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German Pages 642 [643] Year 2012
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von
Albrecht Beutel 166
Johannes M. Ruschke
Paul Gerhardt und der Berliner Kirchenstreit Eine Untersuchung der konfessionellen Auseinandersetzungen über die kurfürstlich verordnete ‚mutua tolerantia‘
Mohr Siebeck
Johannes M. Ruschke, geboren 1980; Studium der evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen, Berlin und Münster; Vikariat in Dortmund-Wellinghofen/Evangelische Kirche von Westfalen; 2011 Promotion.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. eISBN 978-3-16-152014-3 ISBN 978-3-16-150952-0 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort „Solt ich meinem Gott nicht singen/ Solt ich ihm nicht frölich sein/ Denn ich seh in allen Dingen/ Wie so gut ers mit mir mein.“ Paul Gerhardt, vor 1653 Die Popularität der Texte Paul Gerhardts ist auch knapp 350 Jahre nach ihrer Entstehung immer noch ungebrochen. Diese Texte leben - und mit ihnen auch ein Stück der Autor selber. Wer war Paul Gerhardt? Wie lässt er sich historisch greifen? Diese Fragen versuchen Forschungsbeiträge seit knapp 300 Jahren zu beantworten. Die hier vorliegende Untersuchung erhebt den Anspruch, die Forschung zu Paul Gerhardt und zu den frühneuzeitlichen Toleranzbemühungen anhand bisher nicht oder kaum ausgewerteter Quellen zu erweitern und zu korrigieren. Diese Untersuchung wurde im Wintersemester 2010/2011 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation im Fach Kirchengeschichte angenommen. Für den Druck ist sie leicht überarbeitet und um das Register erweitert worden. Zu vornehmstem Dank bin ich meinem Doktorvater verpflichtet: Professor Dr. Albrecht Beutel hat frühzeitig das Potential der Thematik erkannt, mir viel Vertrauen und Freiheiten bei der Erarbeitung geschenkt, den Entstehungsprozess in allen Phasen vorbildlich begleitet, das Erstgutachten erstellt und schließlich als Herausgeber die Arbeit in die Reihe „Beiträge zur historischen Theologie“ aufgenommen. Herrn Professor Dr. Konrad Hammann danke ich für das Zweitgutachten. Viele hilfreiche Hinweise habe ich durch das Münsteraner kirchengeschichtliche Oberseminar und den ‚Promovenden-Stammtisch‘ bekommen. Herausheben möchte ich hierbei Dr. Malte van Spankeren und Dr. Heiko Wojtkowiak, die mir auch bei Korrekturen geholfen haben, sowie Dr. des. Kai-Ole Eberhardt, der mich bei der schwierigen Übersetzungsarbeit der lateinischen Briefe Gerhardts unterstützte. Viel Hilfe bei der Quellen- und Literaturrecherche erhielt ich durch die Mitarbeitenden der von mir besuchten Archive und Bibliotheken. Einen ganz
VI
Vorwort
besonderen Dank möchte ich dabei einer Mitarbeiterin der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Sammlungen des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster (Streitsche Stiftung) aussprechen: Susanne Knackmuß hat mich fachlich kompetent betreut, mich immer wieder motiviert und ist mir bei meinen Terminplanungen weit entgegengekommen. Überaus dankbar bin ich für die ideelle und die finanzielle Förderung, die ich durch das Evangelische Studienwerk e.V. Villigst als Promotionsstipendiat genießen durfte. Ebenso möchte ich mich bei dem Beihilfe- und Wissenschaftsfond der VG Wort bedanken, der die Drucklegung der Untersuchung durch ein Stipendium förderte. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei meinem Vater Dr. Werner M. Ruschke, der meine Arbeit von Beginn an mit großem Interesse verfolgt und unterstützt hat und somit ein wichtiger Gesprächspartner wurde. Er hat zudem einen großen Teil des Registers erstellt. Ihm und meiner Schwester Sonia R. Ruschke bin ich überaus dankbar für die mühevoll-akribische Korrektur der Arbeit. Professorin Dr. Elke Axmacher habe ich zu danken für hilfreiche Anregungen und weitere Korrekturhinweise. Meinem Vikariatsmentor Pfarrer Wolfgang Buchholz danke ich dafür, dass er mir den Abschluss des Promotionsverfahrens erleichtert hat. Ein großer Dank gilt auch allen Familienangehörigen und Freunden, die mir Freiräume für meine Studien ermöglicht haben, sei es durch hilfreiche Impulse, mentale Unterstützung, Bereitstellung von Schlafplätzen während meiner Studienreisen oder die Kinderbetreuung. Im Laufe des Entstehungsprozesses dieser Arbeit wurden meiner Frau und mir unsere beiden Söhne Paul Michel Saïd und Noah Lukas Luigi geschenkt. Sie haben mich immer wieder zurückgeholt aus der Versenkung in die wissenschaftliche Arbeit und mein Leben unfassbar bereichert. Ich möchte dieses Buch drei Personen widmen: zum einen meiner Mutter Gisela Helene Ruschke, geb. Kayser, und meinem Vater Werner M. Ruschke. Sie haben mich nicht nur seit frühester Kindheit mit Gerhardts Liedern vertraut gemacht, sondern mich auch (nicht nur während der Entstehung dieser Untersuchung) liebevoll begleitet und getragen. Zum anderen meiner Ehefrau Sarah Ruschke, geb. Hennecke. Sie hat mich trotz vieler Entbehrungen immerfort auf vielfältige Weise unterstützt und ermutigt, oftmals ihr Leben nach meinen Bedürfnissen ausgerichtet und ist mein starker Rückhalt. Dortmund, am Reformationstag 2011
Johannes M. Ruschke
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
§ 2 Ursachen und Hintergründe der innerprotestantischen Kontroverse in Brandenburg . . . . . . 2.1 Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Landes seit dem Beginn der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Theologische Grundpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Bedeutende Einigungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 47 79 94
§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm . . . . . . 3.2 Die wichtigsten Geistlichen des Berliner Kirchenstreits . . . . 3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen . . . . . . . 3.4 Theologische Auseinandersetzungen der Berliner Lutheraner 3.5 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 96 106 127 153 173
§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663 . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Einladung und die Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Vorbereitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs . . . . . . . . . . . . 4.4 Zusammenfassung theologischer Positionen . . . . . . . . . . 4.5 Exkurs: Die Voten über die Verteidigungsschrift der Rintelner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 177 185 205 328
26
332 340
§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits . . . . . . . . . . . . . 345 5.1 Die Folgen des Kolloquiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt 436
VIII
Inhaltsübersicht
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits, die weiteren Lebenswege der beteiligten Pfarrer und die neue geistliche Landschaft in Berlin/Cölln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 5.4 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 § 6 Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 6.1 Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 6.2 Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 1. Verzeichnis aller Äußerungen Paul Gerhardts zum Kirchenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 2. Edition bisher unbekannter Voten Paul Gerhardts . . . . . . . 534 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
563 563 567 574
Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
597 599 607 611
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Eingrenzung des Themas und terminologische Bemerkungen 1.3 Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Forschungsgeschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . § 2 Ursachen und Hintergründe der innerprotestantischen Kontroverse in Brandenburg . . . . . . 2.1 Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Landes seit dem Beginn der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die lutherische Konfessionalisierung Brandenburgs . . 2.1.2 Die Annäherung an den reformierten Glauben . . . . . 2.1.2.1 Die Konversion Johann Sigismunds . . . . . . . 2.1.2.2 Die Versuche der Calvinisierung Brandenburgs 2.1.2.3 Die Entwicklung unter Georg Wilhelm . . . . . 2.1.3 Exkurs: Der 30jährige Krieg und der Westfälische Friede . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Theologische Grundpositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Ursache der Abendmahlsstreitigkeiten . . . . . . . . 2.2.2 Lutherisch-orthodoxe Theologie . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Die lutherische Bekenntnisbindung und die Aufnahme der Logik . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Die Rolle der Universitäten . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Reformierte Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.1 Theologische Schwerpunkte der Brandenburger Reformierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.2 Die reformierte Bekenntnisbindung . . . . . . . 2.2.3.3 Die Rolle der Hochschulen . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Vermittelnde Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 6 10 16
26 26 27 30 30 34 40 44 47 47 49 49 55 63 63 68 70 73
Inhaltsverzeichnis
2.2.4.1 Irenische Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4.2 Die irenischen Bemühungen des Georg Calixt . 2.3 Bedeutende Einigungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Einigungsversuche nach 1555 . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Das gescheiterte Religionsgespräch zu Cölln 1614 . . . . 2.3.3 Das Religionsgespräch zu Leipzig 1631 . . . . . . . . . . 2.3.4 Das Colloquium Charitativum zu Thorn 1645 . . . . . 2.3.5 Das Religionsgespräch zu Kassel 1661 . . . . . . . . . . 2.4 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74 76 79 79 82 84 87 92 94
§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm . . . . . . 3.1.1 Friedrich Wilhelms religiöse und theologische Prägung 3.1.2 Friedrich Wilhelms Toleranzverständnis . . . . . . . . . 3.2 Die wichtigsten Geistlichen des Berliner Kirchenstreits . . . . 3.2.1 Paul Gerhardt und die weiteren Lutheraner . . . . . . . 3.2.1.1 Die Pfarrer an der Berliner St. Nicolai-Kirche . a) Paul Gerhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Georg Lilius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Elias Sigismund Reinhardt . . . . . . . . . . . . . d) Johannes Heinzelmann . . . . . . . . . . . . . . e) Samuel Lorentz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Die Pfarrer an der Berliner St. Marien-Kirche . a) Johann Rösner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Martin Lubath . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Jakob Helwig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.3 Die Pfarrer an der Cöllner St. Petri-Kirche . . . a) Andreas Fromm . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Johann Buntebart . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Christian Nicolai . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Reformierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die Hofprediger . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bartholomäus Stosch . . . . . . . . . . . . . . . b) Johann Kunsch von Breitenwald . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Die Prediger an der Kirche zur Heiligen Dreifaltigkeit (Domkirche) . . . . . . . . . . . . a) Wolfgang Crell . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Johann Christian Sagittarius . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Die Lehrer des Joachimsthalschen Gymnasiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Johann Vorstius . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gersom Vechner . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Adam Gierck . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 96 97 101 106 107 108 108 110 112 113 114 114 114 115 116 117 117 118 119 119 120 120 122 123 123 124 125 125 126 127
Inhaltsverzeichnis
3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen . . . . . . . 3.3.1 Die Folgen des Krieges für die Religionspolitik in Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Religionspolitische Maßnahmen bis 1653 . . . . . . . . . 3.3.3 Die Politik gegenüber den kurmärkischen Ständen . . . 3.3.4 Religionspolitische Maßnahmen von 1653 bis 1659 . . . 3.3.5 Stoschs „Predigt über die Evangelische Warnung Christi“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.6 Religionspolitische Maßnahmen von 1659 bis 1661 . . . 3.3.7 Das so genannte ‚erste Toleranzedikt‘ und die religionspolitischen Maßnahmen 1662 . . . . . . . . . . 3.4 Theologische Auseinandersetzungen der Berliner Lutheraner 3.4.1 Die Abgrenzung vom Weigelianismus . . . . . . . . . . 3.4.2 Der Konflikt um Martin Lubaths Leichenpredigt . . . . 3.4.3 Der Streit um die Verkündigung des Zensur-Reskripts . 3.5 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663 . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Einladung und die Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Vorbereitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Ort und Zeit des Kolloquiums . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Reaktionen der Lutheraner . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Das erste Votum der Berliner Lutheraner . . . . . . . . 4.2.4 Die erste Session . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Die Konsultationen der Lutheraner . . . . . . . . . . . . 4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Die zweite bis siebte Session . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Die zweite Session . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Die dritte Session . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.3 Die vierte Session . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.4 Die fünfte Session . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.5 Die sechste Session . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.6 Die Voten der Berliner Lutheraner zu den reformierten Schriften vom 10. Oktober 1662 . 4.3.1.7 Die siebte Session . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Die achte bis zwölfte Session . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Die achte Session . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Die neunte Session . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Die Voten der Berliner Lutheraner auf die zwei Thesen der Reformierten . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.4 Die zehnte Session . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI 127 127 130 132 135 142 145 149 153 153 162 166 173 176 177 185 185 186 188 195 197 205 207 208 215 218 222 225 232 237 239 239 245 248 251
XII
Inhaltsverzeichnis
4.3.2.5 Die elfte Session . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.6 Die zwölfte Session . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Die dreizehnte Session und die inoffiziellen Treffen . . 4.3.3.1 Die Voten der Berliner Lutheraner über die reformierte Schrift vom 23. Januar 1663 . . . . . 4.3.3.2 Das Treffen am 17. Februar 1663 und die fünf Schriften der Berliner Lutheraner . . . . . . . . 4.3.3.3 Die Voten der Berliner Lutheraner über die reformierten Schriften vom 21. November 1662 . 4.3.3.4 Das Treffen am 27. Februar 1663 . . . . . . . . . 4.3.3.5 Die Verteidigungsschrift für Reinhardt . . . . . 4.3.3.6 Die dreizehnte Session . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.7 Die Berliner Schreiben vom 19. und 27. März 1663 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.8 Die inoffiziellen Sessionen am 3. und 4. April 1663 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Die vierzehnte bis siebzehnte Session . . . . . . . . . . . 4.3.4.1 Die vierzehnte Session . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.2 Exkurs: Gerhardts Votum über die Schrift der Reformierten vom 6. April 1663 . . . . . . . . . 4.3.4.3 Die fünfzehnte Session . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.4 Die sechzehnte Session . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.5 Exkurs: Die Voten der Berliner auf die Schrift der Reformierten vom 15. Mai 1663 . . . . . . . 4.3.4.6 Die siebzehnte Session . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4.7 Die neue Schrift zu Reinhardts Verteidigung . . 4.4 Zusammenfassung theologischer Positionen . . . . . . . . . . 4.5 Exkurs: Die Voten über die Verteidigungsschrift der Rintelner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Folgen des Kolloquiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Von Schwerins Bericht und die erste Reaktion Friedrich Wilhelms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Das so genannte ‚zweite Toleranzedikt‘ von 1664 . . . . 5.1.3 Die Responsa der Fakultäten und Ministerien . . . . . . 5.1.4 Gerhardts Votum zum zweiten Toleranzedikt . . . . . . 5.1.5 Exkurs: Der Briefwechsel zwischen Paul Gerhardt und Johannes Heinzelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
258 263 266 267 270 271 280 281 284 290 295 300 300 303 310 313 315 323 326 328 332 340 345 345 346 353 359 369 376
Inhaltsverzeichnis
5.1.6 Die Reverse, das „Diarium Berolinense“ und die Amtsenthebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7 Exkurs: Gerhardts Votum zum Revers . . . . . . . . . . 5.1.8 Die Declarationen und Reverse der Berliner Pfarrer . . 5.1.9 Die Reaktion der Stände . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.10 Die Reverse der reformierten Pfarrer und kurfürstlichen Beamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.11 Exkurs: Der Briefwechsel zwischen den Berliner Lutheranern und Abraham Calov . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt 5.2.1 Die Verweigerung der Unterschrift unter den Revers und das Eintreten von Bürgerschaft, Gewerken und Magistrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die Briefe der Stände, die Wiedereinsetzung und der Amtsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits, die weiteren Lebenswege der beteiligten Pfarrer und die neue geistliche Landschaft in Berlin/Cölln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Zusammenfassung weiterer kirchenpolitischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die weiteren Lebenswege der reformierten Pfarrer und die neuen Hofprediger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Das Schicksal der lutherischen Pfarrer . . . . . . . . . . 5.3.3.1 Gerhardts weiterer Lebensweg . . . . . . . . . . 5.3.3.2 Lilius’ Revers und Wiedereinsetzung . . . . . . 5.3.3.3 Reinhardts Karriere in Leipzig . . . . . . . . . . 5.3.3.4 Andreas Fromms Konversion und die weitere personelle Entwicklung an der Cöllner St. Petri-Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.5 Die Konflikte um Lubaths und Helwigs Predigten und die neuen Pfarrer an der St. Marien-Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.6 Der Konflikt um den neuen Berliner Propst . . 5.3.3.7 Die Neubesetzung des Archidiakonats und die Entlassung von Lorentz . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3.8 Die weiteren neuen Geistlichen . . . . . . . . . . 5.4 Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII 384 398 404 412 425 428 436
436 443
458 458 464 468 469 472 475
477
484 490 492 497 501
§ 6 Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 6.1 Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 6.1.1 Die Rolle Paul Gerhardts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
XIV
Inhaltsverzeichnis
6.1.2 Die Widerspiegelung des Kirchenstreits in Gerhardts Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Das Verhalten der weiteren Geistlichen . . . . . . . . . . 6.1.4 Das Vorgehen des Kurfürsten und des Präsidiums . . . 6.2 Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
513 517 522 527
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verzeichnis aller Äußerungen Paul Gerhardts zum Kirchenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bisher bekannte Äußerungen Gerhardts . . . . . . . . . . . 1.2 Bisher unbekannte Äußerungen Gerhardts . . . . . . . . . 2. Edition bisher unbekannter Voten Paul Gerhardts . . . . . . . 2.1 Editionsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Übersicht über die edierten Voten . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531 531 531 533 534 534 536 537
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
563 563 567 574
Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
597 599 607 611
Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen folgen S. M. Schwertner: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Berlin / New York 21992. Vgl. auch die im Anhang gebotenen Auflösungen häufiger Abkürzungen in Quellen. Darüber hinaus gelten folgende Abkürzungen: aaO. Bd. Bl. BLHA CA Diss. masch. ebd. ELAB Fasz. FB Gotha FC f. ff. fol. GStA PK GKl
Hg. IPO IPM LAB mE. Ms. Boruss. ND NF NR o.J. o.O. o.S.
am angegebenen Ort Band Blatt Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam Confessio Augustana Dissertation maschinenschriftlich ebenda Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin, Berlin-Kreuzberg Faszikel Universität Erfurt, Forschungsbibliothek Gotha Formula Concordiae Folium Fortfolgende Folio (2°) Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Sammlungen des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster (Streitsche Stiftung), Berlin-Mitte Herausgeber Instrumentum Pacis Osnabrugense, Osnabrücker Friedensvertrag vom 24. Oktober 1648 Instrumentum Pacis Monasterienses, Münsterscher Friedensvertrag vom 24. Oktober 1648 Landesarchiv Berlin meines Erachtens Manuscripta Borussica Nachdruck Neue Folge Neue Reihe ohne Jahresangabe ohne Ortsangabe ohne Seitenangabe
XVI r Rep. SächsHStA SBB-PK SLUB UB v Vgl.
Abkürzungsverzeichnis recte [Vorderseite] Repositur Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, Haus Unter den Linden (1) und Haus Potsdamer Straße (1a) Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden Universitätsbibliothek verso [Rückseite] Vergleiche
Abkürzungen von häufiger zitierten Werken, Zeitschriften und Sammlungen: ADB
Allgemeine Deutsche Biographie. Auf Veranlassung und mit Unterstützung Seiner Majestät des Königs von Bayern Maximilian II. hrsg. durch die Historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1.1875–56.1912 (ND 1967–1971). Beeskow Beeskow, Hans-Joachim: Brandenburgische Kirchenpolitik und -geschichte des 17. Jahrhunderts – ein Beitrag zur Paul-GerhardtForschung, 2 Bde., Diss. masch., Berlin (Ost) 1985. Bio-Bibliographien Noack, Lothar / Splett, Jürgen: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640–1688 (Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), Berlin 1997. Dies.: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1688–1713 (Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), Berlin 2000. Dies.: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Mark Brandenburg 1640–1713 (Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), Berlin 2001. Dies.: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit. Mark Brandenburg mit Berlin-Cölln 1506–1640 (Veröffentlichungen zur brandenburgischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit), Berlin 2009. BSLK Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 2 1955. BSRK Müller, Ernst Friedrich Karl (Hg.): Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register, Leipzig 1903 (ND Waltrop 1999 [ThST 5]). CA Confessio Augustana
Abkürzungsverzeichnis CS
Ebeling
EG
Fischer
FSATS Jöcher Küster Langbecker Meinardus
Müller/Küster
Mylius I/1
Mylius VI/1
XVII
Paul Gerhardt: Wach auf, mein Herz, und singe. Vollständige Ausgabe seiner Lieder und Gedichte, herausgegeben von Eberhard von Cranach-Sichart, Wuppertal 32009. Paul Gehardt. Geistliche Andachten. Samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten hg. v. Friedhelm Kemp, Bern 1975 [Repographischer Druck von Johann Georg Ebelings Geistlichen Andachten, 1667]. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche von Westfalen u. a., Gütersloh / Bielefeld / Neukirchen-Vluyn 1996. Fischer, Otto: Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, hg. vom Brandenburgischen Provinzialsynodalverband. 2 Bde., Berlin 1941. Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen, Leipzig 1, 1720–31, 1750 Jöcher, Christian Gottlieb: Allgemeines Gelehrten-Lexicon, vier Teile, Leipzig 1750–1751 (ND Hildesheim 1960–61). Kuester. Georg Gottfried (Hg.): Fortgesetztes Altes und Neues Berlin. Zweiter Theil, Berlin 1752. Ders.: Des Alten und Neuen Berlin Dritte Abtheilung, Berlin 1756. Ders.: Des Alten und Neuen Berlin Vierdte Abtheilung, Berlin 1769. Langbecker, E[mmanuel] C[hristian] G[ottlieb] (Hg.): Leben und Lieder von Paulus Gerhardt, Berlin 1841. Meinardus, Otto: Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rates aus der Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, Bd. 1.5–7, Leipzig 1889–1919. Müller, Johann Christoph / Kuester, Georg Gottfried (Hg.): Berlinische Chronik. Das ist: Vollständige Nachricht von der Stadt Berlin. Altes und Neues Berlin. Erster Theil, Berlin 1737. Mylius, Christian Otto: Corpus Constitutionum Marchicarum, Oder Koenigl. Preußis. und Churfuerst. Brandenburgische in der Chur- und Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen publicirte und ergangene Ordnungen, Edicta, Mandata, Rescripta, Von Zeiten Friedrichs I. Churfuerstens zu Brandenburg, u. biß ietzo unter der Regierung Friedrich Wilhelms Koenigs in Preußen u. ad annum 1736. inclusice Mit allergn. Bewilligung colligiret und ans Licht gegeben von Christian Otto Mylius, Berlin / Halle 1737. Des Corporis Constitutionum Marchicarum Sechster Theil Von Miscellaneis, und Supplementis derer vorhergehenden Fünf Theile bis 1736. in sich haltend Landtags-Recesse, von Justitzien- ZollBrau- und anderen Sachen, auch Edicta und Ordnungen vom Abschoß, Ober Heralds-Amt, Rang-Reglements, Monte Pietatis, Privilegiis derer refugirten aus Franckreich und Schweitz, Erb-Pacht, Orden des schwartzen Adlers, Societaet derer Wissenschaften etc. In Drey Abtheilungen. Nebst Anhang Derer in Frantzösischer
XVIII
NDB RGG4
Schulz
TRE UnNachr VD17 Zedler
Abkürzungsverzeichnis Sprache zum Behuf der Frantzösischen Nation publicirten Verordnungen, und beygefügter Dixcipline Ecclesiastique derer Reformirten Kirchen in Franckreich, Berlin / Halle 1751. Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von d. Historischen Kommission bei d. Bayr. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1953 ff. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, herausgegeben von Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski und Eberhard Jüngel, 8 Bde., Tübingen 1998–2007. Schulz, Otto: Paul Gerhardts Geistliche Andachten in hundert und zwanzig Liedern. Nach der ersten durch Johann Georg Ebeling besorgten Ausgabe mit Anmerkungen, einer geschichtlichen Einleitung und Urkunden, Berlin 1842. Theologische Realenzyklopädie, herausgegeben von Gerhard Müller, 36 Bde., Berlin 1977–2004. Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Leipzig 1.1701–19.1719. Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts [http://www.vd17.de] Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, welche bisher durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Leipzig und Halle, Bd. 1–64, 1731–1754.
§ 1 Einleitung 1.1 Einführung „WohlEhrenveste, Großachtbahre Hoch- Unndt wohlgelahrte, Hoch Unnd wohlweise, Insonderß Großgönstige Herren, Denensellben sindt mein andächtiges Gebeth Unndt willigste Dienste stets Zuvor, Unnd habe meinen Hochgeehrten Herren an mier abgelaßenes schreiben, in welchem Sie meine wenige Person zum Diacono Ihrer S. Nicolai Kirchen vociren, Von H. Martin Richtern ich heütt 8 tage wohl erhalltten, Wenn ich denn nach fleißiger anruffung des Nahmens Gottes Unnd reiffer erwegung der so ein helligklich auff mier gefallenen votorum so viel abnehme, das der liebe Gott in diesem wercke seine sonderbahre schickung Unnd Regierung habe, alls will mier nicht anstehen, diesem großen Unnd Allgewalltigen Herrn Zu wieder stehen, Nehme derowegen abberührte vocation im Nahmen Gottes, wie sie von meinen Hochgeehrten Herren mier Zugesandt worden, auff Unndt an, der Christlichen Hoffnung Unnd Zuversicht, fromme Herzen mit dero embsigen gebethe mier Zu Hülffe kommen, Unnd das durch solch ein geringes organon, wie ich mich erkenn, seine Heylige Gemeine wohlgebawet werden möge, fleißig | Zu Gott werden säuffzen helfen, Der Terminus, so mier zu Meinen Anzuge gesezet, will mier Zwar Meinen noch obliegenden Amptsgeschäfte Unnd allerhand Haushalltungs Verrichtungen halben fast Zu kurz Unnd geschwinde fallen, Jedennoch werde Meiner Hochgeehrte Herren belieben auch in dieser mich zu conformiren ich meinem besten Vermögen nach mir anlegen sein laßen, Befehle dieselben hiermit Göttlicher treuer obacht, Unnd Verbleibe Meinen Großgünstigen Hochgeehrten Herren Mitten walde den 4. Junij Ao 1657. gebeth Unnd dienstwilligster Paulus Gerhardt, Jeziger Zeit Probst daselbst.“
Mit diesen Worten nahm der Mittenwalder Propst und Dichter Paul Gerhardt den an ihn acht Tage zuvor ergangenen Ruf als Diakon an die Berliner St. Nicolai-Kirche an. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch nicht ahnen, wie sehr die folgenden Jahre sein Leben verändern sollten. Gerhardt ging nach Berlin, als dort die erste Phase des so genannten ‚Berliner Kirchenstreits‘ in vollem Gange war. Gerhardt sollte in den Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielen und dabei schließlich seine Pfarrstelle verlieren. LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 4r–4v; mit einigen Änderungen abgedruckt bei E. v. Cranach-Sichart: Paul Gerhardt. Dichtungen und Schriften, München 1957, 474 f.
§ 1 Einleitung
In der damaligen Zeit war der religiöse und konfessionelle Gegensatz zwischen Lutheranern und Reformierten in Brandenburg allgegenwärtig. Er gipfelte im Berliner Kirchenstreit. Heute ist dieser Streit weitgehend in Vergessenheit geraten. Zwar wird er in jeder biographischen Darstellung Gerhardts erwähnt, er ist aber tatsächlich einer der am wenigsten erforschten Abschnitte seines Lebens. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Gerhardt nicht als streitender Konfessionstheologe, sondern als Dichter für und über Generationen hinaus bedeutsam geworden ist. Viele Autoren hagiographisch anmutender Gerhardt-Darstellungen waren der Meinung, dass die konfessionellen Auseinandersetzungen und Gerhardts vermeintlich wenig ruhmreiche Rolle nicht in das Bild eines Dichters frommer und seelsorglicher Kirchenlieder passe. Erst die neuere Forschung hat aufzeigen können, dass Gerhardt ganz als Kind seiner Zeit zu verstehen ist, in der Frömmigkeit und Polemik sowie Dichtung und Konfessionsbewusstsein keinen Gegensatz darstellen, sondern geradezu Wesensmerkmale des konfessionellen Zeitalters sind. Ein anderer Grund für die Vernachlässigung des Kirchenstreits scheint die Auffassung, dass eine eingehende wissenschaftliche Darstellung der Auseinandersetzungen nicht lohne, da diese kaum mehr verständlich seien und bisherige Untersuchungen nur wenige Erkenntnisse erbracht hätten. Die geringe Erforschung des Themas ist erstaunlich, da diese Aufgabe einerseits entscheidend ist, um sich der integrativen Rolle Gerhardts zu vergewissern – immerhin war der Kirchenstreit das wichtigste Ereignis seines beruflichen Lebens; andererseits waren jene Auseinandersetzungen die Ursache für einen entscheidenden Wechsel in der Kirchenpolitik der Hohenzollern. Der Kirchenstreit hatte somit nicht nur lokale Bedeutung für die Doppelstadt Berlin/Cölln oder das Kurfürstentum Brandenburg, sondern wurde im gesamten deutschen Reich und Preußen verfolgt. Eine Ursache davon wiederum ist, dass rund 350 Jahre nach dem Berliner Kirchenstreit konfessionelle Auseinandersetzungen kritisch gesehen werden. Der heutige theologische Diskurs findet oftmals im Rahmen der Ökumene und im Dialog der Religionen statt. Insofern bedarf es zum angemessenen Verständnis nicht nur der einzelnen Begebenheiten, sondern auch der Sprache des Berliner Kirchenstreits die Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit dem konfessionellen Zeitalter und seinen Spezifika auseinanderzusetzen. Unter den bisher quantitativ überschaubaren Forschungsbeiträgen, die deutlich herausgestellt haben, dass Gerhardts Konfessionalismus nicht im Widerspruch zu seiner Dichtung steht, sind hervorzuheben E. Axmacher: Paul Gerhardt als lutherischer Theologe, in: G. Besier / C. Gestrich: 450 Jahre evangelische Theologie, 79–104; Dies.: Die dreifache Zukunft des Herrn. Wie soll ich dich empfangen?, in: Dies.: Johann Arndt und Paul Gerhardt, Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts (Mainzer hymnologische Studien 3), Tübingen / Basel 2001, 91–102. Vgl. zur Bedeutung Berlins für die deutsche Kirchengeschichte (wobei jedoch gerade für die Zeit vor dem 30jährigen Krieg der Einfluss und das Ansehen der Stadt gele-
1.1 Einführung
Die vorliegende Studie verfolgt das Ziel, anhand neuer Funde und aller zugänglichen Quellen den Berliner Kirchenstreit umfassend darzustellen, zu analysieren und zu bewerten. Sie erwuchs aus der Überzeugung, dass eine eingehende Untersuchung nicht nur lohne, sondern zum Verständnis von Gerhardts Leben und Werk sowie der kirchlichen Wirklichkeit in einem der größten deutschen Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts unbedingt notwendig sei. Die frühen innerkirchlichen Toleranzbemühungen des Großen Kurfürsten, unter denen das Berliner Kolloquium einen Kulminationspunkt darstellt, sind zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten. So wurde das Kolloquium beispielsweise durch die Geschichtsschreibung zu Gunsten anderer Einigungsversuche oder religionspolitischer Maßnahmen mit dem Hinweis größtenteils vernachlässigt, dass es kein Ergebnis gebracht habe. Zu Recht wird jedoch in der neueren Forschung vermehrt daraufhin gewiesen, dass Kirchengeschichte auch dort Gegenwartsbedeutung besitze, „wo sie vom Scheitern menschlichen Mühens und unerfüllter Sehnsucht zeugt“ . Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem konfessionellen Zeitalters hat ebenso wie diejenige mit konfessionellen Auseinandersetzungen und irenischen Versuchen in den letzten Jahrzehnten einen neuen Schub erhalten. Die vorliegende Studie möchte einen Beitrag zur Erforschung der protestantischen Orthodoxie leisten und die Paul-Gerhardt-Forschung auf der Grundlage neu aufgefundener Quellen bereichern. Gerade die Publikationen anlässlich des 400. Geburtstages Gerhardts im Jahre 2007 zeigten auf, dass der Berliner Kirchenstreit in vielen Teilen ein Forschungsdesiderat geblieben ist und Gerhardts Rolle innerhalb der Auseinandersetzungen noch nicht hinreichend geklärt werden konnte. Doch nicht nur Gerhardts Beteiligung, sondern auch sein Verhalten soll neu bewertet werden, denn schließlich hat auch die PaulGerhardt-Forschung „die Aufgabe, durch immer erneuten Rückblick auf die Quellen die Berechtigung überlieferter Urteile zu überprüfen, Klischees zu zerstören und vertraut gewordene Ansichten zu revidieren“. gentlich überspitzt dargestellt und zudem nicht konsequent zwischen Berlin und Cölln getrennt wird) M. Schmidt: Der Beitrag der Evangelischen Kirchengeschichte zum Aufstieg Berlins, JGMOD 20 (1971), 69–88. M. Heckel: Die Wiedervereinigung der Konfessionen als Ziel und Auftrag der Reichsverfassung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Otte / Schenk: Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Rojas y Spinola – Molan – Leibniz (SKGNS 37), Göttingen 1999 (15–38), 15. Vgl. dazu A. Stegmann: Bibliographie der Literatur zu Paul Gerhardts Leben, Werk und Wirkung, in: D. Wendebourg: Paul Gerhardt – Dichtung, Theologie, Musik. Wissenschaftliche Beiträge zum 400. Geburtstag, Tübingen 2008, 335. J. Wallmann: Die Rolle der Bekenntnisschriften im älteren Luthertum, in: Brecht / Schwarz: Bekenntnis und Einheit der Kirche, Stuttgart 1980 (381–392), 381; ähnlich auch A. Beutel: Lehre und Leben in der Predigt der lutherischen Orthodoxie. Darge-
§ 1 Einleitung
Zweifellos markiert der Kirchenstreit den am meisten befremdlich erscheinenden Abschnitt in Gerhardts Leben. Trotz einiger wissenschaftlicher Untersuchungen und biographischer Darstellungen scheint die Frage immer noch nicht zufriedenstellend geklärt zu sein, warum sich ein Dichter, der vor allem durch tröstliche und erbauliche Dichtungen bekannt geworden ist, so starr gegen die vermeintlich fortschrittliche Toleranzpolitik seines Landesherrn wehrte und letztendlich seine Pfarrstelle aufgegeben hat. Gerhardts harter Konfessionalismus, oftmals als ‚Engstirnigkeit‘ bezeichnet, scheint vor dem Hintergrund seiner alles andere als konfessionell eingrenzenden Lieder ein Rätsel darzustellen. Der Berliner Kirchenstreit ist vor allem durch Gerhardt bekannt geworden. Er ist jedoch weder durch ihn hervorgerufen, noch gelenkt oder als wesentlichen Motor vorangetrieben worden. Allerdings war Gerhardt abgesehen von Kurfürst Friedrich Wilhelm die bekannteste Persönlichkeit, die in den Streit verwickelt war. Daher behandelt diese Studie nicht Gerhardt im, sondern Gerhardt und den Berliner Kirchenstreit. Dies bedeutet, dass der Kirchenstreit beleuchtet wird unter besonderer – jedoch nicht alleiniger – Berücksichtigung der Rolle Gerhardts. Den Kirchenstreit auf Gerhardts Rolle zu reduzieren, würde eine unstatthafte Verkürzung der historischen Umstände bedeuten. Insofern liegt der Schwerpunkt dieser Studie auf dem Verhalten Gerhardts einerseits und dem aller sonstigen am Kirchenstreit beteiligten Personen andererseits. Dies waren die Hofbeamten um den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm sowie die lutherischen und reformierten Geistlichen der Doppelstadt Berlin/Cölln. Die Letzteren sind zudem insofern von Interesse, als sie typische Beispiele für die Pfarrerschaft des 17. Jahrhunderts darstellten. Die Untersuchung beginnt nicht bei Gerhardt selbst, sondern stellt in den folgenden Paragraphen chronologisch die historischen Begebenheiten dar. § 2 erläutert zunächst die historischen Hintergründe und Ursachen für die innerprotestantische Kontroverse in Brandenburg. Dabei geht es nicht nur um die kirchliche und politische Situation, sondern auch um eine zusammenfassende Darstellung der jeweils vorherrschenden theologischen Hauptrichtungen samt einiger konfessions- und ortsspezifischer Besonderheiten sowie um die Behandlung verschiedener Einigungsversuche. § 3 thematisiert die erste Phase des Berliner Kirchenstreits, indem zunächst die für die kirchenpolitischen Maßnahmen des Kurfürsten Friedrich Wilhelm bedeutendsten Maximen betrachtet und anschließend Biogramme der wichtigsten am Kirchenstreit beteiligten Pfarrer geboten werden. Darauf folgt ein Überblick über den stellt am Beispiel des Tübinger Kontroverstheologen und Universitätskanzlers Tobias Wagner (1598–1680), ZThK 93 (1996) (419–449), 419. Vgl. zu den terminologischen Prämissen und der zeitlichen Eingrenzung des Themas 1.2.
1.1 Einführung
Verlauf des Kirchenstreits bis 1662, der mit einer kurzen Darstellung dreier Ereignisse endet, in die Gerhardt und seine Berliner Pfarrkollegen involviert waren. § 4 widmet sich ausführlich dem Kolloquium 1662/63. Da es in den meisten Darstellungen des Kirchenstreits nur kurz erwähnt wird und der Schwerpunkt der Forschung auf den zeitlich folgenden Auseinandersetzungen über die kurfürstlichen Reverse liegt, soll in dieser Studie das Kolloquium, welches von September 1662 bis Mai 1663 auf Anweisung Friedrich Wilhelms in Cölln stattfand, auf der Grundlage von Protokollen, Schriften, Voten und neu aufgefundenen Quellen rekonstruiert und die Hintergründe für das Verhalten der Protagonisten erhellt werden. § 5 behandelt anschließend die dritte Phase des Kirchenstreits, indem die unmittelbaren und mittelbaren Konsequenzen, die der Kurfürst aus dem Abbruch des Kolloquiums zog, und die Reaktionen der Geistlichkeit darauf, dargestellt werden. Die Auseinandersetzung der Lutheraner mit den geforderten Reversen, der Konflikt um Gerhardts Verweigerung der Unterschrift sowie der Ausgang des Kirchenstreits bilden den Abschluss dieses Paragraphen. Der Verlauf des Kirchenstreits soll primär historisch und größtenteils unter Zurückhaltung von Wertungen dargestellt werden. Da eine gerechte Wertung aus der zeitlichen und kulturellen Distanz heraus kaum möglich ist und diese Studie einen Beitrag zu einer differenzierten Sichtweise leisten möchte, findet eine abschließende kritische Würdigung und Beurteilung des Verhaltens der verschiedenen Protagonisten erst gebündelt in § 6 statt. Der Anhang bietet einen Überblick über alle bekannten Äußerungen Gerhardts zum Kirchenstreit sowie eine Edition bisher unbekannter Quellen. Eine entscheidende Prämisse dieser Studie ist die Überzeugung, dass die historische Situation nur verstanden und begründet beurteilt werden kann sowie die konfessionellen Nuancen der Zeit wahrgenommen und miteinander in Beziehung gesetzt werden können, wenn die Positionen beider Konfessionen gleichwertig dargestellt werden. Eine gleichmäßige Behandlung der reformierten Sicht wird daher zwar angestrebt, ist jedoch, zum einen bedingt durch die Fokussierung auf Gerhardt, zum anderen auf Grund der Tatsache, dass ‚reformierte‘ Quellen zum Berliner Kirchenstreit wesentlich weniger erhalten geblieben sind als ‚lutherische‘ Quellen, nur an wenigen Stellen möglich. Das Ziel der Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms wurde spätestens mit dem so genannten ersten Toleranzedikt als ‚mutua tolerantia‘ bezeichnet. Dieser Begriff wird in dieser Studie weitgehend beibehalten und erst allmählich kon Unhistorisch ist die immer wieder zu lesende Behauptung, Friedrich Wilhelms Ziel sei eine Konkordie oder eine Union gewesen (so beispielsweise C. Schmitz: Ratsbürgerschaft und Residenz. Untersuchungen zu Berliner Ratsfamilien, Heiratskreisen und sozialen Wandlungen im 17. Jahrhundert [VHKB 101], Berlin / New York 2002, 208).
§ 1 Einleitung
kretisiert, um der Gefahr zu entgehen, dass bei einer vorschnellen Übersetzung – beispielweise mit ‚gegenseitiger (religiöser) Toleranz‘ – die kurfürstlichen Maßnahmen, aber auch die Reaktion der Geistlichen darauf, zu sehr vom heutigen Toleranzmaßstab aus beurteilt und somit der spezifischen historischen Situation nicht gerecht werden. Indem die hier vorliegende Studie verschiedene Verständnisse des Begriffes der mutua tolerantia aufzeigt, stellt sie zugleich einen Beitrag zur theologischen Toleranzforschung dar.
1.2 Eingrenzung des Themas und terminologische Bemerkungen Als Berliner Kirchenstreit werden die Auseinandersetzungen bezeichnet, die zwischen der lutherischen Geistlichkeit und den mit ihr eng verbundenen Ständen auf der einen Seite und dem reformiert geprägten kurfürstlichen Hof samt den Beamten und Predigern auf der anderen Seite Mitte des 17. Jahrhunderts im Kurfürstentum Brandenburg ihren Höhepunkt erreichten. Der Ausdruck Berliner Kirchenstreit ist ein moderner Begriff, der von keinem der Zeitgenossen gebraucht wurde. Zu seiner kritischen Begutachtung und zu einer genaueren örtlichen, zeitlichen und theologischen Eingrenzung des Themas, aber auch zu den terminologischen Präliminarien dieser Studie sind einige einleitende Bemerkungen notwendig. Zunächst ist der Begriff ‚Berliner Kirchenstreit‘ irreführend, denn bei den Auseinandersetzungen handelte es sich nicht um einen Konflikt zwischen zwei Kirchen, sondern zwischen Angehörigen zweier Konfessionen. Er bezeichnet genauer gesagt einen Konflikt zwischen dem Kurfürsten und der gesamten lutherischen Geistlichkeit Brandenburgs, einen Konflikt zwischen der Obrigkeit und ihren Untertanen, einen Konflikt zwischen dem Landesherrn und den Landständen, einen Konflikt der Konfessionen untereinander, einen Konflikt, der ganz Brandenburg-Preußen und darüber hinaus reichsweit Fakultäten, Geistliche Ministerien und Landesherren beschäftigte. Auch die räumliche Eingrenzung des Begriffs Kirchenstreit ist ungenau. Zum einen fand der Streit nicht nur in Berlin, sondern in beiden Teilen der damaligen Doppelstadt Berlin/Cölln statt. Das kurfürstliche Schloss, in dem die wichtigsten Entscheidungen gefällt und die Verfügungen erlassen wurden, befand sich auf der Spreeinsel in Cölln. Zum zweiten ist zu beachten, dass die Doppelstadt das Zentrum Brandenburgs war. Der Berliner Kirchenstreit wurde im gesamten stark an Bedeutung und Ausdehnung gewinnenden Territorium Brandenburg-Preußen und darüber hinaus in vielen Teilen des Reiches aufmerksam verfolgt und kommentiert. Der Konflikt hat somit eine weitreichendere Bedeutung und Wirkung, als der lokale Titel vermuten lässt.
1.2 Eingrenzung des Themas und terminologische Bemerkungen
Der Berliner Kirchenstreit erreichte seinen Höhepunkt erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ansetzen wird diese Studie jedoch bereits im 16. Jahrhundert. Besonders in der Reformationszeit und zu Beginn des 17. Jahrhunderts sind Weichenstellungen erfolgt, die zu erwähnen für das Verständnis des Themas unerlässlich sind.10 Der Schlusspunkt des Kirchenstreits schien in der bisherigen Forschungsliteratur hingegen mit der Entlassung Gerhardts weitgehend festgelegt. Bis auf den Beginn des 17. Jahrhunderts kam es vor allem auf Grund des 30jährigen Krieges nur noch zu vereinzelten Reaktionen der lutherischen Geistlichkeit auf die Kirchenpolitik der reformierten Kurfürsten Johann Sigismund und Georg Wilhelm. Erst mit Friedrich Wilhelm begann eine entscheidend neue Epoche in der Kirchenpolitik. Der Kurfürst versuchte, die Förderung der Reformierten konsequent voranzutreiben und entscheidende Maßnahmen zur Befriedung der konfessionell nach dem Friedensschluss wieder angespannteren Situation zu lancieren. Zur Häufung von Protesten der lutherischen Geistlichkeit dagegen kam es erst nach dem Krieg. Die kurfürstlichen Weichenstellungen hatten jedoch bereits mit dem Amtsantritt Friedrich Wilhelms begonnen. In den folgenden Jahren wuchs der Protest kontinuierlich an. Höhepunkte, nicht aber Grund und somit Anfangspunkte des Kirchenstreits, waren das Kolloquium 1662/63 und die Auseinandersetzungen über die verordneten Reverse. In der vorliegenden Studie wird als Beginn des Berliner Kirchenstreits die Zeit verstanden, in welcher der vermehrte Protest gegen die kurfürstliche Religionspolitik in der Doppelstadt Berlin/Cölln quellenkritisch greifbar wird, d. h. in den frühen 1650er Jahren. Der Schlusspunkt des Streites ist mE. nicht eindeutig festlegbar. Neben Gerhardts Amtsentlassung sind auch die Schicksale der weiteren am Kirchenstreit beteiligten Protagonisten von Interesse. Zwar war der Konflikt mit deren Entlassungen im Wesentlichen beendet, doch auch in den kommenden Jahren gab es immer wieder kleinere Auseinandersetzungen, die zeigen, dass der Kirchenstreit keinen festen Schlusspunkt hatte, sondern allmählich zu Ende ging. Der Berliner Kirchenstreit fand gegen Ende des konfessionellen Zeitalters und somit theologiegeschichtlich in einer Wendephase statt. Bis zum Amtsantritt Friedrich Wilhelms dominierte in Brandenburg theologisch wie kirchlich die lutherische Orthodoxie. Mit dem Kirchenstreit, wesentlich stärker jedoch erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts, wurde sie lediglich zu einer – 10 In der Forschung finden sich recht unterschiedliche Meinungen darüber, welcher Zeitraum überhaupt als Berliner Kirchenstreit zu bezeichnen ist: Er beginnt 1613 mit der Konversion Johann Sigismunds, 1640 mit dem Amtsantritt Friedrich Wilhelms, 1662 mit dem ersten so genannten Toleranzedikt, 1664 mit dem so genannten zweiten Toleranzedikt, 1662/63 mit dem Kolloquium, 1664/65 mit den Reversen oder sogar erst mit den bald darauf folgenden Entlassungen von lutherischen Theologen.
§ 1 Einleitung
wenn auch immer noch der größten – theologischen Richtung und somit zu einem theologiegeschichtlich partikularen Phänomen. Die lutherische Orthodoxie wird daher in dieser Arbeit nicht als fester Epochenbegriff verstanden, sondern als Bezeichnung der in Brandenburg dominierenden theologischen Strömung.11 Durch die Förderung der Reformierten und die Lancierung einer toleranten Religionspolitik wollte Friedrich Wilhelm eine konfessionelle Koexistenz erzwingen. In dieser Entwicklung jedoch sahen die Lutheraner die theologische Wahrheit und ihre bisherige Dominanz bedroht. Die Toleranzintentionen des kurfürstlichen Hofes waren weder bereits pietistisch oder aufklärerisch konnotiert, sondern entstanden aus persönlichen und wirtschaftlich-politischen Gründen. Der Versuch, kontroverstheologische Polemik weitgehend zu unterbinden, besitzt jedoch eine Affinität zu pietistischen und aufklärerischen Merkmalen. Mit Recht wurde in der Forschung immer wieder darauf hingewiesen, dass Gerhardt selbst nie mit „Paul“, sondern ausschließlich mit „Paulus Gerhardt“ bzw. „Paulus Gerhard“ unterschrieben hat. In dieser Arbeit wird jedoch mit Ausnahme von Quellenwiedergaben die Schreibweise „Paul“ beibehalten, die sich in der Forschungsliteratur und Tradierung seiner Dichtungen über Jahrhunderte hinweg durchgesetzt hat. Ebenso wird „Gerhardt“ beibehalten, um Verwechselungen mit dem Jenenser Theologieprofessor Johann Gerhard (1582–1637) auszuschließen. Auch in der Mark Brandenburg wurden im 17. Jahrhundert die Bezeichnungen ‚Calvinismus‘ und ‚Calvinisten‘ durch lutherische Geistliche gebraucht, um sich von Reformierten, ihrer Theologie und ihrem Einfluss abzugrenzen. Da diese Begriffe im engeren Sinne die Weiterentwicklung der Theologie Calvins oder die auf die Schweizer Reformation zurückgehenden Konfession und ihre Anhänger kennzeichnen, zur Benennung des sich in Brandenburg ausbreitenden Reformiertentums jedoch nicht zutreffend sind, werden die Bezeichnungen in dieser Arbeit nur in Quellenzitaten beibehalten und ansonsten ersetzt.12 Eine Ausnahme bildet der selten gebrauchte Begriff ‚Calvinisierung‘, da er am treffendsten die Angst der lutherischen Untertanen vor einer obrigkeitlich verordneten geistlichen Neuordnung des Landes zu beschreiben vermag. Vgl. zum Epochenbegriff „Orthodoxie“ und den damit verbundenen Problemen T. Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur (BHTh 104), Tübingen 1998, 146–150. 12 Vgl. zur terminologischen Klärung des Begriffs B. A. Gerrish: Art. Calvinismus, RGG4 2 (1999), 36–38; F. W. Graf: Vorherbestimmt zu Freiheitsaktivismus. Transformationen des globalen Calvinismus, in: A. Reiss / S. Witt: Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa [. . .], Dresden 2009, 384–391. 11
1.2 Eingrenzung des Themas und terminologische Bemerkungen
Bei den Datumsangaben ist zu beachten, dass in Brandenburg im 17. Jahrhundert noch größtenteils der julianische Kalender galt, auch wenn das Bewusstsein für den gregorianischen Kalender bereits verbreitet war. Dies führte dazu, dass fast alle Datumsangaben höfischer Provenienz, diejenigen der Geistlichkeit und des Adels jedoch eher selten doppelt ausfielen.13 Die Zeitformate in dieser Arbeit folgen denjenigen in den Quellen. Als Hilfsmittel werden die jeweils in den Anmerkungen angegebenen zeitgenössischen Kalender benutzt. Gerhardts Dichtung wird zitiert nach Ebelings Gesamtausgabe von 1666/ 6714 und darüber hinaus nachgewiesen nach CS. Abweichungen davon werden gekennzeichnet. Abschließend sind einige kurze terminologische Klärungen notwendig, da in dieser Arbeit bestimmte Begriffe aus den Quellen in den Haupttext übernommen wurden. In Städten hatte der Propst die oberste Pfarrstelle inne. Er war in der Regel zugleich ‚Inspector‘ bzw. ‚Superintendent‘ (beide Begriffe sind im 17. Jahrhundert zeitgleich gebräuchlich), weisungsbefugt gegenüber anderen Pfarrern15 und besaß die Aufsicht über kleinere Gemeinden und Schulen in der Region. Der nächstranghöchste Pfarrer war der Archidiakon, die folgenden Diakonatsstellen wurden durchnummeriert. Paul Gerhardt hatte somit als zweiter Diakon an der St. Nicolai-Kirche hierarchisch die dritte Pfarrstelle inne. Als ‚Ministerium‘ wird die Gesamtheit aller Pfarrer einer Konfession einer Stadt tituliert, d. h. dass das Berliner bzw. Berlinische Ministerium aus den Pfarrern der St. Nicolai- und der St. Marien-Gemeinde bestand. Die Stellenbesetzung lief nach einem festen Schema ab. Nach einer Vocation (entweder durch den Magistrat oder den Kurfürsten selbst) erfolgte die Probepredigt des Kandidaten, bei Gefallen die Confirmation durch das Geistliche Konsistorium und schließlich die Introduction durch den Inspector. Mit dem Begriff ‚Kirchen‘ sind häufig, bei Gerhardt fast immer, einzelne Gemeinden gemeint.
Die Datumsangabe „3./13. September 1662“ bzw. „3. (13.) September“ beispielsweise terminiert den gemeinten Tag nach dem julianischen Kalender auf den 3. September, nach dem gregorianischen Kalender auf den 13. September 1662. Wird nur ein Datum genannt, so ist in der Regel der julianische Kalender gemeint. Vgl. auch zu Datumsangaben H. Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Hannover 142007. 14 Greifbar in der reprographischen Ausgabe Paul Gerhardt. Geistliche Andachten [1667]. Samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten hg. v. F. Kemp. Mit einem Beitrag von W. Blankenburg, Bern 1975. 15 Vgl. zur Hierarchie innerhalb der Pfarrerschaft H. Werdermann: Pfarrerstand und Pfarramt im Zeitalter der Orthodoxie, JBrKG 23 (1928), 53–133. 13
10
§ 1 Einleitung
Obwohl in den Quellen größtenteils von ‚Parteien‘ die Rede ist, wird in dieser Arbeit parallel auch der Begriff ‚Konfessionen‘ als Gattungsbegriff verwendet. Als Sammelbegriff ist in den Quellen sowohl ‚Protestanten‘ als auch ‚Evangelische‘ gebräuchlich. Bei der Darstellung des Kolloquiums (§ 4) werden die lutherischen und reformierten Geistlichen zusammen als ‚Kollokutoren‘ bezeichnet. Wenn lediglich von ‚Lutheranern‘ oder ‚Reformierten‘ die Rede ist, so sind damit die Kollokutoren ohne das Präsidium gemeint. Das Geistliche Konsistorium war eine Art Kirchenbehörde, die den Kurfürsten in Kirchenfragen beriet, dessen Weisungen ausführte und die Landesgeistlichen beaufsichtigte. Es bestand zur Zeit des Kirchenstreits aus einem Präsidenten sowie aus zwei jeweils konfessionell paritätisch besetzten geistlichen und zwei juristischen Konsistorialräten. Der Geheime Rat war das Beratergremium und die oberste Regierungsbehörde des Kurfürsten. Es beriet unter dem Vorsitz der Obrigkeit oder dessen Vertreter über die wichtigsten Landesangelegenheiten und war weisungsbefugt gegenüber Untertanen. Der Geheime Rat tagte in unterschiedlichen Konstellationen, je nachdem worüber gesprochen wurde und welche Räte anwesend waren. Die Anzahl der gleichzeitig amtierenden Räte wechselte häufig, zudem gab es Unterschiede zwischen Geheimräten, ranghöheren Wirklichen Geheimräten sowie Hof- und Kammergerichtsräten.16
1.3 Quellenlage Die wichtigsten Quellen über den Berliner Kirchenstreit bilden drei umfangreiche Akten, die sich in den Sondersammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Archiv des Grauen Klosters zu Berlin (Streitsche Stiftung), befinden.17 Sie sind Teil des Nachlasses von Martin Lubath18 , der von 1651 bis 1690, d. h. während der gesamten Zeit des Kirchenstreits, Diakon an der Berliner St. Marien-Kirche und somit ein Kollege Gerhardts war. Diese Akten, die in der heutigen Form wahrscheinlich nicht durch Lubath selbst zusammengestellt wurden,19 bieten über die ausführliche Dokumentation des Kol16 Vgl. zu den einzelnen Rängen und Hofämtern P. Bahl: Der Hof des Großen Kurfürsten. Studien zur höheren Amtsträgerschaft in Brandenburg-Preußen (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz. Beiheft 8), Köln / Weimar / Wien 2001, 40–131. 17 Vgl. GKl Archiv XII/90/1–3. 18 Vgl. zu Lubath 3.2.1.2. 19 Der Nachlass Lubaths wurde nach dem Tod seiner Frau Dorothea, geb. Thiele, unter dem Titel „Auctio bibliothecae Lubathianae i.e. librorum a Mart Lubatho relicto-
1.3 Quellenlage
11
loquiums 1662/63 hinaus einen reichhaltigen Einblick in die Arbeit der Brandenburger Lutheraner, im Speziellen der Berliner und Cöllner Pfarrer, eine kurze Geschichte der märkischen Reformation sowie den vollständigen Text des kurfürstlichen Land-Rezesses von 1653.20 Des Weiteren befinden sich in den Akten viele der Forschung bisher unbekannte Voten, Briefe und Konzepte von Gerhardt sowie den weiteren Pfarrern und kurfürstlichen Beamten. Diese Manuskripte, die teils im Original, teils als Abschriften 21 überliefert sind, bilden die wesentliche Grundlage für die hier vorliegende neue, auf den Quellen basierende kritische Rekonstruktion des Berliner Kirchenstreits.22 Eine weitere bedeutende Quelle ist das so genannte ‚Sebaldus-Manuskript‘23 , welches sich in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Haus 1a, befindet. Hierbei handelt es sich rum, habebitur d. 8. Juni 1716 im Berlinischen Witwen-Hause in Novo Foro sito. Berlin 1716“ versteigert. Der Auktionskatalog, der weitere wichtige Hinweise unter anderem zur Entstehung der Akten hätte geben können, ist nicht erhalten geblieben. Da Lubath vor seiner Pfarrerstätigkeit an St. Nicolai Rektor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster war, ist es gut möglich, dass die Nachlassbände 1716 durch Vertreter der Schule erworben wurden. Der Weg und die Zusammenstellung der Folianten kann nicht mehr nachvollzogen werden. In ihrer heutigen Form in weißen Schweinsledereinbänden stammen sie wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert. 20 Vgl. auch P. P. Rohrlach: Die Sammlungen des Grauen Klosters in Berlin, JBLG 12 (1961), 29–36 und Ders.: Die Sondersammlungen der Berliner Stadtbibliothek, ZfB 87 (1973) (405–417), 415: „Der Nachlaß des Theologen Martin Lubath (1621–1690), aus 375 Stücken bestehend, bietet für die Geschichte Berlins unter der Regierung des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640–1688) eine Fülle von wichtigem Quellenstoff“. 21 Lubath weist bei Abschriften in GKl Archiv XII/90/3 wiederholt am Seitenrand darauf hin, dass diese „Copia der Votorum und Erinnerungen der Lic: Reinhards originali“ seien, d. h. dass Elias Sigismund Reinhardt, der damalige Archidiakon an der Berliner St. Nicolai-Kirche, Originale besessen haben muss, die jedoch als verschollen gelten müssen. Weder in Berlin, noch an Reinhardts späterem Wirkungsort Leipzig sind in den Archiven Handschriften von Reinhardt erhalten geblieben. Das Sächsische Hauptstaatsarchiv Dresden besitzt lediglich eine dünne Personalakte über Reinhardt und eine Sammlung verschiedener Kontroversschriften aus dieser Zeit (SächsHStA 10024 Geheimer Rat [Geheimes Archiv], Loc. 7178/25 und Loc. 7226/4). 22 Zum ersten Mal in der Forschung konnte auf der Basis einer Folierung des Nachlasses Lubaths gearbeitet werden, was den Nachvollzug deutlich vereinfacht. 23 „M. Henrich Sebaldi lutherischen Inspectors und Pastors in belitz. Erzählung der Religions-Haendel in der Mark Brandenburg von 1613. biß 1665. die er selbst erlebt hat, mit denen dahin gehörigen vielen Documenten. und sonderlich volständigen Acten des 1662 und 1663 angestellten Colloqvii in Berlin zwischen den Reformirten und Lutherischen Predigern beider Residenzen.“ SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807. Eine Abschrift befindet sich unter dem Titel „Relatio Reformationis Marchicae de ao 1614. auctore M. Henrico Sebaldo“ in FB Gotha Chart. A 280, Bl. 81–246. Das Sebaldus-Mansukript gelangte 1848 in den Besitz der preußischen Staatsbibliothek, nachdem es am 26. September vom Berliner Antiquariat Asher gekauft wurde, vgl. H. Döhn: Handschriften zur Geschichte Berlins und der Mark Brandenburg. Eine Auswahl aus den ‚Manuscripta
12
§ 1 Einleitung
um eine umfangreiche Akte, in der Manuskripte von verschiedenen Händen durch einen unbekannten Kompilator zusammengebunden wurden. Sie beginnt mit dem Bericht „de Reformatione Marchica“, einer kirchengeschichtlichen Darstellung Brandenburgs von der Geburt Johann Sigismunds (1572) bis zum Westfälischen Friedensschluss (1648). Der Autor, wahrscheinlich ein zeitgenössischer brandenburgischer Theologe, lässt sich nicht hinreichend bestimmen. Die Vermutung, die auf der Titelangabe von SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807 beruht und auch zur Bezeichnung der Akte als ‚Sebaldus-Manuskript‘ geführt hat, Heinrich Sebald (1588–1679) 24 sei der Autor gewesen, ist zwar höchstwahrscheinlich zutreffend, lässt sich jedoch auch mit einem Vergleich der Autographen nicht endgültig beweisen.25 Der Nachteil der Akte ist, dass in ihr keine Originale enthalten sind. Den Teil „de Reformatione Marchica“ hat der Autor auf der Basis von Quellen geschrieben, die heute nicht mehr vollständig verifizierbar sind. Den Großteil des Konvoluts machen Ab-
Borussica‘ der Deutschen Staatsbibliothek (Deutsche Staatsbibliothek Handschrifteninventare 11), Berlin 1988, 75. 24 Heinrich Sebald, geboren am 16. September 1588 in Großrodensleben, besuchte zunächst dort, darauf in Magdeburg und Calbe die Schule, studierte ab 1604 in Halle, ab 1607 in Helmstedt und ab 1608 an der Universität Wittenberg Theologie, wo er 1611 seinen Magistertitel erwarb. 1612 sollte er eigentlich Hofprediger in Friedberg werden, doch der Kurfürst sandte ihn nach Beelitz, wo Sebald von 1613 bis zu seinem Tod die erste Pfarrstelle inne hatte und zugleich Inspektor der Kirchenregion war. Er wurde im Krieg mehrfach ausgeplündert und hatte unter schweren Krankheiten zu leiden. 1614 war er in Berlin, um am dortigen Kolloquium teilzunehmen (vgl. 2.3.2). Sebald war ein strenger lutherisch-orthodoxer Lehrer, der bekannt war für seine harte Polemik gegenüber Reformierten und Irenikern. Am 18. Februar 1617 wurde er deswegen vor dem Geheimen Rat verhört, kam jedoch mit einem Verweis davon. Sebald profilierte sich in den kommenden Jahren als Chronist der Region, in der er vor allem profangeschichtliche, aber auch kirchliche Themen bearbeitete. Bekannt wurde er durch sein gedrucktes Werk „Breviarium historicam edidit Henricus Sebaldus“ (Wittenberg 1655). Er starb am 31. Mai 1679. Vgl. zu Sebald die Leichenpredigt „Theure Beylage/aller in Christo Seligverstorbenen und noch Sterbenden [. . .] Bey dem Volckreichen und hochansehnlichen Leich Process Des weyland/WolEhrwürdigen/Vorachtbarn und Wolgelahrten Herrn M. Heinrici Sebaldi [. . .] Welcher am 31. Maji / dieses 1679. Jahres / [. . .] selig entschlaffen / und den 5. Junii / darauff Christlich beerdigt worden/ Von Burchardo Müllero [. . .], Cölln an der Spree [o. J.]“ (GKl PSS 50/35); D. H. Hering: Historische Nachricht von dem ersten Anfang der Evangelisch-Reformirten Kirche in Brandenburg und Preußen unter dem gottseligen Churfürsten Johann Sigismund nebst den drey Bekenntnißschriften dieser Kirche, Halle 1778, 31 f.; K. Kletke: Die Quellenschriftsteller zur Geschichte des Preußischen Staats, nach ihrem Inhalt und Werth dargestellt, Quellenkunde der Geschichte des Preußischen Staats, Berlin 1858, 36; J. Splett: Art. Sebald, Heinrich, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Mark Brandenburg 1640–1713, 440–442. 25 Sebald kommt höchstens als Verfasser der Seiten 1 bis 22 in Frage, danach wechseln die Handschriften häufig.
1.3 Quellenlage
13
schriften derjenigen Manuskripte aus, die in GKl Archiv XII/90/3 teils als Originale, teils ebenfalls bereits als Abschriften enthalten sind. Da davon auszugehen ist, dass Lubath und Sebald sich kannten, ist es gut möglich, dass Lubath Sebald die Dokumente zum Berliner Kirchenstreit zur Abschrift überließ, 26 wofür jener wiederum diesem seine Geschichte „de Reformatione Marchica“ gab. Eindeutig ist zumindest, dass die meisten Teile von GKl Archiv XII/90/3 zwar bereits früher entstanden sind, aber erst später als das Sebaldus-Manuskript kompiliert und in ihrer heutigen Form gebunden wurden. 27 Eine vollständige Abschrift des Sebaldus-Manuskripts für die königlichpreußische Bibliothek befindet sich unter dem Titel „Geschichte der Reformation in der Churmark“ ebenfalls in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Haus 1a.28 Auch Johannes Heinzelmann, desgleichen ein Pfarrkollege Gerhardts in Berlin, hat Sebalds Aufzeichnungen als Grundlage für seine kirchengeschichtliche Darstellung des 17. Jahrhunderts in der Mark Brandenburg genutzt.29 Darüber hinaus finden sich im Geheimen Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem einige Akten und Konvolute30 , die gerade für die Martin Lubaths Vater, Martin Lubath Senior, hatte die Pfarrstelle in Elsholz inne, das wiederum zum Inspektionsbezirk Sebalds gehörte. Sebald war mit insgesamt 66 Amtsjahren der dienstälteste Inspektor der Mark und hatte sich eine gewisse Autorität erworben. Er ließ zur Einführung Lubaths Seniors eine Schrift drucken (Actus Investiturare Elsholtzensis, Das ist: Verrichtete Anweisung / Da auff churfürstlichen Brandenburgischen gnädigen Befehl / der Ehrwürdige und wolgelahrte Er Martinus Lubathus alldar zu einen Pfarrer und Seelsorger ist investiert worden; Zum Druck verfertiget / Durch M. Hinricum Sebaldi. Der Kirchen zu Belitz Pastorn und Inspectorn. Wittenberg 1616), dieser wiederum widmete Sebald später ein Epicedium (ein Gedicht anlässlich eines Sterbefalls). Wenn Sebald von den Aufzeichnungen und Dokumenten des Berliner Diakons Martin Lubath erfahren hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass er sich die Aufzeichnungen ausgeliehen und für seine Darstellung benutzt hat. Bei einem Vergleich des Nachlasses Lubaths mit dem Sebaldus-Manuskript wird deutlich, dass Sebald die Aufzeichnungen Lubaths als Vorlage verwendete. 27 Der Aktenteil „Georg Weinrichs Weigeliani, Schrift mit seiner Censuria“, befindet sich am Schluss des dritten Nachlassbandes von Martin Lubath (GKl Archiv XII/90/3, f. 571r–588r) vor der Abschrift des kurfürstlichen Land-Recess von 1653. Da dieser Teil im Sebaldus-Manuskript ebenso fehlt wie ein sich am Anfang von GKl Archiv XII/90/3 befindlicher Bericht über eine Visitation der theologischen Fakultät in Frankfurt/Oder sowie ein Brief des Frankfurter Theologieprofessors Gregor Franck (1585–1651) an Johann Bergius (vg. zu ihm 2.1.2.3), ist davon auszugehen, dass Sebald GKl Archiv XII/90/3 in einer früheren Form vorlag. 28 Vgl. SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3. 29 Vgl. „Heinzelmann Summarium Historiae Reformatorum, quos se vocant Marchicae. Kurzer Inhalt u. Auszug der Historia von der Reformation zur Calvinisterey in der Mark“, FB Gotha Chart. A 280, Bl. 1–58. 30 Diese befinden sich vor allem in GStA PK I. HA Rep. 2, Rep. 13 und Rep. 47. Vgl. 26
14
§ 1 Einleitung
erste Phase des Kirchenstreits wichtige Quellen bieten, jedoch bereits größtenteils ausgewertet wurden. Aufzeichnungen über das Berliner Kolloquium 1662/63, d. h. die offiziellen Protokolle, die von Seiten des kurfürstlich eingesetzten Präsidiums geführt wurden, sind dort nicht mehr vorhanden. Von Interesse sind vor allem die Manuskripte über die frühen Einigungsversuche mit brandenburgischer Beteiligung, die kurfürstlichen Erlasse, die dem Aufbau eines reformierten Kirchenwesens dienen sollten, die Akten über die reformierten Hofprediger sowie die Dokumente über Gerhardts Remotion. Weitere wichtige Quellen speziell zum Kolloquium 1662/63 bietet der sich in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Haus 1a befindliche Nachlass des Juraprofessors und Schriftstellers Johann Karl Konrad Oelrichs (1722–1799) 31. Darin befinden sich unter anderem Teile der Protokolle der reformierten Kollokutoren sowie diverse Konzepte und offizielle Schreiben.32 Wenige Quellen, die speziell für die dritte Phase des Kirchenstreits Aufschluss über die Verwicklung der Stände geben, befinden sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam. Darüber hinaus bieten die Kirchenbücher im Evangelischen Landeskirchlichen Archiv in Berlin Aufschluss über die pfarramtlichen Aufgaben, welche die Geistlichen an St. Nicolai und St. Marien während der Auseinandersetzungen zu erledigen hatten. In der Forschungsbibliothek Gotha sind vor allem zwei Bände von Interesse, in denen Samuel Lorentz, ebenfalls ein Pfarrkollege Gerhardts an der Berliner St. Nicolai-Kirche, Dokumente zum Berliner Kirchenstreit gesammelt und eine Art Tagebuch geführt hat. Des Weiteren hat er auch Abschriften von Reinhardts Aufzeichnungen anfertigen lassen.
zu den einzelnen Quellen die Anmerkungen in den jeweiligen Paragraphen sowie das Quellenverzeichnis. 31 Johann Karl Konrad Oelrichs wurde 1722 in Berlin als Sohn des reformierten Predigers von Berlin, Friedrich Oelrichs (1687–1732), geboren und besuchte das reformierte Joachimsthalsche Gymnasium. Später hatte er in Stettin für 21 Jahre eine Juraprofessur inne, ehe er 1773 nach Berlin zurückkehrte, wo er sich als Schriftsteller betätigte. Ab 1784 war er kaiserlicher Hof- und Pfalzgraf und Ministerresident des pfalz-zweibrückischen und badischen Hofes. Er starb am 10. Januar 1799. Vgl. G. J. G. v. Bülow: Art. Oelrichs, Johann Carl Conrad, ADB 24 (1886), 318 f. Einen großen Teil seiner umfangreichen Bibliothek hat Oelrichs – damals kein Einzelfall – testamentarisch seiner früheren Schule vermacht. Da die Bibliothek des Gymnasiums gegen Ende des Zweiten Weltkrieges fast vollständig vernichtet wurde, gilt heute der Großteil des Bestandes als verloren oder geraubt. Die erhalten gebliebenen Reste gelangten nach und nach in die Hände der Staatsbibliothek Berlin. Vgl. H. Döhn: Der Nachlaß Johann Karl Konrad Oelrichs (Deutsche Staatsbibliothek Handschrifteninventare 15), Berlin 1990, VII–IX. 32 Vgl. zum speziell zum Kolloquium SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474–476. Heute sind in Nr. 474/7 nur noch die Protokolle der 5. bis 9. und 17. Session erhalten.
1.3 Quellenlage
15
Im Bestand des Landesarchivs Berlin sind schließlich Akten, welche die Rolle des Magistrats innerhalb der Streitigkeiten erhellen. Neben den einzelnen Vokationsschreiben bieten vor allem die Publikenprotokolle interessante Ergebnisse. Von den zeitgenössischen Druckschriften sind hauptsächlich die Leichenpredigten über die am Kirchenstreit beteiligten Geistlichen von großem Interesse,33 darüber hinaus auch diejenigen Gelegenheitsschriften, in denen die konfessionellen Auseinandersetzungen zur Sprache kommen. Darunter fallen vor allem die Responsen ausländischer Magistrate und Fakultäten auf eine Anfrage der Berliner Lutheraner hinsichtlich der kurfürstlichen Kirchenpolitik (vgl. 5.1.3), Stellungnahmen bezüglich der Reversforderung (vgl. 5.1.6), Predigten und Verteidigungsschriften des reformierten Hofpredigers Stosch 34 , diverse Anklage- und Verteidigungsschriften anlässlich der späteren Konversion des Cöllner Propstes Andreas Fromm 35 sowie die kurfürstliche Kirchenpolitik anklagende Schriften seitens lutherisch-orthodoxer Theologen.36 Schließlich bieten die von Christian Otto Mylius gesammelten obrigkeitli chen Erlasse37 sowie die durch Otto Meinardus herausgegeben Protokolle der Sitzungen des Geheimen Rates38 wertvolle Informationen. Insgesamt ist die Quellenlage zum Berliner Kirchenstreit als gut zu bezeichnen. Insbesondere die Dokumentation des Kolloquiums 1662/63 durch die Berliner Lutheraner bietet einen ausführlichen Einblick in Vorbereitung, Ablauf, einzelne Schreiben und Hintergründe der Auseinandersetzungen.39 Ein Wermuttropfen ist vor allem das Fehlen weiterer Quellen reformierter Vgl. dazu im Einzelnen 3.2, 5.3 und das Quellenverzeichnis. Vgl. beispielsweise B. Stosch: Summarischer Bericht von der Maerkischen Reformirten Kirchen Eintraechtigkeit / mit andern in und ausser Deutschland Reformirten Gemeinen. Mit Sr. Churfl. Durchl. Wissen und Genehmhabung auffs kuerzeste abgefaßt / und in Druck gegeben, Cölln an der Spree 1666 und 3.3.5. 35 Vgl. im Einzelnen 5.3.3.4 und das Quellenverzeichnis. 36 Vgl. besonders [F. Gesenius:] Lapis Lydius Sacrarum Scripturarum Per Examen Rectae Rationis Admotus Judicio Quod latum fuit â Collegio Thrologico In Academia Wittebergensi [. . .] Subscriptione Reversus alicujus [. . .], Cölln 1666; [Anonymus:] Vox Oppressorum In Marchia Brandenburgica Supplex. Das ist/ An Se. Churf. Durchleuchtigkeit zu Brandenburg unterthänigste Supplicata Der Märckischen Rein-Lutherischen bedrengten Kirchen/ und demütigst zu übergeben fürgeleget [Greifswald] Anno 1674. 37 Vgl. Mylius: Corpus I und Mylius: Corpus VI/1. 38 Vgl. Meinardus: Protokolle I–V. VII. 39 Die Berliner Lutheraner geben innerhalb der Akten mehrfach Auskunft darüber, warum sie das Kolloquium so genau dokumentierten: „So wollen auch wir hiedurch schrifftlich fur unß, alle unsere nachkommen, und wer sich etwa itziger oder künfftiger Zeit in denen handlungen dieses Colloquii ersehen würde, öffendlich hiemit und verwahrlichst contestiret haben, daß die schult an unserer Verseumung nachläßigkeit oder hinterziehung nicht gelegen, alß die wir in der krafft des geistes Gottes unsere Glaubens grund und rechenschafft ungeschewet darzulegen“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 334r). Die 33
34
16
§ 1 Einleitung
Provenienz. Auch ist die Quellenlage zu den einzelnen Phasen des Berliner Kirchenstreits unterschiedlich. Zur ersten Phase ist teilweise nur wenig Quellenmaterial greifbar. Die dritte Phase wiederum ist nicht zuletzt deswegen gut dokumentiert, da sich die Auseinandersetzungen auf ganz Brandenburg und ausländische Territorien ausweitete. ME. konnte in keiner der bisherigen Forschungsbeiträge auf einer derart breiten Quellenbasis gearbeitet werden.
1.4 Forschungsgeschichtlicher Überblick Die Forschungsliteratur zum Berliner Kirchenstreit wurde im Wesentlichen durch drei Faktoren bestimmt: Zum ersten spielte eine entscheidende Rolle, in welchem Maße die Autoren Quellen benutzt und ausgewertet haben. Zum zweiten waren und sind zum Teil auch die heutigen Darstellungen der konfessionellen Auseinandersetzungen, vor allem aber der Bewertung Gerhardts, davon abhängig, welcher Konfession die Forscher angehören, d. h. inwiefern sie die einzelnen Protagonisten apologetisch oder kritisch bewerten. Zum dritten sind theologische oder politische Verhältnisse der Entstehungszeit von Forschungswerken in die Darstellungen eingetragen und als Maßstab für die Bewertungen genommen worden. Der folgende forschungsgeschichtliche Überblick behandelt jedoch nicht die Frage der Ursachen für bestimmte Urteile über die einzelnen Protagonisten, sondern bietet eine Übersicht über diejenigen wissenschaftlichen Werke, welche sich dezidiert und schwerpunktmäßig mit dem Berliner Kirchenstreit auseinandersetzten. Biographien, in denen der Kirchenstreit in der Regel ohne Quelleneinsicht kurz behandelt wird, werden nicht eigens erwähnt, es sei denn, dass sie in der Forschung eine bemerkenswerte Rolle gespielt haben. Darüber hinaus wird an wenigen Stellen zusammenfassend dargestellt, inwiefern das Thema zu bestimmten Zeiten überhaupt Gegenstand wissenschaftlichen Interesses war. Der Berliner Kirchenstreit wurde bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts thematisiert, stand jedoch erst gegen Ende des Jahrhunderts im Mittelpunkt des Interesses und wurde ausführlich dargestellt und kommentiert. Die ersten nicht zeitgenössischen Erwähnungen der Auseinandersetzungen finden sich als Randnotizen bei biographischen Skizzen anlässlich von Liederausgaben oder im Rahmen hymnologischer Untersuchungen.40 ausführliche Dokumentation ist somit ein anschauliches Beispiel für das Ordnungsstreben des 17. Jahrhunderts. 40 Vgl. beispielsweise T. T. Crenius: Animadversionum Philologicarum et Historicum. Pars III. [. . .], Leiden 1698; J. H. Feustking: Pauli Gerhardi Geistreiche Hauß-
1.4 Forschungsgeschichtlicher Überblick
17
Die erste Darstellung des Berliner Kirchenstreits wurde 1727 in den „Unschuldigen Nachrichten“, der ersten deutschsprachigen theologischen Fachzeitschrift und dem baldigen Zentralorgan der lutherischen Orthodoxie,41 abgedruckt. Autor der mit einigen falschen Behauptungen gespickten Darstellung42 ist der Helbigsdorfer lutherische Pfarrer Johann Friedrich Gauhe (1681–1755). Er stellt den Kirchenstreit in einen Zusammenhang mit anderen irenischen Bemühungen des Jahrhunderts. Auf Grund vieler Details ist anzunehmen, dass Gauhe Quellen eingesehen hat, die er jedoch nicht nennt. Er charakterisiert die Protagonisten mit zum Teil polemisierenden Wertungen, die sich größtenteils gegen irenische Motive richteten. Die erste bedeutende wissenschaftliche Untersuchung der geistlichen Landschaft der Doppelstadt Berlin/Cölln im 17. Jahrhundert legte der lutherische Berliner Lehrer und Historiker Georg Gottfried Küster (1695–1776) in seinem epochalen Werk „Berlinische Chronik. Das ist: Vollständige Nachricht von der Stadt Berlin. Altes und Neues Berlin“43 vor. Anhand der für die daund Kirchen-Lieder Zur Ubung und Gebrauch Des singenden Gottesdienstes vormahls zum Druck befördert [. . .], Zerbst 1707 (21717, 31723); J. M. Schamel: Evangelischer Lieder-Commentarius, Darinnen Vornemlich die alten Kirchen- und Kern-Lieder des sel. Lutheri und anderer Theologen mit nothwendigen beydes Lieder-Historie [. . .] Dem ist angefügt Der Abdruck des allerersten Gesang-Buchs Lutheri: Ingleichen Eine kurtz gefasste doch gründliche Hymnopoeographie und Beschreibung der geistlichen LiederDichter, nebst einer bequemen Harmonie der Lieder-Melodeyen. Andere vermehrte und verbesserte Auflage [. . .], Leipzig 1737 (11724); G. Wimmer: Paul Gerhards [. . .] DanckLied [. . .] Solt ich meinem Gott nicht singen? Wobey Von des seel. Autoris Leben und Amte eines und das andere, so bißher nicht recht bekannt gewesen, kürtzlich angeführet [. . .], Altenburg o.J. [1723]. Bemerkenswert ist, dass sich in G. Arnolds „Unparteyische[r] Kirchen- und Ketzer-Historie, von Anfang des neuen Testaments biß auff das Jahr Christi 1688, 2 Bde., Frankfurt am Mayn 1699“ keine Erwähnung des Berliner Kirchenstreits findet. 41 Vgl. zur Geschichte, der Konzeption und den Mitarbeitern der Zeitschrift F. Blanckmeister: Der Prophet von Kursachsen. Valentin Ernst Löscher und seine Zeit, Dresden 1926, 167–175; T. Wotschke: Niedersächsische Mitarbeiter an den „Unschuldigen Nachrichten“, ZGNKG 31 (1926), 73–112; M. Greschat: Zwischen Tradition und Neuanfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie (UKG 5), Witten 1971, 180–189; M. Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts (VMPIG 129), Göttingen 1997, 400–413. 42 „Kurtz gefaßte Historie des a. 1661 zu Cassel zwischen den Evangelisch Luth. Theolog. zu Rinteln und den Reform. Theolog. zu Marburg gehaltenen colloquii, und der dadurch gestiffteten Union, und wass darauf in der Marck brandenburg, und insonderheit zu Berlin wegen der von den Evang. Luth. Predigern verweigerten Unterlassung des Lehr-Elenchi, Exorcismi &c. vorgegangen“, UnNachr 1727, 1069–1085. 43 Den ersten Teil gab Küster 1737 in Berlin noch gemeinsam mit dem Berliner Kammergerichtsadvokaten J. C. Müller heraus. Nach Müllers Tod führte Küster die Herausgabe der übrigen Bände (Fortgesetztes Altes und Neues Berlin. Zweiter Theil, Berlin
18
§ 1 Einleitung
maligen Verhältnisse ausführlichen biographischen Informationen über die Geistlichen44 ist der Kirchenstreit in Grundzügen nachvollziehbar. Doch auch Küster spart nicht an prolutherischen Urteilen und erwähnt die reformierten Geistlichen nur am Rande. Auf welchen Quellen neben den einzeln erwähnten Druckschriften des 17. Jahrhunderts Küsters Darstellung beruht, lässt sich nicht nachvollziehen. Bis heute ist sie jedoch ein unverzichtbares Hilfsmittel zur Erforschung der Doppelstadt im 17. Jahrhundert geblieben. Die erste bedeutende und zusammenhängende Darstellung der konfessionellen Auseinandersetzungen stammt von dem reformierten Lehrer, Oberkonsistorialrat und Breslauer Hofprediger Daniel Heinrich Hering (1722– 1807). Er schrieb die bis heute wichtige Darstellung der Geschichte der reformierten Kirche in Brandenburg und Preußen, die in fünf Bänden zwischen 1778 und 1787 erschien. Herings Werk „Neue Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Reformirten Kirche in den Preußisch-Brandenburgischen Ländern. Zweeter Theil, Berlin 1787“ behandelt den Kirchenstreit ausführlich und stellt mE. auch gegenwärtig noch eine der lesenswertesten Darstellungen des Kolloquiums dar. Hering benutzte als Grundlage seiner Darstellung die Abschrift des Sebaldus-Manuskripts45 , den Nachlass Lubath kannte er jedoch wohl nicht. Trotz hoher Akribie und größtenteils sorgfältiger Auswertung der Literatur, vor allem der Quellenabdrucke in den Unschuldigen Nachrichten und deren Nachfolgeorganen, haftet Herings Darstellung der Makel einer oftmals deutlich proreformierten Sichtweise an, die sich in einigen Lücken und pauschalisierenden Bewertungen niederschlägt. 46 1752; Des Alten und Neuen Berlin Dritte Abtheilung, Berlin 1756; Des Alten und Neuen Berlin Vierdte Abtheilung, Berlin 1769) alleine fort. 44 Lubaths Lebenslauf (GKl Archiv XII/90/1, f. 10r) drucken Müller / Küster mit einigen unbedeutenden Unterschieden bereits 1752 ab. Doch dass sie die Akten gekannt haben, ist auf Grund der weiteren Paragraphen und spärlichen Nachrichten über die lutherischen Pfarrer so gut wie auszuschließen. 45 Wie eine von Hering selbst verfasste Notiz auf der Vorderseite von SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3 belegt, hatte er das Manuskript am 5. April 1753 aus der Bibliothek des Feldpropstes Johann Kaspar Carstedt (1684–1752) erworben („ex bibliotheca Jo. Casp. Carstedt, Praep. Castr., emtionis iure meam feci hanc collectionem, Berolini 1753. d. 5. Apr. Dan. Henr. Hering, Stolpa-Pomeranus.“). Da Hering auf der folgenden Seite einen handschriftlichen Lebenslauf Sebalds bietet, ist anzunehmen, dass Hering das Manuskript erstmalig Sebald zugeordnet hat, da es wahrscheinlich zuvor kein Deckblatt und somit auch keine Autorenangabe hatte. 46 Vgl. beispielsweise Herings Zwischenfazit: Die Lutheraner hatten „nicht die geringste Neigung [. . .], mit den Reformierten einen Frieden einzugehen [. . .]. Sie suchten daher durch eine sehr auffallende Langsamkeit, und eine Menge weitlaeuftiger Schriften, den andern Theil zu ermueden, ihn zur Ungeduld zu reizen, und die ganze Sache zu verwirren. Auf solche Weise konnte nichts Gutes bewirket werden. Den reformirten Theologen kann, wenn man unparteiisch urtheilet, wohl nichts Besonderes zur Last geleget werden“ (Neue Beiträge II, 158).
1.4 Forschungsgeschichtlicher Überblick
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In den folgenden Jahrzehnten findet sich ein bemerkenswertes Schweigen über den Berliner Kirchenstreit, das sich auch auf Überblicksdarstellungen erstreckt.47 Eines der wichtigsten Werke in der Erforschung des Berliner Kirchenstreits, welches zu Unrecht heutzutage größtenteils in Vergessenheit geraten ist, stellt das 1829 erschienene Buch „Paul Gerhardt. Nach seinem Leben und Wirken aus zum Theil ungedruckten Nachrichten hergestellt, Lübben 1829 (21832)“ dar. Autor ist der Lübbener Gemeindepfarrer, spätere Superintendent und Cösliner Konsistorialrat Ernst Gottlob Roth (1797–?[nach 1838]). Er bietet erstmals einen Abdruck vieler wichtiger Quellen und fokussiert den Kirchenstreit auf Gerhardt. Abgesehen von einigen kleineren inhaltlichen Fehlern und Mängeln in der biographischen Darstellung stellt dieses Buch den erstmaligen Versuch dar, die Geschehnisse möglichst vorurteilsfrei zu rekonstruieren. Roths vage Quellenangaben sind jedoch kaum verifizierbar. Der preußische Offizier und Historiker Leopold von Orlich (1804–1860) greift in seiner Darstellung der Streitigkeiten innerhalb der „Geschichte des Preußischen Staates im siebzehnten Jahrhundert; mit besonderer Beziehung auf das Leben Friedrich Wilhelm’s des Großen Kurfürsten. Zweiter Theil, Berlin 1839“ auf die Abschrift des Sebaldus-Manuskripts sowie Roth und Müller / Küster zurück. Dadurch kommt Orlich zu einer genauen Darstellung des Berliner Kirchenstreits, wobei jedoch gerade der Abschnitt über das Kolloquium (461–484) sehr kurz und stark wertend zu Gunsten der kurfürstlichen Maßnahmen gestaltet ist. Ein weiteres Manko dieser Darstellung liegt 47 Beispielhaft dafür ist die „Geschichte der protestantischen Theologie von der Konkordienformel an bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, Göttingen 1831“ des lutherischen Göttinger Kirchenhistorikers G. J. Planck (1751–1833). Er stellt den Zeitraum als eine Geschichte der Rezeption und des Streites um die FC dar und will damit ihren normativen Wahrheitsanspruch historisieren und somit relativieren. Er legte insofern eine typische neologische bzw. pragmatische Darstellung vor. Planck bietet eine ‚logische‘ Darstellung der synkretistischen Streitigkeiten, wobei er nur aus seiner Sicht gelungene irenische Bemühungen näher betrachtet, vermeintlich ergebnislose Bemühungen, wie das Berliner Kolloquium, nur kurz erwähnt. Die „Allgemeine Geschichte der christlichen Kirche nach der Zeitfolge“ des Helmstedter Professors H. P. K. Henke (1752–1809), behandelte den Kirchenstreit nur kurz (Vierter Theil, Braunschweig 1806, bes. 279–282), bietet aber einen guten Überblick über die wichtigste zeitgenössische Literatur. Ähnliches gilt für die „Geschichte der kirchlichen Unionsversuche seit der Reformation bis auf unsere Zeit“ (bes. Zweiter Band, Leipzig 1838, 157–162.) des Großenhainer Superintendenten C. W. Hering (1790–1871). Eine der wenigen dezidiert reformierten Forschungsbeiträge des 19. Jahrhunderts stammt vom Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, A. Schweizer (1808–1888). In seinem beutenden Werk „Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der Reformierten Kirche. Zweite Hälfte. Das 17. und 18. Jahrhundert, Zürich 1856“ weist er zwar kurz auf den Berliner Kirchenstreit hin, erwähnt jedoch das Kolloquium 1662/63 und Paul Gerhardt nicht.
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§ 1 Einleitung
in ihrer fehlenden chronologischen Anordnung der Ereignisse, die zu einer Verwirrung führt, welche auch die systematische Ordnung kaum wett zu machen vermag. Die drei bisher wichtigsten Arbeiten zu Gerhardt sind von Autoren verfasst, die durch die Erweckungsbewegung geprägt wurden.48 Zwei epochale Darstellungen sind nur wenige Monate hintereinander erschienen und bilden bis heute, abgesehen von einer unten erwähnten Biographie, die bis heute wichtigsten Forschungsbeiträge zu Gerhardts Leben und theologischem Verständnis. Beide legen ihren Schwerpunkt auf den Berliner Kirchenstreit und bieten erstmalig ausführliches Quellenmaterial. Das erste Werk stammt vom Berliner Tuchmacher und späteren Kammerdiener sowie Staatssekretär am Berliner Hof Emmanuel Christian Gottlieb Langbecker (1792–1844). Langbeckers Publikation mit dem Titel „Leben und Lieder von Paulus Gerhardt, Berlin 1841“ besteht aus zwei Teilen: Der zweite Teil bietet einen Abdruck von Ebelings Gesamtausgabe Gerhardtscher Lieder von 1666/67, der erste Teil ist eine Biographie Gerhardts, bei dem der ausdrückliche Schwerpunkt auf den Berliner Kirchenstreit gelegt wird. Langbecker bietet die bisher größte Breite an Abdrucken von Voten Gerhardts und darüber hinaus viele Briefe und obrigkeitliche Verlautbarungen. In Langbeckers Darstellung ist jedoch durch die Fixierung auf Gerhardt der Verlauf des Kirchenstreits vor und nach dessen Wirken sehr knapp ausgefallen. Zudem wird dieser oftmals heroisch dargestellt und werden die Reformierten einseitig negativ beurteilt. Zu seinen Quellen äußert sich Langbecker nicht; er bietet jedoch keine Texte, die nicht in den heute bekannten Quellen nachgewiesen werden können. In der Regel in einem Atemzug mit Langbecker genannt wird das nahezu zeitgleich, aber unabhängig davon entstandene Werk „Paul Gerhardts Geistliche Andachten in hundert und zwanzig Liedern. Nach der ersten durch Johann Georg Ebeling besorgten Ausgabe mit Anmerkungen, einer geschichtlichen Einleitung und Urkunden, Berlin 1842 (21869)“ vom Lutheraner und königlichen Schulrat der Provinz Brandenburg, (Johann) Otto (Leopold) Schulz (1782–1849) 49. Schulz ist stärker als Langbecker auf eine Darstellung des gesamten Kirchenstreits bedacht, terminiert ihn weiter, fokussiert ihn nicht so stark wie Langbecker auf Gerhardt und beurteilt die kurfürstlichen Maßnahmen weniger kritisch als Langbecker. Da Schulz seine Quellen als Anhang an den Schluss des biographischen Teils stellt, ist sein Werk über48 Gerhardt wurde im 19. Jahrhundert besonders von der Erweckungsbewegung wiederentdeckt und hoch geschätzt. 49 Johann Otto Leopold Schulz und Otto Schulz waren nicht, wie bisweilen zu lesen ist, zwei, sondern ein und dieselbe Person, vgl. J. Richter: Otto Schulz. Ein Denkmal für Seine Nachkommen und Seine Freunde, Berlin 1855; J. Heidemann: Geschichte des Grauen Klosters zu Berlin, Berlin 1874, 280.
1.4 Forschungsgeschichtlicher Überblick
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sichtlicher. Viele der von Schulz gebotenen Quellen sind auch schon bei Langbecker zu finden, die Lesarten weichen jedoch zum Teil voneinander ab. Darüber hinaus ediert Schulz erstmalig einige kurfürstliche Erlasse. Er bietet abschließend ausführliche Quellenangaben, wobei lediglich die von ihm als „Acta Liliana“ bezeichneten Quellen nicht mehr nachzuweisen sind. 50 Langbecker und Schulz blieben die dominierenden Forschungsleistungen. Dies führte dazu, dass sich der Pritzwalker Schriftsteller und Weisenhausinspektor Rudolf Eckart (1861–1922) 1909 veranlasst sieht, einen Neudruck aller bei Langbecker und Schulz gegebenen Quellen zum Leben Gerhardts herauszugeben, wobei er bei unterschiedlichen Lesarten in der Regel Schulz folgt.51 Ende des 19. Jahrhunderts publizierte der Direktor der Berliner Missionsgesellschaft und erweckungsbewegte Theologe Hermann Theodor Wangemann (1818–1894) ein Buch aus Dankbarkeit für die Verleihung eines Ehrendoktortitels durch die Universität Greifswald 1883.52 Seine tendenziell prolutherische Geschichtsschreibung ist nicht als eigenständige Forschungsleistung anzuerkennen, da sie ohne Quelleneinsicht auskommt und fast ausschließlich die Werke von Langbecker und Schulz paraphrasiert. Der nächste wichtige Forschungsbeitrag stammt von dem Berliner Altphilologen Hugo Landwehr (1859–1894).53 Er bietet eine gut strukturierte und wohlfundierte Darstellung der Auseinandersetzungen, beurteilt aber die Maßnahmen des Kurfürsten mE. nicht hinreichend kritisch. Landwehr benutzte zur Darstellung des Kolloquiums hauptsächlich die Manuskripte aus dem Nachlaß Oelrichs sowie bis auf Roth alle bisher genannten Forschungsbeiträge. Des Weiteren wusste er von der Existenz von Lubaths Nachlass, sah ihn aber nicht ein. Im zwanzigsten Jahrhundert folgten weitere wichtige Erscheinungen zu Gerhardt, jedoch zunächst nur wenige neue Erkenntnisse zum Berliner Kir50 Schulz bietet die Quellen auf XCII–XCIV. Die unter Punkt 1. verzeichneten Akten liegen heute in GStA PK, unter 2. sind SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807 und fol. 3 gemeint, bei den unter 4. genannten „Acta irenica“ handelt es sich höchstwahrscheinlich um GKl Archiv XII/90/2, die unter 5. genannten Magistrats-Akten befinden sich heute im LAB, die in 6. angedeuteten Schriften liegen in der SBB-PK. Unverständlich ist, warum Schulz, der auch zeitweise Lehrer am Gymnasium zum Grauen Kloster war, nicht auch die Akten GKl Archiv XII/90/1 und 3 benutzte. Entweder wusste er nicht von ihrer Existenz oder die Akten waren damals noch nicht in der Schulbibliothek untergebracht. 51 Vgl. R. Eckart: Paul Gerhardt. Urkunden und Aktenstücke zu seinem Leben und Kämpfen, Glückstadt o.J. [1909]. 52 H. T. Wangemann: Johan Sigismundt und Paulus Gerhardt oder Der erste Kampf der lutherischen Kirche in Churbrandenburg um ihre Existenz, Berlin 1884. 53 H. Landwehr: Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten. Auf Grund archivalischer Quellen, Berlin 1894 (zum Kirchenstreit 177–230).
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§ 1 Einleitung
chenstreit. Das Jubiläumsjahr 1907 brachte neben einer Fülle an populärwissenschaftlichen Neuerscheinungen, die jedoch den Kirchenstreit zumeist nur am Rande thematisieren,54 nur wenige wissenschaftlich anspruchsvolle Forschungsbeiträge hervor.55 Eine positive Ausnahme bildet die Biographie von Hermann (Friedrich Martin) Petrich (1845–1933), Schriftsteller, Oberpfarrer und Superintendent in Gartz/Oder, theologisch durch Albrecht Ritschl und wie Langbecker und Wangemann durch die Erweckungsbewegung geprägt. Im Jubiläumsjahr publizierte er die erste Fassung und wenig später die zweite Fassung seiner Biographie über Gerhardt.56 Da Petrich zunehmend neue Quellen erschließen konnte, veröffentlichte er 1914 eine grundlegende Überarbeitung und Erweiterung. Das Werk mit dem Titel „Paul Gerhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Auf Grund neuer Forschungen und Entdeckungen, Gütersloh 1914“ stellt bis heute die umfassendste, wichtigste und in ihrer breiten Quellenbenutzung und Nachvollziehbarkeit verlässlichste Biographie
Die meisten kurzen biographischen Skizzen dienten nicht der Darstellung neuer Erkenntnisse, sondern der Erbauung. Sie waren geradezu Muster protestantischer Hagiographie, in denen Gerhardt als sittlich und religiös vorbildhaft dargestellt wurde. Die Autoren sahen den Kirchenstreit zwar oftmals als Lebenshöhepunkt an, stellten ihn jedoch ohne kritische Würdigung und stark verkürzend dar. Bedingt durch die zeitgeschichtlichen Umstände der Abfassung der Schriften (Entstehung vieler unierter Kirchen und innenpolitische Stärkung des Kaisertums) wurde Gerhardt als bekenntnis treuer Lutheraner dargestellt, ohne dass jedoch die Reformierten zu stark geschmälert oder der Kurfürst kritisiert wurden. Vgl. zu den biographischen Schriften des Jahres 1907 M. Fischer: „Er ist gestorben und lebet noch“. Die Paul-Gerhardt-Schriften des Jahres 1907 als Beispiele evangelischer Hagiographie. Anhang: Schriften zum Paul-Gerhardt-Jahr 1907, Freiburg 2008. Online-Publikation: www.freidok.uni-freiburg.de/ volltexte/5558. 55 Drei bedeutende Schriften des Jubiläumsjahres sind die Biographie des Baseler Kirchengeschichtsprofessors P. Wernle (1872–1939): Paulus Gerhardt, RV 4. Ser. 2, Tübingen 1907. Er stellt den Kirchenstreit im Verhältnis zum sonstigen Leben Gerhardts außergewöhnlich breit dar und beurteilt nicht nur die Theologie des 17. Jahrhunderts, sondern auch Gerhardt zutiefst kritisch, nennt jedoch keine Quellen. Ebenfalls keine Quellen nennt der Hattinger Pfarrer E. Kochs (1868–1954), dessen Gerhardt-Darstellung (Paul Gerhardt. Sein Leben und seine Lieder, Leipzig 1907) zu den meistverkauften Büchern des Jahres gehörte. In seiner Gerhardt tendenziell unhistorisch heroisierenden Darstellung bietet Kochs erstmals zwei Faksimile von Gerhardts Schriften zum Kirchenstreit. Bedeutsam wurde 1907 darüber hinaus die Darstellung vom Rektor der Breslauer Universität und Vorsitzenden des Vereins für Reformationsgeschichte G. Kawerau (1847–1918), der sich jedoch hauptsächlich auf Langbecker beruft und keinen neuen Erkenntnisse bietet. 56 H. Petrich: Paul Gerhardt, seine Lieder und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung und der christlichen Kirche. Auf Grund neuer Forschungen und Entdeckungen, Gütersloh 1907 („Vermehrte und verbesserte Auflage“ 21907). 54
1.4 Forschungsgeschichtlicher Überblick
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dar.57 Doch auch Petrich vermag einige biographische Lücken nicht zu schließen. Es ist auf Grund des durchgängigen Bemühens, jeden Lebensabschnitt mit allen zur Verfügung stehenden Quellen darzustellen, nicht aber auf Grund der bereits oben dargestellten historischen Entstehungssituation des Buches, verwunderlich, dass Petrich dem Kirchenstreit verhältnismäßig wenig Raum einräumt.58 Als ein Abschnitt der synkretistischen Streitigkeiten verstanden, rückten der Berliner Kirchenstreit und mit ihm das Kolloquium in den folgenden Jahren auch in Artikeln und Überblicksdarstellungen wieder stärker in den Fokus, ohne dass jedoch grundlegende neue Erkenntnisse oder Quellenbenutzungen gewonnen werden konnten.59 1934 legte (Karl Friedrich) Robert Daenicke (1888–1942) neue Quellen zu Gerhardts Amtszeit in Lübben, vor allem zu seiner Berufung dorthin und somit zum Ende des Kirchenstreits für Gerhardt vor. 60 Danach blieben bedeutende Forschungsbeiträge, die neue Erkenntnisse hervorbrachten, für mehrere Jahre Mangelware, woran auch das 300. Todesjahr Gerhardts 1976 kaum etwas änderte. Tendenziell wurde in der Bewertung mit wenigen Ausnahmen Gerhardts Verhalten allmählich kritischer gesehen als in früheren Jahrhunderten und die irenischen Bemühungen des Kurfürsten zunehmend gelobt. 1984 edierten die damalige Mitarbeiterin am Landesarchiv Berlin, Angelika Menne-Haritz (geb. 1949), und der Mittenwalder Pfarrer Arnold Niemann (geb. 1924) einige Eintragungen in das Protokollbuch des Berliner Magistrats und stellten somit der Forschung weitere wichtige Quellen zur Verfügung. 61 Als letzte bedeutende Darstellung des Kirchenstreits ist die ungedruckt gebliebene und daher schwer greifbare Dissertation des Berliner Theologen und 57 Der hymnologische Teil, der sich mit Gerhardt als Dichter und dessen Dichtungen beschäftigt, hat hingegen mE. zu Recht Kritik erfahren, vgl. dazu L. Foss: Paul Gerhardt. Eine hymnologisch-komparative Studie, aus dem Dänischen übersetzt von M. Wesemann, Kopenhagen 1995, 22–42. 58 Das Kolloquium beispielsweise wird lediglich auf zwei Seiten (139 f.) behandelt. 59 Vgl. beispielsweise P. Tschackert: Art. Synkretistische Streitigkeiten, RE3 19 (1907), 243–262 oder die Werke von H. Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924; Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie. I. Bd. Der Kampf um die Herrschaft im protestantischen Deutschland, Leipzig 1928, in denen die Irenik seitens der Reformierten und des Kurfürsten scharf kritisiert wird. 60 R. Daenicke: Paul Gerhardts Berufung nach Lübben und seine dortige Amtszeit, Niederlausitzer Mitteilungen. Zeitschrift der Niederlausitzer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde XXII (1934), 244–271. 61 A. Menne-Haritz / A. Niemann: Paul Gerhardt und die lutherische Opposition in Berlin. Edition einiger Eintragungen Im Protokollbuch des Rates der Stadt Berlin, JBLG 35 (1984), 63–92.
