Realisierung von mhd. â, a als [ӕٝۅũ, oː, o]
Realisierung von mhd. ë als [Ųۅũ]
Realisierung von mhd. ü, üe als [ɪ, iː]
Realisierung von mhd. ö, œ als [ɛ, eː, iː]
Realisierung von mhd. ei als [a̠ː]
Realisierung von mhd. öü als [a̠ː]
Realisierung von mhd. ou als [a̠ː] Realisierung von mhd. uo als [Þۅӕ]
Realisierung von mhd. u als [o] Realisierung von mhd. ie als [ɛ͡ɪ]
Realisierung von mhd. üe als [Þۅʏ]
e-Apokope
Nasalierung Konsonantismus & Nebensilben Rhotazismus
an- u. inlautende Lenisierung
apikale r-Varianten
Frikativelision
g-Spirantisierung
unverschobene Formen für westgerm. p
b-Spirantisierung
s-Sonorisierung
n-Apokope
konsonantischer -Auslaut
Koronalisierung Tiefschwavorverlagerung t-Elision in bei gleichzeitiger [a̠]t/d-Assimilation Längung r-Ausfall ohne Ersatzdehnung Realisierung von das als [dɛs] Realisierung von nicht als [nɛt] wenige morphologische und lexikalische Merkmale (bspw. Verbalflexion, Pronomina)
399
Anhang
Tab. A.4: Merkmale des Regiolekts der Rhein-Main-Regionalsprache Vokalismus a-Verdumpfung
Nasalierung
Realisierung von mhd. ei als [a̠ː]
tend. Hebung von [eː, oː]
Realisierung von mhd. ou als [a̠ː]
tend. Senkung von [ɪ, ʊ]
Realisierung von mhd. ü, üe als [ ɪ, iː]
Vokalkürze
Realisierung von mhd. ö, œ als [ɛ, eː]
e-Apokope
monophthongische Realisierung von auf, rein usw. [ʊ, ɪ] Konsonantismus & Nebensilben unverschob. germ. p im Inlaut
Realisierung von nicht als [nɛt]
Frikativrealisierung statt Affrikate
n-Apokope
(tw.) apikale /r/-Varianten
g-Spirantisierung
Frikativelision (auslautend) (Bsp. nach)
Lenisierung (in- und anlautend)
t/d-Assimilation (nach /n, l/)
r-Ausfall ohne Ersatzdehnung
b-Spirantisierung
Realisierung von das als [d̥ɛs]
Tiefschwa-Vorverlagerung
Koronalisierung
s-Sonorisierung
Fortisierung
Nebensilbenschwächung
Tab. A.5: Merkmale des Regionalakzents der Rhein-Main-Regionalsprache Vokalismus tend. Senkung von [ɪ, ʊ]
tend. a-Verdumpfung
(tend.) Nasalierung
tend. Hebung von [eː, oː]
tw. Vokalkürze Konsonantismus & Nebensilben Frikativrealisierung statt Affrikate
Lenisierung (inlautend)
(tw.) apikale /r/-Varianten
r-Ausfall ohne Ersatzdehnung
t/d-Assimilation (nach /n/)
Koronalisierung
b-Spirantisierung
Fortisierung
Tiefschwa-Vorverlagerung
s-Sonorisierung
400
Anhang
Tab. A.6: Merkmale des Regionalakzents der nordzentralhessischen Regionalsprache Vokalismus a-Verdumpfung
Nasalierung
tend. Senkung von [ɪ, ʊ]
tend. Hebung von [eː, oː]
Vokalkürze Konsonantismus & Nebensilben Frikativrealisierung statt Affrikate
Lenisierung (inlautend)
(tw.) apikale /r/-Varianten
(r-Ausfall ohne Ersatzdehnung)
t/d-Assimilation (nach /n/)
Realisierung von das als [d̥ɛs]
b-Spirantisierung
Fortisierung
Tiefschwa-Vorverlagerung
s-Sonorisierung
Tab. A.7: Gesamtübersicht der Datenauswertung (relative und absolute Zahlen) Die Fälle, bei denen n < 10 ist, sind kursiv gesetzt (vgl. dazu Kap. 4.3.2). Im Bereich des Vokalismus bestätigt ein Abgleich der Werte in den standardintendierten Wenkersätzen mit den „Nordwinden“ (hier: mhd. ei, ou, ê, ô) in allen Fällen die Ergebnisse (im gesamten Korpus 0 % Realisierung der standarddifferenten Variante in diesen Situationen) und dient zur zusätzlichen Erhärtung (vgl. Fn. 249). Für mhd. ei und ou sind – da n < 10 – zusätzlich die Gesamtbelege in Klammern aufgeführt.