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§ 1 Einleitung
damaligen Direktors des Wittenberger Lutherhauses, Hans-Joachim Beeskow (geb. 1946), zu nennen. Ihm kommt mit seiner Arbeit „Brandenburgische Kirchenpolitik und -geschichte des 17. Jahrhunderts – ein Beitrag zur PaulGerhardt-Forschung“ (2 Bde., Diss. masch., Berlin [Ost] 1985) das große Verdienst zu, die lutherischen Protokolle des Kolloquiums erstmals ausgewertet, viele Schriften der Kollokutoren (jedoch mit einigen Fehlern und stillschweigenden Korrekturen) ediert und somit der Forschung neue Quellen bereitgestellt zu haben. Beeskow hat jedoch kaum weitere Archivalien eingebaut. Seine Darstellung ist zudem größtenteils ideengeschichtlich geleitet; er beurteilt Gerhardt aus einem modernen Toleranzverständnis heraus zutiefst kritisch. Auch seine sonstigen Werturteile tendieren zu einem unhistorischen Vergleich mit der heutigen Lebenswelt. 62 Nach Beeskow gab es lange Zeit keine bedeutende Beschäftigung mehr mit dem Berliner Kirchenstreit. 63Auch im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr 2007 kamen keine Forschungsarbeiten heraus, in denen auf Grund erschlossener Archivalien neue Erkenntnisse gewonnen werden konnten. 64 Vgl. zur Kritik an Beeskow auch die entsprechenden Bemerkungen in § 4. Trotz aller auch dort geäußerten kritischen Anmerkungen bleibt Beeskows Dissertation eine bemerkenswerte Fleißarbeit, der in ihrer editorischen Breite nur Schulz und Langbecker an die Seite gestellt werden können. 63 Bei den kleineren Beiträgen sind zu erwähnen der Aufsatz des Berliner Kirchengeschichtsprofessors W. Dreß (1904–1979): Warum mußte Paul Gerhardt Berlin verlassen?, in: Ders.: Evangelisches Erbe und Weltoffenheit, Gesammelte Aufsätze, hg. v. W. Sommer, Berlin 1980, 177–186, der die Maßnahmen des Kurfürsten als „rücksichtslo- se[ ] Gewalt“ (183), deren Ziel allein die „Vernichtung des Luthertums“ (185) gewesen sei, charakterisiert. Dreß vergleicht ähnlich wie vor ihm G. Schlichting: Paul Gerhardt im Berliner Kirchenkampf, ThBeitr 7 (1976), 252–264, den Kirchenstreit mit dem Kirchenkampf während des Nationalsozialismus. Die Dissertation des französischen Katholiken A. Bideau, „Paul Gerhardt (1607–1676). Pasteur et poète“ (Bern 2003), widmet sich zwar nur kurz dem Berliner Kirchenstreit, bietet aber erstmalig eine Auflistung aller bis dato bekannten Voten und Briefe Gerhardts (118–121). Die umfangreichste Biographie seit Petrich ist „Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung“ (Berlin 1993. Neubearbeitung Göttingen 2006) des Berliner Theologen und Hymnologen C. Bunners (geb. 1934). Er behandelt zwar detailreich den Berliner Kirchenstreit, äußert sich jedoch nicht zu den Quellen und differenziert nicht zwischen belegbaren Tatsachen und Vermutungen. Zudem sind die am Potsdamer Institut für Germanistik entstandenen „BioBibliographien. Brandenburgische Gelehrte der Frühen Neuzeit“ (4 Bde., Berlin 1997– 2009) von L. Noack / J. Splett zu nennen, da die Artikel zu den einzelnen Protagonisten des Berliner Kirchenstreits wertvolle biographische und bibliographische Informa- tionen bieten. Einzelne Aussagen zu verschiedenen Sessionen müssen jedoch auf Grund der hier vorliegenden Studie als überholt gelten. 64 Erwähnt werden müssen trotzdem die Aufsätze des Münsteraner Kirchengeschichtsprofessors A. Beutel (geb. 1957) „Kirchenordnung und Gewissenszwang. Paul Gerhardt im Berliner Kirchenstreit, in: Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 84–100“ und „Paul Gerhardt und der 62
1.4 Forschungsgeschichtlicher Überblick
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Der letzte Forschungsbeitrag, der sich dezidiert mit dem Kirchenstreit auseinandersetzt, ist „Paul Gerhardt ohne Legende. Untersuchungen zum gesellschaftlichen Umfeld Paul Gerhardts“ (Göttingen 2009) von Arnold Niemann. Da er trotz seines Anspruchs keine Quellen eingesehen hat und seine Darstellung hauptsächlich auf Hering und Langbecker zurückgreift, kann der Abschnitt über den Kirchenstreit nicht als weiterführende Forschungsleistung angesehen werden. 65 Der forschungsgeschichtliche Überblick zeigt, dass neben Hering, Roth, Langbecker, Schulz und Beeskow keine neuen wichtigen Erkenntnisse über den Kirchenstreit gewonnen werden konnten. Die meisten Forscher haben zudem nur selten mehrere Quellen für ihre Darstellungen benutzt. Insgesamt ergibt sich für die Erforschung des Berliner Kirchenstreits ein Bild, nach dem die Beurteilung von Gerhardts Verhalten wesentlich wichtiger angesehen wurde als die Darstellung der tatsächlichen historischen Begebenheiten. So ist es im Laufe der Forschung zu vielen Fehlern in der historischen Darstellung und zu nicht belegbaren oder ungerechten Bewertungen gekommen. Daher ergibt sich als Aufgabe für die hier vorliegende Studie eine möglichst genaue historische Darstellung des Kirchenstreits, die möglichst vorurteilsfrei und ausschließlich an Hand der kritischen Analyse aller bisher bekannten und neu aufgefundenen Quellen erfolgen soll. Gerade Letztere sind es, die der Kirchengeschichtsschreibung implizit die Aufgabe der Wahrnehmung, Nachzeichnung, Interpretation und somit einer neuen kritischen Rekonstruktion des Berliner Kirchenstreits stellen.
Große Kurfürst, in: Wendebourg: Paul Gerhardt, 159–173“ (vgl. zu diesem Sammelband J. M. Ruschke: Rezension zu: D. Wendebourg: Paul Gerhardt – Dichtung, Theologie, Musik, ThLZ 134 [2009], 841–843.). Sie bieten seit langer Zeit erstmalig wieder eine Darstellung ohne legendarische Auffüllung der Forschungslücken, indem klar zwischen Belegbarem und Hypothesen getrennt wird und Anstöße für weitere quellengestützte Forschungen gegeben werden. 65 Abgesehen von einigen sachlichen Fehlern werden besonders die einseitig prolutherische Darstellung, die vielen absoluten Urteile und die Parallelisierung der Auseinandersetzung mit dem Kirchenkampf zur Zeit des Nationalsozialismus nicht mit Zustimmung rechnen dürfen. Vgl. zur Kritik an Niemanns Buch J. M. Ruschke: Rezension zu: Niemann, Arnold: Paul Gerhardt ohne Legende, ThLZ 135 (2010), 857–859.
§ 2 Ursachen und Hintergründe der innerprotestantischen Kontroverse in Brandenburg Die kirchliche und politische Situation Brandenburgs im 16. und 17. Jahrhundert, die den Rahmen und Hintergrund für die konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Reformierten bildete, unterschied sich grundlegend von derjenigen in Gerhardts Heimatland Kursachsen. Dieser Paragraph erläutert in knapper Form die für die innerprotestantische Kontroverse in Brandenburg relevanten historischen Ursachen und Hintergründe. Im ersten Teil wird die kirchengeschichtliche und zum Teil politische Entwicklung des Landes von den Anfängen der reformatorischen Bewegung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts überblicksartig dargestellt. Der zweite Teil widmet sich eingehender der entscheidenden kirchenpolitischen Wendung zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Der dritte Teil fragt nach den für den Brandenburger Konflikt wichtigen konfessionsspezifischen Charakteristika. Im vier ten Teil werden Verläufe und Ergebnisse von Religionsgesprächen mit brandenburgischer Beteiligung bündig nachgezeichnet und im fünften Teil die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst sowie weiterführende Fragestellungen aufgezeigt.
2.1 Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Landes seit dem Beginn der Reformation Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Kurfürstentums Brandenburg wurde wesentlich durch die Landesherren und die Reformation bestimmt. Die Bedeutung der Hohenzollern liegt darin, dass sie das weite, trostlose und vielerorts unfruchtbare Gebiet Brandenburg nach und nach zu einem der wichtigsten Territorien des deutschen Reiches machten. Auch in der Kirchenpolitik führten die meisten Landesherren ihre Untertanen mit starker Hand. Bis zum Beginn des Berliner Kirchenstreits wurden kirchengeschichtlich zwei
Vgl. C. Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 62007, 21–27.
2.1 Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Landes
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Ereignisse bedeutsam: die lutherische Konfessionalisierung Brandenburgs infolge der Reformation und die Annährung an den reformierten Glauben.
2.1.1 Die lutherische Konfessionalisierung Brandenburgs Vor allem durch Wanderprediger und ehemalige Wittenberger Studenten breiteten sich seit 1520 in Brandenburg reformatorische Ideen aus. Kurfürst Joachim I. Nestor (1484/99–1535), ein Bruder des ranghöchsten geistlichen Würdenträgers, Erzkanzlers des Reiches und späteren bedeutenden Gegenspielers Luthers, Albrecht von Brandenburg (1490–1545), hat zeitlebens versucht, dies mit allen Mitteln zu verhindern. Joachim I. hatte kurz vor seinem Tod seine Söhne, auf die er entgegen des Erbfolgegesetzes von 1473 das Kurfürstentum aufgeteilt hatte, testamentarisch verpflichtet, beim alten Glauben zu bleiben. Doch der jüngere von beiden, Markgraf Johann von BrandenburgKüstrin (1513/35–1571), der über große Teile der Neumark regierte, bekannte sich bald öffentlich zur Reformation. Er trat 1537 dem Schmalkaldischen Bund bei, feierte Ostern 1538 das Abendmahl in beiderlei Gestalt, ließ eine neue Kirchenordnung entwerfen und Visitationen durchführen. Sein älterer Bruder, Kurfürst Joachim II. Hektor (1505/35–1571), durch seinen Onkel Albrecht streng katholisch erzogen, regierte die Kurmark. Er war zwar protestantischen Reformvorschlägen gegenüber aufgeschlossen, verhielt sich jedoch bei deren Umsetzung zögerlich, da er eine Konfrontation mit Kaiser Karl V. (1500/30–1558) und dem Reich vermeiden sowie die Einheit der Kirche nicht zerstören wollte. Nachdem der Kurfürst jahrelang größtenteils vergeblich versucht hatte, zwischen dem protestantischen und katholischen Lager einen Ausgleich zu finden, führte auch er die Reformation in seinem Herrschaftsgebiet ein. Als offizieller Beginn der märkischen Reformation wird der Abendmahlsgottesdienst nach reformatorischen Ritus am 1. November 1539 angesehen. Mit Konfessionalisierung ist hier primär im Sinne der Konfessionsbildung eher der Skopus auf die Entstehung der Konfessionskirche und die Veränderung des vorherrschenden Bekenntnisses als theologiegeschichtliche Folge der Reformation gelegt als auf die Formung von Staat, Gesellschaft und Kultur als Folge von Konfessionsbildung. Vgl. dazu H. Schilling: Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, HZ 246 (1988), 1–45; J. Wallmann: Lutherische Konfessionalisierung – ein Überblick, in: H.-C. Rublack (Hg.): Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte 1988 (SVRG 197), Gütersloh 1992 (33–53), 35. Vgl. dazu im Einzelnen: H.-U. Delius: Die Reformation in Berlin, in: G. Wirth: Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte, Berlin 1987 (23–44), 25–28. Vgl. Clark: Preußen, 29. Ob dies in der Berliner Domkirche (so unter anderem W. Delius: Berliner kirch-
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§ 2 Ursachen und Hintergründe der Kontroverse
Entscheidender als die Abendmahlsfeier war für die Entwicklung des Landes jedoch die Einführung einer neuen Kirchenordnung 1540 , welche die Anerkennung sowohl Luthers als auch des Kaisers fand. Die Verfasser der neuen Ordnung hatten versucht, so viel wie möglich von den alten Bestimmungen zu übernehmen. Derweil verhielt sich Joachim II. weiterhin loyal gegenüber dem Kaiser. Machtpolitisch motiviert unterstützte der Kurfürst im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 die kaiserlichen Truppen. Nach der Wahl Joachim Friedrichs (1546–1608), eines Enkels des Landesherrn, 1555 zum Bischof von Brandenburg, Havelberg und Lebus, wurden die Bistümer säkularisiert und Bestandteil des Kurfürstentums. 1558 bekannte sich Joachim II., der mittlerweile als unangefochtener summus episcopus der Kirche galt, mit seiner Unterschrift unter den Frankfurter Rezess zur CA. Die kirchliche Verwaltung wurde durch die Einrichtung eines lutherischen Generalsuperintendenten sowie eines Konsistoriums neu geordnet. Die Umsetzung der neuen Kirchenordnung geschah hingegen zögerlich. Die Pfarrer, weiterhin die Chorröcke der katholischen Kirche tragend, predigten zwar reformatorische Erkenntnisse, doch der äußere Kultus blieb fast ganz katholisch. Der Exorzismus war weiterhin fester Bestandteil der Taufe. Die Liturgie blieb größtenteils lateinisch, erst später lasen die Geistlichen die gesamte Messe auf Deutsch. Beim Abendmahl hingegen wurden die eucharistische Wandlung abgeschafft und der Laienkelch eingeführt. Nach und nach ordnete der Landesherr die Durchsetzung reformatorischer Erkenntnisse im geistlichen Leben an. Das Schulwesen wurde grundlegend neugeordnet, Männerklöster wurden größtenteils abgeschafft und viele Frauenklöster in Damenstifte umgewandelt. Der Kurfürst ließ die Lehrstühle der Landesuniversität Frankfurt/Oder mit Anhängern der reformatorischen Bewegung besetzen. Darüber hinaus hielt er an den alten Gebräuchen und Zeremonien, an der äußeren Gestalt der Messe sowie an der Ausstattung der Kirliche Unionsversuche im 17. und 18. Jahrhundert, JBBKG 45 [1970] [7–121], 108 f. und A. Laminski: Die offizielle Einführung der Reformation in Brandenburg begann am 1. November 1539 zu Berlin-Cöln, HerChr XIX [1995] [107–109], 109) oder in der Spandauer Nikolaikirche geschah (so unter anderem R. Stupperich: Die Eigenart der Reformation in der Mark Brandenburg, in: H.-U. Delius / M.-O. Kunzendorf / F. Winter (Hg.): „Dem Wort nicht entgegen . . .“. Aspekte der Reformation in der Mark Brandenburg, Berlin [Ost] 1988, 19 und K. Themel: Was geschah am 1. und 2. November 1539 in Berlin und Spandau?, JBBKG 40 [1965] [24–85], 25), lässt sich nicht eindeutig nachweisen. Vgl. den Abdruck des Textes in Mylius: Corpus I/1, 5–248. Vgl. zur neuen Kirchenordnung M. Lackner: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten (UKG 8), Witten 1973, 23 f.; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 15–17. Vgl. K. Deppermann: Die politischen Voraussetzungen für die Etablierung des Pietismus in Brandenburg-Preußen, PuN 12 (1986) (38–53), 39.
2.1 Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Landes
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chen unverändert fest. Ebenso wurden katholische Geistliche nur selten vertrieben. Insgesamt stellte die Reformation in Brandenburg zunächst eine Übernahme reformatorischer Theologie ohne tiefgreifende Reform katholischer Riten dar und zielte in ihrer konservativen Gestalt auf eine reformierte katholische Kirche. Als nach dem Tod der beiden Herrscher 1571 die Teilung Brandenburgs in Kur- und Neumark wieder aufgehoben wurde, ließ der folgende Kurfürst Johann Georg (1525/71–1598) durch den Generalsuperintendent der Mark Brandenburg Andreas Musculus (1514–1581) 10 1572 eine neue Kirchenordnung erarbeiten und publizieren. 157311 und 157412 folgten Erlasse neuer Visitations- und Konsistorialordnungen, durch die Brandenburg formal eine deutlich lutherische Prägung erhielt. Der konfessionell einheitliche Staat nahm allmählich Form an. Die Durchführung der inhaltlichen Bestimmungen der neuen Ordnungen, die vor allem durch Visitationen zwischen 1573 und 1581 sowie 1594 überprüft wurde,13 führte zur Tendenz, dass „die märkische Kirche einer strengen und umfassenden staatlichen Kontrolle“14 unterzogen wurde. Somit waren die Ordnungen von 1572 und 1573 ein wichtiges obrigkeitliches Instrument beim Ausbau des landesherrlichen Kirchenregiments. Mit der Annahme der FC im Jahre 1577 fand die lutherische Konfessionalisierung einen formalen Abschluss. Der ehemalige Bischof von Brandenburg, der zwischen 1598 und 1608 als Kurfürst Joachim III. Friedrich regierte, unterstützte eine auf den Bekenntnisschriften basierende strenge Form lutherisch-orthodoxer Theologie und trug mit dazu bei, dass sich der lutherische Glaube in weiten Teilen der Bevölkerung ausbreitete. Durch den 1604 als Beratergremium und oberste Regierungsbehörde eingesetzten Geheimen Rat wurden die Stände graduell geschwächt. Joachim III. wurde in seiner Religionspolitik allmählich toleranter und ließ nach und nach einige Reformierte als Hofräte einstellen. Vgl. W. Gericke: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der Brandenburgischen Herrscher bis zur Preußischen Union. 1540 bis 1815 (UnCo 6), Bielefeld 1977, 13 f.; Delius: Die Reformation, 28–38; Stupperich: Die Eigenart, 13–30; G. Strohmeier-Wiederanders: Art. Brandenburg, RGG4 1 (1998), 1727–1732. 10 Vgl. E. Koch: Andreas Musculus und die Konfessionalisierung im Luthertum, in: Ders.: Studien zur Theologie und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert (TSP 3), Waltrop 2005, 203–227. 11 Vgl. den Text in LAB A Rep. 0 04 Nr. 9 ; abgedruckt bei Mylius: Corpus I/1, 273– 340. 12 Vgl. das Original in LAB F Rep. 238-01 Nr. 1574/2. 13 Vgl. zu den Visitationen von 1574, 1600, 1637 und 1642 LAB A Rep. 0 04 Nr. 9 ; vgl. darüber hinaus A. Müller: Geschichte der Reformation in der Mark Brandenburg, Berlin 1839, 208–279; P. Steinmüller: Einführung der Reformation in die Kurmark Brandenburg durch Joachim II. (SVRG 76), Halle / Saale 1903. 14 Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 25.
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§ 2 Ursachen und Hintergründe der Kontroverse
Insgesamt waren also die Hohenzollern darauf bedacht, dass nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft und die Kultur entscheidend reformatorisch geformt wurden. Somit war Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein deutlich lutherisch geprägtes Territorium. In der Residenzstadt Berlin/Cölln herrschte eine einheitliche, von Hof und Stadt getragene lutherische Konfessionskultur, deren sakrales Zentrum die Domkirche darstellte. Doch nach wie vor blieben auch viele katholische Riten im geistlichen Leben erhalten.
2.1.2 Die Annäherung an den reformierten Glauben Die Annährung Brandenburgs an den reformierten Glauben, durch Joachim III. Friedrich bereits behutsam ohne großes Aufsehen begonnen, sollte mit seinem Sohn und Nachfolger im Kurfürstenamt, Johann Sigismund, offiziell besiegelt werden.15 Dessen Konversion, die eine Folge sowohl persönlicher Überzeugung als auch machtpolitischer Gründe darstellte, war eine entscheidende Weichenstellung für die brandenburgisch-preußische Religionspolitik der folgenden 200 Jahre. 2.1.2.1 Die Konversion Johann Sigismunds Anfang des 17. Jahrhunderts bot sich eine günstige Gelegenheit, das hohenzollernsche Territorium durch geschickte Religions- und Heiratspolitik längerfristig bedeutend zu erweitern. 1594 wurde der brandenburgische Prinz Johann Sigismund16 (1572–1619) mit Anna von Preußen (1576–1625) verheira15 Eine wichtige Quelle für die Annäherung an den Calvinismus ist der als „De reformatione Marchica“ titulierte, in 321 Abschnitte eingeteilte Bericht, von dem sich Abschriften in GKl Archiv XII/90/3, f. 20r–166v, SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3, f. 1r–198r und SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 1–278 befinden. Darin werden aus lutherischer Sicht die kirchengeschichtlich wichtigsten Ereignisse zwischen 1613 bis 1648 unter Einbeziehung von Abschriften vieler zeitgenössischer Briefe nacherzählt. Vgl. zur Autorenschaft die Anmerkungen in 1.3. Vgl. auch die Chronik von Gerhardts Pfarrkollegen Johannes Heinzelmann mit dem Titel „Heinzelmann Summarium Historiae Reformatorum, quos se vocant Marchicae. Kurzer Inhalt u. Auszug der Historia von der Reformation zur Calvinisterey in der Mark“ (FB Gotha Chart. A 280, Bl. 1–58). 16 Eine wissenschaftliche Biographie über Johann Sigismund fehlt bislang. Vgl. als erste Orientierung T. Hirsch: Art. Johann Sigismund, ADB 14 (1881), 169–175; J. Schultze: Art. Johann Sigismund, NDB 10 (1974), 475 f.; U. Krolzik: Art. Johann Sigismund, BBKL III (1992), 178–181; A. Kohnle: Johann Sigismund (1572–1619) und Johann Bergius (1587–1658). Zwischen Luthertum und Calvinismus, in: A. Beutel (Hg.): Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte, Bd. 1: Vom 17. Jahrhundert bis zum Unionsaufruf 1817, Frankfurt am Main 2009 (23–41), 23–38.
2.1 Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Landes
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tet, deren Vater der preußische Herzog Albrecht Friedrich (1553–1618) und deren Onkel der Herzog von Jülich-Kleve-Berg und Graf von Mark, Ravensberg und Ravensstein, Johann Wilhelm (1562/92–1609), war. Somit hatten sich die Hohenzollern nicht nur Erbansprüche für Preußen17, sondern auch für die rheinischen und westfälischen Gebiete18 gesichert. Kurz nachdem Johann Sigismund 1608 an die kurfürstliche Macht kam, sollte sich die konfessionelle Situation in Brandenburg grundlegend ändern. Als Herzog Johann Wilhelm 1609 als Letzter seines Geschlechts verstarb, erhoben sowohl Johann Sigismund als auch Fürst Wolfgang Wilhelm von PfalzNeuburg (1578–1653) als ältester Neffe des Verstorbenen Anspruch auf die reichen, strategisch wichtigen und konfessionell gemischten Territorien.19 Zwar hatten sich die beiden Herrscher im Dortmunder Rezess 1609 auf eine vorläufige gemeinsame Regierung geeinigt, doch bis zur endgültigen Klärung der Eigentumsrechte wollte Kaiser Rudolf II. (1552/76–1612) die kommissarische Leitung der Gebiete übernehmen. Da dies wiederum die Machtverhältnisse in Europa zugunsten Habsburgs und Spanien verschoben hätte, regte sich Widerstand bei anderen europäischen Großmächten. Der folgende so genannte ‚jülich-klevische Erbfolgestreit‘ gilt als ein Vorspiel des 30jährigen Krieges, da er sich zu einer Konfrontation zwischen konfessionellen Parteien in einer territorialen Machtfrage des Reiches unter Beteiligung ausländischer Mächte entwickelte. Das Bündnis zwischen Pfalz-Neuburg und Brandenburg zerbrach, als Johann Sigismund 1610 der 1608 gegründeten protestantischen Union beitrat, um zum einen das Bündnis gegen die katholische Liga zu unterstützen und zum anderen seine Erbansprüche zu untermauern. 1613 konvertierte er gemeinsam mit seinen Räten und wichtigsten Hofbeamten zum reformierten 17 Zur Bekräftigung dessen heiratete Johann Sigismunds Vater, der damalige Kurfürst Joachim III. Friedrich, nach dem Tode seiner ersten Frau 1603 die jüngere Schwester Annas, Eleonore von Preußen (1583–1607). Im selben Jahr hatte er den polnischen König Sigismund III. Wasa (1566–1632) überreden können, ihm die Regentschaft über das Herzogtum zu übertragen (Herzog Albrecht Friedrich von Preußen war auf Grund seiner Geisteskrankheit nur noch eingeschränkt regierungsfähig), vgl. Clark: Preußen, 30. 18 Im Hause Jülich-Kleve konnten Besitz und Titel der Familie über die weibliche Linie vererbt werden. 19 Jülich und Kleve waren überwiegend katholisch, in Berg gab es einen hohen reformierten Anteil. In Raven(s)stein (heute Teil der Gemeinde Oss in der niederländische Provinz Nordbrabant) herrschte lange Jahre eine unausgesprochene Religionsfreiheit, wodurch das Land Zufluchtsort für im Gebiet der vereinigten Niederlanden unterdrückte katholische Ordensgemeinschaften wurde. Die westfälischen Gebiete Mark und Ravensberg waren überwiegend lutherisch geprägt. Vgl. U. Hammer: Kurfürstin Luise Henriette: Eine Oranierin als Mittlerin zwischen den Niederlanden und Brandenburg-Preußen (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 4), Münster / New York / Berlin / München 2001, 22–24.
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§ 2 Ursachen und Hintergründe der Kontroverse
Glauben.20 Wenig später gewann er die reformiert geprägten niederländischen Generalstaaten als Bündnispartner für seine Politik. Neben diesen und dem englischen Könighaus rüstete sich auch der französische König Henri IV. (1553/89–1610) zum militärischen Eingreifen an der Seite der Union. Daraufhin konvertierte Fürst Wolfgang Wilhelm zum Katholizismus, um den Kaiser, die Liga und Spanien auf seine Seite zu ziehen. Die reichspolitische Situation spitzte sich zu, doch das Ausbrechen eines Krieges wurde einmal durch die Ermordung Henris IV., das andere Mal durch den Vertrag von Xanten vom 12. November 1614 verhindert. Fürst Wolfgang Wilhelm erhielt Jülich und Berg, Kurfürst Johann Sigismund wurden Kleve, Mark, Ravensberg und Ravensstein zugesprochen. Entscheidend für die brandenburgische Kirchengeschichte waren jedoch nicht die territorialen Zugewinne21, sondern die Konversion Johann Sigismunds. Der Übertritt des Kurfürsten zum Reformiertentum, durch die Abendmahlsfeier nach reformiertem Ritus am ersten Weihnachtsfeiertag 1613 öffentlichkeitswirksam demonstriert, wurde nicht nur von seinen lutherischen Untertanen, sondern auch von ausländischen Landesherren als provozierender Schritt angesehen.22 Überraschend kam er jedoch nicht23 : Zum einen Vgl. zur Vorbereitung der Konversion die Quellen bei A. Chroust: Aktenstücke zur brandenburgischen Geschichte unter Kurfürst Johann Sigismund, FBPG 9 (1896) (1–21), 12–18. 21 Zur eigentlichen Inbesitznahme der Territorien kam es jedoch nur sehr zögerlich. Die Region war weiterhin ein Konfliktthema zwischen den Fürstentümern und den Ständen. Vgl. zum genauen Konfliktverlauf, der endgültig erst 1672 beigelegt wurde, sowie den konfessionellen und internationalen Verbindungen: M. Ritter: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555– 1648), Bd. 2, Stuttgart 1895, 278–358.397–417; H. Ollmann-Kösling: Der Erbfolgestreit um Jülich-Kleve (1609–1614). Ein Vorspiel zum Dreißigjährigen Krieg (Theorie und Forschung 442; Theorie und Forschung/Geschichte 5), Regensburg 1996; K. Hoppe: Krisen und Konflikte im Vorfeld des 30jährigen Krieges, in: H. Galen (Hg.): 30jähriger Krieg, Münster und der Westfälische Frieden, Münster 1998, 8–15; A. D. Anderson: On the verge of war: International Relations and the Jülich-Kleve Succession Crises (1609–1614), Boston 1999; M. Lanzinner: Das Konfessionelle Zeitalter 1555–1618, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte Band 10, Stuttgart 102001, 190 f.; O. R. Richter: Der Übertritt des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm zum katholischen Glauben in Düsseldorf im Jahr 1614, in: J. Engelbrecht / S. Laux: Landes- und Reichsgeschichte. Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburtstag (Studien zur Regionalgeschichte 18), Bielefeld 2004, 117–145. 22 Vgl. C. Hartknoch: Alt- und Neues Preussen Oder Preussischer Historien Zwey Theile/In derer erstem von deß Landes vorjähriger Gelegenheit und Nahmen/wie auch der Voelcker/so darinnen vor dem Teutschen Orden gewohnet [. . .] In dem andern aber von deß Teutschen Ordens Ursprung/desselben/wie auch der nachfolgenden Herrschaft Thaten und Kriegen [. . .], Franckfurt und Leipzig 1684, 484 f.; Schulz: Gerhardt, X; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 8.46. 23 Vgl. zur Vorgeschichte der Konversion R. Kniebe: Der Schriftenstreit über die 20
2.1 Die kirchengeschichtliche Entwicklung des Landes
33
waren schon einige andere deutsche Landesherren zum reformierten Glauben übergetreten 24 und zum anderen hatte der Konfessionswechsel persönliche und offensichtliche machtpolitische und wirtschaftliche Gründe. Auf der einen Seite stellte er das Resultat persönlicher Glaubensüberzeugung dar. Bereits während seines Studiums in Straßburg und seinen späteren Aufenthalten in Heidelberg wurde Johann Sigismund durch den reformierten Glauben geprägt.25 Seine Brüder Herzog Johann Georg zu Jägerndorf (1577– 1624) und Markgraf Ernst (Statthalter in Jülich; 1583–1613) waren bereits 1603 bzw. 1610 konvertiert. Am Cöllner Hof galt der reformierte Glaube „als weltoffen, aufgeschlossen und konsequent reformatorisch“26 . Schon vor 1613 zeigte sich bei Johann Sigismund eine Abwendung von der bisherigen, die Lutheraner begünstigenden Kirchenpolitik. So wurde beispielsweise die FC 1610 aus dem Normenkatalog der Universität Frankfurt/Oder und 1611 aus dem Landtagsabschied gestrichen. Auf der anderen Seite versprach sich Johann Sigismund durch die Konversion eine Ausweitung seiner Macht und seines Ansehens. Dies war in den reformiert geprägten Niederlanden, deren unmittelbarer Nachbar Brandenburg mit dem Erwerb der neuen Territorien geworden war, ebenso wahrscheinlich wie im Herzogtum Kleve, in dem wichtige Vertreter von Adel und Ständen
Reformation des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg seit 1613, Diss. phil. Universität Halle 1902, 1–10. 24 Der Übergang der Kurpfalz, damals ranghöchster weltlicher Kurstand des Reiches, zum Calvinismus 1561/63 und dessen reichsrechtlich vergleichsweise geringe Folgen stellte den Anfang einer Reihe von Konversionen dar, der weitere übertrittsbereite Fürsten und Städte ermutigte. Nassau-Dillenburg und die Grafschaft Bentheim-Tecklenburg wandten sich 1578 offiziell dem reformierten Glauben zu, 1588/92 Pfalz-Zweibrücken, 1595 Emden, 1595/1600 Bremen, das Fürstentum Anhalt 1596/97, die Grafschaft Lippe 1605/18 sowie zwischen 1605 und 1648 Hessen-Kassel (Diese Daten sind nicht absolut zu verstehen, sondern beziehen sich auf bestimmte Geschehnisse, die den territorialen Übergang zum reformierten Glauben entscheidend beeinflussten.). Neben Johann Sigismund nahmen in drei weiteren Territorien die Landesfürsten die reformierte Konfession an, ohne dass ihr Land (aus jeweils unterschiedlichen Gründen) reformiert wurde: In Baden-Durlach (Markgraf Ernst Friedrich [reg. 1577–1604]), Kursachsen (Christian I. [reg. 1586–1591]) und Mecklenburg-Güstrow 1618 (Johann Albrecht II. [reg. 1621– 1636]). Vgl. R. v. Thadden: Die Fortsetzung des >Reformationswerkes< in Brandenburg-Preußen, in: H. Schilling (Hg.): Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der >Zweiten ReformationLutheranorum flagellum< nannte“. 122 Ein Beleg für sein Ansehen ist der durch den Geheimen Rat Lorenz Christoph von Somnitz (vgl. zu ihm 4.1) gestiftete Grabstein, vgl. Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 922. Vgl. des Weiteren zu Vorstius Jöcher IV (1752), 1713 f.; Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 489.921–923; Hering: Beiträge II, 87 f.165 f.; Meinardus: Protokolle VI, 372; Noack: Vorstius; Bahl: Hof, 607 f. 123 1658 wurde Rektor Ernst Wulstorp (1595–1662?) entlassen, erst 1660 trat Vorstius dessen Nachfolge an. Nach Vorstius Tod 1676 erhielt Vechner wieder interimistisch die Leitung des Gymnasiums bis zur Vokation des neuen Rektors Johann Gerlach Wilhelmi (1636–1687) 1680, vgl. L. Noack: Art. Vechner, Gersom, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Berlin-Cölln 1640–1688 (437–440), 438 f. 124 Vgl. zu Vechner Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 923 f.; Hering: Beiträge II, 87 f.167; Fritze: Verzeichnis, 3; Noack: Art. Vechner. 121
3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen
127
c) Adam Gierck Von Adam Giercks Leben ist nur wenig bekannt. Lutherisch geprägt, studierte er in Wittenberg Theologie und konvertierte bald zum reformierten Glauben. Ab 1662 war er Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium. Da er zu einigen Sessionen des Colloquiums beordert wurde, hatte er am kurfürstlichen Hof vermutlich ein hohes Ansehen. 1667 ließ er sich ordinieren, um aushilfsweise die Predigerstelle der Gemeinde in Spandau bedienen zu können. Er starb vermutlich im September 1673 in Berlin.125
3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen Nachdem es bereits in Folge der Konversion Johann Sigismunds zu konfessionellen Spannungen in der Doppelstadt Berlin/Cölln gekommen war, gaben die religionspolitischen Maßnahmen des Kurfürsten Friedrich Wilhelm neuen Anlass zum Streit. Mit dem Westfälischen Frieden war eine weitestgehende Ruhephase in den innerprotestantischen Auseinandersetzungen zu Ende gegangen. Parallel zum Wiederaufbau der Kirchenwesen fand ein neuer Konfessionalisierungsschub126 und somit eine erneute Epoche gegenseitiger konfessioneller Auseinandersetzungen statt, auf die der Kurfürst reagieren musste.
3.3.1 Die Folgen des Krieges für die Religionspolitik in Brandenburg Die erheblichen Wiederaufbaubestrebungen der kirchlichen Struktur hatten in den meisten deutschen Territorien eine starke Erweiterung der landesherrlichen Gewalt zur Folge.127 In den Territorien Friedrich Wilhelms kam es neben dem Wiederaufbau der lutherischen Kirche auch zum erstmaligen Aufbau und einer fortschreitenden Konsolidierung des reformierten Kirchenwesens. Dies war dem Kurfürsten durch die reichsrechtliche Anerkennung der Reformierten in dem Friedensschluss zu Münster und Osnabrück 1648, bei dem seine Gesandten entscheidend mitgearbeitet hatten, leichter möglich.128 Die Gesandten waren zudem maßgeblich beteiligt an der Erarbeitung der reichsrechtlichen Regelung zum Umgang des jeweiligen Landesherrn mit seinen konfessionell verschiedenen Untertanen.129 Friedrich Wilhelm lehnte eine strikte Handhabung des ius reformandi ab. Vgl. zu Gierck Hering: Beiträge II, 165.288. Vgl. Petzoldt: Konfessionalisierung als Identitätssuche, 68. 127 Vgl. Holl: Die Bedeutung der großen Kriege, 338–341. 128 Vgl. Lackner: Kirchenpolitik, 71–89. 129 Vgl. IPO Art. V II § 1. Im Streit um das ius reformandi einigten sich die Friedens125 126
128
§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Eine einheitliche Kirchen- und Religionspolitik gab es unter Friedrich Wilhelm nicht. In Brandenburg herrschte eine andere konfessionelle Situation vor als in Preußen, in den westfälischen oder den rheinischen Gebieten.130 In Preußen beispielsweise wehrte sich ein starker lutherischer Landadel gegen jegliche kurfürstliche Einmischung in Religionsfragen. Auch in der Mark Brandenburg gehörte die große Mehrheit der Bevölkerung der lutherischen Konfession an. Die rheinischen Gebiete waren konfessionell gemischt, wobei Katholiken die größte Bevölkerungsgruppe ausmachten. In Kleve-Mark gab es ein leichtes Übergewicht an reformierten Christen. Der Kurfürst konnte lediglich in diesen kleinen Regionen die reformierte Konfession ohne großen Widerstand fördern. Ein wesentliches Mittel der Förderung des reformierten Glaubens war die Personalpolitik. Die Bestimmungen des Westfälischen Friedens besagten unter anderem, dass den Fürsten in neu erworbenen Territorien religionspolitisch nicht gänzlich die Hände gebunden waren: Sie durften zwar nicht die Religionsausübung oder die Kirchenverfassung ändern, dafür aber beispielsweise Hofpredigerstellen einrichten. Friedrich Wilhelm machte von diesem Recht ausgiebig Gebrauch.131 Zudem wurden wichtige Positionen, wie beispielsweise im Geheimen Rat und im Geistlichen Konsistorium, mit Reformierten besetzt.132 Die Summe der Förderungsmaßnahmen des reformierten Glaubens bedeutete jedoch nicht eine einseitige Benachteiligung der Lutheraner. An Hand seiner außenpolitischen Entscheidungen wird deutlich, dass Friedrich Wilhelm für den gesamten evangelischen Glauben kämpfte.133
parteien darauf, dass sowohl die lutherischen als auch die reformierten Machthaber auf das ius reformandi verzichten wollten. Untertanen unter einem evangelisch-konfessionell anders gläubigen Herrscher erhielten eine (Gewissens-)Freiheit, alle anderen Untertanen jedoch nicht. Insgesamt war Friedrich Wilhelm mit den Ergebnissen nicht zufrieden, da die Reformierten nicht ausdrücklich als Augsburger Religionsverwandte bezeichnet wurden. 130 Vgl. zur Kirchenpolitik in den einzelnen Regionen Preußen, Pommern, Halberstadt, Magdeburg, Kleve, Mark, Minden und Ravensburg Hering: Neue Beiträge I, 69–326; Landwehr: Kirchenpolitik, 137–288; Lackner: Kirchenpolitik, 148–249. 131 Vgl. zu den einzelnen Hofpredigerstellen Thadden: Hofprediger, 17–39. 132 Vgl. E. Opgenoorth: Die Reformierten in Brandenburg-Preußen – Minderheit und Elite?, Zeitschrift für historische Forschung 8 (1981), 439–459; vgl. zu den einzelnen Stellen Bahl: Hof, 199–203 (Tabellen 8–10) und 354 f.: „Es läßt sich eindrucksvoll bestätigen, daß das konfessionelle Element das zweifellos am deutlichsten faßbare Motiv gewesen ist, wenn eine Persönlichkeit an den Hof berufen wurde. Unter den neu Berufenen ist das Übergewicht der Reformierten erdrückend, übrigens nicht erst ab 1655/60. [. . .] Die Calvinisten sind kontinuierlich von 1640 bis 1688 bevorzugt worden“. 133 Vgl. dazu Landwehr: Kirchenpolitik, 17–136; Lackner: Kirchenpolitik, 16. 290–304.
3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen
129
In ihrem Rechtsstatus waren Lutheraner und Reformierte gleich stark territorialstaatlich gebunden und zur Wahrung ihrer Reichsrechte von Friedrich Wilhelm abhängig. Die Lutheraner besaßen aber darüber hinaus in den Ständen, dem Adel und dem Großteil der Bevölkerung einen Rückhalt, durch den sie Rechte gegenüber dem Kurfürst einfordern konnten. Die Reformierten hingegen waren vollkommen abhängig vom Willen des Kurfürsten. Es lag in seiner Hand, den reformierten Glauben im Land zu fördern, Kirchen bauen zu lassen, Hofpredigerstellen einzurichten und Reformierte in die Leitungsgremien am kurfürstlichen Hof zu bestellen. Die Reformierten konnten sich der Unterstützung Friedrich Wilhelms gewiss sein. Über dessen Förderung hinaus stellten sie keine Ansprüche und waren zudem bemüht, nicht nur im Kirchenstreit die Meinung und das Vorgehen des kurfürstlichen Hofes zu unterstützen. Schließlich ging es den Reformierten darum, die im Westfälischen Frieden 1648 erlangten Rechte zu bewahren und auszubauen. Unter der Protektion des Kurfürsten hegten sie die Hoffnung, dass sich auch die Frömmigkeit der Bevölkerung an Frömmigkeit und Konfession der kurfürstlichen Familie orientierte.134 Die Lutheraner hingegen sahen allein schon die Konzession der Gleichberechtigung des reformierten Bekenntnisses als Schmälerung ihrer Rechte und ihres Glaubens an. Zur Zeit des Kirchenstreits waren Reformierte und Lutheraner am Hof numerisch etwa gleich stark repräsentiert, doch weil diese Verteilung nicht den Kräfteverhältnissen im Land entsprach, fühlten sich die Lutheraner zu schlecht repräsentiert. Da die Reformierten in der Regel die höheren Stellen bekleideten, hatten sie auch insgesamt einen größeren Einfluss am Hof.135 Der konfessionelle Dualismus zwischen dem reformierten Landesherrn und der orthodox-lutherischen Bevölkerung führte weiterhin zu Konflikten, die auch durch die religionspolitischen Anordnungen Friedrich Wilhelms nur schwer überwindbar waren. 134 Vgl. Münch: Jahrhundert des Zwiespalts, 115. Münch weist zudem darauf hin, dass die „barocke Frömmigkeit eng mit der Entwicklung der frühmodernen, ‚absolutistischen‘ Staaten verwoben“ war. 135 Die Mitglieder des Geistlichen Konsistoriums während des Berliner Kirchenstreits waren: Präsidenten: Geistliche Konsistorialräte: 1648–1659 Joachim Kemnitz (luth) 1637–1658 Johann Bergius (ref) 1659–1665? Johann Georg Reinhard (luth) 1659–1684 Bartholomäus Stosch (ref) 1665–1686 Lucius von Rhaden (ref) 1651–1656 Petrus Vehr (luth) 1657–1666 Andreas Fromm (luth) Juristische Konsistorialräte: 1638–1668? Johann Georg Reinhard (luth) 1667–1674 Johann Buntebart (luth) 1648–1671 Martin Friedrich Seidel (luth) 1653–1665 Gottfried Schardius (ref)
130
§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
3.3.2 Religionspolitische Maßnahmen bis 1653 Durch verschiedene Maßnahmen versuchte Friedrich Wilhelm seit dem Beginn seiner Amtszeit 1640 zum einen die Reformierten zu stärken und zum andern eine Gleichberechtigung zwischen Lutheranern und Reformierten herzustellen. Dies ging einher mit grundsätzlichen kirchenpolitischen Entscheidungen, in denen sich eher ein absolutistisches Machtmoment ausdrückte, auch die Kirchenpolitik obrigkeitlich zu lenken, als dass sie gezielte Angriffe gegen die Lutheraner darstellten. So wehrte sich Friedrich Wilhelm beispielsweise zu Beginn seiner Herrschaftszeit in einem Schreiben vom 12. (22.) März 1641 an das Cöllner Konsistorium gegen den Vorwurf, „Alß wolten Wir hinfüro keine der Lutherischen Religion zugethane Persohnen mehr im Rath oder sonsten bey Uns leiden, oder darzu befordern, je denen Lutehrischen wohl gar ihre Kirchen nehmen, und einziehen laßen“. Dies seien „ungegründete falsche Auflagen“, die ihm „nie in Sinn kommen“136 . Im gesamten Herrschaftsgebiet Friedrich Wilhelms gab es konfessionelle Auseinandersetzungen,137 die er sowohl aus persönlichen Gründen als auch aus dem politischen Interesse der Stabilisierung des Landes befrieden wollte. Zunächst äußerte sich Friedrich Wilhelm wirksam zur Situation in Preußen. In einem Schreiben an die die dortigen Oberräte vom 26. April 1642138 bemängelte er, dass „das Verketzern und Verdammen auf den Kanzeln und in Schriften gar nicht nachlassen, sondern es wird dasselbige viel heftiger zu diesen Zeiten getrieben, als zuvor immer geschehen sein mag“. Der Kurfürst wehrte sich gegen den Verdacht der Stände, wir „wollten [. . .] eine Reformation in dieser Lande Kirchen [. . .] einführen, da Uns doch so wenig in Unsern Sinn kommen, einigen Menschen mit Gewalt oder auch mit viel List zu der Religion zu nöthigen“. Zur Entspannung der Situation schlug Friedrich Wilhelm „eine freund- und friedliche Unterredung der Theologen in Unserer und anderer Unserer Räthe, Stände und vornehmen Diener Gegenwart“ vor, damit „gutes Vertrauen und gute Einigkeit zwischen Herrn und Unterthanen und zwischen den Ständen selbsten in diesem Unserm Herzogthum“ erreicht Zitiert nach Mylius: Corpus I/1, 360. Neben der bereits erwähnten Situation in Preußen kam es auch mehrfach in den rheinischen und westfälischen Gebieten zu Konflikten. Vgl. beispielsweise zu den konfessionellen Streitigkeiten 1661 in Plettenberg Meinardus: Protokolle VI, 403. Zudem setzte sich Friedrich Wilhelm auch für die Befriedung einzelner konfessioneller Konflikte in ausländischen Territorien ein, bei denen Reformierte bedrängt wurden, vgl. beispielsweise H. Saring: Der Große Kurfürst und der Zerbster Kirchenstreit, JBrKG 33 (1938), 43–69. 138 Vgl. den Abdruck bei B. Erdmannsdörfer: Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 1, Berlin 1864, 99–103 (folgende Zitate ebd.); teilweise auch bei Gericke: Glaubenszeugnisse, 156–160. 136 137
3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen
131
und herausgefunden werden kann, „worinnen man miteinander einig, was noch zwischen beiden Theilen streitig, und wie es um solche Streitigkeit eigentlich beschaffen“. Ziel sei es, „zu etwas näherer Einigkeit [zu] gelangen und das Band der christlichen Liebe [zu] erhalten“139. Aus Angst vor dem Verlust ihres kirchenpolitischen Einflusses erklärten sich die Stände mit dem Vorschlag jedoch nicht einverstanden. Ebenso lehnte ihn auch die Königsberger Geistlichkeit mit den Worten „es ist demnach der geistliche Krieg und Streit viel besser in solchem Fall, als die Vereinigung der Rechtgläubigen und Unrichtigen“140 entschieden ab. Es wurde deutlich, dass die Haltung der Lutheraner Preußens den Toleranzvorstellungen des Kurfürsten diametral entgegenstand. In den folgenden Jahren machte der Kurfürst seinen Einfluss auf die Gestaltung des kirchlichen Lebens hauptsächlich über die Verwaltungsgremien geltend. 1646 und 1651 restituierte er förmlich die bereits durch Johann Sigismund verfügte Subordination des Konsistoriums unter den nun neu als zentrales Verwaltungsorgan geschaffenen zentralistisch organisierten Geheimen Rat. Die iura territorialia des Geheimen Rates überlappten fortan die iura episcopalia der Konsistorien. Dadurch hatte Friedrich Wilhelm nicht nur die größtenteils lutherischen Konsistorien141 und die Landstände geschwächt sowie die Voraussetzung einer absolutistischen Verwaltung geschaffen, sondern sich zudem mächtige iura episcopalia gesichert. Dabei war nicht primär die Unterordnung des Geistlichen Konsistoriums unter den Geheimen Rat, sondern die Tatsache, dass der Kurfürst die beiden Gremien unparitätisch besetzte und im Laufe der Jahre mehr Reformierte als Lutheraner berief, Anlass für den Unmut der lutherischen Geistlichkeit. Diejenigen Lutheraner, die der Kurfürst berief, vertraten tendenziell seine religionspolitische Maxime einer tolerantia ecclesiastica. Mit dieser irenischen Ausrichtung standen die Konsistorialräte jedoch im Gegensatz zur großen Mehrheit der lutherischen Pfarrer in Brandenburg, die eine strenge lutherisch-orthodoxe Lehrauffassung verfochten. Daher kritisierten die meisten Brandenburger Lutheraner die religionspolitischen Entscheidungen Friedrich Wilhelms und seiner landesherrlichen Verwaltungsbehörden massiv.
139 Vgl. zum geplanten Colloquium Hartknoch: Preussische Kirchen-Historia, 599–601. 140 Zitiert nach Gericke: Glaubenszeugnisse, 160. 141 Vgl. Thadden: Hofprediger, 45–47.
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
3.3.3 Die Politik gegenüber den kurmärkischen Ständen Der Westfälische Friede hatte für Brandenburg nicht nur eine politische Stärkung, sondern auch den Aufstieg zu einem der größten deutschen Territorien zur Folge. Zur Sicherung seines Herrschaftsanspruchs und zur Konsolidierung seines Territoriums musste der Kurfürst seine Macht ausbauen. Vor allem bei der Neuordnung des Verwaltungs- und Militärwesens, aber auch für infrastrukturelle Maßnahmen war er vom Adel und von den Ständen abhängig, in deren Händen die lokale Verwaltung lag. In den einzelnen Territorien, die durch politische wie religiöse Divergenzen gekennzeichnet waren, betrieben die Landstände und der Adel zum Teil eine eigene Politik.142 Deren entscheidendes Machtmittel war ihr Steuerbewilligungsrecht, das sie auch zur Wahrung ihrer Interessen gegenüber dem kurfürstlichen Hof einsetzten. Da der Kurfürst auf die Gelder und Dienste der Stände zur Machterhaltung und Regierung angewiesen war, musste er auf ihre politischen Wünsche eingehen. Die Stände erwarteten die Einhaltung und Bewahrung von verschiedenen Handelsprivilegien, Mitspracherechte bei politischen Entscheidungen sowie die Sicherung ihres größtenteils lutherischen Konfessionsstandes.143 Die lutherische Bevölkerung und die Landstände waren vor allem in Brandenburg und Preußen eng miteinander verbunden. Während des Kirchenstreits wandten sich lutherische Pfarrer mehrfach erfolgreich mit der Bitte um Unterstützung an die Stände. Die politische Stärkung der Reformierten durch den Kurfürsten wurde somit zugleich als Stärkung einer „antiständischen Gruppe“144 verstanden. Eines der wichtigsten innenpolitischen Treffen der frühen Regierungszeit Friedrich Wilhelms war der brandenburgische Landtag, den er am 23. März 1653 einberief. Der Kurfürst wollte die kurmärkischen Stände zur Geldbewilligung über längere Zeit für den Aufbau eines stehenden Heeres bewegen. Dieses Ansinnen sahen die Stände ebenso als Konfliktpunkt an wie die kurfürstliche Missachtung des Indigenats, der Vereinbarung, in der Verwaltung nur Einheimische zu beschäftigen.145 Die Stände forderten die Zusicherung der Freiheit von Ratswahlen, weitgehende Handelsprivilegien und wichtige Religionsgravamina. Darunter zählten sie die Geltung der FC und der CA invariata, die Bestätigung ihrer Patronatsrechte, lutherische Lehrer für die Vgl. Ribbe: Brandenburg auf dem Weg, 271. Vgl. zu den Rechten und Forderungen der Stände E. Clausnitzer: Die märkischen Stände unter Johann Sigismund, Diss. phil. Halle a. S. 1895, 11–26. 144 Thadden: Hofprediger, 132. 145 Vgl. zur Verschärfung des Konflikts Hartknoch: Preussische Kirchen-Historia, 594. 142 143
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Universität Frankfurt/Oder und das Joachimsthalsche Gymnasium sowie die Aufsicht der Stände über das gesamte Kirchen- und Schulwesen. Das Ergebnis der Verhandlungen war ein Kompromiss und die „Grundlage für die Positionen der Stände und vor allem des Adels bis in das 19. Jahrhundert“146 . Die Stände bewilligten 530.000 Taler zum Aufbau des Heeres und erhielten dafür eine Kodifizierung ihrer bisherigen Rechte. Ihre religiösen Forderungen konnten sie hingegen nicht vollständig durchsetzen. Zwar sicherte der Kurfürst im abschließenden Landtagsrezess vom 26. Juli 1653 die Anerkennung beider Konfessionen und Bekenntnisschriften zu, worauf sich sowohl die Stände als auch die lutherischen Pfarrer während des gesamten Kirchenstreits immer wieder berufen sollten, doch die Aufsicht über das Kirch- und Schulwesen erhielten die Stände nicht.147 Des Weiteren kündigte Friedrich Wilhelm in einem Nebenrezess einen Konvent zur Klärung der Konfessionsdifferenzen an. Er wolle klarstellen, „nach welchen regulen und Gesetzen zukünfftig in Predigen, Leesen und disputiren, wie offt gedacht ohne abbruch ihrer religion sich zuachten, [gehandelt werden solle] undt waß den von beyden theilen [= Lutheranern und Reformierten] vermittelß Sr. Churfl. Durchl. consens und Verwilligung guet geheißen wirdt“148 . Diejenigen Teilnehmer des Konvents, die sich nicht an die vereinbarten Grundsätze halten, sollen ihres Amtes enthoben werden. Doch wie schon 1642 stimmten die Stände zunächst nicht zu, da sie fürchteten, ihren Einfluss auf die Kirchenpolitik zu verlieren. In ihrer Eingabe vom 12. Juli 1654 stellten die Stände dem Kurfürst dann jedoch frei, einen Theologenkonvent einzuberufen und eine Druckzensur zu erlassen. Neugebauer: Zentralprovinz im Absolutismus, 86 f. Der Kurfürst versicherte im Landtagsrezess vom 26. Juli 1653, er wolle in seinen „gesambten Ländern, Universitaet zu Franckfurth, und Churfl. Schulen, undt überall, nichts anders lehren, noch profitieren laßen, den was in dem reinen Wordte Gottes, den Prophetischen und Apostolischen Schrifften begriffen, und denen Vier haupt Symbolis gemeeß ist“. Friedrich Wilhelm fuhr fort: „Wir wollen ferner die vorigen Landes-Reversen dergestallt confirmiret haben, daß ein ieder im Lande, der da will, bey des Herrn Lutheri Lehre und Ausgpurgischen Confession, wie dieselbige den 25. Junii ao. 1653. Kayser CAROLO dem V. [. . .] übergeben, und wie dieslbige von der Zeit an, in den Lutherischen, und allermeist in hiesigen Kirchen dieses Churfürstenthumbs, getrieben worden, und wie Unsere getrwe Stände sich bißhero dazu bekandt, [. . .] verharren möge, undt alle und iede ihre Symbolici Libris ungekränkt verbleiben, und es in allen gelaßen werden soll, wie die Landes Recesse von Ao. 1611, und 1615, darvon disponiren. Es soll Ihnen auch davon abzustehen, kein Zwang noch Trang angethan werden, sintemahl Wir Uns der Herrschafft über die Gewissen anzumaßen, niemahles gemeinet gewesen“ (zitiert nach Mylius: Corpus VI/1, 427 f.). Eine komplette Abschrift des Landrezesses befindet sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 589r–643v; abgedruckt bei Mylius: Corpus VI/1, 425–464. 148 Zitiert nach Mylius: Corpus VI/1, 464 f. (der gesamte Nebenrezess aaO., 463– 466). 146 147
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Die Politik der Rücksichtnahme auf die kurmärkischen Stände änderte sich allmählich mit den zunehmenden politischen und militärischen Erfolgen des Kurfürsten. Friedrich Wilhelm wurde finanziell und verwaltungstechnisch unabhängiger und emanzipierte sich zunehmend von den Ständen.149 Er entmachtete die provinziellen Verwaltungen durch den Aufbau eines zentralen kurfürstlichen Verwaltungsapparats. Da der hierfür benötigte Bedarf an akademisch qualifizierten Kräften nicht mit landeseigenen Beamten, vor allem Juristen, zu decken war, warb der Hof zunehmend Ausländer an.150 Zwar profitierten auch die Stände vom wirtschaftlichen Aufschwung, den die zumeist reformierten Einwanderer ankurbelten, doch sahen sie vermehrt ihren machtpolitischen Einfluss schwinden. Durch die Besetzung von wichtigen Staatsposten mit Reformierten151 wurde der Adel allmählich aus der Führung des Staates verdrängt. Die Zentralisierung und Steigerung der Staatsgewalt ließ sich unter dem Schlagwort der ‚Staatsraison‘ stringent durchführen. Dadurch konnten nicht nur die Stände und der Adel, sondern auch das Bürgertum allmählich politisch entmachtet werden.152 Schrittweise schränkte der Kurfürst auch die ständischen Steuerbewilligungsrechte ein. In den 1660er Jahren führte er in den Städten die Akzise, eine Verbrauchssteuer auf Güter und Dienstleistungen, ein, die er im Gegensatz zu allen anderen Steuern unabhängig von den Ständen erheben konnte. Die notwendige enge Bindung der Protestanten an ihren jeweiligen Landesherrn als Summus episcopus im Gegensatz zur Bindung der Katholiken an das Kaisertum brachte per se eine Schwächung der territorialen Stände mit sich.153 Diese Bindung forcierte Friedrich Wilhelm, indem er auch die Kirchen 149 Vgl. dazu A. Nachama: Ersatzbürger und Staatsbildung. Zur Zerstörung des Bürgertums in Brandenburg-Preußen, Schriften zur Europäischen Sozial- und Verfassungsgeschichte Bd. 1, Frankfurt am Main, 1984, 64–124. 150 Die Anwerbung von Ausländern zur Stärkung des wirtschaftlichen Aufbaus war kein kurbrandenburgisches Spezifikum, sondern wurde auch in anderen Territorien gehandhabt. Für den Eintritt in brandenburgische Dienste war neben der Konfession der gesellschaftlich-ständische Rang ein bestimmender Faktor, vgl. E. Opgenoorth: „Ausländer“ in Brandenburg-Preussen, Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universität Königsberg/Pr. XXVIII, Würzburg 1967, 8–28.90–92. 151 Vgl. die Auflistung der reformiert besetzten Ämter bei Bahl: Hof, 199–203; Clark: Preußen 87. 152 Vgl. Schmitz: Ratsbürgerschaft, 221. 153 Auch wenn diese Tendenz in der früheren Forschung mE. oftmals überzeichnend dargestellt wurde (vgl. zum Beispiel Thadden: Hofprediger, 78 f.: „Die Selbstbehauptung des protestantischen Landesfürstentums [. . .] ging aber auf Kosten der Landstände. Sie brachte den Sieg des Absolutismus, der sich kirchlich als Staatskirchentum manifestierte“), ist doch festzuhalten, dass die Politik Friedrich Wilhelms die Rechte der Stände zumindest stark einschnitt. Mit Recht betont jedoch V. Press: Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715 (Neue Deutsche Geschichte 5), München 1991, 355, dass die
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zunehmend unter staatliche Kontrolle stellte. Kirchenangelegenheiten waren jedoch eine Domäne der Stände und beispielsweise in Preußen fest mit der Landesverfassung verbunden. Daher hatten jegliche kirchenpolitische Entscheidungen des Kurfürsten großes innenpolitisches Gewicht, denn sie konnten für die Stände sowohl eine Einschränkung des lutherischen Bekenntnisstandes und der kirchlichen Rechte als auch „den Vormarsch des kurfürst lichen Absolutismus“154 auf Kosten der herkömmlichen Ständeordnung bedeuten. Als 1660 von den kurfürstlichen Theologen eine neue Konsistorial- und Visitationsordnung erarbeitet worden war, legte Friedrich Wilhelm sie den Ständen zwar vor, betonte jedoch, dass er deren Zustimmung zur Durchsetzung nicht benötige. Der Konflikt verschärfte sich zunehmend. Auch die Revidierungen der Rezesse von 1649 und 1653 durch die Stände waren kein geeignetes Druckmittel mehr. Auf dem Landtag 1670/71 schließlich erklärte Friedrich Wilhelm, dass er zum Regieren keine Landtage mehr brauche.155 Durch seine absolutistischen Maßnahmen156 hatte er die Macht der Stände deutlich dezimiert.
3.3.4 Religionspolitische Maßnahmen von 1653 bis 1659 Nach dem Landtag 1653 gelang es Friedrich Wilhelm allmählich, das Kirchenregiment für sich allein in Anspruch zu nehmen. Auch auf die Universitäten des Landes weitete er seine Religionspolitik ohne Rücksprache mit den Ständen aus.157 So nutzte er seinen Einfluss zur Stellenbesetzung in Königsberg, der einzigen noch rein lutherischen Hochschule seines Territoriums, um irenisch gesinnte Professoren einzustellen. Er weigerte sich, Lutheraner auf die Lehrstühle der Universitäten Duisburg und Frankfurt/Oder zu berufen. Reformierte Lehrer mussten sich zudem an die theologischen Grundsätze des Kurfürsten halten. Als Andreas Fromm 1653 in seinem Inspektionsbezirk in irenischer Absicht eine Disputation publiziert hatte, ohne vorher die dafür erforderliche „dualistische Sicht eines scharfen Gegensatzes zwischen Fürst und Ständen [. . .] an der Realität vorbeigeht“. 154 Beintker: Bekenntniswechsel, 51, vgl. auch Weinberg: Kirchenpolitik, 13. 155 Vgl. Nachama: Ersatzbürger und Staatsbildung, 97 f. 156 Wie die neuere Forschung zu Recht betont, ist Friedrich Wilhelm nicht als absolutistischer Herrscher zu bezeichnen, sondern sind lediglich seine Neuordnungen in Verwaltung und Politik als absolutistische Maßnahmen zu verstehen, vgl. Lackner: Kirchenpolitik, 102; Press: Krisen und Kriege, 341; Münch: Jahrhundert, 104. 157 Vgl. dazu Hering: Neue Beiträge I, 327–368; Landwehr: Kirchenpolitik 173– 174.261–267; Lackner: Kirchenpolitik, 258–273.
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konsistoriale Genehmigung einzuholen, nahm dies der Kurfürst zum Anlass für ein auf den 11. Mai 1654 datiertes Reskript.158 Er könne nicht hinnehmen, „daß ein jeder, was ihm in den Kopff kommen, absque Censura Ecclesiae seines Gefallens publiciren lasse, dadurch denn allerhand haereses & Schismata einreissen können, und auch weidliche Ursach dazu geben wird“. Zur Prävention konfessioneller Streitigkeiten müssten daher alle zum Druck beabsichtigten theologischen Schriften dem Konsistorium zur Revision und Zensur vorgelegt werden. Ein Verstoß gegen diese Anordnung solle verfolgt und bestraft werden. Das bedeutete, dass die Geistlichen keine kontroverstheologischen und die konfessionelle Gegenseite angreifenden Schriften mehr veröffentlichen konnten. Gerade dies jedoch betrachteten die lutherischen Geistlichen als theologische Notwendigkeit, da sie sich durch das Bekenntnis zu ihrem Glauben zugleich zur Verteidigung der wahren Lehren und Bekämpfung der Irrlehre verpflichtet sahen. Hinzu kam, dass es für die Lutheraner eine Anfechtung bedeutete, alle ihre Schriften von einem Konsistorium zensieren zu lassen, dessen Entscheidungen wesentlich der reformierte Hofprediger Bartholomäus Stosch prägte, der vielen Brandenburger Lutheranern ein Dorn im Auge war. Der Protest der Pfarrer wurde ebenso wie derjenige der Stände mit der Betonung zurückgewiesen, dass der Landesherr die alleinige Macht in kirchlichen Angelegenheiten besitze.159 In den folgenden Jahren versuchte Friedrich Wilhelm verstärkt, den Einfluss Wittenbergs auf die Brandenburger Theologen zu begrenzen. Das Konsistorium zu Wittenberg hatte dem Cöllner Konsistorium in einem Brief vom 5. September 1655 mitgeteilt, dass der sächsische Kurfürst Johann Georg I. (1585/1611–1656) für den 25. September die 100-Jahr-Feier des Augsburger Religionsfriedens ausgeschrieben und um Beteiligung der brandenburgischen Städte und Dörfer gebeten habe. Das Cöllner Konsistorium sandte das Schreiben an Friedrich Wilhelm weiter, der die Feierlichkeiten aus verschiedenen 158 Vgl. den Abdruck bei Mylius: Corpus I/1, 361–364; das Reskript wurde am 30. März 1662 erneuert und dann noch einmal gedruckt, vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 196r; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 326. 159 Vgl. den Brief Friedrich Wilhelms an die Stände vom 19. Juni 1654, teilweise abgedruckt bei Leube: Kalvinismus, 388 f. Es scheint, als seien sich weder der Kurfürst noch der Geheime Rat des Paradoxes bewusst gewesen, dass sie theologische Schriften zensierten. Damit verfolgten die Evangelischen nämlich genau das, was sie im 16. Jahrhundert beim Kaiser und bei den Altgläubigen kritisiert und als Einschränkung der Verbreitung reformatorischer Erkenntnisse empfunden hatten. Es ist zudem kritisch zu fragen, ob die Zensur mit dem Argument, Schmähschriften würden theologische Streitigkeiten hervorrufen, überhaupt ausreichend legitimiert war, oder ob sie nicht vielmehr theologisch als notwendig erachtete Äußerungen verbot und somit einen Eingriff in theologische Überzeugungen darstellte. Das Zensur-Reskript war mE. eher ein Zeichen innerer Unsicherheit und Ratlosigkeit des brandenburgischen Hofes als eine souveräne und legitime Entscheidung.
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Gründen ablehnte und sowohl dem Konsistorium als auch allen Pfarrern die Teilnahme untersagte.160 Zum einen würden die Feiern Anlass zu neuen Feindseligkeiten zwischen den Konfessionen geben, zum anderen sei das Reformationsjubiläum für die Reformierten nur bedingt ein Grund zu feiern, und schließlich betonte Friedrich Wilhelm, „dergleichen Dank- und Jubelfest anzuordnen, stehe allein der hohen landesfürstlichen Obrigkeit zu, ohne deren Befehl etwas hierin vorzunehmen sich nicht gebühre“161. Auch bei der Neubesetzung lutherischer Pfarrstellen bestand Friedrich Wilhelm stärker als die meisten seiner Vorgänger auf seinem Recht. Als beispielsweise der bisheriger Propst der Berliner St. Nicolai-Kirche, Petrus Vehr, am 10. Oktober 1656 starb, schlug der Magistrat der Stadt zunächst Elias Sigismund Reinhardt, dann den bisherigen Inspektor von Halberstadt, Johann Latermann, und schließlich den bisherigen Archidiakon an der St. NicolaiKirche, Joachim Fromm, als dessen Nachfolger vor.162 Doch der Kurfürst war mit den Vorschlägen nicht einverstanden und ließ dem Magistrat durch von Schwerin ausrichten, dass Georg Lilius vorgeschlagen163 und gewählt werden solle,164 was schließlich auch geschah.165 Als zunächst wichtigste kirchenpolitische Maßnahme muss die am 3. Dezember 1656 veröffentlichte neue Ordinationsverordnung166 gelten. Der Kurfürst betonte, dass er „der Macht, solche actus ecclesiasticos von einer Kirche zur andern [. . .] jure episcopali zu transferiren, wohl befugt sey [. . .]“. Er bestimmte zum einen, dass nur noch die Pröpste von Berlin, Cölln und Stendal das Ordinationsrecht besitzen sollten. Zum anderen wurde die bislang in Sakristeien oder Pfarrhäusern vollzogene Ordination zentralisiert. Sie musste künftig im Konsistorium stattfinden. Der heftige Protest sowohl der lutherischen Pfarrer als auch der Landstände167 entzündete sich vor allem an der Außerkraftsetzung der Verpflichtung auf die FC bei Ordinationen und Exa Vgl. Meinardus: Protokolle V, 42 f.; Hering: Neue Beiträge II, 90 f. Zitiert nach Landwehr: Kirchenpolitik, 192 (aus dem Reskript vom 8. Oktober 1655). 162 Vgl. Meinardus: Protokolle V, 191 f. (Sitzung vom 13. [23.] Oktober 1656). 163 Vgl. aaO., 208 f. (Bericht vom 20. November 1656). 164 Vgl. aaO., 210 (Bericht vom 21. November [1. Dezember] 1656). 165 Vgl. ausführlich zu den Auseinandersetzungen um die Propstnachfolge zwischen Joachim Fromm und Georg Lilius Petrich: Gerhardt, 108 f.; Niemann: Gerhardt, 127–129. 166 Vgl. den Abdruck bei Mylius: Corpus I/1, 365 f. Bereits am 22. März 1641 (vgl. aaO., 359 f.) hatte der Kurfürst erstmalig die Ordination zentralisiert. Am 3. März 1657 (vgl. aaO., 365–368) wiederholte er, dass Examina und Ordinationen vor dem Konsistorium geschehen müssten. 167 Vgl. die Erörterung der Gravamina vom 7. Dezember 1661 bei Landwehr: Kirchenpolitik, 196. 160 161
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mina.168 Diese Verordnung war ein Angriff auf die lutherische Bekenntnisgrundlage, mit dem sich der Kurfürst absolutistisch über die Bestimmungen des Westfälischen Friedens und des Landtagsrezesses von 1653 hinwegsetzte. Dass die FC aus der Liste der lutherischen Bekenntnisschriften gestrichen wurde, bedeutete für die lutherischen Pfarrer, die sich fast ausnahmslos bei ihrer Ordination darauf verpflichtet hatten, eine unerträgliche obrigkeitliche Einmischung in Religionsfragen und in die Gewissensfrage jedes einzelnen Pfarrers. Die lutherischen Geistlichen befanden sich somit in einer Zwickmühle zwischen politischem Untertanengehorsam und theologischer Bekenntnisbindung. Wie die meisten Lutheraner der Doppelstadt Berlin/Cölln entschieden sich viele Pfarrer Brandenburgs dazu, eher ihrem Glauben als den politischen Weisungen des Kurfürsten zu folgen. Viele Geistliche umgingen daher die Verordnung, indem sie sich entweder in anderen deutschen Territorien auf die FC ordinieren ließen oder dies illegal in denjenigen Gebieten Brandenburgs taten, wo die Inspektoren dem Kurfürsten eine Ordination auf die FC nicht meldeten. Daher ordnete der Kurfürst eine stärkere konsistoriale Kontrolle der Geistlichen an169 und verbot mit einem Reskript vom 3. März 1657, dass sich Theologiestudenten außerhalb des Kurfürstentums examinieren und ordinieren lassen dürften.170 Der Entwurf einer neuen Visitations- und Konsistorialordnung 1659 führte diese Linie der Abschottung von außerbrandenburgischen Einflüssen und der FC weiter. Im Juni 1657 wurde Paul Gerhardt als zweiter Diakon an der Berliner St. Nicolai-Kirche eingeführt. In der Doppelstadt traf er auf ein Klima, das mittlerweile im besonderen Maße durch ein zunehmend angespanntes Verhältnis sowohl der lutherischen Pfarrer zu ihrem Landesherrn171 als auch zwischen den Konfessionen geprägt war. Der Kurfürst ergriff allerdings nur zögerlich konfessionspolitische Disziplinarmaßnahmen. Als Gerhardts Amtskollege Johann Heinzelmann172 in 168 Vgl. das Reskript vom 3. Dezember 1656, in dem es heißt, „daß [man] keinen Ordinandum [. . .] auf die Formula Concordiae, sondern bloß allein auf die Heilige Schrift, altes und neues Testament und mit derselbigen einstimmige uhralte Symbola und Augspurgische Confession obligiren solle“ (zitiert nach Mylius: Corpus I/1, 365). 169 Vgl. die Verordnungen vom 3. Mai 1657 und 16. Februar 1660, abgedruckt bei Mylius: Corpus I/1, 367–370. 170 Vgl. den Text aaO., 365–368. 171 Vgl. unter anderem die Klage des Kurfürsten vom 24. Juli (3. August) 1657 über Geistlichkeit des Landes bei Meinardus : Protokolle V, 366 172 Vgl. zur Auseinandersetzung um Heinzelmann GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (1614–1659; Min. A: 141) Fol. 55: Anschuldigungen von Predigern. 1652–1659 (unfol.); Etliche Brieffe L. Andrae Frommi [. . .] Welche Er innerhalb zehen und mehr Jahren an die Churfürstl. Brandenburg Hoffprediger eigenhändig geschrieben [. . .], Cölln an der
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der dritten Woche vor Pfingsten 1658 in einer Predigt über Gal 1,8 in der St. Nicolai-Kirche eindringlich gegen Reformierte lästerte und unter anderem sagte, „so verdammen wir nun die Papisten/Calvinisten/ und auch die Helmstedter. Mit einem Worte: Wer nicht Lutherisch ist/der ist verflucht. Ich weiß wol das ich dieses mit Gefahr Leibes und Lebens rede. Aber ich bin Christus Diener. Ach lieber Gott wo wil doch solche Teuffeley endlich hin“173 , wurde er zwar am 28. Juli vor das Konsistorium zitiert, kam jedoch nach Entschuldigungen und der Versicherung, dass er sich „hinfüro anzüglicher predigten enthalten [. . .] solte“174 , mit einem Tadel davon. Es ist davon auszugehen, dass sich Heinzelmann in der folgenden Zeit mit provozierenden Äußerungen tatsächlich zurück gehalten hat, da der Kurfürst ihn 1660 als Propst nach Salzwedel berief.175 1654 hingegen wurde der zweite Diakon an der Cöllner St. Petri-Kirche, Samuel Pomarius (1624–1683) 176 , erstmalig entlassen,177 da er über ReformierSpree 1667, (o.S.) Briefe „E“ und „O“; Hering: Neue Beiträge II, 104 f. (Die Predigt erfolgte jedoch nicht in der Klosterkirche, sondern in der St. Nicolai-Kirche!). 173 Etliche Brieffe L. Andrae Frommi (Brief „E“). 174 GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (1614–1659; Min. A: 141) Fol. 55: Anschuldigungen von Predigern. 1652–1659 (aus dem Schreiben Heinzelmanns an den Kurfürsten vom 5. August 1658). 175 Vgl. den teilweisen Abdruck der Berufungsurkunde bei Danneil: Kirchengeschichte, Urkundenbuch 172 f. Mit dieser obrigkeitlichen Einsetzung war der Magistrat der Stadt zunächst unzufrieden, wenig später zeigte er sich jedoch erfreut über die Arbeit Heinzelmanns (vgl. die Briefe in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 473, f. 25v–26r.28r– 28v). 176 Samuel Pomarius (latinisiert aus ‚Baumgarten‘) wurde am 26. April 1624 bei Winzig/Wiñsko (Niederschlesien) geboren und besuchte zunächst die Gymnasien in Breslau und Thorn. 1643 immatrikulierte er sich an der Universität Frankfurt/Oder, ein Jahr später in Wittenberg, wo er 1647 Licentiat der Theologie und 1649 Adjunkt von Calov und Hülsemann wurde. 1653 erfolgte die Ordination und die Anstellung zunächst als Pfarrer in Beschin/Bechyn (Südböhmen), dann als dritter Diakon an der Cöllner St. Petri-Kirche. Nach seiner Entlassung in Cölln war er nach der unten erwähnten kurzen Zeit in Salzwedel von 1659 bis 1666 Pfarrer an der St. Jakobi-Kirche in Magdeburg, von 1667 bis zu seiner Vertreibung durch Jesuiten 1673 Rektor des Evangelischen Kollegiums in Eperis/Presov (Ostslowakei), dann bis 1675 Extraordinarius und Pfarrer der Stadtkirche in Wittenberg und schließlich bis zu seinem Tod am 2. März 1683 Pfarrer und Inspector an der St. Marien-Kirche in Lübeck. Vgl. zu Pomarius Zedler 28 (1741), 1352; Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 554–565; Jöcher III (1751), 1674 f.; J. H. v. Melle: Ausführliche Nachricht von dem Leben und Charakter des Doctor Samuel Pomarius eines in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts berühmt gewesenen Gottesgelehrten, 3 Bde., Lübeck 1784–1790; Fischer: Pfarrerbuch II/2, 647. 177 Vgl. speziell zu den Konflikten um Pomarius GKl Archiv XII/90/1, f. 13r–13v; GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (1614–1659; Min. A: 141) Fol. 149 („Pomarius 1654, 1659“); FB Gotha Chart. A 282, f. 23r–27v (Brief der Wittenberger Theologen an Pomarius vom 7. Januar 1659 anlässlich seiner Entlassung); SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 473; Consilia Theologica Wittenbergensia, 490 f.; Hering: Neue Beiträge II, 92–103.
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te gelästert und einen Konflikt mit dem Hofprediger Bergius ausgetragen hatte. Nach demütiger Reue wurde Pomarius jedoch fünf Wochen später wieder eingesetzt. In den folgenden Jahren kam es allerdings immer wieder zu Auseinandersetzungen um Pomarius. So beschwerten sich Pomarius und der Cöllner Archidiakon Martin Hanisch (1600–1659) 178 am 24. November 1657 beim Geistlichen Konsistorium über eine Predigt Fromms, in der dieser unter anderem den Elenchus kritisiert hatte.179 Dies führt zu einem größtenteils öffentlich ausgetragenen Konflikt zwischen Fromm und Pomarius.180 Dessen Predigt vom 9. Dezember 1658 anlässlich des vom Kurfürsten angeordneten Dankfestes für den Sieg der niederländischen über die schwedische Flotte,181 in welcher Pomarius statt der reformierten Niederlande die lutherischen Schweden gerühmt hatte, führte zur neuerlichen Einschaltung des kurfürstlichen Hofes.182 Bei einer Befragung durch das Geistliche Konsistorium verharmloste Pomarius seine Predigt und bat erfolgreich um Verschonung von disziplinarischen Konsequenzen.183 Wie aus einem Briefwechsel mit seinem ehemaligen Lehrer Hülsemann hervorgeht,184 blieb das Verhältnis zum kurfürstlichen Hof jedoch angespannt. Bereits am 24. Dezember hatte Pomarius die Berufung zum Propst durch den Magistrat der Stadt Salzwedel angenommen.185 Zunächst wollte der Magistrat der Stadt Cölln dieser nicht zustimmen, willigte aber schließlich doch ein. Der Geheime Rat kritisierte daraufhin sowohl Pomarius und das Konsistorium als auch die Magistrate von Salzwedel und Cölln scharf,186 da der kurfürstliche Hof nicht eingeschaltet worden war. Das Geistliche Konsistorium hatte unter der Führung des lutherischen Hof- und Kammergerichtsrats so Über Martin Hanisch ist nur wenig bekannt. Geboren in Storkow um 1600, wurde er 1625 Pfarrer in Schenkendorf und 1626 in Teupiz. Von 1643 bis zu seinem Tod 1659 war er Archidiakon in Cölln, vgl. Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 554; Fischer: Pfarrerblatt II/1, 292. 179 Vgl. SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 473, fol 1r–3r. 180 Vgl. u. a. aaO., f. 6v–12r (Pomarius Beschwerdeschrift über Fromm vom 20. Dezember 1658). 181 Im Zusammenhang mit dem zweiten Nordischen Krieg (1655–1661) hatte die Flotte der vereinigten niederländischen Provinzen am 8. November 1658 die schwedische Flotte im Öresund besiegt. Für einen lutherischen Pfarrer bedeutete es eine Anfechtung, die siegreiche reformierte Flotte in einer Predigt rühmen zu müssen. 182 Vgl. SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 473, f. 4r–6r („Extract Aus Lic. Pomarii DankFest.Predigt d. 9. Dec. 1658. zur Vesper, woran sich etwa H. Lic. Fromm geärgert, und dar wieder geprediget hat d 13. Dec. bey zwey Stunden“). 183 Vgl. aaO., f. 13v–15r (Bericht des Pomarius über seine Vorladung am 10. Februar 1659). 184 Vgl. aaO., f. 15r–21v. 23r–25v. 185 Vgl. zum Konflikt um Pomarius’ Berufung nach Salzwedel Danneil: Kirchengeschichte, 287–290. 186 Vgl. Meinardus: Protokolle V, 481. 499. 513. 178
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wie Präsidenten des Geistlichen Konsistoriums, Joachim Kemnitz (1600– 1663),187 der Vokation des Pomarius am 8. Januar 1659 zugestimmt und Pomarius am 10. März eingeführt. Aus Ärger über den Eingriff in sein Patronatsrecht entließ Friedrich Wilhelm daraufhin Pomarius am 26. April.188 Paul Gerhardt und seine Berliner Pfarrkollegen protestierten ebenso wie viele lutherischen Ministerien und Magistrate energisch gegen diese kurfürstliche Maßnahme.189 Unmut bewirkte vor allem die als Willkür empfundene Härte, mit der Friedrich Wilhelm seine Maßnahme vollzog und unter anderem Pomarius’ Gesuch um eine Anhörung ausschlug. Wenig später endete der Streit dadurch, dass Pomarius den Ruf auf eine Diakonatsstelle an der Magdeburger St. Jakobs-Kirche annahm.190 Das Verhältnis des Kurfürsten zur Brandenburger Geistlichkeit, die sich zum großen Teil für Pomarius eingesetzt hatte, blieb jedoch angespannt. Zudem sollte der Fall Pomarius auch für Kemnitz Konsequenzen haben. 1659 wurde dieser abgesetzt.191 Neben Kemnitz’ Verhalten im Fall Pomarius war ein weiterer Grund für seine Absetzung der Konflikt um die Vokationsurkunde für Christian Nicolai, der als Nachfolger von Pomarius als zweiter Diakon an der Cöllner St. Petri-Kirche eingesetzt werden sollte. Kemnitz und der Cöllner Magistrat bestanden darauf, dass, wie es damals üblich war, die FC in der Vokationsurkunde genannt wurde, und alle anwesenden Räte und Magistratsmitglieder diese unterschreiben sollten. Der Cöllner Propst Andreas Fromm brachte durch einen Zusatz nach der Unterschrift sein Missfallen über die Nennung der FC zum Ausdruck.192 Kemnitz war mit dieser Veränderung nicht einverstanden und ließ eine neue Urkunde anfertigen, die dann lediglich von ihm, den beiden übrigen Räten Johann Georg Reinhard und Martin Seidel sowie dem Magistrat unterschrieben wurde. 187 Joachim Kemnitz, geboren am 13. Mai 1600 in Berlin, war von 1631 bis 1648 Hofund Kammergerichtsrat und von 1648 bis zu seiner Entlassung 1659 Präsident des Geistlichen Konsistoriums. Er starb am 24. Mai 1663 in Berlin, vgl. Saring: Mitglieder, 78. 218. 242; Bahl: Hof, 514 f. 188 Vgl. Meinardus: Protokolle V, 516; Danneil: Kirchengeschichte, Urkundenbuch, 168–172 (Abdruck des Entlassungsschreibens und des Schreibens an den Magistrat der Stadt Salzwedel). 189 Vgl. das Supplicat der Ministerien zu Berlin und Cölln in GKl Archiv XII/90/1, f. 13r–13v. 190 Vgl. Meinardus: Protokolle V, 621; Orlich: Geschichte des Preußischen Staates, 473. 191 Vgl. zum Konflikt um Kemnitz Hering: Neue Beiträge II, 105–108; Lackner: Kirchenpolitik, 122–124. 192 „Andr. Fromm subscribit, sed cum dissensu/quoad obligationem ad F. C. ob nonullas condemnations ad exemplum multorum magnorum Theologorum Luth.“ (zitiert nach Hering: Neue Beiträge II, 105).
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Als der Kurfürst davon erfuhr, bat er Fromm und Stosch um ein Gutachten und beauftragte den Geheimen Rat mit der Regelung der Angelegenheit. Von Schwerin stimmte Fromms Auffassung zu und charakterisierte die FC als „das von allen Unsern Vorfahren verbotene und in Unserer Kur Brandenburg niemaln approbirte, auch von vielen Lutherischen Potentaten, Kur- und Fürsten selbst verworfene und verbrannte Schmähbuch“193. Er befahl am 13. April 1659, Kemnitz zu verhören und, falls dieser die Anschuldigungen nicht leugnen oder zurück nehmen sollte, ihn seines Amtes zu entlassen. Wie aus einem Bericht des Geheimen Rats Friedrich von Jena an den Kurfürsten hervorgeht,194 änderte Kemnitz seine Auffassung nicht, weswegen er daraufhin entlassen wurde. Obwohl sich Seidel und Reinhard noch für Kemnitz einsetzten, hatten ihre Unterschriften auf der Vokationsurkunde keine Konsequenzen; vielmehr sollte Reinhard sogar interimistischer Nachfolger Kemnitz’ als Präsident des Geistlichen Konsistoriums werden.195 Für die Lutheraner Brandenburgs stellte dieser wiederholte Angriff auf ihre Bekenntnisgrundlage eine neuerliche Provokation dar. Die FC galt den Lutheranern als entscheidendes Abgrenzungsmerkmal von den Reformierten. Der Kurfürst wollte jedoch keine gegenseitige Abgrenzung, sondern das Gemeinsame der Konfessionen betonen. Darin sollte er vor allem von seinen Hoftheologen unterstützt werden.
3.3.5 Stoschs „Predigt über die Evangelische Warnung Christi“ 1659 befahl der Kurfürst eine Predigt drucken zu lassen, die Stosch bereits während des Landtages 1653 gehalten hatte.196 Da der Kurfürst sich nichts mehr wünsche, „denn daß beständige Einigkeit in Unsern Landen und unter Unsern sämptlichen Unterthanen conserviret werden möge“, solle Stoschs Meinardus: Protokolle V, 516 f. Vgl. aaO., 588 f. 195 Vgl. Bahl: Hof, 561 f. 196 „Predigt/ über die Evangelische Warnung Christi/ Wegen der falschen Propheten/ Matth. 7. à v. 15---- biß 24. Darbey diese zwey Fragen/ I. Wie sich die Evangelischen/ Reformirte und Lutherische ingesambt gegen die Römisch-Catholische: II. Wie sich die Evangelischen unter sich Selbst bey- und wegen der streitigen Religions-Puncte gegeneinander verhalten sollen: Schlecht und recht / ohne subtile Terminos der falschberühmten Kunst erörtert und auf Begehren in Druck gegeben [. . .] Berlin [. . .] 1659“. Der Druck ist meines Wissens nur noch in der SLUB Dresden, Th. ev. asc. 203m misc. 3 erhalten; kurze Auszüge, größtenteils ohne eigene Kennzeichnung verbessert, finden sich unter anderem in Landwehr: Kirchenpolitik, 199 f.; Wendland: Siebenhundert Jahre, 83–88; Lackner: Kirchenpolitik, 119 f.; O. H. Richardson: Religiöse Toleranz unter dem Großen Kurfürsten und ihre praktischen Ergebnisse, in: Lutz: Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit (1–16), 3 f. 193
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„Predigt über die Evangelische Warnung Christi wegen der falschen Propheten“ gedruckt werden, „der besten Zuversicht/es werde dadurch noch einem oder andern friedliebenden Gemüthe die Augen auffgethan“197. Die Predigt verdient besondere Beachtung, da sie programmatisch sowohl Stoschs als auch Friedrich Wilhelms Sicht auf die Möglichkeit einer konfessionellen Toleranz reflektierte. Stosch versucht auf der einen Seite irenisch motiviert die theologische Nähe der Evangelischen untereinander und auf der anderen Seite das tolerante Verhalten der Reformierten im Gegensatz zum verwerflichen Verhalten der Lutheraner aufzuzeigen.198 Er betont, dass es theologische Lehren gebe, die so wichtig seien, „daß ohne derselben Wissenschaft niemand selig werden kan/ und die sind auch in Heiliger Schrifft so klar enthalten/daß sie kein beruffener Christ/dem sie gebürlich gezeiget werden/ohne handgreifliche Boßheit verwerffen kan“.199 Andere Lehren hingegen seien Nebenlehren, „dunckel und schwer zu verstehen/welche nur die Scharffsinnigen durch schwere Folgereyen aus der Schrifft zu erweisen sich unterstehen/und welche auch nicht so praecise zur Seligkeit/sondern also beschaffen sind/daß ohne derselbigen Wissenschafft dennoch einer den Seligmachenden Glauben/die Liebe/die Hoffnung haben und [. . .] die Seligkeit erlangen könne“. „Falsche Propheten“ seien unter anderem daran zu erkennen, dass sie Nebenlehren für heilsnotwendig hielten und lehrten, „man sol alle dissentirende für Ketzer halten/verdammen [. . .] die verursachen/daß an statt der Christlichen Liebe und Sanfftmuth [. . .] eytel Bitterkeit / Haß und Tyranney regieret“. Da sich auch die Konfessionen gegeneinander als „Falsche Propheten“ bezeichnen würden, beantwortet Stosch im Folgenden die Frage, „wie sich die Evangelischen untereinander bey- und wegen ungleicher Religions-Puncte verhalten sollen: Ob sie sich auch als Ketzer und falsche Propheten außruffen sollen oder nicht? Und dafern wir uns im Gottesdienste voneinander absondern / ob wir auch einer dem andern die Christliche Liebe versagen sollen?“. 197 Predigt/ über die Evangelische Warnung Christi, 2 (Abdruck des kurfürstlichen Reskripts vom 14. Juli 1659; vgl. auch die Sitzung des Geheimen Rates vom 14. [24.] Juli 1659 bei Meinardus: Protokolle V, 590 f.). 198 Insofern ist ihr gesamter „Grundcharakter“ kein „irenischer“, wie Landwehr: Stosch, 107, behauptet. 199 Dies seien: „1. Daß das geschrieben Wort Gottes die Regul und Richtschnur unsers Glaubens und Gottesdienstes sey. 2. Daß wir den einigen wahren Gott / Vater / Sohn und Heil. Geist/im Geist und in der Wahrheit anbäten sollen. 3. Daß wir unser Gerechtigkeit und Seligkeit auf das theure Verdienst Jesu Christi gründen sollen. 4. Daß Christus unser Haupt/Mittler/ Heyland und Fürsprecher in dem Himmel sey“ (Predigt/ über die Evangelische Warnung Christi, 10). Da die Katholiken diesen Punkten nicht zustimmten, könne es, so Stosch, auch keine Gemeinschaft mit ihnen geben.
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Stosch war der Meinung, „daß die Evangelischen Beyderseits in den für nembsten nöthigen Puncten der Christlichen Religion einig seyn“. Auch bei den als strittig angesehenen Lehren Abendmahl, Ubiquität, Satisfaktion und Prädestination sei nicht strittig, „was zur Seligkeit praecise nötig und in Gottes Wort klärlich geschrieben ist“. Im Folgenden thematisiert Stosch Lehren, welche die Lutheraner als fundamental ansähen: „Jedoch wird niemand beweisen können/auch nicht leichtlich sagen dörffen / daß solche streitige Nebenlehren / wann sie schon wahr wären / darumb auch nötige Grundlehren seyn müsten / ohne welcher Wissenschafft und Erkändtnüß niemand könne selig / oder in der Christlichen Gemeinde geduldet werden“. Denn sie seien „ja nicht mit hellen klaren Buchstaben in der Heiligen Schrifft bejahet / decidiret und enthalten / sondern werden durch streitige schwere Syllogismos und Consequenten, welche man mit Philosophischen Terminis vermischet und auff den Hohen Schulen studiren muß/ gelehret und zum Schein bekräfftiget“. Trotz aller Dissense hätten die Reformierten immer den Standpunkt vertreten, „daß wir Evangelische einander schuldig sind/nicht allein eine allgemeine Christliche/oder/wie es etliche nennen/ politische Liebe / [. . .] Sondern daß wir auch eine brüderliche Kirchen-Einigkeit oder tolerantz und Verträglichkeit haben köndten und solten“. Daher dürften sich die Konfessionen nicht untereinander hassen, verdammen, verketzern oder gegeneinander lästern. Obwohl die Lutheraner in vielen Punkten irrten und „schwachgläubig“ lehrten, seien sie „brüderlich zu lieben“. Die Schuld an der Trennung der Evangelischen liege nicht bei den Reformierten, da sie zum einen ausschließlich schriftgemäß lehrten und sie zum zweiten „keine neue Lehre und Ceremonien andern auffdringen[,] als nöthig zur Seligkeit“ sei. Die Reformierten machten sich „nicht schuldig der Lästerung und Verfolgung / damit sich viel Lutherische an GOtt und der Reformirten Kirche versündigen: Denn gewiß ißt es/welche [. . . die] Reformirte Kirche verlästern und verdammen [. . .], die werden ihr Urteil tragen/sie mögen seyn wer sie wollen“. Wer sich wie die Lutheraner über so genannte Nebenlehren beim Abendmahl, die Omnipräsenz, Versöhnungslehre, Prädestinationslehre und den Exorzismus ereifere und gegen Mitchristen lästere, der sei ein Sünder und falscher Prophet. Im nachfolgenden Gebet, in dem Stosch zentrale Aussagen der Predigt noch einmal aufnimmt, betet er: „So schaffe doch in den Evangelischen Kirchen Friede und Einträchtigkeit / daß die sämptlichen Evangelischen nach den Grundlehren / darinne sie einig sind / wandeln / und in übrigen Streitpuncten ohne Haß und Bitterkeit / Lästerung und Verfolgung / einander mit sanfftmütigem Geiste vertragen/und unterrichten“. Die durch den Kurfürsten erhoffte Wirkung der Schrift blieb aus. Statt dem konfessionellen Konflikt neue Ansätze zur Befriedung entgegen zu setzen,
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rief die Predigt vermehrten Unmut bei den Lutheranern hervor.200 Besonders gegen die Auffassungen, dass die zur Seligkeit notwendigen Lehren zwischen den Konfessionen nicht strittig seien und die irrenden Lutheraner der Belehrung durch die Reformierten bedürften, regte sich Protest von lutherischer Seite. Stosch wurde unter anderem vorgeworfen, eine Annäherung der Lutheraner zu erwarten, ohne als Reformierter selbst Kompromissbereitschaft zu zeigen. Insgesamt war die Predigt tatsächlich kaum dazu geeignet, das Verhältnis zwischen den Konfessionen zu entspannen. Neben der starken Vereinfachung theologischer, in den Augen vieler Lutheraner gravierender Differenzen muss auch die Darstellung der Reformierten als Friedensstifter im Gegensatz zu den angeblich streitsuchenden Lutheranern kritisch hinterfragt werden. Zudem waren die literarischen Spitzen gegen die Lutheraner in der damaligen Zeit unverkennbar. Trotzdem ist die Predigt abgesehen von der konfessionellen Polemik in vielen Teilen ein bemerkenswertes Zeugnis frühneuzeitlicher Toleranzvorstellungen.
3.3.6 Religionspolitische Maßnahmen von 1659 bis 1661 Unterdessen kam es zu weiteren Disziplinarmaßnahmen gegen prominente Geistliche. Der Küstriner Inspektor Daniel Fessel(ius) (1599–1674) beispielsweise hatte sich Anfang 1659 – wie viele andere lutherische Pfarrer in dieser Zeit auch – geweigert, den Exorzismus bei der Taufe auszulassen. Folgen hatte dieser konkrete Fall, da der Vater des todkranken Kindes der „Regierungsrat von Bornstedt“201 war, der sich wegen jenes Vorgehens beim Geheimen Rat über Fessel beschwerte. Die Geheimräte warfen Füssel daraufhin vor, dass er sowohl gegen das Edikt vom 18. Juli 1624202 als auch gegen einen selbst entworfenen und unterschriebenen Revers gehandelt habe. Der Kurfürst forderte die Stände auf, in Gutachten darzulegen, wie Fessel bestraft werden könne, 203 und strich bis zu ihren Antworten dessen Gehalt.204 200 Der bekannteste Protest ging aus von den pommerschen Pfarrern Josua Schwartz (1632–1709) und Johannes Colberg (1623–1687), vgl. H. Klaje: D. Johann Colberg – Pastor in Kolberg und Professor in Greifswald, Baltische Studien NF XL (1938), 103–200. 201 Es ließ sich nicht herausfinden, wer mit dieser Bezeichnung gemeint war. Die adlige Familie von Bornstedt/Bornstädt hatte über Jahrhunderte hinweg verschiedene Patronate und Ämter im brandenburgisch-preußischen Verwaltungs- und Militärwesen inne. Ferner gab es zur Zeit des Kirchenstreits einen Neumärkischen Rat von Bornstedt, dessen Vornamen und Lebensdaten jedoch nicht ermittelt werden konnten. 202 Vgl. zum Edikt Georg Wilhelms (abgedruckt bei Mylius: Corpus VI/1, 325–330) 2.1. 203 Vgl. Meinardus: Protokolle V, 491 f. 204 Vgl. aaO., 490 (Verfügung an die Neumärkische Regierung vom 5. [15.] Februar 1659).
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Die Stände schlugen vor, Füssel „für diesmal ein solches gnädigst zu condoniren [= ungestraft zu lassen]“, da es ansonsten keine Klage über ihn gebe. Da sich Füssel zudem für sein Verhalten wenig später vor dem Geheimen Rat entschuldigte und unter anderem die Kurfürstenmutter Elisabeth Charlotte von der Pfalz (1597–1660) auf eine Begnadigung drängte, verzichtete Friedrich Wilhelm auf eine Bestrafung.205 Des Weiteren nutzten die Stände ihre Antwort für allgemeine Bemerkungen zur Problematik des Exorzismus. 206 Sie äußerten ihre Zuversicht, dass der Kurfürst auch weiterhin nicht auf den Exorzismus verzichten wolle. Zwar werde „in unsern Kirchen von niemanden der Exorcismus pro substantiali parte baptismi geachtet“, trotzdem sei er notwendig, weil „nur dadurch der elende und erbärmliche Zustand in geistlichen Sachen, darinnen die Kinder ihrer sündlichen Geburt nach und so lange sie nicht durch das Bad der heiligen Taufe wiedergeboren und dem Gnadenbunde einverleibet werden, begriffen, desto mehr möge abgebildet und die Menschen dessen zum öftern erinnert werden“. Die Stände baten den Kurfürsten, die derzeitige Exorzismuspraxis nicht zu ändern, denn dies würde „bei Auswärtigen einen bösen Nachklang causiren, als wenn man in diesem Churfürstenthumb eine mutationem Religionis vorhätte, weil ingemein aus Abschaffung der Mitteldinge und Kirchengebräuche dieselbe will präsumiret [= angenommen] werden“. Zudem bedürfe eine Änderung der Exorzismuspraxis einer Zustimmung der gesamten lutherischen Kirche. Des Weiteren versicherten die Stände, „daß ihnen nichts annehmers sein sollte, als daß zwischen den unsrigen und Reformirten eine christliche tolerantia sei und allemal verbleibe“. Auch in diesem Punkt teilten die Stände die Auffassung der lutherischen Geistlichen. Eine Antwort auf ihre Eingabe erhielten sie vom Kurfürsten jedoch nicht. Unterdessen wurde durch Friedrich Wilhelm die Unterordnung des Geistlichen Konsistoriums unter den Geheimen Rat forciert. Von 1660 an waren durch das Konsistorium konfirmierte landesherrliche Patronatsstellen nur noch dann rechtens, wenn der Geheime Rat sie zuvor bestätigt hatte. Bei Inspektorenstellen nahm der Kurfürst persönlich dieses Recht wahr. Im Landtagsabschied von 1662 sicherte der Kurfürst den Geistlichen erneut die Wahrung ihres Bekenntnisstandes zu, machte aber deutlich, dass er in Zukunft entschiedener als bisher gegen angebliche Störer des kirchlichen Friedens vorgehen wolle.207 Vgl. aaO., 555 (Bescheid vom 4. [14.] Juni 1659). Vgl. aaO., 525–528. 207 Zudem versicherte der Kurfürst den Ständen, dass „jeder Patron, welcher seiner Prediger ärgerliches Leben, Unfleiß, in ihrem Amte, Lästern und Schmähen auf den Kanzeln, und anderer ungeziemende Dinge, dem Konsistorio jedes Orts nicht bald an205
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Der Kurfürst machte auch von seinem ius in sacra weiterhin Gebrauch. So lud er am 26. September 1660 die lutherischen Pfarrer und Magistratsmitglieder der Doppelstadt zu einer „Besprechung in geistlichen Angelegenheiten“ in die Geheime Ratsstube des Schlosses ein.208 Zu Beginn des Gesprächs verlas von Schwerin einen Brief des Kurfürsten, in dem dieser bemängelte, „daß sonderliche abusus bei den Beichten, auch in beeden Residentien vorgingen“. Da „sich andere Städte nach dem, was allhier vorginge, richten“, müssten Missstände zuerst in der Doppelstadt beseitigt werden. Die Pfarrer würden viele Menschen zum Beichtstuhl lassen, die sich vorher nicht „von ihrem bösen Leben“ verabschiedet hätten. Der Kurfürst schloss daraus, „daß es den Geistlichen nur umb den Beichtpfennig zu thun und daß sie [deswegen] viele Beichtkinder hätten“. Er schlug daher vor, dass fortan der Beichtpfennig nicht mehr „pro parte salarii der Diaconorum gehalten“ werden solle, sondern „daß von nun an alle Beichtpfennige, so des Sonnabends oder Sonntages gefielen, unter die, so die Beichte hielten, gleich getheilet würden“. Zudem „sollte niemand, der zuvor nicht aufgenommen, examiniret und aufgeschrieben, zum Beichstuel verstattet werden“. Des Weiteren schlug der Kurfürst Änderungen betreffend Leichenbegräbnisse, Trauungen und Probepredigten vor. Es war nicht so sehr der provokante Vorschlag des Kurfürsten, die Beichte und die Gemeindeglieder zu kontrollieren, der zum Ärger der anwesenden Geistlichen und Stände führte, sondern die Tatsache, dass und wie er seine Vorstellungen durchzusetzen gedachte. Von Schwerin wollte den Lutheranern keine Beratung mit allen betreffenden Geistlichen zugestehen und drängte auf eine schnelle Entscheidung. Letztendlich wurde das Treffen ergebnislos abgebrochen, da sowohl die Magistratsmitglieder als auch die Pfarrer nicht nachgeben wollten. Es zeigte sich einmal mehr der Konflikt zwischen dem kurfürstlichen Hof und der lutherischen Geistlichkeit, die eng mit den Magistraten und Landständen verbunden waren, und der zwischen dem Geheimen Rat und dem Geistlichen Konsistorium, auf das sich die Berliner Pfarrer in ihrer bisherigen Praxis beriefen. Zwar handelte Friedrich Wilhelm mit seinem Eingriff in das ius circa sacra durchaus legalistisch, doch seine Untertanen sahen in seinem Handeln einen Angriff auf ihre Bekenntnisgrundlage und wehrten sich daher vehement dagegen. Ein anderes Beispiel für die angespannte Situation zwischen den Konfessionen in der Residenzstadt, das zudem zeigt, dass sich die Streitigkeiten nicht nur zwischen Geistlichen und dem kurfürstlichen Hof abspielten, sondern gezeigt, nach befindender Sache Beschaffenheit, des Juris patronati verlustig sein soll“ (zitiert nach Orlich: Geschichte des Preußischen Staates, 478). 208 Vgl. Meinardus: Protokolle V, 189–192.
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
auch durch die Bevölkerung wahrgenommen und gelebt wurden, ist die Auseinandersetzung um den Sohn des Berliner Archidiakons Johann Rösner, Gottfried Rösner (geb. 1631). 209 Dieser ließ 1661 in seiner Funktion als Subrektor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster ein Theaterstück mit dem Titel „Das ungerechte Urteil des Pilatus“ aufführen. Besonders die szenische Darstellung des Abendmahls erregte den Unwillen vieler Reformierter, da sie darin ihr Abendmahlsverständnis angegriffen sahen. Auch der Kurfürst war der Meinung, „daß dieser Handel allerhand Ärgerniß, Mißbräuche und Entheiligung göttlichen Namens, Profanierung der heiligen Sacramenten und andere unzulässige, gottlose und leichtfertige Schwüre, execrationes und andere höchst strafbare Dinge mehr in sich begreife“210 und ordnete eine Untersuchung durch den Geheimen Rat an. Dieser befand Rösner bei einem Verhör in der Hausvogtei für schuldig, Reformierte „anstechen“ zu wollen. Rösner wurde von seinem Amt suspendiert und in Haft genommen. Nachdem Johann Rösner Anfang September für seinen Sohn brieflich um Gnade gebeten hatte, 211 erlaubte der Kurfürst gegen Kaution dessen Entlassung aus dem Gefängnis und wies das Konsistorium an, 212 zügig über Rösners Zukunft zu urteilen. 213 Da sich Rösner bereit erklärt hatte, sich für sein Verhalten vor dem Konsistorium und der Schule zu entschuldigen, befahl der Kurfürst, „denselben in Respect seines Vatern nicht allein gnädigst pardonniren, sondern [. . . ihn] in seiner Funktion bei der Schulen“ wieder einzusetzen.214 Rösner trat die Stelle wieder an, wurde jedoch bereits kurze Zeit später zum Prediger der deutschen Gemeinde in Stockholm berufen. Weitere wichtige religionspolitische Maßnahmen betrafen den Aufbau eines reformierten Gemeindewesens. Dazu erarbeitete der Geheime Rat Lorenz Christoph von Somnitz eine neue Kirchenverfassung, die den Landständen 1661 zur Begutachtung vorgelegt werden sollte. Da der Entwurf jedoch lutherische Bräuche ebenso kontrovers beurteilte wie Luther und dessen Schriften, verschob der Kurfürst die Beratungen im Hinblick auf die angespannte Situation in Brandenburg auf zunächst unbestimmte Zeit.215 209 Vgl. zu den Auseinandersetzungen GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, f. 18r–27v („SchulComödie 1661“) sowie die Eintragungen in das Protokollbuch des Magistrats der Stadt Berlin, abgedruckt bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt und die lutherische Opposition, 70–72 (Einträge 2, 5, 7, 8). 210 Zitiert nach Meinardus: Protokolle VI, 409 (Brief des Kurfürsten an den Rat vom 18. Juli 1661). 211 Vgl. aaO., 433. 212 Vgl. aaO., 437. 213 Vgl. aaO., 441. 214 Vgl. aaO., 443 (Brief des Kurfürsten an den Rat vom 30. September [10. Oktober] 1661). 215 Vgl. P. M. Hahn: Calvinismus und Staatsbildung: Brandenburg-Preußen im 17.