11
10 (11)
10
9 (10)
8
10 (11)
71%
100%
0%
0%
0%
14%
0%
0%
0%
100%
24
13
9 (12)
21
24
7
10 (13)
25
12
10
FG_BÜDALT1
WSD_BÜDALT1
WSS_BÜDALT2
Interview_BÜDALT2
FG_BÜDALT2
WSD_BÜDALT2
Interview_BÜD1
FG_BÜD1
WSD_BÜD1
WSS_BÜD3
0%
0%
28
9
FG_BÜDJUNG1
WSD_BÜDJUNG1
70%
10
WSD_FBALT2
0%
0%
0%
75%
21
36
17
8
Notruf_FB1
Interview_FB1
FG_FB1
WSD_FB1
8 (11) 0%
9%
22
FG_FBALT2
WSS_FB1
3%
36
Interview_FBALT2
WSS_FBALT2
10 (13) 0%
0%
9 (10)
0%
WSS_BÜDJUNG1
19
77%
9
WSD_BÜD3
9 (12)
0%
22
FG_BÜD3
Interview_BÜDJUNG1
10
0%
47
7
36
39
16
8 (9)
7
17
25
10 (11)
8
22
29
25
27
0%
9 (12)
21
14
Interview_BÜD3
WSS_BÜD1
65
27
23
11
8 (9)
0%
47%
43
WSS_BÜDALT1
86%
0%
0%
0%
0%
100%
53%
16%
0%
63%
0%
0%
0%
80%
22%
10%
0%
100%
48%
29%
0%
90%
65%
66%
0%
100%
87%
91%
0%
%
mhd. ou
9 (12)
n
Interview_BÜDALT1
%
mhd. ei
n
7
11
15
18
7
7
9
13
8
7
10
15
7
8
14
16
8
8
25
12
8
7
11
18
7
8
18
19
100%
0%
0%
33%
0%
100%
67%
54%
0%
100%
40%
0%
0%
88%
100%
6%
0%
100%
100%
19%
0%
100%
100%
100%
0%
100%
100%
95%
0%
%
nicht
8
n
62
59
73
102
72
65
75
71
68
63
73
102
62
66
76
31
60
61
86
57
54
59
85
67
54
57
67
75
59
88%
0%
0%
4%
0%
91%
81%
72%
0%
79%
3%
0%
0%
95%
51%
31%
0%
92%
86%
21%
4%
90%
92%
96%
4%
98%
95%
60%
5%
%
n-Apok. n
10
26
19
18
10
10
21
11
10
10
39
16
11
10
27
29
12
10
19
11
10
10
27
16
13
11
30
20
12
40%
50%
32%
28%
10%
90%
71%
73%
10%
80%
44%
56%
27%
90%
67%
52%
8%
100%
74%
58%
30%
89%
67%
63%
8%
91%
93%
70%
50%
%
b-Spir. n
9
10
27
11
10
9
15
11
10
9
23
17
9
9
23
20
9
10
14
20
9
9
11
15
9
10
14
19
10
90%
40%
48%
55%
11%
100%
80%
45%
10%
100%
52%
12%
0%
100%
43%
35%
0%
100%
93%
65%
11%
100%
87%
73%
0%
100%
86%
84%
0%
%
t/d-Ass. n
14
11
17
10
14
14
10
13
14
14
11
14
15
19
16
12
16
18
22
11
18
19
16
13
19
17
17
28
17
62%
100%
88%
33%
57%
21%
80%
62%
64%
45%
55%
43%
17%
16%
13%
0%
0%
0%
14%
0%
33%
5%
6%
0%
5%
6%
21%
14%
12%
%
Fortisier. n
29
70
140
46
35
35
75
109
37
32
85
143
34
22
50
119
31
20
50
42
26
19
56
92
29
23
64
95
33
76%
36%
26%
28%
26%
96%
89%
85%
95%
97%
11%
12%
12%
91%
94%
90%
90%
70%
88%
83%
88%
100%
86%
84%
100%
96%
78%
95%
82%
%
Koron. n
28
41
45
26
25
20
34
28
28
25
51
41
28
26
57
39
28
25
25
30
30
29
39
39
30
28
45
51
72%
95%
98%
96%
100%
40%
26%
50%
82%
68%
84%
68%
75%
62%
84%
92%
93%
40%
68%
77%
90%
100%
92%
92%
100%
89%
95%
96%
100%
%
[ɐ]-VV
30
n 8
8
10
9
11
8
8
17
16
8
8
16
26
9
7
10
12
8
7
10
11
8
6
11
10
8
6
10
10
100%
50%
0%
91%
13%
86%
65%
75%
100%
100%
31%
27%
22%
100%
90%
100%
88%
100%
90%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
100%
%
s-Sonor. n
11
11
15
17
11
10
20
12
10
10
26
15
11
10
24
18
10
10
11
14
13
10
14
18
12
10
16
11
13
0%
0%
0%
0%
0%
100%
20%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
50%
0%
0%
0%
70%
9%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
60%
0%
0%
0%
%
mhd. uo n
10
11
19
17
11
11
27
18
11
11
11
47
13
11
25
27
11
10
31
30
11
13
19
12
11
11
16
14
11
10%
0%
0%
0%
0%
81%
15%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
63%
0%
0%
0%
80%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
%
mhd. ô n
28
41
45
26
25
20
34
28
28
25
51
41
28
26
57
39
28
25
25
30
30
29
39
39
30
28
45
51
30
28%
0%
0%
0%
0%
60%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
19%
0%
0%
0%
60%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
11%
0%
0%
0%
%
std. /ɐ/ n
7
8 (9)
0%
40%
25
10
FG_FB3
WSD_FB3
8
8 (9)
0%
0%
33%
0%
0%
33%
26
30
9
7 (10)
28
9
FG_FBJUNG1
WSD_FBJUNG1
Interview_GIALT1
WSD_GIALT1
9 (10)
7
8 (9)
9
7 (8)
100%
0%
0%
0%
14%
0%
0%
0%
22%
0%
0%
50%
82%
0%
0%
8
7 (10)
20
17
7
9 (12)
27
23
9
7 (10)
32
10
11
6 (9)
14
WSD_GI11
WSS_GI12
Interview_GI12
FG_GI12
WSD_GI12
Interview_GIJUNG1
FG_GIJUNG1
WSD_GIJUNG1
WSS_VBALT2
Interview_VBALT2
FG_VBALT2
WSD_VBALT2
Interview_VB1
WSS_VB1
WSS_GIJUNG1
7
0%
15
FG_GI11
21
7 (8)
7
12
19
11
22
25
27
31
0%
0%
100%
67%
10%
0%
56%
0%
0%
0%
29%
0%
0%
0%
100%
0%
0%
0%
30
28
8 (9)
0%
0%
7 (10)
86%
6%
0%
25%
0%
0%
0%
86%
0%
0%
0%
8
16
Interview_GI11
WSS_GI11
WSS_GIALT1
16
17
0%
8 (11)
WSS_FBJUNG1
Interview_FBJUNG1
26
21
0%
27
9 (10)
0%
9 (12)
Interview_FB3
WSS_FB3
%
mhd. ou
n
%
mhd. ei
n
8
7
7
13
23
7
7
10
21
7
6
10
10
7
7
8
12
7
7
17
7
7
14
17
7
7
16
19
66 95 88 68 63 67 78 63 60 89 63 65 84 66 58 63 67 63 63 58 86 62 67 70 65 76 66 69 64
0% 53% 88% 100% 0% 0% 7% 57% 0% 12% 100% 0% 42% 88% 100% 0% 50% 100% 100% 0% 0% 10% 100% 0% 70% 92% 100% 0% 88%
8%
3%
94%
93%
80%
6%
51%
0%
0%
0%
8%
16%
0%
0%
95%
3%
1%
0%
92%
15%
0%
24%
0%
0%
0%
74%
14%
3%
0%
%
n-Apok. n
%
nicht
7
n
18
10
10
27
20
10
10
14
35
10
10
21
26
10
10
24
23
12
10
35
10
10
13
20
10
10
29
22
10
72%
10%
100%
96%
90%
50%
60%
57%
54%
50%
30%
57%
58%
20%
100%
58%
57%
30%
100%
71%
40%
60%
46%
60%
50%
60%
55%
64%
40%
%
b-Spir. n 9
12
9
8
14
12
9
9
11
16
9
9
20
21
9
8
10
21
9
9
19
11
8
13
21
8
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18
16
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100%
86%
25%
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64%
44%
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67%
55%
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22%
100%
50%
48%
11%
100%
32%
18%
88%
31%
38%
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100%
44%
50%
0%
%
t/d-Ass. n
10
13
14
18
10
13
13
22
15
14
13
11
12
13
14
13
15
14
13
12
14
13
12
10
14
13
11
16
14
40%
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29%
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80%
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55%
50%
62%
79%
54%
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50%
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100%
92%
78%
100%
54%
64%
75%
57%
%
Fortisier. n
80
34
21
36
76
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31
76
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66
95
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21
123
28
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34
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38
3%
0%
0%
0%
0%
0%
65%
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0%
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0%
0%
48%
25%
0%
67%
27%
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23%
0%
0%
0%
97%
89%
93%
87%
%
Koron. n
28
19
26
30
40
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26
32
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40
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38
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20
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25
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26
39
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96%
94%
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92%
100%
100%
95%
96%
%
[ɐ]-VV
26
n 8
3
8
8
14
11
8
7
10
25
8
7
9
23
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7
10
38
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10
16
9
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17
18
-
100%
88%
100%
100%
100%
86%
80%
64%
38%
86%
78%
87%
38%
86%
90%
82%
88%
86%
93%
75%
56%
30%
13%
22%
100%
65%
61%
88%
%
s-Sonor. n
11
10
10
11
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10
10
15
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10
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14
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10
16
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13
18
10
12
11