3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen
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3.3.7 Das so genannte ‚erste Toleranzedikt‘ und die religionspolitischen Maßnahmen 1662 Wesentlich mitveranlasst durch die Auseinandersetzungen um Pomarius hatte von Schwerin auf Befehl des Kurfürsten bereits im August 1659 eine Restituierung alter Edikte angekündigt: „Nachdem wir je länger je mehr verspüren, was für ein unchristliches gottloses Werk es ist, daß die evangelische Kirchen einander dergestalt verketzern und verdammen und anstatt der christlichen Liebe und deren Pflanzung, wozu sie absonderlich berufen, nichts als Haß, Neid und Feindschaft den Gemüthern ihrer Zuhörer imprimiren und daraus hochschädliche Dinge erfolgen, so ist Unsere gnädigste Willensmeinung, daß die vorige von Unsern hochlöblichen Vorfahren kegen dieses abscheuliche Lästern und Verdammen ausgelassene Edicta renoviret und darinnen dieses unchristliche Wesen denen Geistlichen zur Gnüge vorgestellet und ernstlich verboten werden solle“216 . Es dauerte dann jedoch noch fast drei Jahre, bis am 2. Juni 1662 das so genannte ‚erste Toleranzedikt‘217 erlassen wurde. Da darin neben der Wiederholung der Bestimmungen von 1614 lange, zum Teil wörtliche Phrasen aus einer Predigt Stoschs enthalten waren, gilt der Hofprediger als Verfasser des Edikts.218 In dem Edikt stellte sich Friedrich Wilhelm in eine Reihe mit bedeutenden Herrschern von den israelischen Königen bis zu Johann Sigismund, die allesamt versucht hätten, den „Religion- und Profan-Frieden“ zu erhalten. Der Kurfürst erhoffte sich, dass die Lutheraner und Reformierten „entweder zu vollkommener Einigkeit/in allen Stuecken der Goettlichen Warheit kommen moechten/oder [. . .] untereinander in Christlicher/friedlicher Eintraechtigkeit leben/ sich alles Religionhasses/ verketzerens/verdammens/und verfolgens enthalten/und bis Gott die voellige Erleuchtung geben wird/einander aufnehmen/und vertragen mögten“. Jahrhundert, in: M. Schaab (Hg.): Territorialstaat und Calvinismus (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg: Reihe B, Forschungen; 127. Bd.), Stuttgart 1993, 260 f. 216 Zitiert nach Meinardus: Protokolle V, 618 f. 217 Zeitgenössische Drucke befinden sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 23r–25v (folgende Zitate nach diesem Druck); GKl Archiv XII/90/2, f. 61r–64r; BLHA Pr.Br. Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 259r–261v; abgedruckt unter anderem bei Mylius: Corpus I/1, 375–382; Hering: Historische Nachricht, Anhang 73–80; Gericke: Glaubenszeugnisse, 166–170. 218 Diesen Nachweis führt Landwehr: Stosch, 115 f. mittels eines Vergleichs des Edikts mit einer Predigt Stoschs („Frage Ob und wie weit die Evangelischen Reformierten und Lutherischen ohne Verletzung der Göttlichen erkannten Wahrheit und der Christlichen Liebe in christ-brüderlicher Friedfertigkeit und Einträchtigkeit leben sollten und könnten? [. . .] Berlin 1661“ [Die Predigt ist nicht mehr erhalten]).
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Zur Erreichung dieses Ziels habe bereits Johann Sigismund 1614 „ein Edict außgehen lassen an alle Geistliche, und darin das unnoehtige Gezaenck und disputiren auff den Cantzeln [. . .] bey hoher Ungnade und harter Straffe verboten“. Da jedoch viele Geistliche das Edikt vergessen hätten und statt „die Lehre von einem gottseligen Leben“ zu verkünden, „unchristlich Verdammen und spöttisch verhöhnen“, habe er, Friedrich Wilhelm, sich entschieden, das Edikt zu erneuern. Er ordnete darin an, „daß in den Gemeinen Unserer Lande, das Wort Gottes lauter und rein, wie solches in den Prophetischen und Apostolischen Schrifften gegruendet, und in den 4. Haupt-Symbolis der Augspurgischen Confession, von Anno 1530. und derselben Apologie wiederholet ist, fuergetragen werde“. Bei der Ordination sollten Pfarramtskandidaten einen Revers unterzeichnen, in dem sie sich verpflichten, die Bestimmungen des Edikts einzuhalten. Wenn die Lutheraner Texte auslegen müssten, die zwischen den Konfessionen strittige Lehren enthielten, so dürften sie von den Reformierten nichts behaupten, was nicht auch in deren „öffentlichen Bekenntnissen“ enthalten sei. Zudem beauftragte der Kurfürst die Geistlichen, „das momentum und pondus der gedachten Principal-Streitigkeiten zu untersuchen“, um zu klären, welche Lehren „noethig zur Seligkeit und so klaerlich in Gottes Wort enthalten seyn, daß ohne deren Wissenschafft und Ubung niemand koenne selig werden“. Schließlich befahl der Kurfürst, künftig „des unseligen Verdammens, Verketzerns, Bennenung und Verhönung der Personen oder der Kirchen-Lehrer, höhnischer Verstellung der Lehren, oder Verketzerung derselben, sich [zu] enthalten“. Gebe es unter den Kandidaten oder Pfarrern „unzeitige Eiferer oder Zeloten [. . .], die da vermeinten, daß [. . .] ihr Gewissen zu enge gespannet würde“, so müssten diese das Kurfürstentum verlassen, und sich „an solchen Orten niederlassen, da ihnen solch unchristlich Verdammen anderer Christen [. . .] zugelassen wird“. Die lutherische Geistlichkeit und die Stände, die sich an den antilutherischen Phrasen störten und den Hofprediger Stosch als Hauptautor erkannten, protestierten gegen das Edikt und sandten es an ausländische Universitäten und Magistrate. Neben der intendierten Außerkraftsetzung der FC sorgte vor allem die Tatsache für Unmut, dass den Lutheranern einseitig Vorschriften gemacht wurden, nicht aber den Reformierten. Da Friedrich Wilhelm die Unterstützung lutherischer Protesthaltung gegen die kurfürstliche Religionspolitik durch die kursächsische Universität Wittenberg schon länger ein Dorn im Auge war und er darin eine wesentliche Ursache des Verhaltens der lutherischen Geistlichkeit Brandenburgs sah, beauftragte er den Geheimen Rat mit einer öffentlichen Distanzierung. Dieser
3.3 Die Verschärfung der konfessionellen Differenzen
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beschloss in seiner Sitzung vom 30. Juni 1662, 219 ein „Rescript an das hiesige Consistorium [zu senden], daß künftig keiner in diesen Landen zum Ministerio soll befördert werden, der zu Wittenberg studiret, weiln die theologische Facultät daselbst nichts unterlassen hat, [. . .] was zu Fomentirung [= Veranlassung] und Anstiftung der uneinigkeit zwischen Reformirten und Lutherischen gereichen mag“. Am 21. August unterschrieb Friedrich Wilhelm ein Reskript, welches Brandenburgern den Besuch der theologischen und juristischen Fakultät der Universität Wittenberg verbot. 220 Damit wollte er zum einen verhindern, dass die Brandenburger Lutheraner weiterhin im Sinne einer Ablehnung der Toleranz durch die Wittenberger geprägt wurden, und dass zum anderen künftige Geistliche ihre Ausbildung in Wittenberg erhielten. Überraschend kam dieser Schritt nicht, schon länger war es zwischen den kurfürstlichen Höfen zu konfessionsbedingten Spannungen gekommen. 221 Jenes Reskript war aus mehreren Gründen ein weitreichender Schritt. Da wie Gerhardt die meisten Brandenburger Geistlichen in Wittenberg studiert hatten und auch über das Studium hinaus maßgeblich durch die Fakultät geprägt wurden, musste sie das Verbot besonders treffen. Es wurde daher nicht nur als obrigkeitliche Reglementierung der Ausbildung, sondern auch als Angriff auf die Bekenntnisbindung der Lutheraner angesehen. Zudem hatte die Maßnahme eine Verschlechterung des ohnehin schon angespannten Verhältnisses zwischen Friedrich Wilhelm und dem kursächsischen Hof zur Folge.222 Vgl. Meinardus: Protokolle VI, 593. Vgl. den Text bei Mylius: Corpus I/2, 79–82; Hering: Historische Nachricht, Anhang 87–92; Schulz: Gerhardt, 332. Ein Verbot des Studiums an einer ausländischen Universität war nichts Ungewöhnliches. Kursachsen verbot beispielsweise zu Calixt’ Lebzeiten ein Studium in Helmstedt. Vgl. Lackner: Kirchenpolitik, 128. 221 Vgl. zum Konflikt zwischen den beiden Kurfürstentümern vor 1662 Friedensburg: Urkundenbuch, 159–162 (Urkunde 735: Die Fakultät Wittenberg schrieb am 1. Mai 1660 an den Kurfürsten Johann Georg II. anlässlich einer Klage aus Brandenburg, dass die Wittenberger Theologen Lästerungen lutherischer Prediger unterstützten). 173 (Urkunde 752: Brief an Johann Georg II. von Sachsen vom 14. April 1662, in dem sich Friedrich Wilhelm über „Abraham Calovius’ Eingriff in die kurbrandenburgische Kirchenhoheit“ beschwert); Meinardus: Protokolle VI, 300 f. (Brief Friedrich Wilhelms an den Kurfürsten zu Sachsen vom 11. März 1661, in dem er sich über das „ganz bittere Urtheil von der Juristen Facultät zu Wittenberg“ beschwert). 222 Das Edikt wurde am 11. (21.) September samt einer langen Erklärung (vgl. den Text bei Friedensburg: Urkundenbuch, 181 [Urkunde 758]) an den Dresdner Hof gesandt, vgl. Meinardus: Protokolle VI, 638 f. Johann Georg II. reagierte daraufhin verärgert mit einem Brief vom 23. Januar (2. Februar) 1663, in dem er Friedrich Wilhelm aufforderte, das Edikt zurückzunehmen, da dieses kirchenpolitische Folgen im ganzen Reich nach sich ziehen könne (vgl. GStA PK Rep. 13 Nr. 19c Fasz. 11; abgedruckt bei Meinardus: Protokolle VI, 802–805; Friedensburg: Urkundenbuch, 182 [Urkunde 759]), worauf Friedrich Wilhelm brieflich am 24. März (3. April) versuchte, sein Reskript zu rechtfertigen (vgl. den Text bei Meinardus: Protokolle VI, 896–905; Friedens219
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Neben diesem protestierten mehrere in- und ausländische Fakultäten und Magistrate gegen das Verbot.223 Brandenburg wurde gegenüber lutherischen Territorien zunehmend religionspolitisch und theologisch isoliert. Die lutherische Geistlichkeit Brandenburgs war mit fast allen kirchenpolitischen Entscheidungen des Kurfürsten nicht einverstanden und sah in ihnen eine Einmischung des Staates in Angelegenheiten der Kirche und des Gewissens. Von reformierter Seite sind hingegen kaum Reaktionen auf die religionspolitischen Maximen und Maßnahmen des Kurfürsten bekannt. Da die Religionspolitik den Aufbau der reformierten Kirche in Brandenburg begünstigte, diese nach und nach rechtlich mit der lutherischen Kirche gleichstellte und sie in ihrer Diasporasituation gegenüber dem lutherischen Umfeld stärkte, ist allerdings davon ausgehen, dass die reformierten Geistlichen den Kurs Friedrich Wilhelms voll und ganz unterstützten. Die Gleichstellung mit der lutherischen Konfession bedeutete für die Reformierten die allmähliche religiöse wie gesellschaftliche Anerkennung und sicherte das Überleben der reformierten Konfession in Brandenburg. Hinzu kommt, dass die Reformierten nicht unbeteiligt an dieser Entwicklung waren, so bestimmten etwa die Hofprediger die kirchenpolitischen Entscheidungen des Kurfürsten wesentlich mit. Da sich die angespannte Situation zwischen den Konfessionen auch nicht durch das so genannte ‚erste Toleranzedikt‘ wesentlich geändert hatte, musste der Kurfürst neue Wege zur Befriedung der aktuellen Situation in der Doppelstadt gehen. Mit einem weiteren Schreiben vom 21. August erging daher eine Einladung an die Ministerien von Berlin und Cölln zu einem Religionskolloquium.
burg: Urkundenbuch, 182 [Urkunde 762]). Er habe das Verbot veröffentlichen müssen, da die Wittenberger Professoren die „Epicrisis de Colloquio Casselano Rinthelino-Marpurgensium“ versandt, Reformierten den Aufenthalt in lutherischen Territorien untersagt, sie vom Augsburger Religionsfrieden ausgeschlossen und somit gegen die Bestimmungen des Westfälischen Friedens gehandelt hätten. 223 Eine hohe Anzahl erhaltener Quellen belegt, dass dieses Verbot einen massiven Protest aus allen Teilen des Reiches zur Folge hatte, vgl. unter anderem Meinardus: Protokolle VI, 752–756.767.791 f. Bereits vor der offiziellen Übersendung des Reskripts hatte die Universität Wittenberg davon erfahren und in einem Brief vom 7. September 1662 Kurfürst Johann Georg II. um sein Einschreiten gebeten, vgl. aaO., 180 (Urkunde 757).
3.4 Theologische Auseinandersetzungen der Berliner Lutheraner
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3.4 Theologische Auseinandersetzungen der Berliner Lutheraner Bevor die zweite Phase des Berliner Kirchenstreits thematisiert wird, soll an Hand von zwei Beispielen aufgezeigt werden, inwiefern Paul Gerhardt und seine Berliner Pfarrkollegen von den kirchenpolitischen Entscheidungen des Kurfürsten betroffen waren und wie sie darauf reagiert haben. Zuvor erfolgt ein Blick auf die Abgrenzung der Lutheraner gegenüber dem Weigelianismus, der zeigt, dass die Berliner Geistlichkeit andere theologische Verständnisse nicht nur von Seiten der Reformierten oder Katholiken gegenüber ihrem eigenen lutherischen Bekenntnis engagiert zurückwiesen.
3.4.1 Die Abgrenzung vom Weigelianismus Paul Gerhardt und die anderen lutherischen Pfarrer Berlins waren durch eine kompromisslose lutherisch-orthodoxe Universitätstheologie geprägt, die jede Lehre, die sich nicht allein auf die biblischen Schriften, die CA invariata und die FC berief, verurteilte. Je nach Behandlung des entsprechenden theologischen Artikels wurden Reformierte als ‚Sakramentirer‘, Ireniker als ‚Synkretisten‘ sowie Katholiken und Juden als ‚Irrlehrer‘ bezeichnet. Darüber hinaus wurden Andersgläubige mit den Namen vermeintlicher altkirchlicher Ketzer pauschal abgestempelt. Um die Eindeutigkeit ihrer Lehre gegenüber dem Katholizismus und dem Reformiertentum nicht zu gefährden, bedurften die Lutheraner einer immer wieder neuen Vergegenwärtigung ihrer theologischen Grundeinsichten. Innerlutherisch heterodoxen Meinungen wurde daher ebenso hart begegnet wie anderen Konfessionen. So bezeugten orthodoxe Lutheraner wie Gerhardt ihren als einzig wahr empfundenen Glauben auch mit der Abgrenzung von den Schriften Valentin Weigels224 bzw. dem Weigelianismus.225 224 Weigel, geboren am 7. August 1533 in Großenhein bei Meißen, studierte in Leipzig und Wittenberg Theologie und war ab 1567 bis zu seinem Tod am 10. Juni 1588 Pfarrer der lutherischen Gemeinde Zschopau/Erzgebirge. Vgl. zu Weigel J. O. Opel: Valentin Weigel. Ein Beitrag zur Literatur- und Culturgeschichte Deutschlands im 17. Jahrhundert, Leipzig 1864; A. Israel: M. Valentin Weigels Leben und Schriften. Nach den Quellen dargestellt, Zschopau 1888; G. Baring: Valentin Weigel und die „Deutsche Theologie“, ARG 55 (1964), 5–17; S. Wollgast: Philosophie in Deutschland 1550–1650, Berlin 2 1993, 499–576; A. Weeks: Valentin Weigel (1533–1588). German Religious Dissenter, Speculative Theorist, and Advocate of Tolerance, New York 2000; G. Bösch: Reformatorisches Denken und frühneuzeitliches Philosophieren. Eine vergleichende Studie zu Martin Luther und Valentin Weigel, Marburg 2000; H. Pfefferl: Art. Weigel, Valentin, TRE 35 (2003), 447–453 (Lit.); Ders.: Art. Weigel, Valentin, RGG4 8 (2005), 1331. 225 Auch die Hohenzollern grenzten sich entschieden – teils aus ihrem reformierten
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Weigel, der sich zeitlebens auf die Schriften Luthers und die FC berief, verknüpfte in seinen Schriften reformatorische Theologie mit Ideen des Neuplatonismus, der deutschen Mystik, des mystischen Spiritualismus und der paracelsischen Philosophie. In seinen Schriften thematisierte er persönlich erfahrbare Frömmigkeit und individuelle Aneignung des durch Christus erworbenen Heils. Weigel war überzeugt, dass der innere Mensch Vorrang gegenüber allen äußeren Dingen habe. Es waren nicht so sehr Weigels mystische Auffassungen als vielmehr die kritischen und zum Teil polemischen Auseinandersetzungen mit der FC sowie sein irenisches Eintreten für eine die unterschiedlichen Konfessionen respektierende religiöse Toleranz, die ihn immer wieder in Konflikte mit der lutherischen Theologie seiner Zeit brachte. Zur eigentlichen Rezeption und ausführlichen Auseinandersetzung mit seiner Theologie und infolgedessen zur Verurteilung durch die meisten lutherisch-orthodoxen Theologen kam es jedoch erst, als der größte Teil seiner Schriften postum zwischen 1609 und 1619 herausgegeben wurde. Eine Vielzahl der Schriften gegen Weigel und seine Anhänger wurde bald nach dem Erscheinen der wichtigsten Drucke echter und pseudepigraphischer Werke Weigels in den frühen 1620er Jahren veröffentlicht. Nach dem Westfälischen Frieden setzte allmählich eine zweite Welle solcher Gegenschriften ein.226 Als Weigelianismus wurde nun nicht mehr nur eine Schulrichtung Weigels bezeichnet.227 In der theologischen Polemik des 17. Jahrhunderts galt der Weigelianismus als allgemeine Bezeichnung für Ansichten und Vorstellungen, die nicht mit der universitär geformten lutherisch-orthodoxen Lehre konform waren. Wer sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts für Glaubensfreiheit und Toleranz einsetzte, wurde oftmals als Weigelianer beschimpft. 228 Auch die Berliner Pfarrer griffen den Weigelianismus an und stellten sich somit anderen Lutheranern als Verteidiger der lutherischen Lehre dar. Diese Glauben heraus, teils politisch motiviert – vom Weigelianismus ab, vgl. Georg Wilhelms „Reskript, wegen des einreisenden Weigelianismi und wie in der Sache zu verfahren“ vom 16. August 1637 und die Verordnung vom 9. August 1639 (beide abgedruckt bei Mylius: Corpus I/1, 357–360). 226 Dies hing vermutlich mit einer neuen Verbreitungswelle der Schriften Weigels Ende der 1640er Jahre von Amsterdam, London und Frankfurt am Main aus zusammen, vgl. Bösch: Reformatorisches Denken, 286. Möglichweise haben die vermehrten Gegenschriften auch ihren Grund darin, dass in den Kriegsjahren weigelianische Lehren wieder mehr Anhänger fanden oder darin, dass die Abgrenzung gegen Weigel als theologischer Vorwand genommen wurde, das lutherische Profil im Kampf gegen Synkretismus und Calvinismus zu stärken. 227 Vgl. zum Weigelianismus Baring: Weigel, 5 f.; Wollgast: Philosophie, 576–600. 228 Vgl. aaO., 584.
3.4 Theologische Auseinandersetzungen der Berliner Lutheraner
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Verwerfung des Weigelianismus ist charakteristisch für den Umgang der Berliner Lutheraner mit anderen theologischen Ansichten und zeigt exemplarisch ihr theologisches und geistliches Selbstverständnis auf. Aus der zweiten Welle der antiweigelianischen Schriften gibt es zwei Zeugnisse dieser Abgrenzung der Berliner gegen den Weigelianismus. Bei dem ersten Zeugnis aus dem Jahre 1658 handelt es sich um ein Werk von Adam Spengler, 229 der von 1651 bis 1665 Oberpfarrer und Superintendent in Wriezen/Oderbruch war und bereits zuvor eng mit Gerhardt230 wie auch den anderen Berliner Pfarrern verbunden war.231 Als im Kirchenkreis Wriezen weigelianische Ideen zunehmend rezipiert wurden, gab Spengler – damals durchaus üblich – einen Sammelband 232 heraus, zu dem er weitere, möglichst prominente Theologen oder Staatsbeamte zur Mitarbeit überredete. Paul 229 Spengler, geboren am 24. Dezember 1612 in Siebenbrunn/Vogtland, studierte von 1633 bis 1641 in Wittenberg Theologie, wo er 1639 Magister, 1640 Magister legens und schließlich 1641 Adjunkt in der philosophischen Fakultät wurde. Von 1641 bis 1651 war er Rektor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin. Hier arbeitete er eng mit den Berliner Pfarrern zusammen (Martin Lubath war von 1647 bis 1651 Konrektor). 1651 wurde Spengler als Superintendent nach Wriezen berufen, wo er am 8. Mai 1665 starb. Vgl. zu Spengler Diterich: Schul-Historie, 168–172; Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 944–945; Jöcher IV (1751), 727; L. Noack: Art. Spengler, Adam, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Berlin-Cölln 1640–1688, 422–430. 230 Mit Paul Gerhardt stand Spengler über das Studium in Wittenberg hinaus in Kontakt, wie das Trostgedicht „Mein herzer Vater, weint ihr noch“ (Vgl. den Abdruck bei CS 116) anlässlich des Todes von Spenglers Sohn 1650, „Spenglerum flemus“ (Vgl. die Abdrucke bei Petrich: Gerhardt, 143; CS XIII) anlässlich von Spenglers eigenem Tod 1665 sowie weitere Gedichte beider zu unterschiedlichen Anlässen zeigen. Vgl. zur Beziehung zwischen Gerhardt und Spengler Petrich: Gerhardt, 81 f. 231 Auch nach dem Tod Spenglers blieb die Verbindung zwischen Berlin und der Inspektur Wriezen bestehen. Peter Pape (vgl. zu ihm 4.2.5) war von 1665 bis 1677 zweiter Diakon und von 1677 bis 1705 Oberpfarrer und Superintendent in Bad Freienwalde, Christian Nicolai war von 1657 bis 1660 Pfarrer in Batzlow. 232 Dieser Band wurde 2001 von H.-H. Krummacher in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel entdeckt (insofern ist die Bemerkung von Noack: Art. Spengler, 425, diese Schrift sei verschollen, überholt; vgl. zu weiteren Funden VD17 23:650069U) und zum Teil ausgewertet, vgl. H.-H. Krummacher: „Weigels Schwarm und schnöde Rotte . . .“. Ein unbekanntes Gedicht von Paul Gerhardt, in: R. Braun / F. Schäufele (Hg.): Frömmigkeit unter den Bedingungen der Neuzeit, Festschrift für Gustav Adolf Benrath zum 70. Geburtstag (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte 6), Darmstadt und Kassel 2001, 57–68. Der Titel des Werkes lautet: „I. N. J.|Extract|Der fürnembsten Wei-|gelianischen Irrthummen/welche|sie von den meisten Glaubens Artickeln foviren|und führen/aus ihren eigenen Schriften kurtz zusam-|men gezogen und mit Sprüchen und Zeugnüs-|sen der H. Schrifft wiederleget. Allen einfältigen Christen/son-|derlich denen/die offt mit solchen Leuten|(den Weigelianern) conversiren und umb-|gehen müssen zur Lehr/Vnterricht und War-|nung. |Gestellet von M. Adam Spenglern|Der Kirchen zu Writzen an der Oder|Pfarrern und der benachbarten/Inspectorn. |1. Joh, IV.1. |Prüffet die Geister/ob
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Gerhardt trug sein Gedicht „Weigels Schwarm und schnöde Rotte“ bei.233 Darin bezeichnet Gerhardt Weigel und seine „schnöde Rotte“ als „verdammten Feind“. Weigels Lehren seien ein „Betrug“ und ein „Irrweg“, der zu Gottes Zorn führe, ja sogar „Satans List“, die jedoch mit „Gottes Wort“ und den Lehren Spenglers aufgedeckt werden könne. Wer Buße tue und „treu und rein“ im Glauben „bis in den Tod“ verharre, den werde keine Not treffen. Gerhardt verband in diesem Gedicht lebendige Frömmigkeit mit der Verkündigung ‚reiner Lehre‘. Sein dichterisches Wirken war hier eng mit den pfarramtlichen Aufgaben verbunden. Die Verurteilung weigelianischer Lehren und die Abstempelung der Aufnahme weigelianischer Ideen als Sünde waren für ihn kein Selbstzweck, sondern dienten der Erhaltung der ‚wahren‘ und als allein seligmachend begriffenen Lehre um das Seelenheil jedes einzelnen Christen willen. Daher verwirft Gerhardt diejenigen, die sich von den Lehren Weigels ansprechen lassen, nicht, sondern fordert sie zur Buße auf, damit sie vor Gottes Zorn gerettet werden. Gerhardts theologische Auffassung von der Buße ist somit die der zeitgenössischen lutherischen Theologie. Die meisten Streitschriften gegen den Weigelianismus stammten von den Universitäten.234 Bei Fragen zur Regulierung von Lehrkonflikten oder zum Verhalten in bestimmten Fällen, in denen die ‚wahre Lehre‘ als bedroht angesie von Gott seyn?|Wittenberg/|In Verlegung/D. TOBIAE MEVII Erben|und Elerd Schumachers/|Gedruckt bey Melchior Oelschlegels Erben/1658“. 1. Weigels Schwarm und schnöde Rotte 2. Nimm zur Hand, o frommes Herze! Ehrt ja zwar noch immerhin (Wie es sich denn auch gebührt Ihre Nacht und finstern Sinn, Dem, der Christi Namen führt) Macht sich aber selbst zum Spotte. Gottes Wort, die edle Kerze, Denn sobald das Licht nur scheint, Und beleuchte Weigels Schmuck, Sieht man den verdammten Feind. So befindst du den Betrug. 233
3. Nimm zu Hilf Herrn Spenglers Lehren, Und hier diese schöne Schrift, Da er, was den Hauptzweck trifft, Freund und Feinden lasset hören! Folgest du dem, was hier gesetzt, Bleibst du frei und unverletzt:
4. Folge doch du armer Haufe, Den der Irrweg hat betört, Ehe Gott sich von dir kehrt, Und sein Zorn dich überlaufe, Was versehn, wird wieder gut, Wenn man nur bald Buße tut.
5. Aber wer bisher im Glauben Treu und rein verblieben ist, Laß ihm ja des Satans List Diesen teuren Schatz nicht rauben. Sei getreu bis in den Tod, So entgehst du aller Not.
(Abgedruckt nach CS, 138)
Vgl. unter anderem N. Hunnius: Principia Theologiae Fanaticae, quam Theophrastus Paracelsus genuit, Weigelius interpolavit, Wittenberg 1619; A. Merck: Tre234
3.4 Theologische Auseinandersetzungen der Berliner Lutheraner
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sehen wurde, wandten sich viele Pfarrer dem im Wesentlichen neuartigen Verfahren der gutachterlichen Konsultation verschiedener universitärer oder kirchenleitender Instanzen zu.235 Die daraufhin erstellten ‚Responsen‘ oder ‚Consilia‘ genannten Ratschläge waren autoritativ gestaltet, auf einen Einzelfall bezogen und in der Regel nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Dass nicht nur die theologischen Fakultäten als Lehr- und Gutachterinstanzen wahrgenommen wurden, belegen vielfältige Ratgesuche kleinerer Gemeinden oder einzelner Pfarrer an die Geistlichen einer großen oder bedeutenden Stadt. Die Doppelstadt Berlin/Cölln galt neben Frankfurt/Oder als weiteres gelehrtes Zentrum Brandenburgs, so dass auch die dortigen Pfarrer eine theologische Autorität besaßen. Die Beantwortung von Fragen erforderte zwar viel Arbeit und Zeit, doch die Responsen begründeten das Ansehen und die Autorität der beantwortenden Pfarrerschaft, schärften ihr theologisches Profil und machten für jedermann offensichtlich, dass die Pfarrer der reinen und unverfälschten Lehre anhingen und sie verteidigten. Ein weiteres, der Forschung bisher unbekanntes Zeugnis der Abgrenzung der Berliner Lutheraner gegen den Weigelianismus befindet sich im Nachlass von Gerhardts Kollegen Martin Lubath. 236 Joachim Köppen, zwischen 1656 und 1664 Superintendent und Oberpfarrer an der Eberswalder Kirche St. Maria Magdalena 237, hatte das Berliner Ministerium in einem nicht mehr erhaltenen Brief gefragt, wie er sich zu der Verbreitung weigelianischer Gedanken zu verhalten habe. Zu dem ohnehin schon „zerrütteten Zustand“ Eberswaldes komme noch erschwerend hinzu, dass „die zerrütteten Sinne Georg Weinrichs“238 zunehmend Anhänger finden würden. Die Berliner Pfarrer antworteten mit einem Brief vom 16. August 1658. 239 Darin verstanden sie Weinrichs Gedanken über eine „unionem mysticam fidelium cum Christo“ als Irrlehre. whertzige Warnung fürm Weigelianismo [. . .], Halle 1620; Crocius: Anti-Weigelius, Id est, Theologiae [. . .], Kassel 1651. 235 Vgl. dazu grundlegend J. Geffcken: Über die theologischen Responsa und deren Bedeutung im siebzehnten Jahrhundert, ZVHaG 1 (1841), 249–280; vgl. des Weiteren Sträter: Wittenberger Responsen, 289–302; Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg, 79. 236 Der Aktenteil „Georg Weinrichs Weigeliani, Schrift mit seiner Censuria“ befindet sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 571r–588r. 237 Vgl. Fischer: Pfarrerbuch II/1, 436 f. 238 Es bleibt unklar, wer „Georg Weinrich“ war (Der bekannte Leipziger Superintendent und Theologieprofessor mit selbem Namen [1554–1617] kommt zeitlich und theologisch nicht in Frage. Ebenso kann nicht der Pfarrer in Gallun/Kreis Zossen, Johann Georg Weinreich [Tod 1672; vgl. Fischer: Pfarrerbuch II/2, 942], gemeint sein, da es zum einen keine bekannte örtliche Verbindung zu Eberswalde gab und zum anderen Gerhardt ansonsten wohl eher nicht ein Epicedium anlässlich des Todes des Gutdorfbesitzers Christoph Ludwig Rittmeister von Thümen, den Johann Georg Weinrich mitbestattete, gedichtet hätte [vgl. dazu Petrich: Gerhardt, 93. 118]). 239 Das „AntwortsSchreiben eines Ew. Minist. Berol. ad Inspect. zu Neustad Eberß
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Sie nahmen jedoch nicht an, dass Weinrich bewusst falsche Lehren verbreitete, sondern dass er unwissentlich irrte, weil er die wahre lutherische Lehre noch nicht kannte. Dieses Abirren von der Wahrheit zeige sich darin, dass Weinrich, „in Waigelianische reden, gedancken, schrifften und irthümer geWalde, Hn M. Joachim Cöppenium, d. 16. August. Ao. 1658.“ befindet sich abschriftlich in GKl Archiv XII/90/3, f. 581v–582r und folgt hier auszugsweise: „Wol Ehr würdiger, in Gott andächtiger und wohlgelahrter, Amptsbrüderlicher werter Könner und Freundt. Negst Vermedlung unseres freundlichen grußes und darbietung allerwilliger Freundschafft eröfnen wir dem Hn Zur freundlichen antword, das wir auß sainem an unß gethanen schraiben nebst den schon bewusten zerrütteten Zustand ihres ortes, auch noch gar nicht fällig vernehmen müßen die zerrütteten Sinne Georg. Weinrichs, der das ihm wohl düncken läßt, er wiße etwas, und könne dahero dem ministerio wol waißen die unionem mysticam fidelium cum Christo erwaiset sich aber darin also, daß man siehet, wie er sehr verdürstet sey, und noch lange nicht waiß, wie er wißen soll, sondern von der warhait abirret, und in Waigelianische reden, gedancken, schrifften und irthümer geräthet, nicht ohne ärgernüß an der Gemeine und wol künfftiger Verführung der Schwachen. Wan ihr den hierein unser Bedencken bittlich suchet und unser einrathen begehret, haben wir in williger freundschafft gegen den Herrn, nicht unrathsam zu sain verneinet, mit demselben Menschen anfangs cum limitate Spirity in Charitate zu agiren und ümb ihn zu gewinnen, ihn zu sich verbitten zu laßen, saine schrifft vor zu nehmen, auß der selben ihn zu vernehmen, damit er sich deutlich erklären, nachdem etliche saine Sachen heimlich auf schrauben[?] gesetzet, auch solche redens arten führet, welche wan sie an sich selbst, wie sie klingen, gelaßen würden, nicht gantz böse sind, sondern auch wohl, wie in sainen unß zu geschickten Geschmier enthalten, verbum ipsum Dei sindt, wie dan die weygelianer art ist, unter solchen phraseologia ihre irthümer zu verbergen, und mit den Weitzen hew und stoppeln zu marckte zu bringen, judicirt et Sleuph., wie solches der Herr in diesen sainem Scripto leicht mercken wird, wen ers Examiniret. wie wir dan bey vielen andern Verrichtungen dennoch etwas Zait abgebrochen und solch Scriptum ein wenig durch gelauffen haben und unser Cursoria Excerpta auß freundschafft nach sain bitten mit schicken wollen darin der H selbst fort fahren kann, und auff solchen wegen mit ihm conferiren und vernehmen, was saine Meinung | sey, welche wan er sie herauß bekömpt und irrig ist, zu rechte waißen, und darbey ihn überwaißen, wie saine Schrifft ziemlich Weigelianisch were, und er mit weygelio et Confortiby gleiche rede und meinung führete, teilß Aperte teilß operte et occulte da bey gelegenhait ist, saine errores ihm zu demonstriren und zu gleich mit zu resutiren. Wollte er ihm allein nicht folgen, könnte der H sainen Hn Collegen mit darzu ziehen: weil er sie sämptlich nicht hören hatt er Ursach mit der angefangenen Klage, beym hochgeistlichen Consist: fort zu fahren, so wird solches schon dem Weinreich coerciren und eben wie dem Wrietzischen Hipping ihm daß Silentium zu imponiren wißen, damit die gemeine nicht geärgert, oder auf andere mit verführet werden, welches Ja leicht geschehen könnte, wen sie ihm gantz pro Sodo[unleserlich, da von sekundärer Hand verbessert] et vero Christiano halten und hingehen laßen wolten, der doch affirmiret, wie der Herr schraibet, der mensch könnte wol ohne sünde sain, welche Weigelianisch ist, der da lehret: Wir sind nicht filii adoptivi, sondern natürliche Kinder Gottes, wie Christus, und daß ist die neue geburth, welche in hac vita perscita, de stud. univers. circa fin., und meine dahero ein renaty könnte nicht sündigen, confundentes regenerationem stricte acceptam (quae perfecta, quando perfecte Christy nos justificat) cum renovatione, qua imperfecta manet in hac vita. So stehet
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räthet“. Den Berlinern lag nicht an einer vorschnellen Verurteilung. Sie rieten Köppen, mit Weinrich „anfangs am limitate Spirity in Charitate zu agiren und ümb ihn zu gewinnen, ihn zu sich verbitten zu laßen, saine schrifft vor zu nehmen, auß der selben ihn zu vernehmen, damit er sich deutlich erklären“. Diese Praxis, dass der Beschuldigte seine Schrift vor jemand amtlich Höhergestelltem erklären musste, war zeitüblich und erinnerte an ähnliche Vorgänge, bei denen sich Pfarrer für bestimmte Praktiken vor Geistlichen Konsistorien verantworten mussten. Fraglich ist jedoch, ob die genaue Erklärung des Beschuldigten wirklich unvoreingenommen aufgenommen wurde. Die Brandenburger Lutheraner orientierten sich an einem in der CA und FC dogmatisierten Lehrgebilde, welches für mystische Ideen wie die von Weigel oder Weinrich keinen Platz ließ. Die Anklagenden waren sich sicher, den unbewusst Irrenden überzeugen und somit wieder zu dem als einzig wahr verstandenen Glauben führen zu können. Ließ sich der vermeintlich Irrende auch nach intensiven Versuchen nicht überzeugen und beharrte auf der Richtigkeit seiner Überzeugungen, glichen viele Anhörungen einer Farce, denn letztendlich galt das Recht des Stärkeren: Der Beschuldigte wurde verurteilt, möglicherweise seines Amtes entlassen oder des Territoriums verwiesen. Die Berliner Pfarrer beschrieben den Weg, den Köppen zum Nachweis des weinrichschen Irrtums gehen sollte, genau: „Wollte er ihm allein nicht folgen, könnte der H[err] sainen H[erre]n Collegen mit darzu ziehen: weil er sie sämptlich nicht hören hatt er Ursach mit der angefangenen Klage, beym hochgeistlichen Consist[orium] fort zu fahren, so wird solches schon den Weinreich coerciren [= bestrafen] und eben wie dem Wrietzischen Hipping240 ihm daß Silentium zu imponiren [= auferlegen] wißen“. Die Überführung des IrrJa einen wahren Christen zu, Christi word gerne hören, deßen Sacrament offt gebrauchen, und saine diener gerne auff nehmen, lieben und nicht verachten, welches weils beim Weinrich sich nicht findet, erkennet man, wie guth Weygelianisch es ist, den Prädigt hören, Kirchen gehen, getauffet werden, beichten, sich absolviren laßen, Sacramentnehmen, sey mir Hinderung zur Seligkait, schreibe er in postilla Dnia XX Trinit: p. 307. und wir können selig werden durch daß geistliche Eßen ohne das Sacramentliche lehret er d[ome]nica laetare p. 216., wer nun Christi sain word, Sacrament und diener verachtet, und also Christum selbst, mag ein schlechter Christ seyn, welches aber mit H. Waldawen Collegialisch und freundlich kann in in geheim geredet werden. Gott sey bey Ihnen und gebe Gnade, daß dieser Mensch sich ändere, und ein recht glaubiger, guter Christ, und durch Christum entlich gerecht und Seelig werde. In deßen Schutz und Obacht hiermit treulich befohlen“ (Alle folgenden Zitate in 3.4.1 stammen aus diesem Brief, der durch Lilius, Rösner, Reinhardt, Gerhardt und Heinzelmann unterschrieben wurde.). 240 Mit „Hipping“ ist an dieser Stelle wohl keine Person gemeint. „Hipping“ stammt vom altdeutschen Verb ‚hippen‘ und bedeutet ‚schmähen‘ oder ‚lästern‘, vgl. J. Grimm / W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 2. Abt., Leipzig 1877, 1553. Demzufolge bedeutet dieser Satz, dass sich die Berliner sicher waren, dass das Geistliche Konsistorium die (weigelschen) Lästereien in Wriezen unterbinden könne.
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tums seitens der Berliner geschah jedoch nicht aus machtpolitischen Ambitionen 241 oder persönlichen Antipathien gegenüber Weinrich, sondern aus Sorge um die Gemeinde: Bei einer weigelianischen, das heißt unrechtmäßigen Verkündigung sei das Seelenheil der Gemeindeglieder in Gefahr. Weinrich müsse daher zurechtgewiesen werden, „damit die gemeine nicht geärgert, oder auf andere mit verführet werden, welches Ja leicht geschehen könnte, wen sie ihm gantz pro et vero Christiano halten und hingehen laßen wolten“. Der Antwortbrief zeigt, wie schwierig es für Gerhardt und seine Kollegen war, eine Abgrenzung zu weigelianischen Aussagen zu begründen. Für sich allein genommen seien viele Aussagen rechtmäßig und biblisch begründbar. Erst bei einer genauen Untersuchung eines Textes könne festgestellt werden, ob weigelianische Irrtümer darin verborgen seien. Zu diesem Zweck haben die Berliner „solch Scriptum242 ein wenig durch gelauffen“, eine „Cursoria Excerpta“ mit ihren Bedenken verfasst und Köppen zugesendet, „darin der H selbst fort fahren kann, und auff solchen wegen mit ihm conferiren und vernehmen, was saine Meinung sey“. Obwohl dieses Exzerpt in Lubaths Akten nicht erhalten ist, bieten einige Bemerkungen des Briefes die Möglichkeit, die Anschuldigungen zu rekonstruieren: Die Berliner waren der Meinung, dass Weinrich weigelianische Lehren verbreitete, wenn er behaupte, dass der Mensch ohne Sünde sein könne. Dieses folgere Weinrich daraus, dass die Menschen „nicht filii adoptivi [sind], sondern natürliche Kinder Gottes, wie Christus, und daß ist die neue geburth“. Diese Auffassung widersprach dem Verständnis der Berliner, wonach alle Menschen nach Adams Fall als in Sünde empfangen und geboren werden 243 und die Substanz und das Wesen des Menschen durch die bereits im Samen angeborene akzidentielle Erbsünde als verdorben gelten. 244 Die Berliner wa241 Dabei sei nicht grundsätzlich in Abrede gestellt, dass machtpolitische Überlegungen im Hintergrund von Consilien gestanden haben oder deren maßgebliche Intention waren. Für die hier skizzierte Begebenheit lassen sie sich jedoch aus den Quellen nicht nachweisen. 242 In GKl Archiv XII/90/3, f. 571r–576r und f. 576v–581r befinden sich Abschriften von zwei kurzen Meditationen (Obwohl wahrscheinlich zumindest die erste Schrift gedruckt wurde, ließ sich weder in VD 17 noch an anderer Stelle der Titel oder ein Exemplar ausfindig machen). Die Schriften sind inhaltlich von einer tiefen Christusfrömmigkeit gekennzeichnet, die, durchsetzt mit ethischen Apellen, die typische Form der Mystik des 17. Jahrhunderts aufweist. Eine genaue Darstellung der Schriften würde an dieser Stelle zu weit führen, denn entscheidend ist nicht deren genauer Inhalt, sondern die Reaktion der Berliner Pfarrer auf den Brief Joachim Köppens. 243 Vgl. CA II (BSLK 53,1): „Item docet, quod post lapsum Adae omnes homines, secundum naturam propagati, nascantur cum peccato, hoc est, sine metu Dei, sine fiducia erga Deum et concupiscentia“. 244 Vgl. FC Epitome I,XI (BSLK 774 f.,21): „Peccatum enim originis non est quoddam delictum, quod actu perpetratur, sed intime inhaeret infixum ispi naturae, substantiae et
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ren des Weiteren der Meinung, dass „Christi word gerne hören, deßen Sacrament offt gebrauchen, und saine diener gerne auff nehmen, lieben und nicht verachten“ nicht nach weigelianischem Verständnis „Hinderung zur Seligkait“, sondern Merkmale eines wahren Christen seien. Da sich diese Merkmale bei Weinrich nicht finden lassen, schlugen die Berliner vor, Weinrich „zu rechte [zu] waißen, und darbey ihn überwaißen, wie saine Schrifft ziemlich Weigelianisch were“ und „wie guth Weygelianisch“ er sei. Schon durch diese zwei Aspekte sahen die Berliner Weinrich als des Weigelianismus überführt an. Sie stellten sich somit als theologisch gebildete, klar und strukturiert denkende Verteidiger der aus ihrer Sicht allein zum Heil führenden und auf den Bekenntnisschriften gründenden lutherischen Lehre dar. Problematisch war an der Berliner Antwort jedoch zweierlei: Die Pfarrer verurteilten Weinrich, obwohl sie ihn nicht persönlich angehört, sondern lediglich Informationen über ihn und seine Auffassungen aus zweiter Hand, und somit möglicherweise schon subjektiv eingefärbt, durch Köppen erhalten hatten. Zum Zweiten wurden lediglich zwei der „verborgenen Irrtümer“ kurz angerissen, eine hinreichende theologische Auseinandersetzung mit den Schriften Weinrichs fand jedoch nicht statt, wie unter anderem die Berliner Formulierung „solch Scriptum ein wenig durch gelauffen“ zeigt.245 Auf eine intensive Beschäftigung mit den Gedanken Weinrichs kam es den Berlinern aber auch nicht an. Für sie gab es nur die eine wahre und gottgefällige, nämlich die lutherische Lehre, so wie sie in den Bekenntnisschriften festgeschrieben wurde. Alle anderen theologischen Ansichten stellten nicht möglicherweise eine andere Auslegung der Bibel oder ein andere Art und Weise dar, von Gott zu reden, sondern waren einem Irrtum geschuldet. Diesen Irrtum galt es aufzudecken, damit der Irrende wieder zum rechten lutherischen Glauben geführt werden konnte. Die Lutheraner waren überzeugt, dass ihre Lehren von Gott gegeben seien und daher allein zum Heil führten. Anderslehrende würden unwissentlich und unabsichtlich irren und müssten daher wie nun Weinrich zum rechten Glauben gewiesen werden. In dieser Überzeugung baten die Berliner Gott um Gnade, damit sich Weinrich „ändere, und ein recht glaubiger, guter Christ, und durch Christum entlich gerecht und Seelig werde“. Die Verwerfung theologischer, nicht mit lutherischen Lehren konform gehender Ansichten, seien es mystische Auffassungen, reformierte Überzeuessentiae hominis. [. . .] tamen natura nihilominus corrupta est per originale peccatum, quod nobis ratione corrupti seminis agnatum est“. 245 Zwar befinden sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 583r–588r (schwer lesbare) Notizen von Martin Lubath, die möglicherweise die erste Vorlage für die „Cursoria Excerpta“ darstellten. Auch sie stellen jedoch keine intensive Auseinandersetzung mit den Schriften Weinrichs dar.
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gungen oder katholische Dogmen, und der Erweis des theologischen Irrtums mit dem Ziel zur einzig wahren und rettenden lutherischen Lehre zu führen, waren kennzeichnend für das Verhalten der Brandenburger Lutheraner und somit charakteristisch für die polemischen und kontroversen Auseinandersetzungen, in die Paul Gerhardt und die Berliner Pfarrer involviert waren.
3.4.2 Der Konflikt um Martin Lubaths Leichenpredigt Trotz verschärfter Maßnahmen in der kurfürstlichen Kirchenpolitik blieben die Berliner Lutheraner ihrer polemischen Ausrichtung treu. Hielten sich Geistliche, Lehrer, Juristen oder Staatsangestellte nicht an kurfürstliche Vorgaben, wurden sie vor das Konsistorium geladen, um über ihr Vorgehen Rechenschaft abzulegen und gegebenenfalls ermahnt zu werden. Friedrich Wilhelm hatte 1658 ein besonderes Gremium für Streitfälle eingerichtet, den so genannten ‚Geheimen Rat bei den Verhören‘, dem zunächst die reformierten Räte Otto von Grote, Lucius von Rhaden und Bartholomäus Stosch sowie die lutherischen Räte Hans Ludwig von der Gröben, Johann Georg Reinhard und Andreas Fromm angehörten.246 Im Laufe des Berliner Kirchenstreits hatten sich verschiedene Theologen vor dem Geheimen Rat bei den Verhören oder dem Geistlichen Konsistorium für ihre konfessionelle Polemik oder Missachtung kurfürstlicher Bestimmungen zu verantworten. 247 Vgl. Saring: Mitglieder, 81. Vgl. zu von Grote, von Rhaden, von der Gröben und Reinhard 4.1. 247 Die prominentesten Vorladungen betrafen Samuel Pomarius, Jakob Schilling (s. u.) und Johannes Colberg. Colberg, geboren am 31. März 1623 in Kolberg, studierte von 1638 bis 1644 Theologie in Greifswald und Königsberg, erhielt 1644 den Magistergrad und war Adjunkt an der Universität Frankfurt/Oder. 1652 erwarb er das Lizentiat an der Universität Leipzig und wurde ein Jahr später zunächst Pfarrer an der St. Petri- und Pauli-Kirche in Eilsleben, dann an der St. Marien-Kirche in Kolberg. 1666 zum Doktor der Theologie an der Universität Leipzig promoviert, galt er als streitfreudiger und kompromissloser lutherisch-orthodoxer Theologe. 1675 wurde er wegen eines Streites mit Bartholomäus Stosch vor das Geistliche Konsistorium geladen, welches nach einigen Anhörungen schließlich seine Entlassung durch Friedrich Wilhelm zur Folge hatte (vgl. FB Gotha Chart. A 281, f. 222–231r [„Remotio D. Johannis Colbergij. 1675. d. 6. Aug.“]). Colberg wurde 1677 Professor in Greifswald, ging ein Jahr später nach Rostock und kehrte 1686 wieder nach Greifswald zurück, wo er bis zu seinem Tod am 19. September 1687 blieb. Vgl. die Leichenpredigt: „Die denen Bergen ähnlichen Menschen/als Der Hoch-Ehrwürdige/Groß-Achtbahre und Hochgelahrte Herr Johannes Colberg [. . .] am 17. Septembr. 1687. auf seinen Erlöser sanfft und selig entschlaffen [. . .] In seiner DanckRede einigst entworffen/ und auff Begehren zum Druck gegeben / von M. Christiano Saalbach/Profess. Publ. und der Philosophischen Facultät damahls Decano, Greiffswald [o.J.]“ (GKl PSS 22, 31–34); Zedler 6 (1733), 644; G. A. A. W. Häckermann: Art. Colberg, Johannes, ADB 4 (1876), 398–400; Klaje: Johann Colberg, 103–200. 246
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Der Forschung ist bisher unbekannt, dass auch Martin Lubath vor das Geistliche Konsistorium zitiert wurde. 248 Der Kurfürst war mit Lubaths Leichenpredigt über Jer 17,16 f.249 für den verstorbenen Archidiakon der Berliner St. Marien-Kirche, Johann Rösner, nicht einverstanden. Lubath wurde am 12. Juni 1662 in einer zweistündigen Befragung vorgeworfen, dass er mit seiner Predigt „dero [= des Kurfürsten] Hohen Auctoritat wenig respectirte“ und versuche, „dadurch andere zu ärgern“. Zudem sei die Predigt vor dem Druck nicht der konsistorialen Zensur vorgelegt worden. Durch den Inhalt der Predigt und die Umgehung des Zensur-Reskripts habe sich Lubath gegen die kurfürstlichen Ziele der „Einigkeit, [. . .] Politische[n] Friedfertigkeit und Verträglichkeit“ gestellt. Lubath wehrte diese Vorwürfe vehement ab und betonte, dass er nicht böswillig gegen den kurfürstlichen Befehl gehandelt habe: „von dem a[nn]o 1659 wüßte ich nichts, 250 und ehe das Post-Scriptum wäre heraus komen, wäre meine Predigt schon in Wittenberg gedruckt gewesen [. . .] also erkenneten Sie ia Die „Acta cum M. Lubatho coram Consistorio, wegen des H. Rösners Leichenpredigt“ befinden sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 190r–193r. Da es über die Vorladung nur die Quelle aus Lubaths Hand gibt, lässt sich ein verzehrtes Bild nicht ausschließen. Die Stärke dieses subjektiven Berichts liegt jedoch darin, dass Lubath immer wieder persönliche Bemerkungen darüber einfließen lässt, wie er die Situation wahrgenommen hat. Diese Bemerkungen wiederum lassen Rückschlüsse auf sein Selbstverständnis zu: „Weil ich wohl konnte gedenken, daß solches alles in oppositione gegen mir geredet war, schwieg ich reine Stille, und sagte nichts, weil ich von den Herrn Speck. offt des Seneca Spruch gehöret: composita mentis est subsistere posse et fecum morari: welcher mir wahrhafftig einfiel“ (aaO., f. 190v). Dieser Einschub deutet nicht nur Lubaths humanistischen Bildungshintergrund an, sondern zeigt auch sein Selbstverständnis: Überzeugt von der Richtigkeit seines Handelns und der geistigen Überlegenheit, übt er sich, wie Seneca, im Schweigen. 249 Der Titel der gedruckten Leichenpredigt lautet: „Orthodoxus Verbi Minister, Oder Wie des Propheten Jeremiae Wort verdeutscht lauten im XVII. Cap. v. 16. 17. Was ich geprediget habe/ das ist recht für dir &c. : Bey Christlicher [. . .] und Volckreicher Leichbegängnüs Des. . .Herrn Johannis Rosneri, [. . .] Wittenberg 1661“. Leider muss der Druck als verschollen gelten. In dem Exemplar der SBB-PK (2 an: Ee 531) sind lediglich das Anfangsgebet, der Lebenslauf, eine Abdankungsrede und die Epicedien (zu denen Paul Gerhardt sein Gedicht „Fortunate Senex, nunc te fortuna noverca“ [vgl. Düchting: Dichtungen, 46 f.; CS, X] beigesteuert hat) vorhanden, die Predigt selbst fehlt. Entscheidend für das Verständnis dieser Vorladung ist jedoch nicht die Predigt an sich, sondern die Reaktion des Konsistoriums. 250 Anscheinend waren sich viele Pfarrer nicht mehr sicher, ob das Zensur-Reskript nach den Einwänden der Stände noch in Geltung war. Zwar wurde das Reskript 1658 und 1662 erneuert, jedoch darin, bedingt durch einen Druckfehler, nicht auf das erste Zensurreskript von 1654 verwiesen, sondern auf ein Reskript von 1659, das es gar nicht gab (vgl. den Originaldruck des wiederholt erlassenen Reskripts vom 30. März 1662 in GKl Archiv XII/90/3, f. 196r.). Ob diesem Einwand, auf den sich Lubath in seiner Verteidigung berief, wirklich eine Unsicherheit in der Pfarrerschaft zu Grunde lag, oder ob die Lutheraner viel eher den Druckfehler ausnutzten, um ihre polemischen Schriften 248
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hieraus meine Unschuld, wie ich nicht wieder Sr. Churfl. Dhl. Verordnung was intendiret“. Des Weiteren versicherte Lubath seinen hohen Respekt vor dem Kurfürsten: „Es wäre mir hertzlich leyd, daß ich Sr. Churfl. Dhl. Ungnade wieder alle meine Intention erfahren sollte“. Hinsichtlich der Umgehung der Zensur war sich Lubath keiner Schuld bewusst. Zwar gab er zu, dass er vom Reskript aus dem Jahre 1654 gehört hatte. Jedoch nahm er an, dass dies keine Gültigkeit mehr habe, „weil damahlen die Herren Stände bald darauff bey Sr. Churfl. Dhl. mit ihren wichtigen rationibus einkomen, und Sr. Churfl. Dhl. dieselben angenomen, habe ich vermeynet, Sr. Churfl. Dhl. wären damit zu frieden“. Die enge Verbundenheit der lutherischen Geistlichkeit mit den Ständen offenbarte sich immer dann in besonderer Weise, wenn der Kurfürst ohne Konsultation bei den Ständen Entscheidungen fällte, welche die lutherischen Pfarrer betrafen. Was das Konsistorium und den Kurfürsten in diesem Fall stören musste, war die Gleichstellung der ständischen Schreiben mit dem kurfürstlichen Reskript. Daher stellte Stosch klar: „Sie [= die Stände] haben nichts erlanget, E[s] ist der Befehl in rigore [= seinem strengen Wortlaut nach] blieben“. Ebenso vertrat auch Andreas Fromm die Meinung Stoschs, indem er betonte, dass auch dessen Schriften zensiert werden müssten. Stosch fügte anschließend einige Beispiele von Pfarrern hinzu, die sich der Zensur willig ergeben hätten. Johann Georg Reinhard hob hervor, dass es im kurfürstlichen Reskript nicht darum gehe, das Gewissen und den persönlichen Glauben zu beeinflussen, sondern lediglich um die Zensur der Schriften: „Sr. Churfl. Dhl. wolleten nicht haben, daß Nostri Articuli fidei sollten censiret werden, sondern Scommata et Cavillationes [=Lästereien und Spöttereien] sollten eradiciret [=ausgerottet] werden“.251 Der Grundkonflikt zwischen Lubath und dem Konsistorium bestand darin, dass Lubath die Zensur eben doch als kurfürstliche Einflussnahme auf die Religion und das persönliche Gewissen ansah. Einen anderen Weg zur Unterdrückung der Streitigkeiten als die Zensur theologischer Schriften sahen zu der Zeit jedoch weder das Konsistorium noch der Kurfürst. Stosch rechtfertidrucken zu lassen, um dann bei einer möglichen Vorladung Ahnungslosigkeit und Unwissenheit vorzutäuschen, lässt sich aus den Quellen nicht hinreichend beantworten. 251 Darauf gab Lubath eine bemerkenswerte Antwort, die Aufschluss über sein Bildungsverständnis gibt: „Auff Universit[äten] were ich sonsten so informiret, daß censura wäre in Academis confirma[ti]o Doctrina in Articulis fidei, ut conscientia mea tranq[ui]lla subsisferet et acquiesceret in censura, qua facta certus forem, me habere veritatem confirmatam judicio Doctorum, liberatam ab o[mn]i errore. Sicut jam El[ectoris] Seren[issimis] doctrina sua veritatem non quareret in censura Catholicor[um], ita et conscientia mea in Articulis fidei non posset tranquillari [. . .] verificari censura Reformatorum (welches ich so deutsch und Lateinisch unter ein ander vorbrachte.)“ (aaO., f. 191r).
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gte die Zensur mit dem Hinweis, dass sie auch für die Reformierten gelte. Auch seine eigenen Schriften würde er Fromm zusenden, „qui hac confirmabat, und die ihrigen müßens alle auch thun, Ja ihre würden schärffer corrigiret als unsere“. Zufrieden mit diesen Zusicherungen bestätigte Lubath, dass er sich in Zukunft an das Reskript halten wolle und bat „gar unterdienstlich, Sie wollten Sr. Churfl. Dhl. meine Entschüldigung also vortragen, daß Sie möchten die Ungnade fahren laßen“. Nachdem diese formale Frage geklärt war, teilte Stosch Lubath seine theologischen Bedenken über die Predigt mit. Indem Stosch anmerkte, dass Jeremia ein „immediate illuminatus Propheta“ und somit „infallibilis oder infallibiliter ductus a Spiritu Sancto“ gewesen sei, betonte Stosch den großen Unterschied zwischen Göttlichem und Menschlichem und kam zum Schluss, dass Lubath Jer 17,16 nicht, wie in der Predigt geschehen, auf einen Menschen beziehen könne. Dem entgegnete Lubath, dass ein Mensch dasjenige „mediate empfangen“ könne, was der Prophet „immediate“ empfangen habe „und dem selben firmiter inherirte“. Daher sei es rechtens, die Predigt „in et cum Verbo Dei in Articulis fidei“ zu halten. Das Problem für Stosch lag nicht nur in den provokativen Aussagen der Predigt, sondern in der Tatsache, dass die Lebenssituation eines polemischen Theologen wie Johann Rösner252 mit der eines Propheten verglichen wurde.253 Dann drohte Stosch den Berliner Pfarrern künftige Strafen an, falls sie nicht Gehorsam leisten und sich an die kurfürstlichen Reskripte halten würden. Der Kurfürst könne nicht länger gestatten, dass die Pfarrer „seine Auctoritat so wenig achteten“. Seitdem Friedrich Wilhelm im Nebenrezess des Brandenburgischen Landtages 1653 erstmals „einen Konvent zur Klärung der Konfessionsdifferenzen“ angekündigt hatte, wurde die Forderung nach einem solchen Konvent von reformierten Theologen immer wieder bei Konflikten gestellt. Auch Stosch war ein Befürworter eines Religionskolloquiums, wie Lubath abschließend in seinem Bericht bemerkte: „H. Stoschius sagte: Sie wollten gerne, daß Wir Ihnen ein Licht weisen möchten, oder sonst irgend überweisen könnten, sie wolltens gerne sehen und anhören, und Er wollte, daß es Zum Colloquio komen möchte, wenn welche wären, die da Lust zu Anscheinend hatte sich Stosch oft über die theologischen und polemischen Angriffe Rösners geärgert. Rösner habe „de Absoluto Decreto so hefftig und arg geprediget, dz das Wetter im thurm geschlagen“. Zudem habe er über Bezas Ausführungen hinsichtlich der Präsenz Christi im Abendmahl gesagt, dies „sey Stercus [=Dreck] in latrina [. . .] ob das auch recht für Gott wäre?“. Lubath bestritt jedoch umgehend, dass Rösner dies je gelehrt habe. 253 Die Übertragung eines Bibelverses oder einer konkreten biblischen Figur auf den/ die Verstorbene/n war im 17. Jahrhundert ein übliches homiletisches Stilmittel, wie auch die erhaltenen Leichenpredigten von Paul Gerhardt zeigen, vgl. dazu 6.1.2. 252
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hätten, wollte Ers selbst Supplicando erhalten. Meynete auch noch, es müste und würde einmahl zur Conferens und Colloquio komen“. Die Reformierten und das Konsistorium hofften, dass durch ein Gespräch, bei dem sich Reformierte und Lutheraner gegenüber sitzen würden, Missverständnisse ausgeräumt und gegenseitige Verketzerungen beendet werden könnten. Viele Lutheraner schienen allmählich ihre ablehnende Haltung gegen ein Kolloquium abzulegen, da sie der Meinung waren, Reformierte „ein Licht weisen“ und sie zum lutherischen Glauben bekehren zu können. Der Berliner Kirchenstreit steuerte immer deutlicher auf ein Kolloquium zu.
3.4.3 Der Streit um die Verkündigung des Zensur-Reskripts Wie Martin Lubath umgingen auch einige andere Theologen das brandenburgische Zensur-Reskript, indem sie ihre polemischen Schriften – oftmals pseudonym – außerhalb Brandenburgs, vornehmlich in Wittenberg, drucken ließen. Zwar beteuerten die Wittenberger Professoren auf die Klage des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelms hin, dass sie davon nichts wüssten, 254 doch scheint diese Praxis verbreitet gewesen zu sein. So hatte das Zensur-Reskript zur Folge, dass sich die Beziehungen der Hohenzollern zu Kursachsen und der Wittenberger Universität weiter verschlechterten. Da nicht jeder Verstoß gegen das Reskript konsequent verfolgt werden konnte, stieg die Zahl der unzensierten Drucke allmählich an. Das Reskript von 1654 geriet im Laufe der Jahre in Vergessenheit oder wurde durch lutherische Theologen als zeitbedingte Reaktion auf die Mitte der 1650er Jahre vorherrschende Situation verstanden. Folglich wurde es auch nicht mehr überall von jedem Pfarrer beachtet. Der Kurfürst sah in dieser Missachtung nicht nur die Gefahr einer Verschärfung der konfessionellen Streitigkeiten, sondern auch seine Macht und politische Hoheit über die Brandenburgische Kirche gefährdet. Daher begann er nach und nach einige Exempel zu statuieren. So kam es 1660 zum Verfahren gegen den Stendaler Inspektor und Pfarrer an der St. Marien-Kirche Jakob Schilling. Er hatte ohne die vorherige brandenburgische Zensur in Wittenberg eine polemische Schrift mit dem Titel 254 Vgl. das Schreiben der Theologischen Fakultät an Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen über die Beschwerde aus Kurbrandenburg, wonach lutherische Prediger in Sachsen Schriften gegen Reformierte gedruckt haben sollen: „Uns [ist] von dergleichen heftigen und hitzigen schriften, daraus der hohen landesobrigkeit einige verkleinerung erwachsen, das hauptwerk christlicher lehre und der Osnabrugische und Münsterische friedensvergleich hindangesetzt werden sollte, ganz nichts bewust, würden auch sothane schriften nicht gutheissen, viel weniger durch unsere censur zum druck befördern“ (zitiert nach Friedensburg: Urkundenbuch, [159–162] 159 [Urkunde 735]).
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„Brevis historia syncretissimi ex bello evangelico“255 herausgegeben, in der er die Reformierten als „Sakramentierer“ bezeichnete und stark gegen die reformierte Prädestinationslehre polemisierte. Schilling wurde in Spandau festgenommen und, da er sich nach einigen Verhandlungen nicht von seinen Aussagen distanziert hatte, seines Amtes enthoben.256 Damit kein Pfarrer mehr sagen konnte, er habe von der Zensur nicht gewusst, befahl der Kurfürst die Verlesung des Reskripts von den Kanzeln. Vor diesem Hintergrund ist ein weiteres Ereignis im Juni 1662 zu sehen, bei dem die Berliner Lutheraner bereits auf viele derjenigen Personen trafen, die auch J. Schilling: Brevis Historia Syncretismi ex Bello Angelico, Oder Eine kleine Defension Wieder Den vermeinten Liebes Succurs So ankommen Wieder Der Person Freund und der Sachen Feind, Wittenberg, 1659 (GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 [1614– 1659; Min. A: 141]). 256 Der Kurfürst hatte den Geheimen Rat um ein Gutachten über Schillings Schrift gebeten. Die Räte von Löben, Platen und von Canstein waren in ihren Voten der Meinung, dass Schilling „nicht die gebührende Schuldigkeit gegen SCHD. in Acht genommen“ und zudem „die Reformirte Lehre in dem articulo de Praedestinatione ohne Unterscheid vor teuflisch“ tituliert habe. Die Räte schlugen vor, dass sich Schilling vor Deputierten der Räte und Landstände für seine Schrift verantworten und zurechtgewiesen werden solle (vgl. Meinardus: Protokolle VI, 62–65). Auch das Geistliche Konsistorium äußerte sich befremdet über das Vergehen Schillings, betonte aber, dass mit einer Bestrafung bis nach der Anhörung des Beschuldigten gewartet werden müsse (vgl. aaO., 76–78). Am 21. Februar wurde Schilling „ab officio gesetzt“ und angewiesen, die in seinem Buch enthaltenen „Calumnien öffentlich zu revociren“ (vgl. aaO., 78). Schilling reichte ein Supplicat um Straferlass ein, der ihm aber weder durch den Geheimen Rat noch dem Kurfürsten gewährt wurde (vgl. aaO., 113 f. und 142). Am 24. August befahl der Geheime Rat, Schilling verhaften zu lassen und nach Spandau zu bringen. Als Schilling zwei Tage später abgeholt werden sollte, war er jedoch ohne seine Familie unbekannt geflüchtet (vgl. aaO., 162). Nach verschiedenen Aufenthalten in Magdeburg und Stendal, von wo aus Schilling erneut vergeblich um Straferlass und ausstehendes Gehalt bat (vgl. aaO., 277 und 291), wurde er schließlich im März 1661 festgenommen (vgl. aaO., 289. 305. 310; vgl. zur Folgezeit aaO., 316. 382. 392 f.). Auch Schillings Bittschreiben an den kursächsischen Hof und dessen Briefe an Friedrich Wilhelm konnten die Lage des Pfarrers nicht verbessern. Nach dem ersten Verhör am 25. Juni (vgl. aaO., 427–429) wurden sowohl die lutherischen als auch die reformierten Geistlichen der Doppelstadt aufgefordert, ihre Gutachen einzuschicken (vgl. aaO., 431 und 526 vgl. zur Folgezeit aaO., 432. 475). Ende September gelang Schilling die Flucht aus dem Gefängnis mit Hilfe des Küsters der Spandauer St. Nicolai-Kirche (vgl. aaO., 650. 652), woraufhin dieser angeklagt und Schilling mit „Stockbrifen [= Steckbriefen]“ gesucht wurde (vgl. aaO., 653 f.). Nach mehreren Befragungen gab der Küster letztendlich zu, dass er zwar Schilling bei der Flucht geholfen habe, jedoch nicht wisse, wo sich dieser jetzt befinde (vgl. zum Prozess gegen den Küster aaO., 670. 724. 779 f. 808. 858 f.). Weitere Informationen über Schilling sind nicht bekannt. Vgl. zur Geschichte auch Orlich: Geschichte des Preußischen Staates II, 467 f.; Ders: Geschichte des Preußischen Staates III, Urkunden 58. 62–65; T. Wotschke: Zum synkretistischen Streite in Stendal, ZVKGS 15 (1919), 36– 48; Ders.: Der Konsessor Martin Schilling, ZVKGS 22 (1926), 147–150; Lackner: Kirchenpolitik, 124. 255
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bei dem vier Monate später stattfindenden Kolloquium teilnehmen sollten. Es machte einmal mehr deutlich, wie angespannt die Situation des Berliner Kirchenstreits war. Da es in der bisherigen Forschung nicht erwähnt wurde, aber einen wichtigen Verständnishintergrund für das spätere Kolloquium bildet, sei dieses Ereignis hier kurz skizziert: 257 Am 28. Juni 1662 erging an Gerhardt und die anderen Berliner Lutheraner durch das kurfürstliche Konsistorium der Befehl, zwei Tage später im Haus des Konsistorialpräsidenten Johann Georg Reinhard zu erscheinen. Hintergrund war die Verärgerung des Kurfürsten über die Weigerung der Berliner Prediger, das Reskript öffentlich zu verlesen. Am 30. Juni fanden sich alle Pfarrer der St. Nicolai und St. Marien-Kirche bis auf Jakob Helwig ein und trafen auf das Geistliche Konsistorium. Dieses bestand zu jener Zeit aus dem Präsidenten Johann Georg Reinhard, den juristischen Konsistorialräten Martin Friedrich Seidel und Gottfried Schardius258 sowie den geistlichen Konsistorialräten Bartholomäus Stosch und Andreas Fromm. Zu Beginn ergriff Johann Georg Reinhard das Wort und kritisierte, dass die Pfarrer sich weigerten, das Reskript öffentlich zu verlesen. Anscheinend hatten die Stände die Berliner in einer zuvor stattgefundenen Konsultation in ihrer Absicht bestärkt, das Reskript nicht von der Kanzel zu verkünden. Dies war dem Kurfürsten in zweierlei Hinsicht ein Dorn im Auge: Zum einen verweigerten ihm die Berliner den Gehorsam, zum zweiten musste er erkennen, dass die Pfarrer den Ständen eine Autorität zuschrieben, die der Kurfürst in Kirchenfragen jedoch einzig sich selbst anmaßte. Von Rhadens Wortwahl lässt erahnen, wie verärgert der Kurfürst gewesen sein muss: „Weil aber Chfl. Dhl. das jus Episcoplae cum territoriali conjunctum bloß allein zustünde, also daß die Land Stände daran gar nicht participirten, so empfinden demnach Chfl. Dhl. unsere Attentata mit höchsten Ungnaden. Inmaßen es wäre 1) Ein Polypragmosynisches259 Attentat. 2) Sey es zu aller Wiedersetzlichkeit angesehen“. Der Kurfürst verstand nicht die Weigerung, das Reskript zu verlesen, da dieses in seinen Augen weder die Funktion hatte, „einiges Gewißen zu constingiren [= beschränken]“, noch „die Articulos fidei“ anzugreifen. Stattdes257 Die „Acta coram Consistorio, mit dem gantzen Ministerio Berol. wegen d. Ablehnung eines Post-Scripti Electoral:“ befinden sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 198r–202r. Meines Wissens gibt es keine andere Quelle über diese Ereignisse. 258 Vgl. zu Reinhard, Seidel und Schardius 4.1. 259 „Polypragmosynisch“ kommt von „Polypragmasie“ und bedeutet „Vielgeschäftigkeit“. Bereits seit der Antike wurde das Wort auch negativ konnotiert im Sinne von „sich überall einmischen“. In diesem Sinne ist es wahrscheinlich auch hier gemeint: Der Kurfürst ärgerte sich darüber, dass sich die Landstände auch in solche politischen Angelegenheiten einmischten, die nach Meinung des Kurfürsten gar nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich lagen.
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sen komme es ihm darauf an, „die formata, cavilla [=Sticheleien], perversionem status controversia“ zu kontrollieren, da „dadurch nur Einigkeit zerrüttet, die Gemüther verbittert, und allerhand Unheil angerichtet würde“. Dabei betonte Reinhard, dass der Kurfürst nicht generell kontroverstheologische Auseinandersetzung verbieten wolle, „wenn es nur modeste geschehe“. Der Kurfürst erwarte, dass die Prediger „deroselben gnädigstem Befehl für dersampt mit schüldigstem Gehorsam nachleben, und oftt erwehntes PostScript nähesten Sonntag ablesen“. Stosch unterbrach an dieser Stelle Reinhard, um zu betonen, dass dieses Ablesen „von der Cantzel“ geschehen müsste. Außerdem erwarte der Kurfürst, dass die Prediger das Reskript im Land weiter verbreiteten. Wenn sie zukünftig so handeln würden, könne der Kurfürst seine Ungnade wieder fallen lassen, falls nicht, „würden sie vermöge Chfl. Befehls darauf verordnete Straffe [. . .] publiciren und ergehen laßen müßen“. Auf diese Ansprache antworteten die Berliner Pfarrer, dass sie sich „wegen etlicher darin enthaltener Ursachen“ nicht imstande gesehen hätten, das Reskript zu verlesen. Zum ersten habe sich der Kurfürst „auff ein Rescript de Ao. 1659 beruffen, deßen keiner unter uns sich zu entsinnen gewust“. Zum Zweiten verneinten sie, den Kurfürst je beschuldigt zu haben. Zum Dritten waren sie der Meinung, dass sie sich für ein Ratgesuch auch an die Stände wenden könnten, da diese ja schließlich 1654 dem Kurfürsten das Reskript zunächst genehmigt und dann dagegen Einspruch erhoben hätten. 260 Zum vierten betonten die Pfarrer, dass sie selbst nie gegen das Reskript verstoßen hätten und sich auch dann nicht gegen die Konsequenzen bei einem Verstoß stellen wollten, wenn diese einen Lutheraner betreffen sollten. Die angedrohte Strafe des Kurfürsten hingegen könnten sie nicht verstehen, und „Verhofften aber Chfl. Dhl. werde gefaste Ungnade auf eingebrachtes unterthänigst Supplicat uns fahren laßen“. Nach dieser Rechtfertigung mussten die Berliner den Raum verlassen, damit das Konsistorium eine Viertelstunde allein beraten konnte. Aus der bisherigen Anhörung wurde deutlich, dass die Pfarrer eine andere Intention verfolgten und auf einer anderen Ebene diskutierten als das Konsistorium. Diesem ging es vor allem darum, dass die Geistlichen in der Missachtung des 260 Lubath argumentierte: „Weil ao. 1654. wegen des Rescripti die Censur des Consistorij betreffend die Herr: Stände bey Chfl. Dhl. unterhänigst intercedendo wäre ein kommen; umb weßen willen wir auch die Herren Stände consultiren wollen, ob damahls bey Churfl. Dhl. etwas erhalten? Ob wir nöthig hätten das wegen bey Chfl. Dhl. mit unseren Motiven unterthänigst | einzukommen? Oder ob Sie solches an Unser statt bey Churfl. Dhl. unterthänigst suchen und vorbitten helffen wollten? Weil auch Churfl. Dhl. biß Dato geschwiegen und acquisciret, haben wir verneynet, qui tacet consentire videtur“ (aaO., f. 198v).
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
Reskripts dem Kurfürsten den Gehorsam verweigerten. Jene hingegen wollten über die Gründe sprechen, wegen denen sie das Reskript aus ihrer Sicht nicht verlesen konnten. Da die Berliner Pfarrer sicherlich über die Vorladung Lubaths vor das Konsistorium wegen seiner Predigt über Jer 17,16 informiert worden waren und somit bereits von dem besagten Druckfehler wussten, muss ihre Entschuldigung, nach der sie kein Reskript aus dem Jahr 1659 gekannt hätten, unglaubwürdig geklungen haben. Während der Vorladung der Berliner Pfarrer wurde zudem wieder der grundsätzliche Streit um die kirchenpolitische Macht zwischen dem Kurfürsten und den Ständen deutlich. Für die lutherischen Pfarrer war die Frage nach der Zuständigkeit in kirchlichen Angelegenheiten keinesfalls endgültig geklärt, Kurfürst Friedrich Wilhelm sah sie jedoch bereits eindeutig als zu seinen Gunsten entschieden an. Nach der Verhandlungspause gab Johann Georg Reinhard bekannt, dass das Geistliche Konsistorium die Entschuldigung der Berliner nicht annehmen könne. In seiner Begründung wies er eingehend darauf hin, dass die Berliner wegen des Druckfehlers hätten nachfragen müssen und der Kurfürst den Ständen kein Mitspracherecht in geistlichen Dingen zugestehe.261 Wiederholt wies Reinhard darauf hin, dass die Berliner bei einem neuerlichen Verstoß gegen das Reskript jederzeit wieder vor das Konsistorium geladen werden würden. Die kurfürstlichen Maßnahmen hätten allein den Sinn, den Frieden im Land zu fördern. Darüber hinaus habe der Kurfürst nicht vor, jemanden in seinem Gewissen oder Glauben zu kränken. Reinhard betonte zudem, dass, wenn die Berliner Pfarrer „unterthänigste Parition leisten, und es künfftigen Sonntag ablesen würden, [. . .] alles condoniret [= verziehen] seyn [sollte], falls [sie] aber zwischen hier und Sonntages der Sachen nicht eine endschafft machen würden, sollte krafft gemachter Verordnung die Execution [= Verbannung] [. . .] ergehen“. Elias Sigismund Reinhardt antwortete zur Entschuldigung, dass die Predigten der Berliner Pfarrer nicht durch diese selbst, sondern von denjenigen, welche die Predigten gehört oder die Manuskripte gelesen hätten, in den Druck gegeben worden seien. Tatsächlich war es im 17. Jahrhundert durchaus üblich, Predigten oder Schriften eines anderen auch ohne dessen Zustimmung zu veröffentlichen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Berliner Pfarrer dem Druck einer Predigt mit polemischen Inhalten nicht zugestimmt hätten. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass Kontroverspredigten kein wesent261 Reinhard betonte: „Wegen der Stände. So gestehet Chfl. Dhl. denen Ständen nichts an Jure Episcopali, weil es deroselben einig und allein zuständig, über dieses hätten die Stände an Chfl. Dhl. nichts gebracht, [. . .] daß aber Chfl. Dhl. bißhero geschwiegen, dienet zu keiner Entschuldigung, dieweil es durch dieses leztern auff gehoben worden“ (ebd.).
3.4 Theologische Auseinandersetzungen der Berliner Lutheraner
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liches und oft genutztes Medium im Berliner Kirchenstreit darstellten. Dem Geistlichen Konsistorium ging es bei der Vorladung auch nicht so sehr um die Inhalte der wenigen unzensiert gedruckten Schriften, sondern hauptsächlich um die Missachtung des Reskripts an sich, um die Weigerung, das Reskript zu verlesen, und den darin verstandenen Mangel an Gehorsam. Neben den inhaltlichen Auseinandersetzungen war bei dieser Vorladung die Tatsache bedeutsam, dass mit dem Reformierten Bartholomäus Stosch und dem Lutheraner Elias Sigismund Reinhardt zwei Personen aufeinandertrafen, die in ihrer jeweiligen polarisierenden und polemisierenden Art den Fortgang des Berliner Kirchenstreits wesentlich mitbestimmen sollten. Wie während des folgenden Kolloquiums noch deutlicher wurde, lag der Grundkonflikt zwischen den beiden Predigern nicht nur in ihren unterschiedlichen Konfessionen, sondern auch darin begründet, dass Reinhardt Stosch als einen reformierten Verwaltungsvorgesetzten, der er als Konsistorialrat war, nicht anerkennen wollte. Auf der anderen Seite spielte Stosch die ihm qua Amt gegebene Macht polarisierend aus und erwartete von Reinhardt – kirchenrechtlich durchaus berechtigt – Gehorsam. Trotz theologisch stark divergierender Auffassungen blieben jedoch der Respekt und die gegenseitige persönliche Wertschätzung bei dieser Anhörung größtenteils unangetastet. Wenn sie auch keinen Schwerpunkt bildeten, so wurden auch theologische Differenzen zwischen den Lutheranern und Reformierten deutlich. Die theologisch wenig differenzierten und lediglich durch Schlagworte benannten Vorwürfe lassen erahnen, dass es bei den jeweiligen Anschuldigungen nicht um konkrete Auseinandersetzungen ging, sondern populäre kontroverstheologische Themen den Hintergrund bildeten. Die Berliner störte vor allem der Vorwurf, sie lehrten im Abendmahl kapernaitisch Essen. Stosch dagegen ärgerte sich über Verwerfungen der Abendmahlslehre Theodor Bezas durch den mittlerweile verstorbenen Berliner Pfarrer Rösner. Die Lutheraner wiederum beklagten sich über Lästerbücher seitens der Reformierten. 262 Schließlich leisteten die Berliner Pfarrer einen Gehorsamseid, bei dem sie sich entschuldigten und versprachen, „nicht Churfl. Dhl. ihre jura streitig zu machen, sondern ihre unterthänigste Intercession in dieser Sache, wie wohl ehe geschehen, demüthig zu suchen“. Es „würde keiner, wie wir uns auch gegen Chfl. Dhl. erbothen, sich fürsetzlich wieder solches Post-Script setzen“. Da sie sich nun entschuldigt hätten und es vergeblich sei, über bereits Gedrucktes zu diskutieren, erbaten sie „Gnädige Resolution“. Die Pfarrer wollten das Reskript künftig verlesen, wenn die darin enthaltenen Anschuldigungen gegen die Lutheraner ausgelassen werden dürften. Das Konsistorium kam den Berlinern entgegen, billigte diesen Vorschlag und versicherte, ein Vgl. zu den theologischen Auseinandersetzungen aaO., f. 200v.
262
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
entsprechendes Formular anzufertigen. Dann mussten die Lutheraner wiederum für eine Besprechungspause des Konsistoriums den Raum verlassen. Es ist schwer zu sagen, was die Lutheraner an den Formulierungen des Reskripts störte, denn außer der Erwähnung Fromms kamen im Reskript keine einseitig gegen die Lutheraner gerichtete Anschuldigungen vor. Wahrscheinlich stießen sich die Pfarrer an der Einschränkung ihrer theologischen Freiheit und an der Tatsache, dass ihre Schriften mehrheitlich durch Reformierte zensiert wurden, aber nicht am Text des Reskripts selber. Das Konsistorium war mit der neuerlichen Gehorsamsversicherung durch die Pfarrer zufrieden und kam ihnen mit der Ankündigung eines neuen Formulars weit entgegen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Berliner Lutheraner auch ohne diese Gehorsamsversicherung zu diesem Zeitpunkt des Berliner Kirchenstreits aus ihrem Amt entlassen oder gar aus dem Land vertrieben worden wären. Auf der anderen Seite waren sie im Gegensatz zur dritten Phase des Kirchenstreits auch noch bereit, dem Kurfürsten trotz theologischer Bedenken Gehorsam zu leisten. Im dritten Teil der Vorladung berichtete Konsistorialrat Reinhard, dass der Kurfürst erfahren habe, „daß die Theologi Wittenbergenses eine Epicrisi über das Colloquium Theolog: Marpurgo Rintelensium nicht allein verfertiget, sondern auch hin und wieder an die Ministeria in der Marck geschicket, wodurch sie contra instrumentum pacis gehandelt, weil dadurch Friede und Ruhe zwischen den beyden Kirchen turbiret würde“. Reinhard warf den Pfarrern vor, dass es die „unterthänigste Pflicht-Schuldigkeit gewesen [sei], solche alsobald zu Churfl. Dhl. als Episcopi nostri summi Notiz zu bringen“. Der Kurfürst verlange daher sowohl die Epicrisis als auch die Berliner Antwort darauf zu bekommen. Lilius entgegnete, dass er und seine Kollegen zwar die Epicrisis empfangen hätten, eine Antwort bisher allerdings weder besprochen noch abgefasst sei. Darüber hinaus betont er, dass man die Epicrisis ungern abgeben wolle. Das Konsistorium bat daraufhin die Pfarrer, ein Gutachten zur Epicrisis aufzusetzen, damit man an den Berlinern sehen könne, „welche es mit den Rintelern oder Wittenbergern halten, oder welche das Medium erwehlen werden“. Obwohl die Berliner dies versprachen, ist eine Antwortschrift in den Akten Lubaths nicht enthalten. Abschließend betonten die Pfarrer: „Wir bleiben bey allen Unsern Libris Symbolicis. Und sind Ehrlich Lutherisch, und wollen auch ehrlich bleiben: Und hiermit gingen wir, dicta Salute wieder nach Hauße“. In den drei Angelegenheiten wurde deutlich, dass Paul Gerhardt und seine Berliner Pfarrkollegen typische orthodoxe Brandenburger Theologen darstellten. Sie verteidigten ihr Bekenntnis gegen alle Angriffe und Einwände, prüften obrigkeitliche Eingriffe in die pfarramtliche Praxis kritisch und lehnten sie teilweise ab. Zur Wahrung ihres lutherischen Profils und ihrer Rechte
3.5 Zwischenresümee
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stützten sich die lutherischen Pfarrer auf die Stände. Zur folgenreichen Konfrontation mit den kurfürstlichen Gremien war es in der ersten Phase des Berliner Kirchenstreits noch nicht gekommen. Dies sollte sich jedoch in der Folgezeit ändern.
3.5 Zwischenresümee Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits war gekennzeichnet durch die Versuche Friedrich Wilhelms, das nach dem 30jährigen Krieg darniederliegende Kirchenwesen wieder aufzubauen und die reformierte Konfession planmäßig zu fördern. Da sich die in Brandenburg auf Grund ihres größtenteils lutherischen Glaubens eng miteinander verbundenen Einwohner, Geistlichen und Stände gegen diese Förderung wehrten, bedurfte der Kurfürst aus politischer Notwendigkeit einer mit dem Schlagwort ‚mutua tolerantia‘ titulierten Verständigung zwischen den Konfessionen. Primäre Motivation für seine kirchenpolitischen Entscheidungen waren somit nicht theologische Auffassungen, sondern staatliche Interessen. Friedrich Wilhelms Toleranzverständnis war politisch und ökonomisch bestimmt und zielte auf die Wahrung des inneren Landfriedens. Dennoch beeinflusste auch seine Religiosität, die einer gemäßigten reformierten Lehrauffassung zuzuordnen ist und dazu neigte, theologisch-konfessionelle Differenzen zu vereinfachen, kirchenpolitische Entscheidungen bedeutend. Konkrete Schritte zur Befriedung der aktuellen konfessionellen Auseinandersetzungen in seinem Herrschaftsgebiet ging Friedrich Wilhelm zunächst noch nicht. Seine Maßnahmen zur Prävention künftiger Streitigkeiten zielten vor allem auf die Personalpolitik sowie auf die Versuche, die Brandenburger Lutheraner vom Einfluss der kursächsischen Universität Wittenberg fernzuhalten, die FC in Examina und bei der Ordination außer Kraft zu setzen und schließlich die Geistlichen durch Erlasse unter die strenge Kontrolle kurfürstlicher Gremien wie dem Geheimen Rat und dem Geistlichen Konsistorium zu zwingen. Diese Maßnahmen führten jedoch ebenso wenig zu einer Stabilisierung der Situation wie die programmatische Publikation der kurfürstlichen Toleranzvorstellungen in einer Predigt Stoschs und im ersten so genannten Toleranzedikt von 1662. Stattdessen kam es durch die Reaktionen der Lutheraner zu einer Verschärfung des Konflikts. Sowohl jene Maßnahmen selbst als auch deren absolutistische Durchsetzung machten Gerhardt und der lutherischen Geistlichkeit das kurfürstliche Ziel einer mutua tolerantia unglaubwürdig. Die Lutheraner wehrten sich gegen jegliche Veränderung des status quo in Kirchenfragen. Dies betraf sowohl das ius in sacra als auch das ius circa sacra
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§ 3 Die erste Phase des Berliner Kirchenstreits
des Kurfürsten. Gerhardt und seinen lutherischen Pfarrkollegen aus der Doppelstadt kam beim Protest eine bedeutende Rolle zu, da Berlin/Cölln neben Frankfurt/Oder der Ort Brandenburgs war, nach dem sich die meisten Geistlichen theologisch ausgerichtet haben. Die Berliner Pfarrer zeigten sich in der ersten Phase des Kirchenstreits als typische lutherisch-orthodoxe Brandenburger Lutheraner, die ihr Bekenntnis gegen alle Angriffe und Einwände verteidigten und obrigkeitliche Eingriffe in die pfarramtliche Praxis kritisch sahen und zum Teil ablehnten. Dabei beriefen sie sich fortwährend auf ihr Gewissen. Unterstützung erhielten die Pfarrer in ihrer Haltung vor allem durch die Stände. Dies war dem Kurfürsten ein Dorn im Auge, da die Geistlichen den Ständen eine Autorität zubilligten, die er sich allein zuschrieb. Da Friedrich Wilhelm in seiner Politik jedoch maßgeblich von den Ständen finanziell und strukturell abhängig war, musste er ihnen in vielen Forderungen, auch in der weitgehenden Wahrung des Religionsstandes, entgegen kommen. Durch verschiedene innenpolitische Maßnahmen konnte er sich jedoch im Laufe der Zeit zunehmend von den Ständen emanzipieren und deren Macht dezimieren. Zu einer direkten Konfrontation zwischen den kurfürstlichen Behörden und den lutherischen Geistlichen kam es hingegen zunächst nur selten. Die Pfarrer begnügten sich in der ersten Phase des Kirchenstreits entweder mit der stillschweigenden Weigerung, die Weisungen des Kurfürsten zu beachten, oder leisteten dem Kurfürsten trotz theologischer Bedenken Gehorsam. Auf der anderen Seite ließ der Kurfürst die Befolgung seiner Weisungen erst allmählich stärker kontrollieren und beschränkte sich mit disziplinarischen Maßnahmen auf einige wenige prominente Personen. Auch dies war ein Grund dafür, dass die kirchenpolitischen Maßnahmen Friedrich Wilhelms bis zu diesem Zeitpunkt nicht zur Befriedung der konfessionellen Situation beigetragen hatten. Das Ziel einer Stärkung der reformierten Konfession und des Aufbaus eines reformierten Kirchenwesens verfolgte der Kurfürst vor allem durch seine Verwaltungspolitik weiterhin erfolgreich. Paul Gerhardt trat in der ersten Phase des Berliner Kirchenstreits nur selten exponiert auf. Er beteiligte sich jedoch an allen Entscheidungen und Protesten der Berliner Lutheraner und arbeitete ausschlaggebend an ihren verschiedenen Reaktionen auf die kurfürstliche Religionspolitik mit. Erst in der zweiten Phase des Kirchenstreits, als sich die kirchenpolitischen Maßnahmen des Kurfürsten mit dem im folgenden Paragraphen dargestellten Kolloquium auf die Doppelstadt Berlin/Cölln beschränkten, sollte Gerhardt stärker in den Vordergrund treten. Da sich aus Sicht des Kurfürsten die angespannte Situation zwischen den Konfessionen durch die bisherigen kirchenpolitischen Maßnahmen und die Zusicherung, dass diese allein dem Frieden im Land dienten und durch sie die
3.5 Zwischenresümee
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Gewissen der Pfarrer nicht belastet werden sollten, nicht geändert hatte, stattdessen aber die gegenseitige konfessionelle Polemik wieder verstärkt wurde und die lutherischen Geistlichen ihm in Kirchenfragen zunehmend den Gehorsam verweigerten, war er gezwungen, neue Wege zur Befriedung der aktuellen Situation zu gehen. Ermutigt durch die Ergebnisse des Religionsgespräches zu Kassel 1661 beauftragte er seine Geheimen Räte, auch in der Doppelstadt Berlin/Cölln ein Kolloquium zur Entspannung der konfessionellen Situation, zur Erreichung einer mutua tolerantia sowie zur Klarstellung seiner kurfürstlichen Autorität durchzuführen. Somit trat der Berliner Kirchenstreit in seine zweite Phase ein.
§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663 Die bisherigen kirchenpolitischen Maßnahmen hatten nicht zu einer Verbesserung des angespannten innerprotestantischen Verhältnisses geführt, vielmehr verstärkten sich wieder die gegenseitige Polemik sowie die Angriffe der Lutheraner gegen die Reformierten. Daher war Friedrich Wilhelm zum Handeln gezwungen. Ermutigt durch die Ergebnisse des Kasseler Religionsgesprächs, beauftragte er seine Geheimen Räte, auch in der Doppelstadt Berlin/ Cölln ein Kolloquium zur Erreichung seines Ziels einer mutua tolerantia sowie zur Manifestierung seiner kurfürstlichen Autorität durchzuführen. Die Absicht des Kurfürsten auf eine Befriedung der Situation durch ein Kolloquium ist kirchengeschichtlich nicht zu unterschätzen; da Brandenburg-Preußen mittlerweile der größte deutsche Territorialstaat war, hätte ein positiver Ausgang Vorbildfunktion für ähnliche Konflikte in anderen deutschen Gebieten haben können. Der vierte Paragraph der vorliegenden Studie bietet teils auf Grund erstmalig genutzter, teils auf Grund bereits bekannter Quellen eine Rekonstruktion des Kolloquiums. Dabei soll im Besonderen nach seinem Verlauf, den Gründen für sein Scheitern sowie der Rolle gefragt werden, die Gerhardt während des Kolloquiums gespielt hat. In 4.1 werden zunächst die Einladung und die Teilnehmer des Kolloquiums untersucht, ehe 4.2 näher auf deren unmittelbare Vorgeschichte und Vorbereitungen eingeht. 4.3 analysiert ausführlich die einzelnen Sessionen sowie die wichtigsten Schriften und Voten der streitenden Parteien und zeichnet den Verlauf und den Hintergrund des Kolloquiums nach. 4.4 thematisiert die wichtigsten theologischen Positionen der Kollokutoren. 4.5 stellt in einem Exkurs die Reaktion der Geistlichen und Friedrich Wilhelms auf ein Schreiben der Universität Rinteln dar, ehe 4.6 schließlich die
Hering: Neue Beiträge II, 116–160, Schulz: Gerhardt, XXXV–XLII. 335–357, Langbecker: Gerhardt, 21–90 und Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 95–209 sind die einzigen Forschungsbeiträge, die das Kolloquium ausführlich unter Nennung von Quellen darstellen. Die entsprechenden Abschnitte bei Wangemann: Johan Sigismundt, 167–174, Landwehr: Kirchenpolitik, 208–212; Petrich: Gerhardt, 137–140, Bunners: Gerhardt, 67–72 und Niemann: Gerhardt, 216–221.226–245 hingegen stellen keine eigenen Forschungsleistungen dar, vgl. dazu 1.4.
4.1 Die Einladung und die Teilnehmer
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Ergebnisse des Kolloquiums zusammenfasst und zur Darstellung der dritten Phase des Berliner Kirchenstreits überleitet.
4.1 Die Einladung und die Teilnehmer Am 21. August 1662 sandte Friedrich Wilhelm ein Reskript an das Geistliche Konsistorium, welches an die Ministerien in Berlin und Cölln weitergeleitet werden sollte. Darin gab der Kurfürst seiner Hoffnung Ausdruck, „daß wirs bey den Geistlichen in unsern Landen dahin bringen mögten, damit doch das unchristliche Verketzern, Verlästern und Verdammen, auch falsche Deuteleien und erzwungene Beschuldigungen gotteslästerlicher Lehren allerseits eingestellt; hergegen das wahre Christenthum und die Uebung der wahren, klaren und unstreitigen Gottseligkeit den Zuhörern ins Herz gepredigt werden mögte“. Zu diesem Zweck habe er „zu seyn erachtet, daß unter den Geistlichen dieser unser beiden Residenz-Städte eine freund- und brüderliche Conferenz gehalten“ werde. Diese solle bezwecken, dass „ein guter Anfang zur brüderlichen Verträglichkeit gemacht; den Andern aber ein christlich Beispiel zur Nachahmung gegeben werden mögte“. Der Kurfürst erwartete, dass die Teilnehmer „über diese nachfolgende Frage amicabiliter mit einander conferiren solten: ob denn in den Reformirten Confessionibus publicis, und sonderlich, welche in unserm jüngsten Edicto vornehmlich benennt seyn, etwas gelehret und bejahet worden, warum der, so es lehrt oder glaubt oder bejaht, iudicio divino verdammt sey? oder: ob etwas darinnen verneinet oder verschwiegen sey, ohne dessen Wißenschafft und Uebung der höchste Gott niemand selig machen wolle?“
Diese Eingangsfragen waren in ihren Formulierungen und ihrem sachlichen Inhalt nach kaum geeignet, das Kolloquium zu eröffnen. Zum einen waren die Fragen nicht neutral gestellt. Von Beginn an befanden sich die Lutheraner in einer Rechtfertigungssituation. Sie waren gezwungen, zu reagieren und ihre theologischen Ansichten zu verteidigen, während sich die Reformierten zunächst gar nicht zu äußern brauchten. Zum andern handelte es sich nicht Gemeint ist das so genannte erste Toleranz-Edikt vom 2. Juni 1662, in dem die Confessio Sigismundi (1614), das Abschlussdokument des Colloquium Lipsiacum (1631) und die Declaratio Thoruniensis (1645) benannt wurden. Zitiert nach GKl Archiv XII/90/3, f. 218r–218v. Vgl. das vollständige Reskript unter anderem bei Hering: Neue Beiträge II, 121–124; Schulz: Gerhardt, 335 f.; Lang becker: Gerhardt, 21 f. Es ist anzunehmen, dass ein reformierter Theologe aus dem Umfeld des Kurfürsten diese Fragen formuliert hat. Landwehr: Kirchenpolitik, 209, vermutet, dass es Otto von Schwerin war, da dieser das Einladungsschreiben mit unterschrieben hatte. Als Ver
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
nur um zwei Fragen, sondern genau genommen um sechs. Denn die zwei Eingangsfragen bezogen sich jeweils auf die drei offiziellen Bekenntnisse der märkischen Kirche von 1614, 1631 und 1645, die zum Teil unterschiedliche theologische Schwerpunkte und Auslegungen beinhalteten. Des Weiteren wollte der Kurfürst mit der Beantwortung der Fragen und dem gesamten Kolloquium zwei Dinge erreichen, die in seinen Augen untrennbar miteinander verwoben waren: eine mutua tolerantia unter den Konfessionen und die Achtung der kurfürstlichen Autorität. Schon diese beiden Ebenen konnten die Berliner Lutheraner nicht gemeinsam bearbeiten. Zwar bestritten sie niemals die kurfürstliche Autorität und achteten die Reformierten als Mitmenschen; doch eine theologische Tolerierung der Reformierten und eine Einigung in Teilen der Lehre war aus Furcht vor einer vollständigen Einführung der reformierten Konfession in Brandenburg für die Lutheraner undenkbar. Die Verbindung theologischer Fragen mit der Autoritätsbejahung hat für den gesamten Zeitraum des Kolloquiums einen obrigkeitsgesteuerten Druck auf das Kolloquium ausgeübt, der einen erfolgreichen Abschluss von vornherein mehr als fraglich machte. Über diese Ausgangsfrage hinaus bestimmte der Kurfürst zwar als reformierte Teilnehmer Bartholomäus Stosch, Johann Kunsch von Breitenwalde und Johann Vorstius, legte aber weder Ort noch Zeit fest. Der Kurfürst selbst nahm an den einzelnen Sessionen nicht teil. Auch von der Verschärfung des Berliner Kirchenstreits hat er vermutlich lediglich nachrichtlich erfahren. Da die politische Lage in den meisten Teilen seines Herrschaftsterritoriums angespannt war, konnte er sich nicht so ausführlich mit dem Kolloquium befassen, wie es für einen erfolgreichen Ausgang möglicherweise nötig gewesen wäre. 1661/62 befand er sich zu Verhandlungen mit den Ständen hauptsächlich in Elbing und in seiner Klever Residenz. Am 10. März 1662 zurück in Berlin, brach er bereits am 13. September nach Königsberg auf und blieb dort bis zum fasser kommt mE. aber auch Bartholomäus Stosch in Frage. Er war höchstwahrscheinlich der Verfasser der kurfürstlichen Toleranzedikte und theologisch so gut geschult, dass er die drei Confessiones und mögliche Einwände der Lutheraner gegen sie gut einschätzen konnte. Da die Aufstellung und Unterhaltung eines stehenden Heeres einen hohen Kostenaufwand verursachte, kam es wegen der hohen Kontributionsforderungen des Kurfürsten auch in den rheinisch-westfälischen Gebieten häufig zu Konflikten mit den Landständen. Der Kurfürst konnte seine Interessen in den Landtagsabschieden vom 24. August 1660 und 19. März 1661 weitgehend durchsetzen. Zudem ließ er unmissverständlich verbreiten, dass die oberste Kirchengewalt allein ihm zustehe. Im so genannten ‚Säckeedikt‘ vom 7. September 1661 drohte er jedem, der seine geistliche Herrschaft anzweifelt, in einen Sack stecken und ins Wasser werfen zu lassen. Vgl. M. Hein: Otto von Schwerin. Der Oberpräsident des Großen Kurfürsten, Königsberg 1929, 155 f.; J. Burkardt: Minden und Ravensberg: Zwei nordwestfälische Territorien unter der Herrschaft des Großen Kurfürsten, in: M. Kaiser / M. Rohrschneider (Hg.): Membra unius capitis. Stu-
4.1 Die Einladung und die Teilnehmer
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November 1663. Die dortigen Landtagsverhandlungen mit den mächtigen lutherischen Ständen besaßen für Friedrich Wilhelm Priorität gegenüber dem Brandenburger Kolloquium. In Preußen, wo die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen ebenfalls erbittert geführt wurden, die Bevölkerung jedoch noch stärker als in Brandenburg involviert war, ging es hauptsächlich um die Gleichberechtigung der Reformierten und um die Bewilligung der öffentlichen Religionsausübung. Zudem spielte bei der Wahl des Aufenthaltsortes 1663 auch eine entscheidende Rolle, dass Preußen wirtschaftlich und finanziell stärker war als Brandenburg und daher die preußischen Angelegenheiten Vorrang hatten vor den brandenburgischen. Der Kurfürst hatte sich bei der Planung des Kolloquiums in vielen Punkten an der Vorgehensweise seines Großvaters Johann Sigismund bei dessen Einladung zum Religionsgespräch 1614 orientiert. Um jedoch ein Scheitern im Vorhinein zu verhindern, änderte Friedrich Wilhelm einige Vorgaben: So sollten unter anderem die Gespräche nur zwischen den Geistlichen der Residenzstadt stattfinden, die Öffentlichkeit wurde ausgeschlossen. Zudem musste der Kurfürst das Kolloquium gegen den Willen der Stände durchsetzen. Er versuchte – letztlich erfolglos –, die Einflussnahme Wittenbergs auf die Berliner Geistlichen einzuschränken. Da es ihm häufig nicht möglich war, die Kirchenpolitik in Brandenburg persönlich zu leiten, sandte der Kurfürst Reskripte und Anweisungen aus seinen Residenzen in Elbing, Kleve und Königsberg. Daher beauftragte er seine brandenburgischen Räte, in die er großes Vertrauen hatte, mit der Überwachung und Durchsetzung seiner politischen Anweisungen. Der Kurfürst setzte ein Präsidium zur Aufsicht über das Kolloquium ein, wozu er im Wesentlichen hoch angesehene Personen aus dem Geheimen Rat auswählte. In diesen hatte Friedrich Wilhelm im Laufe seiner Regierungszeit Personen berufen, die sich durch eine irenische Haltung auszeichneten und die konfessionellen Streitigkeiten zu überwinden suchten. Symptomatisch für die Haltung der Geheimräte ist ein Auszug aus einer Ratssitzung vom 8. Oktober 1660, in der die anwesenden Räte bekräftigen, dass es sich bei Lutheranern und Reformierten um Anhänger einer Religion handele, die nur in einigen Meinungen, dien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640–1688) (Bh FBPG 7), Berlin 2005, 121–145. Es lässt sich nicht mehr vollständig nachweisen, wo Friedrich Wilhelm zu welcher Zeit war. Bedeutend für die Orts- und Datumsfrage ist nach wie vor S. de Pufendorf: De rebus gestis Friderici Wilhelmi Magni, Electoris Brandenburgici, Commentariorum Libri Novendecim, Berlin 1695. Vgl. zu den Auseinandersetzungen in Preußen H. Rachel: Der Große Kurfürst und die ostpreußischen Stände 1640–1688 (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen 11), Leipzig 1905; Lackner: Kirchenpolitik, 164–173; Hahn: Calvinismus und Staatsbildung, 239–269; Clark: Preußen, 83–86.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
nicht jedoch in den Glaubensfundamenten uneinig seien; daher dürften sich die Theologen nicht gegenseitig verdammen. Friedrich Wilhelm schickte in die Verhandlung neun Männer, die diese Grundhaltung teilten. Von reformierter Seite gehörten dem Präsidium an der Dom-Dechant zu Havelberg und Wirkliche Geheimrat Otto von Grote (1620–1687) , der ehemalige Lutheraner und Vize-Kanzler der Mark Brandenburg Lucius von Rhaden (Tod 1685),10 der juristische Konsistorialrat und Protonotarius Gottfried Schardius (1621–1667) 11 sowie der ehemalige Lutheraner, Kanzler in Hinterpommern und Wirkliche Geheime Rat Lorenz Christoph von Som- ni(t)z (1612–1678).12 Von lutherischer Seite nahmen teil der Kammergerichtsrat und Dom-Dechant zu Brandenburg Hans Ludwig von der Groeben (1615–1669),13 der Geheimrat und Komtur (Statthalter) zu Lagow Johann Friedrich Freiherr von Löben Vgl. das Protokoll: „Als [. . .] die Frage gewesen, ob man die Reformirte und Lutherische vor zween Religionen rechnen könnte, haben die Hh. Räthe beiderlei Confessionen insgesamt unanimiter sustinieret, daß es nicht zwo Religionen, sondern nur eine und daß es nur opiniones, worinnen man discrepirte, wären. Und weil sie in fundamentis fidei einig wären, könnte auch eine die andere nicht verdammen, welches dann SChD. gleichfalls approbiret“ (Zitiert nach Meinardus: Protokolle VI, 202.). Zu beachten ist jedoch, dass an dieser Sitzung weder Bartholomäus Stosch noch Andreas Fromm teilnahm, also kein Geistlicher anwesend war. Von Grote war ab 1652 Kammergerichtsrat, ab 1656 Geheimer Rat und ab 1655 Dompropst zu Havelberg. Er ist nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter, der 1658 Wirklicher Geheimrat wurde und 1659 starb; vgl. Bahl: Hof, 492 f.; Saring: Mitglieder, 96 f. 10 Von Rhaden war der erste Reformierte, der Präsident des Geistlichen Konsistoriums wurde (1665). Ab 1686 war er Präsident des Kammergerichts, vgl. Saring: Mitglieder, 73 f.; Bahl: Hof, 562 f. Statt von Rhaden sollte zunächst der Wirkliche Geheime Rat Friedrich von Jena (1620–1682; einer der wichtigsten Berater des Kurfürsten in Geistlichen Angelegenheiten, vgl. Bahl: Hof, 508 f.) am Kolloquium teilnehmen, doch dann musste er den Kurfürsten nach Preußen begleiten. Vgl. Hering: Neue Beiträge II, 124 Anm. i). 11 Schardius war familiär eng mit den reformierten Hofpredigern verbunden: Sein Großonkel war Johann Bergius, der Ehemann seiner Schwester Catharina Elisabeth (1624–1651) war Bartholomäus Stosch. 1665 wurde Schardius von Friedrich Wilhelm zum Bürgermeister von Berlin bestimmt; er war der erste Reformierte, der dieses Amt inne hatte. Vgl. Saring: Mitglieder, 219 f.; Schmitz: Ratsbürgerschaft, 89.119.124 f.; Vgl. auch zu den engen verwandtschaftlichen Beziehungen der höfischen Elite untereinander Bahl: Hof, 653 f. (Verwandtschafts- und Verschwägerungstafel 28) 570 f.757 f.; Saring: Mitglieder, 219 f. 248. 12 Vgl. zu Somnitz L. von Zedlitz-Neukirch: Neues preussisches Adels-Lexicon Bd. I V, Leipzig 1837, 222; E. H. Kneschke: Neues allgemeines deutsches Adels-Lexikon Bd. V II, Hildesheim / Zürich / New York 1867, 532; C. Spannagel: Art. Somnitz: Lorenz Christoph v. S., ADB 34 (1892), 617–619; Bahl: Hof, 592 f. 13 Vgl. zu von der Groeben Saring: Mitglieder, 99 f.; Bahl: Hof, 491 f.