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0%
0%
100%
55%
0%
0%
0%
0%
0%
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0%
0%
0%
0%
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0%
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0%
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0%
0%
0%
0%
0%
0%
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0%
0%
0%
%
mhd. uo n
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10
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10
10
17
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10
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11
34
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11
23
26
11
11
16
15
0%
0%
90%
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0%
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0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
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0%
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0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
%
mhd. ô
11
n
28
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30
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26
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40
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20
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25
22
26
39
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0%
0%
88%
80%
10%
10%
4%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
0%
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0%
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0%
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0%
0%
0%
0%
0%
0%
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0%
0%
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0%
0%
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0%
0%
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n
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n
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Interview_VBJUNG1
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FG_VB2
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Interview_VB2
n
%
100%
n
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mhd. ei
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7
7
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7
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20
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7
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10
10
6
n
%
100%
100%
19%
0%
100%
100%
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0%
100%
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0%
0%
0%
100%
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0%
0%
86%
100%
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0%
100%
100%
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0%
%
nicht
7
11
16
7
8
15
12
7
7
n
nicht %
98%
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0%
0%
92%
97%
0%
0%
94%
57
80
88
67
67
66
81
72
65
81
88
124
67
61
89
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71
n
60%
0%
0%
0%
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0%
0%
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98%
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66
94
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n
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100%
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10
26
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n
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50%
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36%
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b-Spir.
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18
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n
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100%
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9
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n
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30%
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100%
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0%
100%
100%
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0%
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13
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85%
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0%
0%
1%
0%
0%
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n
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n
Koron.
24
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60
26
25
48
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39
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30
50
37
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%
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100%
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[ɐ]-VV
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[ɐ]-VV %
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100%
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8
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7
16
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n
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50%
6%
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40%
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22%
100%
95%
72%
84%
88%
100%
81%
70%
75%
%
s-Sonor.
7
11
11
8
6
14
25
8
8
n
s-Sonor. %
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45%
0%
0%
90%
40%
0%
0%
90%
24
26
28
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24
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23
41
40
38
24
25
30
32
25
n
0%
0%
0%
0%
25%
8%
0%
0%
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29%
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50%
22%
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Entrund.
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n
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n
%
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0%
100%
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0%
0%
90%
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-
0%
0%
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0%
0%
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-
41%
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75%
40%
0%
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t-Len.
11
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n
mhd. ô
22
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23
n
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0%
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92%
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60%
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%
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0%
0%
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0%
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24
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Interview_DA1
FG_DA1
WSD_DA1
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Interview_DA5
FG_DA5
WSD_DA5
Interview_DAJUNG1
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WSD_DAALT2
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14
29
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FG_DAALT2
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Interview_DAALT2
WSS_DAALT2
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WSD_ERBJUNG1
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Interview_ERBJUNG1
WSS_ERBJUNG1
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WSD_ERB3
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Interview_ERB3
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Interview_ERB2
WSS_ERB2
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WSD_ERBALT1
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20
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FG_ERBALT1
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Interview_ERBALT1
WSS_ERBALT1
100%
100%
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100%
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0%
0%
0%
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100%
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100%
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100%
100%
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0%
100%
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%
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n
mhd. ei
n
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100%
100%
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100%
100%
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0%
94%
94%
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0%
94%
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0%
1%
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0%
94%
94%
79%
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0%
93%
98%
86%
0%
94%
94%
%
n-Apok. n
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0%
100%
100%
14%
0%
100%
96%
93%
14%
100%
100%
93%
0%
100%
94%
100%
0%
100%
100%
100%
0%
100%
100%
%
nicht
13
n
10
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11
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28
13
10
13
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10
16
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t/d-Ass. n
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32
n
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n
Im Sprachraum des mittleren und südlichen Hessens werden seit Langem regionalsprachliche Entwicklungen beobachtet – eine Untersuchung mit den Methoden der modernen Regionalsprachenforschung stand jedoch bisher aus. Lars Vorberger schließt diese Forschungslücke: Mit den vorliegenden Analysen liefert er für sieben Untersuchungsorte erstmals empirisch fundierte, systematische sowie vergleichbare Ergebnisse zu Sprachvariation (Struktur und Verwendung) und zu
ISBN 978-3-515-12363-1
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7835 1 5 1 2363 1
Sprachwandel und somit zu den modernen Regionalsprachen. Vorberger zeigt unter anderem, dass die regionalsprachlichen Entwicklungen im Rhein-MainGebiet zu einer „Rhein-Mainisierung“ des südlichen Zentralhessischen geführt haben. Die alten sprachlichen Strukturgrenzen wurden aufgebrochen und haben zu einer Neugliederung des Sprachraums geführt. Aktuell dominiert im gesamten Rhein-Main-Gebiet eine regionale Sprechweise: der Rhein-Main-Regiolekt.
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