4.1 Die Einladung und die Teilnehmer
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(1595–1667),14 der erste Konsistorialrat Johann Georg Reinhard (1606–1672) 15 sowie der Kammergerichtsrat und juristische Konsistorialrat Martin Friedrich Seidel (1621–1693).16 Dem Präsidium stand der reformierte Oberpräsident Otto von Schwerin17 vor. Er war ein kaisertreuer Realpolitiker, der versuchte, zwischen den Ständen und dem Kurfürsten zu vermitteln, und der großen politischen Einfluss Vgl. zu von Löben S. Isaacsohn: Art. Loeben, Johann Friedrich Freiherr von, ADB 19 (1884), 39 f. 15 Der Jurist Reinhard stieg in der Cöllner Hierarchie schnell auf: 1638 wurde er Konsistorialrat, 1639 Kammergerichtsrat, 1657 Hof- und Kammergerichtsrat, 1658 Geheimer Rat und schließlich 1659 Präsident des Geistlichen Konsistoriums, vgl. Saring: Mitglieder, 80–82.218; Bahl: Hof, 561 f. 16 Seidel war neben seinen offiziellen Ämtern auch ein bedeutender Sammler und Historiograph und wird als solcher auch „Vater der brandenburgischen Geschichtsschreibung“ (Schmitz: Ratsbürgerschaft, 68) genannt. Er kritisierte theologische Streitigkeiten und vermittelte oft zwischen geistlichen und juristischen Konsistoriumsmitgliedern. 1685 schrieb er in einem Brief an den General von Spandau, Georg Adam von Pfuel (1618–1672): „Wie ich an unnöthigen Streitigkeiten unserer lutherischen Theologen ein gross Missfallen trage, mich auch sehr darüber pflege zu betrüben“ (J. Bolte: Martin Friedrich Seidel, ein brandenburgischer Geschichtsforscher des 17. Jahrhunderts [Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Königstädtischen Gymnasiums zu Berlin], Berlin 1896, 14). Vgl. des Weiteren Küster: Geschichte des alt-adelichen Geschlechts derer von Seidel [. . .], Berlin 1751; A. Glitsch: Art. Seidel, Martin Friedrich, ADB 33 (1891), 623–627; Saring: Mitglieder, 92–95; Bahl: Hof, 588–590; Schmitz: Ratsbürgerschaft, 296 f.; J. Splett: Art. Seidel, Martin Friedrich, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Berlin-Cölln 1640–1688, 409–421. 17 Von Schwerin, geboren am 18. März 1616 in Wolgast oder auf Gut Wittstock, begegnete schon 1632 während seines Studiums der Rechte dem späteren Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Ursprünglich lutherisch, konvertierte er 1637 zum reformierten Glauben. Ein Jahr später wurde er als Kammerjunker der Kurfürstin Elisabeth Charlotte (1597–1660) an den Hof des Kurfürsten Georg Wilhelm berufen. 1640 trat er in den Dienst des neuen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Von Schwerin stand der kurfürstlichen Familie sehr nahe. Er gewann am Hof schnell an Einfluss und Ansehen: 1645 wurde er Mitglied des Geheimen Rates, 1646 Hofmeister der Kurfürstin Luise Henriette, 1652 Oberpostdirektor und 1654 Kammerdirektor. Bereits 1648 war er für seine Verdienste während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden geadelt worden. 1657 wurde er Direktor des Geheimen Rates und schließlich 1658 Oberpräsident. Bei den Friedensverhandlungen 1646 setzte er sich für die Gleichstellung der Reformierten ein. 1666 gab er Hugenotten auf seinen Ländereien in Alt-Landsberg eine neue Heimat. Nach seinem Tod am 14. November 1679 wurde die Stelle als Oberpräsident nicht mehr wiederbesetzt. Vgl. F. Hirsch: Art. „Schwerin, Otto von“, ADB 35 (1893), 754–763; M. Hein: Otto von Schwerin. Der Oberpräsident des Großen Kurfürsten, Königsberg 1929; Saring: Mitglieder, 84–86; K. U. Niedlich: Otto von Schwerin. Ein christlicher Staatsmann des 17. Jahrhunderts, JBBKG 47 (1972), 55–63. Bahl: Hof, 333–336.584 f. ME. ist von Schwerins Nachlass noch nicht endgültig ausgewertet. In den Archiven Olsztyn (dt. Allenstein)/Polen und Koblenz befinden sich ein umfangreicher Briefwechsel zwischen von Schwerin und der Kurfürstin sowie weitere Dokumente, die für das hier behandelte Thema jedoch nicht von Interesse sind. 14
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
besaß.18 Personalpolitisch bemerkenswert war die Tatsache, dass der Kurfürst 1661 Otto von Schwerin beauftragt hatte, an seiner Stelle in Preußen zu verhandeln; da aber die Mission von Schwerins bei den preußischen Landständen gescheitert war, musste der Kurfürst persönlich nach Königsberg reisen.19 Von Schwerin stand daher unter Druck, wenigstens das Kolloquium in Cölln zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Von Schwerin fungierte als Sprecher des Präsidiums und Moderator des Kolloquiums. Seine Anfangs- und Abschlussreden bildeten den Rahmen der einzelnen Sessionen und gaben die zu besprechenden Themen vor. Als offizieller Vertreter der kurfürstlichen Interessen besaß er bei allen Teilnehmern hohen Respekt. Erstaunlicherweise unterrichtete er anscheinend nur selten den Kurfürsten über den Verlauf des Kolloquiums. Als reformierte Kollokutoren hatte Friedrich Wilhelm bereits mit dem Einladungsreskript Bartholomäus Stosch, Johann Kunsch und Johann Vorstius bestimmt. Wie die Reformierten auf die Einladung reagiert haben, lässt sich nicht mehr belegen. Über ein gesondertes Einladungsschreiben an die reformierten Teilnehmer ist nichts bekannt. Wahrscheinlich haben sowohl die Reformierten als auch die Lutheraner schon vor Versendung des Reskripts mündlich Nachricht vom geplanten Kolloquium erhalten.20 Es ist anzunehmen, dass es Stosch selber war, der den Kurfürsten bei der Abfassung und Planung des Kolloquiums nicht unwesentlich beeinflusst hat. Dafür spricht auch die Fragestellung des Einladungsreskripts. Die Reformierten konnten sich mit gutem Gewissen auf das Kolloquium einlassen, sahen sie doch darin die große Chance einer gleichberechtigten Anerkennung ihrer Konfession durch die kurfürstliche Autorität. Friedrich Wilhelm wiederum hatte die re Von Schwerin besaß großes Vertrauen beim Kurfürsten und erledigte große Teile von dessen politischer Korrespondenz. Niedlich: Otto von Schwerin, 58, betont jedoch wohl zu recht: „Es ergeben sich keine Hinweise, daß er den Ehrgeiz hatte, die brandenburgische Politik zu bestimmen“. 19 Von Schwerin wurde gemeinsam mit Fürst Bogislov Radziwill von Friedrich Wilhelm beauftragt, den großen preußischen Landtag (1661–63) zu leiten und dafür zu sorgen, dass die Stände den Kurfürsten als ihren souveränen Landesherren anerkennen. Doch die Stände waren zu dieser Anerkennung nicht bereit, da sie weder ihre alten Rechte aufgeben noch vom Königreich Polen getrennt sein wollten. Trotz einiger Erfolge von Schwerins stockten die Verhandlungen immer wieder und bedurften der Präsenz des Kurfürsten. Als dieser in einem Brief vom 9. Mai 1662 sein Kommen ankündigte, wurde von Schwerin mit der Befriedung der konfessionellen Streitigkeiten in der Doppelstadt Berlin/Cölln beauftragt. Am 25. Oktober 1662 traf Friedrich Wilhelm in Königsberg ein, übernahm die Verhandlungen und erreichte 1663 – freilich erst nach der Verhaftung des Oppositionsführers – im Landtagsabschied vom 1. Mai neben der Anerkennung der Reformierten als gleichberechtigte Bürger Preußens durch die Stände auch sonst fast alle seine religionspolitischen Ziele, vgl. Lackner: Kirchenpolitik, 166–173. 20 Dies deutete Georg Lilius in einem Brief von Ende August 1662 an. 18
4.1 Die Einladung und die Teilnehmer
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formierten Teilnehmer bewusst ausgewählt, da sie seine irenischen Ansichten mittrugen. Stosch und Kunsch standen zudem als Hofprediger direkt unter kurfürstlichem Einfluss. Darüber hinaus ist die Nominierung des Lehrers Vorstius bemerkenswert. Zwar besaß Vorstius ein hohes Ansehen und galt als sehr gebildet und erfahren, doch eine Pfarrstelle bekleidete er nicht. Es wäre naheliegender gewesen, wenn der Kurfürst einen der beiden Prediger der Domgemeinde, Wolfgang Crell oder Johann Christian Sagittarius, nominiert hätte. 21 Warum Sagittarius nicht berufen wurde, lässt sich kaum nachvollziehen. Zwar hatte auch er kleinere Auseinandersetzungen mit dem kurfürstlichen Hof, 22 doch reichten diese wohl kaum aus, um seine Nichtberücksichtigung zu erklären. Eindeutiger ist die Nicht-Nominierung des Dompredigers Crell zu erklären. Zum einen war er bereits alt und oftmals krank. Zum anderen galt er als strenger Reformierter, der Auseinandersetzungen weder mit Lutheranern noch dem kurfürstlichen Hof scheute.23 Er vertrat nicht jene kirchenpolitischen Absichten, die der Kurfürst mit dem Kolloquium erreichen wollte. Wahrscheinlich sah Friedrich Wilhelm die Verwirklichung seiner Ziele in Gefahr, wenn er Crell ebenfalls eingeladen hätte. Statt Sagittarius und Crell hatte der Kurfürst wahrscheinlich deswegen Vorstius eingeladen, weil dieser die kirchenpolitischen Maßnahmen des Kurfürsten bejahte und als Lehrer am Joachimsthalschen Gymnasium noch mehr unter kurfürstlicher Kontrolle stand als die Domprediger, bei denen die Domgemeinde ein Mitspracherecht besaß. Ähnlich verhielt es sich wohl auch mit Vorstius’ Kollegen Gersom Vechner, der ab der vierten Session als Ersatz für den nach Preußen reisenden Kunsch fungierte. Diese Personalauswahl macht deutlich, dass es Friedrich Wilhelm nicht darum ging, ein Teilnehmerfeld zusammenzustellen, das als repräsentabel für die unterschiedlichen geistlichen Meinungen in Brandenburg gelten konnte. Vielmehr wollte er seine kirchenpolitischen Ziele machtvoll durchsetzen und nutzte daher seinen Einfluss durch die Berufung der reformierten Teilnehmer. Seine Entscheidungen bedeuteten nicht nur eine klare Zielvorgabe für den erfolgreichen Abschluss des In der Forschung wurde bisher nie die Frage gestellt, warum der Kurfürst statt der Domprediger einen Lehrer berufen hat. Trotz vieler Forschungsbeiträge wurde das geistliche Umfeld des Kurfürsten anscheinend nicht ausführlich untersucht. 22 Sagittarius hatte sich unter anderem mehrfach beim Hof darüber beklagt, dass die Domprediger zu wenig Besoldung bekommen würden. Vgl. GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 43 (Akte über Johann Christian Sagittarius). 23 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 41 (Akte über Crell). Es ist zu vermuten, dass Sagittarius unter dem Einfluss Crells stand, ähnliche Positionen vertrat wie dieser und deswegen nicht zum Kolloquium eingeladen wurde. Belegen lassen sich diese Vermutungen jedoch nicht. Es ist auffällig, wie wenig Spuren Sagittarius’ Wirken hinterlassen hat. 21
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Kolloquiums, sondern auch einen Ausschluss aller derjenigen geistlichen Kräfte, die nicht direkt unter seinem direkten Einflussbereich standen. Friedrich Wilhelm intendierte mit der Anordnung der Kollokutoren nicht ein Abbild der geistlichen Verhältnisse im Land, sondern der religiösen Verhältnisse, so wie er sie für richtig hielt. In diesem Sinne handelte er absolutistisch. Die Einladung eines Lehrers kann auch den lutherischen Kollokutoren nicht gleichgültig gewesen sein. Ein Pfarrer besaß ein wesentlich höheres Ansehen als ein Schulbediensteter. Dass den Lutheranern mit Vorstius ein Lehrer als gleichberechtigter Diskussionspartner gegenüber gestellt wurde, hat daher sicherlich nicht zur Entspannung der Situation beigetragen. Von den Lutheranern nahmen teil die Pfarrer der Cöllner St. Petri-Kirche, Propst Andreas Fromm, Archidiakon Johann Buntebart und Christian Nicolai, die Pfarrer der Berliner St. Marien-Kirche, Archidiakon Martin Lubath und Jakob Helwig, und die Pfarrer der St. Nicolai-Kirche, Propst Georg Lilius, Archidiakon Elias Sigismund Reinhardt, Paul Gerhardt und Samuel Lorentz. Da das Konsistorium die Einladung an die Ministerien zu Cölln und Berlin gesandt hatte, stellte sich bei den Lutheranern gar nicht die Frage, ob jemand anders als die genannten Pfarrer am Kolloquium teilnehmen sollte. Es ist fraglich, ob die Pfarrer neben der Wahrnehmung ihrer pastoralen Gemeindeaufgaben überhaupt ausreichend Zeit für die einzelnen Sessionen und deren Vor- und Nachbereitung hatten. Mit dem Westfälischen Frieden 1648 begann nicht nur eine Epoche der wirtschaftlichen Stärkung des Landes, sondern auch eine Zeit der verstärkten geistlichen und seelischen Tröstung. Die Pfarrer hatten durch den hohen Bedarf an Seelsorge, Kasualien und Gottesdiensten viel zu tun.24 Die 1650er und 1660er Jahre waren eine Zeit des Wiederaufbaus der Dörfer und Kirchen, der Stärkung christlichen Lebens sowie der Reorganisation von Kirchen-, Visitations- und Prüfungsordnungen. Darüber hinaus zwangen sowohl die hohe Kindersterblichkeit als auch die zahlreichen Predigtverpflichtungen zu strikter Arbeitsdisziplin. Daher ist es erstaunlich, dass die Pfarrer noch dazu kamen, sich theologischen Gesprächen zu stellen und lange Gutachten zu schreiben. Die Klage über zu wenig Zeit hielt daher immer wieder Einzug in die Mitteilungen, die sich die Pfarrkollegen gegenseitig zusendeten. Es ist gut möglich, dass die Arbeitsbelastung der reformierten Kollokuoren niedriger war als diejenige der Lutheraner. Da sich die kurfürstliche Familie, die bereits einen großen Teil der reformierten Gemeinde ausmachte, oft in den Residenzen in Kleve oder Königsberg befand, wo es neben den Reisepredigern zum Teil eigene Hofprediger gab, dürften die 24 Vgl. zum veränderten Aufgabenbereich der Pfarrer während des Krieges und in der Folgezeit Werdermann: Pfarrerstand, 53–133; Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg, 102 f. Vgl. zu den immensen Predigtverpflichtungen der Geistlichen Beutel: Art. Predigt, 300–302.
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Reformierten mehr Zeit gehabt haben, sich auf das Kolloquium vorzubereiten.
4.2 Vorbereitungen 4.2.1 Ort und Zeit des Kolloquiums Das Präsidium wählte den Ort des Kolloquiums mit Bedacht. Um die vermeintliche Neutralität des Hofes in konfessionellen Fragen zu wahren, konnten die Sessionen nicht in einem einer der Streitparteien gehörenden Raum, sondern am besten in Räumen des Kurfürsten stattfinden, die zudem repräsentabel und Ausdruck der kurfürstlichen Geisteshaltung waren. Selbstverständlich hatte auch das kurfürstliche Schloss eine Bibliothek. Diese war jedoch klein und nicht repräsentabel angesichts der Bedeutung, die Bibliotheken im 17. Jahrhundert hatten; sie festigten im besonderen Maße den Ruf, das Ansehen und die Gelehrsamkeit einer Person. Daher beauftragte der Große Kurfürst im Juni 1658 den Schulinspektor der Mark Brandenburg und Joachimsthalschen Professor Johann Raue 25 , die „Inspektion und Direktion Unserer hierso als anderswo vorhandenen Bibliotheken“26 zu übernehmen und die kleine, bisher auf dem Dach befindliche private Ansammlung von Büchern zu einer bedeutenden Bibliothek zu erweitern. Raue siedelte die neue Schlossbibliothek über der kurfürstlichen Apotheke an, legte sie mit der Dombibliothek zusammen, erwarb neue Bände und machte die Räume ab 1661 Hofbeamten, Geistlichen und Gelehrten frei zugänglich.27 Da der Be Raue (1610–1679) war ein über die Landesgrenzen hinaus bekannter Pädagoge und ein Anhänger von Amos Comenius. Vgl. W. Faber: Johann Raue. Quellenstudien über den Comeniuskreis und das Danziger Geistesleben im Zeitalter des Barock, ZWestprGV 68 (1928), 185–242; K. Tautz: Die Bibliothekare der Churfürstlichen Bibliothek zu Cölln an der Spree (ZfB.B 53), Leipzig 1925 und Bahl: Hof, 85, betonen zu recht, dass die Stellung der Bibliothekare am Hof nicht unterschätzt werden darf. Diese waren wissenschaftliche Berater des Kurfürsten und hatten das Recht des ungehinderten Zutritts zu ihm. 26 Zitiert nach Meinardus: Protokolle V, 519 (Sitzung des Geheimen Rates vom 20. [30.] April 1659). 27 Vgl. J. C. C. Oelrichs: Entwurf einer Geschichte der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Berlin 1752, 2 f.; Hering: Beiträge II, 44; Beuys: Friedrich Wilhelm, 149 f. bietet eine Beschreibung der Bibliothek. Diese bestand aus drei Räumen, war 31 Meter lang, 5 Meter hoch und 14 Meter breit und ausgestattet mit rotgestrichenen Regalen und Schränken. An den Wänden hingen Bilder von Philosophen sowie (programmatisch irenisch nebeneinander) von Hus, Luther, Calvin, Zwingli, Bugenhagen, Erasmus und Cario. Im ersten Raum befand sich in der Mitte ein großes Lesepult, der zweite Raum war ein Lesesaal, der dritte die Raritätenkammer. 25
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stand stetig wuchs, berief der Kurfürst mit Johann Vorstius einen zweiten Bibliothekar. Zum Zeitpunkt des Kolloquiums befand sich die Bibliothek zwar noch im Aufbau, 28 war aber bereits ein bedeutender Ort wissenschaftlichen Lebens in der Residenzstadt. Nicht an irgendeinem Ort, sondern an diesem Ort, an dem sich die Wissenschaft und die tolerante kurfürstliche Haltung für alle Bürger der Residenzstadt offensichtlich manifestierte, sollte ein Ausgleich zwischen den sich gegenseitig verketzernden Konfessionen gefunden werden.29 Das Kolloquium sollte fünf Tage nach der Versendung der Einladung beginnen, also am Dienstag, dem 26. September 1662. Mit diesem kurzfristig bekannt gegebenen Beginn wollte das Präsidium möglicherweise verhindern, dass die Lutheraner noch genügend Zeit hatten, von außerbrandenburgischen Fakultäten oder Brandenburger Pfarrern Gutachten einzufordern. Zudem wussten die Räte durch die Situation in Preußen, dass das Problem des angespannten Verhältnisses zwischen den Konfessionen schnell geregelt werden musste, damit die Stände und der Adel nicht zu stark darin involviert werden würden. Tatsächlich ließ dieser Termin den Pfarrern nur wenig Zeit zur Erledigung der Formalien und zum gegenseitigen Austausch über Gesprächsstrategien.
4.2.2 Die Reaktionen der Lutheraner In den lutherischen Ministerien wurde zunächst einmal darüber beraten, ob und wie die Einladung des Kurfürsten angenommen werden könne. Die zunächst zögernde Haltung der Berliner Lutheraner ist der Forschung zum Teil bekannt. Die Geistlichen setzten zunächst ein Schreiben auf, in dem sie das Präsidium um einen Aufschub des Kolloquiums baten.30 Erst dann berieten sie ausgiebig über die Einladung. Schließlich verfasste Lilius ein Schreiben an 28 Während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms wuchs die Bibliothek immens an, 1668 bestand sie bereits aus etwa 20.000, 1687 aus etwa 90.000 Bänden. Viele angesehene Privatbibliotheken wurden von der kurfürstlichen Bibliothek aufgekauft oder dieser vererbt (beispielsweise die Sammlungen von der Gröbens und Vorstius), vgl. Oelrichs: Entwurf, 2 f.; Bahl: Hof, 307. Vgl. zur Bibliotheksgeschichte GStA PK Rep. 2 Nr. 11 „Über die kfl. Bibliothek = Bibliothek zur Heiligen Dreifaltigkeit“. Unter ihrem heutigen Namen „Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz“ ist sie heute die größte und eine der bedeutendsten Bibliotheken Deutschlands. 29 Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen wurde fünfmal (bei den inoffiziellen Sessionen am 27. Februar, am 3. und am 4. April 1663 sowie bei der sechsten Session am 10. Oktober und der achten Session am 24. Oktober 1662) in der Geheimen Ratsstube getagt; auch dies war ein konfessionell neutraler Ort. Vgl. 4.3.1.5, 4.3.2.1, 4.3.3.4, 4.3.3.8. 30 Da dieses Schreiben der Forschung in seinem vollen Umfang bisher unbekannt war
4.2 Vorbereitungen
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den Kurfürsten,31 in dem er zwar die Teilnahme am Kolloquium zusagte, aber erstens betonte, dass ein Partikularkolloquium eigentlich keine Befugnis habe, da die gestellten Fragen die gesamte märkische Kirche betreffen.32 Zweitens erbat er mehr Zeit, um sich mit den reformierten Bekenntnissen auseinandersetzen zu können. Drittens verlangte er, nicht nur über die vom Kurfürsten gestellten Gesprächsfragen, sondern über die theologischen Lehren an sich zu sprechen. Zwar hob Lilius hervor, dass die Berliner Pfarrer „kein einiges Bedencken nehmen werden, in aller treue gegen Gott und in auffrichtigkeit gegen Jederman unsers glaubens Rechenschafft zu geben, wie dieselbe in gottes wort gegründet, und dann in unsern Symbolischen büchern Lutherischer Kirchen, bey denen allen wir beständiglichst durch die gnade gottes verharren“, er befürchtete jedoch, dass durch eine „privat Conferentz, wie
(Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 95, bietet lediglich einen Ausschnitt), soll es an dieser Stelle im vollen Wortlaut folgen: „Churfurstl. Brandenburgische zum Geistlichen Consistorio hochverordnete Herrn Räte, Hochedle, Beste, WollEhrwürdige, Großbeachtbahre, Hochgelahrte, Hochgeehrte Herren, Denen selben unsere getrewe dienste jederzait zuvorn, wie gegen die selben unß dienstlichst zu bedencken haben, das Sie nicht allein auff mundliche nachricht Von Sr. Churfl. Durchl. unsern gnädigsten herrn gnädigsten intention, auch schrifftlich nachricht derro gnädigsten Rescripts unß zu kommen laßen, Sondern auch biß Möntags unß Zait und Raum zu unserm Collegialischen nach dencken darüber vergönstigen wollen. Also haben wir solches auch in der furcht gottes und allen unterthänigsten Respect unserer gnädigsten herrschafft, alß auch betrachtung der Sachen Wichtigkait an ihr selbst, zu samen wol er wogen, und für dißmahl nichts anders schlüßlich befunden, alß eben dises, womit beygefügt, bey Sr. Churfl. Durchl. wir unterthänigst und Ein mütiglich ein zu kömmen wir nötig erachtet. Dabey aber unsere hochgeehrte herren wir dienstfleißigst ersuchen, Sie wollten es in aller wolgewogenhait auff nehmen, das wir unsere Zuversicht zu dero besten und füglichsten recommentirung hierinnen tragen, und mit dem Beschluß, Sr. Churfl. Dhl. demselben bester maßen für zu tragen, keine nähere hand, alß eben das hochpreißliche Consistorii, mit unserer hochgeehrten herrn Erlaubniß bemühen, gestalt wir auch da durch unß werden mehr und mehr verbinden laßen, Jederzeit und also Danckbarlichst zu bezaigen, alß Unsere hochgeehrten herren getrewe fürbitter und beraitwilligste diener Propst und sämptliches Ministerium in Berlin M. Georg. Lilius, E. S. Reinhart. Th. L., M. Martin Lubath. m. s., Pauluß Gerhardt, Jacobus Helwigius m. m.“ (Zitiert nach GKl Archiv XII/90/3, f. 219r). Einen Tag später bekräftigte Lilius dieses Berliner Ansinnen noch einmal in einem Brief an von Schwerin, vgl. aaO., f. 220v–221r. 31 Vgl. aaO., f. 219v–220v; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 4–7. 32 Vgl. die Passage aus Lilius’ Brief: „So hat doch unser berlinisches Ministerium in solchen fällen nicht die Erstigkeit, sondern läßet gewißen andern Ministerien hergebrachten brauch nach, billig die Vorstelle“. Später fügte Lilius hinzu, dass „diese wichtige Sache ohn dem nicht allein unß, sondern die gantze Märckische Kirche unserer Religion concerniret“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 220r). Lilius schlug im Folgenden vor, alle Ministerien und Inspektoren der wichtigsten Städte Brandenburgs zu befragen.
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man so wol vormahls alß newlichst33 erfahren mehr weitläuftigkeit oder auch mißfelligkeit, alß besänftigung oder durch gängige vergnugung darauß erwachsen möge“. Bevor dieses Schreiben verabschiedet und übergeben wurde,34 stellte Lilius es innerhalb der Berliner Pfarrerschaft zur Diskussion. Auch wenn die Cöllner Lutheraner die Einladung mit einem Schreiben vom 1. September35 annahmen, so hatten auch sie einige Bedenken.36 Zunächst sicherten sie dem Kurfürsten ihre Unterstützung zu und betonten, dass die im Reskript vom 21. August geführte Klage über Beschuldigungen und Verketzerungen nicht auf sie zutreffen könne. Sie hofften, dass durch das Kolloquium „die lengst gewünschte Kirchen Tolerantz, wo möglich nebst Gottes segen, gestifftet werden könne“. Doch auch den Cöllnern schien die Eingangsfrage bedenklich: „Was aber die itzt vorgelegte Materiam Collationis betrifft, müßen wir bekennen, daß uns die selbe bedencklichen vorkömmet [. . .] daß wir nicht rathsam befinden können, auff die vorgegebene zwo fragen unß ein zu laßen“. Auch die Cöllner plädierten für eine Einladung weiterer Pfarrer aus Brandenburg, „denn ob wir gleich alß privati privatis ex altera collaturorum parte unsere eigene gedancken, was zu antworten wehre, leicht antdecken könten, so müßen wir doch itzo erwegen, daß es causa publica, res Ecclesiae, und also viel ander ding sey“. Sie kritisierten zudem, dass die Ausgangsfrage mit der lutherischen Konfession als Subjekt begann und gaben zu: „Unser Scrupel würde unß in etwas sein gemindert worden, wenn wir unter allen colloquiis [. . .] nur ein einiges gefunden hetten, in welchem materia Collationis durch solche generalissimas quaestiones wehre proporiret worden“. Schließlich beanstandeten auch sie, dass eine Antwort auf die vorgegebenen Fragen in der kurzen Zeit von fünf Tagen kaum möglich sei, „zu mahlen ein Jeder sonst sein ampt zu verrichten hatt“.
4.2.3 Das erste Votum der Berliner Lutheraner Wie wichtig den lutherischen Geistlichen um Paul Gerhardt die nun angenommene Einladung zum Kolloquium war, spiegelt sich in den durch Elias 33 Gemeint sind die in 2.3 beschriebenen Kolloquien zu Leipzig (1631), Thorn (1645) und Kassel (1661). 34 Als Boten fungierten Bedienstete der Pfarrer oder auch der Küster, wie das Beispiel vom 21. November 1662 (vgl. aaO., f. 268r) zeigt. 35 Vgl. aaO., f. 364r–365r; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 1–3. 36 In der Forschung wurde es oftmals (Vgl. beispielsweise Langbecker: Gerhardt, 23; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 182) so dargestellt, als sei das Cöllnische Ministerium im Gegensatz zum Berliner Ministerium von Beginn des Kolloquiums an mit der Vorgehensweise des Präsidiums einverstanden gewesen und habe keine Bedenken geäußert. Dies stellt jedoch eine vereinfachende Sicht auf die Vorgänge dar.
4.2 Vorbereitungen
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Sigismund Reinhardt akribisch angelegten Aufzeichnungen wider. Diese begannen fast immer mit einer Stellungnahme des Propstes Georg Lilius oder Reinhardts zu einer Schrift und kursierten anschließend unter den Pfarrern, wobei jeder eine kurze Zustimmung oder Ablehnung oder gar ein eigenes Votum dazu schrieb. Hatten alle Pfarrer ihre Meinung kund getan, gingen diese so genannten ‚Vota Collegialia‘ oder ‚Vota Collegiata‘ zurück an Reinhardt. Dieser kompilierte dann daraus ein schriftliches Votum, welches anschließend meistens wiederum von den Pfarren durchgelesen wurde. Mit dieser aufwendigen Prozedur wollten die Pfarrer zum einen das gemeinsame und einvernehmliche Vorgehen aller Berliner Lutheraner während des Kolloquiums betonen und sich zum anderen auf schriftliche Stellungnahmen einigen,37 die den reformierten Schriften bzw. den Anfragen des kurfürstlichen Rates entgegengestellt werden konnten.38 Dieses Streben nach einem theologischen 37 Ein entscheidender Nachteil dieses Verfahrens war, dass es sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Die Klage über zu wenig Zeit für die sonstigen pastoralen Aufgaben zieht sich wie ein roter Faden durch die Voten der Berliner Pfarrer, vgl. beispielsweise folgende Bemerkungen: Lilius: „Kann ich meines Theils vor diesmahl nichts sagen, denn 1) treiben mich meine Meditationes, die ich auff den freytag im Kloster [= in der Kirche, die zum Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster gehörte] ablegen soll“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 503r); Reinhardt: „wie ich dies selbe in der Eyl extrahiret, bitte wechsels weise, (id est das ad maturandam rem, und doch confiterat zu lesen, der eine in dem Er die erste schrifft liefert, die andere so lange Seinem Nächsten Herrn Collegen Zu schicke) solche beide schrifften wohl durch Zu lesen, und ein Jed[er] weder mir seine observationes unbeschwert leßerlich ein zu schicken, der ich sonst diese woche sehr viel zu Verrichten, will auch aber keiner arbeit, sonderlich da ich ein wenig in legendo et evoluendo könnte subleviret werden“ (aaO., f. 488v) sowie: „Weil [. . .] Ich auch so nach gedacht wegen der Donnerstags predigten. Der erste der Liebste der nechste, wie es so kömt. Sie setzen nur ihre gedanken, und corrigiren alles wo es von nöten überall sein wird. Dan ich habe die Zeit nicht nehmen können etwas davon rein in geschick zu bringen“ (aaO., f. 492r); Lubath: „habe es nicht noch ein mahl abschreiben können [. . .] da ich nicht Zeit habe [. . .] HochgeEhrter Herr Gevater, es häufft sich die Arbeit schrecklich, weil die Schrifften alle werden, als herrliche Tractate, da wird große Arbeit zu gehören. Am Freytag soll schon eine neue ein kömen, Gott helfe gnädiglich“ (aaO., f. 519r–519v) und Helwig: „die am verwichenem freytage mir zu gesamte Schrifft der Reformirten sub Littera A ist, wegen der ordentlichen Amts-Verrichtungen eher als ietzo durch zu lesen, mir unmöglich gewesen“ (aaO., f. 524r). 38 Hier sei nun ein Beispiel geboten, welches zwar untypisch ist, da alle Pfarrer vollständig mit der vorgeschlagenen Schrift einverstanden waren, jedoch zeigt, wie die Zirkulation eines Schreibens typischerweise vonstattenging. Innerhalb von nur vier Stunden hatten alle Pfarrer die Schreiben durchgelesen und kommentiert (weite Wege lagen jedoch nicht zwischen den Wohnungen der Pfarrer; es ist davon auszugehen, dass neben Gerhardt auch die beiden anderen Diakone der St. Nicolai-Kirche in der Stralauer Straße gewohnt haben). Dies belegt, dass die Schreiben manchmal Priorität vor andern Aufgaben hatten: „[Reinhardt:] Für angewante bemühung in dieser Sache zur heiligen Zeit bedankt sich dienstfreundlichst, und er bäut sich zum intimirten Convent:
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Konsens ist ein typisches Merkmal der lutherischen Orthodoxie. Die Pfarrer waren überzeugt davon, dass der erreichte Konsens auf einer gemeinsamen Erkenntnis der Wahrheit basiere.39 Paul Gerhardt und die weiteren Lutheraner haben ihre Voten ausschließlich für die Pfarrerschaft des Berlinischen Ministeriums, nicht aber für die Öffentlichkeit verfasst. Wäre Letzteres der Fall gewesen, hätten die folgenden Ereignisse, das heißt sowohl das Kolloquium als auch die sich anschließenden Auseinandersetzungen um die Reverse sicherlich einen anderen Verlauf genommen. Viele Voten sind in ihrer eindeutigen Ablehnung einer Duldung der Reformierten ein Beleg dafür, dass für die Berliner Lutheraner zunächst außer Frage stand, einer ‚mutua tolerantia‘ nicht zuzustimmen. Hätte dies der Kurfürst schon zu einem frühen Zeitpunkt des Kolloquiums erfahren, hätte er seine kirchenpolitischen Maßnahmen gegen die Lutheraner wahrscheinlich schon früher verschärft. Bei der Durchsicht des Nachlasses Lubaths zeigt sich, dass Paul Gerhardt der entscheidende lutherische Schriftführer hinter den Kulissen des Kolloquiums war. Zwar ist hinsichtlich der Anzahl und Länge keine Dominanz von Gerhardts Voten im Verhältnis zu seinen Pfarrkollegen erkennbar. Vielmehr haben alle Pfarrer ausführliche Voten verfasst, die dann letztendlich von einer Hand zu einer offiziellen Stimme kompiliert wurden. Es liegt nahe, dass diese letzte Hand nicht Gerhardt, sondern Lilius oder Reinhardt war, da sie hierarchisch höher gestellt waren. Allerdings finden sich an vielen Stellen Bemerkungen, aus denen hervor geht, dass Gerhardt bestimmte Sachverhalte besonders trefflich auf den Punkt bringen konnte. So ist – wie im Laufe des vorliegenden Paragraphen deutlich werden wird – hinsichtlich ihrer Inhalte und letztendlichen Verwendung der Voten als offizielle Schreiben der Berliner Luhatt auf dieses circa h. 2. pomerid. Dmn. Successori übermacht M. Georg Lilius m.s. Hn Gerhardten hatts strags noch 3. uhr zugeschickt. M. Lubath. m.s. Nach dem ich auß der vesper und von Besuchung eines Krancken zu Haus kommen habe ich bey gefügte schrifft überlesen, und nach dem nichts darbey zu erinnern, gehabt, ferner dem Hn. M. Lorentzen Meinem Geliebten Herrn Collegen und gevatter Zu geschicket circa quintam vespertinam. Paulus Gerhardt. Ich laße diese schrifft mir gar wohlgefallen, U. habe nach Verlesung solche circa 6tam vesperti meinen hochgeehrten H Collegen Herrn Helwigum zu gesendet M. Samuel Lorentz. m.s. Umb glock Sechß habe ich diese Schrifft empfangen U. sende sie nach Verlesung also fort zu rück. Jacob Helwigius.“ (aaO., f. 550r). 39 Dass die Konsensbildung in der lutherischen Orthodoxie der klassische Weg zur Urteilsbildung innerhalb einer Gruppe war, zeigt an Hand von Disputationen an der Universität Wittenberg Appold: Orthodoxie als Konsensbildung.
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theraner eine Dominanz von Gerhardts Gedanken gegenüber den Anmerkungen anderer Pfarrer zu konstatieren. Der dritte Band des Nachlasses von Martin Lubath enthält die Voten der Berliner Lutheraner zu fast jeder verabschiedeten Schrift. Darunter befinden sich viele der Forschung bisher unbekannte Autographen Gerhardts und seiner Kollegen. Durch die Untersuchung dieser Voten lässt sich nachvollziehen, wie welcher Pfarrer theologisch gedacht und argumentiert hat. Erstmalig kann durch die Analyse dieser einzelnen Voten überprüft werden, ob Paul Gerhardt wirklich der „starrsinnigste Lutheraner“40 war.41 Diese Überprüfung und die Analyse der einzelnen Voten erfolgt nicht gebündelt in einem einzelnen Abschnitt, sondern in den jeweiligen Kapiteln, welche von den Berliner Schriften handeln. Auch zu dem von Lilius verfassten Antwortbrief auf die Einladung zum Kolloquium schrieb jeder Pfarrer eine kurze Zustimmung oder Ablehnung oder gar ein eigenes Votum. Das erste Votum stammt von Elias Sigismund Reinhardt.42 Im Großen und Ganzen stimmte dieser Lilius’ Schreiben zu. Auch Reinhardt betonte: „So hat doch unser Berlinisches Ministerium in solche und dergleichen fällen, nicht erstigkeit, sondern läßet andern hergebrachten brauch nach, billig die Vorstelle“. Sollte es jedoch bei der vom Kurfürsten gewünschten Konstellation bleiben, so könne das Kolloquium nur ein „Particular-Versuch“ sein: „In fall aber ja ein particular Versuch beliebet würde, So ist unser doch unvorgreiffliches, wohl meintes bedencken, das das hoch geistl. Consistorium Unnd zur conferentz deputirte H. Theologen mit denen den anfang machten, die sie wißen, dz. sie die Reformirte Kirch hostiliter Und unchristlich Verlästern auf dz selbige in Elenchticis modestio verweisen wie dan wir unsers Theils deßen mit bestand der Wahrhait mit nichten beschuldigen weniger Zu belangen sey“. Neben Gerhardt bot Samuel Lorentz das am deutlichsten gegliederte und auch in seinen inhaltlichen Vorschlägen kreativste Votum.43 Zunächst betonte Lorentz, dass der Maßstab zur Beurteilung der Konfessionen allein die Bibel 40 So bezeichnet ihn unter anderem E. Barnikol: Paul Gerhardt – Seine geschichtliche, kirchliche und ökumenische Bedeutung, WZ(H).GS VII (1957/58) (429–450), 433. 41 Diese Sichtweise wird oftmals einseitig an seinem späteren Votum festgemacht, welches den Satz enthält „das unter den Reformirten, Christen seyn, gebe ich gern zu, aber dz die Reformirten quatenus tales [so, wie sie (beschaffen) sind,] Christen, und also meine Mitt Christen, Meine Mittbrüder, meine Mittglieder sein, hoc e[st] quod nego“ (aus Gerhardts Votum vom 19. Mai 1663, zitiert nach GKl Archiv XII/90/3, f. [554v– 555v] 554v. Vgl. den [zum Teil fehlerhaften] Abdruck bei Langbecker: Gerhardt, 87– 90. 42 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 482r–482v. 43 Vgl. aaO., f. 485r–486v.
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und die Konkordienformel sein dürften, „zumahl solche Confessiones nach der Hl. Schrifft durch aus nach unserer Kirchen Libris Symbolicis, wir der Meynung gründlich in formula concordia wiederhollet, judiciret werden müßen“. Auch Lorentz warnte vor einem Alleingang des Berlinischen Ministeriums. Was für Konsequenzen ein solcher nach sich ziehen würde, habe sich am Beispiel der Rintelner Theologen beim Kasseler Kolloquium gezeigt: „Hätten Theologis Rintelenses das Werck nicht so eben für ihren Kopff alleine angefangen, sondern es mit andern Ecclesiis communiciret, und sich etwa de Colloquio et de ejus modo verglichen, wehre nicht diese neue weit aus sehende Trennung zwischen Ihnen und andern Kirchen enstanden“. In vielen Voten von Lorentz finden sich Vergleiche mit früheren Kolloquien und deren Ergebnissen. So rekurriert Lorentz immer wieder auf das Kolloquium zu Mömpelgard: „Hielt nicht Jacobus Andrea mit Theodoro Beza im Colloquium zu Mompelgardt, und stellete ihm seine Errores klar und deutlich gnug vor Augen? Aber was ward damit angerichtet, ist nicht darauf, der Streit immer hefftiger und hefftiger worden?“ Auch an Hand des Thorner Kolloquiums sei zu ersehen, dass Kolloquien nicht den gewünschten Effekt erbrächten und im Gegenteil die Spannungen noch verstärkten. Lorentz kam daher zu dem Schluss, dass die Teilnahme am Kolloquium abgelehnt werden müsse, da dieses „mehr Weitläuffigkeit mit [sich bringe] als Einigkeit aller Besorgung nach erregen möchte“ und „weil doch Brüderlich Einigkeit in hoc mundo nicht zu hoffen“. Martin Lubath betonte in seinem Votum vom 28. August,44 dass die Eingangsfrage des Kolloquiums nicht nur die Situation in Berlin, sondern als allgemeine Religionssache die Situation in der gesamten Mark Brandenburg betreffe. Deshalb schlug er vor, mit anderen Ministerien zu kommunizieren und von ihnen Vota bezüglich ihrer eigenen Einschätzung der Situation einzufordern. Die Berliner Lutheraner könnten ohne „etliche communication der übrigen Aug. Confess. zu gethanen kirchen nichts [be]schließen“, andernfalls aber sich „eines gefärlichen und ärgerlichen Schismatis“ schuldig machen. Er befürchtete, dass „diese Sache auff unsere Verbitterung der gemüther alß besanfftigung her auß schlagen möchte“, und „die Streitigkeiten, welche auff S. Chfl. Dhl. Wohlmeinenden und geneigten Intention gemindert werden solte, möchte erst recht vermehret werden“. Er schlug deshalb vor, dass von jedem Brandenburgischen Ministerium „einige person mit Völliger Collegarum suorum Deliberation, vobis, instruction erscheinen, u[nd] dem werck also beywohnen mögen“, damit das Berlinische Ministerium nicht als Partikularität auftreten müsse. Jakob Helwig stimmte in seinem Votum vom selben Tag45 Vgl. aaO., f. 482v–483v. Vgl. aaO., f. 486v–488v.
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Lubath zu und unterstrich, dass „unser aufrichtigen Glaubens bekenntniß, wie die selbigen in Gottes Wort gegründet und in den Libris Symbolicis der Lutherischen Kirchen, darauf wir durch Gottes Gnade (bene) zu leben und zu sterben gedenken, enthalten ist, zu vertheidigen“ sei. Es war vor allem Paul Gerhardt, der große Vorbehalte gegen eine Annahme der Einladung vorbrachte. Das am klarsten strukturierte Votum46 und zugleich die entschiedenste Ablehnung des Kolloquiums stammt von ihm. Das Votum ist in seiner Form und seinem Inhalt nach bemerkenswert. Im ersten von vier Teilen („Rationes pro Colloqio“) bringt Gerhardt in sieben Artikeln Gründe vor, die für die Annahme der Einladung zum Kolloquium sprechen. Im zweiten Teil („Rationes contra“) legt er in acht Artikeln Gründe dar, warum eine Teilnahme am Kolloquium keinen Sinn mache. Im dritten Teil („Ad ratione affirmandi et quidem ad“) entkräftet er die sieben Argumente des ersten Teils. Im vierten Teil („Conclusio“) erläutert Gerhardt mit acht Argumenten seine Schlussfolgerung, die Einladung zum Kolloquium nicht anzunehmen. Gerhardt versucht mit großer Gewissenhaftigkeit die Frage von allen relevanten Seiten zu beleuchten, ob die Einladung angenommen werden könne. In seiner antithetischen Argumentation durch die Kontroverstheologie seiner Zeit geprägt, stellt er den Lutheranern („unseres Glaubens“, „unser Bekenntniß“, „unsrer Religion“) die Reformierten („ihre Religion“, „der Reformierten Sinn und Meinung“) gegenüber. Diese seien „obstinati et obdurati [= widerspenstig und gefühlslos]“ und ihre Lehre sei „in fundamento erronea et damnabilia [= in den Grundlagen falsch und verwerfenswert]“. Auch polemische Elemente übernimmt Gerhardt: „Die Reformirten dagegen werden den schein gewinnen alß währen sie so trefflich unüberwindliche Helden und ihre Religion stünde auff festen unbeweglichen fußen“. Bemerkenswert ist sein Verständnis vom reformierten Glauben: Dieser beruhe auf „grobe[n] Irrthümer[n]“. Eine Tolerierung der irrenden Reformierten würde einem „Syncretismum“ gleichkommen, den Gerhardt als „höchst gefährlich[es]“ Werk ansah. Dieser Synkretismus, „wie die Marpurger von den Rintelern zu Cassel erlanget“, könne eine „völlige Einführung der reformirten Religion“ zur Folge haben. Gerhardt fürchtet die Vorstellung, dass „der Syncretismus et Calvinismus über die Mark“ kommen könnte, aus zwei Gründen: Zum einen habe er Angst um den Ruf der lutherischen Pfarrer vor der Gemeinde, zum anderen davor, dass die Lutheraner vor Gott „unserm Amte nicht Genüge gethan“ hätten, wenn sie einer Toleranz zustimmten. Trotz allen Ängsten und Zweifeln besitzt er die Hoffnung, dass die Luthera Vgl. aaO., f. 483v–485r. Dieses unter dem Titel „Rationes pro colloquio et rationes contra“ bekannt gewordene Votum ist abgedrukct bei Langbecker: Gerhardt, 23–27. 46
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ner durch das Kolloquium „vielleicht einen und den andern bekehren und auff den rechten Weg bringen“ könnten. Obwohl ein gemeinsames Auftreten der Berliner und Cöllner die lutherische Position gegenüber den Reformierten gestärkt hätte, sprach sich Gerhardt gegen eine Zusammenarbeit aus, da die Cöllner die Tolerierung der Reformierten begrüßen würden: „Sollen wir mit dem Cöllnischen Ministerio uns conju[n]giren [= vereinigen] und nebst ihren communen causam handeln, da doch bei den Meisten selbigen Ortes der Syncretismus allbereit statt genommen, und sie in ihren Herzen wider uns sein. Und indem wir solches urgiren oder vielmehr excipiren werden, werden wir mit den Cöllnischen selbst zuthun kriegen, und diesen werden die Reformirten nicht ablegen“.
Das Schlüsselwort für Gerhardt in diesem Votum und im weiteren Verlauf des Kirchenstreits ist ‚Gewissen‘. „Gott und unserm Gewissen Genüge thun“ ist für Gerhardt die entscheidende Prämisse seines Handelns. Diese Berufung auf das Gewissen hing wesentlich mit seinem Ordinationsbekenntnis zusammen. Darin hatte sich Gerhardt verpflichtet, die lutherische Lehre, die seiner Überzeugung nach die einzige legitime Auslegung des göttlichen Evangeliums ist, zu verteidigen. Dies gelte nach Apg 5,2947 auch gegenüber obrigkeitlichen Maßnahmen. Würde dieses Gewissen durch die Annahme der Einladung zum Kolloquium beschädigt, so bliebe für Gerhardt keine andere Möglichkeit, als „dieses colloquium modeste zu declinieren“ [= sich ehrbar fern halten] und somit der Obrigkeit den Gehorsam zu versagen. Daher kam Gerhardt in seinem Votum zur Conclusio: „Was der Reformirten Sinn und Meinung sey, haben wir bisher aus ihren Schriften genugsam ersehen, und es bedarf also deshalb keiner conferens [. . .] solchen Frieden wird mit Gottes Hülffe keiner unter uns Lutherischen dem Ministerio Beroliniensi zugethanen Predigern eingehen [. . .] Ist die Religionssache nicht unser, sondern der ganzen märkischen lutherischen Kirche, und können also ohne derselben Vorbewußt und Einwilligung uns nicht einlassen“.
Gerhardt zeigt sich in diesem Votum als ein kompromissloser Theologe, der eine Verständigung mit dem Ziel der Toleranz von vornherein für unmöglich hält und sogar Kontakte zu jenen Lutheranern ablehnt, die bereit sind, die Reformierten zu tolerieren. Er fürchtet, dass bei einer mutua tolerantia die Reformierten „die völlige Einführung der reformirten Religion desto leichter admittiren [= in Gang setzen] mögen“. Das Berlinische Ministerium nahm letztendlich dann doch die Einladung an. Es ist zu vermuten, dass Gerhardt deswegen bei den offiziellen Sessionen kaum in Erscheinung getreten ist, weil er gegen seinen Willen am Kolloquium teilnehmen musste. „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
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4.2.4 Die erste Session Die erste Zusammenkunft der Kolloquiumsteilnehmer bzw. die erste Session48 fand am Montag, dem 1. September 1662, statt. Entgegen der fast in der gesamten Forschungsliteratur verbreiteten Annahme, dass sich die Lutheraner und Reformierten 17 Mal getroffen haben, ist davon auszugehen, dass die Reformierten bei der ersten Session gar nicht anwesend waren.49 Wahrscheinlich handelte es sich um ein Treffen lediglich zwischen den Lutheranern und dem kurfürstlichen Präsidium bzw. dem ‚Geheimen Rat bei Verhören‘. In der ersten Session ging es noch nicht um die Eingangsfragen oder um theologische Inhalte, sondern um die Klärung von Formalia. Die Cöllner Lutheraner verlasen ihre Schrift und erhielten Unterstützung durch die Berliner, die das Schreiben von Georg Lilius einreichten. Von Schwerin antwortete auf die Bitten der Ministerien, indem er zunächst verdeutlichte, dass der Kurfürst neben den eingeladenen Pfarrern nicht die Einbeziehung anderer Personen oder Institutionen wünsche. Des Weiteren kündigte von Schwerin an, dass im Verlaufe der einzelnen Sessionen nicht nur über die Eingangsfragen und die Wichtigkeit der Lehren gesprochen werden sollte, sondern auch über die theologischen Inhalte. Abschließend gestand er den Lutheranern noch eine Wo48 In der Forschung werden sowohl die einzelnen Treffen als auch das gesamte Kolloquium mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet. Dies hat für Verwirrung sorgt. Oft wurde der Begriff ‚Konferenz‘ benutzt, jedoch wurden damit entweder die einzelnen Treffen oder die Gesamtheit der Treffen bezeichnet. Da der Begriff zwar im Einladungsreskript, nicht aber von den Kollokutoren benutzt wurde (mit einer Ausnahme: Von Schwerin bezeichnete in seiner Anfangsrede vom 15. Mai 1663 das Treffen am 1. Mai als „Conferentz“), ist er eher unbrauchbar. Auch der Begriff ‚Gespräche‘ ist mE. für die Treffen nicht sinnvoll, da er terminologisch nicht zutreffend ist. Es handelte sich bei den Treffen größtenteils nicht um Gespräche, sondern um Disputationen, Diskussionen und Reden. Ich schlage daher vor, terminologisch nahe an den Quellen zu bleiben, und bezeichne die Treffen in ihrer Gesamtheit als ‚Kolloquium‘, die einzelnen offiziellen Treffen als ‚Sessionen‘. Die erste offizielle Zusammenkunft am 1. September nenne ich erste Session, das nächste Treffen am 8. September, bei der die inhaltlichen Auseinandersetzungen begannen, zweite Session. In den meisten anderen Forschungsbeiträgen beginnt die Zählung entweder mit dem Treffen am 1. September oder mit demjenigen am 8. September. Dies macht das Nachvollziehen des Kolloquiumsverlaufs bei Verwendung verschiedener Sekundärliteraturtitel verwirrend. 49 Dafür sprechen folgende Gründe: 1. Es existiert kein Protokoll von reformierter Seite über die erste Session. 2. Die Berliner erwähnen in ihren Schriften bei und nach der ersten Session nicht wie in sonst allen anderen Schriften, dass die reformierte Seite anwesend war. 3. Die ersten Schriften der Reformierten stammen erst aus der Zeit nach der zweiten Session. 4. Im Protokoll der Sitzung des Geheimen Rates zwischen der ersten und zweiten Session wird als Teilnehmer der ersten Session lediglich Stosch (der als Mitglied des Geheimen Rates schon qua Amt anwesend war), nicht aber die weiteren reformierten Kollokutoren erwähnt.
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che Zeit zu, um sich genau mit den reformierten Konfessionen auseinanderzusetzen, und legte das nächste Treffen, bei dem die Antworten auf die Eingangsfragen präsentiert werden sollten, auf den 8. September fest. Nach der ersten Session war von Schwerin mit weiteren Vorbereitungen beschäftigt. Dazu gehörte auch, dass er dem Geheimen Rat vom Fortgang des Kolloquiums berichtete. Im Protokoll der Sitzung vom 3./13. September 1662 heißt es: „Herr Oberpräsident [= von Schwerin] referiert von der Conferenz des Herren Stoschii mit den lutherischen Predigern allhier in Berlin und Cöllen, daß dieselbe sich nicht einlassen wollen, sondern Bedenkzeit gebeten“50 . Es ist erstaunlich, wie wenig in den folgenden Monaten über den Fortgang des Kolloquiums bei den Sitzungen des Geheimen Rates gesprochen wurde. Zwar finden sich in den Protokollen der Jahre 1662–1663 viele Einträge, die von Einwänden, Verfügungen und Relationen hinsichtlich des kurfürstlichen Verbotes, an der Universität Wittenberg zu studieren, handeln. Das Kolloquium wurde den Protokollen nach jedoch nur noch zwei Mal thematisiert. Von Schwerin hatte den lutherischen Ministerien am 4. September einen Abscheid51 zugesandt, in dem er als Ergänzung zu den Eingangsfragen die beim Kolloquium zu behandelnden Themen bestimmte: „Mögen sie alßdann wen berührte Confessiones auf ein mahl gantz durch zu gehen, Ihnen zu weitleuffig fallen wolte, den Articulum de coena Domini, von welchem das Schisma unter den Evangelischen angefangen, alleine vornehmen und darüber conferieren. Es sollen ab beide theile den Churfl. an das geistl. Consistorium abgelaßenem Rescripto vom verwichenen 21. Augusti so ihnen in copia communiciret worden stricte inhaeriren und zu anfang die im angezogenen Edicto benante drey Confessiones [. . .] alleine vornehmen [. . .] diese durchgangen und ob einige pernicosa und judicio divino damnabilia dogmata darinnen sich finden, oder nicht finden, gnugsam behauptet und erwiesen worden“.
Der Schwerpunkt der theologischen Auseinandersetzungen solle auf den Differenzen in der Abendmahlslehre liegen, da hierüber immer wieder der Streit unter den Evangelischen ausgebrochen sei. Zum Schluss wies von Schwerin noch einmal auf das Verbot hin, für den Zeitraum des Kolloquiums den Elenchus zu gebrauchen.52 Insgesamt hielt er sich mit diesem Abscheid genau an die Vorgaben, die Friedrich Wilhelm den Kollokutoren bereits im Reskript vom 21. August gemacht hatte.
Zitiert nach Meinardus: Protokolle VI, 634. GKl Archiv XII/90/3, f. 221r–221v; das Schreiben ist vollständig transkribiert bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 11–12. Eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/1, f. 11r–12r. 52 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 221v: „So wird Ihnen, wegen Sr. Chfl. Dhl. auferelegt [. . .] auf den Cantzeln zu refutiren und censuriren sich so lange enthalten sollen“. 50 51
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4.2.5 Die Konsultationen der Lutheraner Ausgehend von Gerhardts letztem Votum beratschlagten sowohl das Berliner als auch das Cöllner Ministerium, ob sie beim Kolloquium eine gemeinsame Gruppe bilden sollten.53 Die Berliner teilten den Cöllnern brieflich mit, dass sie einer Tolerierung der Reformierten gegenüber skeptisch seien.54 Die Cöllner schlugen in ihrer Antwort vor, sich vor Beginn des Kolloquium bei einem gemeinsamen Treffen über das zukünftige Vorgehen abzustimmen.55 Statt eine gemeinsame Linie mit den Cöllnern zu beschließen und somit gestärkt in das Kolloquium zu gehen, grenzten sich die Berliner jedoch von den Cöllnern früh ab und deuteten an, künftig eine eigene Gruppe zu bilden. Die Berliner Lutheraner berieten sich in den folgenden Tagen ausgiebig und suchten Rat bei anderen Ministerien, ob und wie sie sich auf das Kolloquium einlassen sollten. So begehrten sie beispielsweise von den „Herren Superintendenten und sämbtlichen Predigern der Lutherischen Kirche in Frankfurt an der Oder“ in einem Brief vom 5. September56 einen Rat, damit sie „alßdann mit sattsamer Instruction und Vollmacht zu vorhergehender Consulation zwischen Ihnen [= den Reformierten] und Unß [= den Berlinern] verordnet werden möchten“. Die Berliner betonten, „daß wir wieder unsern willen in solche Conferentz, ungeachtet alles einwendenß, gezogen werden“. Daher könnten sie „nicht anderß alß Privati in ein privatum Colloquium Unß im Nahmen Jesu Christi einzulassen gedencken, welches durch auß der gantzen Kirchen nicht soll zu einigem Nachteil gereichen“. Sie versicherten, „daß wir nicht anders in diesem werck, alß nach tenor unser Märckischen Lutherischen Kirchen und sämbtlichen Symbolischen Bücher verfahren werden“. Am 5. September 1662 trafen sich die Pfarrer der St. Marien- und der St. Nicolai-Kirchen,57 um eine Strategie für das Kolloquium abzuprechen. In 53 AaO., f. 363r–384r befindet sich ein Aktenteil mit dem Titel „Acta instituti inter Lutheranos u. Reformatos Berolinensis Colloqui Coloniensis“, in dem zum einen die wenigen Schreiben der Cöllner an das Präsidium und den Kurfürsten, zum anderen die Korrespondenz mit den Berliner Lutheranern enthalten sind. 54 Vgl. aaO., f. 367v–368r. 55 Vgl. aaO., f. 368r. 56 Vgl. aaO., f. 207r–210v; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/1, f. 26r–27v; abgedruckt nach GKl Archiv XII/90/1 bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 8–10. 57 Fast einstimmig ist in der Forschungsliteratur zu lesen, dass Gerhardt zusammen mit Helwig dieses Treffen geleitet habe (vgl. beispielsweise Hering: Neue Beiträge II, 127; Langbecker: Gerhardt, 29). Anhand der Quellen lässt sich dies jedoch nicht belegen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Gerhardt als zweiter Diakon die Leitung inne hatte und nicht einer der Pfarrer, die hierarchisch höher gestellt waren. Diese Behauptung scheint das Produkt einer Gerhardt heroisierenden Geschichtsschreibung zu sein. Richtig ist einzig, dass von den Berliner Pfarrern nur Gerhardt und Helwig anwesend waren, vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 368v.
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einem vierteiligen Vortrag58 nannte Gerhardt zunächst drei Bedingungen: Den Kollokutoren solle Redefreiheit gewährt werden, Syllogismen „nicht unter dem Vorwandt der Sophisterey“ abgewiesen und „consequentis als die da bonae et legitimae seyend“ zugelassen werden. Dann betonte Gerhardt sein lutherisches Glaubensfundament und fragte, „ob wir nicht vor dem Colloquio deshalb unser öffentliches Bekenntniß thun wollten, daß wir uns der Formulae Concordiae nicht schämten, daß wir ja dieselben unterschrieben hätten, uns noch mal mit Herz und Mund darzu bekenneten, auch mit Gottes Hülffe biß an unser Ende darbey zu verharren gedächten“. Des Weiteren schlug er vor, nicht nur an Hand der drei reformierten Konfessionen zu argumentieren, sondern, da in diesen „nicht alle streitige Lehrpunkte der Reformirten in sich begriffen“, auch andere Bekenntnisse, besonders die Dordrechter Canones, hinzu zu ziehen. Schließlich empfahl Gerhardt, mit der Diskussion über die Prädestinationslehre zu beginnen. Dabei ließ er keinen Zweifel, dass alle reformierten Lehren 59 „ein schweres urtheil in iudicio divino über sich nehmen müssen“, da in ihnen „errores und falsche Dogmata“ seien. Die Berliner verfassten während des Treffens ein Schreiben an die Cöllner, in welchem sie mitteilten, dass sie beim Kolloquium eine eigenständige Gruppe bilden wollten. Es ist davon auszugehen, dass es schon vor dem Berliner Kirchenstreit Spannungen zwischen den Cöllner und Berliner Lutheranern gab. Die Berliner hatten die Cöllner zum Treffen am 5. September eingeladen, 60 diese kamen jedoch nicht, obwohl sie es waren, die zuvor das Treffen 58 Alle Zitate dieses Abschnitts stammen aus aaO., f. 368v–369r; Erstmalig wurde dieses Votum transkribiert bei Langbecker: Gerhardt, 29–32. Aus den heute noch erhaltenen Quellen geht nicht hervor, dass dieses Votum wirklich von Gerhardt stammt. Leider bietet auch Langbecker keine Quellenangabe. Bei allen anderen Voten Gerhardts findet sich (auch bei Abschriften) eine (nachgestellte) Unterschrift Gerhardts, nur hier nicht. So bleibt ein Zweifel an der Urheberschaft Gerhardts. Wahrscheinlich ist, dass Gerhardt lediglich ein Votum vorgetragen hat, das zuvor das gesamte Berlinische Ministerium konsensual verabschiedet hatte. 59 Gerhardt war der Meinung, dass in den reformierten Lehren „mehr als ein streitiger Lehrpunkt begriffen, als in loco: Electione, gratia universalis, decretum absolutum, fides previsa, electio ad fidem et alia media salutis: in loco de Christo, unio personalis, communicatio naturarum et idiomatum, Majestas carnis Christi communicata. In articulo de baptismo, baptismi essentia sive substantia, baptismi efficatia, baptismi necessitas, fides infantum etc. In loco de coena, corporis et sanguinis Christi realis praesentia, oralis manducatio, perceptio indignorum etc.“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 369r). 60 Vgl. aaO., f. 370v: „Wohl Ehrwürdige hochgeehrte großg[ün]st[i]g[e] Herren, Sr. Excellentz des H. oberpraesidis erbetendens, u. gestern gar eingeschickter recess, worin wir stricte beordnet, wie es zuhalten halten ist, verrücke beider Ministerium gewechselte Vorschläge und bedencken: was wegen es mündlicher beredung bedörffte. [. . .] H Collegen, sich wollten gefallen laßen, daß, sofern gedachter Recess Denen Coloniensib. noch nicht geschickt, Er ihnen, cito Uber bracht würde, mit haim stellung, ob sie
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vorgeschlagen hatten. Sie betonten in ihrer Antwort 61, dass sie „lieber wol bedächtiglich durch diese Schrifft als durch mündliche unterredung“ mit den Berlinern kommunizieren wollten. Die Cöllner hatten erkannt, „daß sie [= die Berliner . . .] nicht einerlei Zweck hätten, indem die Berliner ihre Gedanken gegen die gesuchte Kirchentoleranz richten [. . .] möchte wol unserer hochgeehrten Herren eigener Vorschlag seorsim [= getrennt] zu agiren, das Beste seyn“. Zwar waren auch die Cöllner der Meinung, dass ein „fundamentali dissensu in loco de praedestinatione et cognatis“ bestehe und deswegen nicht „eine Einigung mit Augspurgischer Confession getroffen werden“ könne. Sie erhofften sich aber vom Kolloquium, dass ihnen „hierinn recht aufrichtig von den Reformierten ein genüge geschehen könnte“, und sie es daher verantworten könnten, „wenn wir mit ihnen eine unpräjudicirliche Tollerans stiffteten“. Obwohl die Bildung einer gemeinsamen Gruppe gescheitert war, versprachen die Cöllner, den Berlinern all ihre Schriften zu überreichen, wenn auch sie dasselbe tun würden. Des Weiteren stimmen sie den Berlinern zu, „daß die Thor. Confessio sich in dem puncte de electione ad redemtionis vocationis etc. gratiam, am meisten bloß gebe“ und dass daher die Gespräche über dieses Thema begonnen werden sollten. 62 Am 6. September protestierten die Berliner mit einem Brief63 gegen von Schwerins Abscheid vom 4. September. In dieser Protestation baten sie den Oberpräsidenten, ihre in der ersten Session zurückgewiesenen Bedenken und Forderungen zu berücksichtigen und an den Kurfürst zu senden. Zwar waren sie mit den meisten Regeln des Präsidiums einverstanden, sie wehrten sich jedoch wiederholt gegen das Elenchusverbot. Zudem sei die Confessio Sigismundi als Diskussionsgrundlage ungeeignet, da sie zum einen nicht durch einen Theologen verfasst worden sei und zum andern von den Reformierten gegenwärtig anders interpretiert werde, als Johann Sigismund dies gemeint habe. Darüber hinaus stellten die Berliner klar, dass sie in jedem Fall an dem Kolloquium teilnehmen würden. 64 Von Schwerin wies in einem kurzen sich umb das willen gefallen ließen, hora X in unserer St. Nicolaikirche unbeschwert sich zu gestellen, würden wir unß, wie abgeredt, allda finden lasten. [. . .] Berlin d. 5. 7bris 1662 circa 8. M. Georg. Lilius“. 61 Vgl. aaO., f. 369r–370r; erstmalig größtenteils abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 32–34; teilweise auch bei Schulz: Gerhardt, XXXVII. 62 Wie Hering: Neue Beiträge II, 127–129, Anm. l) zeigt, war es unter Brandenburger Lutheranern umstritten, ob ein Kolloquium mit Reformierten thematisch mit der Abendmahls- oder der Prädestinationslehre beginnen sollte. 63 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 221v–223v; transkribiert bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 13–18. 64 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 223v: „Solcher unser wolbedingten Nothdurfft nach sind wir unsers teils erbötig, fürstehenden Montag den angesetzten 8. Sept. nach mittage
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Schreiben65 alle Proteste der Berliner zurück und wiederholte, dass alle bisherigen Anweisungen dem Willen des Kurfürsten entsprächen. Dass beide lutherischen Ministerien die Einladung letztendlich doch annahmen, lag am Druck des Kurfürsten und des Präsidiums. Da die Einladung ein Mittel kurfürstlicher Religionspolitik war, hatte sie nicht nur den Zweck, eine ‚mutua tolerantia‘ zwischen den Konfessionen herbei zuführen, sondern auch die Anerkennung und den Gehorsam der Pfarrer gegenüber Friedrich Wilhelm als Summus Episcopus einzufordern. Die Schwierigkeit für die Lutheraner sollte in den kommenden Sessionen darin liegen, die theologische Toleranzforderung abzulehnen, ohne zugleich Friedrich Wilhelm die Anerkennung seiner Autorität zu versagen. Nachdem alle Gruppen die Einladung angenommen hatten, mussten Protokollanten gefunden werden. Wahrscheinlich hatten die Berliner Lutheraner Schwierigkeiten, eine geeignete Person zu akquirieren. In den Akten finden sich darüber nur Andeutungen: Zunächst hatte Lilius den „gericht schreiber Elerten darümb in gegenwart des Gen[eral] goltzens66 ersucht sed ille cum prolixissima gratiarum actione renuit [= aber jener hat mit sehr großer Erkenntlichkeit abgelehnt]“67. Letztendlich führte der Notar Matthias Dentzer68 das lutherische Protokoll ab der zweiten Session. 69 in den nahmen des dazu demütigst angeruffenen dreyeinigen Gottes zu erscheinen, zu deßen und seines allerheiligsten worts Ehre, nebst dem in unterthänigsten Vertrauen zu S. Chfl. Dhl. unsers gnädigsten Herrn beständigen schutz und gnade“. 65 Vgl. aaO., f. 224r–224v; transkribiert bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 19–21. Eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/8, f. 26r– 27r. 66 Vgl. zum Kriegsrat, Generalwachtmeister und Mitglied des Cöllner Magistrat Joachim Rüdiger Freiherr von der Goltz (1620–1688) Bahl: Hof, 488 f. 67 GKl Archiv XII/90/3, f. 481r. Die Berliner hatten Elert schon Ende August gefragt. Bis zur ersten Session am 1. September hatten sie jedoch noch keinen Notar gefunden, wie eine Notiz aaO., f. 221v–223v belegt, in der sie um eine Abschrift des Protokolls der ersten Session baten. Da sich keine Abschrift der ersten Session in GKl Archiv XII/90/1– 3 befindet, ist anzunehmen, dass den Berlinern diese Bitte ausgeschlagen wurde. Es lässt sich nicht mehr mit hinreichender Sicherheit nachvollziehen, welche Person mit der Bezeichnung „Elert“ gemeint war. Martin Friedrich Elerdt (1644–1693), kurfürstlichbrandenburgische Kammergerichtsadvokat und Bürgermeister Berlins (vgl. zu ihm Schmitz: Ratsbürgerschaft, 192–194), kann eigentlich nicht gemeint sein, da er erst 1671 ans kurfürstliche Kammergericht kam. 68 Über Matthias Dentzer ist nur wenig bekannt. Er war Lutheraner und wurde laut G. G. Küster: Des Alten und Neuen Berlin Vierdte Abtheilung, Berlin 1769, 492 erst am 29. Januar 1663 offiziell als Notar zugelassen. Später fungierte er als Stadtverordneter (aaO., 500) und Richter in Cölln (Küster: Des Alten und Neuen Berlin Dritte Abtheilung, 392). 1667 gab er gemeinsam mit seinen Advokatskollegen Anthonius Bach und Jacob Luben „Etliche Brieffe L. Andrae Frommi“ heraus, vgl. dazu 5.3.3.4. Dentzer starb 1698 (Küster: Des Alten und Neuen Berlin Vierdte Abtheilung, 483). 69 Die Abschriften der lutherischen Protokolle befinden sich in GKl Archiv XII/90/3,
4.2 Vorbereitungen
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Zu einem Protokoll der Cöllner Lutheraner befindet sich in den Quellen nur eine kurze Bemerkung. Falls die Cöllner einen eigenen Notar hatten, wird dies Christian Samuel Teuber (1638–1690) gewesen sein.70 Von den Protokollen der Reformierten sind verschiedene Fassungen erhalten, zum Teil in den Abschriften der Berliner Lutheraner, zum Teil in Fragmenten unterschiedlicher Handschriften.71 Wer die reformierten Protokolle verfasst hat, lässt sich nicht mehr hinreichend belegen. Es ist jedoch gut möglich, dass Adam Gierck72 als Protokollant f. 388r–446r; SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3, f. 558v–635r; SBB-PK Ms. Borusss. fol. 807, Bl. 649–767. Da die beiden zuletzt genannten Werke mit hoher Wahrscheinlichkeit das erste Werk als Vorlage verwendet haben, werden im Folgenden lediglich die f.-Ziffern aus GKl Archiv XII/90/3 angegeben. 70 Zunächst wollten sich die Cöllner mit den Berlinern auf einen gemeinsamen Notar einigen, doch nachdem die beiden Ministerien getrennt in das Kolloquium gingen, war möglicherweise auch dieser Plan nichtig. Auf Grund einer Bemerkung in einem Brief der Cöllner an die Berliner Lutheraner (aaO., f. 369r–370r; erstmalig abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 32–34.) vom 5. September 1662 („Ob nun jedes Ministerium einen notarium mitbringen sollte, welchen von unserer Seiten etwa Herr M. Teuber könnte adjungiret werden, stände zu beratschlagen“) ist davon ausgehen, dass Teuber, seit 1660 Subrektor am Cöllnischen Gymnasium und 1690 Propst an der Berliner St. Nicolai-Kirche, das Protokoll für die Cöllner geführt hat. Ansonsten können hinsichtlich des Cöllner Protokolls nur Vermutungen angestellt werden. Wahrscheinlich reichte das Protokoll nur bis zur neunten Session, da das Cöllnische Ministerium danach nicht mehr geschlossen am Kolloquium teilnahm. Möglicherweise waren die Fragmente auch im Besitz des Propstes Fromm, der sie dann entweder auf Grund seines späteren Schicksals vernichtet oder mit ins Ausland genommen hat (vgl. 5.3.3.4). 71 Bisher waren in der Forschung lediglich die Abschriften des reformierten Protokolls bekannt, die sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 449r–477r bzw. SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3, f. 635v–671v und SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 768–823 befinden. Darüber hinaus habe ich im Rahmen der Quellenrecherche Fragmente (Originale und Abschriften) des reformierten Protokolls entdeckt und erstmalig in der Paul-Gerhardt-Forschung untersuchen und auswerten können. Sie befinden sich unter dem Titel „Theologische Konferenz“ in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, 474/7, f. 1r–43r. Diese Fragmente zeigen verschiedene Handschriften, von denen eine als Handschrift Stoschs identifizierbar ist. Theoretisch wäre es daher möglich, dass die reformierten Kollokutoren abwechselnd das Protokoll geschrieben haben. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass sie auf Grund ihrer zahlreichen Wortmeldungen noch die Zeit gefunden hätten, ein Protokoll anzufertigen. Zudem dürfte ein Gedächtnisprotokoll angesichts der Ausführlichkeit der Protokolle ausscheiden. Im lutherischen Protokoll der zweiten Session gibt es eine Bemerkung, die zu der Annahme führt, dass Gersom Vechner und Adam Gierck als Vorleser und Protokollanten fungiert haben. Wahrscheinlich hat Stosch nur bei einer Session das Protokoll geführt. Vgl. zu den Fragmenten des reformierten Protokolls 1.3. Die Fragmente der reformierten Protokolle gelangten Mitte des 18. Jahrhunderts in den Besitz des Historikers Johann Carl Conrad Oelrichs (vgl. zu ihm 1.4), der wiederum seinen Nachlass dem Archiv des Joachimsthalschen Gymnasiums vermachte. Von dort aus gelangte der Nachlass in die Handschriftenabteilung der SBB-PK. 72 Der Name Adam Gierck wurde immer wieder unterschiedlich geschrieben. Wäh-
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
fungiert hat. So ließe sich erklären, warum dieser schon zu Beginn des Kolloquiums immer wieder in den Protokollen erwähnt wird, obwohl er kein offizieller Kollokutor war. Insgesamt ist das lutherische Protokoll mit seinen häufigen wörtlichen Wiedergaben und Namensnennungen deutlich ausführlicher als dasjenige der Reformierten, welches eher ein Ergebnisprotokoll darstellt und beispielsweise nur die Reden von Schwerins wörtlich wiedergibt. Da der Oberpräsident während der dritten Session festgelegt hatte, dass alle geführten Protokolle „conferiret werden [sollen], und zwar sofort nach der Session, wann etwas Discrepant befunden wird, soll es bey kunfftiger Session vorgetragen werden“73 , finden sich nur an einigen wenigen in dieser Arbeit zu benennenden Stellen Diskrepanzen zwischen den jeweiligen Protokollen. Die offiziellen Quellen, das heißt die Protokolle, die für das Präsidium und den Kurfürsten angefertigt wurden, sind leider nicht mehr aufzufinden. 74 Erstmalig lässt sich jedoch festhalten, dass es der Protonotar Gottfried Schardius war, der die offiziellen Protokolle geschrieben hat, und nicht Matthias Dentzer, wie es seit Beeskows Dissertation angenommen wurde.75 Die oben rend der 14. Session hat Dentzer lediglich den Vornamen beznutzt („Adam / Adami / Adamus [GKl Archiv XII/90/3, f. 445r] / Adamusen [aaO., f. 427r]“). 73 AaO., f. 391v. 74 Im Geheimen Preußischen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem befindet sich sowohl im aktuellen als auch im ältesten Findbuch die Eintragung „1662 Fragmente von der Berlinischen Conferenz zwischen den Reformierten und Lutherischen Geistlichen“. Unter der angegebenen Signatur I. HA Rep. 47 Tit. 16 (unfol.) sind jedoch lediglich drei Abschriften von Briefen von Schwerins vorhanden. Weiter hinten in der Akte findet sich ein Doppelblatt, auf dessen Rückseite vermerkt wurde: „Die ao. 1662 angestellte Conferentz, zwischen den Reformierten und Lutherischen, alhier aufm Churfürstl. Schloß. NB. die übrigen hierin ergangenen Schriften sind nicht zum Archiv kommen, und muss H. Konsistorialrath Schardius, welcher das Protokoll dabey gehalten, bey sich haben“. Auch nach intensiver Recherche musste ich feststellen, dass sich auch in den nur im entfernteren Sinne in Frage kommenden Akten keine weiteren Manuskripte zum Kolloquium befinden. Im Quelleneingangsbuch des Geheimarchivs steht ebenfalls keine Notiz über die Protokolle. Anscheinend wussten auch weder Hering, Schulz, Langbecker, Landwehr noch andere Forscher, die an Primärquellen gearbeitet haben, von der Existenz solcher Akten. Die Frage nach dem weiteren Schicksal der Protokolle und den sie begleitenden Schreiben kann nicht hinreichend beantwortet werden. Gottfried Schardius hat die Protokolle wohl nicht seinem Bruder Conrad Schardius (1642–1679) überlassen, der ab 1667 Geheimer Archivar der Kurfürsten war. Da auch intensive Recherchen keine Hinweise auf den Verbleib der Akten zu Tage brachten, müssen diese als verschollen gelten. 75 Beeskow begründet einen großen Teil seiner ungedruckten Arbeit auf der teilweisen Edition der „notariell beglaubigten Originalprotokolle der Berliner Religionsge-
4.2 Vorbereitungen
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erwähnte gegenseitige Durchsicht und Besprechung der Protokolle garantierte, dass auch die jeweiligen Aufzeichnungen der konfessionellen Gruppen das Kolloquium ohne allzu subjektive Verzerrungen wiedergaben. Neben den Protokollanten mussten auch die Vorleser bestimmt werden. 76 Seitens des Präsidiums las der Protokollant Gottfried Schardius, bei den Reformierten hauptsächlich Gersom Vechner, später auch Adam Gierck, bei den Berliner Lutheranern Peter Pape,77 ein Lehrer des Gymnasiums zum Grauen spräche“ (Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 178). Diese Edition vieler Texte ist mE. verdienstvoll, die Bewertung der Textgrundlage basiert jedoch auf einem Fehlurteil, denn tatsächlich handelt es sich weder um die Originalprotokolle noch sind sie notariell beglaubigt! Zum einen findet sich an keiner Stelle ein notarielles Siegel oder eine Unterschrift Dentzers. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn es handelt sich nicht um die Originalprotokolle, sondern um Abschriften. Der Handschrift nach zu urteilen, hat möglicherweise Jacob Helwig die Abschrift erledigt, die heute im Nachlass Lubath vorhanden ist. Lubath selber weist am Seitenrand immer wieder darauf hin, dass diese Abschrift vom „Original der Schriften und Erinnerungen Reinhardts“ stammen. Doch sind die Akten Reinhardts ebenso nicht mehr auffindbar wie die Protokolle des Gottfried Schardius’. Eine Andeutung über die Existenz der beiden Protokolle findet sich auch in den Forschungsbeiträgen vor 1914 nicht. Immerhin fügt die Tatsache, dass ein Lutheraner von den Originalquellen eines Lutheraners abgeschrieben hat oder abschreiben ließ, der Glaubwürdigkeit der Quelle keinen Schaden zu. Zu beachten ist jedoch, dass die Protokolle als Quelle aus lutherischer Perspektive zu lesen sind; Beeskow hingegen versteht an einigen Stellen die lutherischen Berichte unkritisch als historische Tatsachenberichte. Es ist mehr als verwunderlich, dass Beeskows Behauptungen hinsichtlich der Originalität der Quellen bisher nicht überprüft wurden. Darüber hinaus ist der oft zu findenden Behauptung zu widersprechen, Matthias Dentzer habe auch das Protokoll für den Kurfürsten geschrieben. Gegen diese Annahme spricht nicht nur die oben erwähnte Notiz aus den Akten des Geheimarchivs, sondern auch die Tatsache, dass Dentzer wahrscheinlich keine direkte Beziehung zum kurfürstlichen Hof hatte. Sein Name taucht in keiner Liste über die Hofangehörigen des Kurfürsten auf. Matthias Dentzer war kein kurfürstlicher Notar, sondern lediglich ein ‚Notarius pubblicus caesarius‘, also ein Notar mit kurfürstlicher Beauftragung. Diese mussten alle Notare besitzen, die in der Residenzstadt tätig sein wollten. Die offiziellen Protokolle konnte nur jemand aus dem unmittelbaren Umfeld des Kurfürsten führen. Da Schardius als Präsidiumsmitglied delegiert war und den Titel Protonotar führte, ist auch die Wahrscheinlichkeit am größten, dass er es war, der für das kurfürstliche Präsidium protokolliert hat. Dies wird neben der oben erwähnten Notiz in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 16 auch an mehreren Stellen der Protokolle deutlich, vgl. beispielsweise GKl Archiv XII/90/3, f. 403v. 76 Bis auf Schulz: Gerhardt, XXXVIII, hat sich bisher kein Forscher der Frage nach den Protokollanten und Vorleser eingehend angenommen. Oft finden sich falsche Darstellungen; auch Schulz nennt weder alle Beteiligten des Kolloquiums noch Quellenbelege. 77 Peter Pape, geboren 1634, besuchte das Berlinische Gymnasium zu Grauen Kloster und die Universität Wittenberg. 1660 legte er sein Theologieexamen im Berliner Rathaus vor Johannes Heinzelmann, Petrus Vehr und Andreas Fromm ab. Von 1661 bis 1665 war er Lehrer am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster, von 1665 bis 1677 Diakon
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Kloster, und bei den Cöllner Lutheranern Andreas Fromm. Insgesamt waren neben dem neunköpfigen Präsidium und den neun lutherischen und drei reformierten Geistlichen nur die drei (in den ersten drei Sessionen vier) Vorleser bzw. Protokollanten beim Kolloquium anwesend.78 Darüber hinaus nahm niemand teil,79 das Kolloquium wurde geheim gehalten. Mit diesem Geheimhaltungsgebot wollte der Kurfürst verhindern, dass die lutherische Bevölkerung der Residenzstadt so stark involviert würde, wie dies in Preußen und bereits 1614 beim ‚Berliner Tumult‘ geschehen war. 80 Nachdem alle Vorbereitungen und Formalien geklärt waren, begann am 8. September das eigentliche Kolloquium.
Überblick über die Kolloquiumsteilnehmer: Präsidium: Otto von Schwerin (ref., Präsident) Hans Ludwig von der Gröben Otto von Grote (ref.) (luth.) Johann Friedrich Freiherr von Gottfried Schardius Löben (luth.) (ref., Protokollant) Johann Georg Reinhard (luth.) Lorentz Christoph von Somnitz (ref.) Martin Friedrich Seidel (luth.) Lucius von Rhaden (ref.)
in Bad Freienwalde und schließlich von 1677 bis zu seinem Tod 1705 Oberpfarrer und Superintendent in Ranfft, vgl. Diterich: Schul-Historie, 362–364; Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 969; Eintragung ins Protokollbuch des Magistrat von Berlin vom 19. Oktober 1661, abgedruckt bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 70 f.; vgl. zu Pape auch 5.3.3.7. 78 Es nahmen weder auf Seiten des Präsidiums noch auf Seiten der Geistlichen alle Delegierten an jeder Session teil, vgl. dazu die Rekonstruktion der einzelnen Sessionen in 4.3. 79 Die Angabe von Niedlich: Otto von Schwerin, 56, John Dury [Duräus] (1596– 1680) habe 1662 am Kolloquium teil genommen, ist nicht belegbar und darüber hinaus auf Grund von Durys Biographie sehr unwahrscheinlich. 80 Vgl. dazu die Bemerkung von Schwerins zu den Berliner Pfarrern während der inoffiziellen Session am 4. April 1663 (vgl. 4.3.3.8): Es „dürffen die H[erren] nicht fragen nach solchen Exempeln der Lutherischen Predigern welche die Unterthanen wieder die Orbigkeit auff wigeln, weil derer genugsam Vorhanden, und gehet zu Königßberg in Preußen itzt kein tag dahin, da ihre Prediger nicht die bürgerschafft an ermahnen sollten Chfl. Dhl. n[icht] zu gehorsamen“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 424r).
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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Lutherische Kollokutoren: Georg Lilius Elias Sigismund Reinhardt Paul Gerhardt Samuel Lorentz Martin Lubath Jakob Helwig Andreas Fromm (Vorleser) Johann Buntebart Christian Nicolai
Reformierte Kollokutoren: Bartholomäus Stosch Johann Kunsch von Breitenwalde (Gersom Vechner) Johann Vorstius
Lutherische Beisitzer: Peter Pape (Vorleser) Matthias Dentzer (Protokollant) (Christian Samuel Teuber [Protokollant]?)
Reformierte Beisitzer: Gersom Vechner (Vorleser) Adam Gierck (Protokollant)
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs Die insgesamt siebzehn offiziellen und drei inoffiziellen Sessionen lassen sich in vier Abschnitte einteilen: Im ersten Abschnitt, von der zweiten bis zur siebten Session, ging es hauptsächlich um Formalia und um Antworten auf die zwei vorgelegten Fragen. Der zweite Abschnitt, die achte bis zwölfte Session, war geprägt von der Auseinandersetzung über den Vorschlag des Kurfürsten, künftig nach der Vorgehensweise des Kolloquiums zu Kassel 1661 zu verfahren. Zu Beginn des dritten Abschnitts wurde in der dreizehnten Session durch das Präsidium eine neue Verordnung aufgestellt, welche als Diskussionsgrundlage für die folgenden inoffiziellen Sessionen fungierte. Im vierten Abschnitt, der vierzehnten bis siebzehnten Session, wurde schließlich offensichtlich, dass weder der von den Räten vorgelegte Rezess noch andere obrigkeitliche Maßnahmen zum erfolgreichen Abschluss des Kolloquiums führen würden. Die einzelnen Sessionen liefen oftmals nach dem Muster einer universitären Disputation ab, 81 auch wenn dies weder durch das Präsidium noch die Kollokutoren dezidiert gewollt wurde. Das Kolloquium war nämlich nicht als Dis81 Die universitären Disputationen beinhalteten ein nach strengen Regeln funktionierendes logisches Verfahren zur Wahrheitsfindung, bei der Reihenfolge und Form, in der Argumente vorgebracht, widerlegt oder bestätigt werden mussten, genau festgelegt waren. Ziel von Disputationsregeln war die Ermöglichung der Wahrheitsfindung. Gelehrtes Streiten bedeutete nach damaligem Verständnis Ringen um die Wahrheit. Beim Berli-
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
putation ausgeschrieben worden, sondern sollte irenisch das Erreichen einer mutua tolerantia verfolgen. Gleichwohl gab es große Ähnlichkeiten zum universitären Streitgespräch, da auch während des Kolloquiums die Logik und ihre Begrifflichkeit als in der Theologie über die Konfessionsgrenzen hinaus anerkannte gemeinsame philosophische Grundlage den auch für die innerprotestantische Verständigung allseits anerkannten und klar definierten Kommunikationsrahmen boten. Dabei scheint aus heutiger Sicht das eigentliche Streitthema in einer Vielzahl unübersichtlicher Nebenfragen, Beweisketten und Widerlegungen unterzugehen. Die heutige Darstellung und das Verständnis der einzelnen Sessionen wird daher durch die damaligen langen Auseinandersetzungen über Verfahrensregeln und die Verlesung von sich auf die jeweils vergangene Session beziehenden Schriften erschwert. Da das Kolloquium inhaltlich mit den Eingangsfragen des Kurfürsten begann, war dieser im Sinne der Disputationen der Opponent, der die Positio formulierte, auf die der Respondent, beim Kolloquium die Lutheraner, kontradiktorisch die Oppositio setzen musste. Dies geschah in den einzelnen Sessionen in der Regel nach den allgemeinen aristotelischen Klassifikations- und Divisionsprinzipien durch Syllogismen, 82 das heißt Beweise, die nur dann als richtig angesehen wurden, wenn sie aus notwendigen Prädikat-SubjektStrukturen konstruiert wurden. In der Responsio, die in der Regel durch die Reformierten, aber auch durch das Präsidium geschah, kam es zu Gegenangriffen auf die Einwände der Opponenten. Allerdings konnte es jedoch in Berlin/Cölln nicht wie bei universitären Disputationen zu einem Konsensritual durch die Entscheidungen eines Präses kommen, da das Präsidium in seiner Funktion als durch den Kurfürsten obrigkeitlich eingesetztes Gremium durch die Kollokutoren nicht als theologische Richterinstanz anerkannt wurde. Die einzelnen Sessionen, bei deren Lenkung sich das Präsidium zunächst zurückhielt, liefen nach einem festgelegten Muster ab: Nach einer Eingangsrede durch von Schwerin lasen die konfessionellen Gruppen zunächst ihre ner/Cöllner Kolloquium ging es jedoch nicht in erster Lilie um Wahrheitsfindung, sondern um das Erreichen der kurfürstlich gewünschten ‚mutua tolerantia‘. Vgl. zu den Formen des theologisch-gelehrten Streits, insbesondere zum Verfahren der universitären Disputation Gierl: Pietismus und Aufklärung; Müller: Irenik als Kommunikationsform. Das Colloquium, 64 f.; Appold: Orthodoxie als Konsensbildung, 68–75. 82 Wie die Quellen belegen, waren die Berliner Lutheraner Verfechter der „beneficio Regularum Aristotelicarum sive logicalum“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 298v). Die Reformierten hingegen wandten sich öfters gegen eine zu strenge Benutzung logikalischer Schlüsse und forderten die Berliner auf, allgemeinverständlich zu antworten (vgl. beispielsweise die dritte Session, 4.3.1.2).
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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eingereichten Schriften vor, diese waren entweder Antworten auf durch das Präsidium gestellte Fragen oder Antworten auf Schreiben der konfessionellen Gegenseite. Der Verlesung folgte dann eine mündliche Auseinandersetzung über jene Schriften. Schließlich zog von Schwerin ein Fazit und bestimmte das weitere Vorgehen. Auch für diejenigen Schriften, welche die konfessionellen Parteien im Verlaufe des Kolloquiums einreichten, galten unausgesprochen kontroverstheologische Regeln. Die einzelnen Schriften bildeten fast nie eine autonome Einheit, sondern erhielten ihre Autorität und Legitimität erst durch den Bezug auf vorherige Schriften und auf die des Gegners. Das vollständige Refutieren war ein entscheidender Aspekt des literarischen Streits, den die Kollokutoren zeitgleich zu den mündlichen Verhandlungen führten. Dazu wurden die eigenen Positionen entwickelt anhand von ausführlichen Wiederholungen von Auszügen der gegnerischen Schriften und deren Widerlegungen. Es ging dabei nicht nur um die Darstellung der eigenen konträren Haltung, sondern um ein vollständiges Zurückweisen der Positionen der konfessionellen Gegenseite. Wie besonders aus den Äußerungen der Berliner Lutheraner hervorgeht, wurde die Beantwortung einer Schrift als unbedingt notwenig angesehen, denn ein ‚Ad-acta-Legen‘ einer Schrift der konfessionellen Gegenseite hätte eine inhaltliche Zustimmung bedeutet. Diese Muster schriftlicher und mündlicher Disputationen waren zu entscheidenden Instrumenten der konfessionellen Polemik und Kontroverstheologie geworden. Wie das Kolloquium jedoch belegen sollte, bargen sie bei der Anwendung zur Versöhnung der Konfessionen die Gefahren der Eskalation des Streitverfahrens in sich. 83 Im Folgenden wird der Verlauf der einzelnen Sessionen unter Einbeziehung aller eingereichten Schriften rekonstruiert. 84
4.3.1 Die zweite bis siebte Session Von der zweiten bis zur siebten Session ging es zunächst um Formalia und terminologische Definitionen. Daran anschließend antworteten die Kolloku83 Vgl. Müller: Irenik als Kommunikationsform im Umfeld des Thorner Colloquium, 82. 84 Beeskow: Kirchenpolitik, bietet zwar in Bd. 1 seiner Arbeit eine Zusammenfassung der „Konferenzen“ und in Bd. 2 (Quellenteil) einen Großteil der eingereichten Schriften, eine Verknüpfung dieser beiden Teile geschieht jedoch nicht. Die Inhalte der Schriften sind aber unentbehrlich für das Verständnis der einzelnen Sessionen und für die Reaktionen der Kolloquiumsteilnehmer. Besonders deutlich wird dies beispielsweise bei der vierten Session: Ohne den Inhalt der Berliner Schrift (GKl Archiv XII/90/3, f. 232r–234v) anzudeuten, ist ein hinreichendes Verständnis der vierten Session nicht möglich.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
toren hauptsächlich auf die zwei Eingangfragen des Einladungsreskripts. Im Mittelpunkt der theologischen Diskussionen stand dabei die Abendmahlslehre. 4.3.1.1 Die zweite Session In der zweiten Session85 , zu der sich die Kollokutoren am Montag, dem 8. September 1662, um 14 Uhr trafen, begannen die inhaltlichen Auseinandersetzungen des Kolloquiums. Außer dem Cöllner Propst Fromm waren alle Eingeladenen anwesend. 86 Von Schwerin informierte die Kollokutoren in seiner Anfangsrede darüber, dass er dem Kurfürsten von der ersten Session Bericht erstattet habe. Dieser habe befohlen, „das solche conferenz möge fortgesetzet werden, doch daß 1. alles in geheim gehalten werde, was conferiret, damit den gemeinen pöbel keine gelegenheit davon sinistre zu judiciren gegeben werde. 87 2. So versichern seine Churfürstliche Durchlaucht daß kein 85 Vgl. das lutherische Protokoll aaO., f. 388r–389v; das reformierte Protokoll aaO., f. 449r–451r. 86 Die Tatsache, dass sich die Berliner Lutheraner gleich zu Beginn der Session über das Fehlen Fromms beschwerten, ist ein Indiz für die Spannungen, die zwischen den Berliner und Cöllner Lutheranern geherrscht haben müssen. Fromm hatte sich zuvor schriftlich beim Präsidium für sein Fehlen entschuldigt: „Chürfürstliche Brandenbürgische hochansehnliche Herrn Ober Praesident, Gehaimen Cammergerichts und consistorial-Räthe. Gnädige, hochgeehrte Herren Ob ich mich zwar schüldig erachte heute unß angesetzete stunde nach ergangener Verordnung Persönlich zu erscheinen, so finde ich doch wichtige Uhrsachen, umb welcher willen Ich demütig bitten muß, daß Ew. Excellentz Gn. und Herrl. mich gnädig und großgönstig entschüldiget halten wollen, maßen diese meine abwesenhait der conferentz mehr förderlich als hinderlich sain kann, zu mahlen die selben alles was ich heute placide und wol bedächtlich bey der conferentz nebst meinen collegen mündlich vorzubringen hatte /: da ich in loco de coena Wo von heute unter redung sain soll daß pondus, darauff die vorgelegte fragen zielen, nicht finde :/ auß den außfürlichen aufsatz Unsers ministerii genugsam Vernohmen worden, bey welcher art zu conferiren unß E. Gn. Excelltz und herrlichst umb darin angeführter Ursachen willen, gnädig und hochgönstig laßen wollen. Ich verbleibe E. Gn. Excell. undt Herrl. diensteregebener Vorbitter bey Gott Andreas Fromm. Mp. 8. Sept 1662.“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 371r; eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/4, f. 1r). 87 Die Teilnehmenden scheinen sich bis auf die unten erwähnten Ausnahmen tatsächlich im Großen und Ganzen zunächst an das Geheimhaltungsgebot gehalten zu haben. Mit fortlaufender Dauer des Kolloquiums kontaktierten die Lutheraner jedoch zunehmend befreundete Pfarrer, vgl. dazu 4.3.2. Dem Protokoll von reformierter Seite nach hatte der „gemeine Pöbel“ jedoch schon frühzeitig über das Kolloquium urteilen können: „S. Churfl. Durchl. begehren aber, das dieses werck, von deßen Eventu nichts geurtheilet werden kann, stille gehalten werden möge, damit dem gemeinen Volcke nicht uhrsach möchte gegeben werden sinistre davon zu urteilen, wie bereit geschehen. Sollen
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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teil sich einiger gefahr, sie sey welche sie wolle, zu besorgen [habe], iedoch, das alles mit bescheidenheit und hinansetzung, aller unnötiger weitläuffigkeit geschehe“88 .
Stosch stieg in die Verhandlungen ein und betonte mit Blick auf die Eingangsfragen: „Nos Reformati contestiren litem U[nd] antworten, ad quaestionem Negative, die Herrn Luteraner werden auch antworten, U[nd] da sie es affirmiren [= bestätigen], tunc affirmanti competit probatio [= nach einem logischen Beweis streben]“. Die Berliner reagierten darauf nicht, sondern bedankten sich für das Kolloquium und ließen durch Pape ihre erste Schrift89 verlesen. In ihrer ausführlichen Stellungnahme beantworteten die Pfarrer die kurfürstlichen Eingangsfragen nicht direkt, sondern kritisierten wiederholt die Fragestellung. So lange keine genaue Differenzierung der Begrifflichkeiten erfolgt sei, könne nicht pauschal auf die Fragen geantwortet werden: „So ist das nicht einerley frage, von dem der da lehret, und dann von dem, der es gleubet, oder bejahet. Dann der so es lehret, hatt [. . .] viel höhere und größere Verantwortung, bey solchem wachßthumb seiner erkändniß alß der, der etwas in einfalt glaubet und bejahet“90 .
Zudem sei zu unterscheiden zwischen „verdammet sein“ und „verdamlich Lehren [. . .] führen“. Schließlich müsse bei der Formulierung „judicio divino“ differenziert werden zwischen dem „verborgene[n] urtheil Gottes“ am Ende des Lebens als „Ratione ultimi“ und dem „göttlichen gerichte deß heiligen worts, nemlich Ratione norma et judicialis processus“. Die erste Verdammung könne kein Mensch herbeiführen, doch auf Grund der zweiten Verdammung kamen die Berliner zu dem Schluss, dass die Reformierten des göttlichen Gerichts schuldig seien, falls sie ihre Lehrstücke nicht ändern würden: „Alle und jede Lehre welche wieder Gottes geoffenbartes wort also gerichtet ist, [. . .] dieselbe ist schuldig dieses göttlichen gerichts. [. . .] Wie nahe oder ferne nun diesem gerichtsurteil des Göttlichen worts in denen unß entgegen stehenden Reformirten Lehrstücken getreten werde, solches wird sich guter maßen, auch bey angesetzter freundlichen unterredung finden [. . .] wir denen Herrn Collocutoren die wiedersprechung des die Sachen aufs freundlichste vorgestellet werden“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 449r). Zu tumultuarischen Szenen wie 1614 oder wie in Preußen kam es in der Folgezeit jedoch nicht. 88 AaO., f. 388r. 89 Vgl. die Schrift mit dem Titel „Zur Haupt Proposition des Berlinischen Ministerii auff die beyde vorgelegten Fragen“ aaO., f. 225r–228v; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 22–31. Die Berliner hatten ihre Schrift auch an das lutherische Ministerium in Frankfurt/Oder gesendet. Allerdings geschah dies nicht vor der zweiten Session (so Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 96), sondern erst am 16. September. Daher kannten die Berliner auch noch nicht die Antwort der Frankfurter. 90 GKl Archiv XII/90/3, f. 225r. Weitere Differenzierungen betrafen die Worte „Verdammung“, „judicio divino“, „verneinen/verschweigen“, „Wißenschafft“ und „Übung“.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Göttlichen worts bißher auff ihrer Seite, fürstellen werden, dieselben denoch sich darinn eben nicht werden incorrigibiliter erweißen“.
Diese Äußerung ist insofern bemerkenswert, als die Berliner zugaben, die drei Konfessionen der Reformierten gar nicht genau zu kennen. Zudem sei bei der zweiten Eingangsfrage zu differenzieren sowohl zwischen Dingen, die zur Seligkeit „verneint“ und „verschwiegen“ würden, als auch hinsichtlich der „wißenschafft“ zwischen „etwas nicht wißen“ und etwas „nicht wißen wollen, oder viel mehr daßelbe beharlich und fürsetzlich läugnen“, und schließlich bei der „übung“ zwischen guten Werken, die zur Seligkeit und Rechtfertigung nicht notwendig seien und der „übung [. . .] des glaubens“, die aus der Rechtfertigung folge und der Erneuerung diene. Die Berliner schlossen ihre lange Argumentationsreihe mit der These: „Alle und jede seelige Menschen müßen nicht nur Erkändnüß des einfaltigen glaubens haben, sondern auch in sonderheit nach gnugsam treuen unterricht, die Erkändnüß eines stärcker und wachsenden glaubens nicht vorsetzlich und beharrlich verneinen“.
Es wäre theologisch interessant gewesen, wenn die Reformierten auf diese Schrift geantwortet hätten. Doch von Schwerin ließ die Schrift mit dem Kommentar bei Seite legen, „es sey eine weitläuffige schrifft, gehöre nicht zum zweg noch frage, so S. Churfl. Durchl. vorgeleget“, und ordnete eine Verhandlungspause an. Lilius bat darum, vor der Pause zunächst die Antwort der Cöllner hören zu dürfen. Daraufhin übergab Buntebart eine Schrift91, die ebenfalls von Pape verlesen wurde. Darin antworteten die Cöllner Pfarrer zwar direkt auf die Eingangsfragen, zeigten sich jedoch in ihrer Argumentation terminologisch weniger differenziert. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie in den reformierten Bekenntnisschriften „keine lehre so allerdings zur Seligkeit nötig ist, auß gelaßen befinden, daß auch die dogmata meißentheils unß noch so eingerichtet vorkommen, daß, ob schon hin und wieder dabey zu erinnern wehre, sie dennoch properniciosis et exitistibus nicht möchte enthalten sein“. Differenzen zwischen dem theologischen Verständnis der Lutheraner und den drei reformierten Konfessionen fänden sich hauptsächlich in der Prädestinationslehre: „Allein die Lehre de praedestinatione, conversione und was dahin gehöret, hatt unß deßfalß Scrupel gemacht“. Die Cöllner Theologen waren der Meinung, „daß keiner von der krafft und nutz der genugthuung Christi auß geschloßen sey, alß der sich selbst durch den unglauben außschließen [. . .] Gott hat die seligmachende wirckliche gnade allen und Jeden beruffenen versprochen, dadurch sie, wo sie nicht müthwillig wie Vgl. aaO., f. 371r–373v; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 32–38. Eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/2, f. 1r–5r. 91
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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derstreben, wahrhafftig zum glauben und vergebung auch der schweren sünden und zu allen anderen wolthaten gelangen können“.92
Wenn im Verlauf der Gespräche diese Differenzen behandelt werden würden, könnten sich die Cöllner vorstellen, die Reformierten auch theologisch zu tolerieren: „Wenn unß hierinn sincere von denen herrn Reformirten ein genügen geschehen könnte und sie alß dann hier in der marckt bey diesen 3. Confessionibus allein bleiben, [. . .] hofften wir wen gleich sonst in der Christlichen Lehre noch wichtige puncte übrig blieben, gegen die Lutherischen Kirche hie und in andern Landen, [. . .] es zu verantworten, wen wir eine unpraejudicirliche Tolerantz mit ihnen stiffteten [. . .] wo mit wir den bey dieser Conferentz Sr. Chfl. Dhl. gnädigsten willen auff ein mahl überhaupt ein genügen theten“.
Voraussetzung dieser Toleranz sei jedoch, dass die Reformierten „die Acta Synodi Dortracenae außsetzeten“. Darüber hinaus betonten die Cöllner, dass die theologischen Differenzen, die vor allem die Frage der Prädestination beträfen, zu gewichtig und zu kompliziert zu erläutern seien, als dass dies in einem mündlichen Kolloquium geleistet werden könne. Daher baten sie das Präsidium, die zu behandelnden Themen ausführlich und ohne zeitliche Beschränkungen schriftlich disputieren zu dürfen. Bevor die Lutheraner den Bibliothekssaal verlassen mussten, damit sich das Präsidium mit den Reformierten beraten konnte, reagierte Stosch bereits kurz auf das Cöllner Schreiben. Er betonte, dass auch die Brandenburger Reformierten an einen universalen Heilswillen Gottes glaubten, denn: „Confessio Joannis Sigismundi bezeuget Deum omnes velle salvare“.93 Schon diese ersten beiden Schriften der lutherischen Kollokutoren zeigten, wie unterschiedlich stark Pfarrer derselben Konfession und desselben Ortes dem innerprotestantischen Toleranzgedanken gegenüber aufgeschlossen waren. Die Berliner verwarfen die reformierte Lehre, obwohl sie die drei zu behandelnden reformierten Bekenntnisse gar nicht eingehend besprochen hat92 Die Argumentation der Cöllner verlief nicht immer gradlinig, zeigte aber eine differenzierte theologische Kenntnis der drei Confessiones sowie der Positionen Bergius’ und Hülsemanns. Bemerkenswert ist das zur Erlangung einer Toleranz in Anlehnung an Vizenz von Lerinums Traditionsprinzip und Calixts Konzeption des ‚consensus antiquitatis‘ aufgegriffene Motiv des Ideals urkirchlicher Zustände. So schrieben die Cöllner, „daß die lutherische Kirche schon lengst den gradum worin die erste Kirche 400 Jahre biß zu augustino gestanden ergriffen, die Reformierte Kirche auch in den selben grad treten, und die elteste und sicherste Lehre [. . .] annehmen möge“. 93 Johann Sigismund bekannte in seiner Confessio, „daß nemblich Gott der allmächtige auß purlauter Gnaden und Barmhertzigkeit, ohn alles Ansehen der Menschen Würdigkeit, ohn allen Verdienst und Werck ehe dann der Welt Grundt geleget worden [. . .] zum ewigen Leben verordnet, unnd außerwöhlt habe alle, so an Christum besändig [. . .] glauben“ (BSRK, 841). Ausführlich antworteten die Reformierten erst in einer Schrift, die während der vierten Session am 26. September eingereicht wurde (s. u.).
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ten. Die Cöllner hingegen kamen zu einem deutlich positiveren Urteil, nachdem sie sich mit den drei Confessiones auseinandergesetzt hatten. Statt der Bekenntnisse wollten die Berliner lieber die Prädestinationslehre thematisieren, obwohl diese explizit nur in der Confessio Sigismundi behandelt wurde. Nach der Verhandlungspause bemerkte von Schwerin, dass alle Kollokutoren genug Zeit gehabt hätten, sich mit den reformierten Confessiones auseinanderzusetzen und darüber zu urteilen. Zudem sei es „verbothen, diese Confessiones nicht anzugreiffen,94 biß Gott gedeyen gibt das man siehet, wie weit sie zusammen kommen“. Anschließend kritisierte der Oberpräsident wiederholt das Schreiben der Berliner und lobte die Antwort der Cöllner: „Im ubrigen wunschet man das Berolinenses in Respondendo solchen Methodum ergriffen wie Colonienses, die dem Chfl. befehl gehorsam geleistet, da klar herauß gesaget, was ihre Meynung sey“. Schließlich solle das Kolloquium ein Erfolg sein, damit es „hernach bey anderen inspectoren in der Marck fortgesetzet werden könne“. Daher fragte von Schwerin die Berliner, ob sie „Coloniensis Schrifft agnosciren [= gelten lassen] und den selben inhauriren [= erfassen] wolle?“ Zwar betonte Reinhardt wenig später, dass „das Collnische Ministerium [. . .] dem berolinischen nicht praejudiciren kan“, eine direkte Antwort der Berliner auf die Frage ist jedoch nicht erthalten. Die Protokolle berichten stattdessen im Folgenden von der Reaktion der Reformierten auf die Schrift der Berliner. Auf die Nachfrage Stoschs hin, was die Berliner unter dem Wort ‚Verdammung‘ verstehen, antwortete Reinhardt: „Per Judicium Divinum verstehen wir einen klaren gerichtlichen auspruch Gottes und saines wortes, wieder die so dieses oder Jenes Lehren oder verneinen, Alß wer nicht glaubet, der ist verdammet, wer Christum nicht lieb hatt der say Anathema“95 . Schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Kolloquiums wurde deutlich, dass die Berliner Lutheraner nicht vorurteilsfrei gegenüber den Reformierten auftraten. Die Berliner begründen ihre Ablehnung zunächst dogmatisch und biblisch: Nicht die pastorale Praxis der Reformierten sei verwerflich, sondern ihre theologischen Lehrstücke, da sie dem göttlichen Wort der Bibel widersprächen. Es ist auffällig, dass terminologische und theologische Differenzen meistens zwischen Stosch und Reinhardt diskutiert wurden. Lilius hatte zwar unter den Berliner Lutheranern in den ersten Sessionen den größten Redeanteil, antwortete aber meist lediglich höflich auf die Fragen des Präsidiums. Auch im Folgenden konferierten hauptsächlich Stosch und Reinhardt. Stosch be94 Die Lithotes in diesem Satz („verbothen [. . .] nicht“) ist nicht, wie im heutigen Deutsch, als Bejahung, sondern als Bekräftigung der Verneinung zu verstehen. 95 GKl Archiv XII/90/3, f. 450r (reformiertes Protokoll).
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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tonte, dass die Reformierten und Lutheraner „fidem communem“ hätten, woraufhin ihn Reinhardt aufforderte, die ‚fides‘ genau zu definieren. Dieser schlug vor, „fidem communem“ durch „fidem salvificam“ zu ersetzen, womit sich Stosch schließlich einverstanden erklärte.96 Diese und ähnliche, teilweise recht ausführliche Diskussionen über terminologische Feinheiten waren typisch für die gelehrte Auseinandersetzung der damaligen Zeit und belegen, mit welchem Ernst und Eifer die Teilnehmenden das Kolloquium begannen. Als von Schwerin einwandte, dass diese terminologischen Differenzierungen nicht Inhalt des Kolloquiums sein könnten, beharrte Reinhardt auf dem lutherischem „propter libertatem, die unß auch noch per Decretum Serenissimi gelaßen“. Dann forderte er, zunächst die Prädestinationslehre zu behandeln, weil sich auf ihr, laut den Reformierten, „auch Unsere Seeligkeit am meisten gründet“. Da „das Schisma [. . .] angefangen [habe] de Coena [und] habe unter den Evangelischen Dreyßig Jahr gewehret, ehe de Praedestinatione wehre disputiret worden“97, schlug Stosch vor, zunächst über die Abendmahlslehre zu sprechen und anschließend, „wann die Herren [= die Berliner] wollen Coloniensum Schrifft Unterschreiben, sol morgendes tages de praedestinatione angefangen werden“.98 An dieser Stelle enden die Protokolle der zweiten Session abrupt. Die Berliner waren weder bereit, das Cöllner Votum zu unterschreiben noch die von ihnen und den Reformierten gewünschte Abendmahlslehre zuerst zu verhandeln. Gerhardt und seine Pfarrkollegen wollten zunächst über die Prädestina96 Das reformierte Protokoll ist an dieser Stelle genauer und ausführlicher als das lutherische Protokoll: „Hier auff gerieht der H Stoschius mit H Reinharten in einen discursum wegen der explication des worts Fides und wurde beydersaits geschloßen, das Fides Salvifica et Catholica solen pro Synonimis / aequi pollentiby terminis geachtet werden“ (aaO., f. 450v). In der lutherischen-orthodoxen Theologie besaßen Überlegungen zum Verhältnis von Heiliger Schrift und Heiligem Geist einen hohen Wert. Bedeutende lutherische Theologen, vor allem Quenstedt, unterschieden zwischen einer fides humana bzw. fides historica, also einem Glauben an den biblischen Text als historisches Zeugnis, der wiederum abhängig ist vom Zeugnis der Kirche, die bestätigt, dass in biblischen Texten die Wahrheit steht, und einer fides divina bzw. fides salvifica, dem Wissen bzw. der unerschütterlichen Gewissheit um die Wahrheit und göttliche Autorität der Schrift durch das Zeugnis des Heiligen Geistes. Vgl. dazu M. Coors: Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt (FSÖTh 123), Göttingen 2009, 283–307. 97 GKl Archiv XII/90/3, f. 451r; diese Bemerkung befindet sich nur im reformierten Protokoll. 98 Von Schwerin fügte hinzu, dass die Lutheraner ursprünglich selbst mit der Abendmahlslehre beginnen wollten. Dies wies Reinhardt jedoch entschieden zurück und betonte, dass nicht die Berliner, sondern die Cöllner zuerst über die Abendmahlslehre hätten reden wollen (Diese Reaktion Reinhardts erwähnt nur das Protokoll der Lutheraner).
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tionslehre sprechen, da sie annahmen, darin die Reformierten leichter widerlegen zu können. In den folgenden Tagen gingen die Berliner auf Konfrontationskurs zum Präsidium. In einer durch Lilius unterzeichneten Protestation an von Rhaden vom 12. September 166299 wehrten sie sich gegen den Vorwurf, gegen die Reformierten gelästert zu haben. Das Verbot, die Lehre der konfessionellen Gegenseite auf den Kanzeln zu thematisieren, lehnten die Berliner entschieden ab, da ihnen „zu viel geschehe, wen wir allein auf unserer seite diese untersagung auff unß nehmen solten, welcher gestalt vollends weil die wiederlegung ein pertinent stück des Ampts des heil. Geistes ist, so wir ampts und unverletzten gewißens halber hind anzusetzen nicht vermögen“. Trotz des Geheimhaltungsgebotes suchten die Berliner Lutheraner Rat bei ihren Kollegen außerhalb der Doppelstadt. Die Pfarrer in den Städten Brandenburg und Frankfurter/Oder bestärkten die Berliner in ihrer bisherigen Haltung und ermahnten sie, auf dem lutherischen Glaubensfundament zu beharren.100 Vgl. aaO., f. 229r–229v; größtenteils abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 42–44. 100 In GKl Archiv XII/90/1 befinden sich Briefe der Berliner an die Pfarrer in Brandenburg und Frankfurt/Oder aus der Zeit zwischen dem 10. und 25. September 1662, die der Forschung bisher unbekannt waren. Beispielhaft für das Berliner Ratgesuch ist der Brief an das Ministerium der Stadt Brandenburg vom 16. September 1662 (aaO., f. 34r– 34v). Die Berliner teilten den Brandenburgern die Vorbereitungen und den bisherigen Verlauf des Kolloquiums mit und fügten zudem einige eingereichte Schriften hinzu, „damit dieselbe nicht in die gedanken gerathen möchten, alß ob wir dieselbe hinandgesetzt“. Ebenso schrieben sie am selben Tag einen Brief mit verschiedenen Schriften an das Frankfurter Ministerium (aaO., f. 32r–33v), in dem sie sich ausführlich für die Unterstützung der dortigen Pfarrer bedankten. Die Frankfurter Pfarrer hatten die Berliner schon häufiger in ihrer Haltung im Berliner Kirchenstreit bestärkt. Charakteristisch für die Haltung der Frankfurter Pfarrer ist der Brief an die Berliner vom 10. September 1662 (aaO., f. 28r–31r). Die Frankfurter bekräftigen, dass sie „ihren [= der Berliner] Zustand, Und was wieder Sie und unser Christliches Bekentniß versuchet werde, verstanden“ (aaO., fol 28r) hatten. Sie konnten die Bedenken der Berliner teilen: „weil keine notwendigkeit solches Colloquiy kan bey beacht warden: Denn wir stehen in unseren libellis Symbolicis, bruffen uns auf die Oßnabrugische Transaction und auf die land reverse und Huldigungs Werße“ (aaO., f. 28v). Auch sie sahen die Ausgangsfrage als ungeeignet an: „Erstlich sind die Fragen nicht einfeltig, sondern haben andere in sich verwickelt, davon besonders zu antworten were [. . .] Weil auch 3 die Seeligkeit und Verdamniß am Glauben Und unglauben hangen: Der Glaub aber aus den lehr puncen herrüret, so müste erst gefraget werden: Ob solche Lehrpuncte gefuret werden, welche den glauben mehr hindern den fordern [. . .] Zum 2. Waß die Confessiones betrifft so angegeben werden, können dieselben der Sachen, so gehandelt werden müsten, nicht gnug thun, sondern man müste nothwendig die Erklerung horen U. untersuchen, die in den angegebenen Confessioniby der gebür nach U. in allen Stücken nicht gefurret werden. [. . .] Zum 3. Daß sie den Dortschen Synodum auß sezen, 99
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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4.3.1.2 Die dritte Session Die dritte Session101 fand statt am Donnerstag, dem 18. September 1662. Von Schwerin ordnete in seiner Anfangsrede zunächst an, dass die Berliner endlich direkt auf die Eingangsfragen antworten und zudem erklären sollten, ob sie der Cöllner Schrift zustimmen könnten.102 Daraufhin las Pape die Antwort103 auf das Cöllner Schreiben vor. In ihr stand, dass auch die Berliner in der Prädestinationslehre die größten theologischen Differenzen sahen, sie sich aber trotzdem einverstanden erklärten, zunächst die Abendmahlslehre zu behandeln. Sie waren jedoch nicht bereit, dem Cöllner Schreiben zuzustimmen, da „das Cöllnische, auch deßen eigener genehmhaltung nach, seine gedanken seorsim [= abgesondert] führet“. Darüber hinaus beinhaltete die Schrift keine Antwort auf die Eingangsfragen oder eine Aussage dazu, ob oder unter welchen Bedingungen die Berliner zu einer mutua tolerantia bereit wären.
ist facti, de jure können sie nicht [. . .] Zum 4. können sie auf diese benante confessiones allein sich nicht beziehen, wo sie das Widerpart nicht wißentlich gefehren und beschweren wollen“ (aaO., f. 29r–30r). Bemerkenswert ist an diesem Brief vor allem die Behauptung der Frankfurter Pfarrer, dass als Ursache des Glaubens Lehrpunkte anzusehen seien. Das in der Bibel offenbarte Wort Gottes wird hingegen nicht erwähnt. Die norma normata scheint für die Frankfurter Pfarrer wichtiger gewesen zu sein als die norma normans. In einer anderen Antwort vom 2. Oktober 1662 (aaO., f. 35r–36v) ermahnten die Frankfurter die Berliner, möglichst direkt ihre Meinung kundzutun, denn „ausß Weitleuffigkeit kommt Mißverstand, auß mißverstand Zanck, auß Zanck Zweiffalt, Zweiffalt aber ist der Einigkeit Feindin U. Todt. Darinn beßer ist, man sage gerade herauß, und faße aufs genawste, klerste und richtigste seine Meinung Undt laße es Gott walten“ (aaO., f. 35v). 101 Die dritte Session sollte ursprünglich am 12. September stattfinden, wurde jedoch durch von Schwerin aus unbekannten Gründen verschoben, vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 229r. Vgl. das lutherische Protokoll der dritten Session aaO., f. 389v–391v; das reformierte Protokoll aaO., f. 451r–453r. 102 Von Schwerin berichtete zudem, dass der Kurfürst von einem Brief wisse, den die Fakultät Wittenberg an die Berliner gesendet habe. Diesen sollten die Berliner umgehend dem Präsidium aushändigen. Daraufhin bedankte sich Lilius für die Fortsetzung des Kolloquiums und betonte, dass die Berliner keine Post aus Wittenberg bekommen hätten. Diese Bemerkung entsprach vermutlich der Wahrheit, denn in den Akten findet sich weder ein Brief aus Wittenberg von Anfang September noch ein eventuell vorausgehender Brief der Berliner nach Wittenberg. Reinhardt war über den oben genannten Vorwurf aufgebracht und meinte, dass „so etwas der warheit zu wieder rede [. . . Er] wunsche das S. Chfl. Dhl. einmahl solchen Leuten etwas auffs Maul legen möchte, so der warheit dergestalt zu wieder reden“ (aaO., f. 451v). 103 Vgl. aaO., f. 229v–230v; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 45–47. Die Schrift berief sich auf die Protestation vom 12. September und wiederholte größtenteils jene Kritik.
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Dann verlas Vechner zwei Stellungnahmen104 der Reformierten. In der ersten Schrift betonten diese, dass sie mit den bisherigen Berliner Schriften nicht einverstanden seien. Sie definierten ihrerseits die theologischen Begriffe der Eingangsfragen. Dabei erklärten sie sich gemäß der Berliner Differenzierungsforderung bereit, „das de docentibus erstlich möge gehandelt werden“. In der zweiten Schrift baten sie das Präsidium, „das theologi Lutherani mögen abgemahnet und zu antworten angehalten werden, ohne ümbschweiff mit klaren worten [zu] antworten: 1. gleich wie es die Frage in ihren terminis 2. die Materia davon wir zu conferiren haben 3. die geistliche Liebe erfordert“. Die Lutheraner sollten nur die Themen der Confessiones behandeln, nicht aber „de consequentia Humana rationis, welche, weil sie solchen klaren außspruch im worte Gottes, nicht finden, durch ihre spitzfindigkeit beneficio Regularum Aristotelicatum sive Logicalium solche schreckliche Urteil wieder unß auß dem worte Gottes erfolgen, und an gottes statt stellen wil“. Methodisch wehrten die Reformierten eine zu strenge Bindung an philosophische Disputationsregeln ab: Es „müßen die beweißthümer nicht in schweren Philosophischen Terminis et logicalischen Syllogismis Pro Syllogismus, Epilogismus verknüpfft sein, von welchen die Laici [. . .] nicht urtheilen können, sondern in klaren, und in Gottes wort mit so viel Syllaben geschriebenen worten stehen“. Die Reformierten kritisierten die Verdammungen der Berliner, denn diese seien nur gerechtfertigt, wenn „evidentissimas rationes vorhanden sein [. . .] Sollen sie aber evidentissimae et cogentes [= offenbar und ersichtlich] sein, so müßen sie nicht im artificiose conquistis privatis ratiocinationibus [=Kunstfertigkeit eigener Sammlungen von Vernunftschlüssen], davon die gelehrten pro et contra disputiren, die ungelehrten aber nichts verstehen, sondern in klaren unstreitigen Zeugnüßen des ungezweiffelten wortes Gottes bestehen“.
Im Gegensatz zur Berliner Schrift war die reformierte Antwort zwar prägnanter, sie trug jedoch ebenfalls nicht zum erfolgreichen Fortgang des Kolloquiums bei. Als Reaktion auf die Verlesung bat von Schwerin um einen Abgang der Kollokutoren. Nach deren Rückkehr erklärte er, dass sich die Räte nach nochmaliger Durchsicht der Schriften zu „der folgenden resolution verglichen“ hätten: 1. Die Berlinische Protestation werde nicht weiter beachtet, da es keine Ursache zu einer Protestation gebe. 2. Da in Zukunft alle Weitläufigkeit vermieden werden müsse, solle nicht mehr weiter über den Unterschied zwischen „Docentes et Discentes“ gesprochen werden. 3. Das Präsidium könne die kurfürstlichen Vorgaben für das Kolloquium nicht ändern. 4. Die Berliner 104 Vgl. die erste Schrift in GKl Archiv XII/90/3, f. 230v–231r, die zweite Schrift aaO., f. 231r–231v; beide Texte sind abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 48–49 und 50–52.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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sollten endlich antworten, „ob sie Coloniensum Schrifft mit vor genehm halten, oder davon dissentiren wollten“. 5. Die Abendmahlslehre werde definitiv in den kommenden Sessionen behandelt. 6. Die Berliner und Cöllner Pfarrer sollten zukünftig gemeinsam antworten. 7. Wenn die Berliner eine Schrift „de coena“ einreichen wollten, würde sie durch das Präsidium angenommen werden. 8. Bisher bedürfe es noch keiner Resolution, „da man in praeliminariby [= Vorverhandlungen] verblieben und noch nicht ad deliberationem [= Beratungen / Entscheidungen] kommen“. Es sei zu hoffen, dass die Lutheraner künftig genauso klar antworten würden, wie es bereits die Reformierten getan hätten. Realistisch war diese präsidiale Resolution nicht, da sie die tiefen theologischen und zwischenmenschlichen Differenzen zwischen den Berlinern und Cöllner Lutheranern übersah. Die knappe Zurückweisung der durch die Berliner zur Beantwortung der Eingangsfragen zwingend notwendig angesehenen Differenzierung dürfte zudem für einen nicht unwesentlichen Unmut bei den Lutheranern gesorgt haben. Schließlich war auch die Antwort der Reformierten auf die Eingangsfragen keineswegs so klar und eindeutig, wie von Schwerin es dargestellt hatte. In der Folgezeit kam es wieder zu kurzen und inhaltlich wenig ertragreichen Auseinandersetzungen zwischen Stosch und von Schwerin auf der einen und Reinhardt auf der anderen Seite, die zeigten, wie angespannt das Verhältnis zwischen Lutheranern und Reformierten war.105 Das Präsidium Reinhardt beschwerte sich hauptsächlich über den Vorwurf, dass das Berliner Schreiben nicht „ad rem“ sei. Stosch betonte indessen, „es wehre ihm laidt daß man 3 mahl Zu sammen komen, und nichts Hauptsachliches vorgenommen“ (Diese Bemerkung Stoschs bietet nur das reformierte Protokoll [aaO., f. 453r]. Insgesamt jedoch ist das reformierte Protokoll kürzer als das lutherische und bricht am Ende der Session unmittelbar ab.). Symptomatisch für die zum Teil erhitzten Diskussionen war folgender Dialog: „H. Lic: Reinhard [zu Stosch]. [. . .] Er disputire hier nicht mit seiner Chf Durchl. wen er mit der selben redete, wolle er schon andere wort finden, sondern mit H. Stosch: U. das hatten S.|Chf. Durchl. befohlen. H. Von Schwerin. Lutheri werde allezeit Von Reformatis ruhmlich gedacht. Lic: Reinhard. Wir wollen auch nicht der Reformierten Schimpflich dencken. H. Von Schwerin. Soll gezeiget werden, das gedacht: daß so seyn müßen nicht allein alle Ketzter, ja die Calvinisten selbst gestehen, folget darauß, ob musten die Calvinisten ärger den Ketzer sein, ob nun das verba honoris? H. Lic: Reinhard[.] Ob das Unter ihnen geschehen. [. . .] Man hat auch böse leute Unter den Zuhörern“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 390v–391r). Lilius unterbrach diese Auseinandersetzung und bat das Präsidium, Bestimmungen hinsichtlich der Protokollführung aufzustellen. Dies tat von Schwerin nach einer kurzen Unterredung und betonte noch einmal, dass „dem Chfl. Dhl. Rescript: Von Minist[erium] Berol[inense] noch kein solch genugen geschehen, wie Von Collnischen. U[nd] weil sie sich erboten das Artic: de Coena Dni. künftig vor Zu nehmen, sols dabey bleiben“. 105
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äußerte sein Bedauern darüber, dass sich die Kollokutoren bisher noch nicht hatten einigen können. Daher bat es die Berliner und Cöllner Lutheraner, zukünftig gemeinsam zu antworten, und kam abschließend Lilius’ Bitte nach, die nächste Session an einem Freitag stattfinden zu lassen.106 4.3.1.3 Die vierte Session In der vierten Session,107 am Freitag, dem 26. September 1662, ergänzte von Schwerin einige Regeln zu den Umgangsformen. Er ermahnte die Kollokutoren, „sich in terminis quaestionis zu halten, sich aber von allen captiosis interlocutioniby [= arglistigen Einwürfen] zu enthalten“108 . Alles, was nicht inhaltlich mit dem Thema zu tun habe, solle künftig ausschließlich durch das Präsidium behandelt und dessen Vorschläge sollten nicht in Zweifel gezogen werden. Da der reformierte Hofprediger Kunsch von Breitenwalde den Kurfürsten auf der Fahrt nach Preußen begleiten musste, wurde Gersom Vechner als reformierter Kollokutor nachnominiert.109 Die Antwortschreiben der Reformierten auf die erste Cöllner Schrift wurden nicht öffentlich verlesen, sondern vorläufig ad acta gelegt.110 Von Schwerin forderte dann die Berliner Lutheraner auf, ihre Erklärung zum Abendmahl einzureichen. Diese Schrift,111 die den Anwesenden durch von Schwerin selbst vorgelesen wurde, war in ihrer inhaltlichen Aussage klarer und direkter als die vorherigen Berliner Schriften. Zunächst erläuterten die Berliner noch einmal aus106 Von Schwerin beruhigte die Berliner: „Daß den H: zu Berlin geantwortet Ihre responsio wehre nicht ad rem, sey nicht geschehen zu ihrer Verkleinerung, sondern befunden worden, das es mit der von S. Chfl. Durchl. Vorgestellten Frage nichts zu thun habe“ (ebd.). 107 Vgl. das lutherische Protokoll der vierten Session aaO., f. 391v–394v; das reformierte Protokoll aaO., f. 453v–455v. Ein Fragment des offiziellen präsidialen Protokolls (die Rede von Schwerins nach der ersten Pause, s. u.) befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/7, f. 9r–10r. 11r. 108 GKl Archiv XII/90/3, f. 391v. 109 Vgl. aaO., f. 392r: „Weil auch ihr Chfl. Dhl. H. Kunschium mit sich in Preußen genommen, wird den herren Collocutoren hiermit angedeutet, daß sie an deßen Stelle den H. Vechnerum Scolae Elector: Rectorum substituiret“. Tatsächlich war Vechner zu diesem Zeitpunkt nicht Rektor, sondern lediglich Konrektor des Joachimsthalschen Gymnasium. 110 Diese Schrift wurde erst während der sechsten Session (vgl. 4.3.1.5) verlesen. 111 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 232r–234v. Der erste Entwurf dieses Schreibens befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/8, f. 5r–5v. 8r. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 99 und Bd. 2, 53–59, erweckt den Anschein, als habe er das Schreiben der Forschung erstmals zugänglich gemacht. Tatsächlich wurde es bis auf den kurzen Anfangsteil bereits bei Hering: Neue Beiträge II, 134 f. transkribiert. Darüber hinaus bietet auch Langbecker: Gerhardt, 35–37 weite Teile davon.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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führlich, inwiefern sie den Cöllnern nicht zustimmen könnten.112 Dann wiederholten sie ihren Syllogismos: „Alle und jede Lehre, welche wieder Gottes geoffenbartes wort also gerichtet ist, das durch die selbige mit beständigem vorsatz113 solchem wiedersprochen wird, die selbige ist schuldig dieses göttlichen gerichts und in dem selbigen auch verdammlich und verwerfflich“.
Konkret angewandt auf die Eingangsfragen meinten die Berliner: „Darumb so ist die lehre, welche von etlichen Reformirten Lehrern nach diesen dreyen Confessionibus in gewißen puncten geführet wird, schuldig deß göttlichen Gerichts und in dem selben auch verdamlich und verwerfflich“.
Wer die Seligkeit erlangen wolle, müsse „nicht nur erkentnüß des einfältigen glaubens haben, sondern auch in sonderheit, nach gnugsamen treuen unterricht die erkändnüß eines sterckern und wachsenden glaubens nicht vorsetzlich und beharlich verneinen“. Zwar seien die Reformierten „ihrem bekändnüß nach selige menschen“, doch da sie trotz besseren Wissens wichtige Glaubensstücke verneinen oder verschweigen würden, „darumb sind etliche Reformirte Lehrer, so nach diesen dreyen Confessionen ihre Lehre führen, solche Lehrer, welche Gott vorsetzlicher beharlicher Verleugnung halber (welches wir abermahl nicht wünschen) nicht will selig machen“. Die Berliner hatten in ihrer Schrift nicht die Abendmahlsfrage thematisiert, sondern deutlich die Eingangsfragen beantwortet. Zwar lag diese Antwort nicht im Sinne des Präsidiums und der reformierten Kollokutoren, doch zeigte sie eindeutig die Meinung der Berliner Lutheraner auf. Entscheidend war, dass die Lutheraner auf der Basis der drei reformierten Bekenntnisse von 1614, 1631 und 1645 und der Lehren der Brandenburger Reformierten nicht zu einer mutua tolerantia bereit waren. 112 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 232r: „Dem Cöllnischen Ministerio hatt selbst also gefallen, Ihr eigenes werck nach dem daßselbe sich nicht überall mit dem berlinischen Ministerio einstimmig befunden, seorsim zu führen. Dabey beruhet auch noch mal das Berlinische, alß welches conjunctim zu procediren, seine fundamenta dem Cölnischen Ministerio nicht auffdringen kann, so wenig alß das Berlinische des Cöllnischen Hypotheses anzunehmen sich verbunden helt“. Zur weiteren Abgrenzung baten die Berliner um eine Abschrift der reformierten Antwort (aaO., f. 373v–374v) auf die erste Cöllner Schrift. Möglicherweise hatte von Schwerin diese Antwort entgegen der sonst üblichen Praxis nicht verlesen lassen, um den Berlinern keine neuen Argumente sowohl gegen die Cöllner als auch gegen die Reformierten zu bieten. 113 Auf die spätere Nachfrage Stoschs hin, was Reinhardt unter „beständigem Vorsatz“ verstehe, antwortete er, dies sei „eine solche Person, die wißentlich irret, und die nicht erkennen will, nach genugsam treuen Unterricht den Errorem“. Reinhardt beantwortete zudem die Frage Stoschs positiv, ob die Lutehraner aus der Bibel beweisen könnten, dass die Reformierten „in judicio Divino verdammet seyn“.
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Die Reaktionen auf diese Schrift fielen unterschiedlich aus. Von Schwerin äußerte Kritik an der langatmigen Antwort und den Verdammungen. Er war der Meinung, „daß auch in dieser Schrifft, dem Chfl. Rescript noch kein genügen geschehen, [von Schwerin] hätte wünschen mögen, daß Min: Berolin: loco majoris, minorem angezeiget, majorem höret man genück sagen in allen kirchen“114. Stosch betonte, dass eine Antwort nur nach längerer Beratung möglich sei, und bat um einen Abgang der reformierten Kollokutoren. Von Schwerin sparte auch weiterhin nicht an Kritik. Er warf den Berlinern vor, „daß Lutherani Reformatos verdammten, haben sie biß hierher ablehnen wollen, allein nun gestehen sie es mit solchen hellen U[nd] klaren worten, als vor dieses noch nie geschehen“. Reinhardt hingegen verteidigte die Schrift und betonte, dass sich die Verdammung nicht gegen die Reformierten als Mitmenschen richte, sondern „ein Terminus Theologicy“ sei. Nach einer Beratungspause des Präsidiums las von Schwerin eine Erklärung115 vor. Er beklagte sich zunächst wiederholt über die fehlende Einigkeit AaO., f. 392r. Diese Erklärung ist einer der wenigen Sessionsteile, die sich auch in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/7 befinden. Durch den Vergleich eines Autographs in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (Minist. A. 142; Akten über die Entlassung Reinhardts), f. 6r– 6v lässt sich Gottfried Schardius als Schreiber identifizieren. Da dieses Manuskript (in dem sich weder ein Verfasser- noch ein Datumsvermerk findet) der Forschung bisher unbekannt war und sich in einigen, vor allem sprachlichen Punkten sowohl vom lutherischen als auch reformierten Protokoll unterscheidet, sei es hier in vollem Wortlaut transkribiert: „Des Berlinischen Ministerij Schrifft ist von denen zu dieser Conferenz Deputirte Churfürstlichen Herrn Räthen erwogen, Undt stellen es an Ihren ort, daß dem Berlinischen Ministerio nicht gefallen, mit dem Cöllnischen sich zu conjugiren, wie wohl Sie solches wünschen möchten, Weil aber gantze Universitäten unter den Lutherischen von einander sich getrennet, ists nicht frümbde, daß auch solche Trennung unter die Ministeria kommen, Im übringen wünschen die Herren Räthe, daß d berlinische Ministerium sich erinnern solle, der Churfürstlichen Verordnung, Undt Ihnen zu sage, daß sie den punctum de Coena bey ieziger Conferenz tradiren wollen und sollen, Ob Sie woll verneinen daß Ihre iezo über gebene Schrifft dahin ziele, So lieget es doch am Tage, Undt ists befunden, daß die selbe nicht auf Sr Churfl Durchl befehl gerichtet, auch nicht Ihrer eigenen Zusage ein genügen thun. Ihren proponirten Majoirem Sr Churfl. Durchl Vorzustellen ist nicht nöttig gewesen, Es ist deroselben beiden denn zu viel bekandt daß Sie sich des Verdammens nicht den Canzeln gebrauchen, dahero sie von Ihnen zu wißen begehret, daß Sie anzeigen sollen, was dasselbe sey daß in neher angezogenen Confessionibus judicio Divino vor verdamblich zu achten, Sr Churfürstl Durchl hohen respect über dem Sie halten müßten erfordere es daß das Ministerium niemahls directe andtwortet, Undt wirdt Ihnen abermahl Undt was zum lezten angedeutet, daß Sie bey künfftiger Zusammenkunfft neher gedachte fragen ohne umbschweif deutlich beandtworten sollen, Da Sie es nicht thun werden, kündten die Herrn Räthe Sie weiter nicht hören, sondern müssen Sr Churfl Durchl es unterthänigst hinterbringen, Undt von deroselben weitere resolution erwartten. Den Reformirten Theologis wirdt zwar nicht vorgeschrieben, was Sie wegen beandtwortung des Berlinischen Ministerij Schrifft thun oder laßen 114
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unter den Lutheranern und wies dann darauf hin, dass die Berliner „den punctum de Coena“ nicht behandelt hätten und ihre Schriften daher „nicht auf Sr Churfl Durchl befehl gerichtet“ seien. Der Oberpräsident erklärte: „Sr Churfürstl Durchl hohen respect über dem Sie halten müßten erfordere es daß das Ministerium niemahls directe andtwortet, Undt wirdt Ihnen abermahl Undt was zum lezten angedeutet, daß Sie bey künfftiger Zusammenkunfft nehergedachte fragen ohne umbschweif deutlich beandtworten sollen, Da Sie es nicht thun werden, kündten die Herrn Räthe Sie weiter nicht hören, sondern müssen Sr Churfl Durchl es unterthänigst hinterbringen, U von der selben fernere resolution erwartten“.
Den Reformierten wurde aufgetragen, eine Antwort auf die Schrift der Berliner einzubringen. Dieser Vorwurf von Schwerins war bezüglich der letzten Berliner Schrift nicht gerechtfertigt. Die Berliner hatten eindeutig auf die Eingangsfragen geantwortet, in denen nach der Existenz und nicht nach dem genauen Inhalt verwerflicher Lehren gefragt wurde. Die Verärgerung des Präsidiums über die Verwerfung reformierter Lehren war zwar nachvollziehbar, jedoch stellte auch jene Ablehnung nichts anderes dar als eine ernsthafte Beantwortung der Eingangsfragen. Da jedoch eine Verdammung der Reformierten nach dem Edikt von 1662 verboten war, zeigte sich hier umso deutlicher, dass zum einen die Eingangsfragen als inhaltlicher Ausgangspunkt des Kolloquiums ungeeignet waren, und zum anderen, dass das Präsidium als dessen Ziel nicht nur eine mutua tolerantia, sondern ebenso die Anerkennung der Autorität Friedrich Wilhelms ansah. Lilius und Reinhardt entschuldigten sich für die Länge ihrer Schrift, begründeten diese aber mit der Notwendigkeit, die Verneinung der Eingangsfragen mit einem „Medium terminum“ begründen zu müssen.116 Von Schwerin sollen, Ihnen wardt aber wegen Sr Chrufl Durchl anbefohlen, wann Sie dieselbe beandtworten wollten, daß Sr Churfl Durchl intention nicht aufgehalten, Undt kein frembder Zu denen Churfürstl Fragen nicht dienender Streit in das Colloquium eingemischet ward“ (SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/7, f. 9r–10r. 11r). 116 Lilius bedauerte, dass das Präsidium das Berliner Schreiben für nicht ausreichend hielt. Er entschuldigte dies damit, dass „er Exercitia Academia über 40. Jahr nicht getrieben“. Reinhardt deutete die Schwierigkeit an, die sich bei der Beantwortung der Frage ergebe: „Es sey nicht gnug ja und nein zu sagen, sondern auch daß alle zu beweisen, wenn nur schlechter dinge also fort zu beiden fragen ja und nein gesprochen wehre, ohne fernere behutsamkeit, So hette auch dieses ja auch also fort in einen Medium terminum haben müßen. damit man sich solches ja getrauwete zu beweisen, das uns /: quod nomine Collegij loquor :/ etwas bejaht worden, welches directe contradiciret denen vorgelegten quaestionen oder Thesibus, daß lieget am hellen Tage, keinen größeren Beweiß können wir weder im Himmel noch auf erden finden, diese directe contradicirende conclusion zu beweisen, alß aus den unumstoßlichen medio termino, weil daß selbe Gottes word wieder spreche und zwar nach gnugsamen treuen unterricht mit beständigem Vorsatz dan Sie dennoch niemandt wünschen“. Daher fragte Reinhardt die Reformierten, ob die
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
brach die sich zwischen Reinhardt und Stosch anschließende Diskussion ab. Die Berliner sollten, „damit S. Chfl. Dhl. ein genuge geschehe, [. . .] waß in Confessioniby unrechts vorgestellet, in der Lehre beweisen, und wollen wißen warumb Reformati damnaoi unter worfen“117. Nach einer weiteren kurzen Diskussion zwischen Reinhardt und von Schwerin entschied Letzterer, dass die kommende Session am Donnerstag, dem 2. Oktober, stattfinden sollte. Die Bejahung der Eingangsfragen durch die Berliner Lutheraner lag nun offen zu Tage: In den reformierten Confessiones seien wirklich zu verdammende Lehren enthalten. Das Präsidium und die Reformierten erwarteten für die kommenden Sessionen, dass die Berliner versuchen würden, diese Bejahung auch theologisch und biblisch zu begründen. 4.3.1.4 Die fünfte Session In der fünften Session, am Freitag, dem 3. Oktober 1662,118 fasste von Schwerin zunächst die letzte Session zusammen und forderte die Berliner auf, die Eingangsfragen „mit alles glimpf U[nd] bescheidenheit, damit bessere VertrauBerliner „Conclusiones Ihren Fragen oder Thesibus directe contradiciren“, und ob sie den Berliner „medium terminum in magnori propositione et in dubitato zu agnosciren [= in Bedenken zu erkennen]“ bereit seien. Stosch wollte erst später darauf schriftlich antworten. 117 An dieser Stelle endet das reformierte Protokoll, das lutherische Protokoll hingegen ist fast zwei Seiten länger: Das Präsidiumsmitglied Lucius von Rhaden stimmte von Schwerins Schlussrede zu und forderte, dass sowohl die Reformierten als auch die Lutheraner ihre Lehren ausschließlich aus der Bibel herleiten sollten. Dem stimmte Reinhardt zu, gab jedoch zu bedenken, dass Reformierte und Lutheraner dies „aber nicht nach einer ieden [= der gleichen] Confession“ täten. Rhaden entgegnete, dass die Konfession nicht der einzige Grund für ein Zerwürfnis sein könne. Er betonte: „Alle lutherischen, bekennen sich zur augspurgischen Confession, und seyen dennoch Discrepanten unter ihnen“. Reinhardt wollte darauf nichts erwidern und das Thema wechseln, doch von Schwerin beharrte auf einer Antwort und ergänzte: „Calixty sey beschuldiget worden er hab damnabilem docesin, der sich doch zur Augspurgischen Confession bekannt, und sey doch verdammet worden“. Reinhardt antwortete daraufhin lediglich, dass Calixt nicht auf Grund seines Bekenntnisses zur CA verworfen worden sei. Dieser kurze Dialog zeigt, dass die Lutheraner Schwierigkeiten hatten, ihre Verwerfung der Reformierten spontan zu begründen. Die Anspielung des Präsidiums auf innerlutherische Differenzen stellte eine Provokation dar und hatte ihre Parallele in der Heranziehung der Dordrechter Canones durch die Lutheraner. 118 Vgl. das lutherische Protokoll der fünften Session in GKl Archiv XII/90/3, f. 394v–399r; das reformierte Protokoll aaO., f. 455v–459v. Ein Fragment des originalen reformierten Protokolls befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/7, f. 1r–8v. Warum die fünfte Session am 3. Oktober, und nicht, wie am Ende der vierten Session durch von Schwerin angekündigt, am 2. Otober stattfand, lässt sich nicht nachvollziehen.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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lichkeit zwischen ihnen U[nd] Reformatis gestiftet werden möge“ zu beantworten. Als Reaktion auf die letzte Berliner Schrift verlas Vechner dann eine Schrift119 der Reformierten. Diese zeichnete sich vornehmlich durch eine ausführliche Wiederholung des Vorwurfs aus, dass die Berliner nicht „directe und formaliter auff die vorgelegte Frage“ geantwortet hätten. Darüber hinaus kündigten die Reformierten an, dass sie erst dann die Prädestinationslehre behandeln wollten, wenn sie durch die Räte zur Beantwortung des lutherischen Syllogismos aufgefordert werden würden. Die Verwerfung reformierter Lehre könnten sie nicht nachvollziehen: „So können wir klagend nicht verschweigen, wie schmertzlich unß vorkommen, daß die Hn. Theologi sich nicht scheuen zu setzen, das viele Reformirte mit beständigem Vorsatz Gottes wort wiedersprechen oder [. . .] das sie wißendlich irren“. Sie warfen den Berlinern vor, dass „sie sich versündigen wieder Gott den einigen hertzen kündiger, dem sie in sein ampt greifen: wieder die Reformierte Christen, welches sie hiemit, so viel an ihnen ist, infames machen: wieder das gemeine beste und Landfrieden, weil zwischen bürgern und Mittbürgern, Obrigkeit und unterthanen mißtrauen entstehen kan, alß ob unter ihnen solche wehren die anders im hertzen anders im Munde führen: wieder sich selbst“.
Daher baten sie das Präsidium, den Berlinern künftig jegliche Beschuldigungen zu verbieten. Reinhardt protestierte energisch gegen die Vorwürfe und betonte, „daß ihn nie in den Sinn kommen [. . .] vor bösen Vorsatz“, die Reformierten zu beleidigen, sondern dass er lediglich „nach gnugsam treuen unterricht nomine Collegii sui, auß derro schrifften und gesampten worten“ die Konsequenzen gezogen habe. Zu den theologischen Differenzen traten allmählich persönliche Animositäten, die den Fortgang des Kolloquiums zusätzlich beschwerten. Vor allem zwischen Reinhardt und Stosch kam es immer wieder zu angespannten Diskussionen. Stosch formulierte als Antwort auf die Eingangsfragen zwei reformierte Thesen, die als Majorsyllogismos Grundlage weiterer Diskussionen seien sollten: „1. es ist nichts in Confessioniby Reformatorum nominatis enthalten, üm welches willen, der solches lehret verdammet sey judicio divino. 2. Es ist nichts in genanten Confessioniby Verneinet oder verschwiegen etc. ohne deßen wißenschafft und übung, Gott keinen wolle Seelig machen“.
119 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 234v–236r [P]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 60–64 [XIII]. Ein Entwurf des Schreibens befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/5, f. 11r–13r.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Stosch fuhr fort: „Wen nun H[err] Lic: Reinhard hier wieder opponiren wolte, müste Er directe seine Antwort wieder die selbe richten“. Dem widersprach Reinhardt: „Er verwerffe die Confessiones nicht gantz, sonder in gewißen puncten“. Auf Stoschs Frage hin, ob auch die anwesenden Reformierten verdammt seien, antwortete Reinhardt: „Er werde nichts mit Stosch reden, noch anders meinen als ehrlich und redlich, wie Er es vor Gott und der welt verantworten könne, also wünsche er, das Herr Stosch nicht verdammet werde. Er halte aber indes mit seinem Collegio eine oder andere Lehre angeführter maßen verdammlich, darum, quia contra verbum Dei“. Dem pflichtete der Cöllner Buntebart bei: „Wer eine verdamlich Lehre führet, der ist wegen der Lehre verdammet, an dem eine verdamlich Sünde ist, der ist der Sünde wegen Verdammet“120 . Zur Verdeutlichung seiner Position wiederholte Reinhardt seinen Hauptsyllogismos: „An welcher Confession was gelehret wird, was wieder Gottes Geboth ist, das ist eine verdammliche Lehre.“
Da sich Stosch und Reinhardt nicht auf eine genaue Formulierung eines Majorsyllogismos einigen konnten, befahl von Schwerin: „Man möge mit diesem Majore so lange in ruhe stehen, und eine gantze und völlige antwort erwarten, in deßen ab Minorem probiren“. Reinhardt wollte jedoch weiter diskutieren und bemängelte, dass Stosch „nit ein mahl in primis principiis Theologias Lutheranis überein kömmen, man müße nicht eher minorem probiren, biß man circa majorem richtig“. Die Reformierten nahmen jedoch auch Reinhardts zweiten Syllogismosvorschlag, den er auf Stoschs Wunsch hin formulierte, nicht an: „Qui contra verbum Dei docet, ille pp. hanc doctrinam judicio divino E[st] damnabilis.“
Von Schwerin schlug daraufhin vor, „ob min: Berol: keinen andern Syllogismum geben können der directibus schließen wieder diese quaestion“. Doch Gerhardt lehnte diesen Vorschlag ab: „Es beruhet unser gantzes Werck auff diesen einen Syllogismo, darümb können wir nicht eher fort fahren, biß major admittiret wird“.121 Trotz dieses Beharrens formulierte Lilius zum ersten Mal als konkretes Beispiel eine ‚Minoris Syllogismos‘: Qui contradicit voluntati et Praecepto fundatorris Sacra Coena ille docet contra verbum Dei. Atqui is ipse qui docet quod panis et vinum sint corpus et Sanguis Christi in S. Coena et deinde sic explicat, quod tantum significent corpus et sanguinem Christi, sive 120 GKl Archiv XII/90/3, f. 397v. Dies ist die einzige protokollierte Wortmeldung von Johann Buntebart. 121 AaO., f. 397v. Dies ist die einzige protokollierte Wortmeldung von Paul Gerhardt.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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tantum sint Signa et figura corporis et sanguinis Christi, contradicit voluntati et Praecepto fundatoris. E. is ipse qui docet quod panis et vinum sint corpus et Sanguis Christi etc: docet contra verbum Dei [= Wer der Absicht und der Lehre der Einsetzung des Heiligen Abendmahls widerspricht, der lehrt wider Gottes Wort. Nun aber widerspricht gerade derjenige der Absicht und der Lehre der Einsetzung, der lehrt, dass im Heiligen Abendmahl Brot und Wein Leib und Blut Christi seien, und ferner auf diese Weise erläutert, dass etwas so Bedeutendes Leib und Blut Christi bedeute, oder etwas so Bedeutendes Zeichen und Äußeres des Leibes und Blutes Jesu Christi seien. Und gerade derjenige lehrt wider Gottes Wort, der lehrt, dass Brot und Wein Leib und Blut Christi seien]“.
Stosch nahm diesen Syllogismos an, wollte ihn jedoch erst später beantworten. Im Anschluss an eine weitere Diskussion zwischen Reinhardt, Vorstius und Vechner um die Richtigkeit des Berliner Syllogismos formulierte Vorstius für die Reformierten als Antwort auf den Berliner Syllogismos: „Qui docet aliquid quod est contra verbum Dei et in illa doctrina contradicendo perseverat, usque ad finem vitae [. . .] ille est damnatus judicio divino [= Wer irgend etwas lehrt, was gegen Gottes Wort ist und in dieser widersprechenden Lehre beharrlich bis zum Lebensende verbleibt, dieser ist nach göttlichem Urteil verdammt.]“.
Nach einer Verhandlungspause erinnerete von Schwerin in seinem Schlußwort noch einmal an das Ziel des Kolloquiums: „Seiner Churfürstlichen Durchlaucht zweg bey diesem wercke [ist es, . . .] daß ümb der differentien willen, nicht ferner eine solche bitterkeit gespüret, sondern vielmehr brüderliche einigkeit gestiftet werde [. . .] Welches S. Chfl. Dhl. nicht darümb begehren, daß Sie deßen benötiget, weil sie sich durch Gottes Gnade also mächtig befinden [. . .] Sondern, weil Sie dafür achten, daß es ihr zu köme, nach dem befehl Christi, den Frieden zu befordern“. Die Berliner Lutheraner sollten „bey künfftige[r] Probation“ an Hand der drei Konfessionen beweisen, „daß Reformati Lehren solten, das das brodt und der wein in S. Coena, nur sollen Zeichen seyn, Corporis et Sanguinis Christi“. 4.3.1.5 Die sechste Session Zu Beginn der sechsten Session122 , am Freitag, dem 10. Oktober 1662, ermahnte von Schwerin die Berliner wiederholt, direkt auf die Eingangsfragen 122 Vgl. das lutherische Protokoll aaO., f. 399r–401r; das reformierte Protokoll aaO., f. 459v–461v. Letzteres belegt, dass diese Session „in der Gemeinen rath Stuben gehalten“ wurde, und dass vom Präsidium neben von Schwerin nur noch von Löben, von Rhaden und Seidel anwesend waren. Dieses reformierte Protokoll wurde wahrscheinlich von einer anderen Hand geführt als die vorausgehenden reformierten Protokolle. Neben Unterschieden in Stil und Wortwahl ist vor allem auffällig, dass Diskussionen zwischen den Teilnehmern kaum in direkter Rede wiedergegeben, dafür aber ausführlich zusammengefasst wurden.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
zu antworten, und wies ihre Beschwerde zurück. Nach ausführlicher Beratung hätten „die Chfl. Dhl. Räthe auch dafür gehalten, daß es wieder seinen Churfl. Dhl. intention und befehl lauffen würde, wenn Theologii Reformati antworteten ehe Berolinenses directe ad propositam quaestionem geantwortet“. Ungeachtet dieser präsidialen Meinung hatten sich die Reformierten entschlossen, zwei Schriften einzureichen, die dann durch Vechner verlesen wurden. Zentraler Teil der ersten Schrift, die eine Antwort123 auf die Aussagen der Berliner bei der fünften Session darstellte, war die Negation des lutherischen Syllogismos: „Nostra prima est: Es ist nichts in den confessionibus Reformatorum nominatis enthalten ümb welches willen der so es lehret, judicio divinio verdammet sey [. . .] Thesis secunda lautet also: Es ist in obgent. Confessionibus nichts verschwiegen oder verneinet, ohn deßen wißenschaft und übung Gott keinen Lehrer will selig machen“. Weder der „hauptschluß“, der „Prosyllogismo“, noch der „Principalis minorem“ der Lutheraner seien formal richtig, da „sie Thesi nostrae directe nicht wiedersprechen“.
Die zweite Schrift124 war eine ausführliche Beantwortung des Berliner Schreibens vom 26. September, mit dem sich die Reformierten in ihrer letzten Schrift bisher nicht auseinandergesetzt hatten. Sie verwarfen die lutherischen Verdammungsurteile ebenso125 wie den Prosyllogismos vom 3. Oktober zum 123 Vgl. aaO., f. 240v–242v [S]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 65–69. Entwürfe mit den Handschriften aller reformierten Kollokutoren befinden sich in SBBPK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/8, f. 1r–3r. 124 GKl Archiv XII/90/3, f. 242v–246r; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 69–78. Entwürfe mit den Handschriften aller reformierten Kollokutoren befinden sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/8, f. 11r–17v. Die Reformierten hatten sich lange mit der Ausarbeitung der beiden Schreiben beschäftigt. Im Nachlaß Oelrichs Nr. 474/2 befindet sich ein unfoliertes Manuskript mit den Unterschriften der reformierten Kollokutoren, welches als erstes Konzeptpapier fungierte. Darauf sind in groben Zügen von den einzelnen Teilnehmern Vorschläge zur Beantwortung der Berliner Thesen geschrieben worden. Der nächste Schritt in der Genese der Antwortschrift scheint das Manuskript zu sein, das sich im Nachlaß Oelrichs Nr. 474/8, f. 1–3, befindet. Hierbei handelt es sich um den Entwurf des ersten Teils (= „sub Lit. A“). Zusammen mit den direkt in den Text und am Seitenrand hinzugefügten Verbesserungen und Präzisierungen aus der Feder Stoschs ergibt sich der volle Wortlaut der Schrift, welche die Reformierten letztendlich eingereicht haben. Das Begleitschreiben der Reformierten an von Schwerin (vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 240r; größtenteils abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 186 Anm. 46) wurde nicht verlesen. 125 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 242v: Der Berliner Syllogismos, ihr Prosyllogismos und ihre Conclusio seien „eine dunckele redens art“. Schuldigkeit könne nur einem Menschen, nicht jedoch einer Lehre zugeschrieben werden: „Die Lehre ist nur ein Accidenz, höret auff und vergehet. Aber der mensch, der die lehre führet, ist eine Substantia, und vergehet nicht gäntzlich, sondern muß das gerichte deßen er schuldig ist, endlich empfinden und außstehen“. Die Lutheraner dürften ihre „nechsten nicht auß seinen innerlichem Vorsatz des hertzens richten“.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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Abendmahl. In ihrer Abendmahlstheologie folgten sie den drei Bekenntnissen: „In Confessione Johannis Sigismundi stehet: Im heiligen Abendmahl [. . .] glauben und bekennen [. . . wir] die äußerlichen zeichen, brot und wein der wahre leib Christi, so für uns in den todt gegeben, und sein heiliges Blut, so am stamm des heil. Creutzes vergoßen, daß auch auff zweyerley weise dieselbe genoßen werden“. Das Lipsiacum lehre, „das im h. Abendmahl nicht nur warhafftig gegen wertig sein die eußerlichen Elementa des brods und weins, auch nur nicht die krafft und wirckung oder die bloßen zeichen des leibes und Blutes, sondern, das der wahre wesentliche leib etc.“, und zeige ebenso wie die Confessio Thornuiense, dass die lutherischen Beschuldigungen falsch seien. Der Vorwurf, dass mit den Thesen der Lutheraner formal nicht exakt auf die Eingangsfragen geantwortet wurde, war gerechtfertigt. Mit dem ausführlichen Nachweis taten die Reformierten jedoch genau das, was sie den lutherischen Kollokutoren vorwarfen: Sie lieferten weitläufige Erläuterungen ab, die nicht geeignet waren, das Kolloquium in Richtung einer Einigung voran zu bringen. Weder das Präsidium noch die Lutheraner gingen direkt auf die Schrift ein. Lilius versicherte wiederholt seine Zustimmung zum Ziel des Kolloquiums und kündigte an, dass das „Min: ferner seine Probation vorbringen [will], wozu denn Herr Licentiat Reinhard nomine totius Collegii Berolin: verordnet und bevollmächtiget worden“126 . 126 AaO., f. 399v. Dass Reinhardt zunehmend zum wichtigsten Sprecher der Berliner Lutheraner wurde, hatte sich schon in den vorausgegangenen Sessionen und in der Kompilation der Voten angedeutet. Falsch hingegen ist die in der Sekundärliteratur verbreitete Behauptung, Lilius habe das Sprecheramt in der fünften oder sechsten Session endgültig an Reinhardt abgegeben. Vielmehr bezog sich die Autorisation in der sechsten Session ausschließlich auf diese konkrete Session. Tatsächlich hatten die Berliner erst in einem Brief vom 12. Oktober festgelegt, dass Reinhardt zukünftig als Sprecher der Berliner fungieren sollte. In diesem „Vollmachts-Schain“ (aaO., f. 239v–240r) verständigten sich die Berliner Lutheraner darauf, dass eine solche Nominierung besser sei, „da ein gewißer collocutor nomine omnium in Collegio Berlinensis Ministerij were, alß was etliche viel, die zwar zugleich singen, aber nicht vornemlich reden können, das wort in conflictu zu führen, schädliche confusion zu verhüten verordnet würde, und aber der :/ Tit/: Herr Elias Sigismund Reinhart SS. Theolog. Lic. und Archi-Diaconus in Berlin dazu beliebet und denominiret worden, zu mahl den Probst hohen alters und abganck seiner memoriam halber in etwas hierinnen zu subleviren, vorbillig befunden; Alß hatt das Rev. Collegium Beroliniensis Ministerij vorgedachten Herrn Lic. Reinhart hiermit wol bedächtig und einhellig hierzu erwehlet und verbeten“. Von Reinhardt wurde erwartet, „mit [dem] gegentail sich in freundliches Disputat ein zu laßen, und was zu Vertaidigung unserer hauptsach notfoderlich vor fallen möchte, in beste obacht zu nehmen und nomine omnium, sonderlich in dem, was zu vor collegialiter abgeredet, zu vor antworten. Welches das vor wolgedachte Collegium, und dazu gehörige jegliche also placitiren, approbiren und confirmiren will und wird, alß ob Er es selbst geredet hatte, weil es doch alle und jegliche gleich durch angehet“. Leider findet sich über dieser Schrift keine Adressatennennung, doch ist aus dem Kontext zu schließen, dass dieses Manusk-
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Dann reichten die Berliner eine Schrift127 ein, die Pape verlas. In dieser Antwort auf die reformierte Schrift vom 1. Oktober wehrten sich die Berliner gegen die dort erhobenen Vorwürfe und betonten, dass von ihnen „klar und categorisch gnug geantwortet sey“. Die Lutheraner hofften darauf, dass die Reformierten irgendwann „amicabiliter sprächen: Nun wollan, Ihr hiezu eben genötigte Berlinische Prediger, zeiget unß euren beßern und köstlichern weg, darinn ihr unß vor irrthümern warnen und bewahren wolt. Und wir berliner halten auch davor, das diß eben Sr. Chfl. Dhl. unsers gnädigsten libsten Landes-Vaters ungezweiffelte christliche intention, und der rechte Göttliche Zweck dieser Conferentz sey, deßen sich auch keiner von den Herrn Collocutoren zu schämen hatt“.
Diese Sätze zeigen einmal mehr, dass die Berliner auf Grund ihres lutherischen Selbstverständnisses das Ziel des Kolloquiums anders definierten und verstanden als der Kurfürst, das Präsidium und die Reformierten. Gerhardt und seine Pfarrkollegen vertraten einen theologischen Absolutheitsanspruch, der jegliche Verständigung mit Andersglaubenden von vornherein unmöglich erscheinen ließ. Abschließend präzisierten die Berliner ihre Syllogismen: „Worinnen etwas gelehret wird wieder Gottes geoffenbahrtes wort, darin wird etwa gelehret, warümb der so es lehret (so fern nehmlich mit beständigem Vorsatz, nach gnugsamen treuen unterricht biß an das letzte Ende seines Lebens also widerspricht [. . .]) judicio divin verdammet ist. In derer Reformirten Confessionibus publicis [. . .] wird etwas gelehret, warümb der so es lehret [. . .] judicio divino verdammet ist. Worinnen etwas so zu den glaubens stücken, ja auch gantzen geoffenabhrten wort Gottes gehörig, verneinet oder verschwiegen ist, darin ist etwas verneint oder verschwiegen, ohne deßen wißenschafft Gott niemand [. . .] wil selig machen. ript die Vorlage für einen Brief an das Präsidium war. Auch nach diesem Brief haben die Protokolle bis zum Schluss des Kolloquiums bei den Redebeiträgen „Reinhardt“ und „Präp: Berlin:“ (= Lilius) unterschieden. Zudem wurden Lilius’ Redebeiträge auch nach diesem Brief keinesfalls weniger. 127 Vgl. aaO., f. 236r–239v; eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/7, f. 14r–17v; abgedruckt nach GKl Archiv XII/90/3 bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 79–88. GKl Archiv XII/90/3, f. 488r belegt, dass Lilius der Autor dieser Schrift war. Im Votenteil zeigt sich, dass das Berliner Ministerium geschlossen den Inhalt dieser Schrift vertrat: „VOTA Collegii über die Schrifft, so von unß übergeben worden den 10 octob. 1662. Den Anfang bey abermahliger Conferentz [. . .] Georg. Lilius. m. s. E. S. Reinhart., Paulus Gerhart hatt nichts hier wieder zu erinnern. M. Samuel Lorentz approbat [=stimmt zu] m. s. Jacobus Helwigius hatt nichts dabey zu errinnern, ohne dz [=daß ] Er verneinet, daß neben den dreyen confessionem so Insonderheit specificiret, ins gemein derer reformirten confessionen können subscribiret, wir auf die quaestio In ihren Terminis laut salvo tamen Dnn. Collegiarum judicio“.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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In derer Reformirten Confessionibus publicis [. . .] ist etwas, so zu den glaubens stücken, ja auch gantzen geoffenbahrten worte Gottes gehörig, verneinet oder verschwiegen. Darümb ist in derer Reformirten Confessionibus publ. [. . .] etwas verneinet oder verschwiegen, ohne deßen wißenschafft Gott niemand, [. . .] wil selig machen“.
Nach längerer Zeit meldeten sich nun die Cöllner Lutheraner wieder zu Wort. Sie hatten auf ihre erste Stellungnahme zu den Eingangsfragen am 26. September eine Antwort von den Reformierten erhalten, die in der vierten Session vorläufig ad acta gelegt worden war. Erst jetzt wurde diese reformierte Schrift128 durch Vechner verlesen. Darin begrüßten die Reformierten, dass die Cöllner „die 3 genanten Confessiones, ob schon nach ihrer meinung hier und dar etwas zu erinnern sey, dennoch a perniciosa und exitali errore loßsprechen“. Da die Cöllner jedoch „andere dinge mit ein mischen, welche zum theil zur vorgelegten frage nicht gehören, und dennoch zur Zeit zu ventiliren nicht nötig sein, zum teil auch zu unserer Religion und Confession unglimpfft“, benannten die Reformierten zehn Einzelpunkte, mit denen sie nicht einverstanden waren. So erklärten sie unter anderem, dass sie sich streng an die vorgelegten Fragen halten und andere Themen zunächst ausklammern wollten. Sie wehrten sich gegen den Vorwurf, „wir Reformirten glaubeten und lehreten nicht was daß gewißen zwinget, sondern was wir wolten“. Lange schriftliche Disputationen lehnen die Reformierten ab und wollen stattdessen die präsidial vorgegebenen Themen zügig mündlich abhandeln. Auf diese reformierte Schrift hatten die Cöllner wiederum mit zwei Schreiben geantwortet. In der ersten, ursprünglich am 3. Oktober eingereichten Schrift129 betonten sie, nicht mit allen, aber mit den meisten der Lehren der drei reformierten Confessionen einverstanden zu sein, „die lehre de praedestinatione und was dahin gehöret, nemlich gratia redempt[ione], vocat[ione] convers[ione] justific[atione] Sanctif[icatione] et perseventiae“ jedoch nicht annehmen zu können. Sie fragten die Reformierten, „ob die herrn collocutores diese 3. Confessiones nach der dordrechtischen hypothesibus erklähren, oder nicht erklären wollen alß daran viel gelegen ist [. . .] die Reformirten kein vornehmere werck nicht haben“. Die theologischen Bedenken wären jedoch ausgeräumt, wenn die Reformierten ihre drei Bekenntnisse gemäß der CA erklären könnten. Die Cöllner schlugen vor, zukünftig hauptsächlich die Prädestinationslehre zu thematisieren, um darin zu einer Eingung zu kommen.130 Auch in der Buß128 Vgl. aaO., f. 373v–374v; größtenteils abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 39–41. 129 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 374v–377r; eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/2, f. 7r–12r; abgedruckt nach GKl Archiv bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 92–99. 130 Die Cöllner hofften so zu einer Einigung kommen zu können, da „her Bergius in
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lehre der Dordrechter Canones sahen sie Differenzen zur lutherischen Lehre, denn die reformierte Bußlehre „reimet sich freylich mit den Regeln der buße nicht, weil Gott auch den andern beruffenen andeuten leßet, daß sie sollen buße thun“. Die Cöllner verstanden das Kolloquium „nicht pro negotio theoretico [= als theoretische Beschäftigung] da fraget wird an aliquid verum vel falsum, sondern practico, [. . . daher] haben wir als Theologi ex natura quaestionum propositarum nichts anders sincaro animo zu schließen gewust, alß das es nur auf eine tolerantz stillestandt des streitens [. . .] gemeinet sei, biß Gott weiter gnade geben möchte“.
Trotz der insgesamt irenischen Ausrichtung fand sich bei den Cöllnern ebenso wie bei den Berlinern die Intention, die Reformierten mit ihrem theologischen Verständnis bekehren zu wollen. Wie aus dieser Schrift deutlich wird, waren die Cöllner zwar zu einer mutua tolerantia gegenüber den Reformierten bereit, jedoch nur dann, wenn diese sich in einigen Punkten von ihrer bisherigen theologischen Haltung entfernen würden. Eine Einigung auf Kosten oder lediglich unter Ausschluss theologischer Wahrheiten war für die Cöllner Lutheraner ebenso undenkbar wie für die Berliner Lutheraner. Als Nächstes verlas Fromm die zweite, am 10. Oktober eigereichte Schrift131, in der die Cöllner betonten, dass sie die meisten derjenigen Lehren, welche in den drei Konfessionen enthalten seien, weder schädlich noch verdammenswert befänden.132 Die theologischen Lehren anderer Bekenntnisse, so besonders die Prädestinations- und Gnadenlehre der Dordrechter Canones, lehnten sie dagegen entschieden ab, denn diese seien „pro pernicioso et judicio divino damnabili dogmate“. Sie betonten jedoch, dass sie in den Lehren der drei Konseinen schrifften dieselbe lehre moderate tractiret [. . .] und heidelb. außfürl. bericht soh erkläret, das er mit der Formula concordiae deßfals gar wol friedlich sey gebe ihr nach dem eigendlichen Verstande der worte beyfall, und wiße nichts zu verbeßern“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 376r). 131 Vgl. aaO., f. 377r–378r; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 89–91. Diese Schrift befindet sich unter dem Titel „Der Ministerii Coloniensis Erklärung über einige passierte an die der Religions Conferenz den 10. Oct. 1662“ ebenfalls in GKl Archiv XII/90/1, f. 37r–37v und SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/2, f. 13r–14v. Wie das reformierte Protokoll GKl Archiv XII/90/3, f. 460v belegt, las Fromm zuerst das Schreiben vom 3. und erst dann jenes vom 10. Oktober vor, und nicht anders herum, wie Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 104, meint. 132 Die Voraussetzung für eine Anerkennung sei jedoch, dass „in dehnen lehren de gratia Redemptionis, Sanctificationis, perseverationis et Electionis also erkläret werden, daß Gott voluntate antecedente [= freiwillig vor aller Zeit] seinen Sohn zur Erlangung der Seligkeit auch den Reprobis zugesaget habe, daß Gott, wann er sein wortt predigen läßt auch die Reprobis so viel an ihm ist, kräftiglich beruffe, und daß Gott allen denen er sein wort predigen läßt, voluntate antcendente denselben kräftigs gradt der gnaden [. . .] den seligmachenden glauben beharrung, undt die Seligkeit wircken kann, [. . .] wenn auch die gegen lehren ausdrücklich verworffen werden“ (aaO., f. 377v).
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
231
fessionen keinen Hinderungsgrund für eine Toleranz sahen: „Daß aber etwas sollte verschwiegen (oder ausgelaßen) sein, ohne dessen wissenschaft undt übung der höchste Gott niemand selig machen wolle, können wir nicht befinden“. Reinhardt antwortete auf die Schrift der Reformierten und rechtfertigte den Syllogismos und das Auftreten der Berliner damit, dass sie als Diener Christi beauftragt seien, die Wahrheit zu verkünden. Dem widersprachen Stosch und Fromm energisch.133 Von Schwerin unterbrach die sich anschließende Diskussion, ordnete eine Verhandlungspause an und zog danach im Rückblick auf die bisherigen Sessionen ein ernüchterndes Fazit: „Die Chfl. H. Räthe, beklagten von Hertzen, das nach so vielen Conferentzen, man nicht ein mahl so weit kommen, das man sich circa modum colloquendi nicht ein mahl vergleichen könne, hetten gehoffet, das die liebe zu friede und einigkeit Jeden würde genötiget haben, alle unnötige ambages bey saite zu setzen und das, was den haupt zweg angehet, in medium zu conferiren. Die von allen Theilen eingegebene Schrifften, saind [. . .] aber Zu waitlauffig, haben dieselbe [= die Räte] für guth angesehen, die selbe noch eines mit fleiß zu betrachten, ob Min: Berolin: genugsam dargethan, das es directe ad thesin propopsitam geantwortet“134.
Auch weiterhin suchten die Berliner Lutheraner Unterstützung für ihr Verhalten in den Sessionen bei Pfarrern aus der Mark. In einem Brief vom 15. Oktober sprach ihnen der Brandenburger Superintendent Valentin Fromme135 Mut zu und bestärkte sie in ihrer Haltung.136 Reinhardt sagte: „Unsere Limitationes konnen unß von Gott und der Erbahren Welt nicht Verwehret werden, weil auch Christus der Mund und Grundt der Warheit in schweren fragen limitiret, so können ja solches Min: Berol: als Seine Diener auch thun, und werden dieses S. Chfl. Dhl. nicht verwerfen wann Min: Berol: sich sainer limitationes gebrauchen [. . .] wir könten oder wollten keinen anders Syllogismum machen“. Als Lutheraner rede Reinhardt, „wie Ers vor gott und der Erbahren welt verantworten könne“. Das Selbstverständnis der Lutheraner, dass sie als Diener Christi verpflichtet seien, bestimmte Lehren zu verdammen, konnte Stosch nicht nachvollziehen. In einer für die angespannte Situation des Kolloquiums typischen Situation warf er Reinhardt daraufhin vor, dass dieser nie direkt auf die Fragen und Schriften antworte. Er bat ihn, „eher zur Sache zu kommen, hete Er wollen sagen: Doctrina de manducatione orali, est illa Doctrina ob cujus negationem aliquis damnatur“. Dem entgegnete Reinhardt: „Es solle alles herauß kommen, man solle das Min: doch nur amicabiliter höhren, es muße ordine procediren“. Fromm pflichtete Stosch bei und beschuldigte ebenfalls die Berliner: „Es werde Ihnen ja frey stehen die quaestiones simpliciter zu nehmen, und auf jede absonderlich zu antworten, wan man auff eine frage antworten solle, müße man nicht Viel in ein ander mengen“. 134 AaO., f. 400v–401r. 135 Valentin Fromme, geboren am 22. Februar 1601 in Potsdam, studierte in Wittenberg und wurde 1632 Rektor in Brandenburg an der Havel, 1634 Oberpfarrer an der St. Katharinen-Kirche und Superintendent der Stadt. Er veröffentlichte wichtige Bücher 133
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
4.3.1.6 Die Voten der Berliner Lutheraner zu den reformierten Schriften vom 10. Oktober 1662 136
Wenige Tage nach der sechsten Session hatten sich die Berliner Lutheraner intern Voten zugesandt, um eine Antwortschrift auf die zwei in der letzten Session verlesenen reformierten Schriften zu formulieren. Diese wurde zwar bald übergeben, jedoch erst in der zehnten Session vorgetragen. Lilius widersprach in seinem Votum137 über die erste Schrift den Anschuldigungen, dass die Berliner noch nicht hinreichend auf die Schriften der Reformierten geantwortet hätten. Lilius kündigte an, „daß wir Statum Controversia [. . .] wie nötig limitiren und declariren wollen“. Auch Lubath138 wies den Vorwurf zurück. Zwar sei die Beantwortung nicht unbedingt formal richtig geschehen, „vere tamen materialiter et rationes senzur Metaphysik und stand mit den Berliner Lutheranern in engem Kontakt. Er starb in Brandenburg am 22. April 1679. Vgl. Zedler 9 (1735), 2158 f.; C. Maillard-Zechlin: Die Ahnen des Dichters Fritz Reuter, Der Herold NF 7 (1969–1971) (134–145), 140; J. Splett: Art. Fromm, Valentin, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Mark Brandenburg 1640–1713, 187–192. 136 Frommes Brief befindet sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 39r–39v. 40v und ist ein gutes Beispiel für die Unterstützung, welche die Berliner Lutheraner immer wieder durch verschiedene Pfarrer erhielten. Fromm schrieb am 15. Oktober 1662 an die Berliner: „Was Sie von der Conferentz zwischen ihnen und etlichen Reformirte Theologen den Ministerio beyder Städte Brandenburg eröffnet, solches haben wir wol ponderiret, erkennen darauß unserer hochgeehrten herrn Religionssorgfalt und gute affertion gegen uns, halte ich billig, wie ich immer zu urgiret habe, wieder antworten sollen“. Fromm riet den Berlinern, in ihrer Argumentation theologische Schriften aufzunehmen: „Die Conferentz referiret sich auff die Confession des Churfürsten Johannis Sigismundi 1614 und auff das Colloquium Lipsiense und Thoruniense, darüber wir gründliche Examina haben Hernn Dott. Hütteri und dem Dott Höen, und sonderlich, qua Ecclesiarum Reformatarum Confessionem in Colloquio Thoruniensi exhibnitatem, Herrn Dcot. Hülsemanni Disputationes, aus Volks Scriptis gewisse Axiomata, quae infallibilis Scripturae veritate riturtur, können gesagen und denen Reformatis Dottoribus entgegen gesetzet werden. Der Churfl. befehl will das wahre Christentumb und übung der wahren Gottseligkeit getrieben haben. Werden demnach wir hochgeehrte Herren, daran ich nicht zweifele, bey dieser Conferentz, weil ihnen analß gegeben wird, der Discipline Ecclesiastica und doch Berathteten Ministerij eigedenck sein, auch zugleich an ihm stöhren, daß bisher solche Epista Electoralia ergangen, welche theils dem Wort Gottes zu wiederlauffen, als insonderhait was de officio Elenchtico. Es sind dergleichen Stücke in beykommender Praxi Christianiomi berühret, in Epistola dedicatoria und in Praefatione ad Lertinem, fürnemblich aber Part. 2. quaest. 1. pag 241 et seq. et qst. 7“. Abschließend bat er eindringlich: „Gott erhalte uns in der warhait, und erbarme sich seiner bedrengten Kirchen! [. . .] Der gnädige und treue Gott stärke auch die Herren, daß sie mit unerschrockenen Geist und muth die göttliche warheit bekennen und vertheidigen mögen, und lasse sie ihm in seines göttlichen gnädigen schatz allerseits befohlen sein“. 137 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 488r–488v. 138 Vgl. aaO., f. 489r. (Die folgende Gegenüberstellung ist auch grafisch aus dem Original übernommen.)
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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sus manifesti et perspicui [= dennoch materialiter richtig und den grundsätzlichen Sinn deutlich erwiesen]“. In seinem Votum stellte er den Thesen der Reformierten die lutherischen Einwände gegenüber: Thes. Reform: Es ist nichts in dern confessionibus Reform. nominatus enthalten, umb welches Willen, der so es Lehret judicio divino verdammet sey.
Reform: Es ist nichts enthalten:
Umb welche willen der Reformirte Lehrer judicio divino verdammet sey. Reform: Ümb welcher willen, der so es Lehret judicio divino Verdammet sey
Conclusio Min: Berol. Darümb so ist die Lehre, welche Von etlichen reform: Lehrern nach Diesen 3. confess. in gewissen puncten geführet wird, schüldig des göttlichen gerichts, und in den selben nur verdamlich und verwerfflich. Minist: Es ist eine Lehre sub: enthalten: oder es ist eine Lehre Von Reformat: Lehrern nach den Conf. gefuhret, welche Lehre, judicio divino obnoxie adeoque damnabilis. diese conclusio heist ja: ümb welcher willen, d[er] so es lehret (unß nach den confess.) verdammet sey. Erg. quod confession. nominatus docet, is pp hanc doctrinam judicio divino damnatus est.“
Die Verdammung von Irrlehren bezeichnete Lubath nun nicht mehr mit einem Potentialis, sondern er bezog sich konkret auf die Brandenburger Reformierten und ihre Lehren. Diese theologische Abwertung kam in seinem Votum am deutlichsten zum Ausdruck. Auch Gerhardt formulierte zu den reformierten Schriften ein der Forschung bisher unbekanntes dreiteiliges Votum.139 Darin widerspricht er zum ersten dem Vorwurf, „das das Berlinische Ministerium auff die drey letzte[n] Frage[n] der Reformirten und Ihre darauß formirte 2 Teses noch nicht directe opponiret haben“. Er ist der Meinung, dass die Berliner nicht nur den „Minorem Syllogismi principalis“ korrekt, sondern auch „unseren hauptschluß also gesetzet gehabt“. Zwar gibt er zu, „Daß wir nicht iisdem apicibus [un]d Syllabis opponiret“, dies komme jedoch daher, „darümb weil wir es nicht nöthig gehalten“, und eine einfache Antwort nicht möglich gewesen sei: „Haben wir Salva veritate et legibus oppositioniby nicht anders antworten können, Es ist unß eine solche frage vor gelegtworden, welche eine Distinction, Limitation, et Restiction benötiget“. Auch den zweiten Vorwurf der Reformierten, dass „Das selbiges Ministerium Ihren eigenen Minorem principalii Syllogismi Vgl. aaO., f. 489v–490r; vgl. auch den vollständigen Abdruck im Anhang.
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nicht probire, Ja endlich den principal Syllogismum gar geändert und doch quaestioni [un]d Thesi proposita nicht recht directe contradiciret habe“, weist Gerhardt entschieden zurück: „Das wir cum limitatione et distinctione geantwortet haben, ist der Directa oppositioni nicht entgegen“. Zudem betont er: „Wir wissen Von keiner Diversion, die wir Ihnen mit unserer argumentio an die hant geben“. Zum dritten setzten die Reformierten „einen conditionalem nobis ad modum periculosam“. Ihnen müsse entgegen gesetzt werden, „alß bekenten wir [= die Lutheraner], Es werde in den Reformirten Confess[ionen] nicht[s] gelehret, um welcher willen Lehrer und Zuhörer in judicio divino Verdammet sey[n]“. Auch in dieser Schrift brachte Gerhardt seine Gedanken strukturiert vor und zeigte, dass er die formalen Regeln zur Beantwortung einer Disputationsschrift beherrschte. Theologisch relevante Inhalte finden sich in seinem Votum hingegen kaum. Zwar erwähnte er die FC und betonte, auf dem lutherischen Glaubensfundament zu stehen, doch eigene theologische Ansätze bot er nicht. Dies war allerdings auch nicht zu erwarten, denn in der reformierten Schrift war es nicht um eine Auseinandersetzung um theologische Themen an sich gegangen, sondern hauptsächlich um gegenseitige Beschuldigungen. Ebenso wies Lorentz die Vorwürfe der Reformierten zurück140 und beklagte sich darüber, dass „Reformirte mehr intentioni illustissimi zu wieder [tun] alß wir [= die Lutheraner], in dem sie unß contra amicabilitabis leges mit unverantwortlicher schmach noch neuligst beleget, anklagend, sambt wir das Vertrauen zwischen bürger und Mitbürger, herrschafft und unterthanes aufhüben etc.“. Er hatte nur wenig Hoffnung, dass sich die Reformierten mit einem der Berliner Syllogismen einverstanden erklären würden: „Es schainet auß H. Stoschius judicio [. . .] der Erste und andere Syllogismui taugt nicht, der dritte wird noch weniger taugen“. Helwig äußerte sich am ausführlichsten.141 Er kritisierte zunächst, dass sich die Reformierten bisher nicht an die allgemein üblichen Regeln gehalten hätten: Es „Scheinet aber, daß sie in ihren methodo nicht gar zu methodici sain, in dem sie fordern, es müsse (wo fern die conclusio directe ipsis opponenda bestehen solle) die falsche Lehre in specie 1. benennet 2. beweiset werden daß ümb der selben willen, der so sie lehret, Judicio Divino verdammet sey. Den kein Philosophy disputirt also, das es die probationem minoris mit in die conclusion des haupt Syllogismi setze“. Helwig betonte, dass die Berliner „wo nicht directe formaliter, dennoch directe aequipollenter [= gleichstark]“ auf die Schriften der Reformierten geantwortet hätten. Auch er wies sämtliche Vorwürfe der Reformierten zurück. Die schließlich während der zehnten Ses Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 490r–490v. Vgl. aaO., f. 490v–491v.
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sion verlesene erste Schrift142 bestand hauptsächlich aus Gerhardts und Helwigs Argumenten. Die Berliner trafen sich erneut am 15. Oktober, um über die zweite reformierte Schrift zu beraten. Lilius verwarf in seinem Votum143 sämtliche reformierte Anschuldigungen und verneinte, dass die lutherischen Beschuldigungen „falsa, inhumana, maligna et injuriosa [= böswillig und ungerecht]“ seien. Auch Lubath konnte in seinem langen Votum144 die reformierten Einwände nicht nachvollziehen. Die Verdammung falscher Lehre „de judicio divino“ sei daher von entscheidender Bedeutung, da sie die evangeliumsgemäße Verkündigung garantierte. Das Subjekt hätten die Berliner bei der Beantwortung des reformierten Syllogismos bewusst geändert, denn „werden ia 1) Die 3 Confessiones das Göttliche Gericht nicht empfinden, sed doctores et docentes“. Gerhardt unterstrich in seinem Votum145 zunächst, dass „wir denen unß vorgelegten Quaestioniby satis faction gethan haben“. Dann widersprach er dem reformierten Einwand, wonach die reformierte Lehre nicht des göttlichen Gerichts schuldig sei. Sie sei verdammlich, denn „nicht allein Die Substantia und menschen werden vor Gottes gericht gefordert und gerichtet werden, sondern auch der menschen ihre worte, wercke und gedanken, Ja eigentlich zu reden, so werden die Menschen Nach Ihren Wercken, Worten und gedancken gerichtet, Und ümb ihre Wercke Willen Verdienst [un]d in die Hölle verstoßen werden“.
Im Folgenden setzte er sich mit terminologischen Definitionen auseinander: „Wen wir von beständigem Vorsatz reden, s[o] reden wir von einer solchen Lehre, die einen nicht eben wieder seinen Willen entfähret, sondern die er vorher erstlich bey sich bedacht und über leget hatt, wil sich auch nicht davon abweisen laßen“. Wenn die Lutheraner feststellten, „daß der Reformirten Lehre wieder Gottes geoffen bahrten wort also gerichtet sey, das durch die selbe mit beständigen Vorsatz solchen wieder sprochen werde“, so bedeute dies nicht, „daß die Reformirten animum contradicendi verbo Dei haben“. Jedoch würden sie eine Lehre verbreiten, „die gottes wort wieder spricht“. Dann verwarf Gerhardt verschiedene Anschuldigungen und kritisierte den Syllogismosvorschlag der Reformierten: „Diesen principal Syllogismum Er kennen wir nicht für den unserigen, sondern es hatt dem H vorstio beliebet Ihn damals also zu formiren, nobis non consentientiby, darümb wir unß auch alles das jenige was hier da wieder geredet wird nicht an zu nehmen haben“. Vgl. aaO., f. 246v–252r [W] und 4.3.2.4. Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 492r–492v. 144 Vgl. aaO., f. 492v–493v. 145 Vgl. aaO., f. 493v–494v und den Abdruck des der Forschung bisher unbekannten Votums im Anhang. 142 143
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Dass „die Reformirten Confessiones Lehren quod panis et vinum sunt tantum signa corporis et sanguinis Christi“, könnten die Lutheraner als „erroris fundamentalis“ aufzeigen. Gerhardt wies in seinem Votum sämtliche Vorwürfe zurück und begründete die Verurteilung der reformierten Lehre biblisch. Lorentz sah in seinem Votum146 die irenischen Bemühungen der Reformierten skeptisch. Er betonte, dass nicht die äußeren Worte des Menschen, sondern „das Innere“, die wahre Intention, ausschlaggebend für Gottes Urteilsspruch im Gericht sei: „Viel reden süß und glauben bitter. Reden außerlich viel von Brüderlicher Liebe, und Einigkeit im Hertzen, aber dencken sie, wie sie schaden thun wollen“. Er war der Meinung, dass nicht nur das Verhalten im Kolloquium, sondern auch das gesamte Urteilen und pastorale Handeln unter der Prämisse von Joh 12,48 stehe: „Den wer nicht mit Christo und seinem Worte ist, der ist wieder ihm, wer nicht mit ihm samlet der zerstreuet“. Im Folgenden kritisierte er die Reformierten sowohl für ihre inhaltlichen Äußerungen als auch für deren formale Gestaltung. Dann schlug er vor, zunächst „de veritate“ und anschließend über Wichtigkeit und Inhalt der Lehren zu diskutieren. Zudem wies er den Vorwurf zurück, dass der Minorsyllogismos der Lutheraner nicht direkt auf die Ausgangsfrage des Präsidiums ziele. Auch Helwig betonte in seinem Votum147, dass jede Lehre, die gegen die Heilige Schrift laufe, verdammlich sei. Er beklagte, dass die Reformierten alle ernsthaften Syllogismen der Lutheraner verneint, indirekte Beschuldigungen erhoben und keine geeignete Diskussionsgrundlage angeführt hätten: „Die Articulos darinn wir dissitiren halten sie ja nicht Vor fundamenta und außer denen werde wenig Ketzer gefunden werden. Im übrigen halte ich davor, das wir nicht nöthig haben in diese ihre distinction zu condescendiren, als welche offen bahr gnug dahin angesehen, daß sie unß [. . .] von unsern wol gegründeten Syll[ogis]mo abführen mögen“. Helwig schloß mit dem Syllogismos: „O[mn]e falsum contra veritatem verbi Dei assertum est in se damnabile, (Den sonst würde gottes wort uns wenig nutzen.) es sei daßelbe ein fundamental oder neben irthum“. Wie in der aus allen Voten kompilierten und schließlich während der zehnten Session verlesenen Schrift148 deutlich wird, bildeten Gerhardts Äußerungen die Basis für die maßgebliche Argumentation der Lutheraner. Besonders die biblische Begründung der Verdammung reformierter Lehren sowie einzelne terminologische Definitionen wurden teilweise wörtlich aus Gerhardts Votum in das offiziell übergebene Schreiben übernommen. Vgl. aaO., f. 494v–495r. Vgl. aaO., f. 495r–496r. 148 Vgl. aaO., f. 252r–258v [X] und 4.3.2.4. 146 147
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4.3.1.7 Die siebte Session Die siebte Session,149 am Freitag, dem 17. Oktober 1662, bestand aus zwei Teilen. Der erste war bestimmt durch eine Auseinandersetzung zwischen den Cöllner Lutheranern und den Reformierten, der zweite durch eine Diskussion zwischen Reinhardt und Stosch. Zunächst forderte von Schwerin in einer langen Eingangsrede150 die lutherischen Teilnehmer auf, „mit solchem Syllogismo ein zu kommen, Es ist was in Confessionibus nominatis enthalten etc.“. Ein anderer Syllogismos oder eine andere Conclusio, die nicht direkt auf die Ausgangsfragen antworte, könne nicht mehr angenommen werden. Da bisher „dem Churfürstlichen befehl kein gnügen geschehen, würden sich die herren Räthe höchst schwer befinden, die Zeit so vergeblich anzuwenden“. Die anwesende Räte stimmten von Schwerin ausdrücklich zu. Dann verlas Vechner eine ausführliche Stellungnahme151 der Reformierten zum Schreiben der Cöllner vom 3. Oktober. Jene forderten die Cöllner auf, „die materien nicht zu vermengen, sonderlich 1. de Coena zu handeln, darümb ist es auch noch nicht Zeit entwder von der Dordrechtischen rigore, oder von Tolerantia Ecclesiastica wort zu machen“. Die Reformierten seien „gar nicht schuldig Declaration zu geben, biß die Herrn Collocutores Thesibus Nostris negativis directe et formaliter werden etwas opponiret haben“. Es sei unklar, was das Ziel der Cöllner beim Kolloquium sei. Die Reformierten stellten klar: „Wenn man aber von unß Theologis wißen wollte, was wir vor einen finem dabey hoffen, so ist dieser, das wir erfahren werden, ob die herrn Collocutores duriores [=härter] et a pace Ecclesiastica alieniores [= fremder] sein werdn, alß die Helmstadienses, Rintelenses et alii“. Weiterhin wurde den Cöllnern vorgeworfen, ihre Argumentation „dienet entweder nicht zur quaestion, oder gehöret zu ander Zeit zu ventiliren [= prüfen]“. Schließlich handelten die Reformierten „diese Materia de consequentiis et Syllogisonis theils zur rettung unsers guten Nahmens, theilß zur erleüterung der gantzen Sache etwas weitleüftiger ab“. 149 Vgl. das lutherische Protokoll aaO., f. 401r–403v; das reformierte Protokoll aaO., f. 462r–463r. Letzteres ist in einigen Teilen, wie zum Beispiel der Reaktion der Cöllner auf die Verlesung der reformierten Schrift oder der Diskussion zwischen Reinhardt und Stosch, deutlich knapper gehalten als das lutherische Protokoll. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 106–112, hat das lutherische Protokoll transkribiert. 150 Ein Fragment der Eingangsrede von Schwerins (vom Anfang bis „und nichts zu erinnern hätten“) befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, 474/7, f. 12r–13r. Der Text ist wortgleich mit dem reformierten Protokoll im Nachlass Lubaths (GKl Archiv XII/90/3, f. 462r–462v). 151 Vgl. aaO., f. 378v–381r; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 100–107. Der erste Entwurf für diese Schrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/6, f. 44r–49v.
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Insgesamt zeichnete sich diese Schrift durch eine ausführliche Behandlung vieler terminologischer Details aus. Dies zeigt zum einen die systematische Genauigkeit, mit der die Theologen versuchten, ihre Position darzustellen. Da die Reformierten jedoch kaum direkt auf das zu behandelnde Thema eingingen, führte sie zum anderen zu der vom Präsidium und den Reformierten selbst zurecht bemängelten Weitläufigkeit. Auch in der sich anschließenden Diskussion, bei der die Cöllner betonten, dass sie auf dieses Schreiben nur schriftlich antworten könnten, wurde die angespannte Lage zwischen den Kollokutoren deutlich. Die Reformierten und von Schwerin warfen nun auch den Cöllnern vor, dass diese noch nicht hinreichend auf die Eingangsfragen und die reformierten Thesen geantwortet hätten. Die Cöllner wiederum entgegneten: „wen man opponiren soll, muß man Ja deßen sensum verstehen, und den könne man ja biß hieher von Reformatis noch nicht bekommen“. Ihre Schriften seien „fallasia plurium interrogationum [= Täuschungen mehrer Fragen]“, was Vorstius sogleich bestritt. In der weiteren Diskussion wurde deutlich, dass sich das Verhältnis zwischen Stosch und Fromm bereits während der Sessionen deutlich verschlechterte. Auch von Schwerin begann nun die Cöllner zu kritisieren: „Man hette die Herren Cöllner vorher gerühmet, daß Sie ad respondendum so prompti gewesen, nun aber würde man diesen Ruhm woll retractiren müßen“152 . Im zweiten Teil der Session diskutierten vor allem Stosch und Reinhardt. Zunächst betonte Lilius, es „sey ihm Leid, daß so offte und zwar zum Siebenden mahl, richtige erklärung begehret, da es doch seine Satisfaction [in der Schrift] am 10. October auch iisdem apicibus und Syllabis gethan“. Da Stosch jedoch meinte, „Min: Berol: brächte gar eine anderen [Major] Syllogismus vor, und der contra bonos mores“, schlug Reinhardt vor, jemand Außenstehenden urteilen zu lassen.153 Nach diversen gegenseitigen Vorwürfen beendete von Schwerin die Session, ohne dass inhaltliche theologische Auseinandersetzungen stattgefunden hatten.154 Dieses Ende war symptomatisch für die ersten sieben Sessionen. Von Beginn an herrschte eine angespannte Gesprächsatmosphäre. Die Kollokutoren GKl Archiv XII/90/3, f. 402v (lutherisches Protokoll). Reinhardt schlug vor: „Sie [die Reformierten] möchten herren Doctor Crellium (Vgl. zum Domprediger Wolfgang Crell 3.2.2.2. und 4.1.) drüber judiciren laßen, den hielte er vor einen hocheglahrten auffrichtigen Mann, ob nicht directe und formaliter gnug à Min: Berol: geantwortet worden“. Mit der Anspielung auf den Domprediger Crell, der nicht am Kolloquium teilnahm und mit dem einige der reformierten Kollokutoren in Konflikt standen, wollte Reinhardt Uneinigkeit innerhalb der Reformierten aufzeigen und diese möglicherweise provozieren. 154 Sowohl das reformierte als auch das lutherische Protokoll wirken am Schluss dieser Session stark gekürzt. Es ist unwahrscheinlich, dass von Schwerin keine Schlussrede gehalten hat, wie er es sonst immer tat. 152 153
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gingen oftmals nicht aufeinander ein, beschuldigten sich gegenseitig und verloren die kurfürstlichen Zielvorstellung einer mutua tolerantia aus den Augen. Zwar wurden Formalia weitgehend geklärt, jedoch gelang es noch nicht einmal, einen allgemein anerkannten Hauptsyllogismos zu formulieren oder Übereinkunft in terminologischen Fragen zu erzielen. Die jeweiligen konfessionellen Parteien hatten ihre Antworten zu den kurfürstlichen Eingangsfragen präsentiert, ohne sie eingehend zu begründen. Auch bei der Thematisierung der Abendmahlslehre wiederholten die Kolloquiumsteilnehmer hauptsächlich wenig tiefgründig theologische Lehrartikel und grenzten sich eher von der konfessionellen Gegenseite ab, als nach gemeinsamen Anknüpfungspunkten zu suchen.
4.3.2 Die achte bis zwölfte Session Dem Präsidium war bereits früh deutlich geworden, dass das Kolloquium so, wie es bisher abgelaufen war, nicht zum Erfolg führen würde. Der entscheidende Impuls zur Änderung der Vorgehensweise ging jedoch nicht vom Präsidium, sondern vom Kurfürsten aus. 4.3.2.1 Die achte Session Die achte Session,155 am Freitag, dem 24. Oktober 1662, stellte einen Einschnitt im Verlauf des Kolloquiums dar. Von Schwerin berichtete von Friedrich Wilhelms Reaktion auf die bisherigen Sessionen und mahnte die Kollokutoren an, „daß man sich beßer möge verstehen, und an des tages Licht komme, welch teil schult habe, an den umzeitigen eyfer, verdammen und verlästern, so bißherro verspuret worden“. Ebenso verkündete der Oberpräsident den Vorschlag des Kurfürsten, dass die Kollokutoren „nach dem Marpurgischen und Rintelischen Colloquio, ein Jedes teil vor sich, sich erklären solle: Ob der Unterscheid der Lehre inter Reformatos et Lutheranos dergestalt Vgl. das lutherische Protokoll in GKl Archiv XII/90/3, f. 403v–407v; das reformierte Protokoll aaO., f. 463r–467v. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 113–120, hat das lutherische Protokoll abgedruckt. In SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/7, f. 20r–27r (Hier ist zu beachten, dass der Abschnitt f. 20r–33v auf Grund einer falschen Knickung des Bogens falsch foliert wurde. Die richtige Reihenfolge lautet: f. 30r–31v [32r–33v ist das Ende des Protokolls der siebten Session], 20r–29v.) befindet sich ein Manuskript, welches möglicherweise der Rest eines Originalprotokolls ist. Da es weder mit dem lutherischen noch mit dem reformierten Protokoll inhaltlich übereinstimmt, handelt es sich möglicherweise um das Protokoll des Schardius, auch wenn der Vergleich mit seinem Autograph keine Gewissheit bringt. Die Session wurde „in der gehaimen Rathstuben [. . .] von 3 biß halb Sechse“ abgehalten. 155
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beschaffen, das man in solcher zweyung lenger continuiren sollte, mit einem worte, das Sie das pondus der controversien, so zwischen Reformatis und Lutheranis vorgehen, erwegen wollen“156 .
Solange diese Fragen nicht beantwortet seien, wolle das Präsidium keine neuen Schriften mehr annehmen. Der Vorschlag, in künftigen Sessionen nach der Art und Weise zu verfahren, die beim Kolloquium zu Kassel 1661 zu einer weitgehenden Einigung zwischen Reformierten und Lutheranern geführt hatte, kam für die Kollokutoren überraschend. Ebenso überraschend dürfte der nun deutlich autoritäre Ton sein, den von Schwerin anschlug. Bedingt durch das Drängen des Kurfürsten auf eine Einigung sowie die Einsicht, dass die bisherige, oftmals hilflos wirkende Zurückhaltung bei der Leitung des Kolloquiums nicht zum Verhandlungsziel führen konnte, verschärfte von Schwerin seinen Leitungsstil. Nach einer Verhandlungspause157 legten die Kollokutoren ihre Meinungen zum kurfürstlichen Vorschlag dar. Die Reformierten waren einverstanden. Zwar seien die Teilnehmer in Kassel nicht zu einer theologischen Einigung gekommen, doch da die lutherischen Rintelner „bekennen das sie de pondere Einig, und Marpurgenses zu verdammen nicht gemainet sain, so approbiren wir [= die Reformiertem] nicht allein Rintelensium Mansuetudinem et aequitatem [= Milde und Mäßigung], sondern hoffen auch, die herrn Collocutores werden der gleichen gegen unß thun“, da „in nostris confessionibus nominatis die Controversiae Doctrina viel benignius [= freundlicher/gutmütiger] erkläret sain alß in Jenem Colloqo zu Cassel geschehen“. Trotz der theologischen Differenzen zur lutherischen Lehre „erklären die Reformirten unß hin wiederümb daß wir mitt den opinionibus Von der mündlichen genießung und leiblichen gegenwarth, welche wir irrig achten, dennoch christliche Toleranz halten, Sie für Brüder in Christo erkennen, und von dehnen noch ürbigen Streitpunckten waß veritatem selbst belanget, hinfüro ohne Verketzern, Verdammen, Hassen, in Christbrüderliche Liebe handeln und unß unterreden und erbauen wollen, biß Gott die volle einigkeit geben wird“158 .
156 GKl Archiv XII/90/3, f. 404r (lutherisches Protokoll). Das reformierte Protokoll definiert die Lehre „so, wie Sie von Reformatis alhier im Lande gelehret wird“ (aaO., f. 463v). 157 Diese Pause hatten Stosch und Lilius erbeten, um über den Vorschlag beraten zu können. Zuvor forderten die Berliner vehement die Verlesung ihrer Antwortschrift auf das Schreiben der Reformierten vom 10. Oktober. Doch von Schwerin verweigerte die Erfüllung dieser Bitte und gestattete lediglich, die Schrift vorläufig zu den Akten zu legen, und stellte die Verlesung nach der Beantwortung der neu vorgelegten Fragen in Aussicht. Die Berliner Schrift wurde schließlich während der zehnten Session verlesen. 158 In GKl Archiv XII/90/1, f. 41r–41v befindet sich ein Manuskript mit dem Vorschlag von Schwerins und der Antwort Stoschs, das zwar teilweise sprachlich, nicht jedoch inhaltlich von den Protokollen in GKl Archiv XII/90/3 abweicht. Vgl. auch die Abschrift in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/7, f. 18r–19r.
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Die Cöllner Lutheraner reagierten eher zurückhaltend auf den Vorschlag. Zunächst ließen sie ihre Antwort159 auf das letzte Schreiben der Reformierten ad acta legen. Dann wollten sie wissen, „ob es etwa ein wohlmeinender Vorschlag, oder ob expresser befehl von Seiner Churfürstlichen Durchlaucht vorhanden wäre“. Sie erbaten mehr Zeit, um eingehend antworten zu können. Schon in ihrer ersten Reaktion ließen sie jedoch erkennen, dass sie mit dem Verhalten der Rintelner Lutheraner während des Kasseler Kolloquiums nicht einverstanden waren. Diese hätten „in so wichtigen sachen nur 8 tage zu der Conferentz gebraucht, und sich nach Verfliehung der selben pondere resolviret“, zudem seien sie „in locis de gratia viel zu faciles gewesen“. Diesen Lehrartikel nutzten die Cöllner als Anknüpfungspunkt und baten die Reformierten, dass sie „ihre Declaration möchte herauß geben, was in locis de gratia, Ihre publica Confessio in der Marck sey, [. . .] und wo eigendlich Specialis gratia einfalle“. Schließlich verlangten die Cöllner, dass künftig zu behandelnde Themen „nicht allein von Herren Reformirten proponiret, sondern communi consensu mögen erwelet werden“. Stosch erwiderte umgehend, dass sich die Reformierten vor der Behandlung der Gnadenlehre zunächst mit den Berlinern über die Lehren vom Abendmahl und von der Person Christi einigen müssten.160 Die Berliner Lutheraner wollten erst nach einer ausführlichen Beratung schriftlich auf den Vorschlag antworten. Sie betonten, dass auch diese Anfrage die gesamte märkische Kirche betreffe und daher eine Antwort nur ihre eigene Meinung widerspiegeln werde.161 Schon vor der schriftlichen Antwort stellten die Berliner jedoch klar: „Die Gespräche zu Kassel können [. . .] unß keinerley weise praejudiciren [= ein maßgebliches Beispiel darstellen], [. . .] da auch unseren Conscientien darin viel schwere puncten entgegen stehen“. Zudem seien Informationen vom Kasseler Kolloquium nur von der reformierten Seite aus Marburg, nicht jedoch von der lutherischen Seite aus Rinteln zu erfahren. Den Berlinern genüge jedoch, dass schon „die gantze Gießensche Universität, und das Darmstädtische Landes-Ministral Collegium ihr bedencken wieder solche Conferentz herauß gegeben“.162 Sie kündigten an, dass sie in Leider ist dieses Schreiben nicht mehr erhalten. Bemerkenswert ist, dass Stosch nicht auf den Vorwurf einging, der Vorschlag käme nicht vom Kurfürsten, sondern von den Reformierten. 161 Die Berliner betonten, „das wir unß citra notitiam et consensum totius ecclesiae Lutheranae [= ohne Kenntnis und Konsens der gesamten lutherischen Kirche], die sich nach allen unseren Libris Symbolicis richten, in keine praejudicirliche handlung unß ein laßen können, dabey wir noch feste auff unserer berlinischen Seite beruhen“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 406r). 162 Dies Äußerung ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum einen rekurrierten die Berliner auf Bedenken der Universität Gießen und des Landesministeriums in Darmstadt. Diese sind wahrscheinlich nicht mehr erhalten. Zum anderen zeigt sich, dass die 159
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ihrer Antwort „von der Göttlichen warheit [. . .] nicht das geringste vergeben können, [. . . wir] werden dahin gegen in allen unterthänigsten gehorsam, also reden und predigen wie wirs vor Gott und Jederman getrauen zu verantworten, auf unser gewißen, ja fur Christi richterstuhl, allewege zu geben“. Nach einer kurzen Pause erläuterte von Schwerin in seiner engagierten Schlussrede noch einmal ausführlich den kurfürstlichen Befehl und ermahnte die Kollokutoren, diesen zu befolgen.163 Er betonte, „das weder Seine Churfürstliche Durchlaucht noch einiger deputirten herren Räthe intention dahin gehet, daß jemand [. . .] wieder sein beßer wißen von seiner Mainung recediren [= zurückweichen] solle“.164 Der Kurfürst verfolgte ab jetzt eine Einigung auf der Basis des Kasseler Religionsgespräches. Somit wurden Gerhardts Befürchtungen bestätigt, die er bereits in seinem Votum vor Beginn des Kolloquiums geäußert hatte. Der Kurfürst wolle „uns durch dieses Colloquium zu einen solchen Frieden bringen, wie die Rintlinger mit den Marpurgern gemacht haben“165 . Zumindest von Gerhardts Seite aus konnte die Antwort auf ein solches Ansinnen nur eine Ablehnung sein, wie er bereits in jenem Votum angekündigt hatte: „Solchen Frieden wird mit Gottes Hülfe keiner unter uns Lutherischen dem Ministerio Berolinensi zugethanen Predigern eingehen“.
Berliner die wohl bekannteste und wirkträchtigste Reaktion auf das Kassler Kolloquium, die Wittenberger „Epicrisis de Colloquio Casselano Rinthelino-Marpurgensium“, nicht nannten, obwohl sie diese bereits zugesandt bekommen hatten. Möglicherweise wollten die Berliner mit der Umgehung der Epicrisis zusätzlichen Ärger mit dem Präsidium vermeiden oder mit der Nennung der Bedenken aus Gießen und Darmstadt aufzeigen, dass auch andere Institutionen das Kolloquium verurteilten. 163 Irenisch motiviert gab von Schwerin seiner Hoffnung Ausdruck, „der höchste werde nochmahlen ihre hertzen regiren, das sie von etlichen conceptis principiis und opinionibus abstehen und salvis opinionibus, die Mittel friede zu befodern ergreiffen werden“. Des Weiteren tadelte er die Cöllner für deren Vermutung, der Vorschlag käme nicht direkt vom Kurfürsten. Die Berliner kritisierte er für ihre bisherige Antwort, die Reformierten hingegen lobte er. 164 Das reformierte Protokoll unterscheidet sich am Ende deutlich von den lutherischen Aufzeichnungen: Im Protokoll der Lutheraner ist zu lesen, dass die nächste Session „heut über 14. tage“ (aaO., f. 407v) stattfinden sollte, im reformierten Protokoll wird keinen Zeitpunkt genannt: Die nächste Session wird „etwas verschoben, und sol kunfftig | angesaget werden, wann man wieder zu sammen kommen soll“ (aaO., f. 467r– 467v). Darüber hinaus heißt es abschließend im reformierten Protokoll: „[Von Schwerin:] Wünschen in deßen das Gott Ihrer aller hertzen dahin lencken wolle, daß salva veritate solche mittel in vorschlag kommen mögen, das mehr friede und vertraulichkeit, als leider bißherr gewesen, gestifftet werden möge“ (aaO., f. 467v). 165 AaO., f. 485r. Vgl. zu Gerhardts Votum „Rationes pro colloquio et rationes contra“ 4.2.3.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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Es ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen, ob der Kurfürst mit seinem Vorschlag wirklich auf Erfolg hoffte. Vielleicht stellte dieser aber auch nur eine Verlegenheitslösung dar, weil Friedrich Wilhelm möglicherweise durch das Präsidium darüber informiert worden war, dass mit der bisherigen Taktik eine mutua tolerantia nicht erreicht werden würde. Der Kurfürst und seine Berater mussten eigentlich gewusst haben, dass sich die Situation in Kassel von der in Berlin/Cölln vor allem in Bezug auf die Kollokutoren grundlegend unterschied. Schließlich berieten in Kassel im Gegensatz zum Brandenburger Kolloquium sowohl auf reformierter als auch auf lutherischer Seite irenisch gesinnte Theologen. Zudem war den Kollokutoren unklar, ob es sich bei Friedrich Wilhelms Äußerung um einen Befehl oder einen Vorschlag gehandelt hatte. Zwischen der achten und neunten Session ergriffen die lutherischen Räte von der Gröben, Seidel und Reinhard die Initiative und luden die Berliner Pfarrer in von Löbens Haus ein, um sie von einer toleranten Haltung zu überzeugen. Zwar änderten die Berliner ihre theologische Grundhaltung nicht; jedoch gelang es den Räten, die Geistlichen zu folgender Erklärung zu bewegen, die diese am 6. November an das Präsidium schickten: „Es wollte das [Berliner] Ministerium, welches unverrückt bey allen Sainen Lehren bliebe, dieselbe mit allem glimpff und beschaidenhait dem gewißen nach auff denen ihnen anvertraueten Cantzeln führen, wie es vor Gott und Erbahrer Welt zu verandworten, were auch sonst erbötig den herren Reformirten alle Nachbahrliche und Christliche Liebe und Freundschafft zu verwaisen, und wollte ihrer aller Seligkait von hertzen wünschen und suchen“166 .
In den folgenden Tagen berieten die Berliner ausführlich über eine Antwort auf den kurfürstlichen Vorschlag zu Anfang der achten Session. Lubath gab in seinem kurzen Votum167 zu einem Antwortentwurf zu bedenken, dass die Reformierten die Formulierung, „Die Marpurgenses so klar dem Worte Gottes wieder sprochen, das es ihren Religionsgenoßen einen Eckel ist“, als „injuriam“ ansehen werden. Schließlich sei Stosch der Meinung, dass die Marburger nicht dem Worte Gottes widersprochen haben. Letztendlich wurde die Formulierung in der offiziellen Antwort der Berliner nicht geändert. Lorentz168 bezeichnete sowohl die Rintelner als auch die Brandenburger Reformierten als „solche Leute, die wol friede mit hind aufsetzung und Verkleinerung deß göttl: wortes zu machen gewöhnet“.169 166 GKl Archiv XII/90/3, f. 264v; vgl. auch die verkürzte Darstellung bei Hering: Neue Beiträge II, 142 f. 167 GKl Archiv XII/90/3, f., 496r. 168 AaO., f. 497r. 169 Darüber hinaus bietet sowohl sein als auch das kurze Votum von Helwig kaum Bemerkenswertes.
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Das bedeutendste Votum stammt von Paul Gerhardt.170 Er befürchtet in seinem siebenteiligen lateinischen Text, dass es das Ziel der Reformierten sein könne, den „Calvinismus“ aufblühen zu lassen, nachdem der lutherische Glaube in Brandenburg größtenteils abgeschafft worden sei. Der derzeit angestrebte Synkretismus, zu dem sich fatalerweise bereits die Cöllner Lutheraner bereit erklärt hätten, sei nur eine Zwischenetappe bis zur vollständigen Calvinisierung Brandenburgs. Damit dies jedoch nicht geschehe und der Rintelische Frieden und eine Toleranz nicht angenommen werden, solange die Pfarrer im Amt seien, müssten sie Vorsichtsmaßnahmen treffen. Gerhardt befürchtet, dass die Reformierten alles versuchen würden, um die Lutheraner für den Synkretismus zu gewinnen. Zu diesem Zweck könnten jenen Bestimmungen auferlegt werden, welche die in den Bekenntnisschriften enthaltenen Widersprüche und Verdammungen gegen die Reformierten verbieten würden. Gerhardts Votum hatte zur Folge, dass sich die Berliner in ihrer während der folgenden Session übergebenen Schrift entschieden gegen den kurfürstlichen Vorschlag und jegliche Versuche aussprachen, eine mutua tolerantia zu erlangen. Die Berliner Lutheraner hielten sich weiterhin nicht an das Geheimhaltungsgebot. Auch in den folgenden Tagen hatten sie brieflichen Kontakt mit auswärtigen Ministerien und Fakultäten und wurden durch diese am Festhalten an ihrer Meinung bestärkt.171 170 Vgl. aaO., f. 496v. Es wurde der Forschung erstmalig bei Langbecker: Gerhardt, 56 f. zugänglich gemacht. Langbecker hat jedoch bei seiner Transkription einen Teil ausgelassen, so dass das gesamte Votum erstmalig bei Schulz: Gerhardt, 336 f. (inklusive Korrektur einiger Fehler) abgedruckt wurde. Niemann: Gerhardt, 232 f. bietet eine deutsche Übersetzung des Votums nach Langbecker (und somit ohne den ausgelassenen Teil). 171 Ein gutes Beispiel für eine solche Unterstützung ist die Schrift „Ein Bedencken aus dem Halberstädtischen wie es das Ministerium Berolinense in dem Colloquio cum Reformatis zu verhalten habe“, welches undatiert ist, aber Ende Oktober / Anfang November 1662 entstanden sein muss: „Extract-Schreibens Meines wenigen erachtens, würden die unsrigen wohl thun, dahere sie also gefraget worden, ob in der reformirten Lehre etwas verdambliches endhalten? Daß Sie alß dan hingegen fragten: wofür man an Seithen der reformirten sich hielte? Ob man verneinete, daß Sie der Augßburgischen Unveränderten Confession mit Hertzen undt Munde zur gelaßen oder nicht? Sagen die Reformierten Sie halten Sie für solche Leuthe die deroselben also zugetahen, So können Sie weiter antworten, Eß stehe deßhalb Ihre meinung klar und deutlich in 10 Artickel der ungeänderten Augsburgischen Confession, Wollte man an Seithen der reformirten hierauff in sie dringen, daß sie diesen 10 Articul der Augsburgischen Confession behaupten und probiren sollten, So könten Sie sagen, daß sey Eine Sache, welche die gantze Kirche der ungeenderten Augßburgischen Confession zur gethan anginge mit denen Doctoribus Sie es erst Communiciren müsten und müsten nohtwendig die Doctores von beyden Seiten daruber gehöret werden, den die Lehre der reformierten wirdt anders in disputieren, anderes auff der Cantzel in Ihren Predigten fur den volke undt in Ihren Kirchen-
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4.3.2.2 Die neunte Session In der neunten Session172 , die am Freitag, dem 7. November 1662, von 14 bis 18 Uhr stattfand, ging die Auseinandersetzung darüber weiter, ob die Kollokutoren künftig wie beim Kolloquium zu Kassel verfahren könnten. In seiner Eröffnungsrede erinnerte von Schwerin zunächst an die letzte Session und kündigte an, dass nun „ein Jedes teil sich herauß laßen wolle, das es [. . .] diensahm, doch dem Exempel des Marpurgischem u. Rintelischen Colloquii de pondere zu reden“173. Die Cöllner erklärten nach einer Beratungspause, dass sie bei ihrer bereits während der letzten Session geäußerten Meinung blieben. Fromm bat, dass er und seine Kollegen so lange „acquiesciren [= bei etwas bewenden lassen]“ dürften, bis man „an die Lehre de gratia kommen möchte“.174 Auch die Berliner erklärten, in ihrer Position verharren zu wollen. Zur Erläuterung brachten sie eine ausführliche Schrift175 ein, die ausnahmsweise von Agendis vorgebracht, In dem disputiren gehen Sie hart herrausß, in den Predigten aber auf dero Cantzel undt zu Ihren Kirchen-Agendis gehen sie gar leise und sanfft, undt bringen waß sonsten hart ist, | sehr moderat undt glimpfflich für, darumb nothwentig, wollen sie sonst nicht gewaltsahmer oder unbilliger weyse verfahren, die doctores gegen ein ander müssen gehöret werden, Im übrigen könnten die unsrigen sich erklären, daß gleich wie sie bißhero auff die reformirten nicht hetten geschmähet, gescholten, gelestert. Alß wollen sie gebethen haben, daß man Ihnen ruhe gönnen Schutz, wie bißher auch Rühmlich geschehen, halten undt Ihnen nicht etwas perforce an oder zur muthen wolle, welches wieder Ihr gewißen, oder der gantzen Kirchen ungeEnderten Augßburgischen Confession prejudicirlich sein würde, die Reformierten hatten hier unter vernünfftig zur bedencken, waß sie doch sagen oder thun würden, wenn auff solche maßen die Lutherischen oder Papisten mit Ihnen verfahren sollten, daß ist also mein geringschätziges Bedencken, auß dieser Sache doch diß werck verstehenen daß anderer Beßere, alß Gott gebe Ihnen einen freudigen Geist und mücht die wahrheit zur sagen undt beständig darob zu halten“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 45r–45v). Vgl. darüber hinaus ein „Wohlmeinendes Bedencken über den Extract Schreibens“ (aaO., 46r–47r) sowie die Briefe des Frankfurter Theologen Johann Laurentius (1613–1674) an die Berliner Lutheraner vom 5. und 26. November 1662 (aaO., f. 43r. 44r). 172 Vgl. das lutherische Protokoll aaO. f. 407v–409v; das reformierte Protokoll aaO., f. 467v–469v. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 120–124, hat das lutherische Protokoll abgedruckt. 173 GKl Archiv XII/90/3, f. 407v. Von Schwerin bat die Lutheraner, sich in ihren Antworten „dergestalt herauß zu laßen, damit dieser Edle Zweg erreichet werde, welches ihnen allerseits zum sonderbahren ruhm und beruhigung des gewißens gereichen wird, also sol es bey S. Chfl. Dhl. höchst gerühmet werden“ (aaO., f. 408r). 174 Dies bedeutete, dass sich die Cöllner bei zukünftigen Sessionen so lange nicht mehr (schriftlich) äußern wollten, bis die Gnadenlehre verhandelt werden würde. Von einer Ankündigung, dem Kolloquium ab sofort ganz fern zu bleiben, ist hier jedoch noch nicht die Rede. 175 Vgl. die „Deduction-Schrifft zur fernern Erklärung des Berlin[ischen] Ministerii wegen des Exempels der Rintler. Übergeben den 7. November A[nno] 1662.“ aaO., f.
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Schwerin selbst vorlas. Darin lehnten die Berliner den kurfürstlichen Vorschlag ab, da „die herrn Marpurger so gar klar dem worte Gottes wiedersprochen, das es auch ihren Religionsgenoßen selbst billig mißfellig ist“. Daher wollten die Pfarrer „von den Rintelensibus, wie sie gethan, dergleichen zu thun kein exempel nehmen“.176 Des Weiteren wiesen sie darauf hin, dass sie gar nicht alleine entscheiden könnten, die Reformierten zu tolerieren, da nicht alle Kollegen aus der Mark hinzu gezogen werden könnten, und es unklar sei, was zukünftige Pfarrer von einer derartigen Toleranz halten würden. Die Lutheraner dürften „von Gottes wegen nicht“ eine „Vereinigung und brüderschafft im glauben und glaubensbekändniß“ schließen, denn schließlich seien die theologischen Unterschiede in den Fundamentalartikeln zu groß.177 Nach der Verlesung der Schrift fragte Reinhardt die Cöllner, ob sie diesem Schreiben beipflichten könnten oder „in Articulis de persona Christi et Sacra Coena keinen errorem fundamentalem finden“. Fromm und Buntebart sahen keinen fundamentalen Fehler, doch Nicolai, der sich schon zuvor den Berlinern theologisch angenähert hatte, übernahm deren Meinung und lehnte die Konsensformulierung ab. Nach einer Verhandlungspause178 drückte das Präsidium seine Enttäuschung über die Schrift der Berliner aus und ermahnte diese, den „Kirchen259r–264r und GKl Archiv XII/90/1, f. 48r–53v; abgedruckt nach GKl Archiv XII/90/3 bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 137–149. 176 Schon während des Vorlesens unterbrach von Schwerin, um mit Recht klar zu stellen, dass die Rintelner Lutheraner nicht die Lehre der Reformierten Marburger annahmen, „sondern Stantiby controversiis, dennoch alß brüder in Christo leben können“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 408v). Die Berliner führten ihre Ablehnung aus: Da die drei reformierten Bekenntnisse dem Inhalt der Marburgischen Theologie glichen, würden sie mit ihr „nicht dissonieren [= übereinstimmen]“. Differenzen träten vor allem in der Prädestinationslehre zu tage: „Wie hart auch schon der Synodus zu Dordrecht in diesen und andern stücken redet, die herrn Collocutorn dennoch [. . .] Sich von denen selben meinungen [. . .] nicht trennen werden“. Darüber hinaus würden die Brandenburger Reformierten Lehren verbreiten, die nicht einmal die Marburger vertreten hätten: „Hingegen rucken unß 4. die herrn collocutorn [. . .] irrige Lehren auff, alß von der mundlichen geniesung, leiblichen gegenwart, und andern [. . .] dahinngegen auch darinnen die Marpurger gelinder gehandelt“. 177 Des Weiteren beschwerten sich die Berliner darüber, dass sie sich an das Lästerverbot halten sollten, „dahingegen in öffendlichen unlängst gedruckten Reformirten Schrifften dergleichen Vielfältige anzüglichkeiten und schimpffliche benennungen unserer Lehre und Ampts am hellen Tage liegen“. 178 Nachdem bereits die Reformierten den Raum verlassen hatten, wurden die Berliner durch von Schwerin gefragt, was sie unter dem Wort „verum“ verstehen würden. Die Antwort (in Abwesenheit des Notars [„me Notario tamen absente“]) ist ein typisches Beispiel für die terminologische Genauigkeit, mit der die Berliner im Laufe des gesamten Kolloquiums argumentierten. Unter „verum“ verstanden sie, „was die fundamentalis salutis tam constituentes quam confirmantes et conservantes betrifft, so woll in klarer litera alß in infallibili ex verbo Dei consequentia [. . .] auch alles das Jenige, was außer
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frieden“ anzustreben. Die reformierte Antwort auf die Berliner Schrift zur achten Session wurde zunächst ad acta gelegt, sollte aber in der kommenden Session verlesen werden. Von Schwerin forderte dann die Reformierten auf, den Lutheranern „den Thesin de coena Domini dergestallt zu proponiren, das man auß des Min: Berolinensis antwort erkennen könne, wie wait man noch mahle S. Chfl. Dhl. zweg errigiren u. erreichen möge“179. Die Reformierten ließen darauf hin zwei Thesen verlesen180 : „Die Lehre von der Mündlichen, jedoch übernatürlichen Und unempfindlichen eßen des Leibes und trincken des bluthes Christi im Abendmahl, welche in den dreyen Confessioniby verneinet wird, ist nicht von solcher wichtigkait, ohne deren wißen schafft und erkändnuß Gott keinen Reform[ierten] Christen wolle selig machen.| 2 Thesis. Die Lehre Von dem Mündlichen jedoch über natürlichen und unempfindlichen eßen des Leibes und trincken des blutes Christi im Abendmahl, welches in den dreyen Confessioniby verneinet wird, ist nicht von solcher wichtigkeit, ohne deren erkändnüß und bekändniß Gott keinen Reformirten Lehrer wolle selig machen“181.
diesem gräntzen, das unbetrügliche wort Gottes, in sich hatt und helt, praesertim si per errorem in minus fundamentalibus dogma ipsum fundamentale impugnaretur [= zumal wenn durch Fehler in weniger wichtigen Dingen das fundamentale Lehrstück selbst angegriffen wird]“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 409r). Nach der Verhandlungspause wurden die Reformierten als Erste wieder in den Raum gefordert. Von Schwerin fragte, „ob Sie nicht einen andern Vorschlag an die hand geben könten, der Zu erreichung des Von Sr. Chfl. Dhl. Vorgesetzten Zwecks dienete“. Die Antwort ist nicht protokolliert, wird aber vermutlich ablehnend gewesen sein. Diese Begebenheit wurde nur im reformierten Protokoll (aaO., f. 468v) niedergeschrieben. Es ist davon auszugehen, dass die Protokollanten den Raum bei Verhandlungspausen ebenfalls verlassen mussten. Aus dem reformierten Protokoll ist zwar auch zu erfahren, worüber von Schwerin mit den Lutheranern gesprochen hat, jedoch einzig aus dem Grund, weil es „den Reformirten Von Ihrer Excell dem Fery Herrn Von Schwerin Vorgehalten worden“. Dies zeigt zweierlei: Zum einen machte sich beim Präsidium erste Anzeichen einer Ratlosigkeit bemerkbar, wie das kurfürstliche Ziel doch noch zu erreichen sei. Zum anderen zeigte die Kommunikation, dass sich das Präsidium zunehmend mit den Reformierten verbündete, so dass das Kolloquium seinen Schwerpunkt allmählich in dem Versuch bekam, die Berliner Lutheraner zu überzeugen, der mutua tolerantia zuzustimmen. 179 Ebd. 180 Wer die Thesen vorlas, bleibt unklar: Dem lutherischen Protokoll nach war es Vechner (aaO., f. 409v), dem reformierten Protokoll nach „proponirete H Stoschius 2 Theses“ (aaO., f. 469r). Wahrscheinlich wurden die Thesen von Stosch schriftlich aufgesetzt und dann durch Vechner verlesen. 181 Die Zitierung folgt nicht wie bei Beeskow dem lutherischen Protokoll (in diesem ist beispielsweise bei der zweiten These anstatt von Lehrern von „Prädigern“ die Rede), sondern, da es sich um reformierte Thesen handelt, dem reformierten Protokoll (aaO., f. 469r–469v). Dieses endet nach den genannten zwei Thesen.
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Die Berliner baten darum, erst bei der nächsten Zusammenkunft auf diese Thesen antworten zu müssen, was ebenso gestattet wurde wie die einwöchige Verschiebung jener Session. Am 20. November schrieb Fromm einen Brief182 an von Schwerin, in dem er deutlich machte, dass die Cöllner die Hauptdifferenzen zwischen Lutheranern und Reformierten in den „loca de gratia“ sähen. Da das Präsidium die Auseinandersetzungen darüber jedoch verschoben habe, bat Fromm, so lange den Sessionen fern bleiben zu dürfen, bis über die Gnadenlehre verhandelt werden würde. In der Folge nahm ausschließlich Fromm nicht mehr am Kolloquium teil. Dies ist umso bemerkenswerter, als er nicht nur Propst der Cöllner St. Petri-Kirche, sondern zudem geistlicher Konsistorialrat war.183 4.3.2.3 Die Voten der Berliner Lutheraner auf die zwei Thesen der Reformierten Im Anschluss an die neunte Session setzten sich die Berliner Lutheraner ausführlich mit den zwei Thesen der Reformierten auseinander. Lilius betonte in seinem Votum184 , dass es der Respekt vor der Obrigkeit erfordere, „in gebührlicher bescheidenheit, auffs glimpfflichste“ zu antworten. Der Propst war der Meinung, „das[s] die mündliche Nießung so mit dem Munde des Leibes geschieht auch über Natürl[iche] U. unempfindliche weise, solcher wichtig keit [sei], [. . .] das wer es weder glauben, noch lehren wolle, sondern dieser Lehr halßstarrig und bitter feindselig würde wiedersprechen, und biß an sein End Verneinen, Er sey was Er wolle, ein schweres urtheil zu gewarten hätte“.
Gerhardt urteilte in seinem neunteiligen lateinischen Votum185 differenzierter. Er ist darin der Meinung, dass das Bekenntnis der Lutheraner „Heterodoxam“ sei, dasjenige der Reformierten hingegen falsch. Die Heilsnotwendigkeit der „mündlichen Nießung“ habe ihren Grund in der Einsetzung durch Jesus Christus. 182 Vgl. aaO., f. 382r; eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/4, f. 2r; fast vollständig abgedruckt nach GKl Archiv bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 163. 183 Falsch ist die bis heute fast durchgängig in der Forschungsliteratur zu lesende Behauptung, „Zur X. Konferenz [. . .] erschien das Cöllnische Ministerium nicht mehr“ (Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 124). Nicolai war anwesend. Da in den Akten nichts Gegenteiliges vermerkt wurde, ist davon ausgehen, dass auch Buntebart weiterhin teilnahm. 184 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 497r–497v. 185 Vgl. aaO., f. 497v–499r; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 58–62.
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Gerhardt verbindet die Abendmahlslehre mit christologischen Aussagen der Zwei-Naturen-Lehre. Die manducatio oralis sei „ordinationem gloriosissimi nostri salvatoris clarissimo et certissimo ejus verbo fundatam et ad animarum nostrarum salutem directam [. . .] Pondus sane sibi contrahit oralis manducatio, partim ex autore et fundatore, qui est JESUS Christus θεάνϑρωπος [= durch unseren ehrenvollsten Heiland durch ein sehr klares und unzweifelhaftes Wort eingesetzt und zum Heil unserer Seelen gegeben worden {. . .} Das Gewicht der manducatio oralis ergibt sich durch seinen Urheber und Stifter, der ist Jesus Christus, der Gottmensch]“.
Brot und Wein seien nicht „vulgaris cibus, sed ipsum corpus filii Dei Jesu Christi [= gewöhnliche Speise, sondern der Körper von Gottes Sohn, Jesus Christus, selber]“. Die manducatio oralis sei daher eine notwendige Lehre für die „salus et beatitudo animarum nostrarum [= das Heil und die Glückseligkeit unserer Seelen]“. Gerhardt betont, dass die mündliche Nießung nichts zu tun habe mit „discerptionem, lacerationem, mesticationem, deglutitionem, digestionem et alia vulgaris ac naturalis manducationis accidentalia [= Zerstückelung, Zerfleischung, Kauen, Schlucken, Verdauung und anderen alltäglichen und natürlichen Nießung von unwesentlichen Eigenschaften]“. Er kritisiert, dass die mündliche Nießung in den drei märkischen Bekenntnissen negiert und von „Reformatis christianis in genere, et a Doctoribus in specie ignorantur, nescitur et non agnoscitur [= verleugnet, nicht verstanden und nicht anerkannt wird]“. Daher seien auch die Reformierten der Meinung, dass die mündliche Nießung keine große Bedeutung habe. Im Folgenden differenziert Gerhardt zwischen unwissentlicher „ignorantia“ und einer hartnäckigen „negatio“ trotz besseren Wissens. Wer sich so verhalte, den könnten die Lutheraner nicht „a damnationis reatu liberare [= von der Schuld der Verdammnis befreien]“. Unter den Brandenburger Reformierten gebe es jedoch „non pauci [. . .] quod non solum non agnoscant vel non credant, oralem manducationem, sed quod etiam ista non agnitio cum pertinaci [= nicht wenige, welche die mündliche Nießung nicht allein weder anerkennen noch glauben, sondern sogar dieses mit Beharrlichkeit nicht anerkennen]“. Im Folgenden erläutert Gerhardt, inwiefern das Verhalten reformierter Christen feindlich sei. Abschließend betont er noch einmal, dass die „oralis manducatio [. . .] tanti est momenti“ [= mündliche Nießung eine so große Bedeutung habe], dass ein Reformierter, der ihre Anerkennung beharrlich verweigere, verdammt sei. Im Nachlass Lubaths findet sich direkt hinter diesem Votum noch ein weiteres Votum186 Gerhardts, welches den Titel trägt „Circa lectionem hujus Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 499r–499v und den Abdruck im Anhang.
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Scripti occurrerunt Sequentia“ und das der Forschung bisher unbekannt war. Darin empfiehlt Gerhardt, die Wichtigkeit der Lehre mit Worten aus Luthers großem Katechismus zu begründen.187 Als Lutheraner „Leugnen wir nicht das Gott nur Viel ohne wißen schafft und Erkändnüß des heil. Abendmahls ni[cht] selig mache“. Es sei jedoch zu differenzieren: Das Alte Testament beweise, dass Menschen auch vor der Einsetzung des Abendmahls gerettet worden seien. Im Neuen Testament zeige sich, dass „Deum [. . .] postquam institutio [. . .] et Reformatos et alios Christianos Salvare [. . .] usu sacra coena [= Gott sowohl Reformierte als auch andere Christen rette, nachdem sie im Gebrauch des Abendmahls unterrichtet wurden]“. Gott rette „multos utentes Sacra coena [= viele derjenigen, die das Heiligen Abendmahl einnehmen]“, auch diejenigen, welche nichts von der mündlichen Nießung wüssten. Dies geschehe „ex multitudine miserationum Dei [= aus der großen Menge Mitgefühl Gottes]“, da Christus menschliche Ignoranz nicht anrechne. Zudem schlägt Gerhardt vor, einen weiteren lutherischen Syllogismos zunächst zurückzustellen „biß zur erklärung des gegentheils die sie auff diese schrifft thun werden“. Ansonsten könnten die Reformierten zunächst Beweise dafür fordern, „(1) daß in der Natur Ein mundliche eßen gegeben werde, (und zwar eines Leiblichen objecti, wie der Leib Christi ist) welche auff unempfindliche Weise geschehe (2) Das die Mundliche Niesung im heil. Abendmahl Vom H Christo gestifftet sey (3) Das die Mündliche Niesung zur Versiegelung Unsers Leibes und Seelen Seeligkeit gerichtet sey (4) Das die Mundliche Nießung ein Articuly fundamentalis und zur seligkeit sey“. Erst nach diesen Beweisen sei „die frage de vere fundamentaliby et ad salutem necessariis Articulis recht an[zu]gehen, wohin dieser beschluß commodissime sich schicken würde“.
Zudem würden die Reformierten gerne wissen wollen, „was vor ignorantiam oralii manducationis wir unser gegentheil tribuiren [= zugestehen]“. Gerhardts Voten zeichnen sich aus durch eine klare Struktur, innerhalb derer er auf alle Aussagen der Reformierten schrittweise eingeht. Auch wenn er es bei theologischen Andeutungen beläßt und einen Schwerpunkt auf terminologische Differenzierungen legt, ist sein Bemühen, die Ablehnung reformierter Lehrauffassungen theologisch zu begründen, im Vergleich zu den Voten seiner Pfarrkollegen bemerkenswert ausgeprägt. Lorentz stimmte Gerhardts Gedankengängen in einem kurzen Votum188 zu, bot aber keine wesentlich neuen Aspekte. Helwig189 rechtfertigte das letzte Antwortschreiben der Berliner. Da die zwei Thesen nicht von den Räten 187 Auffällig ist, dass Gerhardt nicht direkt aus Luthers großem Katechismus zitiert, sondern lediglich eine Paraphrasierung der Sätze zur Einsetzung des Abendmahls (vgl. BSLK 708,4) bietet. 188 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 499v. 189 Vgl. aaO., f. 500r–500v.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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befohlen worden seien, müssten sie auch nicht beantwortet werden. Auch er schlug vor, zunächst die manducatio oralis zu thematisieren: „weil de S. Coena der anfang sol gemacht werden, muß Ja ein Caput controversum [= Anfang der Auseinandersetzung]: nach den andern in specie vorgenommen werden, u. weil circa manducationem sacramentalem S. oralem der dissensu offenbahr genug ist würde von unß selbst zu Vermeidung Weitleuffiges erzwingens sententia Reformata, nichts fügliches zum anfang alß diese contro versia können vorgenommen werden“.
Er kritisierte, dass die Reformierten „nur darüber disputiren [. . . wollen,] ob die assertio d. mündliche Nießung der Wichtigkeit sey, ut illos Deus salvare nolit [= damit Gott jene nicht retten will]“. Die Reformierten „rechnen die Lehre nicht mit unter die ponderosa [= inhaltsschwere Lehren], sondern unter die non-ponderosa“. Helwig verstand die Aufnahme von Brot und Wein als „unempfindliche Nießung“. Dies begründete er durch die Einsetzung: „Christus hatt freylich das Sensualschmecken und empfinden nicht befohlen. So schmecken und empfinden wir ja auch n[icht] den Laib u[nd bluth] des Hn. Jesu. Daher den fleußt das es eine unempfindliche Nießung sey“. Aus den Voten ist ersichtlich, dass sich die Berliner darin einig waren, den Thesen der Reformierten keinesfalls zuzustimmen. Die Lehre von der manducatio oralis sahen die Lutheraner als ein konstitutives Element der Heilslehre an. Hier spiegelt sich die praktisch-theologische Intention der Berliner wider: Das Bekenntnis zu den systematischen Lehren der lutherischen Kirchen sei deswegen notwendig und wichtig, da es allein zur Seligkeit führe. Wer die manducatio oralis wissentlich ablehne, wie dies viele Reformierte unter anderem durch die Bindung an die drei märkischen Bekenntnisse täten, der könne nicht selig werden. Zu einer mutua tolerantia könne es nicht kommen, solange die Reformierten die Lehre von der manducatio oralis nicht anerkennen würden. Da alle Pfarrer in ihren Voten eindeutig die reformierten Thesen abgelehnt hatten, wurden diese zu einem Antwortschreiben kompiliert, welches bei der zehnten Session übergeben und bei der elften Session vorgetragen wurde. 4.3.2.4 Die zehnte Session Zu Beginn der zehnten Session190 am Freitag, dem 21. November 1662, fasste von Schwerin in seiner Eröffnungsrede die neunte Session zusammen und kündigte an, „das à Berol: eingegebene Schrifften u. der H Reformirten antwort, Vor dieses mahl Verlesen werden möge[n]“. Die Berliner wurden aber-
Vgl. das lutherische Protokoll aaO., f. 410r–411v; das reformierte Protokoll aaO., f. 469v–471r. 190
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mals ermahnt, „daß Sie hin führo alle weitleuffigkeit zu rück setzen mögen, auf das also Vorgesetzter Zweg möge erreicht werden“. Die Reformierten hatten eine Antwort auf die Berliner „Deduction-Schrift“ vom 7. November eingereicht, die jedoch nicht verlesen wurde.191 Zunächst informierte von Schwerin die Teilnehmer, „das der Propst auß Cölln eine Schrifft eingegeben, dz [=dass] weil er nebst sainen H Collegis seine Meinung biß auf den punct de gratia albereit declariret, Er biß dahin sejungiret [=getrennt] werden möchte. So haben auch die CHfl. Dhl. Räthe solches suchen vor billig ermeßen“192 . Nicolai betonte in einer schriftlich eingereichten Erklärung193 , dass er im Gegensatz zu seinen Cöllner Kollegen in den „Articulis de persona Christi et Sacra Coena“ einen „Errorum fundamentalum“ sehe und sich zukünftig „auff E. Ministerii zu berlin Seite erkläret“.194 Diese Schrift offenbarte den Misser191 Diese Schrift sei hier kurz betrachtet (vgl. den Originalentwurf in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/6, f. 1r–4v; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/3, f. 284r–287r [F2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 165–171 [XXIII].). Darin verdeutlichten die Reformierten, dass sie in der Gnadenlehre eher den drei Konfessionen als der Marburger Theologie folgen. Sie „loben noch mahls Rintelensium judiciosum et piam mansuetudinem, daß sie nach dem Exempel primitivae Ecclesiae und anderer Lutherischen Theologen erkennen und bekennen, dissensum in iis doctrinis non esse fundamentalem“. Die Berliner hingegen seien anders gesinnt, denn wenn sie „fundamentales errores in den 3. Confessionibus ersehen, so werden sie suo loco et tempore solches auß den selben zu erweisen es versuchen können“. Die Reformierten betonten, dass sie sich „in der Quaestion de pondere vom Synodo nicht trennen werden“. Sie hätten das Kolloquium angenommen, da sie „in unsern gewißen überzeüget wehren, daß die Lutherischen irrten“. Diese Äußerung ist bemerkenswert, da sie eine argumentative Parallele zu den Berliner Lutheranern und ihrem Verständnis vom Kolloquium aufzeigt. Die Reformierten fuhren fort, dass sie bestimmte Lehren der Lutheraner „1. vor irrig 2. für schädlich und 3. [. . .] vor verdammlich“ hielten. Im Folgenden formulierten sie zum Teil hämisch klingende Anschuldigungen: „Endlich weil die herrn Collocutores bekennen, was sie vorhin verneinet haben, daß gradus necessitatis inter dogmata sein, so haben wir ursache ihnen zu gratuliren de mutatione mentis in melius [= Änderung ihrer Gesinnung zum Besseren]: Und hoffen, sie werden auch ferner in tractatione speciali controversiarum noch mehr Licht erlangen und annehmen“. Nichts desto trotz „sind sie auch der meinung, daß man mit solchen Lutherischen Mutuam tolerantiam Ecclesiasticum gar wol stifften und üben können“. Ob dies jedoch möglich sei, hänge vor allem an den Berlinern. Denn die Reformierten ersuchten alles „ad Schisma vel tollendum vel mitigandum“, die Berliner „hingegen wollen das Schisma continuiret und suchen alles operosè herfür, was zur Trennung dienlich“. Die Reformierten hatten deswegen herausgestellt, „penes quem culpa Schismatis sit, bey wem die schult der trennung stehe“. 192 GKl Archiv XII/90/3, f. 410r. 193 Vgl. aaO., f. 382r–382v; eine Abschrift befindet sich auch in GKl Archiv XII/90/1, f. 54r; abgedruckt nach GKl Archiv XII/90/3 bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 164. 194 Als von Schwerin nachfragte, ob Nicolai jene Schriften, in der sich die Cöllner trotz theologischer Differenzen für eine Toleranz aussprachen, nicht mehr unterschrei-
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folg der bisherigen Verhandlungsstrategie des Präsidiums: Anstatt die Lutheraner zu einer Toleranz bewegen zu können, hatte sich nun ein ehemals Toleranzwilliger unter dem Eindruck des bisherigen Verlaufs des Kolloquiums zu einem Gegner der Toleranz entwickelt. Durch die sich anschließende Verlesung der verschiedenen Schriften195 trat die Frage nach dem Rintelnschen Vorschlag in den Hintergrund, die Abendmahlslehre hingegen wieder in den Vordergrund. Zunächst verlas Pape das ben würde, bestätigte er dies. Von Schwerin reagierte verärgert und betonte, dass er „mit solchen Leuten nicht zu thun haben [möchte], so heut was unterschrieben, morgen aber revociren“. 195 Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, welche Schriften nun verlesen wurden. Im lutherischen Protokoll heißt es dazu: „Hier auff Verlaß Herr Pape Minist: Berol: Schrift, und H vechner Reformatorum H Collocutorum antwort. Nahmahls Verlaß H Pape eine Schrifft so Berol: am 24: 8br übergeben, u. damahlen nicht verlesen worden worauff wiederumb Reformatorum antwort Vom Hn vechner Verlesen wurde, und | wurden hierauff abermahl der berlinischen Schrifften den 20 9br über geben, verlesen“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 410r–410v). Im reformierten Protokoll heißt es: „Hierauff wurden die Schrifften der Lutherischen Verlesen, und der Reformirten drauff abgefaste beantwortung“ (aaO., f. 470r). Aus der inneren Kohärenz der Schriften lässt sich jedoch die vermutliche Reihenfolge der Verlesung erschließen: Zunächst wurde das Berliner Schreiben vom 24. Oktober verlesen, dann die reformierte Antwort vom 6. November, daraufhin ein Berliner Schreiben, das am 7. November übergeben wurde, und schließlich die darauf folgende reformierte Antwort. Es ist nicht ersichtlich, welche Schrift der Protokollant der Lutheraner mit den „berlinischen Schrifften den 20 9br über geben“ meint. In den Nachlassbänden oder an anderen Orten ließen sich keine in Frage kommenden Schriften feststellen. ME. liegt hier ein Fehler im lutherischen Protokoll vor. Gemeint war wahrscheinlich das Antwortschreiben der Berliner auf die zwei reformierten Thesen, welches zwar übergeben, jedoch erst in der elften Session verlesen wurde (s. u.). Für diese Annahme spricht auch, dass im reformierten Protokoll die Verlesung einer weiteren Berliner Schrift nicht erwähnt wird. Die heutige Nachvollziehung der Abfolge der Verlesung ist auch deswegen schwer, da Beeskow die beiden Schriften der Lutheraner und der Reformierten je in einem Abschnitt transkribiert hat, ohne sie getrennt zu nummerieren (auch die beiden reformierten Schreiben, auf die sich die Schriften beziehen, hat Beeskow entgegen der getrennten Nummerierung in GKl Archiv XII/90/3 unter einer Ziffer abgedruckt, vgl. dazu 4.3.1.5). Dadurch scheint es aber, als seien die beiden Teile direkt hintereinander verlesen worden. Dies stellt wiederum nicht nur inhaltlich eine Verfälschung dar, sondern lässt es auf Grund der Textmenge und der unterschiedlichen Argumente fast unmöglich erscheinen, den Argumentationszusammenhang der einzelnen Beantwortungen nachzuvollziehen. Zudem geht aus dem Anfang des lutherischen Protokolls eindeutig hervor, dass die Behauptung Beeskows („Der X. Konferenz lagen wiederum eine ganze Reihe von eingereichten Schriften vor, die zur Verlesung kamen [s. Anlagen XXIII und XXIV]“ [Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 125]) falsch ist. Die Anlage XXIII bezeichnet bei Beeskow die Antwort der Reformierten auf die Berliner „Deduction-Schrift“ vom 7. November, deren Verlesung in dieser Session jedoch ausdrücklich verschoben wurde (s. o.). Auch das Schreiben, welches Beeskow als „Anlage XXIV“ bezeichnet, wurde erst auf der elften Session verlesen (s. u.).
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während der achten Session am 24. Oktober zunächst zurückgestellte Schreiben196 , mit welchem die Berliner die reformierte Schrift vom 10. Oktober beantwortet hatten. In ihrer Schrift wiesen die Pfarrer die Vorwürfe zurück, sie hätten nicht „directe et formaliter“ geantwortet und betonten, dass ihre Antwort „der directae oppositioni nicht entgegen sey“. Zentrales Element der Schrift ist die Widerlegung der reformierten Thesen: „1ma Dominorum Reformatorum: Es ist nichts in den Confessionibus reformatorum enthalten, ümb welches willen der so es lehret judicio divino verdammet sey. Antithesis Ministerii Berolinensis ad 1mam Thesin: Darumb so ist die Lehre welche von etlichen Reformirten Lehrern nach diesen 3. Confessionibus in gewißen puncten geführte wird, schuldig deß göttlichen gerichts, und in denselben auch verdamlich und verwerfflich. Der Herrn Reformirten Collocutorn Thesis bleibt diese: Es ist nichts enthalten etc. Unser Antithesis ist directe: Es ist etwas enthalten p. sensu plane aequipollenti materialiter: nemlich: also ist etwas darinnen enthalten, das eine Lehre drinn enthalten ist oder nach diesen 3. Confessionibus in gewißen puncten geführet wird, welche schuldig ist deß göttlichen gerichts und in denselben auch verdammlich und verwerfflich“.
Im Folgenden erläuterten die Berliner ausführlich, warum ihre Thesen nicht wörtlich die Eingangsfragen aufgenommen hatten. Diese, durch die ausführlichen Vorwürfe gegen die Berliner in der reformierten Schrift vom 10. Oktober bedingte, lange Erklärung beinhaltete hauptsächlich semantische Feinheiten, brachte keinen Fortschritt und zog die Session in die Länge. Trotz einiger sprachlicher Änderungen wiederholten die Berliner ihre bisherige Meinung, dass ihre Antworten „denen fürgelegten Quaestionybus oder Thesibus nicht direct entgegen lauffen“. Wiederum gaben sie ihrer Hoffnung Ausdruck, dass die Reformierten durch die Lutheraner zur rechten Lehre bekehrt werden könnten. Als nächstes wurde die Antwort der Reformierten197 verlesen. Die langatmige Schrift zeichnet sich durch verschiedene Beschuldigungen aus. Die Reformierten warfen den Lutheranern vor, dass „die jüngsten limitationes“ so beschaffen seien, „das sie ohne der Reformirten unglimpff und nachtheil nicht können admittiret werden“. Ferner äußerten sie sich ausführlich zu vermeintlichen formalen und methodischen Fehlern der Berliner und kamen zu dem Schluss, „das der herrn Berolinensium erster Syllogismus gar ein anders Subjectum und praedicatum habe, alß die Erste Thesis der Reformirten, alß ist 196 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 246v–252v [W]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 108–122. Vgl. zur Abfassung dieser Schrift 4.3.1.6. 197 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 278r–281r [D2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 150–156.
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leichtlich zu erachten, das die versuchte oppositio noch keines weges formalis sey, sondern noch etwas anders müße eingerichtet werden“. Daher solle „daßelbe außen gelaßen werde[n], was den reformirten zum unglimpff gereichen könnte, und worüber man sich noch nicht vertragen hat“. Trotz der Zurückweisung zu formalisierter Argumentation der Berliner waren sich die Reformierten sicher, deren Argumentation aus formalen Gründen als unwahr erweisen zu können. Anschließend ließen die Berliner ihre zweite Schrift198 vorlesen, in der sie auf die reformierte Schrift antworteten. Darin begründeten sie, unter Aufnahme von Gerhardts Votum, ihre Verdammung der reformierten Lehren biblisch und definierten dann einzelne Wendungen ihres Syllogismos.199 Außer Zweifel stand für die Berliner, „das alle und jede Menschen die da wollen Selig werden, nicht nur erkendniß des einfältigen glaubens haben, sondern auch, insonderheit, nach gnugsam treuen unterricht die erkäntniß eines starkern und wachsenden glaubens nicht vorsetzlich und beharrlich verneinen müßen“. Mehrfach wiederholten sie ihren Hauptsyllogismos: „Alle und jede Lehre, welche wieder Gottes geoffenbahrtes wort also gerichtet ist, daß durch dieselbige mitt bestendigem Vorsatz ihm wiedersprochen wird, dieselbige ist schuldig des göttlichen gerichts und nach dem selben verdammlich und verwerfflich“.
Abschließend betonten die Berliner ihre „unümbwerffliche Maxim: Quicquid Deus in verbo suo manifestato dicit, illud est verum, et summa veritas. [. . .] Quicquid verbo Dei manifestato contradicit, illud est falsum, illud est peccatum, illud est in se damnabile [= Alles, was Gott durch sein offenbartes Wort sagt, das ist wahr und die Summe der Wahrheit. {. . .} Alles, was Gottes offenbartem Wort widerspricht, das ist falsch, das ist Sünde, das ist in sich verdammlich]“. Zudem zeige sich ihr Glauben „bey denen Scriptis so von unsern glaubens genoßen D. Huttero, D. Meisnero und D. Gerhard gestellet“.
198 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 252r–258v [X]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 123–136 [XVIII Lit. B]. Eine Vorlage zu dieser Schrift mit vielen Verbesserungen von unterschiedlichen Händen befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/3, fol 1r–8r. Vgl. zur Abfassung dieser Schrift und Gerhardts maßgeblicher Rolle dabei 4.3.1.6. 199 Unter „beständigem Vorsatz“ verstanden sie eine „Lehre, die einen nicht wieder seinen willen entfehret, sondern die Er vorherr reifflich bey sich bedacht und überlegt hatt, wil sich auch nicht davon abweisen laßen“. Wenn daher jemand mit „beständigem Vorsatz [. . .] dem worte Gottes wiederspricht, des gerechten gerichtes Gottes schuldig sey“. Daher „wird daß des gerichts Gottes schüldig und an sich selbst verdammlich sein, was da geschieht conscientia repugnante [= im Widerspruch zur Überzeugung], [. . .] So auch der Error Intellectus vor Gott eine große und ansich selbst verdammliche Sünde ist, wieder die warheit seines göttlichen worts [. . .] wie viel mehr wird der Error Voluntatis und beständiger Vorsatz, darinn sich der Mensch vor weise helt“.
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In der dann folgenden Verlesung der Antwort der Reformierten 200 auf die Berliner Schrift fanden sich wiederum fast ausschließlich Zurückweisungen der lutherischen Vorwürfe und neuerliche Angriffe: „daß die herren Collocutores anstat einer directen antwort auff distinctione Majoris so viel vergebliche worte machen, und unß fälschlich beschuldigen, wir hetten freude den Majorem gantz zu enerviren [= entkräften], Falsum est“. Die Lutheraner würden versuchen, die Reformierten „mit weitläuffigkeit zu ermüden, damit nicht zur sache gestritten werden“. Über diese Vorwürfe hinaus wurden keine neuen theologischen Argumente im reformierten Schreiben genannt. Die Verlesung dieser vier ausführlichen Schriften war vermutlich recht ermüdend. Es muss bezweifelt werden, dass durch ihre Verlesung und ihre Inhalte ein Fortschritt beim Kolloquium erreicht werden konnte. Nach der Verlesung der letzten reformierten Schrift versprach Lilius, künftig kürzer zu antworten. Des Weiteren erbat er die eingereichten Schriften der Reformierten zur Einsicht und übergab die Berliner Antwort auf die reformierten Thesen. Auf Bitten Stoschs hin bestimmte von Schwerin, dass die Schrift erst verlesen werde, wenn auch die Reformierten ihre Antwort darauf vervollständigt hätten.201 Anschließend erläuterte von Schwerin in seiner Abschlussrede zum wiederholten Male den auf der achten Session unterbreiteten Vorschlag, dass sich die Reformierten und Lutheraner „ad exemplum Rintelensium gleicher gestalt de pondere erklähren wolten“, und bat die Berliner eindringlich, auf den Vorschlag des Präsidiums einzugehen.202 Des weiteren bemängelte er, dass sowohl die Schriften der Lutheraner als auch die der Reformierten unnötig lang seien und vieles thematisiert werde, was nicht dem 200 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 281v–283v; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 37–43; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 157–162. Der erste Entwurf für dieses Schreiben befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/6, f. 50r–52v. 201 Beide Schriften wurden erst während der elften Session verlesen. 202 Von Schwerin wiederholte, dass hinter dem Vorschlag weder die Absicht einer Übereinstimmung in der Lehre noch die Bindung an die Form des Kasseler Kolloquiums lag. Es sei „im übrigen Hn Räthe intention diese gewesen, das weil die controversia inter Reformatos et Lutheranos allbereit bekannt, das es nicht nötig mit dero ventilation, die zeit zubringen, Sondern S. Chfl. Dhl. | intention Zu erreichen, es beßer währe, das beyde teile sich erböten, stantiby controversiis mutuam fraternitatem (Es ist davon auszugehen, dass von Schwerin den Begriff „fraternitatem“ [der nur an dieser Stelle auftaucht] als Synonym für „tolerantiam“ benutzt hat. Möglicherweise wollte er die Kollokutoren durch die Erinnerung an den christlichen Bruderschaftgedanken zu einer Mäßigung in den gegenseitigen Anschuldigungen bewegen. Zusätzliche theologische Implikationen sind nicht enthalten.) ein zu gehen, und dieses ist ümb desto mehr Von den Hn Räten geschehen, weil sie Verspüret, und erfahren, das so balt diese conferentz angegangen, solches in und außerhalb Landes desideriret worden. Wie deß falß Von Vielen Vornehmen Leuten, ein gesante Schreiben könten Vorgeleget werden“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 410v–411r).
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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Zweck des Kolloquiums diene. Er bestimmte, dass die Reformierten die Schrift der Berliner durchlesen dürften. Sowohl die Berliner Schrift als auch die reformierte Antwort sollten dann bei der nächsten Session verlesen werden.203 Die Lutheraner bestanden auch nach den Sessionen auf der Beantwortung all ihrer Schriften. Stosch entschuldigte sich in einem kurzen Brief dafür, dass die Reformierten noch nicht auf die letzte Berliner Schrift geantwortet hatten.204 Auch aus einem weiteren Brief an von Schwerin 205 wird deutlich, dass Nach dieser Schlussrede forderten die Berliner vehement, die reformierten Schriften überreicht zu bekommen, da die „Berolinenses sein zwar sehr u. hefftig darin angegriffen“. Dies wies jedoch von Schwerin zurück und betonte abschließend: „Wenn etwas in gedachten Schrifften enthalten, so Lutheranis fälschlich auff gebürdet werden wolte, solte es geschehen, nun aber würde nichts darin gefunden“. 204 Da dieser Brief der Forschung bisher unbekannt war, folgt er hier im vollen Wortlaut: „Schriftlich Antwort Herrn Stochij auf das Berlinischen Ministerij mündlich Erinnerung durch den Küster zu St. Nicolai geschehen, wegen auß antwortung der am 21 Nov. verlesenen aber nicht extradirten Schriften. An Ein Ehrwürdiges Ministerium zu Berlin. gebe ich cum praefatione salutis et honoris auff ihr begehren zur antwort. Das wir Reformirten Coloqvutores unsere letzte Schriften also nach dem Trieb des gewißens und pro subjecta materia vernainet verfaßet zu haben, daß sie vormahl eins coram facie totiy Ecclesia könten gelesen werden. Weil doch aber die (Salvo titulo) Hn Churfl. Consiliarij es für rathsam erkennet, das sie nicht extradiret werden, damit desto eher ad Specialem discussionem controversiarum nostrarum geschritten werde: haben wir reformati dabey geruhet, und müßen auch noch beruhen. Unterdeßen bleiben wir Eines Ehrw. Minist. Treuwillige diener B. Stosch“ (aaO., f. 268r.). 205 Die Berliner schickten den Brief nach Spandau, wo sich von Schwerin aufhielt (zu den Aufgaben von Schwerins gehörte es unter anderem, die Kurprinzen auf ihren Reisen nach Spandau zu begleiten [Vgl. dazu beispielsweise das Protokoll des Geheimen Rates vom 20. April 1663, abgedruckt in Meinardus: Protokolle VI, 920].). Da dieser Brief der Forschung bisher unbekannt war, folgt er hier im vollen Wortlaut: An den Herrn Von Schwerin nahe Spandow. Hochwürdiger hochwolgebohrener Feryherr, Gnädiger HERR E. Hochwürden Und Gnaden, Unsern unterthänigen getreuen gehorsam wunsch und gebeth zu vorn, das wir unß unterwinden, E. hochw. und Gn. in dero hohen Vorsorge, so sie an itzo vor die gnädigste Churfürstl. junge herrschafft tragen, :/ alß wir auch dazu den Segen Gottes, und deßen gnädigste bewahrung vor allem unfall an allen orten, zu gleich inniglich anwünschen :/ hiermit gleichsam zu ver unruhigen, Solches geschieht auß der demütigen zu versicht, welche Zu E. hochw. und Gn. wir beständiglich tragen, und hiedurch die selbe unterthänig ersuchen, daß sie gnädig geruhen wollen diese Verordnung an den Herrn Schardius ergehen zu laßen, damit die in letzter conferentz von saiten der Reformirten herrn collocutorn verlesenen Schrifften :/ noch dem ein und daß ander werck würdiges Stück zu unser nachricht darinn ent halten, und die wichtigkait der Sache an sich selbst 203
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die Berliner akribisch versuchten, die einzelnen Schriften des Kolloquiums zu sammeln und aufzubewahren. Wie aus verschiedenen Bemerkungen in den Voten hervorgeht, wollten sich die Geistlichen rechtfertigen können, falls ihnen von anderen Lutheranern später der Vorwurf gemacht werden würde, dass sie für die Einführung eines Synkretismus in Brandenburg verantwortlich seien.206 Des Weiteren wollten sie die Äußerungen der Reformierten genau dokumentieren, um deren Fehler jenen, die aufgrund des Geheimhaltungsgebots nicht an dem Kolloquium teilnehmen konnten, beweisen zu können. Schließlich war diese Dokumentationsakribie typisch für das allgemeine Ordnungsstreben der Epoche. 207 Im Jahr 1662 fanden keine weiteren Sessionen statt. Die Gründe für die lange Sessionspause bis zum Januar 1663 sind nicht bekannt.208 4.3.2.5 Die elfte Session Zu Beginn der elften Session 209 am Freitag, dem 16. Januar 1663, tauschten das Präsidium und die Kollokutoren zunächst ausgiebig Neujahrswünsche aus.210 zu desto beßerer durchsehung es erfordert /: unß förderlichst in abschrifft auß geantwortet werden mügen. Wir werdens alß eine gnädige genehmhaltung der billigkait ümb E. hochw. und Gn. mit aller unterthänigen Danckbarkait erkennen Und wie ohne dem E. hochw. Und Gn. sonderbahre Leutseligkait und hülde wir ein großes jederzait tribuiren, also auch deßhalb in sonderhait verbleiben, E. Gnaden Getrewe Fürbitter U. unterthänige diener Propst U. sämptliche Prediger in Berlin. Berlin, den 2. Decembr. 1662“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 268r–268v). 206 Tatsächlich musste sich Gerhardt zu einem späteren Zeitpunkt des Kirchenstreits wegen dieser Vorwürfe rechtfertigen, vgl. 5.1.5. 207 Vgl. dazu Münch: Jahrhundert des Zwiespalts, 67 f. 208 Hering: Neue Beiträge II, 144 f. nimmt an: „Die Feiertage, welche im DecemberMonathe einfielen, waren Ursache, daß man diesen ganzen Monath aussetzte, und erst am 16. Januar 1663. wieder zusammen kam“. Diese Begründung ist jedoch mE. wenig überzeugend, denn schließlich wurden auch in der Kar- und Osterzeit nicht weniger Sessionen abgehalten. An den möglichen Verhandlungstagen selber lagen zudem keine Feiertage, vgl. N. Schmidt: Alter und Neuer Zeit Schreib-Calender auff das Jahr nach der Geburt Christi M DC LXIII [. . .], Nürnberg 1662 (GKl 4908/4–5). 209 Vgl. das lutherische Protokoll in GKl Archiv XII/90/3, f. 411v–413r; das reformierte Protokoll aaO. f. 471r–472r. Die Session war keineswegs lediglich „dadurch bestimmt, daß sich alle Beteiligten für das neue Jahr alles Gute wünschten“, wie in Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 126 behauptet wird. Von der Verlesung der lutherischen Schrift berichtet Beeskow beispielsweise nicht. 210 Von Schwerin gab dann in der Eingangsrede seiner Hoffnung Ausdruck, „das Ihnen [= den Kollokutoren] Gott ferner saine Gnade Verleihen wolle [. . .] daß der Hr. Christ Sie erleuchten wolle, u. friedsame gedancken geben, damit in der Kirchen Christi Friede und Einigkeit gestifftet werden möge. Wir wollen auch den lieben Gott demüthigst an ruffen, das er unß gnädigst erhören wolle“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 412r). Bemerkenswert ist die Tendenz, dass von Schwerin in seinen Eingangsreden zunehmend
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Dann bat Lilius zum wiederholten Male um die letzte reformierte Schrift und übergab mit dieser Bitte ein Memorial 211 an von Schwerin. Danach verlas Pape jenes Schreiben 212 , welches die Berliner bereits zu Beginn der letzten Session eingereicht hatten. In dieser Stellungnahme zu den reformierten Abendmahlsthesen, welche Vechner während der neunten Session vorgetragen hatte, begrüßten die Berliner zunächst, dass „nun solcher zweck des friedens Christi auch bey diesen beiden Thesibus hafften, und zwischen unß und denen herrn collocutoren eine Gott wolgefällige Einigkeit gestiftet werden sol“. Da jedoch beiden Thesen „1. Cognito veri, oder die Erkändniß der warheit 2. Consenses in vero, oder die Übereinstimmung in der erkanten warheit [. . .] ermangeln“, könne durch sie keine Einigkeit gestiftet werden. gebetsartige Formulierungen aufnahm. Stosch und Lilius erwiderten die Wünsche und zeigten sich irenisch gesinnt. Typisch für die Argumentationsweise der Lutheraner berief sich Lilius dabei auf sein Gewissen. Er hoffte, „das ein Jeder in diesen Colloqo also Ver fahren u. thun wolle, wie er es vor Gott und in seinem gewißen Verantworten könne, dz unß Gott allberaits, bey der warhait und friede erhalten und diese Conferentz amicabel sain laßen wolle“ (ebd.). 211 Auf die letzte Bitte der Lutheraner hin hatten Stosch und von Schwerin anscheinend nicht reagiert. Daher richteten die Berliner noch einmal am 16. Januar ein offizielles Gesuch an das Präsidium, eine Abschrift der reformierten Schrift vom 21. November erhalten zu können: „Memorial an die Chfl. herrn Commissarios, eingereicht bey reassumirung des Colloquij. Churfürstl. Brandenb. hoch ansehnlich herr Ober Prasident, wie auch herrn gehaimte cammergerichts und Consistorial-Räthe, [. . .] Und erschainen für dero hochansehnlichen Confess. mit gegen wertigen unterthänigen und unterdienstlichen memorial, getrewlichst bittende, weil im abgewichenen Jahre einige Schrifften so die herrn Collocutores Reformati zwar in de letzten Session am XXI Novembr. verlesen, aber unß noch nicht auf unser mehrmaliges ansuchen in abschrifft außreichen laßen, Unß noch biß diese Stunde zurück sind; E. hochw. und Excell. wollten geruhen diese gnädige und groß günstige Verordnung zu thun, das die selbigen in gesampt unß förderlichst auß gestellet werden, damit die Acta auch auf unserer Saite ihre integrität erlangen, wir aber, was zu abstatung einiges notwendigen Gegenberichts noch dabey nötig, und worinnen etwa die herrn collocutores unsere eigentliche meinung nicht zu ihrer gnüge erreicht, mit allen getreuen glimpff und geistschuldigster beschaidenhait [. . .] für E. hochw. und Excelltz ohne auff haltende weitleuf- figkaiten ablegen möge. Wir erkennen solches mit allem getreuen danck, und werden jeder zeit erfunden. E. hochw. und Excellentz Getreue Fürbitter und Unterthänige gehorsame diener. Berlin den 16 Januar. 1663 Georg. Lilius m.s., E. S. Reinhart mp, M. Martin Lubath m.s:, Pauly Gerhardt, M. Samuel Lorentz ms:, Jacoby Helwigius m.s.“ (aaO., f. 269r). 212 Vgl. aaO., f. 264v–267v; eine weitere Abschrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/3, f. 17r–21v; fast vollständig abgedruckt nach GKl Archiv bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 172–179 (Er ordnet die Schrift jedoch fälschlich der zehnten Session zu, vgl. Kirchenpolitik, Bd. 1, 125.).
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Die Reformierten gäben zu, dass „die Lehre von dem mündlichen jedoch übernatürlichen und unempfindlichen Eßen und trincken des Leibes und blutes Christi im Abendmahl [. . .] in denen 3. Confessionibus verneinet“ werde. Daher bedauerten die Berliner, „das[s] die herrn Collocutores also fort ipsum verum vel ipsam veritatem hujus Doctrinae [= eigene Wahrheit oder eigene Wahrhaftigkeit dieses Lehrstücks] verneinen [. . .] und also zugleich 2. beständig damit unß verweigern die hoffnung ihres consensus bey der Lehre von der mündlichen genießung“. Terminologisch sahen die Lutheraner lediglich geringe Differenzen zu den Reformierten darin, „daß das mündliche Eßen und trincken des leibes und blutes Christi im Abendmahl werde ein übernatürliches Eßen und trincken genant“, unterschieden jedoch zwischen dem instrumentum und dem modus: „das wort mündlich determiniert bey unß nichts mehr alß das instrumentum quo in adendo et bibendo arcipitur [= wodurch essend und trinkend aufgenommen wird] corpus et Sanguis Christi und also eben dasselbige Instrumentum, quo ipse panis accipitur [= wodurch das Brot selbst aufgenommen wird] et ipsum vinum. [. . .] Das wort Übernatürlich aber gehet schon bey unß auff den modum, auf die art und weise der genießung von welchem wir gerne geständig sein, daß er selbige über unser wißen und verstehen ist“.
Dem reformierten Vorwurf, dass die Lutheraner „gar Sacraphagiam oder ein Capernaitisches Fleich eßen zu mehrmahlen bey gemeßen“, entgegneten die Lutheraner: „Es ist unß auch ümbs leibliche sensuale oder empfindliche schmecken, kauen, und dergleichen nicht zu thun bey dem leibe und blute Christi, ja von diesem unsern heiland unß auch deßhalb nichts befohlen“. Die Lutheraner verwahrten sich nicht gegen Gedanken, dass ‚mündliches‘ und ‚übernatürliches‘ Essen nicht zusammen passen würden: „Was mit dem Munde empfangen wird, daßelbe kann nicht auff unempfindliche art und weiße genoßen werden. [. . .] Dann solches vollends auch gar wieder die geistliche genießung des leibes und blutes Christi auff Seiten der herrn Reformirten streiten würde“. 213 Gott mache auch viele Reformierte und solche Menschen selig, die kein genaues Wissen um die Bedeutung des Heiligen Abendmahls hätten. In deren Essen und Trinken sei kein Gericht, sondern zeige sich die Barmherzigkeit
Auch dieses Schreiben macht deutlich, wie terminologisch genau die Berliner Lutheraner argumentierten. Im weiteren Verlauf finden exakte Unterscheidungen zwischen Teilen der reformierten Christen, Predigern und allen Menschen statt. Ebenso werden die Begriffe „ohn wißenschaft“, „in unwißenheit“, „ignorantia pura nuda“ oder „Vorsetzlichkeit“ bzw. „ignorantia affectata, pertinacio imo et hostili“ unterschieden. Diese Differenzierungen ergeben jedoch keine weiteren Folgen für das theologische Verständnis. 213
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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und Sündenvergebung Gottes. Diese Auffassung drückten die Berliner in folgenden Syllogismen aus: „Die Lehre von dem mündlichen, jedoch übernatürlichen Eßen und trincken deß Leibes und blutes Christi im Abendmahl, welche in den 3. Confessionibus verneinet wird, ist von solcher wichtigkeit, daß ohne derer wißenschaft Gott keinen Reformirten Christen :/welcher nehmlich solcher wißenschaft und Glaubens erkändniß mit beharrlicher Verneinung biß in den tod nach gnugsamen trauen unterricht wiederstreben/: will selig machen. II. Die Lehre von dem mündlichen, jedoch übernatürlichen und unempfindlichen Eßen und trincken des Leibes und blutes Christi im Abendmahl, welche in den 3. Confessionibus verneinet wird, ist von solcher wichtigkeit, daß ohne derer erkändniß und bekändniß Gott keinen Reformirten Prediger (welcher nehmlich solcher Erkändniß und Bekändniß mit beharrlicher Verneinung biß in den todt nach gnugsamen trauen bericht wiederstrebet) will selig machen“.
Anschließend verlas Vechner die Antwort 214 , welche die Reformierten am 26. November hatten ad acta legen lassen. Darin warfen sie den Berlinern vor, „daß Sie inter consensionem plenam in omnibus veritatibus et mutuam tolerantiam dissentium in quibusdam doctrinis et consentientium in fundamentalibus nicht distinguiren [= dass sie nicht unterscheiden zwischen vollständiger Einigkeit in der gesamten Wahrheit und gegenseitiger Toleranz, Uneinigkeit in gewissen Lehrpunkten und Einigkeit in den fundamentalen Lehren], und naturam tolerantiae [. . .] nicht betrachten“.
Die Reformierten waren überzeugt, „daß opinio de Orali manducatione corporis nicht allein von solcher wichtigkeit sey, daß ohne deren wißenschafft Gott keinen p. sondern daß Sie auch unß keinen Grund quoad veritatem auß Gottes wort von der selben werden zeigen können“, und widersprachen damit den Lutheranern. Sie äußerten den Verdacht, dass der Grund für deren theologisches Verständnis nicht in der Offenbarung Gottes, sondern in der menschlichen Vernunft liege. 215 Theologisch relevant könnten letztendlich nur die Einsetzungsworte Jesu sein. Die Reformierten waren der Meinung, „daß viel 1000 menschen ohne wißenschafft und erkändniß des heil. Abendmahlß, ja auch des darinne gegründeten geistlichen Eßen selig werden“. Die Berliner könnten nicht erweisen, dass ihr Verständnis des Abendmahls zur Seligkeit notwendig sei, „das Sie
214 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 269v–270v [B2]; ein Entwurf befindet sich in SBBPK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/8, f. 18r–19v; abgedruckt nach GKl bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 180–183 [XXV]. 215 Sie schrieben: „Was die herrn Collocutores von dem wörtlein Mündlich, übernatürlich, unempfindlich, gloßiren, wird sich künfftig befinden, ob solche deutungen auß der offenbahrung Gottes, oder auß der Menschlichen Vernunfft herrühren, und obs so leichte auß dem eigendlichen Verstand der worte der einsetzung wird zu erweisen sein“.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
also zugeben, das ohne derselben wißenschafft sehr viel menschen actu ipso selig werden“. Von Schwerin ordnete eine Beratungspause an 216 und befahl in seinem anschließenden Schlusswort, dass die Berliner bis zum nächsten Mittwoch eine schriftliche Antwort auf die zuletzt verlesene reformierte Schrift einreichen sollten.217 216 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 412v. Beim Verlassen des Raumes übergab Nicolai ein Schreiben, in dem er darum bat, künftig gemeinsam mit den Berliner Lutheranern antworten zu dürfen: „Churf. Brandenb zur freundlichen Religionsconferentz Deputirte Herrn Ober-Prasident, Geheime, Cammer-Gerichts, und Consistorial-Räthe, Gnadige, Hoch geEhrte Herrn. Es werden E. Gn. Excell. und Herrl., nechst bewünschung eines glückseligen, gesunden, hoch- und wolgesegneten, fried- und freundenreichen Neuen Jahres, Beywohnung göttl. Gnade, und kräfftigen beystandes des H. Geistes der ein Geist der weißhait und des Verstandes, deß raths und der Stärcke, deß erkänd nüßes und der Furcht des Herrn ist, zu dero auch Vertraueten hohen und Schweren Ämptern, sich Verhoffendlich annoch gnädig und großgünstig errinnere, was maßen es ihnen am 21. Nov. Verfloßenen Jahres kurtz vor unsere Dimission gnädig und großgünstig gefallen habe, mich über meine gemeldten Tages eingegebene schrifft | à part zu hören, und mir dabey zwar ihre große Bestürtzung ob eingegebener schrifft, meine Vorige Subscription, dero entziehung Von angestelter Conferentz bey so gestalten Sachen, und ehesten Bericht an Sr. Chrfl. Dhl. ernstlich Vorgehalten Jedoch aber auch zu gleich mich gnädig und freundlich ermahnet haben, Von letzter Meinung abzu stehen, und bey Voriger es bewenden laßen. Weil ich nun damahle wegen später abend Zeit meine mündliche Antwort kurtz gefaßet, in deßen aber E. Gn. Excell. und Herrl, geschehenes ansinnen mit meinem gewißen bester maßen zu überlegen, und darauff eine schrifftliche antwort ein zu schicken Verhaißen, und ümb gnädige auffnehmung der selbigen gebäthen habe, Solches bitte auch gnädig und groß gönstig geruhet werden, Alß habe ich meiner Damahligen Zusage, mitt gegen wertiger schrifft anitzo ein genügen thun, und E. Gn. Excell. und Herrl. treulich berichten wollen, was gestalt ich mein gewißen fleißigst examiniret habe, ob es Vorgeschlagene Condition ohne Verletzung eingehen könnte, aber aller Ohne Verfang. Nach dem nun daßelbige auf keinerley weiße dahin zu bereden ist, sondern mehr Viel mehr Vorhelt: Sit vulnus, quod cunqs fit, tum modo Conscientia, So bitte ich, E. Gn. Excell. und Herrl. werden hierbey aequiesciren, und mir gnädig und großgönstig Vergönnen, meine gemuths-Meinung in denen strittigen Articuln bey künfftiger, Conferentz conjunctim mit E. E. Ministerio zu Berlin abzu legen. Dieses, wie es zu desto neherer Befriedigung meines Gewißens gerichtet, also wil ich es mit allen unterthänigen geträwen diensten zu verschulden mir Jeder Zeit höchst angelegen sein laßen, verbl. E. Gn. Excell. und Herrl. beständiger Fürbitter und unterthäniger gehorsamer Diener Christiany Nicolaj“ (aaO., f. 382v–383r). 217 Von Schwerin ermahnte die Berliner wiederholt, dass sie „ins künfftige mit einem puren Syllogismo wieder dieses Theses einkommen, alle wait leuffigkeit u. ungeführete limitationes außlaßen“ sollten. Lilius versprach, den Wünschen des Präsidiums nachzukommen. Auch Somnitz, von Schwerins Rede resümierend, betonte zum Abschluss der Session: „Es solle Min: Berolin: auff Vorgegebene Theses recht opponiren u. antworten, sive affirmative, sive negative [= entweder bestätigen oder verneinen]“.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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4.3.2.6 Die zwölfte Session In der zwölften Session 218 , die am Freitag, dem 23. Januar 1663, um drei Uhr nachmittags begann, verlas Pape zunächst eine Schrift 219 der Berliner Lutheraner. Darin gingen sie nach der Zurückweisung reformierter Beschuldigungen wiederholt auf die Frage ein, wann ein Mensch „de judicio divino damnatus est“. Sie betonten, dass eine endgültige Verdammung erst am Ende des Lebens ausgesprochen werden würde: „Judicio divino verdammet sein, kann so nicht schlechter dinge von allen und jeden menschen, auch ümb des allergrößesten irthums willen, den er begehet, gesaget werden, die weil er noch Zeit hatt in der gnadenzeit und Verdamnuß zu entfliehen“.
Wer bloß aus Unwissenheit irre, könne durchaus selig werden. Wer jedoch trotz besseren Wissens weiterhin an einer irrigen Auffassung festhalte, dem sei der Zugang zur Seligkeit verschlossen: „Also können wir auch die jenigen Reformirten, wie am selbigen orte stehet, nicht selig sprechen, die auß vorsätzlicher halßstarriger blindheit und boßheit in einigem irrthum beharren, wie wol solches auch Gott am besten bekannt“.220 Eine Toleranz mit den Reformierten sei nicht möglich, da diese in den Hauptstücken des Glaubens Gottes Wort widersprächen: „Wir [. . .] halten nicht dafür, das es nur etwa veritates Historica, Chronologica, Philologica oder dergleichen sey, darinnen die herrn Collocutores nach der Lehre der dreyen Confessionen von unß dissendiren, sondern in alle wege solche hauptstücken der seligmachenden glaubens Lehre, die da höchst nothwendig sind [. . .] Darümb können wir ihnen unserm hohen und Schweren Ampte nach [. . .] tolerantiam citra contradictionem Vgl. das lutherische Protokoll in aaO., f. 413v–415r; das reformierte Protokoll aaO., f. 472r–473v; ausschnittweise ist das lutherische Protokoll abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Band 1, 126–127 und 127–129. Es ist auffällig, dass es weder nach dem lutherischen noch nach dem reformierten Protokoll eine wie sonst übliche Eingangsrede durch von Schwerin gab. 219 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 271r–278r [C2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 184–199 [XXVI]. Auch in dieser Schrift legten die Berliner großen Wert auf eine genaue Terminologie. So benannten sie beispielsweise zu Beginn ihrer Argumentation methodische Prämissen zur Beantwortung der reformierten Thesen, da ihrer Meinung nach „doch [. . .] in diesen dreyen modis respondendi alle antwort beruhet: Entweder (1) per simplicem affirmationem [= durch einfache Bestätigung], oder (2) per Simplicem negationem [= durch einfache Verneinung] oder (3) per distinctionem aut limitationem [= durch Unterscheidung oder Limitation]“. 220 Vgl. zur Differenzierung zwischen bewusst und unbewusst Irrenden auch die spätere Bemerkung: „In der tolerantia Ecclesiastica welche den dienern Göttlichen worts sonderlich anvertrauet ist, das die in Gottes wort und ihren gewißen nach erforschen sollen, wie weit ein irrthum zu dulden und zu straffen sey, ist abermahl ein großer unterscheit [. . .] obs ein irrender auß schwachheit, der sich wolle weißen laßen, oder auß Vorsatz sey. darinnen werden wir mit der Hülffe Gottes allzeit wol zu unterscheiden wißen auch wie weit ein ding tolerabel sey“. 218
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
[= ohne Widersrpuch] nie verheißen, so lange, wir leben und hören müßen, daß darinn der warheit des worts Gottes wiedersprochen wird“.
Die reformierten Irrlehren lägen offen zu Tage. Die Reformierten würden „selbst gestehen, daß in denen dreyen Confessionibus die Lehre vom mündlichen übernatürlichen und empfindlichen Eßen und trincken des Leibes und blutes Christi verneinet wird“. In ihrem Schlusssyllogismos wiederholten die Lutheraner ihre Überzeugung, dass die Erkenntnis der Wahrheit Gottes zur Seligkeit notwendig sei: „Alles was ein stück der unbetrüglichen geoffenbarten und der Kirchen Christi anbefohlenen warheit Gottes ist, dasselbe ist von solcher wichtigkeit, das ohne deßen wißenschaft und erkentniß bey deren selben beständigen Verneinung biß in den todt, Gott keinen menschen (Reformirten Christen, Prediger) will selig machen“.
Da die Berliner ihr Verständnis vom Abendmahl als göttliche Wahrheit verstanden, konnten aus ihrer Sicht weder die Reformierten noch andersgläubige Menschen ohne das lutherische Abendmahlsverständnis die Seligkeit erlangen: „Die Lehre von dem mündlichen jedoch übernatürlichen und unempfindlichen eßen des leibes und trincken des blutes Christi im Abendmahl, welche in den 3. Confessionibus verneinet wird, ist ein stück der unbetrüglichen geoffenbahrten und der Kirchen Christi anbefohlenen warheit Gottes. Darümb auch die Lehre von dem mündlichen jedoch übernatürlichen und unempfindlichen eßen des leibes und trincken des bluths Christi im Abendmahl, welche in den 3. Confessionibus verneinet wird, von solcher wichtigkeit ist, das ohne derer wißenschafft und Erkändniß, bey dero selben beständigen Verneinung biß in den todt, Gott, keinen menschen (Reformirten Christen, Prädiger) wil selig machen“.
Stosch bemängelte, dass die Reformierten nicht ausreichend Zeit zur Beantwortung jener Schrift gehabt hätten, da diese erst am letzten Mittwoch beendet worden und zudem sehr lang gewesen sei. Daher führte Stosch in Ergänzung zur reformierten Schrift und vor deren Verlesung kritisch vier Punkte an, die von den Berliner Lutheranern umgehend in einer Stellungnahme zurückgewiesen wurden.221 Da die Anmerkungen Stoschs und ihre Kommentierung durch die Lutheraner hauptsächlich aus Anschuldigungen bestanden und keinen inhaltlichen Fortschritt brachten, seien sie hier nur knapp angedeutet: Stosch bemerkte zum Ersten, dass die Reformierten nicht, wie die Lutheraner behaupteten, von den kurfürstlichen Ausgangsfragen abgewichen seien, vielmehr habe das Präsidium den Vorschlag eingebracht, künftig wie beim Kasseler Kolloquium zu verfahren. Zum Zweiten forderte er die Berliner auf, zu zeigen, inwiefern die lutherische Abendmahlslehre gegenüber dem reformierten Verständnis „ein größeres Licht“ darstelle. Zum Dritten wunderte er sich über die Bitte der Lutheraner, die Epicrisis Wittebergensis zu erhalten, da sie die doch selbst im Land verschickt hätten. Zum Vierten wies Stosch die terminologischen Differenzierungen um die Wörter „verdammens“ und „verdammlich“ zurück. Die Lutheraner reagierten auf 221
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Anschließend verlasen die Reformierten ihre Antwortschrift, 222 in der sie betonten, wie sehr sie sich eine mutua tolerantia wünschten. Sollte diese jedoch nicht möglich sein, „so verdamme und verfolge wer da will, [. . .] haben wir dennoch gleich wol einen solchen herrn und richter, das unß deß gegentheils unzeitiges urteil und execution [= Verfolgung] nichts schaden, sondern zu förderung und besten dienen muß [. . .] Unsers hertzens-wunsch ist [. . .] daß wir alle einß sein in Christo Jesu“. Dass der Haupt-Syllogismos der Berliner falsch sei, „erhellet auß allen allegatis [= Absendungen] unserer vorigen schrifften, da wir erwiesen haben, daß inter doctrinas et errores unterscheit, und einige fundamentales, andere minus fundamentales, ac per consequens errores alii exitiosi alii non sunt [= und zwar als Folge die einen unheilvolle Fehler darstellen, die andern (aber) nicht]“. Dies liege daran, „daß inter Berolinensium Auditores, auch Predigern dieses Landes viel sein, welche veritates [. . .] nicht wißen und verstehen, und doch in commune geduldet werden“. Die Reformierten führten weiter aus, „das aber auch Minor falsa sey, und doctrina de orali pp. nicht ein mahl ad circumstantium fidei, oder ad scientiam Theologicam gehöre [. . .] auch die praetendirte anbefohlne warheit de orali manducatione nicht omnes omni loco et tempore obligire [= verplichte], wird offenbahr werden, wen wir disputatione de fundamentalibus absoluta ad alias veritatis Theologicas schreiten werden“.
Sie griffen die Lutheraner zunehmend persönlich an und beklagten im Schlussteil ihrer Schrift, „daß der böse feind [= die Lutheraner!] sich bemühet, unß beiderseitß vom Scopo ab, und auff weittleuftige andere materien zu führen“. Nach Einwänden Seitens der Lutheraner durch Lilius223 und einer Verhandlungspause ermahnte von Schwerin in seinem langen Schlusswort die Berliner die Anmerkungen, dass zum Ersten die Reformierten den Vorschlag, nach Art des Kasseler Kolloquiums zu verfahren, gewollt hätten. Zum Zweiten warfen die Berliner den Reformierten vor, dass diese sich nicht eingehend mit der lutherischen Theologie beschäftigt hätten. Zum Dritten betonten die Berliner, dass sie die Epicrisis nicht verbreitet hätten. Schließlich rechtfertigten sie ihre begriffliche Differenzierung zwischen „damnabilis“ und „damnate“ (Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 413v–414r). 222 Vgl. aaO., f. 287v–290v [G2]; der erste Entwurf für diese Schrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/7, f. 34r–41r.; teilweise abgedruckt nach GKl Archiv XII/90/3 bei Hering: Neue Beiträge II, 147, vollständig bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 200–205 [XXVII]. 223 Nach der Verlesung entschuldigte sich Lilius für die Länge des Berliner Schreibens, da „es aber die sachen Nothwendigkeit erfordert, hatten sie nicht ümb hin gekunt“. Dann bat er um eine Abschrift der reformierten Schreiben und erklärte nach einer kurzen Unterredung in einem Nebenzimmer, dass die Berliner sowohl mündlich als auch schriftlich auf die letzte reformierte Schrift antworten wollen, „weil aber Sie in publicis itzo sehr Viele zu thun, Zu dem auch Zwey feyertage ein fiehlen, als bittet er ümb eine 14-tägige dilation“.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
wieder einmal zu kürzeren Antwortschriften. Schließlich gab er bekannt, dass das Präsidium den letzten Syllogismos der Berliner annehme „mit begehren, daß Sie darbey verbleiben, und ohne einmengung der limitation ferner antworten [. . .] damit vorgesetzter zweg erreichet werden möge“. Auch der Vorschlag, den das Präsidium in der achten Session eingebracht hatte, zukünftig wie beim Kasseler Kolloquiums zu verfahren, hatte bisher keinen Fortschritt gebracht. Im Gegenteil war die Situation durch das Ausscheiden Fromms, den Anschluss Nicolais’ an die Berliner, die Offenlegung theologischer Differenzen bei der Lehre der manducatio oralis und den zunehmend raueren Umgangston in den Schriften der Kollokutoren schwieriger geworden. Das Präsidium verfolgte seine in der achten Session angekündigte Linie, keine Schriften mehr verlesen zu lassen, bis die neu eingebrachten Fragen beantwortet seien, nicht konsequent. Nach zwölf Sessionen stand das Kolloquium kurz vor dem Scheitern. Daher musste das Präsidium seine Verhandlungstaktik in den folgenden Sessionen ändern, wenn es noch zum gewünschten Erfolg kommen wollte.
4.3.3 Die dreizehnte Session und die inoffiziellen Treffen Nach dem Ende der zwölften Session am 23. Januar sollte es bis zum 6. März dauern, bis das Präsidium wieder eine offizielle Session einberief. Die Bemühungen um eine Einigung ruhten in der Zwischenzeit jedoch keineswegs. Mitglieder des Präsidiums trafen sich mehrfach mit den Berliner Lutheranern, um sie zu einer irenischen Haltung zu bewegen. Die Kollokutoren nutzten zudem die Zeit, um sich über Schriften der konfessionellen Gegenseite auszutauschen und Verhandlungsstrategien abzustimmen. Warum es zu einer derart langen Pause zwischen den Sessionen kam, lässt sich auf Grund von verstreuten Bemerkungen in den Protokollen rekonstruieren: 224 Von Schwerin musste die Prinzen für eine längere Zeit nach Spandau begleiten. Möglicherweise hatten die weiteren Räte andere politische Aufgaben zu erledigen, denen Vorrang zukam. In der Doppelstadt grassierten zudem Krankheiten, von de Aus einem Brief Nicolais an von Schwerin (vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 383r– 384r; s. u.) wird deutlich, dass beispielsweise das schließlich am 27. Februar durchgeführte Treffen vier Mal verschoben wurde. Gründe für diese Verschiebungen werden in dem Brief jedoch nicht genannt. Fraglich ist die Behauptung von Niemann: Gerhardt, 236, dass die Kollokutoren 1663 nur noch einmal im Monat zu Sessionen zusammenkommen wollten, ebenso wie seine Begründung, da sie nicht belegbar ist: „Denn jetzt wusste man zunächst keinen Rat mehr und war etwas hilflos, wie man wohl weiter vorankommen sollte“. Niemann übersieht unter anderem, dass im Januar zwei Sessionen stattgefunden haben, im Mai sogar drei. 224
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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nen auch die Geistlichen betroffen waren. Des Weiteren mussten auch einige der Pfarrer häufig dienstlich verreisen. 225 Schließlich gehörte es zur neuen Taktik des Präsidiums, bewusst mit den Berliner Lutheranern alleine zu verhandeln. Die große Pause zwischen den Sessionen kam den vielbeschäftigten Geistlichen sicherlich nicht ungelegen.226 Am 23. Januar hatten die Professoren der Universität zu Rinteln einen Brief227 an Friedrich Wilhelm geschickt, in dem sie den Kurfürsten darin bestärkten, eine Verständigung im konfessionellen Konflikt auf der Basis des Kasseler Kolloquiums zu suchen. Vor allem aber wehrten sich die Rintelner gegen die Angriffe durch die Wittenberger Universität und griffen diese ihrerseits scharf an. Jener Brief sollte Friedrich Wilhelm und das Präsidium in ihrem bisherigen Vorgehen bekräftigen. Denn schließlich bestätigte er sowohl die Annahmen, dass die Berliner mit ihrer Haltung untypisch für das Verhalten der Lutheraner insgesamt im Reich waren und maßgeblich durch die Wittenberger Universität geprägt wurden, als auch die Verhandlungstaktik, nach Art und Weise des Kasseler Kolloquiums zu verfahren. 4.3.3.1 Die Voten der Berliner Lutheraner über die reformierte Schrift vom 23. Januar 1663 Unmittelbar nach der zwölften Session hatten sich die Berliner ausführlich über die Schrift beraten, welche die Reformierten am 23. Januar 1663 eingereicht hatten. Lilius bemängelte in seinem Votum 228 , dass sich in dieser Schrift 225 Vgl. unter anderem Lilius’ Bemerkung während der dreizehnten Session: „Weil etliche der Unserigen zu verreißen Uhrsach haben, bitten wir unterdienstlich, unß die künfftige woche zu solchem Negotio zu laßen“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 412r). 226 Neben ihren vielen Aufgaben waren einige Kollokutoren von persönlichen Schicksalen betroffen. Es ist jedoch schwierig, auf Grund privater Schicksale veränderte Verhaltensmuster während des Kirchenstreits auszumachen, ohne schwer nachvollziehbare und für die kirchengeschichtliche Erforschung der Epoche unzulässige Psychologisierungen zu bieten. Trotz seines Verdienstes, Gerhardts Privatleben eindeutiger mit dem Kirchenstreit zu verbinden, als dies in bisherigen Darstellungen geschah, ist auch Niemann dieser Gefahr erlegen (vgl. dazu 1.4). Gleichwohl sei beispielhaft ein privates Schicksal erwähnt, bei dem keine Verhaltensweisen erklärt werden sollen, sondern lediglich aufgezeigt wird, wie stark die Bindung der Reformierten an den kurfürstlichen Hof war. Am 29. Januar 1663 war Stoschs zweite Ehefrau, die Lutheranerin Catharina Elisabeth bei einer Entbindung gestorben und am 8. Februar beerdigt worden. Nachdem von Schwerin dies dem Kurfürsten mitgeteilt hatte (Brief vom 30. Januar 1663), befahl dieser, Stosch zukünftig aus der Hofküche versorgen zu lassen. Vgl. GStA PK I. HA Rep. 2. Nr. 45. 227 Der Brief befindet sich abschriftlich in GKl Archiv XII/90/1, f. 62v–64r(–67r) und GKl Archiv XII/90/2, f. 11v–12v; er wurde erstmalig abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 341 f.; später auch bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 197 f. Anm. 9 0. 228 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 500v–503v.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
„sonders viel anzüglichs und fälschlichs relationes [= Zurückweisungen], Criminationes [= Verleumdungen]“ befinden, die „nicht schlag[en] noch treffen“. Schuld an der Länge der Berliner Schriften seien die Reformierten, „dieweil sie (1) solche fragen vorlegen, die nicht anders als aus fürlich und mit gnug ferner Erklärung können beantwortet werden“. Da die Eingangsfragen mehrere Themen angeschnitten hätten, sei es „nicht Unrecht, daß wir per distinctionem et limitatione antworten“. Lilius kritisierte im Folgenden die Antworten der Reformierten und die gewünschte Toleranz: „wenn tolerantia Ecclesiastica, die die Reformirten anitzo zu stifften suchen ein Christliches, Gottwohlgefälliges et in Gottes Wort gegründetes wohl wäre, wollten wir uns gerne darzu verstehen, weil es aber nicht anders ist, als pax Synchretistica der zur Verleumdung und Prodition der himlischen Wahrheit, Verunruhigung und Unterdrückung der armen Lutherischen Kirchen und Kränckung Unsers eigenen Gewißens gereichet, da können wir darin nicht willigen, ungeachtet aller Höhnerey und Spötterey, so wir darüber leyden müßen“.
Lilius wehrte die von den Reformierten gewünschte Toleranz entschieden als Synkretismus ab und distanzierte sich von allen Menschen, die diese verfolgten.229 Zudem ärgerte er sich über die Kritik der Reformierten an Luther. Dieser habe nicht „Ursach ad Suscipionem Capernaiticam gegeben“, vielmehr sollten seine Äußerungen im Kontext des „Eyffer, den Er wieder Zwinglium, Oecolampadium und andere ihre Rottgesellen gebraucht habe“, verstanden werden. Schließlich könne „man die Krafft des Heiligen Geistes am meisten an Ihm spühren und mercken“. Des weiteren beschuldigte Lilius die Reformierten, dass ihre Schrift „biß zum Ende ein lauter unnütz vergeblich Gewäsche [sei], da sie nicht auff unsern, sondern auf ihren eigenen Syllogismum antworten“. Schließlich wollte Lilius das Präsidium bitten, „daß man uns die Freyheit gönnen wolle, uns der schweren Aufflagen, so uns bißher wider unser Verdienst zuge wachsen, zu entläßigen und unsere Unschuld und Gerechte Sachen aus zu führen“. Auch Lorentz wies in seinem Votum 230 die Vorwürfe der Reformierten zurück und hoffte, „das sie auf alle nötig für gebrachten Sachen ordine antworteten, und unß darin gleich würden [. . .] ohne die schmach, so wir von Ihnen Lilius schrieb: „Sind welche unter den unserigen [. . .], die sich vor Lutheraner ausgeben, und in diesem pace Syncretistica mit den Reformirten übereinstimmen oder gleich gesinnt seynd, so wollen wir mit denen nichts zu thun haben, man nennet sie gleich Christen, Lutherische Christen, friedfertige etc: wie man wolle, denn Gott wird dermahleins nicht nach solchen Titeln und Zuhnahmen, sondern nach der That und nach dem Werck selbst urtheilen“. 230 Vgl. aaO., f. 503v–504v. 229
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über uns nehmen müsten“. Die Vergleiche mit anderen Lutheranern seien abzulehnen, da „wir mit den Lutherischen, auff welche sie zielen, gar nicht einig sain, nach dem gewissen noch in diesen Stücke sein können“. Auf die Anschuldigungen gegen Luther antwortete Lorentz ausführlich: „Lutherum laßen wir auch wol einen Mensch bleiben, und glauben nicht an ihm, wie man unß per injuriam beschuldiget. Daß er aber, wenn man seine erste und letztere Schrifften genau unter scheidet, so grauliche paradoxa, sollte auß gestoßen haben, können wir so wenig war befinden [. . .] Lutherus mit seinen Schrifften ist wohl ungezweiffelt gut, wan nur der Leser gutt Und Unpartaiisch ist, der den gantzen context recht gegen ein ander helt“.
Helwig wies in seinem Votum 231 ebenfalls die reformierten Vorwürfe zurück und betonte, „das wir jederzeit bereit gewesen unsere limitation mit rationib. zu erweisen“. Er stellte klar, „daß wir nicht alle und jede Reformirte Christen die ex ignorantia pura et simplici, weil sie nicht anders informirt worden oralem manducationem Vernainen, ohn unterscheit Vor Verdampt erkennen“. Um von Somnitz’ Aufforderung nachzukommen, schlug Helwig vor, der Schrift verschiedene Sätze zur genauen Differenzierung der unterschiedlichen Ursachen einer „Negatio oralis manducationis“ beizufügen. Zwar sei nicht die Unkenntnis über die Nießung verdammlich, wohl aber die Verneinung nach vorheriger Unterrichtung. Auch unter den Reformierten gebe es einige Lehrer, welche die Nießung beharrlich ablehnen würden. Zentral in seinem Votum war der Vorschlag zur Formulierung eines neuen Syllogismos, der die Wichtigkeit der Lehren thematisieren sollte: „Welche Lehre keine andere Lehre ohne dem fluch Gottes neben ihr leidet, die ist von solcher wichtigkeit, daß bei den selben, verneinung Gott keine reformirten Lehrer wil selig machen. Alles was ein Stück der warhait Gottes ist, ist eine solche Lehre die keinen andere Lehre ohne dem fluch Gottes neben ihr leidet. Darümb ist alles was ein Stück der warhait Gottes ist von solcher wichtigkeit, daß bei deßselben Verneinung Gott keine reformirten Lehrer wil selig machen“.
Dieser Syllogismos wurde schließlich in das offiziell überreichte Schreiben übernommen. Abschließend betonte Helwig, dass es sich bei der Abendmahlslehre um einen Fundamentalartikel handele. Darüber hinaus dürften auch diejenigen Lehren, die keine Fundamentalartikel seien, nicht geleugnet werden. Alle dargelegten Voten wurden kompiliert zur offiziellen Antwort der Berliner Lutheraner, die sie samt einem Anhang am 30. Januar 1663 einreichten.232
Vgl. aaO., f. 504v–506r. Diese Schrift wurde jedoch erst auf der 13. Session am 6. März (s. u.) verlesen.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
4.3.3.2 Das Treffen am 17. Februar 1663 und die fünf Schriften der Berliner Lutheraner Am 17. Februar unternahm das Präsidium einen erneuten Versuch, die Berliner Lutheraner von der Notwendigkeit einer Toleranz zu überzeugen. Die kurfürstlichen Räte von der Gröben und Reinhard teilten den lutherischen Kollokutoren bei einem Treffen in der St. Nicolai-Kirche mit, dass der Kurfürst die bisherige Ergebnislosigkeit des Kolloquiums beklagt habe. Gerhardt und seine Pfarrkollegen ließen sich dafür nicht schuldig machen und verfassten zur Bekräftigung ihrer bisherigen Haltung mehrere Schriften. Zunächst sandten sie am 20. Februar ein Schreiben 233 an das Präsidium, worin sie die Vorwürfe zurückwiesen, für die Verzögerung des Kolloquiums verantwort233 Aus diesem Brief geht auch das Treffen vom 17. Februar hervor, worüber kein gesondertes Protokoll existiert. Da dieser Brief der Forschung bisher unbekannt war, folgt er hier ausschnittsweise: „Was auß dero hohen mittel von Sr. hochw. dem Herrn Dechant, Herrn Von Gröben, u. Sr. Excell. dem Herrn Rath Reinhardten unß am abgewichenen 17 Februar in unserer Nicolai Kirche anfänglich wegen hoher empfindung Sr. Churfl. Dhl. unsers gnäd. Herrn über den langsamen progress des haisigen angestellten Colloqui proponiret worden, daßelbige haben wir schuldigster maßen erwogen, u. wird auch auß bey kommen den vielerley Schriftten zur gnüge zu er kennen sain, daß die schuld nicht unß, dem Berlinischen Ministerio bey zu maßen, [. . .] wie er zu ersehen auß unserer Schrifft Lit: A. nochmahls an unsern beantwortungen und redens arten die Hn Collocutorn auch noch etwas zu dunckel er achtet, welches auch deßhalb noch naherer Erklärung bedurfft, laut Lit: B. der Vorschlag, des Rintelischen Vergleichs auch sainer Difficultäten gehabt, laut Lit: C. Und dann der Hn. Collocutorn auff unsere erste Maximen u. Major Proposition gegebene Distinctiones od limitationes auch noch ihre nöthige confideration erfordert, inhalts Lit: B. daher wir auch eben zu solchem Ende, und bezeugung, wie daß werck bißherr nicht in geringer wichtigkait gestanden bey kommende Schrifften A. B. C. D. bitten ad integritatem Actorum wol. Vor wahrlich bey legen zu laßen, da auch E. Gn. und Excelltz. es nicht unrathsam hielten, das bey Sr. Chfl. Dhl. wir selbst unß unterthänigst exempliren und derselben die wichtigkait des wercks an ihm selbst, woran sichs eigendlich bißher gestoßen, vor derro gnädigsten augen etlicher maßen nur unter werffen möchten, wollen wir auch wohl bey nechster Post mit Eur. Gnaden und Excell. Genehmhaltung es wißen unterthänigst abzulegen. [. . .] Wollten wir endlich auch nichts lieber wünschen, als damit nur auch daraus keine Klage einiger Verzögerung wächse, daß wir nur nicht contra omnem philosophiae omnisque humanae artis et scientia, ac ipsius S. S. Theologia normam ac methodum könnten und vermöchten füglich und vor Gott und aller Welt verantwortlich Zu erst de necessitate aut tali pondere Articulorum fidei handeln, ehe man noch darüber eins geworden: [. . .] Wann wir aber nun schon könnten und vermöchten füglich darinn zu consentiren, erst de pondere oder auch necessitate zu handeln, ehe wir in Soliditatem veri recht inquiriret [. . .] Quare? 1. Quia est Summa Divina Veritatis. 2. Quia est talis Veritatis, qua concernit ipsum fundamentum fidei. Deßen allem haben wir uns auch bey den mündlichen Eßen und Trincken des Leibes und Blutes Christi schon so directe et categorice erklähret, daß wir auch unsers Theils darinn weder quoad veritatem noch qua in ista fundata est, quoad necessitaten anders können noch vermögen. Wollen es auch aller un-
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lich zu sein. Auch verstoße ihre Argumentation nicht gegen jegliche philosophische und theologische Normen oder Methoden. Ihre theologische Ansicht sei rechtens, „1. Quia est Summa Divina Veritatis [= weil sie die Summe göttlicher Wahrheit sei]. 2. Quia est talis Veritatis, qua concernit ipsum fundamentum fidei [= weil es eine solche Wahrheit sei, die das Glaubensfundament selbst betreffe]“. Daher hätten sich die Lutheraner „auch bey den mündlichen Eßen und Trincken des Leibes und Blutes Christi schon so directe et categorice erklähret, daß wir auch unsers Theils darinn weder quoad veritatem noch qua in ista fundata est, quoad necessitaten anders können noch vermögen“. Neben diesem Schreiben reichten die Berliner vier weitere Schriften ein. Diese zeichneten sich durch lange, redundante Satzreihen aus und boten kaum inhaltlich relevante Anknüpfungspunkte für ein theologisches Gespräch. Das Ziel der Abhandlungen war keine Annäherung, sondern eine klare Abgrenzung von der reformierten Lehre. Wichtig hingegen war den Berlinern die Betonung, dass diese Abgrenzung wissenschaftlich und formal korrekt nach den Regeln aristotelischer Logik geschehen sei. Wie das Präsidium später beschloss und während der 13. Session bekannt gab, wurden alle vier Schriften nicht verlesen. Da sie jedoch einen wichtigen Einblick in die Argumentationsweise und das Verhalten der Berliner Lutheraner geben, Gerhardt zu deren Abfassung wichtige Voten beigesteuert hat und sie schließlich der Anlass für das Treffen am 27. Februar waren, seien sie im Folgenden jeweils kurz skizziert. 4.3.3.3 Die Voten der Berliner Lutheraner über die reformierten Schriften vom 21. November 1662 Die erste Schrift 234 war eine lange Antwort auf das Schreiben, welches die Reformierten auf der achten Session übergeben hatten und auf der zehnten Session verlesen wurde235 . Die Berliner Lutheraner hatten ausführlich über die Schrift beraten. Gerhardts Voten stellen dabei die längsten Beiträge dar. Im ersten Votum 236 verteidigt Gerhardt die bisherigen Antworten der Berliner. Die Reformierten hätten eindeutig verstehen können, was die Meinung der Berliner sei. Falls die Lutheraner „anfäncklich nicht also balt iisdem Syllabis et apiciby opponiret parteyischen Facultäten judicio hierinnen gerne commitiren“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 296v–297v [K2]). 234 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 298r–303r [L2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 216–226 [XXIXa]. 235 Gemeint ist das Schreiben in GKl Archiv XII/90/3, f. 278r–281r [D2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 150–156 [XX zu Lit. A]. 236 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 520v–523r und den Abdruck im Anhang.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
haben“, so sei dies die Schuld „deßen, der die unß vor gelegten Fragen concipiret stylisiret und gestellet hatt, [. . .]dz wir nicht eigendlich wißen können, sondern nur conjecturiren und errathen müßen, welches Subjectum quaestionis, welches pradicatum sein solte, wie auß den jetzt bald folgenden erhellet wird“. Die Eingangsfragen seien zweideutig formuliert, denn zum einen könnten die „confessionis Reformatorum“ Subjekt sein, zum anderen „etwz, warümb der Jenige so es lehret verdammet ißt“. Da „es den Reformirten vor dißmal vor nemlich umb ihre drey confessiones gethan geweßen“, hätten die Berliner unter der Annahme, dass „dz Subjectum q[ae]stionis sollte sain confessiones Reformatorum nominata“ dazu geantwortet. Die Auffassung der Reformierten, dass „etwz [. . .] in den dreijen Confessioniby“ das Subjekt sei, könne nur schwer erschlossen werden. Im zweiten Teil des Votums antwortet Gerhardt auf die reformierten „Accusationem“. Es gebe keine Ursache dafür, dass „die Hn Reformirten Unsere limitation nicht zu laßen wollen, sond[er]n verwerffen“. Diese sei in der Wahrheit und „in der Sache selbst gegründet“, zudem „nicht contra pracepta logica, sondern eben in denselben auffs fleißigste und träulichste gegründet“. Da die reformierten Thesen „distincta res confundiret“ seien, könnten die Berliner „solche confusion in der antithesi“ nicht beibehalten, sonder müssten „das jenige, was unterschiedlich ist, unterschiedlich bey behalten, und ja distinctis distincte respondiren“. Gerhardt betont, dass die lutherischen Limitationes so gestaltet seien, nicht „wie es diesem od[er] jenem gegentheil gefalle, sondern wies das Werck und die Sache selbst erfordere, und der warhait gemäß sey“. Die Berliner hätten versucht, „niemand zu schimpfem, sondern unser Lutherisches bekäntnuß, worzu wir erfordert worden abzulegen und den gegentheil ihre fragen zu beantworten und zwar also wie wir es vor Gott und unser gewissen gut befinden“. Sie verlangen, „unß unser Freyhait, in opponiren und Respondiren [zu lassen]; Wir wollen schon wißen, wz unß zu thun sey, ob wir Syllogismos expositorios oder einen andern rath gebrauchen sollen“. Alle diese Ausführungen würden belegen, dass die Berliner „recht in Subjectum et praedicatum getheilet“ und „auch directe et formaliter opponiret [un]d respondiret“ hätten. Gerhardts zweites Votum 237 stellt einen Zusatz zum ersten Votum dar, indem in ihm die Verteidigung gegen den Vorwurf der Reformierten, dass die Berliner nicht logisch geantwortet hätten, noch einmal auf den Punkt gebracht wurde. Gerhardt kann im Major-Syllogismos das Subjekt und das Prädikat nicht anders verstehen als folgendermaßen:
Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 523r–523v und den Abdruck im Anhang.
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4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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„Nichts Subject. 238 , nicht etwz, keine Lehre welche der Jenige ist, umb welches willen der, so es Lehret judicio divino Verdampt ist, wird Pradicatum 239 in der Reformirten Confessioniby publicis gelehret [. . .]Ein anders wehre es, wen Major also formiret würde, Nichts nicht etwz, keine Lehre, so in den confessionib. pubblicis Reformatorum gelehret wird, ist dz Jenige, umb welches willen, der, so es Lehret, Judicio divino verdammet ist“.
Lorentz pflichtete in seinem Votum 240 im Großen und Ganzen Gerhardt bei. Er glaubte, dass die Reformierten „unsere Limitation gerne passiren und [formal] recht seyn ließen, wenn sie ihnen nur nicht schimpflich wären“. Helwig stimmte dem in seinem Votum 241 inhaltlich zu und war der Meinung, dass die Reformierten „solche Limitation schimpflich auff nehmen [könnten], als wenn sie (a) unterricht bedürffen, (b) dem Worte Gottes wieder sprechen, und zwar (c) hals starriglich, wie solches aus ihrer des wegen formirten Thesi erscheinet“. Auch Lorentz äußerte sich sehr ausführlich zum Vorwurf, dass die Berliner in ihrer Antwort gegenüber den reformierten Thesen das Subjekt vertauscht hätten, und kam ebenfalls zum Ergebnis, dass die Beschuldigungen unrecht seien.242 In der letztendlich übergebenen Schrift wurden die Ausführungen Gerhardts und Helwigs zur Logik der Berliner Thesen gekürzt aufgenommen. Die Berliner wehrten sich ausführlich gegen den Vorwurf, sie hätten ihre Syllogismen grammatikalisch und formal falsch gestaltet. Zwar formulierten sie diese um, blieben aber bei der Verurteilung der reformierten Lehre: „Etwas, so wieder Gottes geoffenbahrtes wort gelehret wird, wird in dero Reformirten Confessionibus publicis, und sonderlich, welche jüngst fürnemlich benennet sein, gelehret. Alles so wieder Gottes geoffenbahrtes wort gelehret wird, ist das Jenige, warümb der so es lehret, (so fern er nemlich mit beständigem Vorsatz solches lehret) judicio divino verdammet ist. Darümb wird auch etwas, warümb der so es lehret (so ferne er nemlich mit beständigem Vorsatz solches lehret) judicio divino verdammet ist, in den Reformirten Confessionibus publicis und sonderlich, welche jüngst fürnemlich benennet sind, gelehret [. . .] Darümb wird auch etwas, ohne deßen wißenschaft Gott niemandt . . . wil selig machen, in derer Reformirten Confessionibus pubblicim [. . .] verneinet und verschwiegen“. Das Wort „Subject“ steht bei GKl Archiv XII/90/3, f. 522v rechts oben über dem Wort „Nichts“. 239 Das Wort „Pradicatum“ steht bei GKl Archiv XII/90/3, f. 522v rechts oben über dem Wort „wird“. 240 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 523v–524r. 241 Vgl. aaO., f. 524r–525r. 242 Helwig, Lilius und Lubath setzten sich in weiteren, zum Teil recht ausführlichen Voten mit dem Unterschied zwischen den Thesen der Lutheraner und den Anforderungen der Reformierten auseinander. Die weiteren Ablehnungen der reformierten Vorwürfe und die Diskussion um verschiedene Entwürfe brachten inhaltlich keine neuen Aspekte. 238
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Die zweite Schrift 243 , welche die Berliner infolge des Treffens mit den lutherischen Räten einreichten, war die Antwort auf das zweite Schreiben, welches die Reformierten auf der achten Session übergeben und auf der zehnten Session verlesen hatten. 244 Vor der Abfassung dieser Schrift fertigten die Berliner Lutheraner ausführliche Voten an. Lilius betonte in seinem Votum 245 , dass die Berliner bereits gezeigt hätten, „daß die [reformierte] Lehre auch Göttlichen Gerichts schuldig [sei]. 2) daß die Wort vom beständigem Vorsatz und getreuen Unterricht schon auch vindeciret [=behandelt] worden“. In seinem langen Votum vom 5. Februar unterstrich Lubath, 246 dass die lutherischen Anschuldigungen gegenüber der reformierten Lehre „nicht dunckel [seien], sondern mehr als hier klahr, daß die H. Schrifft saget: der Tod ist der Sünden Sold“. Dabei betonte Lubath, das die Berliner nicht die Reformierten an sich, sondern lediglich ihre Lehre verwerfen würden. Er forderte die Reformierten auf, „sich von uns corrigiren und zurechte helfen [zu] laßen [. . .] Wer aber nicht folgen will, und sich nicht helffen laßen, dem stehets auff seine Gefahr, wir wollen ihn warnen, und nicht mit guten Worten in die Hölle weisen“. Das Ziel des Kolloquiums sei es nicht, „daß ein Part unterliegen, und das andern obsiegen soll, sondern wir sind ad amicum colloquium beschieden worden von denen Praepositis quaestionibus zu reden, davon ieder seine Meynung entdecken soll, darinn zu sehen, wie weit man könne kommen“. Stattdessen seien die Lutheraner durch die Reformierten beschimpft worden. Da diese bereits durch ihre Abendmahlslehre gesündigt hätten, sei auch in anderen Lehrpunkten eine Einigung nicht möglich: „hernach wer in einem sich versündiget, der sey es gantz schuldig [. . .] weil Gott alle Gebothe will gehalten haben, wird einer der eines übertritt, des gantzen Gesetzes für Gottes Gericht schuldig“. Auch Gerhardt schrieb am 6. November ein Votum.247 In diesem neunzehn Abschnitte langen und klar strukturierten Beitrag weist er zunächst sämtliche reformierte Vorwürfe zurück. Der lutherische Syllogismos sei keine „tunkle Redensart“ oder „anzügliche Rede“, die reformierte Lehre sei tat243 Vgl. aaO., f. 303r–308r [M2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 227–238 [XXIXb]. 244 Gemeint ist das Schreiben in GKl Archiv XII/90/3, f. 281v–283v [E2]; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 37–43; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 157–162 [XX zu Lit. B]. 245 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 528r–528v. 246 Vgl. aaO., f. 529r–532v. 247 Vgl. aaO., f. 533r–538v. Es ist Gerhardts längstes Votum und der Forschung seit Langbecker: Gerhardt, 43–55, bekannt. Niemann: Gerhardt, 231 f., ordnet die Schrift zeitlich fälschlicherweise dem Anfang des Kolloquiums (Oktober) zu, erwähnt nicht, dass es lediglich ein Votum und nicht die offiziell übergebene Schrift war, paraphrasiert im Folgenden ungenau und bewertet zweifelhaft.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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sächlich „des Gerichts schuldig“, da die Reformierten „keinen Unterricht, der ihren Gewissen eigentlich in so vielen Schriften und Büchern geschiehet, admittiren“ wollten. Stattdessen „brennen [sie] doch vor so großen Grimm und Zorn gegen uns“. Gerhardt wirft den Reformierten vor, dass sie ihre Herzen in „muthwilliger Weise verhärtete[n] und verstockte[n]“, da sie sich dem „genugsamen treuen Unterricht“ verweigerten, „aus welchem man die Wahrheit wohl lernen könnte“. Selbst wenn die Reformierten von der Richtigkeit ihrer Lehre überzeugt seien, „so ist doch solche Unwissenheit nicht zu entschuldigen, sie solltens besser wissen, sie könnens auch besser wissen, wenn sie sie sich den Geist Gottes wollten lehren und regieren lassen, und ist demnach (6) nicht injuriosum, was wir bisher [. . .] reden“. Gerhardt wirft den Reformierten die Benutzung „schreckliche[r] Schriften“ vor, „die unsere Wahrheit zum Irrthum, und unsere Gerechtigkeit zur Sünde machen wollen, die das helle klare Wort Gottes, das wir auf unserer Seite haben und in unseren confessionibus führen, übel ausmachen, schelten, lästern, höhnen und spotten, der Ketzerei und Gotteslästerung beschuldigen“. Dies sei nicht rechtens, denn im Gegensatz zur reformierten Lehre, die „nicht gut, sondern sehr böse“ sei, behauptet Gerhardt von der lutherische Lehre: „man perlustrire [= genau untersuchen], probire, examinire dieselbe, wie man wolle [. . .], so wollen wir den gerne sehen, der uns was Böses darin zeigen solle“. Er betont des Weiteren, dass die Lutheraner den „pacem syncretisticam, den sie uns angeboten nicht annehmen wollen, daß wir auch ihre Religion und Confession noch zur Zeit nicht recht sprechen können“. Gerhardt ist der Meinung, dass die Reformierten „wieder Gottes geoffenbartes Wort lehren. (2) Daß sie mit beständigem Vorsatz nach genugsamen treuen Unterricht bei solcher Lehre verharren, (3) daß sie in coena Domini nur nudum panem statuiren“. Die Lutheraner könnten sich „auf solches unförmliches Werk nicht einlassen“, so lange die Reformierten „in articulis de gratia, de persona Christi, de Sacramentis, solche Lehren führen, die nicht allein [nicht] in Gottes Wort gegründet, sondern auch denselben zuwider sind“. Gerhardt wiederholt, „daß wir unsers Theils de pondere nicht eher reden können, bis wir zuvor von der veritate gehandelt haben“. Im weiteren Verlauf des Schreibens wirft Gerhardt den Reformierten vor, dass diese sich „das Werk vorher besser betrachtet hätten, als daß sie in ihrem judicio sich so unvorsichtig übereilet haben“. Ihre Anschuldigungen seien nicht zutreffend: „der Hauptstreich, den sie uns zu thun gedacht, trifft uns nicht, sondern ihrer untreuen und falschen Einbildung, die sie sich von uns gemacht haben, denn wir ja niemals weder in jetzigen unsern Schriften, noch sonst doctrinam de gradibus dogmatum et errorum fundamentalium [. . .] geleugnet haben“. Abschließend verteidigt Gerhardt seine Glaubenslehrer: „Sonst schämen wir uns sogar unserer Lehrer und praeceptoren nicht, daß
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
wir uns auch derselben mit gutem Gewissen rühmen, und Gott im Himmel pro concessione eorum danken“. Helwig verfasste am 6. Februar zu dieser Frage sein längstes Votum. 248 Im Großen und Ganzen pflichtete er Gerhardt bei. Helwig schrieb: „Was ihre Meynung betrifft, sind wir versichert, daß alle qui faciunt aliquid erronea conscientio [= die wissentlich irgendetwas Falsches tun] verdamlich sündigen, ia daß, so sie in solchen Facto ex conscientia erronea beharren biß ans Ende ihres Lebens ohne Reu und Buße, wahrhafftig verdamte Sünder seyn“. Durch diesen Zustand sah Helwig die Evangelischen jedoch nicht zerrüttet: „In unsere Kirche haben wir nicht lauter Engel, sondern manche ruchlose Sünder, deren Wercke offenbahr genug seyn. [. . . Daher] können also uns und die Wahrheit unserer Lehren die Sünden der Unbußfertigen nicht beschämen“. Solche so genannten Unbußfertigen, welche die wahre Lehre verleugneten, seien die Reformierten: „wer da verleugnet die mündliche Nießung des Leibes und bluthes Christi im Heil. Abendmahl und zwar biß in den Tod, der verleugnet die Wahrheit biß in den Tod. Etliche Reformirte Lehrer etc: Ergo. [. . .] Wir diffamiren niemand, sondern was wir auf Erfordern nach unsern Gewißen gesagt, und geschrieben haben, das haben wir auch bewiesen, und wollens auch mit Gott beweisen“. Im Folgenden wies Helwig Vorwürfe zurück und griff seinerseits die reformierte Abendmahlslehre an: „Es scheinet aber am allermeisten aus diesem Stück, daß die H. Reformati nur suchen uns mit Weitläuffigkeit zu ermüden, weil es communissima sententiam Reformatorum [= das gemeinsam(st)e Verständnis der Reformierten] ist, quod panis non fit vere et realiter corpus Christi, sed tantum significet Corpus Christi [= das das Brot nicht wahrer und wahrhaftiger Leib Christi sei, sondern den Leib Christi lediglich bezeichnet]“. Auch Lorentz schrieb ein ausführliches Votum. 249 Er reagierte hart auf die reformierten Vorwürfe: „Es ist sonst nicht werth, daß man ihnen auf die liederliche Cavillation [= Spott/Stichelei], ob hätten wir noch nicht recht geantwortet, mehr antworte [. . .] daß sie uns auch in ihren Schrecklichen Schrifften so große Irrthümer sollten für Augen gestellt haben, ist uns gar ein fremdes, weil wir uns Gottlob! deßelben ledig wißen und können also keiner Sünde beschuldiget werden“. Lorentz beschwerte sich über „die bittre hefftigkeit der Reformat: Collocutor: [. . .] Weil ähnlicher hätten es einem amicabili colloquio geschienen, wenn sie comparationem modestiorem gegeben“. Bemerkenswert ist, dass Lorentz ferner die Situation der Berliner während des Kolloquiums mit Christi Leiden verglich:
Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 538v–541v. Vgl. aaO., f. 541v–543v.
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4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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„wie wohl ohne Maßgebung daß in Abfaßung nacher Antwort auch der geringsten anzüglichen Reden so sie wieder uns mit hefftiger Galle aus gestoßen, betreffen wollten wir solche viel lieber mit geduldigem Geiste stillschweigend übergehen, als mit gleicher Hefftigkeit zurücke geben, uns in allen unsere Unschuld und un verlezten Gewißens trösten, In Betrachtung wes Geistes Kinder wir seynd. Sintemahl auch Christus gelitten hat für uns, und uns ein Fürbild gelaßen, daß wir sollen nachfolgen“.
Diese Aussage untermauerte Lorentz anschließend mit verschiedenen Bibelversen: „Seelig sind die um Gerechtigkeit willen verfolget werden, denn das Himmelreich ist ihr: Seelig seyd ihr wenn Euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen, und reden allerley übels wieder Euch“. Das Selbstverständnis der Berliner Pfarrer scheint hier grotesk verzerrt und überhöht dargestellt. Vor dem Hintergrund dieser Einstellung ist der weitere Verlauf des Kolloquiums nicht verwunderlich. Zu beachten ist jedoch, dass nicht alle Pfarrer Lorentz’ Ausführungen unterstützten. Schließlich findet sich das zuletzt angedeutete Selbstverständnis nicht in dieser extremen Form im letztendlich offiziell eingereichten Schreiben wieder. In diesem wurde deutlich, dass auch dieses Votum Gerhardts sowohl inhaltlich als auch strukturell wegweisend für die lutherische Argumentation war: Die Berliner waren der Meinung, dass die Reformierten eigentlich durch die Bibel, spätestens aber bei diesem Kolloquium hätten merken müssen, dass sie in bestimmten Lehren irrten: „Ja gesetzt den fall, daß keiner der Reformirten Lehrer wüste daß ihre Lehre unrecht were, sondern sie meinten alle secundam conscientiam wehre ihre Lehre recht, so wehre doch solche unwißenheit auch nicht zu entschuldigen, Dann Gottes wort liegt da [. . .], Werden doch [. . .] die Conferentzen darumb angeordnet, daß das licht der göttlichen warheit mehr und mehr herfürleuchte“.
Die größten Irrtümer beträfen das reformierte Abendmahlsverständnis: „wer da verleugnet die mündliche genießung des Leibes und blutes Christi im Abendtmahl, und zwar biß in den todt, der verleugnet die Göttliche warheit biß in den todt. Etliche Reformirte lehrer verleugnen die mündliche genießung biß in den todt“. Da „Gottes wort die regul sey, nach welcher man irrthümer und irrenden richten müße“, könne dieses Verständnis nicht bestehen: „Alles was wieder Gottes wort gelehret, führt schon solch pondus mitt sich, daß es sünde ist, und den fluch Gottes verdienet“. Richtig sei viel mehr: „non esse crimen falsi, quod panis Tantum significet corpus Christi, quia juxta communem Reformatorum sententiam, Panis non est verè et realiter corpus Christi“.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Die dritte Schrift 250 war eine Antwort auf das Schreiben der Reformierten, das diese bei der zehnten Session zwar eingereicht hatten, welches aber nicht 250 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 308v–312r [N2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 239–247 [XXIXc]. Auch über diese Schrift hatten sich die Lutheraner ausgiebig in Voten beraten. Lilius schrieb lediglich ein kurzes Votum (GKl Archiv XII/90/3, f. 544r–544v), da er die Abschrift vom Kasseler Kolloquium nicht mehr hatte. Er empfahl seinen Amtskollegen, „cum protestatione satis aculeata“ [= in vollem Maße spitzfindig] zu antworten. Lediglich die Voten von Lubath und Lorentz sind erhalten geblieben. In seinem langen Votum (aaO., f. 544v–547v) vom 9. Februar wies Lubath die Vorwürfe der Reformierten zurück. Hinsichtlich der Prädestinationslehre hätten die Lutheraner „ex Sacra Scriptura in ihren Libris Symbolicis de Gratia einerley Meynung, indem, daß sie einstimmig glauben und lehren das το ἐπιφᾶνη et vere veri improbant restrictam illam gratiam ad genera singulorum“. Den Vorschlag, nach Art und Weise des Kasseler Kolloquiums zu verfahren, lehnte er ab, da „die Berlinischen Collocutores freylich anders gesinnt [seien als die Rintelner], die sich quoad fundamentalem dissensum schon offt erkläret und sich anfangen ein zu laßen in Artic: de S. Coena“. Die Rintelner hätten „an den Marpurgensibus gantz keine Halßstarrigkeit [. . .] noch einige Irrthum“ erkannt. Zudem seien sie im Gegensatz zu den Berlinern „solche Collocutores nicht gewesen, die beym Colloquio gesagt, Sie wollen darinn, was sie bißher gelehret, geglaubet, leben, leyden, sterben, sondern sie wollen corrigibiliter seyn“. Auch Lubath wurde in seiner Wortwahl zunehmend drastischer und begründete die lutherische Abwehr gegen die reformierte Theologie biblisch: „Duldet doch der H. Christus also das Unkraut, und will, daß wirs nicht aus reißen, sondern unter uns mit wachsen laßen sollen, aber daß wirs als Waitzen annehmen, und diesen gleich guth achten, und damit brüderschafft machen sollten, solches lehret der Heyland nicht“. Allmählich zweifelte Lubath den Sinn des Kolloquiums an: „Sie laßen sich nicht trennen vom Synodo [. . .] und wir auch nicht, was bedarffs denn nun viel Conferirens?“ Da „nun hierin keine plena consensio, also muß nur tolerantia externa bleiben, wie sie ietzo ist, daß beydes mit einander wachse biß zur vollen Erndte, aber nicht eins sey, sondern zweyerley, da eines von dem andern separatim eingebündelt werden soll. Matth: XIII“. Lubath war der Meinung, dass „Culpa Schismatis ist nicht penes nos, denn wir haben vor uns Veritatem hangen und halten fest am Worte Gottes, wer da nicht mit uns ist, der irret sich, und hat solche Schuld“. Lorentz warf den Reformierten in seinem Votum (aaO., f. 547r–549b) vor, „das sie nicht so wohl von der warheit alß frieden den anfang machten. Weil sie immer erst de pondere umb vertrauen zu stifften, und nach malß erst de vero reden wollten“. Lorentz war im Gegensatz zu Lubath der Meinung, dass die Frage nach einer Toleranz zu diesem Zeitpunkt des Kolloquiums noch nicht gestellt werden könne: „Noch mal ists noch eben eine un erörterte Sache, ob wir baider seits solche Tolerantz ein gehen können? Welches sich finden wird, wan wir vero in quisito, vom pondere controvertiren werden“. Schon jetzt bezweifelte er allerdings die theologische Einigkeit der Reformierten: „Ob alle ihre Hn Collegen mit Ihnen de pondere einig, dürffte schier großer Zweiffel. Nöch größer, ob alle Ihre Reformirte Lehrer“. Im Folgenden wies Lorentz entschieden die Anschuldigungen der Reformierten zurück und verteidigte die bisherigen Berliner Antworten auf den Vorschlag, nach Art des Kasseler Kolloquiums zu verfahren. Wenn die Berliner sich diesem und einer Tolerierung bisher verweigert hätten, so liege dies an „Ihrer [der Reformierten] Wieder Gottes werck lauufenden Religion“.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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verlesen wurde251. In ihrer Schrift betonten die Berliner ihr Glaubens- und Diskussionsfundament: „Wir berufen unß auff unsere libros Symbolicos, darinn alle unsere aufrichtige Confessiones-Verwanten einerley meinung haben, die in der heiligen Schrifft gegründet ist. Auch die größesten und nötigsten Quaestiones arduas [= schwierige Fragen], so hierbey fürlauffen können, hatt Gottes wort schon offenbahret“.
Auf dieser Basis sahen die Berliner einen „dissensum fundamentalem“ zwischen dem, was in der Bibel stehe, und dem, was von den Reformierten sowohl beim derzeitigen als auch beim Kolloquium zu Kassel vertreten wurde. Solange die Reformierten „grobe Irrtümer“ vertreten würden, könne es zu keiner Toleranz kommen. Daher wurden sie durch die Lutheraner aufgefordert, sich deutlich von den Lehrentscheidungen der Dordrechter Canones abzugrenzen: „Trennen sich nun die herrn Collocutores nicht vom Synodo und sonderlich in der Quaestione de pondere, so trennen sie sich eben darin auch nicht davon, daß sie die darin streitige Puncten, die oft auch in unsere doctrinen laufen, von solchem pondere halten, quod concernant ipsam fundamentalem fidei doctrinam, imo evertant, ut venenum Pelagianum, et tandem nullo modo tolerandae [= die das Glaubensfundament selbst betreffen, dieses umstürzen wie das pelagianische Unheil, und letztlich in keiner Weise zu tolerieren sind]“.
Sowohl das Präsidium als auch die Reformierten waren mit der Antwort der Berliner auf das Schreiben, welches die Reformierten in der sechsten Session am 10. Oktober verlesen hatten 252 , nicht zufrieden. Beim Treffen am 17. Februar hatten die Räte die Berliner erneut dazu gedrängt, eine deutliche Antwort zu den damals formulierten Thesen 253 der Reformierten zu verfassen. Daher konkretisierten die Berliner in der vierten Schrift254 ihre bereits in der zehnten Session verlesene Antwort 255 auf das Schreiben der Reformierten. Die Lutheraner ergänzten und führten die bisher von ihnen aufgestellten Syllogis251 Gemeint ist das Antwortschreiben der Reformierten auf die Berliner ‚DeductionSchrift‘, vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 284r–287r [F2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 165–171 [XXIII]. 252 Gemeint ist das Schreiben in GKl Archiv XII/90/3, f. 240v–246 [S und U]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 65–78 [XIV]. 253 Die reformierten Thesen lauteten: „Nostra prima est: Es ist nichts in den confessionibus Reformatorum nominatis enthalten ümb welches willen der so es lehret, judicio divinio verdammet sey [. . .] Thesis secunda lautet also: Es ist in obgent. Confessionibus nichts verschwiegen oder verneinet, ohn deßen wißenschaft und übung Gott keinen Lehrer will selig machen“ (Vgl. 4.3.1.5). 254 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 312r–318r [O2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 248–262 [XXIXd]. 255 Gemeint ist das Schreiben in GKl Archiv XII/90/3, f. 252r–258v [X]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 123–136 [XVIII Lit. B].
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
men hinsichtlich deren Wichtigkeit und Klarheit aus und reflektierten über die in ihren Schriften angewandte Methode. Sie betonten, dass die Reformierten, „wofern sie und zwar beständig nach diesem 3. Confessionibus lehren, sie solche grundlehren des glaubens ümstoßen, ohne welcher wißenschafft niemand kan selig werden“. Diese Situation werde sich auch nicht ändern, da „die herrn Collocutores, wofern sie beständig nach diesen 3. Confessionen lehren, [. . .] den grund unverrückt behalten“. Auch weiterhin würden die theologischen Differenzen „zwischen unß und der herrn Collocutorn [. . .] in alle wege de erroribus gravieribus et finalibus“ betreffen. 4.3.3.4 Das Treffen am 27. Februar 1663 Am 27. Februar 1663 wurden die Berliner Lutheraner durch die Räte von Schwerin, von Rhaden, Somnitz und von der Gröben zu einer inoffiziellen Session um 14 Uhr in die Geheime Ratsstube geladen. Auch Nicolai, der sich den Berlinern bereits während der zehnten Session angeschlossen hatte, war anwesend.256 Der Zweck dieses Treffens lag darin, die Berliner für ihre eingereichten Schriften zu tadeln und sie davon zu überzeugen, sich dem kurfürstlichen Willen einer mutua tolerantia nicht weiter zu verweigern. In einer langen Rede beklagte von Schwerin, dass die Berliner Schriften wie die meisten vorherigen Schreiben der Lutheraner wenig zu diesem Ziel beigetragen hätten: „das Ministerium zu Berlihn [hat] wieder so offt ergangene Verordnung und ihre eigene Verheißung nicht purè geantwortet ad quaestionem, sondern auch sonst viel unnötige dinge mit ein gemischt“. Der Oberpräsident warf den Berlinern vor, dass diese gegen eine mutua tolerantia ausgerichtet seien. Das Präsidium habe „gewiß mit sonderbahrem betrübnis verspüret müßen, das [. . .] sie viel mehr diesen löblichen Zweck Seiner Churfürstlichen Durchlaucht ver256 Zunächst reichte Nicolai eine Schrift (Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 383r–384r; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 263–265 [XXX]) ein, in der er erklärte, warum er sich von den Cöllnern separiert hatte. Demnach hatte er gemerkt, das sich „des Cöllnischen Ministerii gedancken ziemlicher maßen geendert“ hatten. Seitdem könne er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, dass „meine herrn Collegen in deßen keinen Errorem Fundamentalem in Articulis de Sacra Coena et Persona Christi agnosciren wollen“. Nicolai hat jedoch nicht, wie Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 130, schreibt, wie alle anderen anwesenden lutherischen Kollokutoren das Protokoll unterschrieben. Dass er selber ein eigenes Protokoll verfasst hat, welches dann heute als verloren gelten müsste, ist jedoch zu bezweifeln. Die Cöllner Lutheraner, die Reformierten und die Protokollanten einschließlich Schardius waren zu dem Treffen nicht gefordert. Die Berliner Pfarrer führten ein eigenes Protokoll („Im absentz des Hn Notarij Dentzers [. . .] Vom gesampten Ministerio protocollirt“), durch welches die Forschung über die Vorkommnisse unterrichtet ist. Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 415v–418v; bis auf die Unterschriften abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 130–136.
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hindern wollen“. Da ihre Schriften „auff höchst schädliche diffidentz [= Misstrauen] gebauet [seien . . .] Und dan Solche Beschuldigung sich finden in diesen Scriptis, die nicht mehr als Verbitterung bey der andern Seite Verursachen“, sollten die Berliner sie zurücknehmen. Schließlich bat von Schwerin die Berliner, eindeutig darzulegen, „ob Sie den Vorsatz haben wollen nach Chrufl. Dhl. Verlangen zu procediren und dan fride zum Zweck zu haben. Sonst würden Sie beßer thun (es nicht auß zu sagen) vor sich und ihrer Kirchen damit es auch Ihren (von den Rähten) nicht länger Verdruß machen möchte“. Nach einer Pause trug Lilius stellvertretend für alle anwesenden Lutheraner eine Antwort vor, in der er in sieben Punkten erklärte, dass sich die Berliner immer nur zum jeweils geforderten Thema geäußert und „nie das geringste Imperioses intendiret“ hätten. Ihre Schriften, „darauf das meiste theil unserer gemeldeten unschult beruhet“, sollten ad acta gelegt werden, weil „darinn alle hefftigkeit vermieden“ sei. Die Berliner wollten, „mit Jedermann eine Christliche Vertraulichkeit [. . .] stifften“, wenn diese Vertraulichkeit und der Friede zwischen den Konfessionen in der göttlichen Wahrheit gegründet sei. Von Schwerin verteidigte in seiner Antwort das bisherige Vorgehen des Präsidiums und bat die Berliner, die zuletzt eingereichten Schriften zurückzuziehen. Er betonte, dass die Reformierten die Lehre von der Manducatio oralis nicht als Wahrheit Gottes annehmen könnten: „den friede begehrt man an Reformirter Saite auch nicht anders, alß auff die warheit zu gründen, verstehens aber daß geoffenbahrte wort Gottes, und nicht irgend in diesen oder Jenen autoriby. Oralem manducationem aber nehmen wir (nicht unter die geoffenbahrte warheit) so nicht an“.
Abschließend ermahnte von Schwerin die Berliner, dass sie „solch gezänck Von den Cantzeln laßen und sie auch ein Gottselig Leben führen [sollten] da Ihnen mehr alß mit unbegreifflichen Controversien wird gedienet sein“. Die Berliner folgten der Bitte von Schwerins, ihre Schriften zurückzuziehen, jedoch nicht. 4.3.3.5 Die Verteidigungsschrift für Reinhardt Der Ton zwischen dem Präsidium und den Berliner Lutheranern, insbesondere Reinhardt, wurde rauer. Bei der inoffiziellen Session am 27. Februar hatten die Räte vermutlich Reinhardt maßgeblich für die bisherige Ergebnislosigkeit des Kolloquiums verantwortlich gemacht. 257 Da diese Vorwürfe in den Augen der Berliner Lutheraner ungerecht waren, erarbeiteten sie in den folgenden 257 Was das Präsidium genau zu Reinhardt gesagt hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Merkwürdigerweise findet sich im Protokoll von diesem inoffiziellen Treffen keine direkte Bemerkung dazu.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Tagen eine Erklärung. Der heutige reichhaltige Quellenbefund zeigt, dass sich die Berliner zu jener Frage ausführlich durch Voten beraten haben. Lubath war in seinem Votum 258 vom 4. März der Meinung, dass die Beschuldigungen hinsichtlich Reinhardts Person entschieden zurückgewiesen werden müssten, da diese „dem gantzen Ministerio bey andern Kirchen und unsers Religions Verwandten schimpflich, und auch den H L. Reinhard ungütig un[d] zu nahe, [un]d samptliches Ministerij Jeden gliede so judicirlich [un]d verächtlich seyn wird“. Reinhardt habe nicht aus Eigensinn die Führung der Berliner übernommen, sondern weil es Lilius aus Altersgründen nicht mehr schaffe. Trotzdem habe der Archidiakon „nicht das gantze Werck allein [. . .] begehret [. . .] sondern jeder Collega daß Seinige dabey gethan, et seine momenta & bedencken selbst eigendlich alle mahl auff gesetzt, eingeschickt, auß welchen gantzen Collegii doctis et rationib. [un]d zwar unius cujus separatim prasentiby die schrifften zusammen gezogen, Verferiget sind, das in allen eines Jedweden Meinung ist, et also gäntzliche Collegialische Zusammen stimmung [un]d vereinigung, welche jeder mit seiner unterschrifft bekräfftiget hatt“.
Lubath betonte, dass „alles was gearbeitet worden, unser sämptliches werck ißt, darin unser aller ein müthiger wille und meinung wohl bedachtsam entahlten ist“. Daher richtete Lubath schließlich seinen Appell an die „Hn Räthe unser demüthigen bitten, Sie wollen in gemein das gantze Ministerium, und absonderlich den H. L. Reinhard mit solchem Verdacht, alß geschehe es auß eigener Ehre, nicht ohne Verunglimpfung der andern Verschonen“. Lorentz betonte in seinem Votum259, dass die Berliner „protestieren [müssten . . .] darwieder zum förderlichsten, contestiren auch mit hertz und Munde auffs betheuerlichste, daß alle und iede, wer die auch seyn mogen, so denen hochverordneten H: Directoribus solches zuerst ins Ohr gesetzet, als falsche Delatores nicht allein an unsern viel geliebten Collegen H. Reinhardten gehandelt, sondern auch an uns andern Propst und Prediger der Berlinischen Kirchen, mercklichst zu injuriren gesuchet“.
Lorentz wollte das Präsidium davon überzeugen, „daß alles und vieles, was biß Dato schriftlich gehandelt worden, von einem in dem unsers Collegii Berol: auffs genaueste überleget, seine Meynung entworffen und aus derren eine gewiße Schrifft abgefaßet, einem ieden auffs neue zur Revision zugesendet, umb was noch dabey vorzunahnen, so were zu erinnern, biß nach diesemin pleno Collegio sie zulezt pro et contra ventiliret, und wir endlich eingerichtet werden sollte, beschlossen werden“. Alles, was „unser vorbeneldeter Collega H. Lic: Reinhardt mündlich gehandelt und geredet, hat er gleichfals nicht anders, als von uns sämtlichen wohl bedächtig überleget, und ihm in Commisis gegeben, fürgebracht und geredet“.
Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 507v–508v. Vgl. aaO., f. 508v–509v.
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4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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Die kurfürstlichen Räte sollten „gnädig geruhen und ferner solchen ungegründeten Delationibus keinen Glauben geben“. Helwig stimmte seinen Kollegen zu, schlug allerdings in seinem Votum 260 vom 5. März noch einen Zusatz vor: „Es ist zwar in dieser Schrifft meines Erachtens unser lieber H. Collega Lic: Reinhardt zur Genüge entschuldiget, aber von den übrigen Personen des Ministerij der ihnen durch die geschehene Beschuldigung zu wachsender Schimpf nicht gäntzlich abgewehret. Es könnte viel mehr Gelegenheit genommen werden, aus den Worten Litt: p. (daß H. Licent: nomine omnium schreibe) zu schließen, daß außer ihm, sonst niemand schreibe, welches wir doch allbereit geleugnet haben“. Nur so könne „das gantze Collegium entschüldiget werde[n]“.
Unter Einbeziehung dieser Voten fertigte Gerhardt am 6. März auf der Grundlage eigener Überlegungen einen Entwurf einer „Entschuldigungs Schrifft“261 an.262 Das letztendlich offiziell übergebene Schreiben 263 war im Grunde genommen Gerhardts Votum, welches nur durch wenige Einschübe ergänzt wurde. Die Berliner haben es vermutlich zu Beginn der dreizehnten Session oder kurz zuvor eingereicht. Darin betonten sie, „das bemelter Herr Licentiat Reinhart dergleichen nicht verdienet habe, die weil alles das Jenige was er bißher in dieser Sache getahn, Er nicht vor sich selbst, sondern auff unser aller ansinnen, [. . .] mit des gantzen Collegii übereinstimmung“. Da „wir doch alle zu gleich, und auff ein mahl nicht reden können“, hätten die Berliner „den H Lic. Reinharts, alß dem nachsten, in der ordnung zu reden et das wort zu führen“ beauftragt. Die Berliner baten das Präsidium, „Sie wollen mit sampt denen zum colloquo hoch verordneten H Räthen Unsern mehr gedachten lieben collegen, ein anders und beßers zu trawn als das er zu unser aller Ver Vgl. aaO., f. 509v. Vgl. aaO., f. 506r–506v. 262 Lilius fertigte kein eigenes Votum an. Er las sich Gerhardts Votum durch, ergänzte es an einigen wenigen Stellen zum letztendlich abgegebenen Schreiben und unterschrieb Gerhardts Votum mit „consentit et subscribit [= ist einig und unterschreibt] Georg Lilius m.s.“. Aus Lilius’ Ergänzungen lässt sich schließen, dass er Gerhardts Schrift in einigen Punkten demütiger, aber auch persönlicher gestaltete. Lilius beschrieb sich selbst „alß ein 66.Järiger“, der auf Grund seines „hohen alters halben meinen durch viel schwere Sorg et arbeit hafftig geschwächetes Gedächtniß“ nicht traute. Der bedeutendste Unterschied zwischen Lilius’ und Gerhardts Äußerungen lag jedoch darin, dass Gerhardt betonte, dass Reinhardt die Meinung aller Berliner repräsentiere „gleich in Schriften od[er] mündlichen unter redungen“. Da Lilius diesen Satz strich, muss man davon ausgehen, dass Lilius wie seine anderen Berliner Kollegen zwar den Konsens mit Reinhardt in den Schriften betonte, seine mündlichen Äußerungen jedoch nicht immer teilte. 263 Vgl. das Schreiben in GKl Archiv XII/90/3, f. 507r–507v. Eine ähnliche Version befindet sich auch aaO., f. 318v–319v [P2]; ausschnittsweise abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 192 f. (Anm. 82). 260 261
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
unglimpffung uns aller saits so einen mercklichen Vorgriff thun, Und was des gantzen Collegij werck ist, vor sein eigen werck aus geben, [. . .] Viel mehr wollten E. hochw. d gnaden es unzweiffelt darvorhalten, [. . .] das alles, was in diesem wehrenden Colloquo von unser saiten bißher geschrieben d geredet worden oder auch kunfftig wird geschriben et geredet werden, unser aller ein müthiges hertz Sinn et meinung sey“.
4.3.3.6 Die dreizehnte Session In der dreizehnten Session 264 am Freitag, dem 6. März 1663, beklagte von Schwerin in seiner Eingangsrede wieder einmal, dass die Berliner im Februar „viele weitleuftig Schriften“ eingereicht hätten, die „so gar nicht zur Sache gehören“. Da diese nicht dem „Vor gesetzten zweg“ dienten, „haben die Chfl. H Commissarij befunden, daß alles das Jenige, was nach solchen Schriften 265 Vor nicht gethan gehalten werden sollen“. Während der laufenden Session sollten lediglich „die hinc inde eingereichte Schriften Verlesen werden“. Die Weigerung des Präsidiums, die am 20. Februar eingereichten Schriften verlesen zu lassen und sie damit als offiziell zum Kolloquium zugehörig anzusehen, hatte sich schon während des Treffens am 27. Februar angedeutet. Trotzdem dürfte sie eine große Enttäuschung für die Lutheraner gewesen sein, denn immerhin hatten sie viel Zeit und Mühe bei der Ausarbeitung der Voten und Schreiben aufgebracht. Von Schwerin rechtfertigte das Vorgehen des Präsidiums und forderte die Kollokutoren wiederholt dazu auf, all dasjenige beiseite zu lassen, „was das werck verhindern und weitleuffiger machen könne“. Zur Erklärung der Berliner hinsichtlich der Vorwürfe an Reinhardt stellte von Schwerin klar: „Was sonsten Von des Hn Lic: Reinhards ambition u. erudition [= Ehrgeiz und Bildung] mag gesagt sein, so ist solches nicht gesagt, das es zu seiner Verkleinerung gereichen solle“. Zugleich wurde Reinhardt ermahnt, „daß er die Ambition fallen laßen solle wie auch daß Disputiren“. Dann verlas Dentzer zunächst die am 30. Januar durch die Berliner eingereichte Schrift 266 . Darin wiesen diese ausführlich Vorwürfe von Seiten der Reformierten zurück und warfen diesen vor, dass deren Lehren nicht schriftgemäß seien: Vgl. das lutherische Protokoll in GKl Archiv XII/90/3, f. 419r–421v; das reformierte Protokoll aaO., f. 473v–474v. Das reformierte Protokoll ist bis auf die Eingangsrede wesentlich knapper gehalten als das lutherische Protokoll. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 138–142, hat Teile des lutherischen Protokolls transkribiert. 265 Gemeint ist die von den Berlinern am 30. Januar eingereichte Schrift sowie die entsprechende, am 4. Februar eingereichte, Antwort der Reformierten. 266 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 291r–295v [H2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 206–215 [XXVIII]. Der erste Entwurf für diese Schrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/6, f. 13r–20v. 264
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„wo stehen der herrn Collocutoren beyde Theses in Scriptura? Wo stehet geschrieben, daß Gott nicht wolle ohne wißenschafft, Erkändniß und bekändniß, der hochgelobten heiligen dreyeinigkeit einigen menschen, Reformirten Christen, prediger, selig machen? Item eine wißenschafft erkändniß und bekändniß der einigen Persohn des herrn Jesu Christi? Jenes erste verneinen die herrn collocutores, es sey dennoch schrifft mäßig. [. . .] zu mahl da die Torunische Confession bezeuget, daß beiderley articulus maxima fundamentalis“.
Die Erkenntnis der und das Bekenntnis zur richtigen Lehre seien für alle Menschen notwendig zur Erlangung der Seligkeit: „Wer ein rechtschaffender Christ ist, er sey zuhörer oder Lehrer muß Erkändnuß und bekändnuß seiner glaubensstücken zu beyden teilen führen“. In ungewohnter Deutlichkeit äußerten sich die Berliner in dieser Schrift zum Abendmahl. Das reformierte Verständnis sei falsch, die Reformierten gäben sogar zu, dass die Lehre von der mündlichen Nießung in den drei Konfessionen nicht vorkomme und „daß doctrina de orali manducatione nicht ein mahl gehöre ad circumstantiam fidei, Ja gar ad Scientiam Theologicam“. Das lutherische Verständnis hingegen gründe sich in den biblischen Schriften: „Eßet, das ist mein Leib, trincket, das ist mein Blut. Nicht das brodt, nicht der wein ists, sondern brodt und wein ist eine gemeinschaft des leibes und blutes Christi, stehet αυτολεξεί gnug in heiliger schrifft, das es auch keiner aequipellentz bedürffte, noch einiger consequentz“.
Diese Lehre sei notwendig zur Seligkeit: „Welche Lehre keine andere Lehre ohne dem fluch Gottes neben sich leidet, selbige ist [. . .] von solcher wichtigkeit, daß bey der selben Verneinung Gott keinen menschen [. . .] will selig machen“. Die Abendmahlslehre sei „ein stück der wahrheit Gottes“. Dem Berliner Schreiben nach werden zur Kirche Christi „alle menschen, Jüden, Türcken, und Heiden beruffen“. Zur Kirchenzugehörigkeit gehöre das rechte Verständnis der Sakramente. Die Einsetzung des Abendmahls sei von Gott angeordnet worden und müsse auch so verstanden werden: „Alles was von Gott anbefohlen wird, hatt an sich selbst necessitatem Praecepti, und ist deßhalb keiner distinction von nöten“. Da der lutherische Syllogismos vom Abendmahl auf den biblischen Aussagen gegründet sei, könnten ihn die Berliner nicht ändern: Der „Major bleibet deßhalb richtig und unverletzt, redend von alle dem, was ein stück der göttlichen warheit ist“. Neben dieser Hauptschrift verlas Dentzer auch noch einen Anhang267, der 267 Da dieser Anhang der Forschung bisher unbekannt war, folgt er hier im vollen Wortlaut: „Anfangs-Weise gibt das Berlinische Ministerium auff die Vier puncte, so Laut des Protocols in nachsten Confessu den 23 Jan: 1663 proponirt worden, zur freundl[ichen] Antwordt. Beym 1. daß dennoch die Hn Collocutorn die vorschläge vom cassellano Colloquio
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hauptsächlich aus Ergänzungen und Klarstellungen zum Protokoll der zwölf- ten Session bestand.268
selbst nicht beliebet, worüber wir aber nicht waiter begehren einiges Disputat zu führen. Beym 2. wir begehren die selbe nicht in unsere schulen zu führen, halten sie in allen ihren competirenden Ehren, der Hail. Geist ab helt unß saine hohe schule, die allerhailigste Officin des | göttlichen worts offen. Bey demselben wollen wir alle in tiefster demuth zur lehre gehen, auff daß wir hier und dort Zaitlich und ewig von Gott gelehret sain. Sonst werden wir unß freylich nie vor der gantzen Lutherischen Kirche und ihrem längst schon für getragenen Lichte einen Vorzug tribuiren. Aber wir mögen unß ungefälschten hertzen gleich wol auch wol fragen: Ob die Herrn Collocutores dann alles dieses licht der gesampten Lutherischen Kirchen, und mit aller derer Schrifften, so ex professo nur vom Hail Abendmahl geschrieben, (dabey sie dennoch ad qualibet resitua dubia nicht alle allen ferner schrifft – oder mündlichen bericht abstaten können) zur genüge gelesen, durch schauet, und er wogen, und wann solches nur etwa größesten oder großen Teilß möchte geschehen sain; welches Argument pro manducatioen orali sie alß dann vor das größeste licht selbst halten, daß ihnen dennoch zu dunckel geschienen, u. kaine völlige genüge thun. Wann die Herrn Collocutorn unß solches dargelegt, so wollen wir darüber alßdan freundligst conferiren, und unsere wol fundirte Erläuterungen darzu thun: die wail gleich wol auch daß inter argumentandum fürgehen kann, daß, nach dem daß maß der gabe Gottes unterschiedlich, mancher die Sache deutlicher alß der ander, mancher danck aber propniret, wo bey dan mündliche conferentzen und unterschiedliche augen nicht ein geringes praestiren, daß ad inquirendam veritate profunditatem dienen kann, invocato ferio Numinc Divino. Beym 3. Dem ungegründeten Bericht, ob hetten sie, (die Collocutores Berol:) die Exemplaria Epicrisios Wittebergensis in diese Lande ausgestreuet, ist schon mundlich Andwort auß ehrlichen und solches dinges unbewußten Hertzen des Collegij geschehen, und wollen wir deßhalb (außer dem Wunsch, daß wir mit wolberechtigten Fug die ersten Außagen, die unß dadurch einiges nachteil zu stifften gedencken, gerne bey ihren Unwahrheiten möchten kennen Lernen) in tragenden respect der Churfl. Herren Räthe, die an solchen Vortrag, wie wir gemercket, und weiterer rührung keinen gefallen tragen, keine weitere worte machen. Nur dieses wieder holendt, das solches buch nicht unser, sondern unter die Kirchenbücher zu St. Nicolay gehörig, wie auch deßen itzo bedürfftig, da es Zu mahl wieder unß citiret worden, welches bey den anwesenden herrn Consistorialiby wir billig erinnern wollen. | Beym 4. were dennoch die bey behaltung des wortes Damnabilis, welches denen Churfl. Herrn Räthen ihrem ungezweifelten hohen absehen nach, nicht miß fellig, freylich ad extricatiorem formationem status Controversia viel dienlicher, und hette eben dadurch können viel langwirigkait der disputate vermindern werden. dann wird auch schon des worts Damnate nicht in itzigen Thesiby formaliter gedacht, so ists doch eben so guth aequipollenter da, und nur erkläret, durch Phrasin negativam: Nicht selig machen, ut res eodem recidat, es werde bey dieser materie durchs nicht selig machen, oder in materia de gratia durch Verdammen, für getragen. Gott allein die Ehre! Georg: Lilius m.s. E. S. Reinhardt Mp M. Martin Lubath m.s. Paulus Ger- hardt M. Samuel Lorentz m.s. Jacobus Helwigius m.s.“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 295v–296v [I2]). Der erste Entwurf für diese Schrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/6, f. 21r–22r.
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Als nächstes verlas Girck die Antwort der Reformierten 269 auf die Hauptschrift der Berliner. Darin wiesen die Reformierten viele Beschuldigungen der Lutheraner zurück, beklagten sich darüber, dass ihnen durch die Berliner Schrift „abermahls unrecht“ getan werde und griffen ihrerseits die Berliner an: 268
„Was sie schreiben[,] die Offenbahrung Göttlichen worts dependiret nicht etc.[,] erweiset klärlich und augenscheinlich, daß die herrn Collocutores unsere distinctionem de diverso modo revelationis divinae et probationes [= Unterscheidung zwischen verschiedenen göttlichen Offenbarungsweisen und Beweisführungen] gantz und gar nicht verstanden haben“.
Hauptsächlich forderten die Reformierten von den Berlinern eine genaue Erläuterung von der Lehre der manducatio oralis: „Wann die herrn Collocutores ihren Syllogismum erhalten, und unser responsum enerviren [= entkräften] wollen, so müßen sie erweisen, daß daß dogma de Orali et supernaturali manducatione erstlich entweder αύτολεξεί [= mit ausdrücklichen Worten] in der Schrifft stehe, oder durch eine unstreitige consequentz darauß gefolgert, oder zum aller wenigsten durch eine solche interpretation auß der schrifft deduciret werde, welche notorio Antiquitatis consensu bestetigt werde. Zum andern muß auch zugleich erwiesen werden, daß dieses dogma ad ipsam substantiam et fundamentaliam fidei gehöre, und also beschaffen sey, daß ohne diese Lehre niemand den glauben, Liebe und hoffnung, und also die ewige seligkeit erlangen könne. So lange die herrn Collocutores dieses nicht erweisen können, so stehet unsere Thesis negativa unbeweglich“. 268 In der dreizehnten Session wurden von den Lutheranern diese beiden Schriften verlesen, und nicht, wie Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 137, schreibt, die ersten beiden der vier am 20. Februar eingereichten Schriften. Des Weiteren irrt er, wenn er meint, die Schrift der Reformierten sei die Antwort auf die eben erwähnten lutherischen Schriften. Die reformierte Schrift stellt die Antwort auf die in dieser Session verlesene Schrift dar, dies wird eindeutig aus dem Inhalt der reformierten Schrift deutlich. Die reformierte Schrift kann nicht die Antwort auf die ersten beiden der vier am 20. Februar eingereichten lutherischen Schriften sein, da zum einen die reformierte Schrift bereits am 4. Februar vorlag und zum anderen von Schwerin in seiner Eingangsrede kurz zuvor erklärt hatte, dass die vier am 20. Februar eingereichten Schriften „vor nicht gethan“ angesehen werden sollten. Beeskows Irrtum rührt vermutlich daher, dass er die Bemerkung aus dem Protokoll „Hic. Min: Berol: Scripta Sub A. & B. à Matthias Denzero pralegebantur“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 419v) falsch gedeutet hat. Die Buchstaben „A. & B.“ beziehen sich jedoch nicht auf die ersten beiden der vier Schriften, die Beeskow in seiner Transkription mit „a“ und „b“ bezeichnet. Mit „A“ ist vielmehr die oben erwähnte lutherische Schrift gemeint (dies geht auch aus dem reformierten Protokoll aaO., f. 473v, hervor), mit „B“, die in der vorliegende Studie erstmalig transkribierte Schrift, die Beeskow übersehen hatte. 269 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 319v–323r [Q2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 266–273 [XXXI]. Der erste Entwurf für diese Schrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/6, f. 5r–9v.10r. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, berichtet auf S. 137 von der Verlesung der Schrift, behauptet dann aber aaO., 146, die Schrift sei nicht verlesen worden.
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Wenn die Lutheraner diese Erklärung geleistet hätten, wollten die Reformierten mit ihnen darüber sprechen, „ob denn diese genante dogma de Orali [. . .] von solcher beschaffenheit sey, daß Gott keinen, so es verneinet, wolle selig machen“. Da das Präsidium feststellen musste, dass mit der bisherigen Vorgehensweise das Ziel einer mutua tolerantia nicht erreicht werden konnte, befahl von Schwerin nun, dass sich die Kollokutoren zukünftig an eine „Verordnung circa modum procedendi“ zu halten haben. Diese sollte dem erfolgreichen Fortgang des Kolloquiums dienlich sein. Jene Verordnung270 wurde durch Schardius vorgelesen. Darin blickte das Präsidium zunächst auf den bisherigen Verlauf des Kolloquiums zurück und hielt fest, dass die „Reformirte Herrn Collocutores zur genuge“ auf die kurfürstlichen Fragen geantwortet hätten, die Lutheraner hingegen nicht. Durch deren terminologische Auseinandersetzungen über die Verdammung und den Unterschied zwischen „Lehrern“ und „einfach Glaubenden“ sei „viel hinderniß entstanden“, welches dem kurfürstlichen Ziel nicht hilfreich gewesen sei. Daher wurden die Berliner zum wiederholten Male „ernstlich vermahnet“, in Zukunft ausschließlich auf die Ausgangsfrage zu antworten. Im zweiten Teil der Verordnung forderten die Räte die Kollokutoren dazu auf, „auff daß von Seiner Churfürstlichen Durchlaucht aufgegebene häupt werck alleine die gedancken zu richten, so werden dem nach der Herrn Collocutores alles andere, so nicht eigentlich dazu gehöret, fahren laßen, undt vorhin angeordneter maßen, in erörterung des puncts von der mündtlichen nießung, fort zu schreiten wißen“. Der Vorschlag der Lutheraner, „daß es rathsamer sein möchte, die controversien an sich selbst zu erörtern und dan de momento dissensus zu reden“, wurde zurückgewiesen, „weil es Seiner Churfürstlichen Durchlaucht gnädigsten Rescripto wiederleuft, selbiges Rescriptum auch auf guten grunde beruhet, undt der in der Christlichen Kirchen allschon zu handen genommen praxi zustimmet“. Die Räte betonten, dass nach wie vor „einiger nutzen für die Christliche Kirche aus so thaner disputation zu hoffen“ sei. Zusätzlich zu dieser Verordnung bekamen die Berliner durch die Reformierten zehn auf Latein abgefasste Thesen überreicht. 271 Auf diese sollten die Lutheraner zukünftig antworten. In ihren Thesen bezogen sich die Refor Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/3, f. 329r–330r [S2]; SBB-PK Nachlaß Oelrichs 474/1, f. 13r–14v; abgedruckt nach GKl Archiv bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 193–195 (Anm. 86). 271 Wie das reformierte Protokoll, GKl Archiv XII/90/3, f. 474r belegt, wurden die Thesen den Berlinern zwar überreicht, nicht jedoch verlesen, wie Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 138 und 195, schreibt. Die Thesen der Reformierten befinden sich abschriftlich in GKl Archiv XII/90/1, f. 55r und GKl Archiv XII/90/3, f. 330r [T2]; erstmals 270
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mierten auf die drei märkischen Bekenntnisse und schrieben, dass die manducatio oralis kein fundamentaler Glaubensartikel sei und nicht die Substanz des Glaubens tangiere. Da Gott auch all diejenigen, welche die Lehre der manducatio oralis verneinen, selig mache, sei diese nicht heilsnotwendig. Wer nicht an sie glaube, werde durch Gottes Urteil nicht von der Gnade und dem Heil abgeschnitten. Inhaltlich stark redundant, zeichneten sich die Thesen durch eine genaue Terminologie und das Bestreben aus, theologisch anders Denkende zu überzeugen und Einwände im Vorhinein auszuschließen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Reformierten zur Begründung ihrer Thesen keine Bibelstellen angaben. Trotz der Überzeugung, die richtige Lehre zu vertreten, sahen sie keine Notwendigkeit, diese an der Richtschnur des Glaubens schriftlich zu belegen. Nach der Überreichung der Thesen folgte ein Disput zwischen von Schwerin, Somnitz und Stosch auf der einen und Reinhardt auf der anderen Seite.272 Das Präsidium drängte auf Ergebnisse, da man „es bey Ihrer Churfürstlichen Durchlaucht zu verantworten, das man die Zeit so dahinn schleichen laße, und nicht Ihr Churfürstliche Durchlaucht Zweg und Intention erreiche“. Von Schwerin wandte sich ungeduldig und verärgert an die Berliner: veröffentlicht hat sie Hering: Neue Beiträge II, 150; später auch Schulz: Gerhardt, 337; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 195 f. Sie lauten im Einzelnen: „I. Dogma de Orali et supernaturali et insensibili manducatione corporis Christi, non est Articulus fidei, sine quo Deus neminem salvare velit. II. Non constituit substantiam fidei, sine qua Deus nullum adultum in gratiam recipere velit. III. Non est dogma absolute necessarium ad cognoscendum, sine quo Deus neminem rationis usu praeditum salvere velit. IV. Qui secundum confessiones nominates ignorat dogma de orali et supernaturali et insensibili manucatione corporis Christi, non ideo excidit gratia et salute. V. Non ignorat aliquid, sine quo nec salvifica fides, nec aeterna salus constet. VI. Non ideo est judicio divino exclusus a gratia Dei. Wan dieses Theses, oder eine unter diesen recht abgehandelt sein, so kan weiter negatione dogmatis, undt dem nach von folgenden Thesibus tractiret werden. VII. Qui secundum confessiones nominatas Dogma de orali et supernaturali et insensibili manducatione corporis negat, non negat articulum fundamentalem, sine quo nec fides nec salus constat. VIII. Non everit fundamentum fidei, sine quo Deus neminem salvare velit IX. Non contradicit articulo fidei fundamentali, sine quo Deus neminem vel in gratiam recipere, vel salvare velit. X. Non negat dogma, quod salva fide negari nequit“. 272 Zuvor hatte Lilius um Abschriften der Verordnung und der letzten reformierten Schrift gebeten und die Verlesung der vier eingereichten Berliner Schriften gefordert. Anschließend rechtfertigte sich Reinhardt ausführlich gegen Vorwürfe des Präsidiums und betonte, dass sein Handeln und Sprechen immer im Namen aller Berliner geschehen sei. Um das Kolloquium voran zu führen, „wolte er lieber allezeit schweigen so viel müglich, alß weitlauffig Viel anfuhren, der Ehre Gottes aber überall den Vorzug laßen“.
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„Dafern Sie, Lutherani, nichts alßfort de pondere anfangen wollen, durfften Sie es Ja nur sagen, Sie könten oder wollten nicht anders antworten, den ja die Herrn Commissarii, weil sie sonst gnug zu thun und mit vielen geschäfften überheuffet, die Zeit wo zu anders anwenden könten“. Hierauf erwartete das Präsidium eine direkte Antwort von den Berlinern, die diese aber nicht geben wollten. Vielmehr forderten sie nach einer Beratungspause auch weiterhin die Verlesung ihrer vier eingereichten Schriften. Nachdem Stosch die künftige Beantwortung der vier Schriften zugesagt hatte, drängte das Präsidium die Berliner, direkt auf die lateinischen Thesen zu antworten. Obwohl jene erst nach einwöchiger Beratung antworten wollten, sagte Reinhardt zum Abschluss der Session auf Drängen des Präsidiums: „Man könne diese Theses mit 2 worten beantworten [. . .] Es steckt nehmlich in diesen beyden worten. In dem Velit, und in dem Ignorat“. Das Präsidium war mit der dargestellten Verordnung zu den ursprünglichen Eingangsfragen zurückgekehrt und hatte ein Zwischenfazit des bisherigen Kolloquiums gezogen. Inhaltlich hatte es jedoch keinen neuen Vorschlag zur Vorgehensweise gebracht. Die Beschwerde darüber, dass die Berliner im Gegensatz zu den Reformierten nicht ausreichend auf die Fragen geantwortet und das Kolloquium nicht voran gebracht hätten, sowie die Ermahnung, jenes zu ändern, fand sich bisher in fast jeder Eingangsrede von Schwerins. Da das Präsidium kein geeignetes Druckmittel fand, die Berliner zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen, war auch diese Verordnung kaum dazu geeignet, das Kolloquium zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Auch die Thesen der Reformierten schienen dazu ungeeignet, stellten sie doch lediglich eine erneute Darlegung der reformierten Position dar, von der alle Beteiligten bereits wussten, dass die Lutheraner sie ablehnen würden. Sowohl dem Präsidium als auch den Reformierten kam es anscheinend nicht mehr darauf an, eine Grundlage für ein gemeinsames Gespräch zu schaffen. Möglicherweise sollten die Lutheraner mit den Thesen provoziert werden, Aussagen zu treffen, aus denen deutlich hervorgehen könnte, dass sie an einer Toleranz nicht interessiert seien. 4.3.3.7 Die Berliner Schreiben vom 19. und 27. März 1663 Bevor die Berliner offiziell auf die Verordnung antworteten, sandten sie dem Präsidium zunächst am 19. März eine ausführliche Antwort 273 auf die letzte Schrift der Reformierten zu. Auch zu diesem Berliner Schreiben hatte Ger273 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 323r–329r [R2]; abschriftlich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/3, f. 9r–16v; abgedruckt nach GKl bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 274–287 [XXXII].
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hardt ein wichtiges Votum verfasst.274 Darin weist er zunächst zum wiederholten Male darauf hin, dass die Berliner bisher auf die Schriften der Reformierten und die Fragen des Präsidiums seiner Ansicht nach ausreichend geantwortet hätten. Ihre Antworten seien zwar nicht immer direkt gewesen, aber da sie „per insertam limitationem et distinctionem“ geschahen, seien sie „absolutae“. Im Folgenden beklagt sich Gerhardt vor allem darüber, dass das Kolloquium eine „res judicata“ bzw. „auß einem amicabili ein actus forensis et judicalis“ geworden sei, bei der sich die Lutheraner für ihr Vorgehen rechtfertigen müssten, die Reformierten jedoch nicht. Dabei seien die Lutheraner „nicht in Judicio, sondern in amicabili colloquio erschienen“, ebenso sei das Kolloquium kein „actu disputatorio academico“. Gerhardt verlangt, dass die Kollokutoren zuerst „de veritate“ der Glaubenslehren thematisieren sollten, „ehe man necessitatem, pondus et momentum vor sich nehme“. Die Forderung der Reformierten, dass die Lutheraner ihr Verständnis vom Abendmahl begründen sollten, sei falsch, da sich die lutherische Lehre direkt aus der Bibel herleite, welche wiederum nicht argumentativ begründet werden könne. Gottes Wort stünde nicht „auf argumenta convincetia“, sondern „wenn mir Gott etwas saget, so muß ichs glauben, daß es denn also sei, wenn er mir gleich nicht rationes et argumenta dabei giebt [. . .] daß Gottes Wort nicht zu den Klassen νοητϖν [≈ der mit Vernunft zu verstehenden Dinge] oder intelligibilium [≈ der zu verstehenden Dinge] gehöret, sondern sie sind alle πίστα [= Glaubensdinge] sie sind ὑπὲρ νοῦν, ὑπὲρ ἄιστησιν Και ὑπὲρ λόγον [= über den menschlichen Verstand hinaus, über das Erkennen und über das Wort hinaus]“.
Daran anschließend kritisiert Gerhardt das theologische Verständnis der Reformierten massiv und warf diesen vor, Glaubensgrundlagen abzulehnen: „Können mit diesem Behelf der Reformierten noch heutiges Tages alle diejenigen durchkommen, die da leugnen, daß Jesus Nazarenus filius Dei et promissus mundi Messias sei, daß drei Personen in einem unzertheilten göttlichen Wesen sei[en], daß wir einzig und allein durch den wahren Glauben gerecht und selig werden müssen“.
Gerhardt differenziert das lutherische Verständnis der Glaubensartikel. Er unterscheidet zum einen zwischen „articulos omnibus salvandis necessarios ad credendum“ und „articulos fidei fundamentales“, also zwischen heilsnotwendigen und fundamentalen Glaubensartikeln. Die Lehre von der manduca274 Der Votenteil in GKl Archiv XII/90/3 zeigt, dass die „VOTA der Herren Collegen auf die Schrifft der Reformirten welche den 6. Martij von ihnen verlesen worden“ (aaO., f. 510r) nur von Gerhardt und Helwig verfasst, jedoch von allen anderen Pfarrer unterschrieben worden sind. Gerhardts einundzwanzigteiliges Votum vom 16. März befindet sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 510r–515v und ist der Forschung seit Langbecker: Gerhardt, 65–81, bekannt.
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tio oralis sei ein „Articulus fidei fundamentalis“, nicht jedoch ein „Articulum fidei constitutem, sed conservantem“. Dies bedeute, dass Menschen, welche diese Lehre „nicht gewußt oder geglaubet haben“, trotzdem, und zwar allein aus Gotte Gnade, selig werden können. Daher, gab Gerhardt zu bedenken, „dürfen wir auch nicht erweisen, daß ohne dieser Lehre Niemand den Glauben, Liebe und Hoffnung, und also die ewige Seligkiet erlangen könne“. Wer jedoch eine heilsnotwendige Lehre ablehne, habe den göttlichen Gerichtsspruch und die ewige Verdammnis zu befürchten. Gerhardt meint, „daß zwar viel von dem Worte Gottes salva salute könne ignoriret, aber nicht das geringste davon absque periculo divino judicii et aeternae damnationis [= ohne die Gefahr göttlichen Urteils und ewiger Verdammnis] negiret werden“. Da die Lutheraner mit ihrem Verständnis der manducatio „in possessione hujus veritatis so viel und so lange Jahr her, gottlob gewesen sein“, läge es nicht an ihnen, diese Lehre zu beweisen, sondern an den Reformierten, Belege für deren Ablehnung der Lehre anzuführen. Gerhardts Votum bildete diesmal nicht die wesentliche Grundlage für die letztendlich abgesendete Schrift der Berliner. Zu hart in der Wortwahl und zu strikt ablehnend war seine Meinung, als dass sie aus Rücksicht vor dem Präsidium den Reformierten hätte offiziell entgegen gesetzt werden können. Wer an seiner Stelle argumentationsführend war, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Gerhardt formulierte jedoch am deutlichsten, was die Lutheraner untereinander über die Reformierten dachten und schuf somit faktisch die theologische Grundlage für das weitere Verhalten der Pfarrer beim Kolloquium. Aus Helwigs Votum 275 wird deutlich, dass er Gerhardt im Wesentlichen in der Zurückweisung der von den Reformierten formulierten Vorwürfe folgte. Des weiteren wollte er von jenen „aber mahl wünschen zu wißen, wo den das judicium divinum stehe, da durch die Jenigen so die Mündliche Nießung des Leibes und blutes Christi im Abendmahl nicht glauben oder verneinen von der verdammung loß gesprochen werden. Wir haben solches allbereit in negster Schrifft amicabiliter gebethen, ist aber in der antwort gar mit still schweigen vorbey gegangen“. In dem schließlich abgesendeten Schreiben beharrten die Berliner auf ihren Thesen und verneinten, den Reformierten Unrecht getan zu haben. Theologisch fanden sich keine neuen Meinungen oder Ansätze, die dem Kolloquium eine Wendung hätten bringen können. Die Berliner forderten die Reformierten auf, nicht „unsere Syllogismos der ambuguitäten und unrichtigkeiten zu beschuldigen, sondern worin es stecke, amicabiliter da[r]zu legen“. Bei den Themen Abendmahl und Prädestination grenzten sich die Berliner entschieden von den Lehren der Reformierten ab: Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 515v–516v.
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„Ein ander Evangelium ists [. . .] wen Christum mit dem einem worte: Eßet: zu sterckung unsers glaubens seinen Leib will gegeßen wißen, zu Versiegelung unserer seligkeit an leib und seele und man dahin gegen lehret: Christus will seinen Leib, lauts des selben worts: Eßet: nicht gegeßen haben. Ein ander Evangelium, wen der heilige Geist lehret: Gott wolle, daß allen Menschen geholffen werde, und man dagegen lehret: Gott wolle nur daß allen beruffenen, und endlich noch mit ein mahl allen beruffenen menschen geholfen werde, oder wie die Marpurger glauben, Gott sey gar nicht bereit, allen und Jeden menschen seine Gnade mit zu teilen. Diß und dergleichen sind gar andere Evangelia“.
Um den präsidialen Mahnungen nach zu kommen, erklärten sich die Berliner einverstanden, zunächst diejenigen Artikel abzuhandeln, welche die Reformierten als notwendig zur Seligkeit anerkennten. Abschließend betonten die Lutheraner zum wiederholten Male, dass sie die manducatio oralis als Fundamentalartikel verstünden: „Nochmals sol auch erwiesen werden, wie ferne die Mündliche genießung des Leibes und blutes Christi im heiligen Abendmahl notwendig sey alß ein glaubens Articul ad cognoscendum“. Am 27. März sandten die Berliner ihre Stellungnahme zur Verordnung vom 6. März an das Präsidium. Diese Stellungnahme bestand aus zwei Teilen, zum einem aus einem Brief276 , der eine erneute Bitte um die Zusendung von Abschriften der letzten reformierten Schrift, der präsidialen Verordnung und der Wittenberger Epicrisis zum Inhalt hatte, und zum anderen aus einem Schreiben, das die Antwort der Lutheraner auf die zehn lateinischen Thesen der Reformierten in Form von eigenen Thesen darstellte. 277 Diese Thesen nahmen die ursprünglichen Thesen der Reformierten auf und ergänzten und konkre276 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 330v–331r [V2]. Aus diesem der Forschung bisher unbekannten Brief wird zudem deutlich, warum es zu einer längeren Pause zwischen den einzelnen offiziellen Sessionen kam. Die Lutheraner beklagten sich, dass „eben itzt auch die Pocken unsere Behausungen [. . .] betreten, (auch sonsten ein paar der unsrigen ziemlich übel auff sich befinden)“. 277 Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 55v–56v, GKl Archiv XII/90/3, f. 331r–332v [W2] und SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/3, f. 23r–24v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 338–340. Die Lutheraner präzisierten die ersten sechs Thesen der Reformierten, die Thesen sieben bis zehn gestalteten sie inhaltlich um oder neu. Zur Veranschaulichung der Aufnahme der ursprünglichen reformierten Thesen sind im Folgenden die lutherischen Zusätze kursiv markiert, in den ersten sieben Thesen sind die wenigen Auslassungen reformierter Wörter durch die Lutheraner durchgestrichen markiert: „I. 1. Dogma de Orali et supernaturali et insensibili manducatione corporis Christi, non est Articulus fidei constitutivus, sine quo Deus, tam voluntate gratiosae oblationis quam actualis collationis, nemi nem salvare velit. 2. Idem dogma est articulus fidei confirmativus, sine quo tamen Deus multos servare vult, voluntate actualis collationis. II. 1. Idem dogma non constituit substantiam fidei, sine qua Deus nullum adultum in gratiam recipere velit, voluntate vel gratiosae oblationis vel actualis collationis.
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tisierten sie. Auf der Basis von Gerhardts letztem Votum formulierten die Berliner eine begriffliche Differenzierung: Die Lehre von der manducatio oralis sei kein articulus constitutivus, sondern ein articulus confirmativus. Dies bedeute, dass sie nicht die Substanz des Glaubens konstituiere und Gott Menschen auch ohne Kenntnis dieser Lehre selig mache. Wer jedoch einen articulus confirmativus leugne, der eine aus Gnade gegebene Gabe („voluntatem gratiosae oblationis“) sei, könne nicht selig werden. Die zweite wichtige Differenzierung betrifft den Grad der „Ignorantia“. Der Mensch sei von dem Heil und der Gnade Gottes ausgeschlossen, wenn er die Lehre trotz besseren Wissens verneine („ignorantia privationis“), wenn es sich dabei jedoch um
2. Idem dogma fidem constitutam corrobat ac individuali obsignatione conservat. III. 1. Idem dogma non est dogma absolute necessarium ad cognoscendum, sine quo Deus neminem rationis usu praeditum salvere velit voluntate actualis collationis. 2. Idem dogma est dogma hypothetice necessarium, sine quo Deus neminem rationis preditum salvere velit, voluntate gratiosae oblationis. IV. 1. Qui secundum confessiones nominatas ignorat dogma de orali et supernaturali et insensibili manucatio ne corporis Christi, ignorantia purae negationis, non ideo excidit gratia Dei et salute (non tamen ob carentiam meriti sui, meretur namque ignorantia sua ut excidat, sed ub abundantiam meriti Christi, ob quod applicatum, peccamino sum illud meritum ad aeternam damnationem non imputatur). 2. Qui secundum confessiones nominates idem dogma ignorat, ignorantia privationis, ille ideo excidit gratia et salute. V. 1. Qui secundum confessiones nominates idem dogma ignorat, non ignorat aliquid, sine quo nec salvifica fides, nec aeterna salus constet constitutive. 2. Qui idem dogma ignorat, ignorat aliquid, sine quo nec salvifica fides, nec aeterna salus juxta voluntatem gratiosae oblatio nis constet confirmative. VI. 1. Qui idem dogma ignorat, ignorantia purae negationis, non ideo est judicio divino exclusus a gratia Dei et salute Th. IV. §.1. Wan dieses Theses, oder eine unter diesen recht abgehandelt sein, so kan weiter negatione dogmatis, undt dem nach von folgenden Thesibus tractiret werden. 2. Qui idem dogma ignorat ignorantia privationis, ideo est exclusus a gratia Dei et salute, nisi resipiscat. VII. Qui secundum confessiones nominatas Dogma de orali, et supernaturali et insensibili manducatione corporis negat, non is negat articulum fidei fundamentalem, sine quo nec fides nec salus confirmative juxta voluntatem gratiosae oblationis et praesupposita necessitate hypothetica constat. VIII. Qui idem dogma negat, evertit fundamentum fidei corroborano seu confirmans, licet non sit tale, sine quo Deum absolute nemninem, et nulla voluntatis suae ratione salvare velit. IX. Qui idem dogma negatione affectata negat, contradicit articulo fidei fundamentali confirmativo, sine quo tamen Deus multos in gratiam recipere, imo et salvare vult tam voluntate gratiosae oblationis, utpote infantes, quibus non offertur illud dogma pro circumstantia aetatis, quam actualis collationis, utpote multos etiam adultos, descriptos in prioribus. X. Qui idem dogma negatione affectata negat, negat dogma, quod salva fide negari tali negatione nequit.“
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eine reine Unkenntnis („ignorantia purae negationis“) handele, hingegen nicht. Im Gegensatz zu den Reformierten waren die Berliner der Meinung, dass die manducatio oralis ein Fundamentalartikel sei, der den Glauben stärke und bestätige. Wer diesen Artikel negiere, zerstöre das Glaubensfundament und werde daher von Gott nicht selig gemacht. 4.3.3.8 Die inoffiziellen Sessionen am 3. und 4. April 1663 Zur inoffiziellen Session am Freitag, dem 3. April, bestellte von Schwerin wiederum nur die Berliner Lutheraner in die Geheime Ratsstube. 278 Aus Krankheitsgründen konnten jedoch nur Lorentz und Helwig teilnehmen. 279 Die Berliner baten zunächst um eine Abschrift der letzten Schrift der Reformierten und um ein Exemplar der Wittenberger Epicrisis, da sie sonst nicht auf den Vorschlag, nach Art des Kasselschen Colloquiums zu verfahren, antworten könnten. Von Schwerin war verärgert, dass nur Lorentz und Helwig anwesend waren. In seiner Kritik an den Berlinern zeigte sich, dass sowohl die theologische Ausgangfrage im Speziellen als auch das Kolloquium im Allgemeinen unlösbar verknüpft waren mit der Anerkennung der Autorität des Kurfürsten. 280 Der machtpolitische Faktor spielte für das Präsidium auch während dieser inoffiziellen Session eine mindestens ebenso große Rolle wie die theologischen Fragestellungen. Lorentz und Helwig beteuerten, dass sie den Kurfürsten jederzeit als ihren Herrn anerkennten und einen Toleranz wünschten, stellten jedoch zugleich 278 Da wie bei der letzten inoffiziellen auch bei dieser inoffiziellen Session kein Notar anwesend war, stammt das einzig dazu erhaltene Protokoll von Lorentz. ME. ist das Manuskript in GKl Archiv XII/90/3, f. 421v–423r das Original. Die folgende Darstellung der inoffiziellen Session ist daher auf Grund der subjektiven Schilderung und der deutlichen Parteilichkeit mit Vorsicht zu genießen! Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 142–146, hat das lutherische Protokoll abgedruckt. 279 Die anderen Berliner Pfarrer waren krank oder hatten ihre „heusern mit den Pocken beladen“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 421v). Sie wollten daher nicht kommen, damit der Kurprinz nicht angesteckt werden würde. Ob außer von Schwerin noch andere Räte an dem Treffen teilnahmen, ist zwar wahrscheinlich, aus den Quellen aber nicht ersichtlich. 280 Der Oberpräsident fragte, „ob wir [= die Berliner] Churfürstliche Durchlaucht für unsern fürsten und herrn erkenneten? Denn es ließe sich ansehen, alß ob wir solches nit thun wollten, weil wir unß sogahr weigerten deroselben einige Unterthänigsten Schuldigen Gehorsam zu leisten in dem wir deßen für geschriebenen modo conferendi nicht folgen wollten! Da doch, weil es die Theologi Rintelenses Ihren Gnäd: Fürsten gethan, wier es umb so viel desto mehr schüldig wehren. Wir hetten auch deßen viel mehr Ursach, alß Reformati, weil sie einen Reformirte Obrigkeit hetten und sich aller beharrlichen Gnade versichern könten“.
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klar, dass „wir nach dem Gewißen nicht anders handeln und vorfahren, alß bißher geschehen ist; were sonst niemandt unter unß, der nicht wünschte, wen es müglich, den Edlen Kirchfrieden auch mitt seinem bluthe zu erkauffen“. Von Schwerin wiederum versicherte, dass seine Frage „keine gewißens Sache“ betreffe, sondern lediglich den „modum procedendi“: Die Lutheraner sollten „directe opponiren, die limitation außlaßen, und de pondere zu erst handeln“. Die Berliner entgegneten, dass ihre Conclusio nur nach ihrem Gewissen vorgebracht werden könne, „weil das pondus [. . .] guten theilß müste in vero gesuchet werden“, des weiteren sei „die limitation [. . .] unmüglich [. . .] auß zu laßen, so lange das Wort Damnatus in seinen Rigore [= Strenge] stehen bleibe“. Von Schwerin konnte dem nicht zustimmen und warf besonders der letzten Berliner Schrift Weitläufigkeit und Unverständlichkeit vor. Die Berliner wollten „das werck nur weiter aufziehen, oder gar decliniren“, die Reformierten hingegen antworteten „kurtz und deutlich“. Die Berliner seien „nicht ein mahl in modo procendi“ dazu bereit, dem Präsidium folgen. Beim nächsten Treffen sollten die Berliner deutlich erklären, ob sie den Kurfürsten als ihren Herren anerkennen. Falls dies nicht geschehe, so von Schwerin abschließend, „dürffen wir nicht mehr zusammen kommen, sondern müßen es Seiner Churfürstlichen Durchlaucht berichten, und es ihr heimstellen, wie sie Ihre hohe Landesfürstliche Gewalt und Respect selbst schützen, und handt haben wolle, zu mahl, da auch die Lutherische Herrn Räthe Ihre des Minist: Berol: Zanksüchtigkeit selbst ihnen zum höchsten mißfallen laßen“. Noch am selben Abend wurden Lorentz und Helwig durch einen Geheimen Ratsdiener darüber informiert, dass sie „für den [= vor dem] Geheimen Rath folgenden tages um 8 Uhr morgens zu erscheinen“ hätten. Daher haben sie „noch selbigen Abendt in H Lic: Reinhards behausung Collegialiter überleget“, wie sie sich gegenüber dem Geheimen Rat am besten verhalten sollten. Am nächsten Tag, dem 4. April, erschienen Lorentz und Helwig vor dem Geheimen Rat und trafen auf die Räte von Schwerin, von der Gröben und von Rhaden.281 Der Oberpräsident befahl zunächst, dass zukünftig alle gesunden Pfarrer den präsidialen Einladungen folgen sollten, weil „das heilsame werck deßhalben nicht kann auffgeschoben, noch an die seite gesetzet werden [kann]“. Dann fragte er erneut, ob die Berliner den Kurfürsten als ihren Herrn anerkennten. Dieses versicherten die Berliner und erklärten ihre bishe-
281 Das durch Lorentz und Helwig verfasste Protokoll befindet sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 423r–426v; fast vollständig abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 146–155.
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rige Haltung während des Kolloquiums damit, dass die Räte einen anderen „modum precedendi“ von ihnen verlangten als die Reformierten. Von Schwerin kritisierte, dass sich die Berliner nicht an die Verordnungen des Präsidiums hielten. Zudem hätten sie die Reformierten und das Präsidium mit ihrer „Limitation dergestalt angegriffen, das es ümb ihrer gantzen Kirchen willen, Ihnen nicht zu leiden stünden“. Die Berliner wehrten sich gegen diese Vorwürfe und betonten, dass sie „keinen andern Richter in solchen Sachen erkennen könnten ohn Gott durch seinen Wort“. Die ausschließlich negative Beurteilung der Berliner durch die Reformierten und das Präsidium sei unrecht. Dem schloss sich eine lange und wenig ertragreiche Diskussion darüber an, ob die „Limitation [. . .] hette außgelaßen werden können“. Diese schloss von Schwerin mit der Forderung ab: „Es sollen unß die Herren, was in Modum procedendi et conferendi belanget, schlechter dinge gehorchen. So sie das thun wolten, solten Reformati Theologi herein kommen, und mitt ihnen über ihre antwort auff die letzte fürgeschriebene Theses, conferiren: wo nicht haben wir mit ihnen nicht mehr zu thun“. Nachdem die Berliner versprochen hatten, sich künftig an die vom Präsidium gewünschte Vorgehensweise zu halten, betraten Stosch und Vorstius282 die Geheime Ratsstube. Von Schwerin befahl, dass sich die Kollokutoren „unter ein ander über die eingegebene Theses vernehmen möchten, damit sie den Sensum recht assequiren [= begreifen]“. Stosch warf den Berlinern vor, dass deren Stellungnahme zu weitläufig und unverständlich sei. Er bedauerte, dass jene sich nicht, wie intendiert, eine These ausgesucht, sondern alle beantwortet und kritisiert hätten. Er hob hervor, „das wir die Herrn in allen dingen nicht verstehen, hetten demnach zu bitten, Sie wollten unß Etliche Terminos erklähren, wie sie von Ihnen gemeinet“. Lorentz und Helwig wollten zwar zu den Thesen Stellung nehmen, betonten aber, dass sie sich weder dazu vorbereitet, noch von ihren Kollegen eine Vollmacht zum Antworten hätten. Stosch ging nun die einzelnen lateinischen Thesen der Lutheraner durch und ließ sie sich durch die Berliner erklären. Dabei standen weniger theologische denn terminologische Fragen im Mittelpunkt. Schließlich „Erinnerte H. Stoschius erst quod male dicantur Theses oppositae, weil ihnen nicht alle entgegen stünden, sondern sie viele drunter würden zu geben“. Tatsächlich konnten die Reformierten den meisten Thesen zustimmen, wie sie im Folgenden einzeln auflisteten.283 Die Berli282 Warum Vechner nicht erschien, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Möglicherweise war auch er krank. 283 Auf die meisten Thesen antworteten die Reformierten mit „consentimus [= wir stimmen zu]“, auf die siebte These mit „Plures commiscentur Quaestiones, interim totum negamus [= viele Fragen wurden vermischt, wir verneinen jedoch alles]“ und auf die
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ner Differenzierung der „Ignoratio“ sei jedoch noch „in controversia“ oder „noch nicht in der quaestion“. Auch der Bezeichnung der manducatio oralis als „articulus fidei fundamentalis“ und dem siebten und zehnten Artikel standen die Reformierten höchst skeptisch gegenüber. Zum Abschluss der zweistündigen Session befahl von Rhaden 284 , dass sich die Berliner „auff erfordern entweder Montags oder sonst“ bereit zu halten hätten. Stosch war zufrieden mit dem Sessionsverlauf und bemerkte angesichts der Auseinandersetzung über die Thesen: „es währe heute mehr verrichtet, alß sonst in allen Conferentzen geschehen. Were ihnen lieb, das wir Oralem manducationem o [= nicht] pro Articulo fidei fundamentali Constituente hielten, könten also die Theses anders formiren“. Nach Rückfrage durch die Berliner antwortete Stosch, dass er die These ändern wolle, „aber nicht anders, alß wir allemahl, auff befehl u. genehm haltung der Hn. Commissariorum“. Tatsächlich erwecken die Protokolle den Eindruck, dass sich Lorentz und Helwig irenisch und wesentlich zielorientierter verhielten als ihre nicht anwesenden lutherischen Kollegen während der einzelnen Sessionen. Auch wenn die Lutheraner fortwährend betonten, dass sie nur ihre eigene Meinung, nicht aber die konsensuell verabschiedete offizielle lutherische Position darstellen könnten, war die Hoffnung Stoschs und des Präsidiums auf eine erfolgreichere Fortführung des Kolloquiums als bisher durchaus berechtigt. Zwar nicht als offizielle Session deklariert, erfüllten die Verhandlungen in den Augen des Präsidiums dennoch diese Funktion. Dadurch war von Schwerin in seiner Leitungsfunktion wieder bestärkt. Wie sich später herausstellen sollte, teilten die Lutheraner jedoch keineswegs die Auffassung des Präsidiums, sondern verfolgten weiterhin ihre in den offiziellen Sessionen verfolgte Verhandlungstaktik. Wenige Tage nach der inoffiziellen Session reagierten die Reformierten auf die letzte Berliner Schrift und die Verordnung vom 6. März mit einem Schreiben, auf das die Berliner am 10. April mit einer Protestation antworteten. Beide Schriften wurden während der folgenden Session verlesen. In der Sitzung des Geheimen Rates vom 20. April berichtete von Schwerin: „In unserer theologischen Conferenz allhier sein wir außer der Zeit, da mit S.Ch.D. beiden Prinzen ich zu Spandau gewesen, allemal die Woche eins zusammenkommen, allein bisher so viel noch nicht ausrichten können, daß es meritiert hätte, S.Ch.D. davon zehnte These mit „Negamus hoc u. ist nicht contra thesin. Wollen auch de pravitate voluntatis durch auß nicht disputiren, weil S. C . Dhl. Solche/Buben/nicht werth helt, das man über sie disputire“, vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 426r–426v. 284 Da von Schwerin „circa hor. 9 auß dem Rath ging“ (aaO., f. 426v), leitete von Rhaden als nächst ranghöchster Beamter die inoffizielle Session.
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einmal unterthänigst zu referiren, außer daß bei der letzten Conferenz, da nur wenig von dem Berlinischen Ministerio gewesen, weil die andern und übrigen die Kinderblattern in den Häusern haben, ich etwas hoffnung zu besserem Fortgang geschöpfet“.
Von Schwerins Bericht zeigt, dass sich trotz der bisherigen Erfolglosigkeit des Kolloquiums die angespannte Lage in der Doppelstadt etwas beruhigt hatte. Anscheinend hielten sich die Pfarrer größtenteils an das Elenchusverbot. Von Schwerin fuhr fort: „Von Scheltern und Verketzern in denen Kirchen vernimbt man sonst itzo nichts, sie erbieten sich auch gar gern darin also zu continuiren. Allein eine solche concordiam zu stiften, wie die Marburger und Rinteler unter sich gethan, hat uns das Berlinische Ministerium bisher schlechte Anzeige gethan; das Ministerium in Cölln aber, außer dem jüngsten Diacono [= Nicolai], welche zwar anfangs auch der Meinung gewesen, nochmals aber wieder zurückgetreten, sich besser herausgelassen. Sollten wir nun bessere progressus hinfüro darin thun, so will S.Ch.D. ich alsdann unterthänigste Relation davon abstatten“285.
Aus dem Bericht wird zudem deutlich, wie wenig Friedrich Wilhelm und der Geheime Rat über die Vorgänge beim Kolloquium informiert waren. Zum einen teilte von Schwerin den Räten mit, dass die Cöllner nicht mehr am Kolloquium teilnahmen, obwohl dieses schon seit über fünf Monaten nicht mehr der Fall war. Auch erfuhr Friedrich Wilhelm erst jetzt offiziell, dass sein Vorschlag von Ende Oktober, nach Art und Weise des Kasseler Kolloquiums zu verfahren, von den Berlinern grundsätzlich verworfen worden war. Als wesentlicher Grund für diese verspäteten Informationen muss der Aufenthalt Friedrich Wilhelms in Preußen angesehen werden. Die dortige schwierige konfessionelle Situation erforderte seine Anwesenheit und sein Hauptaugenmerk. Anders als in der Doppelstadt war die Bevölkerung in Preußen stärker in den konfessionellen Konflikt involviert. Von Schwerin hatte die Berliner in der inoffiziellen Session am 4. April gewarnt: Es „dürffen die H nicht fragen nach solchen Exempeln der Lutherischen Predigern welche die Unterthanen wieder die Orbigkeit auff wigeln, weil derer genugsam Vorhanden, und gehet zu Königßberg in Preußen itzt kein tag dahin, da ihre Prediger nicht die bürgerschafft an ermahnen sollten Chfl. Dhl. n[icht] zu gehorsamen“. Wie der Bericht bei der Geheimen Ratssitzung vom 20. April zeigt, war es nicht einfach für das Präsidium und den Geheimen Rat, den Kurfürsten von den Ereignissen in der Doppelstadt zu unterrichten. Auch in diesem dritten Kolloquiumsabschnitt war es dem Präsidium nur begrenzt gelungen, die Kollokutoren zum Zugeständnis einer gegenseitigen Toleranz zu bewegen. Die neue präsidiale Verhandlungstaktik, zunächst mit den Zitiert nach Meinardus: Protokolle VI, 920.
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Lutheranern alleine zu verhandeln, hatte auch deswegen keinen Erfolg, da Letztere zu sehr auf ihren vorher bereits eingehend erläuterten Positionen verharrten. Dies wurde in den vier langen eingereichten Schriften, deren maßgeblicher Kompilator Gerhardt war, in besonderem Maße deutlich. Zwar betonten die Berliner fortwährend ihren Willen zur Toleranz, doch dürfe diese nicht auf Kosten theologischer und somit seligmachender Wahrheit geschehen. Die Lutheraner wehrten sich zum einen gegen Vorwürfe, wonach sie mit ihren Schriften den Reformierten Unrecht getan hätten, und zum anderen gegen Angriffe gegenüber Reinhardt. Spätestens ab der 13. Session war der Konflikt zwischen von Schwerin und Reinhardt so offensichtlich, dass dem Oberpräsidenten eine unparteiische Kolloquiumsleitung kaum mehr möglich war. In bisher nicht vorgekommener Deutlichkeit grenzten sich die Lutheraner vom Abendmahlsverständnis der Reformierten ab. In der sich anschließenden Auseinandersetzung ging es vor allem um die Bestreitung der Reformierten, dass die Lehre von der manducatio oralis ein Articulus fundamentalis sei. Um eine Einigung zwischen den Kollokutoren voranzutreiben, erließ das Präsidium eine neue Verordnung, der wiederum zehn reformierte Thesen zum Abendmahl folgten. Obwohl die Lutheraner die Thesen in vielen Punkten ausführlich kritisierten, konnten die Reformierten den Lutheranern größtenteils zustimmen. Die inoffiziellen Sessionen, an denen von lutherischer Seite nur Lorentz und Helwig teilgenommen hatten, ließen auf Grund ihrer größtenteils konstruktiven und freundlichen Umgangsweise das Präsidium auf einen erfolgreichen Abschluss des Kolloquiums hoffen.
4.3.4 Die vierzehnte bis siebzehnte Session Im letzten Kolloquiumsabschnitt ging es hauptsächlich um die Frage, ob die vornehmlich während der inoffiziellen Sessionen erarbeitete partikuläre Einigung in der Abendmahlslehre durch einen Rezess fixiert werden könne. Deren Verneinung führte zusammen mit anderen Faktoren letztendlich zum Abbruch des Kolloquiums. 4.3.4.1 Die vierzehnte Session Während der vierzehnten Session 286 am Freitag, dem 1. Mai 1663, wurde erneut deutlich, dass eine Einigung in weiter Ferne lag. Zunächst fasste von 286 Die Session dauerte von 7 bis 10 Uhr morgens und fand wiederum in der kurfürstlichen Bibliothek statt. Vgl. das reformierte Protokoll in GKl Archiv XII/90/3, f. 475r– 476r. Da Dentzer nicht anwesend war, schrieb jemand anderes das anschließend von allen Berliner Pfarrern unterschriebene Protokoll der Lutheraner. Möglicherweise war es
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Schwerin die inoffiziellen Treffen vom 3. und 4. April zusammen und betonte wiederholt, dass die vier eingereichten Berliner Schriften nicht verlesen werden sollten, da sie dem Kolloquiumsziel hinderlich seien. Als Reaktion auf die Verordnung vom 6. April verlas Gierck eine irenisch ausgerichtete Stellungnahme der Reformierten 287. Darin benannten diese diejenigen Punkte, in denen es angeblich Übereinstimmungen mit den Lutheranern gebe. Es herrsche Einigkeit, dass die manducatio oralis kein „Articulum fidei constitutionis“ (ein den Glauben konstituierender Artikel) und somit nicht zur Erlangung der Seligkeit glaubensnotwendig sei. Wer die manducatio oralis aus Unkenntnis ablehne, werde nicht von Gottes Gnade ausgeschlossen.288 Im Folgenden benannten die Reformierten strittige Punkte. So bezweifelten sie, dass die manducatio oralis ein „fundamentalis articulus fidem confirmans“ (ein den Glauben festigender Fundamentalartikel) und zur Bestätigung des Glaubens und der Seligkeit notwendig sei. Zudem lehnten sie die Vorstellung ab, dass ein Mensch, der über die manducatio oralis unterrichtet worden sei, daran glauben müsse, um die Seligkeit zu erlangen. Die Reformierten waren der Meinung, dass auch derjenige die Seligkeit erlangen könne, der die manducatio oralis bewusst ablehne.289 Schließlich baten sie das PräsiPape, der das Protokoll verfasst hat. Dies könnte erklären, warum die Berliner Schriften in dieser Situation nicht von ihm, sondern von Reinhardt verlesen wurden. Vgl. das lutherische Protokoll aaO., f. 427r–437r. Das lutherische Protokoll ist wesentlich länger als das reformierte Protokoll, da unter anderem die Unterredungen zwischen dem Präsidium und den Lutheranern während der Sessionspausen und der Abwesenheit der Reformierten protokolliert wurden. Dies zeigt, wie wichtig den lutherischen Kollokutoren die genaue Nachvollziehbarkeit des gesamten Kolloquiums war. Da das lutherische Protokoll auf Grund der unterschiedlichen Verfasser der einzelnen Sessionsabschnitte schwierig nachzuvollziehen ist, sei hier die Reihenfolge des lutherischen Protokolls aufgelistet: 1.) aaO., f. 417r–428r: Session mit allen Kollokutoren, 2.) f. 428r–431v: Sessionspause, Unterredung Berliner-Präsidium, 3.) f. 432r–432v: Session mit allen Kollokutoren, 4.) f. 431v unten und 433r–436r: Sessionspause, Unterredung Reinhardt-Präsidium, 5.) f. 436r–437r: Session mit allen Kollokutoren. 287 Vgl. aaO., f. 332v–333v [X2]; Abschriften befinden sich ebenso in GKl Archiv XII/90/1, f. 57r–58r und aaO., f. 134r–135r; verschiedene Originalentwürfe befinden sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/5, f. 17r–19v; vollständig transkribiert nach GKl Archiv XII/90/3 bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 288–290 [XXXIII]. 288 Die Reformierten meinten, „daß zwischen unß und ihnen außer streit ist. 1. daß die Lehre von dem mündlichen und doch übernatürlichen und unempfindlichen eßen des Leibes etc. nicht sey ein Articulum fidei constitutions [. . .] ohne welchen der seligmachende glaube nicht könne constituiret gesetzet werden oder gegründet werden, und ohne welchen Gott keinen erwachsenen [. . .] die seligkeit würcklich geben wolle [. . .] 2. der jenige, so es entweder nicht weiß ignorantia pura negationis, oder auch verneint negatione simplicit, von der wircklichen genießung der Gnade Gottes und der Seligkeit nicht außgeschloßen sey“ (GKl Archiv XII/90/1, f. 333r). 289 Die Reformierten gaben zu, „daß unter unß fürnehmlich streitig bleiben nachfolgende Puncte. 1. Ob das genante dogma ein fundamentalis articulus fidem confirmans
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dium, über die Punkte, in denen Einvernehmen bestünde, einen Rezess aufzusetzen. Zudem fragten sie, ob auch über weitere strittige Lehren, die nicht Teil der kurfürstlichen Eingangsfragen seien, diskutiert werden solle. Die Schrift der Reformierten hatte zum wiederholten Male deutlich gemacht, dass die entscheidenden Differenzen zwischen diesen und den Lutheranern zum einen die unterschiedliche Bewertung der manducatio oralis als articulus fidei und zum anderen die Differenzierung zwischen denjenigen, welche die manducatio oralis aus Unkenntnis über den genauen Inhalt, und denjenigen, die nach der vorherigen Unterrichtung über die manducatio oralis selbige ablehnten, betrafen. Zwar kamen die Reformierten den Lutheranern in einigen Punkten entgegen, die entscheidenden theologischen Konsequenzen waren jedoch nach wie vor nicht konsensfähig. 290 Nach einer kurzen Pause verlas Reinhardt die von den Berlinern am 10. April eingereichte Protestation. 291 Darin bezogen sich die Lutheraner hauptsächlich auf die letzte inoffizielle Session und kritisierten die Zurückstellung ihrer vier Schriften. Die Reformierten wiederum verteidigten in ihrer Antwort 292 die präsidiale Zurückweisung und wiesen die Anschuldigung zurück, wonach sie schuld an der bisherigen Ergebnislosigkeit des Kolloquiums seien. Jene habe ihre Ursache vielmehr darin, dass die Berliner bisher noch nicht direkt auf die Eingangsfragen geantwortet hätten. Lilius bedankte sich für die Verlesung der Schriften und übergab eine lange Antwort 293 auf die Stellungnahme der Reformierten zur Verordnung vom 6. März. Von Schwerin beklagte, dass die Schrift zu spät eingereicht worden sei, sey, ohne welchen weder der glaube noch die seligkeit könne confirmiret und bestetiget werden? 2. Ob diß dogma hypotheticé daß ist mit bedingung also nötig sey, daß ohne deßelbige Gott keinen erwachsenen und vernünfftigen menschen die Seligkeit anbieten oder geben wolle? 3. Ob die, so diß dogma affectatè negiren, nicht können würcklich in gnaden sein und die Seligkeit erlangen“ (ebd.). 290 Hering: Neue Beiträge II, 152, geht mE. in seiner Bewertung zu weit, auch wenn die Beschreibung der Reaktion der Lutheraner zutrifft: „Dies daß die Reformirten sich bis auf 3. Punkte mit den Berliner einig erklärt hatten, war für diese eine höchst unangenehme Botschaft; denn sie wollten durchaus keine Einigkeit mit ihnen haben“. 291 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 334r–334v [Y2]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 291–293 [XXXIV]. Reinhardt betonte an dieser Stelle gegenüber von Schwerin, dass es sich bei der Protestation inhaltlich nicht um eine Beantwortung der zuletzt vorgelesenen reformierten Schrift handele, sondern um einen Protest gegen das Vorgehen des Präsidiums. 292 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 339v–340v [B3]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 294–296 [XXXV]. Ein Entwurf dieser Schrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/5, f. 21r–22r. 293 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 335v–339v [A3] und GKl Archiv XII/90/1, 121r– 125r; nach GKl Archiv XII/90/3 abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 297– 306 [XXXVI]; Diese Schrift ist die Antwort der Berliner auf das Schreiben der Reformierten vom 6. April zur Verordnung zum 6. März und nicht, wie Beeskow: Kirchen-
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was Lilius und Reinhardt wiederum mit den vielen pastoralen Verpflichtungen in der Osterzeit294 entschuldigten. Nach einem kurzen Disput zwischen Stosch und Reinhardt zogen sich die Reformierten für eine Beratungspause in einen Nebenraum zurück, um eine unmittelbare mündliche Antwort auf das Berliner Schreiben vorzubereiten. 4.3.4.2 Exkurs: Gerhardts Votum über die Schrift der Reformierten vom 6. April 1663 Die Berliner Schrift wurde in dieser Session nicht mehr verlesen. Da jedoch im weiteren Sessionsverlauf von beiden Seiten Bezug auf sie genommen wurde, seien sie und ihre Entstehung hier angedeutet. Die Lutheraner hatten ausführlich über eine Antwort auf die reformierte Schrift vom 6. April beraten, obwohl die Berliner – wie aus der Vorrede von Reinhardts Votum deutlich wird – in ihren Gemeinden viel zu tun hatten. Zwar ist keines der Voten datiert, doch müssen sie kurz vor Ostern, möglicherweise in der Karwoche, entstanden sein. Wieder einmal zeigt sich, dass Gerhardt der entscheidende Schriftführer der Lutheraner hinter den Kulissen des Kolloquiums war. Sein ausführliches Votum 295 bildete die Vorlage für die letztendlich offiziell übergebene Antwort. Die Voten der anderen Pfarrer beinhalteten lediglich Zustimmungen zu Gerhardts Ausführungen. Gerhardt kritisiert, dass die Reformierten in der Abendmahlslehre und speziell in der Lehre der manducatio oralis mit „aller gewalt zum Syncretismo“ drängen würden. Ihrer Meinung nach seien nur noch die drei Punkte fraglich, „(1) ob das Dogma de orali manducatione articulus fundamentalis consequens sey, (2) Ob diß dogma hypothetice necessarium ad salutem sey (3) Ob die so diß dogma affectate negiren, nicht können wircklich in gnaden sein, und die Seligkeit erlangen“.
Es seien aber noch viel mehr Punkte bei der Abendmahlslehre ungeklärt. Selbst wenn jedoch tatsächlich lediglich diese drei Punkte ungeklärt wären, würden sie trotzdem ausreichen, den Reformierten „Tolerantiam et Fraternitatem zu Versagen“. Auch bei anderen Lehren, die zum jetzigen Zeitpunkt des Kolloquiums noch nicht behandeln werden könnten, würden sich so viele
politik, Bd. 1, 156, fälschlicherweise schreibt, die Reaktion der Berliner auf die reformierte Antwort auf die Berliner Protestation. 294 1663 fiel Ostern auf den 19./20. April. 295 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 550r–551v; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 81–85.
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Punkte finden, dass eine Einigung mit den Reformierten unmöglich sei. Daher stellt Gerhardt klar: „Eine solche Tolerantz, wie die Reformirten bißher bey uns gesucht haben, werden wir Ihnen nimmermehr [un]d in Ewigkeit nicht willigen, haben ihnen die selben auch schon einmahl publice plat und glatt abgeschlagen, und dürfften derhalben solches Eilens gantz und gar nicht, den ehe wir auß dem Articul de coena D[o]mi[ni] et puncto Oralis manducationis herauß kommen, werden wir Ihnen so viel remonstriren, das weder wir Sie vor brüder und glaubens genoßen annehmen, noch sie unsre brüderschafft begehren können“.
Gerhardt ist der Meinung, dass weder das Präsidium noch die Reformierten einen Rezess vorschlagen könnten, ehe über ein Thema völlige Einigkeit bestehe und die Lutheraner einem solchen zustimmten. Solange der Streit um die Lehre der manducatio oralis nicht behoben sei, „müsten wir den Reformirten die brüderschafft Versagen“. Es könne um der Einigkeit Willen nicht darum gehen, dasjenige zu sagen, „was die Reformirten gern oder nicht gern hören“, sondern ausschließlich darum, die Wahrheit der Lehre zu bezeugen. Des Weiteren wirft Gerhardt den Reformierten vor, dass diese ihre Vorwürfe nicht „specificiret [un]d nahmhafftig“ gemacht hätten, denn schließlich könne von den Lutheranern nicht erwartet werden, dass diese die Notwendigkeit der Oralis manducatio beweisen. Schließlich wehrt sich Gerhardt gegen eine Toleranz, die nicht auf vollständiger theologischer Übereinstimmung zwischen Lutheranern und Reformierten in den Fundamentalartikeln des Glaubens gegründet sei. Jene hätte dann zur Folge, dass den Tolerierenden als „glaubens genoßen“ die „brüderschafft“ angeboten werden müsste. Dies könne jedoch nicht geschehen, bevor über alle wichtigen theologischen Themen gesprochen worden sei. Mit dieser Voraussetzung grenzt sich Gerhardt entschieden von dem Verständnis und Vorschlag sowohl des Präsidiums als auch der Reformierten ab, wonach eine Toleranz auch dann möglich sei, wenn es in einigen Punkten zu einer Einigung komme, kontroverse Punkte dagegen außer acht gelassen werden würden. Ein entscheidender Konfliktpunkt zwischen den theologischen Parteien lag darin, dass die Reformierten die Gewichtigkeit, „de pondere“, einzelner theologischer Lehren und Themen anders beurteilten als die Lutheraner. Was jene um der Einigung willen bewußt nicht thematisieren wollten, sahen diese „um der Wahrheit der Lehre willen“ als so fundamental an, dass ohne eine Einigung oder sogar Übernahme des Verständnisses jener eine Toleranz unmöglich sei. Das Problem lag jedoch nicht nur in der unterschiedlichen Gewichtung der Lehre. Die Berliner bestritten grundsätzlich, dass es Einigkeit mit den Reformierten gebe. Nur wenn in einem Artikel alle Lehrpunkte geklärt wären, könne überhaupt von einer Einigung in dem Artikel gesprochen werden. Da jedoch die bisherige Auseinandersetzung über das Abendmahl
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gezeigt habe, dass es bereits in der Lehre de manducatio oralis keine vollständige Einigkeit gebe, könne es zu keiner Toleranz kommen. Eine solche sei erst möglich, wenn es sowohl in allen Punkten der Abendmahlslehre als auch in allen anderen wichtigen Lehren zu einer Einigkeit gekommen sei. Die Berliner waren gewiss, dass eine derartige Verständigung unmöglich sei, da schon vor der Behandlung des Artikels „von der heiligen dreyfaltigkeit und Person Christi“ viele strittige Punkte offenbar geworden waren. Im letztendlich überreichten Schreiben sind die Bedenken Gerhardts deutlich wiederzuerkennen. Die Berliner wehrten sich vehement gegen den von den Reformierten geschaffenen Eindruck, wonach es Punkte gebe, in denen die Konfessionen einer Meinung seien, und über die ein Rezess aufgesetzt werden könne. Grund für die Ablehnung jeglicher Einigkeit „ist unser [= der Berliner] glaube, darinn wir unß auch sonst von den herrn collocutoribus [= den Reformierten] durchauß vermöge unserer Symbolischen bekändnuß bücher, von welchen allen wir nicht im geringsten weichen [. . .] absondern und scheiden“. Weder in der „definitione Articuli fundamentalis“ herrsche Einigkeit, noch „in dieser hypothesi, ob wolle Gott nicht alle menschen würcklich selig machen“. Die Berliner glaubten, „daß Gott wolle, das alle menschen würcklich selig würden, und zwar würcklich durch sein gantzes seligmachendes wort“, damit die Menschen „zur Erkändnüß der warheit kommen (Tim.II.4.) möchten“. Des Weiteren seien sich die Geistlichen „auch nicht einig mit dieser hypothesi: Ob wolle Gott nicht alle menschen durch das gesampte wort Gottes, gratiosa ejus oblatione, selig machen“. Auch die Bedeutung der manducatio oralis bliebe umstritten. Zwar bejahten alle Kollokutoren, dass das „Dogma de orali manducatione corporis Christi non est Articulus fidem constituans, vel non constituit fidem substantiam“, doch die Reformierten sähen gar nicht ein, dass diese Lehren auf der Bibel gegründet seien. Das Fazit der Berliner zu der Schrift der Reformierten und zu den irenischen Bemühungen insgesamt fiel daher deutlich aus: „Nun aber ist diß keine Gott gefällige Einigkeit. [. . .] Darümb können wir durch auß nicht in eine solche begehrte friedliche Verträglichkeit, oder unwiedersprechende erduldung [. . .] einwilligen“. Fest auf dem Fundament ihrer Bekenntnisschriften stehend, wehrten sich die Berliner vehement gegen jegliche Proklamation von Einigkeit, die nicht auf einer vollständigen Übereinstimmung in den wichtigsten theologischen Lehren beruhte. Von Schwerin und von Rhaden nutzten die Sessionspause, um mit den Berliner Lutheranern separat zu verhandeln.296 Die Räte versuchten, die Pfarrer Diesen Teil des Protokolls (GKl XII/90/3, f. 428r–431v) hat Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 156–164 abgedruckt. 296
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mit Hilfe biblischer Verweise zur Toleranz zu bewegen: „Der befehl Christi :/Liebet euch unter ein ander/:“ habe auch für den ungläubigen Thomas gegolten. Obwohl dieser die Auferstehung geleugnet habe, wurde er nicht verstoßen und „nicht auß der Brüderschaft geschloßen“. Da die Leugnung der Auferstehung „wohl so hart wehre“ wie die Verneinung der manducatio oralis, sei es aus der Bibel geboten, solche Verneinende, wie es die Reformierten seien, nicht zu verwerfen, sondern zu lieben. Dies lehnten die Berliner ab, meinten aber, dass sie die Reformierten tolerieren würden, wenn diese sich dem lutherischen Verständnis der manducatio oralis anschließen könnten. Im biblisch-bildhafter Sprache drückten sie dies so aus: „würden sie [= die Reformierten] aber also wie Thomas zu den Jüngern, wieder zu unß [= den Lutheranern] kehren von dannen sie sich abgesondert, und also wie Thomas sich wieder zu unß wenden, so würde ihnen die brüderschafft unversagt seyn“. Auffällig an dieser Aussage ist vor allem die Vorstellung, dass die Reformierten ursprünglich das als einzig wahr empfundene lutherische Verständnis der manducatio oralis vertreten und sich erst später bewusst von dieser Vorstellung abgegrenzt hätten. Des Weiteren klingt ein Verständnis an, wonach Brüderlichkeit kein gegenseitiger Akt sei, sondern einseitig von den Lutheranern erklärt werden könne. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass die im biblischen Bild gebrauchten Vergleichsbilder des ungläubigen Thomas für die Reformierten und der Jünger für die Lutheraner nicht von den Berlinern selbst stammten, sondern vom Präsidium. Durch die Aufnahme des lutherischen Gedankens erhoffte sich das Präsidium vermutlich einen neuerlichen Anschub für das gemeinsame Gespräch und das Zugeständnis einer Tolerierung der Reformierten. Sich der Ergebnislosigkeit dieses Versuches bewusst, wechselte von Schwerin das Thema und fragte die Berliner, aus welcher Stelle der Bibel sie die mündliche Nießung herleiten und wie sie diese verstehen würden. Die Berliner erläuterten, dass ein rechtes Verständnis des Wortes „eßen“ nur in den Einsetzungsworten deutlich werde. Dabei wehrten sie die Vorstellung ab, das Brot könne „nur mit dem glauben empfangen werden“. Christus habe zwar im Abendmahl lediglich Brot gegeben, doch da er gesprochen habe „Eßet das brodt ist mein leib“, werde das Brot gegessen und der Leib empfangen. Dem Einwand der Räte, die im Hinblick auf das Brotwort in Joh 6, 24–59 argumentierten, dass die Nießung allein mit dem Glauben geschehen könne, stellten die Berliner die Einzigartigkeit der Einsetzungsberichte „als sedes Cardinalis der stiftung Christi“ entgegen. Da dort befohlen worden sei, das Brot mit dem Mund zu essen, müsse auf die Nießung mit dem Mund geschlossen werden. Die Berliner wehrten des Weiteren die Vorstellung als unbiblisch ab, nach der auch der Leib Christi im Abendmahl gegessen werden solle. Den Einwand
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von Rhadens, „die gantze schrifft gehe dahin daß Christus solle im glauben genoßen und ergriffen werden“, beantworteten die Berliner damit, dass schließlich auch nicht die Seele Christi gegessen werden könne. Daraufhin setzte sich Schardius mit den Berlinern in einen hinteren Teil des Raumes und versuchte, sie von der reformierten Auffassung zu überzeugen. Paulus habe erläutert, dass „das brodt der Leib Christi sey“, daher sei mit dem Brot „eine gemeinschaft des Leibes Christi“ gemeint. Dies lehnten die Berliner jedoch ab. Da das Brot nicht zugleich Leib Christi und Gemeinschaft des Leibes Christi sein kann, könne es „Christo nie in den sinn kommen [. . .] das daß brodt der Leib Christi sey“. Daraufhin schaltete sich von Schwerin ein und bemerkte: „Das habe er noch von keinen Lutheraner gehöret, daß daß brodt nicht sey der Leib Christi. Item wir gingen darinne ab von andern Lutheranern so wohl auch in dem das andere Lutheraner alß noch D. Hülseman, gar nicht manducationem oralem vor einen Fundamental Articul hielten“. Als sich die Berliner schließlich vehement gegen den Vorwurf wehrten, dass sie theologisch von anderen Lutheranern, wie beispielsweise Johannes Hülsemann, geschieden wären, brachen die Räte die Diskussion ab. Auch wenn diese Unterredung nicht während der offiziellen Sessionen, sondern in einer Verhandlungspause stattfand, war sie für den weiteren Verlauf des Kolloquiums bedeutsam. Sie stellte eine der wenigen Situationen des gesamten Kolloquiums dar, in denen – wenn auch weder besonders originell noch scharfsinnig – theologisch argumentiert und diskutiert wurde. Zudem verdeutlichten die Berliner ihr Verständnis von der manducatio oralis, welches sie allein in den Einsetzungsworten Jesu beim Abendmahl begründet sahen. Die Berliner vertraten eine nicht näher ausgeführte Realpräsenz: Im mündlichen Essen des Brotes geschehe zugleich der Empfang des Leibes. Eine rein geistliche Nießung schlossen die Berliner aus. Bemerkenswert an dieser Unterredung war, dass die reformierten Präsidiumsmitglieder ihre offiziell neutrale Rolle aufgaben und sich offen auf die Seite der reformierten Kollokutoren stellten. Nachdem die Reformierten wieder in den Raum gekommen waren, 297 wurde die Session mit der mündlichen Antwort der Reformierten auf die Berliner Schrift fortgesetzt. Stosch beklagte sich darüber, dass diese nichts zur Sache beitrage und nur schwer verständlich sei. Er zeigte sich darüber enttäuscht, dass die Lutheraner jegliche theologische Übereinstimmung mit den Reformierten leugneten. So habe er geglaubt, es herrsche Einigkeit darin, dass das „dogma de orali manducatione non sit articulus fidei constitutivus“. Rein Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 164–165 hat diesen Sessionsabschnitt (GKl XII/90/3, f. 432r–432v) größtenteils abgedruckt. 297
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hardt unterbrach Stosch und hielt fest, dass das Entscheidende nicht die Einigkeit darin sei und der Artikel nicht als „Articulum fidem constituentem“ verstanden werde, sondern darin dass die Reformierten den Artikel „gar nicht pro verbi Dei halten“. Von Schwerin wiederum unterbrach den sich anschließenden Disput und schickte alle Kollokutoren für eine neuerliche Sessionspause in die Nebenräume. Bald darauf wurde Reinhardt durch Seidel in den Verhandlungssaal gerufen, da sich das Präsidium mit ihm allein unterhalten wollte.298 Von Schwerin äußerte seine Enttäuschung darüber, dass die Berliner an den Ergebnissen der inoffiziellen Sitzung vom 4. April, an der nur Helwig und Lorentz teilgenommen und bei der sich die Reformierten dem lutherischen Verständnis der manducatio oralis „so sehr accomodiret [= angepasst]“ hatten, nicht festhalten und darüber einen Rezess aufsetzen wollten. Das Präsidium habe gemerkt, dass die Berliner den Reformierten wegen „unterschiedenen principien [. . .] die Brüderschaft in Christo versagen“. Dies könne massive Konsequenzen zur Folge haben: „Wen solches seiner Chfl. Dhl. berichtet würde, daß man dero selben Religion nicht leiden wolte, so würde etwas vielleicht erfolgen, daß nicht wenig nachdenkens verursachen könte“. Entscheidend an dieser Unterredung war die Tatsache, dass von Schwerin Reinhardt erstmalig explizit die alleinige Schuld an der bisherigen Ergebnislosigkeit des Kolloquiums gab: Das Präsidium sei „in Ihrer opinion gestärcket worden, daß er [= Reinhardt] allein schult habe, an den Rückganck dieses heil. wercks [. . .] wo er nicht würde ablaßen von solchen principien es ihme schwere Verantwortung geben würde ümb die gantze märkische Kirche mahlen“. Mit dem Verweis auf den entlassenen Pomarius drohte von Schwerin, „Sr. Churfürstl. Durchl. hätten ja die Macht noch, [. . .] die, so ihre Religion nicht leiden wollten, auß dem Lande zu jagen“. Reinhardt wies in seiner Antwort die Anschuldigungen von sich und wiederholte, dass er die Berliner Schriften nicht alleine verfasst habe und „daß ich im Namen des Collegii rede und proponire“. Des Weiterem stellte er klar, dass die Berliner die Reformierten „zwar nicht vor Bruder aufnehmen wollen in Glaubensbekenntniß“, dass diese Tatsache jedoch nicht gleichzusetzen sei mit der Behauptung, die Lutheraner würden die Reformierten „gar nicht leiden wollen“. Schließlich versicherte Reinhardt trotz aller theologischer Differenzen seinen hohen Respekt gegenüber dem Kurfürsten, dem Präsidium und 298 Über das folgende Gespräch ist ein ausführliches Protokoll (aaO., fol 431v [unten] und 433r–436r) erhalten, welches Reinhardt selber verfasst hat. Im Folgenden ist daher zu beachten, dass die Basis für die Rekonstruktion des Gespräches die subjektive und einseitige Sicht von Reinhardts Bericht darstellt. Das Protokoll ist der Forschung seit Schulz: Gerhardt, 347–351, bekannt, der es nach SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 741– 747 abgedruckt hat.
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Stosch. Als Licentiat der Theologie habe er jedoch „vom Stoschio zu lernen keine Ursache“. Trotz der Versicherung ihres Gehorsams könnten die Berliner die Theologie der Reformierten nicht akzeptieren, da sie sonst Gottes Wort widersprechen und zugeben müssten, dass die Lehre vom Heiligen Abendmahl kein Fundamentalartikel sei. Reinhardt sei nicht bereit, „mit demjenigen Brüderschaft im Glauben zu treffen, der wider Gottes Wort und meine Conscienz [= Gewissen] lehrte, und daß ich solches nimmermehr ohne dem thun werde; darüber wollte ich ehe, wenns nötig thäte, mein Leben lassen“. In diesem Gespräch zeigte sich einmal mehr die gereizte Stimmung zwischen Reinhardt und dem Präsidium. Aus dem Protokoll wird von Schwerins Ärger deutlich, der Reinhardts Antworten immer wieder „mit großer commotion [=Erregung]“ unterbrach. So unrealistisch die Drohung von Schwerins, der Kurfürst könne alle diejenigen, die seine Konfession nicht leiden wollen, des Landes verweisen, auf Grund der großen Anzahl kritischer Lutheraner im Kurfürstentum, war, so zeigte sie doch die Enttäuschung und den Ärger des Präsidiums wie des Kurfürsten über die Ergebnislosigkeit des Kolloquiums. Bemerkenswert auf Seiten Reinhardts ist der Eifer und die Ernsthaftigkeit, mit der er seine Position zu verteidigen suchte. Die von Gerhardt immer wieder betonte Zusicherung, sich ein Leben lang an die lutherische Theologie halten zu wollen, wird bei Reinhardt mit der Formulierung, dass er für Gottes Wort und für sein daran gebundenes Gewissen zu sterben bereit sei, sogar noch märtyrerhaft verstärkt. Dieses lange Gespräch war auf emotionaler Ebene sicherlich einer der Gründe für den baldigen Abbruch des Kolloquiums. Nachdem die übrigen Kollokutoren den Verhandlungsraum wieder betreten hatten, drückte von Schwerin in seinem Schlusswort nochmals die Enttäuschung darüber aus, dass die Berliner die Ergebnisse der in seinen Augen erfolgreichen inoffiziellen Session von 4. April nicht bestätigt, sondern stattdessen eine weitläufige Schrift eingereicht hätten und schließlich den Reformierten „alle brüderliche Liebe“ ausschlagen würden. Von Schwerin ermahnte die Berliner abermals zu „friede und einigkeit“ und verschob die Auseinandersetzung über das zuletzt eingereichte Berliner Schreiben auf die nächste Session. Abschließend gaben Lorentz und Helwig eine Erklärung ab, in der sie verdeutlichten, dass sie in der inoffiziellen Session am 4. April auf Begehren Stoschs hin lediglich „explicationem etlichen terminorum“ der lutherischen Thesen vorgenommen, „das Wort conscientimy [= wir stimmen überein]“ jedoch nicht gebraucht und den Aussagen zur Rezessierung nicht zugestimmt hätten, sondern lediglich „ad referendum angenommen und die antwort dem gantzen Ministerio gelaßen“. Nach einem kurzen Streit, ob Lorentz und Hel-
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
wig das Wort „consentimus“ wirklich nicht gebraucht hatten, beendete von Schwerin diese Session. 4.3.4.3 Die fünfzehnte Session Bei der fünfzehnten Session 299 am Freitag, dem 15. Mai 1663, nahm von den Lutheranern nur Lubath teil, da die anderen Berliner Pfarrer und Nicolai krank oder „wegen ihrer habenden ampts geschäfte“ verhindert waren. Bei den Reformierten fehlte Vechner. Von Schwerin teilte in seiner Eingangsrede mit, dass die in der letzten Session durch die Lutheraner eingereichte Schrift nicht mehr verlesen werde, da sich viel „unfug“ darin befinde. Er befahl, dass zunächst eine neue durch die Reformierten eingereichte Schrift und anschließend „die Theses worauff beider saits einig“ verlesen werden sollten, „ümb zu sehen, wie weit sie sich auff beiden Theilen Verstanden haben, u. man hernach einen Recess auffsetze“. Diese Ankündigung musste Lubath als Provokation auffassen, denn wiederum verweigerte das Präsidium die Verlesung einer lutherischen Schrift, über die sich die Berliner Pfarrer ausführlich beraten hatten. Stosch beschuldigte die Lutheraner, dass diese ausschließlich weitläufige Schriften verfasst, nicht auf die kurfürstliche Proposition geantwortet und oft das Thema gewechselt hätten. Als die Reformierten in der letzten Session erklärt hatten, dass unter den lutherischen Thesen „etliche enthalten, die wir gerne concediren [. . . und] recessiren“, hätten die Lutheraner auf einmal „ein Mißfallen erzeiget“. Zur Konkretisierung dieser Vorwürfe verlas Stosch das reformierte Schreiben.300 Darin sollte an Hand von Verweisen auf verschiedene Sessionen nachgewiesen werden, dass die Lutheraner schuld an der Ergebnislosigkeit des Kolloquiums seien, da sie immer wieder das Gesprächsthema und ihre Ansichten geändert hätten.
299 Vgl. das lutherische Protokoll in GKl Archiv XII/90/3, f. 437v–439r, das reformierte Protokoll aaO., f. 476r–477r. Das offizielle lutherische Protokoll hat Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 168–171 teilweise abgedruckt. An das offizielle von Dentzer geschriebene lutherische Protokoll hat Lubath noch ein von ihm selber verfasstes Teilprotokoll („Was Herr M. Lubath: bey der Conferentz des 15 Maij bey gewohnet. Vor der XVI. Session“) angehängt, welches sich in GKl Archiv XII/90/3, f. 439r–440r befindet. Dieses Protokoll behandelt nicht, wie Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 206 Anm. 142, meint, „das, was mit Martin Lubath verhandelt worden ist“, sondern schildert, da auch Stosch anwesend war, ausführlicher als Dentzers Protokoll die Reaktionen der Lutheraner auf die Verlesung der reformierten Schrift (s. u.). 300 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 342v–343v [D3]; eine weitere Abschrift befindet sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 130r–130v; nach GKl Archiv XII/90/3 abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 312–314 [XXXVIII].
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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Nach der Verlesung erläuterte Stosch, dass der Sinn der Rezessierung darin bestünde, eine Bruderschaft im Glauben zu erlangen. Diese bedeutete jedoch nicht „gantze einigkeit in der Religion“. Lubath erwiderte, dass eine Bruderschafft nur mit denjenigen möglich sei, mit denen völlige Einigkeit in den Lehrpunkten bestehe. Es könnte kein Rezess aufgesetzt werden, da sich die Kollokutoren zudem „in Materia und Principiis darauf sich die Termini referirten, [. . .] noch nicht einig wären“. Die Lutheraner seien nämlich der Meinung, dass „Orali manducatio e[st] Articulus fidei, sed non constitutivus aber doch confirmativy, Aber die reformati negierens gantz u. sagen, quod non fit Articuly fidei, nec constitutivy etc. auff solche weise sind wir Ja nicht Einig“301. Darauf reagierte Stosch nicht, sondern beschwerte sich stattdessen darüber, dass die Reformierten „sie [= die Lutheraner] woll vor gelarte Leute [ansehen], daß solten sie unß auch thun, aber sie halten unß gar gering“. Stosch forderte Lubath wiederholt auf, die fünf Thesen, in denen sich die Kollokutoren einig seien,302 durchzugehen und anschließend „seine Meinung von der 1 Thesi auff [zu] setzen quoad Recessum [= damit/bis dass ein Rezess aufgestellt werden kann]“. Doch Lubath sah sich als einzig anwesender lutherischer Kollokutor nicht dazu bevollmächtigt. Von Schwerin ordnete eine Sessionspause an, in der er zuerst allein mit den Reformierten 303 und dann allein mit Lubath redete. Der Oberpräsident kündigte ihm an, dass durch das Präsidium ein allen Kollokutoren genehmer Rezess aufgesetzt werden würde. Dazu hätten „die Hn. Räthe ein Clausel erfunden das die principia worüber man noch different, auf geschoben sein sollen, und den Pricipiis nichts praejudicirlich sein solle, u. soll dieser Recess alß dann, von den Hn. alle sämptlich subscribiret werden“.304 Trotz aller Überzeugungsversuche durch von Schwerin wollte Lubath nichts unterschreiben und wies wiederholt darauf hin, dass er nicht mit Vollmacht oder in Vertretung des gesamten Berliner Ministeriums handeln könne. Nach der Sessionspause wiederholte von Schwerin die Rezessankündigung. „Damit man aber weiter zu den vom Ihr Chfl. Dhl. vorgestreckten Scopum GKl Archiv XII/90/3, f. 440r. Mit diesen Thesen sind die ersten fünf Thesen der Reformierten zum Abendmahl gemeint, die im lutherischen Protokoll (aaO., f. 438r) nur abgekürzt, im reformierten Protokoll hingegen ausführlich wiederholt wurden: „1. Dogma de oraculi et fu naturali 2. Idem dogma non constituit substantiam fidei sine qea 3. Idem dogma non est absolute necessarium ad 4. Qui Secundum Confessiones nominalas idem dogma ignorant, non ignorant 5. Qui idem dogma ignorat ignorantia pura negationis“ (aaO., f. 476v). 303 Diese Unterredung zwischen von Schwerin und den Reformierten wird im lutherischen Protokoll (aaO., f. 438r) nicht erwähnt. Zwar ist im reformierten Protokoll (aaO., f. 476v) zu lesen, dass jene Unterredung stattgefunden hat, sein genauer Inhalt wird jedoch nicht dargelegt. 304 AaO., f. 438r. 301
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
kommen möge“, forderte der Oberpräsident Lubath auf, in den kommenden Tagen folgende Frage „kurtz ohne distinctio u. limitation [zu] antworten, u. mit keiner weitleufftigen Schrifft ein [zu] kommen: Ob die Reformirte Christen welche die Lehre von dem Mündlichen und übernatürlichen Eßen des Leibes Christi nicht gleuben, sondern nach den trieb ihres gewißens verneineten, darumb von Christi gemeinschafft und der Seeligkeit außgeschloßen sein, biß Sie hierin anderes Sinnes werden?“305 An dieser Stelle unterbrach Stosch von Schwerin, um schon vorab klar zu stellen: „Reformati negant“! Bevor von Schwerin die Session beendete, übergab Lubath die Antwortschrift der Berliner306 auf das Schreiben der Reformierten vom 1. Mai.307 Die Schrift, welche die Berliner bereits am 8. Mai fertiggestellt hatten, wurde in der folgenden Session nicht verlesen. Da sich jedoch die Antwort der Reformierten auf sie bezog, sei sie hier kurz wiedergegeben. Die Berliner Schrift wiederholte in langatmigen und den Vorwurf der Weitläufigkeit durchaus bestätigenden Sätzen zunächst die Bitte, die vier bisher noch nicht verlesenen Berliner Schriften doch noch zu thematisieren. Anschließend wehrten sich die Berliner wiederholt gegen den Vorwurf, dass sie schuld am bisherigen ergebnislosen Verlauf des Kolloquiums seien. Dies zeigten sie, ähnlich wie bereits die Reformierten argumentiert hatten, an Hand eines Rückblickes auf verschiedene Sessionen. Der Erfolg des Kolloquiums bliebe letztendlich „auff der Erkändniß der unleugbaren Göttlichen warheit beruhen“, und diese sei „nobis summa Religio“. Daher waren die Berliner überzeugt, dass sie „mit allen unsern worten und wercken die herrn Collocutores also eines beßern überweisen werden, das unsere protestationes niemahle facto contrarise [= gegensetzliches/feindliches Werk] erfünden worden“. Die Lutheraner wiederholten, dass sie mit den Reformierten in keiner einzigen These einig seien und daher nichts rezessiert werden könne. Dies liege daran, dass die Reformierten das Verständnis der Berliner ablehnen würden, wonach „daß dogma de Orali manducatione corporis Christi in S. Coena warhafftig sey ein Articulus fundamentalis, nicht zwar fidem constituans, dennoch fidem confirmans et corroborans“. So lange dieser Dissens bestehe, könnten es die Berliner „in unsern gewißen nicht zu läßig befinden, einige glaubens-brüderschafft zu stifften“. Die Berliner Schrift lieferte eine endgültige Absage an die Hoffnungen des Präsidiums und der Reformierten, über den Weg eines von allen Seiten anerkannten Rezesses zu einer mutua tolerantia zu kommen. Diese To AaO., f. 438v, im reformierten Protokoll (aaO., f. 476v–477r) wortgleich. Vgl. aaO., f. 340v–342v [C3]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 307–311 [XXXVII]. 307 Gemeint ist die Antwort der Reformierten auf die Protestation der Berliner. 305
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4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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leranz oder eine Glaubensbruderschaft sei für die Lutheraner nur dann möglich, wenn es in wichtigen Glaubensfragen keinen Dissens mehr gäbe. Eine völlige Lehrübereinstimmung ist jedoch nicht nur utopisch, sondern auch unter Berücksichtigung der damaligen konfessionellen Situation für eine Tolerierung anders Glaubender gar nicht notwendig. Auch im 17. Jahrhundert herrschte trotz der Konsolidierungsbemühungen durch die Bekenntniscorpora selbst innerhalb des Luthertums keine Lehrübereinstimmung. Für die Berliner war jedoch die Wichtigkeit der Lehre von der manducatio oralis so entscheidend, dass sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, mit den Reformierten eine Kompromissformel zu finden. Die Berufung auf das Gewissen trat bei den Lutheranern immer an jenen Stellen zu Tage, an denen sie ihr Glaubensfundament bedroht sahen. Sie argumentierten dann, dass sie sich „nimmer mehr vor Gott und unserm gewißen verantwortlich befinden“ könnten, wenn sie eine kompromissbereite Theologie vertreten würden. Somit war auch dieser Versuch, die Berliner zu einer toleranteren Haltung zu bewegen, gescheitert. 4.3.4.4 Die sechzehnte Session In der sechzehnten Session am Freitag, dem 22. Mai 1663,308 fasste von Schwerin die letzte Session dahingehend zusammen, dass sich die Reformierten mit den Thesen der Lutheraner einverstanden erklärt hätten. Das zuletzt eingereichte Berliner Schreiben mit der eindeutigen Absage an einen Rezess erwähnte er hingegen nicht. Über die Thesen, in denen sich die Kollokutoren einig gewesen seien, habe das Präsidium einen Text aufgesetzt, der in dieser Session von allen Anwesenden unterschrieben werden solle. Schardius verlas den angekündigten Rezess, der seinem Wortlaut nach leider nicht erhalten geblieben ist. Aus dem Kontext lässt sich der Inhalt jedoch teilweise rekonstruieren. So scheinen die Kollokutoren ihre Einigkeit hauptsächlich darin bestätigen zu sollen, dass der Artikel der manducatio oralis kein „articulus fun308 Vgl. das lutherische Protokoll in GKl Archiv XII/90/3, f. 440v–443v. Die Reformierten haben kein eigenes Protokoll über diese Session verfasst. Es existiert stattdessen aaO., f. 477r, ein gemeinsames Protokoll über die 16. und 17. Session, welches die 16. Session lediglich knapp zusammenfasst und über die 17. Session berichtet, dass das Präsidium gebeten wurde, ein Exemplar des offiziellen Protokolls zu erhalten. Da die Bitte jedoch nicht gewährt wurde, musste jeder reformierte Kollokutor „sich auß sainen eigen Hände particular protocol [. . .] ersehen [. . .] was ferner in dieser Sache vorgelauffen“. Zusammenfassend zur 16. Session heißt es: „So hat es doch mit den selben solche bewantnüß, das bey der Ersten [= 16.] Session mehr nicht als praeliminaria [= vorläufige Abmachungen / Übereinkommenspunkte], wait eröffnung U[nd] überreichung der Churfl. Brand. gnadigsten Haupt Rescripts U. erteilten Instruction, wie es solle mit dieser Conferentz zu halten sain, abgehandelt werden“.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
damentalis talis, qui fidem constituat“ sei. Ob darüber hinaus bestimmt wurde, nähere Erläuterungen dieses Satzes ebenso zu vermeiden wie strittige Auslegungen, lässt sich zwar vermuten, aber ebenso wenig belegen wie die Annahme, dass das Präsidium nach der Unterzeichnung des Rezesses durch die Kollokutoren den Artikel der manducatio oralis abschließen und den nächsten Artikel thematisieren wollte. Lilius bat als Reaktion auf die Eingangsrede zunächst um eine Beratungspause und übergab zwei Schriften: Die erste Schrift309 war die durch von Schwerin gewünschte „kürtzliche“ Beantwortung der zum Ende der letzten Session gestellten Frage, „Ob die Reformirte Christen welche die Lehre von dem Mündlichen und übernatürlichen Eßen des Leibes Christi nicht gleuben, sondern nach den trieb ihres gewißens verneineten, darumb von Christi gemeinschafft und der Seeligkeit außgeschloßen sein, biß Sie hierin anderes Sinnes werden?“, die zweite Schrift 310 beinhaltete eine ausführliche Erläuterung. Beide Schriften wurden nicht verlesen. Da ihre inhaltlichen Aussagen im weiteren Kolloquiumsverlauf eine wichtige Rolle spielten, seien sie kurz beachtet. In der ersten Schrift bejahten die Berliner die durch den Oberpräsidenten gestellte Frage. Die Reformierten seien so lange von der Seligkeit ausgeschlossen, wie sie die manducatio oralis trotz besseren Wissens „mit feindseliger verschmähung aller beßern nachricht“ nicht glauben wollten, „biß Sie hierinn anders sinnes werden“. Diejenigen, welche die manducatio oralis „nach dem trieb ihres :/zwar auch irrigen, aber doch noch durch die unverworfene gnade Gottes corrigiblen/: gewißens verneinen“, könnten „bey wahrer bußfertigkeit“ die Seligkeit erlangen.
309 Vgl. aaO., f. 344r–344v [F3]; eine weitere Abschrift findet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/3, f. 25r–25v; nach GKl Archiv XII/90/3 abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 315–316 [XXXIX]. Beeskow hat die erste Schrift, die zweite Schrift (erst dies ist die „Deduction-Schrift“, und nicht, wie Beeskow angibt, die erste Schrift) und die unten erwähnte Verteidigungsschrift in seiner Zählung unter einer einzigen Ziffer abgedruckt. Dies ist insofern verwirrend, als alle drei Schriften zeitlich unabhängig voneinander entstanden und somit eigenständig sind. Er bemerkt auf Grund seines zusammenfassenden Abdrucks dann unzutreffend: „Die vom Berlinischen Ministerium zur XVI. Konferenz vorgelegte Schrift (s. Anlage XXXIX) wurde, weil sie >nicht zu rechter Zeit eingereichet, daß sie die Reformatis zur beantwortung communiciret werden könne< nicht verlesen“ (aaO., 175). 310 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 344v–349r [G3]; eine weitere Abschrift befindet sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 125r–129v; abgedruckt nach GKl Archiv XII/90/3 bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 316–325 [XXXIX Lit. B.].
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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4.3.4.5 Exkurs: Die Voten der Berliner auf die Schrift der Reformierten vom 15. Mai 1663 Auch über die gegen Ende der letzten Session gestellte Frage und die Schrift der Reformierten vom 15. Mai hatten sich die Berliner in Voten ausführlich beraten, die abschließend zur zweiten von Lilius übergebenen Schrift kompiliert wurden. Lilius bekräftigte in seinem Votum 311, dass die Eingangsfrage, ob den Reformierten die Seligkeit abgesprochen werden müsse, wenn sie die mündliche Nießung von Leib und Blut verneinten, durch Jesu Einsetzungsworte beantwortet sei. Diese bezeugten die „oralis et Mystica Manducatio“. Christus habe befohlen, „nicht nur brot U. wein, sondern sondern auch seinen wahren Leib Und Bludt“ aufzunehmen. Wer dies leugne, könne die Seligkeit nicht erlangen. Lubath stimmte in seinem langen, größtenteils lateinisch abgefassten Votum 312 vom 19. Mai Lilius’ Meinung zu. Wer fundamentale Glaubenslehren ablehne, werde von der Seligkeit ausgeschlossen. Schließlich würden die Protestanten auch einstimmig das Abendmahlsverständnis der Katholiken verurteilen, „welche die Lehre von der abwesendheit des Leibes Christi im Heiligen Abendmahl nicht gläuben sondern nach Trieb ihres gewißens verneinen“. Gerhardts Votum 313 vom 19. Mai 1663 ist klar strukturiert und zeichnet sich durch eine präzise Ausdrucksweise aus. Zu Beginn bemängelt er, dass die Reformierten ihre Frage bereits zum fünften Mal verändert hätten. Er bemerkt in ihr „drey gefährliche scrupulos“, welche die Worte „Reformirten Christen [. . .] nach Getrieb ihres (der Reformirten) Gewißens [. . . und] biß sie hierinn anders Sinnes werden“ beträfen. Zum ersten verneint Gerhardt, dass die Reformierten per definitionem Christen seien. Der nun folgende Abschnitt enthält die in der Forschung und in Vorträgen wahrscheinlich am häufigsten zitierte Äußerung Gerhardts314. An ihr wird seine Einstellung gegenüber Reformierten besonders anschaulich: „Bey den Ersten wolten die Reformirten gern, das wir sie vor Christen halten sollen. Den damit würden wir sie alß bald alß mit brüder in Christo, und alß mit glieder unserer Christlichen Kirche annehmen müßen, den ein mahl wer ein Christ, der ist ja mein Mittgenoß im Christenthum, und also mein mitt Christ. Resp[onso]. das unter den Reformirten, Christen seyn, gebe ich gern zu, aber dz die Reformirten quatenus tales [= insoweit/derart beschaffen] Christen, und also meine Mitt Christen, Meine Mittbrüder, meine Mittglieder sein, hoc e[st] quod nego. Würde auch hier nöthig sein, die aquivocationem [= Mehrdeutigkeit], des Wörtleins Christus zu evoliren [= klären]. Ein Christ ist Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 551v–552r. Vgl. aaO., f. 552r–554r. 313 Vgl. aaO., f. 554r–555v; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 86–90. 314 Vgl. die erstmalige Zitierung bei Hering: Neue Beiträge II, 231. 311
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entweder, der auf Jesum getauft ist und Jesum von Nazareth vor meßiam und vor Heiland der Welt bekennen. Also können vielleicht nicht allein Calvinisten, sondern auch papisten Christen genennet werden, oder ein Christ ist der Jenige, welcher den wahren selig machenden Christlichen glauben rein und unverfälscht hatt, auch die früchte deßelben in seinem Leben und Wandel sehen läßet, also kan ich die Calvinisten qua tales nicht vor Christen halten“.
Bis heute dienen diese Sätze oftmals der Charakterisierung Gerhardts und der Verurteilung seines Verhaltens während des Berliner Kirchenstreits. Oftmals werden jedoch bei der Interpretation die Hintergründe, und somit Zeit, Ort und Anlass des Votums nicht berücksichtigt. So ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Gerhardt sich nicht öffentlich geäußert, sondern seine Meinung in einem internen, nur für die Berliner Pfarrerschaft bestimmten Votum dargelegt hat. Er hat dies zu einem Zeitpunkt getan, als die Kollokutoren bereits neun Monate an langwierigen und ergebnislosen Verhandlungen teilgenommen hatten. Die nun schon zum wiederholten Male geäußerte Weigerung des Präsidiums, Schriften zu verlesen, in deren Entstehung die Berliner viel Zeit investiert hatten, dürfte für einen nicht zu unterschätzenden Unmut bei den Lutheranern gesorgt haben. Zudem wurde ihr Ärger durch die Angriffe des Präsidiums gegen Reinhardt, das zunehmend gereizte Gesprächsklima und die allmählich offen zu Tage tretende Parteilichkeit von Schwerins verstärkt. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Gerhardts Äußerungen nicht seine Meinung von generell allen Reformierten darstellt, sondern sich die Antwort speziell auf die Frage des Präsidiums, und somit speziell auf die Cöllner Reformierten bezog, mit denen Gerhardt nun schon lange in Auseinandersetzung stand. Deren theologische Haltung hatte er in den Sessionen und Voten ausführlich kennen gelernt, deren Unvereinbarkeit mit seinem eigenen Bekenntnis festgestellt und somit verworfen. Die Antwort Gerhardts stellt mitnichten eine pauschalisierende und verallgemeinernde Aussage zur reformierten Konfession dar. Sie ist motiviert durch die konkrete Ausgangsfrage und die negativen Erfahrungen im Kolloquium. So sind mit „die Reformierten quatenus tales“ speziell jene reformierten Theologen gemeint, denen Gerhardt im Kolloquium gegenüber saß. Denen sprach er das Christsein ab, da diese seiner Meinung nach theologische Grundwahrheiten, wie zum Beispiel die manducatio oralis, verneinten, die für einen wahren Christen jedoch absolut notwendig zu glauben seien. Das gegenseitige Absprechen des Christseins war im konfessionellen Zeitalter durchaus nicht unüblich. Auch wenn dieses Votum Gerhardts nicht vorschnell pauschalisiert werden sollte, so ist doch die Schärfe seiner konfessionellen Polemik nicht abzuschwächen. Da Stosch, Vorstius und Vechner „den wahren seligmachenden Glauben rein und unverfälscht“, so wie er in der lutherischen Kirche und von Gerhardt vertreten wurde, eben nicht lehrten, sprach er ihnen das
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Christsein ab. Die Lehrdifferenzen hatte Gerhardt schon oft mehr als nur angedeutet, neu ist in diesem Votum jedoch die Konsequenz, dass den Reformierten nicht wie in den bisherigen Voten allein die Seligkeit, sondern sogar das Christsein abgesprochen wird. In letzter Konsequenz bedeutet beides das Gleiche, denn nur wer ein rechter Christ sei, könne auch die Seligkeit erlangen. In diesem Punkt, dass ein Mensch so glauben müsse, wie es der lutherische Glaube lehre, zeichnet sich Gerhardt „als ein besonders intransigenter Vertreter der lutherischen Orthodoxie“315 aus, der zu keinen Verhandlungen oder Konzessionen mehr bereit war. Gerhardt vertritt im Folgenden die Meinung, dass die Verneinung der „oralem manducationem nach dem Trieb ihres Gewißens“ ein falscher Trieb sei und das Gewissen „ex verbo Dei meliora edocenda“. Er stellt die Reformierten auf eine Stufe mit „Papisten, Photinianern, Türken, Juden“, die „bei ihrer Religion verharren, u. unsere Lutherische verwerfen, aber so ipso verwerffen sie die Warheit und belieben die Lügen“. Im dritten Punkt betont Gerhardt, dass er zwar gemäß der Vorrede der FC glaube, dass es Reformierte gebe, „welche, wen sie eines beßern unterrichtet würden, sich würden gewinnen und bekehren lassen“. Er halte aber Stosch, Vorstius und Vechner „nicht vor solche tractabile und sanabile [= berührbare und heilbare] Leute“, die vom Irrtum abfallen und wieder zum rechten Glauben kommen könnten. Die Reformierten „würden nimmer mehr von ihrer Confession weichen, wir solten doch nicht denken, als ob sie Lutherisch werden wollten“. Wer nach Gerhardt eine falsche Theologie vertritt, der kann durch das Wort Gottes belehrt werden und sich dadurch wandeln. Da Gerhardt diese Möglichkeit auch den Reformierten einräumt, verurteilt er sie nicht allein deshalb, weil sie reformiert sind, sondern weil sie in seinen Augen die falsche Lehre vertreten. Ein großes Manko seiner Argumentation ist allerdings, dass er die Frage, inwieweit das Reformiertsein durch die Vertretung bestimmter Lehren, oder in diesem speziellen Fall die Verneinung der manducatio oralis, ihrem Wesen nach bestimmt ist, nicht beantwortet. Der Einwand, ob ein Reformierter noch ein Reformierter sein kann, wenn er genau das glaubt, was ein Lutheraner glaubt, wird von Gerhardt nicht weiter bedacht. Dies ist historisch insofern bedauerlich, als sich hier ein Eingangstor für einen originellen und schärferen theologischen Sachgehalt von Gerhardts Voten geöffnet hätte. Zumindest wird durch dieses Votum deutlich, wie tolerant Gerhardt gegenüber den anwesenden Reformierten wirklich dachte – auch wenn das Votum durch die besondere Situation und aus wachsender Verärgerung in seiner Wortwahl möglicherweise schärfer ausgefallen ist als zu einem früheren Zeit Beutel: Paul Gerhardt und der Große Kurfürst, 167.
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punkt des Kolloquiums. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die in wissenschaftlichen Beiträgen und Vorträgen immer wieder anzutreffende Charakterisierung Gerhardts durch die Reduktion auf diese eine Stelle eindimensional ist. Helwig äußerte in seinem langen und klar strukturierten Votum316 die Meinung, dass in der Ausgangsfrage „nichts enthalten [sei,] das nicht albereit in den Vorigen zur gnüge auß unser Lutherischen Kirchen Symbolischen büchern in sonderhait der Formula Concordiae, da bey wir biß an Todt beständig bleiben beantwortet were“. Helwig argumentierte theologisch differenzierter als seine Pfarrkollegen. Er sprach den Reformierten nicht pauschal die Seligkeit ab, sondern betonte, dass es „keines menschen Seele möglich [sei] einiges urteil zu fällen, das zu wissen hatt Gott sainer weißhait vorbehalten“. Er machte des Weiteren auf einen Denkfehler aufmerksam: „Und scheinets unß wunderlich, das von denen Reform: Hn Collocutoriby gefraget wird, ob Leute von Christi gemeinschafft Von der Seligkeit auß geschloßen sein, biß sie anders sinnes werden? Da doch juxta comunem den Reformatorum hypothesin [= gemäß den gemeinsamen reformatorischen Thesen] nimand der ein mahl auß solcher gemeinschafft v. Seligkeit außgeschloßen ist, anders sinnes werden kann“317. Wer wie die Reformierten trotz vorheriger Unterweisung die manducatio oralis verneine, werde nicht durch die Lutheraner ausgegrenzt, sondern schließe „sich selbst aus [. . .] von Christi Gemeinschafft und der Seligkeit“318 . Helwig schlug vor, den Reformierten folgende Fragen zu stellen: „1. Ob die Socinianische Christen [. . .] welche die Lehre von den mündlichen u. geistlichen Eßen des Laibes Christi nicht gläuben, sondern nach Trieb ihres gewißens ver neinen darümb Von Christi gemeinschafft und der Seligkeit außgeschloßen sein, biß Sie hier in anders sinnes werden? Lutherani affirmant. 2. Ob die Lutherische Lehre, welche die Lehre von dem mündlichen u. übernatürlichen Essen des Laibes Christi gläuben, und nach Trieb ihres gewißens derselbigen Verneinung vor verdamlich halten, könnten da zu genötiget werden, daß sie solche Verneinung vor nicht verdamlich halte sollen. Lutherani negant“.
Insgesamt wählte Helwig einen anderen systematischen Zugang zur Beantwortung der Frage als Gerhardt. Theologisch die Reformierten weniger drastisch abwertend, kritisierte er mehr die Fragestellung an sich und sprach den Reformierten eine Selbstschuld am Ausschluss aus der Gemeinschaft Christi zu. Aus der letztendlich offiziell übergebenen „Deduction-Schrift“, die ebenfalls nicht verlesen wurde, wird deutlich, dass neben Helwigs Votum das von Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 555v–557r. AaO., f. 556v. 318 Ebd. 316
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Gerhardt wiederum die maßgebliche Vorlage bildete. Noch stärker als in Gerhardts Votum wurden die Reformierten beschuldigt, die Eingangsfragen gestellt zu haben. Diese seien bereits „auß unserer Lutherischen Kirchen Symbolischen büchern, und insonderheit der Formula Concordiae, dabey wir biß an unser Ende beständig verbleiben, [. . .] zur genüge beantwortet worden“. Die Absprechung des Christseins wurde jedoch nicht übernommen. Anschließend thematisiert das Schreiben die Frage nach der Verwerfung der Katholiken aus Lubaths Votum und der Verwerfung der Socinianer sowie die Frage nach dem Verhalten der Lutheraner aus Helwigs Votum. Das Schreiben schloss mit einer eindeutigen Ablehnung einer „kirchen-brüderschafft“. Nachdem die Kollokutoren nach der Verhandlungspause wieder zurück in den Raum gekehrt waren,319 erklärten die Berliner mit dem Hinweis auf ihre am 1. Mai übergebene Schrift, dass sie den Rezess aus Gewissensgründen weder annehmen noch unterschreiben könnten, „weil ein offenbarer dissensus ist und bleibt in diesen dreyen Stücken. (1) an dogma oralis manducationis sit Articulus fidei [= dass das Dogma von der manducatio oralis ein Glaubensartikel sei] (2) An illud dogma sed Articulus fidei fundamentalis [= dass jenes Dogma aber ein grundlegender Glaubensartikel sei] (3) An istud dogma sit confirmans licet non constituens. [= dass dieses Dogma, wenn es auch ein Bestätigendes/Bestärkendes sei, nicht ein Konstituierendes sei] Alles dreyes bejaht das Min: Berol: und will es conjugiret haben. Die Hn. Reformati collocutores verneinen alles dreyes und dividiren [= zerlegen/trennen] was wir conjugiren“.
Zum Zweiten sei es für eine „Tolerantiam et fraternitatem spiritualem“ nicht ausreichend, wenn die einzige Übereinstimmung zwischen den Kollokutoren darin bestehe, „quod oralis manducatio non sit articulus fundamentalis talis, qui fidem constituat“. Schließlich betonten die Berliner, dass sie eine Lehreinigung ohne vorherige Stellungnahme anderer Gemeinden und Theologen nicht für die gesamte lutherische Kirche abschließend unterschreiben könnten. Stoschs Antwort, die er nach einer Beratungspause vortrug, fiel nicht weniger entschieden aus. Er gab zu, dass Uneinigkeit darüber herrsche, ob die Lehre von der manducatio oralis ein fundamentaler Glaubensartikel sei. Er stellte jedoch klar, „daß diß dogma kein Articulus fidem constituens sey“. Die weiteren Berliner Einwände wehrte er ab und verwies darauf, dass das Präsidium auf die grundsätzliche Infragestellung des Rezesses antworten müsse. Reinhardt wandte ein, dass die Einigkeit, „daß diß dogma kein Articulus fidem constituens sey“, nur einen „vermeinte[n] Consensus“ darstelle, der Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 171–175, bietet ein Teilprotokoll des folgenden Sessionsteils. 319
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sich weder lohne zu rezessieren, noch die Frage der manducatio oralis abzuschließen und zum nächsten Artikel zu schreiten. Stosch betonte, dass der Recess dazu da sei, um „Inclination ad mutuam tolerantiam“ zu wirken: „wir [= die Reformierten] bekennen gerne, daß es schon bey unß lange zeit große inclination gewirckt hatt, daß es aber eine contrari wirckung bey den Hn. Collocutoribus hatt, u. Sie je länger je mehr aversum animum [= abgewandte Gesinnung] a mutua tolerantia bezeugen, ist unß leid!“ Die Berliner hätten durch ihr Verhalten klar gemacht, „daß ihr voluntas à pace et concordia Ecclesiastica aversa sey“. Dieser Anschuldigung widersprach Reinhardt und betonte, dass auch die Berliner eine Toleranz anstrebten, jedoch nur, wenn diese auf der Wahrheit der Lehre gegründet sei: „Wir wünschten [. . .] erst die warheit, hernach den frieden gehöret haben“. Bevor die Kollokutoren auf Grund einer durch von Schwerin angeordneten Sessionspause den Raum verließen, übergab Lilius eine Schrift zur Entlastung von Vorwürfen.320 Nachdem alle Kollokutoren wieder am Verhandlungstisch saßen, verkündete von Schwerin einen Abscheid321 als Ergebnis der präsidialen Beratungen, in dem die Session zusammengefasst wurde: Die Räte hätten sich gefreut, dass die Reformierten „unterschiedene vom Berlinischen Ministerio aufgesezte Theses approbiret [=als wahr anerkannt hätten]“. Daher wolle das Präsidium 320 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 349r–352r [H3]; GKl Archiv XII/90/1, f. 131r–133v; abgedruckt nach GKl Archiv XII/90/3 bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 326–332 [XXXIX Lit. C.]. Da diese Schrift zwar den Reformierten zur Beantwortung übergeben, nicht aber öffentlich verlesen wurde und wichtig für das Verständnis der folgenden Antworten ist, sei sie hier erwähnt. Die Berliner wiesen ausgiebig und langatmig sämtliche Vorwürfe der Reformierten zurück und rechtfertigten ihre Argumentationsweise. Diese sei weder unbeständig noch wankelmütig, sondern müsse die ungenaue Terminologie der Reformierten differenzieren und limitieren. Die Lutheraner würden auch in Zukunft immer daran festhalten, dass die Lehre von der manducatio oralis ein „articulus fidei fundamentalis“ sei, „weil keine einige warheit des Göttlichen worts so unwichtig und geringe ist, daß sich der mensch, der sie sonderlich beständig verneinet, nicht verdamlich dran versündige“. Die Lutheraner wehrten sich gegen den Vorwurf, dass sie den Reformierten „einige mißdeutung in denen ihnen zugerechneten unnachgeblichen hypothesibus gethan“. Eine echte Einigkeit mit den Reformierten könne es nicht geben, da sie die Lehre von der manducatio oralis nicht „pro verbi Dei [. . .] hielten“, und sie „es pro multo verbo Dei leider ! halten, wieder unß“. Daher kamen die Berliner zum Schluss, „so lange alß nicht beßere einigkeit da ist, wieder alles [= die Einigkeit] [. . .] zu protestiren“. 321 Dieser Abscheid ist besonders wichtig, da er die präsidiale Sicht auf den Verhandlungsverlauf verdeutlicht. Umso erstaunlicher ist es daher, dass Beeskow diesen Abscheid in seiner Rekonstruktion nicht erwähnt. Das Original, welches der Forschung bisher unbekannt war und nach dem im Folgenden zitiert wird, befindet sich unter dem Titel „Abscheid so am 22ten Maij 1663 bey der 17ten [scil!] Conferenz pronunciret“ in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/7, f. 42r–44v.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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„einen Recess drüber aufsetzen“, den alle Kollokutoren unterschreiben sollten. Da die Räte jedoch „einige contradiction verspüret“, hatten sie „veranlaßet, daß in Ihrer gegenwart beyderseits Theologi solche Theses collationiret [= vergleichen], ob Sie einstimmig wehren“. Die Reformierten hätten dabei „die Theses von wort zu wort aus des Berlinischen Ministerij Scripto genommen“ akzeptiert. Diejenigen Lehrpunkte, „so das Berlinischen Ministerium Zu Ihrem Fundament angezogen“ und nicht konsensfähig seien, habe das Präsidium „Zu fernerer disquisition [=Untersuchung] außgestellet“. Es könne die Haltung der Berliner nicht verstehen, wolle es ihnen aber freistellen, ob sie die „Ihnen angebotene ehre der Subscription nicht annehmen wollen“. Die Räte könnten sich „der Warheit des Zeugnus nicht entziehen und wollten den Recess mit einigen Zeichen unterschreiben“.322 Der Abscheid fiel in seiner Wortwahl überraschend distanziert aus. Das Präsidium drückte nicht den zu erwartenden Unmut über die in seinen Augen unverständliche Wankelmütigkeit der Berliner aus, sondern stellte es ihnen sogar frei, den Rezess zu unterschreiben oder nicht. Über die Einwände der Lutheraner verlor der Abscheid kein Wort. Dass der Rezess aber von den Reformierten und vom Präsidium unterschrieben werden sollte, machte ihn nicht mehr zu einem Beleg theologischer Übereinstimmung zwischen den Konfessionen, sondern zu einem Dokument der theologischen Abgrenzung von aus der Sicht der Unterschreibenden toleranzunwilligen Lutheranern. Diese aber wollten einer Einigung, die auf Kosten theologischer Grundüberzeugungen zum großen Teil strittige Punkte ausblendete, nicht zustimmen. Im Anschluss an von Schwerins Vortrag wurde die Antwort der Reformierten 323 auf die Schrift verlesen, welche die Berliner während der 15. Session eingereicht hatten 324. Die Reformierten wiesen alle Beschuldigungen zurück. Die Lutheraner seien schuldig an „dilati colloquii et impediti successus [= Verzögerung des Kolloquiums und Verhinderung des Erfolgs]“. Dem Wunsch der Lutheraner, „de vero, de vocabulo Textus“ zu sprechen, könne nicht nachgekommen werden, weil es das Präsidium noch nicht befohlen habe. 322 Des Weiteren drückte das Präsidium seinen Unmut darüber aus, dass die Berliner „in Ihrer ersten proposition die Reformirten H. Theologus beschuldigen“, dass es für eine „tolerantiam et fraternitatem Spiritualem“ nicht genug sei, „wann nur quoad hunc Articulum unum, einig in worten seyn“. Ferner entschied das Präsidium, dass die Schrift, die Lilius vor der Sessionspause eingereicht hatte, den Reformierten zur Beantwortung übergeben werden sollte. 323 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 352r–352v [I3]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 333–334 [XL]. Die Vorlage für diese Schrift befindet sich in SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/6, f. 35r–36r. 324 Gemeint ist die Schrift in GKl Archiv XII/90/3, f. 340v–342v [C3].
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Da Vorstius im Auftrag des Kurfürsten nach Holstein reisen musste und die Reformierten weniger Kollokutoren als die Lutheraner waren, kündigte von Schwerin an, dass ab der nächsten Session Adam Gierck, der bisher lediglich als Protokollant oder Vorleser fungierte, für die reformierte Seite als Kollokutor am Kolloquium teilnehmen werde. Darauf bemerkte Reinhardt, dass es auf dem Berlinischen Gymnasium „auch noch gar feine geschicktte leute“ gebe, so beispielsweise „auch der H. Pape zu gegen were“, die ebenfalls am Kolloquium teilnehmen könnten. Dies lehnte von Schwerin jedoch ab und beendete die Session. Am 26. Mai antworteten die Berliner auf die letzte Schrift der Reformierten. Obwohl dieses Schreiben 325 während der 17. Session nicht verlesen und wahrscheinlich auch gar nicht mehr eingereicht wurde, ist es von Interesse, da es durch Gerhardts Votum 326 maßgeblich vorbereitet wurde. Gerhardt beschwert sich in seinem Votum darüber, dass die Reformierten „nun mehr zum fünftenmahl“ die „Quaestionum oder thesium“ geändert hätten. Da jedoch nur die Termini, nicht jedoch das Thema verändert seien, hätten die Berliner schon oft genug beschrieben, „was unser Meinug davon sei“. Sollten sie noch einmal antworten, so könne dies keinesfalls wie gefordert „absque limitatione et distinctione“ geschehen. Des Weiteren kritisiert Gerhardt, dass die „plötzliche Abbrechung von der vorige materie zum großen praejudicio causae nostrae“ geschehen würde, da die Reformierten später einmal die „alte materie“ hervorholen würden, wenn es den Lutheranern gar nicht passen könnte. Schließlich sei die Fragestellung zu verurteilen, denn sie gehe „auch auf den unseligen Zweck, da alle vorhergehenden aufgezielet haben, nehmlich auf den pacem syncretisticam, oder auf die tolerantiam mutuam, quae sit [. . .] erroribus et blasphemiis in thesi aeque ac antithesi, solcher Friedens und Brüderschaft haben wir unß je und allewege geläugnet, weigern uns ihrer noch und werden mit Gottes Hülfe nun und nimmermehr darinn willigen“.
Auch in diesem Votum zeigte sich Gerhardt als unnachgiebiger lutherischer Theologe. Er kritisierte nicht nur die Reformierten, sondern auch indirekt das Präsidium. Auch wenn er sich durch Beschuldigungen angegriffen fühlte und darin recht hatte, dass die Frage nur terminologisch, nicht aber inhaltlich Neues bot, hätte er doch, um das Gesprächsklima nicht weiter zu verschlechtern, versuchen können, eine Antwort auf die Frage zu formulieren. Doch 325 Vgl. aaO., f. 353r–354v [K3]; abgedruckt bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 335– 338 [XLI]. 326 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 554r–554v; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 86 f.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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Gerhardt verwarf die Frage an sich und setzte somit die weitere kompromisslose Verhandlungstaktik der Lutheraner fort. Im letztendlich offiziell übergebenen Schreiben wurden die Einwände Gerhardts aufgenommen und wiederum sämtliche Vorwürfe der Reformierten zurückgewiesen. Die Berliner erwarteten, dass die Reformierten die lutherische These beantworten würden, „ob zwar dogma de Orali manducatione corporis nicht sey articulus fundamentalis fidem constituans, so sey es dennoch articulus fidei fundamentalis fidem confirmans et corroborans“. Da keiner der Reformierten „unverrückt diese proposition [. . .] nach sprechen wird“, und „beide theile in ipsis principiis nicht einig sein“, könnten die Lutheraner keinen Rezess annehmen, der „auf rechte contraria principis gebaut ist“. Abschließend schlugen sie vor, künftig zwei Wochen lang „de vero“, und anschließend „de pondere“ zu handeln und erbaten die Verlesung ihrer am 1. Mai eingereichten Schrift. 4.3.4.6 Die siebzehnte Session Zu Beginn der siebzehnten Session327 am Freitag, dem 29. Mai 1663, offen barten sich in von Schwerins Eingangsrede die zunehmende Ratlosigkeit und der Ärger des Präsidiums: „Die H Räthe sind etwas perplex, daß sie nicht wißen, wie sie daß werck dergestalt fort setzen mögen, damit ein gewunschter Success erfolge“. Die eingereichten Schriften vor allem der Berliner seien zu Die der Forschung bisher einzig bekannte Quelle über die 17. Session ist das lutherische Protokoll in GKl Archiv XII/90/3, f. 443v–446r, welches Schulz: Gerhardt, 352–355, vollständig nach SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 763–767, transkribiert hat. Weil den Berlinern „an dem Auftrag und allem, so damahlen nicht protocolliret, sehr viel gelegen“, hatten sie Dentzer im Anschluss an die Session gebeten, „von dem allen, so viel mir [= Dentzer] noch immer erinnerlichen seyn möchte und zwischen Ihre Excellenz dem Hrn. Ober-Präsidenten und mehrgedachten Hrn. Lic. Reinharten vorgangen, in perpetuam rei memoriam [= zur beständigen Erinnerung an die Sache] ein publicum et authenticum instrumentum in forma probante [= ein beweisendes Hilfsmittel] zu ihrer Nothdurft auszufertigen“. Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 354v–356r [L3]; transkribiert nach SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 588–591, bei Schulz: Gerhardt, 355–357. Dieses Teilprotokoll stammt eindeutig von Dentzer und ist nicht, wie Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 175, schreibt, durch Reinhardt verfasst worden. Die Reformierten haben in der 17. Session kein Protokoll verfasst. In SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/8, f. 9r–9v (Von Schwerins Schlussrede, Lit. B) und unfol. (Von Schwerins Eingangsrede) finden sich über das bisher bekannte lutherische Protokoll hinaus Überreste eines undatierten Manuskripts von unbekannter Hand, bei denen es sich mE. (nach dem Vergleich der Handschriften) um Teile des durch Gottfried Schardius verfassten offiziellen präsidialen Protokolls handelt. Es bietet inhaltlich keinen Unterschied zum lutherischen Protokoll, weicht jedoch sprachlich an einigen Stellen von jenem ab. Als Ergänzung zum lutherischen Protokoll kommt ihm daher eine wichtige Funktion bei der Rekonstruktion der siebzehnten Session zu. 327
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
weitläufig und würden keinen Fortschritt im Kolloquium bedeuten, sondern neue „schimpfliche limitationes“ hervorbringen. Emotional bekannte von Schwerin: „mir (d Hn Ober-Präsidenten) schmertzt es gleichfalß im hertzen sehr, und bekenne, wann ich nicht auß respect S. Chfl. Dhl. dieser Conferentz bey wohnen müste, Ich dergleichen conversation nimmer mehr bey wohnen wollte, sondern der selben gantz entschlagen“328 . Daher bat er die Berliner wiederholt, die Reformierten nicht so zu behandeln, als seien sie „gottlose, leichtfertige Leute“ oder „Teufels-Kinder“,329 vielmehr sollten die Berliner ohne angreifende Limitationen antworten. Künftig eingereichte Schriften sollten nicht mehr verlesen, sondern unmittelbar an die konfessionelle Gegenseite weiter geleitet und dann außerhalb der offiziellen Sessionen beantwortet werden. Lilius zeigte sich in seiner Antwort enttäuscht über die zuletzt angeordnete Praxis der Beantwortung von Schriften und bat um eine Verhandlungspause. Nach der Rückkehr antwortete er ausführlich auf die Eingangsrede von Schwerins und erklärte, dass die Berliner ihre am 22. Mai eingegebene Antwort nicht verändern würden. Sie hätten auf von Schwerins Fragen „nicht [so wie vom Präsidium gewünscht] antworten können, dan es sonst wie gedacht, wieder unser gewißen, und die warhait lauffen würde“. Wenn sie in ihren Antworten die Reformierten tatsächlich beleidigt hätten, so müssten diese versuchen, „solches amicabiliter ex fundamento zu remonstriren [= freundlich aus der Grundlage darlegen]“. Es sei keineswegs unrecht, die Verneinung der mündlichen Nießung des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl durch die Reformierten eine „incorrigibilität“ zu nennen. Lilius und Reinhardt betonten, dass die Berliner diejenigen, welche bis an ihr Lebensende verneinen, unterschieden hätten von denjenigen, welche „anders Sinnes worden oder auch werden wollen“. Im Folgenden kam es inhaltlich nicht mehr zu einer theologischen Diskussion, sondern lediglich zu Auseinandersetzungen zwischen den Berlinern und dem Präsidium. Vor allem wurde um die durch von Schwerin am Ende der letzten Session vorgeschlagene Nachnominierung Giercks als reformierter Kollokutor gestritten.330 Reinhardt weigerte sich, den früheren Lutheraner, der nie ein Pfarramt bekleidet hatte, als ebenbürtigen Kollokutor anzuerken GKl Archiv XII/90/3, f. 443v. Der Vergleich von Schwerins erfolgt an dieser Stelle, und nicht, wie Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 176, angibt, innerhalb der Anschuldigungen gegen Reinhardt am Ende der Session. 330 Im lutherischen Protokoll heißt es dazu: „Hier ging Zwischen dem H OberPraesidenten u. H Lic: Reinharten ein Discours Vor, wegen deß Joachimthalischen Schul Collegen Hn Adamus, welchen aber der H Ober Praesident nicht wollte Protocolliret haben“ (GKl Archiv XII/90/3, f. 445r). 328 329
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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nen.331 Der Oberpräsident schlug vor, dass sich Gierck in Gegenwart des Präsidiums von Reinhardt lutherisch „informieren [= belehren]“ lassen sollte. Reinhardt würde sich schlicht nicht trauen, mit Gierck zu verhandeln. Dies wies Reinhardt entschieden zurück und beschwerte sich über den „Schimpf“ und die „Schmach“, die er erleiden müsse. Es sei der kurfürstlichen Verordnung nicht gemäß, „mit diesem Schul-Collegen einen Kampf anzutreten“. Da die Unterweisung „blos zu meiner [= Reinhardts] Beschimpfung alleine solte angesehen sein“332 , blieb Reinhardt bei seiner Position: „ich colloquire mit dem Schul-Collegen nicht“! Von Schwerin kündigte an, dass sowohl der Widerstand der Berliner, ihre Antwort auf die präsidiale Frage der 15. Session zu ändern, als auch die Weigerung Reinhardts, mit Gierck zu konferieren, rezessiert werden würde. Der Oberpräsident beschwerte sich, dass die Berliner und insbesondere Reinhardt „überaus trotziglich und schimpflich geantwortet“ hätten, was diese sofort bestritten und eine schriftliche Erklärung zu den Vorwürfen ankündigten. Von Schwerin brach die Session ab und wollte zunächst keine weitere Session abhalten, „ehe und bevor, ich [= von Schwerin] von Ihrer Chfl. Dhl. erfahre, wie ich mich hierbey zu verhalten“ habe. Das Präsidium hatte längst erkannt, dass mit den anwesenden Kollokutoren kaum mehr eine Einigung zu erreichen war und eine mutua tolerantia in weiter Ferne lag. Daher blieb den Räten nur die vorläufige Unterbrechung des Kolloquiums und die Berichterstattung an den Kurfürsten in der Erwartung neuer Anweisungen. Sicherlich war es rechtens, wenn für den verhinderten Vorstius ein neuer Kollokutor für die ohnehin schon zahlenmäßig unterlegenen Reformierten nachrückte. Dass dies jedoch ein Lehrer sein sollte, der in der Theologie nicht akademisch qualifiziert war, mussten die Lutheraner als Provokation auffassen. Denn in der Tat wäre es nach damaligen Maßstäben für einen Lizentiaten wie Reinhardt eine akademische Erniedrigung gewesen, wenn er sich in einer Diskussion mit einem akademisch Nichtgraduierten wie Gierck hätte einlassen müssen.333 Die Nominierung Giercks war in einer Reihe von Anschuldi331 Dies ist gegenüber der in der Sekundärliteratur (so beispielsweise bei Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 176) immer wieder zu lesenden unzutreffenden Behauptung zu betonen, wonach Reinhardt angeblich mit Gierck hätte sprechen wollen, was ihm dann jedoch durch von Schwerin verboten worden wäre. 332 GKl Archiv XII/90/3, f. 355r. 333 Dies sieht Stegmann: Gerhardt und die Universität Wittenberg, 57 Anm. 88, richtig, der auf die „heute kaum mehr zu ermessende[ ] Bedeutung der akademischen Grade im Umgang miteinander“ und dabei auf M. Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, hinweist. Trotzdem scheint mir Stegmann die Situation doch etwas überzubewerten, denn schließlich besaßen auch auf lutherischer Seite Paul Gerhardt und Christian Nicolai mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen akademischen Abschluss. Auf reformier-
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gungen und Anfechtungen, wie der Nichtverlesung der Berliner Schriften, der kleine Tropfen, welcher für Reinhardt das Fass zum Überlaufen brachte und seine schroffe ablehnende Reaktion erklärt. Weder diese Reaktion noch irgend eine andere Bemerkung in den Akten deuten darauf hin, dass die Kollokutoren und das Präsidium davon ausgingen, dass das Kolloquium nach den kurfürstlichen Anweisungen nicht weitergeführt werden sollte. 4.3.4.7 Die neue Schrift zu Reinhardts Verteidigung Da Reinhardt durch das Präsidium viele Vorwürfe gemacht wurden, sahen sich die Berliner zu einer „protestation und Defension-schrifft pro L. Reinharten“334 genötigt, die sie am 6. Juni an das Präsidium335 sandten. Darin schilderten sie rückblickend die siebzehnte Session und nahmen zu dem Vorwurf Stellung, „alß hatte Er [= Reinhardt] Sr. Gn. und HochW. dem Hn Ober-Prasidenten überauß trotziglich und schimpflich geandwortet“. Ursache der Beschuldigung sei, dass Reinhardt „Von treuen unterricht Zu weilen in unser aller nahmen gesprochen hat, welches, alß were es von ihm allein geredet, auffgenommen worden“. Da jedoch die Verteidigung Reinhardts gegen die Vorwürfe erst nach „geschloßenen protocollen Von unß Vorgebracht ist [. . .] so haben wir nicht ümbhin gekund, mit dieser unser nothdurfft schrifftlich ein zu kommen“. Die Berliner betonten, „daß alles, was Herr Lic: Reinhart Zait wehrendes Colloquij geredet [. . .] in unser aller nahmen geredet sey, und wir es sampt und sonders dergestalt vor genehm halten“. Zudem sei „alles daß, was von gnugsamen treuen unterricht oder bericht geschrieben worden, annoch unsere alles Einhertzige meinung“. Die Berliner legten Wert darauf, dass „wir nimalß ad illum certamen provociret, und daß das gegenteil auß unsern Schrifften, und denen protocollis, nie werde erweißlich gemacht werden, sondern, daß wir Viel ter Seite hatten wohl auch Stosch, Kunsch und Vechner keinen akademischen Titel. Da Vechner genau wie der nun nominierte Gierck nie ein Pfarramt bekleidet hatte, hätte Reinhardt schon viel früher seine Weigerung ausdrücken müssen, mit einem Ungraduierten auf Augenhöhe zu kommunizieren, wenn allein die These von Stegmann das Verhalten Reinhardts erklären sollte. Darüber finden sich aber weder in den Protokollen noch in den internen Voten irgendwelche Andeutungen. Dass Reinhardt die Aussicht auf eine Diskussion mit einem Ungraduierten gestört hat, ist nicht zu bezweifeln; der Grund für seine Weigerung war es jedoch mE. nicht allein. 334 Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 356v–358r [M3] und SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 474/3, f. 27r–30r. Diese Schrift war der Forschung bisher unbekannt. 335 Auch diese Adressatennennung deutet darauf hin, dass die Pfarrer davon ausgingen, das Kolloquium würde fortgeführt, ansonsten hätten sie das Schreiben an den Geheimen Rat adressiert.
4.3 Rekonstruktion des Kolloquiumverlaufs
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mehr methodice Zu procediren allerdings juxta pracepta logica, [. . .] gelehret, Immerdar gewünscht haben in processu colloquij eher de vero alß de Necessario zu handeln“.
Schuld an den Auseinandersetzungen in den letzten beiden Sessionen sei nicht Reinhardt, sondern Gierck gewesen, der sie „sammt und sonders durch seine Herausforderung beschimpft habe“. Dieser habe „kaum ein Jahr Zu Wittenberg“ studiert, die Pfarrer hingegen hätten „gleichwol unsere Examina auff academien so wol, alß bey antretung des Predig amptes, außgestanden, und Etliche Jahr nach ein ander auff Academien nicht mit Spatzieren gehen Zu gebracht“. Der Vorschlag, dass Reinhardt sich durch Gierck belehren lassen sollte, sei „schimpflich“, denn were es ihm ein ernst gewesen mit begehrung beßsern unterrichts, so hette er Zu unß kommen, und den selben fodern werden, ehe er sich ab Eccl[esi]a Lutherana abgesondert“. Des Weiteren beschwerten sich die Berliner darüber, „daß in letzter conferentz auß einer bloßen privat-unterredung, welche S. Gnad. und Excel[len]z der H Ober Prasident selbst ernstlich Verbothen ins protocoll, Zu, ordentlichen und öffendlichen, so genanten, abscheide gebracht, Ja gar daßelbige Zu recessiren Verordnet worden, Von deßen Actis im protocoll das geringste nicht enthalten ist“. Die Pfarrer betonten noch einmal, „Daß es unß nie in unsern Sinn noch gedancken kommen, S. Gnad. und Excell. dem Herrn Ober Prasidenten, durch Hn Lic. Reinharten schimpflich oder trotziglich Zu antworten“, Reinhardt im Namen aller lutherischen Pfarrer gesprochen habe und dies nicht „einem redlichen Prediger mit recht Vor einen Trotz werde außgeleget werden“ dürfe. Abschließend verwahrten sich die Berliner dagegen, „das einiger abscheid unß übers Haupt gesetzet werde, und zwar mit solchem hefftigen rigore, daß nicht ein wort da wieder dürfe gesprochen werden“. Die Antwort des Präsidiums ist nicht erhalten. Aus einem weiteren Schreiben, welches die Berliner am 22. Juni an von Schwerin sandten, wird deutlich, dass sie aufgefordert wurden, ihre Protestation vom 6. Juni zurückzunehmen. In ihren „Rationes, warümb wir vorige Protestation nicht können wieder zurück nehmen“336 , erläuterten die Berliner, dass „nichts darinn alß warheit und unser nothdurft, Zu declinirung des gefügten schimpfs, und implorirung unsers Schutzes“ sei. Die Protestation könne nur zurück genommen werden, falls „endlich die gantze Sache dem Hn Adam [Gierck] betreffend auß dem protocoll möchte weggenommen, und also aufgehoben“ würde. Eine neuerliche präsidiale Antwort auf dieses Schreiben ist nicht bekannt. Wie der spätere Bericht von Schwerins an den Kurfürsten belegt, zeigten die Erläuterungen der Berliner keine Wirkung. Anstatt durch das Kolloquium zu einer
Vgl. GKl Archiv XII/90/3, f. 358v–358v [N3]. Diese Schrift war der Forschung bisher unbekannt. 336
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
mutua tolerantia zu gelangen, war das Verhältnis der Konfessionen untereinander nach der siebzehnten Session angespannter als je zuvor.
4.4 Zusammenfassung theologischer Positionen Die theologischen Hauptdifferenzen, die während des Kolloquiums durch die Kollokutoren angesprochen wurden, betrafen zum einen die Prädestinationslehre und zum anderen die Abendmahlslehre, wobei besonders die manducatio oralis und die Ubiquitätslehre umstritten waren.337 Somit hatte das Kolloquium diejenigen Lehrartikel zum Inhalt, welche die entscheidenden gegenseitigen Abgrenzungen der Konfessionen untereinander ausmachten. Die Weigerung der Berliner Lutheraner, eine mutua tolerantia mit den Reformierten einzugehen, lag in ihrem theologischen Verständnis begründet. Besonders Gerhardt verstand nach seinem anfänglichen Votum nur denjenigen als Christen, „welcher den wahren selig machenden Christlichen glauben rein und unverfälscht hatt, auch die früchte deßelben in seinem Leben und Wandel sehen läßet“338 . Da die am Kolloquium beteiligten Reformierten mit ihren theologischen Aussagen gezeigt hätten, dass sie diese Kriterien nicht erfüllten, könnten sie nicht als Christen tituliert werden. Wer jedoch als Christ tituliert werden könne, mit dem müsse auch eine mutua tolerantia geschlossen werden. Insofern ist nach Gerhardt das Christsein unabdingbare Voraussetzung für eine mutua tolerantia. Den wahren und seligmachenden Glauben setzte Gerhardt mit der lutherisch-orthodoxen Lehre gleich. Er maß ihr den Absolutheitsanspruch zu, als einzige Lehre unmittelbar Gottes Wort zu verkünden. Hierbei ist kritisch zu fragen, wofür unter derart auf die lutherische Lehre eingegrenzten Voraussetzungen überhaupt noch tolerantia aufgebracht werden musste. Der Verdacht liegt nahe, dass das ‚mutua‘ sich lediglich auf die innerlutherische Sichtweise bezog. Auch mit denjenigen Menschen, welche aus Unkenntnis über die lutherisch-orthodoxe Lehre falsche Ansichten verträten, könne eine mutua tolerantia eingegangen werden, vorausgesetzt, diese ließen sich zur lutherischen Lehre bekehren. Mit denjenigen Geistlichen, die jedoch wissentlich irrten, das bedeutet, die trotz vorheriger Unterrichtung nicht der lutherischen Lehre
337 Vgl. einführend zu den theologischen Fragestellungen bezüglich Prädestination und Abendmahl zur Zeit des konfessionellen Zeitalters E. Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin 41964, 342–344.364–368.398–403.426–428; Gollwitzer: Coena Domini (Bezug auf die „Frühorthodoxie“); Rohls: Theologie. 338 GKl Archiv XII/90/3, f. 555r.
4.4 Zusammenfassung theologischer Positionen
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anhingen, könne es keine mutua tolerantia geben. Dazu gehörten nach Meinung der Lutheraner auch die Reformierten. Die innerprotestantischen Streitpunkte beträfen nicht nur die Nebenlehren, sondern vor allem die fundamentalen zur Seligkeit notwendigen Hauptstücke des Glaubens. Wer in diesen Hauptstücken nicht der lutherischen Lehre folge, widerspreche Gottes Wort. Die Lutheraner verstanden als „vornehmste maxime“ ihrer Lehre, „daß zwar viel von dem Worte Gottes salva salute könne ignoriret, aber nicht das geringste davon absque periculo divino judicii et aeternae damnationis negiret werden“339. Eine mutua tolerantia der Reformierten sei insofern unmöglich, als sie eine Duldung von wider Gottes Wort Streitenden bedeuten würde. Die wenig tiefgreifenden theologischen Diskussionen des Kolloquiums berührten nur jeweils Einzelaspekte der Abendmahls- und der Prädestinationslehre. Die Berliner Lutheraner legten ihr Abendmahlsverständnis hauptsächlich während der zehnten Session dar. Dabei betonten sie, die Lehre vom mündlichen, übernatürlichen und unempfindlichen Essen des Leibes und Trinken des Blutes zu vertreten. Im Abendmahl würden mit dem Mund Leib und Blut Christi in Brot und Wein empfangen. Die Lehre der manducatio oralis sei durch die Einsetzungsworte Jesu beim Abendmahl begründet. Sie stelle daher einen ‚fundamentalis articulus fidem confirmans‘, das heißt einen zur Festigung und Bestätigung des Glaubens und der Seligkeit notwendigen Artikel dar. Wer von ihm unterrichtet worden sei, müsse an ihn glauben, um die Seligkeit zu erlangen. Zudem vertraten die Berliner zur Abgrenzung von einem rein leiblich sensualen Verständnis vom Essen und Trinken eine manducatio oralis hyperphysica, indem sie das ‚unempfindliche‘ Essen betonten. Eine rein geistliche Nießung des Leibes schlossen die Berliner aus und verwahrten sich gegen den Vorwurf des sacraphargen oder capernaitischen Essens. Die Berliner waren der Meinung, dass zur Stärkung des Glaubens und zur Versiegelung der menschlichen Seligkeit Christi Leib wirklich gegessen werden solle. Allerdings könne nicht der ganze Leib Christi gegessen werden, denn schließlich sei es unmöglich und unbiblisch, die Seele Christi aufzunehmen. Die Berliner verstanden Brot und Wein als Leib und Blut Christi. Sie lehnten die Vorstellung der reformierten Kollokutoren sowie der reformierten Präsidiumsmitglieder ab, dass mit dem Brot eine Gemeinschaft des Leibes Christi gemeint sei, denn es sei unwahrscheinlich, dass das Brot zugleich den Leib Christi wie auch die Gemeinschaft des Leibes Christi bedeute.
AaO., f. 515r.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Für die Berliner war das richtige Abendmahlsverständnis an sich fundamental zur Seligkeit notwendig. Allerdings mache Gott auch Menschen ohne Wissenschaft und Erkenntnis des Abendmahls selig. Gegenüber der reformierten Abendmahlsauffassung betonten die Lutheraner, dass sich bei den aus Unwissenheit Irrenden in Essen und Trinken dann kein Gericht ereigne, sondern sich die Barmherzigkeit und Sündenvergebung Gottes zeige. Wer jedoch wie die reformierten Prediger trotz Wissenschaft und Erkenntnis die richtige Abendmahlslehre bis in den Tod verneine, könne nicht die Seligkeit erlangen. Auf Grund der knappen und wenig konkreten Aussagen lässt sich nicht genau bestimmen, von welchen Universitätstheologen die Lutheraner in ihren Aussagen geprägt wurden. Neben den in der Paul-Gerhardt-Forschung immer wieder genannten Wittenberger Lehrern ist hier auch Friedrich Balduin (1575–1627) zu erwähnen, dessen Werke Gerhardt in seinen Voten auffallend häufig erwähnt. Die Berliner vertraten somit eine nicht näher ausgeführte Realpräsenz, die Affinitäten vor allem zu CA 10 340 und FC 7341 hat. Die Reformierten erläuterten ihr Abendmahlsverständnis während des Kolloquiums nur selten und dann vage als Reaktion auf lutherische Aussagen. Sie waren der Überzeugung, dass Brot und Wein äußerliche Zeichen des Leibes Christi seien. Sie verneinten, dass ein Mensch ohne Kenntnis der Abendmahlslehre und im Speziellen der Lehre der manducatio spiritualis nicht selig werden könne. Daher waren sie auch der Meinung, dass das lutherische Verständnis der manducatio oralis nicht notwendig zur Seligkeit sei. Wie anderen lutherischen Lehren auch fehle dieser Lehre die Gründung und Begründung in der Heiligen Schrift. Die Reformierten äußerten daher den Verdacht, dass das theologische Verständnis der Lutheraner seinen Grund nicht in der Offenbarung Gottes, sondern in der menschlichen Vernunft habe, und betonten, dass als Beweis für die Wichtigkeit der Lehre allein die Einsetzungsworte gelten dürften. So könnten die Lutheraner nicht erweisen, dass das Dogma de orali et supernaturali manducatione entweder direkt in der Heiligen Schrift enthalten sei oder unstrittig und im Konsens der Kirchenväter aus ihr folge. Zudem hätten die Lutheraner nicht belegt, dass die Lehre zur Substanz und zum Fundament des Glaubens gehöre und daher notwendig zur Erlangung der Seligkeit sei. Auffällig ist, dass sich die Reformierten nicht genauer zur Art der Präsenz des Leibes Christi im Abendmahl und zur Funktion des Heiligen Geistes äußerten. Da es sich um einen innerprotestantischen Konflikt handelte, wur Vgl. BSLK, 64 f. Vgl. insbesondere FC Epitome VII, Affirmativa 1.2.6.7.8 und Negativa 5.9–11 in BSLK, 797–802. 340 341
4.4 Zusammenfassung theologischer Positionen
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den theologische Abgrenzung zum katholischen Abendmahlsverständnis, wie zum Beispiel die Ablehnung der Transsubstantiationslehre, von beiden konfessionellen Parteien nicht erwähnt. Darüber hinaus wurde auch das Abendmahl weder als Bekenntnisakt definiert noch der Gabecharakter des Sakraments betont. Ebenso blieb die Frage ungeklärt, inwiefern der Glaube die Voraussetzung für den Empfang des Leibes Christi bildet. In der Diskussion um die Art der Nießung kamen die Kollokutoren immer wieder auf die Frage der Präsenz Christi im Abendmahl zurück. Die Reformierten verneinten die Omnipräsenz mit dem Hinweis, dass die menschliche Natur Christi nicht an allen Orten gleichzeitig sein könne. Sie befinde sich im Himmel und könne daher nicht zugleich im Abendmahl präsent sein. Dem wiederum widersprachen die Lutheraner, indem sie sich auf FC VIII342 stützten und betonten, dass sowohl die Eigenschaften der göttlichen als auch der menschlichen Natur Christi im Abendmahl präsent seien. Auch die Prädestinationslehre wurde nur kurz und oberflächlich thematisiert. Die Lutheraner glaubten, dass es Gottes Wille sei, allen Sündern zu helfen, wohingegen die Reformierten lehrten, dass lediglich den Berufenen Gottes Gnade zuteil werde. Die Lutheraner waren der Meinung, dass Gott grundsätzlich alle Menschen berufe. Die Reformierten würden lehren, dass Gott die Ursache des Bösen sei, was diese wiederum mit dem Hinweis ablehnten, dass der Mensch die Ursache des Bösen sei und die Sünde die Ursache für die Verwerfung darstelle. Ausführlicher äußerten sich die Reformierten jedoch nicht zu ihrem Prädestinationsverständnis. So boten sie insbesondere keine Aussagen über den Zeitpunkt der Erwählung und erläuterten die Lehre auch nicht als ein doppeltes Dekretum, wie es beispielsweise die Theologen in Dordrecht unterzeichnet hatten. Zu weiteren Konkretisierungen der theologischen Lehren kam es auf beiden konfessionellen Seiten nicht. Die Lutheraner begnügten sich mit dem wiederholten Hinweis, dass die wahre Lehre ebenso wie die begründeten Ablehnungen der reformierten Auffassungen ausführlich in der FC dargestellt seien. Auch die Reformierten führten ihre angedeuteten Verständnisse nicht weiter aus, beriefen sich aber wiederholt auf die drei Konfessionen des märkischen Bekenntniscorpus oder, gerade wenn es ihrer Meinung nach um irenische Bemühungen ging, auf Johann Bergius. Insgesamt präsentierten sich die Kollokutoren somit theologisch wenig eigenständig; was jedoch auch nicht anders zu erwarten war. Sie verstanden sich als Repräsentanten einer Lehre, die es nicht weiterzuentwickeln, sondern zu verteidigen galt. Ihnen reichte bereits die Erkenntnis aus, dass es einen Dissens über die Wichtigkeit bestimmter Lehren gab. Da die konfessionellen Parteien unversöhnlich auf ihren Positi Vgl. FC Epitome VIII, Affirmativa 12 und Negativa 11 in BSLK, 808–810.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
onen beharrten, hielten sie es auch gar nicht für notwendig, die genauen Inhalte der Lehre eingehend zu verhandeln. Insofern blieben sie unterhalb eines für die Klärung von fundamentalen Fragen unabdingbaren Diskursniveaus.
4.5 Exkurs: Die Voten über die Verteidigungsschrift der Rintelner Abschließend sei ein Blick auf eine irenische Bemühung des Kurfürsten geworfen, die zeitlich parallel zum Kolloquium und darüber hinaus verlief, im Gegensatz dazu aber von Anfang an alle Lutheraner der Mark betraf. Friedrich Wilhelm hatte zu Beginn der achten Session am 24. Oktober 1662 den Kollokutoren im Cöllner Schloss durch von Schwerin vorschlagen lassen, das Kolloquium so weiterzuführen, wie es 1661 in Kassel zu einer partiellen Einigung zwischen Reformierten und Lutheranern geführt hatte. Es dürfte nicht primär der Kontakt zu seinem Schwager, dem kurhessischen Landgrafen Wilhelm VI., sondern hauptsächlich der Einfluss der theologischen Fakultät der Universität zu Rinteln gewesen sein, der den Kurfürsten zu diesem Schritt veranlasste. Das irenische Verhalten der Professoren in Rinteln war für ihn ein Idealbild, wie er es auch von seinen lutherischen Untertanen wünschte und forderte. Auch wenn der Vorschlag während des Kolloquiums zunächst seitens der Lutheraner deutlich abgelehnt worden war, hielt Friedrich Wilhelm an seinen Vorstellungen fest. Der literarische Streit zwischen den Fakultäten Rinteln und Wittenberg um die Bewertung des Kasselschen Kolloquiums war auch 1663 noch in vollem Gange. Da die lutherische Pfarrerschaft Brandenburgs größtenteils die Meinung der Wittenberger übernahm, versuchten die Rintelner, Friedrich Wilhelm durch einen Brief343 vom 23. Januar 1663 auf ihre Seite zu ziehen. Zunächst wollten sie den Kurfürsten überzeugen, dass sie in einigen theologischen Grundsätzen mit den reformierten Brandenburgern übereinstimm- ten 344 und irenische Absichten verfolgten. Trotz bestimmter Lehrunterschiede hätten sich die Rintelner stets moderat gegenüber den Reformierten verhalten 343 Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 62v–64r und GKl Archiv XII/90/2, f. 11v–12v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 341 f. 344 Sie fassten ihre theologischen Lehren dahingehend kurz zusammen, „daß das Herrn Christi laib warhafftig im Heyl. Abendmahl nicht zwar vermitteltst der Ubiquität [. . .], sondern auch eine übernatürliche unbegreifliche erwisen kegenwertig sey, undt dasselbe unser Erlöser undt Seeligmacher vor alle Menschen ohne unterschiedt nach dem Willen seines himlischen Vatters habe genug gethan, ingleichen daß Gott von Ewigkeit dieselbe Zur Seeligkait habe erwehlet, [. . .] ümb die Pelagianische Ketzerey zu vermaiden von uns erinnert worden, daß der glaube Gottes gabe sey undt nicht aus mänschlichen Kräften herrühre“ (GKl Archiv XII/90/1, f. 63r).
4.5 Exkurs: Die Voten über die Verteidigungsschrift der Rintelner
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und diese „niemahlen alß Ketzer Verdammet, sondern selbige vor unsere neben Christen gehalten, undt vor Kinder Gottes undt des Ewigen Lebens erkandt“. Die irrigen Lehren der Marburger Theologen stellten keinen Grund dar, dass „das fundamentum fidei“ aufgehoben sei oder keine „Christliche Brüderliche Tolerantz gestiftet werden könte“. Diese irenischen Einsichten seien jedoch kaum auf andere Territorien übertragbar, solange die Rintelner durch den schädlichen Einfluss der Wittenberger Theologen und ihrer Epicrisis behindert würden. Daher hätten sich die Rintelner zu der mitgesandten Gegenschrift 345 entschlossen, „nicht Zweiffelnd[ ], es werde mancher gewißenhafter Mensch, der sonsten Vielleicht gar gefahrlice Conceptus wieder uns gefaßet, dadurch Zu andern gedancken gebracht werden, undt sich des unChristlichen Verdammens undt Verketzerns ins künftige enthalten“. Die Rintelner sandten dem Kurfürsten einige Exemplare ihrer Schrift zu und baten ihn, diese wiederum an die Geistlichen Ministerien zu verteilen und Voten darüber einzufordern. Dem Kurfürsten kam diese Bitte gelegen. Das Rintelner Schreiben konnte er zum Anlass nehmen, einzelne Ministerien persönlich zu befragen, was sie von der Kasselschen Vorgehensweise bzw. allgemein von irenischen Gedanken hielten. Die Antworten sollten ihm nicht nur eine Gehorsamskontrolle gegenüber der Obrigkeit bieten. Friedrich Wilhelm erhoffte sich zudem eine Förderung der irenischen Gesinnung seiner Untertanen sowie eine Aussage darüber, inwiefern der Rintelnsche Ansatz zur Befriedung der konfessionell angespannten Situation in der gesamten Mark taugte. Der Kurfürst reagierte daher prompt auf die Bitte der Professoren und sandte am 12. (22.) März 1663 aus seiner Königsberger Residenz einen Brief346 an die Brandenburger Ministerien. Darin befahl er, dass die Rintelner Schrift verteilt „und friedliebendes Gottseeliges Leute bedencken darüber erfordert würde“. Zwar gab Friedrich Wilhelm zu, dass es theologische Differenzen zwischen den Konfessionen gebe, „weil aber hauptsachlich und zwar allein die frage ist von dem Kirchen frieden, und wie derselbe unter die Evangelische zu stifften und zu befestigen, So stellen wir die erörterung der controversien an sich selbsten [. . .] an seinen orth“. Aus den Antworten der Ministerien solle deutlich werden, „welcher gestalt [. . .] die lang desiderirte Christbrüderliche 345 Der Titel dieser Verteidigungsschrift, in der die Rintelner wiederum ihrerseits die Wittenberger angriffen, lautete: „Ad invariatae Augustanae Confessioni addictas Academias et Ministeria Epistola Apologetica Facultatis Theologicae in Academia Rinthelensi“, o.O., O. J. (1662). Sie befindet sich unter anderem in GKl Archiv XII/90/1, f. 72r–113v, weitere Nachweise in VD17. 346 Der Originalbrief an das Berliner Ministerium befindet sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 59v–61v; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 11r–11v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 342 f.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
verträglichkeit gestiftet werden könne“. Innerhalb von sechs Wochen sollten die Voten an den kurfürstlichen Hof gesendet werden. Paul Gerhardt und seine Berliner Pfarrkollegen wollten dem Befehl umgehend nachkommen. Sie schrieben daher am 24. März einen Brief347 an das Geistliche Konsistorium; in diesem betonten sie, dass sie die kurfürstliche Frage noch nicht beantworten könnten, da ihnen die Epicrisis durch die Konsistoriumsräte bei der Vorladung am 30. Juni 1662 abgenommen worden sei.348 Die Berliner könnten dem Kurfürsten daher solange keine Antwort zusenden, bis zur „Kläreren Collation und Completirung der Acten, [die Epicrisis] unserer Kirchen-Bibliothek wiederumb großgünstig, alß ein nohtwendiges Correlat“ ausgehändigt würde. Die Berliner Pfarrer erhielten die Schrift jedoch nicht zurück. Wie aus einem Bericht Georg Wagners, der als Küster auch Botendienste für die Pfarrer zu erledigen hatte, vom 25. Mai 1663 hervorgeht, wurde die Epicrisis durch das Konsistorium an den Geheimrat von Jena weitergeleitet, der sie nicht herausgeben wollte.349 Dies wiederum schrieben die Berliner auch dem Kurfürsten in einem Brief350 vom 5. Mai 1663 und baten ihn persönlich darum, „dieselbe wollten zu solcher Verordnung gnädigst geruhen, daß solche Wittenbergische Schrifft zu desto beßrer erwegung uns wieder förderlichst ausgestellet“. Des Weiteren erklärten sie vorab, „daß mehr angeführte Rintelische Gedanken [. . .] unsern conscientzien, wie sie vor dem Angesichte des Hertzens Kündigers offenstehen, gantz und gar zu wiederlauffen“. Zwar wünschten sich auch die Berliner „den wahren friede Jesu Christi billich“, jedoch seien „die von den Rintelischen Theologis für geschlagenen und ohne dem gar wieder einander lauffenden mittel, so zureichend nicht, uns zu dergleichen Ihnen gefälligen modo und methodo zu persuadiren“. Zudem wiesen die Berliner darauf hin, dass sie bereits während des Kolloquiums ihre Meinung über das Kasseler Religionsgespräch geäußert hätten.351 Am selben Tag schrieben die Berliner auch einen Brief352 an den Geheimrat von Jena, in dem sie ihm versicherten, trotz vielfältiger pastoraler Aufgaben und auch ohne die Epicrisis dem kurfürstlichen Befehl bald nachzukommen. Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 69r–69v und GKl Archiv XII/90/2, f. 13r–13v. 348 Vgl. die Darstellung der Vorladung vom 30. Juni 1662 in 3.4.3. 349 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 70v. 350 Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 114r–118r und GKl Archiv XII/90/2, f. 13v–16v. 351 Vgl. dazu die mündliche Stellungnahme in der achten Session (4.3.2.1) bzw. die in der neunten Session vorgetragene schriftliche Erklärung (4.3.2.2), in welcher die Berliner Lutheraner den Vorschlag klar abgelehnt hatten. 352 Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 119r–119v und GKl Archiv XII/90/2, f. 16v–17r. 347
4.5 Exkurs: Die Voten über die Verteidigungsschrift der Rintelner
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Die Berliner ließen sich jedoch noch Zeit mit der Abfassung der Antwortschrift. Wie aus einem Brief353 Wagners an die Pfarrer vom 7. Juli 1663 deutlich wird, wurde der Cöllner Propst Andreas Fromm gefragt, „ob Er wolle beliebet die antwort an Sr. Churfl. Durchl. unsern gnädigsten Herren, wegen der Rintelischen Schrifft dem Berlinischen Ministerio zu communiciren, das Berlinische Ministerium were hinwiderumb erbötig, Seine Antwort dem Cölnischen zu übersenden“. Fromm erwiderte jedoch, dass noch keine Cöllner Antwort existiere, da „Herr Christian Nicolai sich von Ihnen getrennet und abgesondert“ habe. Neben dem Ärger über Nicolais Verhalten wurde aus Fromms Antwort jedoch auch deutlich, dass die Cöllner generell nicht gesinnt waren, den Berlinern ihre Antwort zu überreichen. Neben den Berliner und Cöllner Geistlichen scheinen auch viele andere Pfarrer dem kurfürstlichen Befehl nur zögerlich nachgekommen zu sein. In der Sitzung des Geheimen Rates vom 26. Mai wurde der „Empfang der Bedenken des Propstes M. Bugaeus zu Bernau über die Epistel der Rintelnschen Theologen [festgestellt]; aus der Mark seien bisher nur die von dem Berlinischen Ministerium um den Propst zu Cölln Lizentiat Fromme eingekommen“.354 Andreas Fromm hatte bereits am 17. April ein ausführliches Votum 355 über die Rintelnsche Schrift verfasst und an den Geheimen Rat gesandt. Dass Fromm somit die Berliner Pfarrer in seiner Antwort auf ihre Anfrage vom Juli 1663 belogen hatte, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie schlecht das Verhältnis zwischen ihm und den Berliner Lutheranern mittlerweile war. Zunächst erläuterte Fromm, dass die Cöllner Pfarrer getrennt voneinander antworten würden, da sie sich nicht auf eine Meinung einigen konnten.356 Der Propst vertrat die Ansicht, dass die Rintelner in den ersten drei Punkten ihrer Schrift „ihrem Gegentheil denen Herren Theologen von Wittenberg ein Genügen gethan haben“. Was jedoch die Erörterung der „fundamento fidei“ betreffe, so hätten Die Rintelner „zu faciles rigidam Sententiam Reformatorum [. . .] in eine Kirchentolerantz aufgenommen“. Dies betreffe vor allem diejenigen Lehren, Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 120r. Zitiert nach Meinardus: Protokolle VII, 20. 355 Vgl. die Abschriften in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 475, f. 1r–13r (die Zitate folgen dieser Quelle); FB Gotha Chart. A 282, f. 42r–48r; GKl Archiv XII/90/2, f. 32v– 40r; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 343–346. Später hat Fromm sein Votum abdrucken lassen in Andrae Frommen [. . .] Wiederkehrung zur Catholischen Kirchen / Davon die Historiam in Druck zu geben / noethig erachtet, Polnische Lisse [= Lissa] 1668; vgl. dazu 5.3.3.4. 356 Insofern grenzte sich Fromm deutlich von seinen Pfarrkollegen ab, wie er es bereits während des Kolloquiums getan hatte und in der Nachricht Wagners an die Berliner Geistlichen deutlich wurde. 353
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
„welche nicht allein wieder so klare Schrifft lehret, daß Gott nicht allen genugsamen Gnade zur Seligkeit geben wolle, sein Sohn sey nicht für alle gestorben, der Mensch könne der Gedanken Gottes nicht wiederstreben, sondern auch daß die vorgesehene Unbußfertigkeit und Unglauben auch die Sünde nicht die Ursache sey des ewigen Rathschlußes von Verstoßung der Gottlosen“.
Es sei Fromm nicht möglich, einer Toleranz zuzustimmen, falls der status controversiae auf diese Weise formuliert sei. Wenn sich alle Geistlichen trotz der bestehenden Lehrdifferenzen und gegen den Willen anderer für eine derart beschaffene Toleranz einsetzen würden, wie sie die Rintelner fordern, könne „in der Lutherischen Kirchen selber ein neu gantz gefährliches Schisma entehen“. Grundsätzlich jedoch lobte Fromm die Rintelner Schrift und kritisierte die Wittenberger Theologen, übte jedoch auch Kritik an der Öffentlichkeit der literarischen Auseinandersetzung. Im zweiten Teil seines Votums machte Fromm einen Vorschlag, wie die anvisierte „Christbrüderliche Verträglichkeit gestifftet werden könne“. Er wünschte, „daß man verhoffentlich nicht allein zur Verträglichkeit oder tolerantz, sondern gar zur völligen Vereinigung gelangen könte, wenn man auf folgende Weise einen versuch thäte: daß nehmlich beyde Theile eine Zeit lang das streiten ließen anstehen. Legeten beyderseits ihr particular Confessiones eine Weile an die Seite, nehmen die Bibel, und gingen damit zurück in die ersten 500. Jahre der Christenheit, thäten alß wenn sie zu derselben Zeit lebeten, da diese Spaltung noch nicht war“ [. . .] und sucheten aus der Väter Lehr nach Anweißung des Vicentii Liricensis [. . .] Zusammen“357.
Zwischen den Konfessionen strittige Lehren, die wie beispielsweise die Prädestinationslehre nach den ersten 500 Jahren entstanden sein, könnten somit „weggehoben werden“. Allerdings reiche es zur Erlangung des Kirchenfriedens nicht aus, sich in der Lehre zu einigen, „sondern man müste auch zugleich die Heiligkeit des Lebens von den heiligen Vätern allerdings lernen“. Zur Realisierung dieser Vorschläge seien ein strenges „Kirchen Regiment, Disciplin, und wachsame[ ] Ordnung“ notwendig, deren Vernachlässigung in den letzten Jahrhunderten zugleich zum Nachlassen der Frömmigkeit geführt habe. Fromm wiederholte seine Auffassung, dass bereits die ersten Christen alle zur Seligkeit notwendigen Lehren gekannt hätten; 358 er verband damit eine SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 475, f. 7r–7v. „Was ihnen die ersten vier oder fünf hundert Jahre ist gnug gewesen zur Seligkeit, daß wird uns ja auch genug seyn. Was sie aber da Zumahl nicht geglaubet haben, daß kann auch jetziger Zeit Zu Glauben Zur Seligkeit nicht nötig seyn. Dann es kan nicht fehlen sie müßen alle nothwendige Stücke des Glaubens gehabt haben. [. . .] Es kan ja nicht seyn, daß solche fromme Seelen in einer so wichtigen Sache die ewige Seligkeit betreffend, sollten irre gegangen sein“ (SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 475, f. 10v–11r). 357
358
4.5 Exkurs: Die Voten über die Verteidigungsschrift der Rintelner
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Kritik an jenen Theologen, welche diejenigen Lehren als fundamental ansähen, welche erst nach den ersten 500 Jahren entstanden seien.359 Die Evangelischen müssten untereinander in der Lehre übereinstimmen, auch wenn dies „endlich nur ein unnützes Wahn [sei . . .], da die Welt bald untergehe“. Abschließend zeigte sich Fromm jedoch pessimistisch gestimmt, dass sich die Situation zwischen den Konfessionen grundlegen ändern könnte. Fromm hatte in seinem Votum theologisch und sachlich differenziert geantwortet, indem er nicht vorbehaltlos die Argumente der Rintelner übernahm, sondern unter der Prämisse der absoluten Notwendigkeit irenischer Bemühungen deren Argumentation kritisch kommentierte. Fromm präsentierte sich dabei als ein Theologe, der einem Konsens zwischen den Konfessionen nicht um den Preis theologischer Fragwürdigkeit zustimmen wollte. Eine Verständigung sei nur möglich, wenn sie auf breite Akzeptanz stoße und sich die Konfessionen in den fundamentalen bzw. zur Seligkeit notwendigen Lehren einig seien. Bemerkenswert ist das zur Erlangung einer Toleranz in Anlehnung an Vizenz von Lerinums Traditionsprinzip und Calixts Konzeption des ‚consensus antiquitatis‘ aufgegriffene Motiv des Ideals urkirchlicher Zustände, welches auch schon in der Antwort der Cöllner auf die zwei Eingangsfragen vorkam.360 Die Forderung einer strengen Kirchenzucht erinnert hingegen an reformatorische Bemühungen einer Reformation des Lebens. So unrealistisch der Vorschlag Fromms war, stellt er doch einen bemerkenswerten Ansatz dar, der sich von den sonstigen zeitgenössischen irenischen Bemühungen in der Doppelstadt deutlich abgrenzte. Im Nachlaß Oelrichs ist ein weiteres Votum361 vorhanden, bei dem jedoch der Verfassername fehlt. Aus dem Inhalt wird allerdings deutlich, dass es von einem jener Reformierten verfasst sein muss, die am Kolloquium teilgenommen haben. Der unbekannte Autor des Votums war zwar insgesamt zufrieden mit der Schrift der Rintelner, äußerte sich jedoch kritisch zu ihrer Argumentation. Er habe sich gewünscht, „daß der status controversia etwas accurater und klärer [. . .] wäre formiret und daß etliche termini als e.g. de absoluta praedestinatione de praesentia reali de necessitate medii in materia de baptismo, also wäre evoluiret worden“. Die Rintelner seien theologisch noch weiter als andere Luthe359 „Und würde an Leuthen so zu dieser Zeit leben ein Hochmuth seyn, wenn sie sich wolten einbilden, sie hätten nach so viel 100. Jahren erst außgesuchet und von neuem erfunden, was zur Seligkeit von nöthen ist“ (SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 475, f. 11r). 360 Vgl. dazu die Äußerungen während der zweiten Session in 4.3.1.1. 361 Vgl. die Abschrift in SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/1, f. 1r–7r. Hierbei ist anzumerken, dass die Sortierung und somit die Folierung des Manuskripts fehlerhaft vorgenommen wurden. Der Text ist nur sinnvoll zu erschließen in der Reihenfolge f. 1r–4r.5r–5v.4v.6r–7r.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
raner von den Reformierten entfernt.362 Ihre Beschuldigungen, „alß ob wir in controversin sonderlich in der vom Abendmahl von der leiblichen gegenwart und der mündlichen übernatürlichen Eßen, darumb vornehmlich discutiren, weil wirs mitt der Vernunft nicht begreiffen können“, seien nicht akzeptabel. Der Autor stimmte den Rintelnern hingegen darin zu, dass die Reformierten „den grund des Gl[aubens] und der Seeligkeit behalten“ und daher als „Kinder Gottes Und Brüder in Christo“ angesehen werden müssten. Zudem sei er „mitt ihnen de quaestione in pondere et tolerantia Ecclesiastica einig“. Bei der zweiten kurfürstlichen Frage müsse zunächst erläutert werden, was für eine Toleranz gemeint und wie diese zu erreichen sei. Zum ersten stellte er klar, dass nicht der „Land- und Haußfriede“, sondern eine „tolerantia Ecclesiastica“ gemeint sei. Zum zweiten machte er deutlich, dass es nicht die Frage sei, „ob die Mißfelligkeit in etlichen lehrpunckten [. . .] gäntzlich aufgehoben werden müßen, [. . .] Sondern ob Stantibus inter Evangelios aliquos controversiis /: unter welchen die vornehmste ist de coena, als worüber etliche die Trennung entstanden ist 363 Dennoch sie die Evangelischen einander weder im Hertzen noch mitt Worten Verketzern Und Vertragen sollen, biß Gott die volle Einigkeit gebe“. Um herauszubekommen, ob zwischen den Konfessionen „Consensus in fundamento sey, so mus man erforschen ob diese oder jenige strittige Lehre fundamentalis“ seien.364 Eine mutua tolerantia sei nicht zu erreichen, wenn ein Dissens in den fundamentalen Lehren festgestellt werde, „findet sichs aber, daß in fundamento consensus und allein in minus fundamentalibus dissensus sey, So kann 1 tolerantia gestiftet, 2 darnach de controversiis residuis fraterne so lange disputiret werden, biß plena confessio folge“. Auf diesem Weg würde auch deutlich, dass die lutherischen Lehren de manducatio oralis und de omnipraesentia Christi unwahr, keine Fundamentalartikel und somit auch unnötig zur Erlangung der Seligkeit seien.
362 Dies würde deutlich, indem die Lutheraner nicht nur „ihre Irthumer [. . .] von der leiblichen gegenwart und mündlichen Eßen des Leibes Christi, Und von der communicatione idiomatum und andere mitt Unrecht auff die H. Schrifft gründen oder aus derselben erweisen wollen. Sondern daß sie auch in der Lehre de praevisa fide fest noch weiter von uns, als andere lutherischen dissentiren“ (SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/1, f. 2r). Auch in der Christologie gebe es entscheidende Differenzen. 363 Da gerade dieser Aspekt immer wieder durch Stosch betont wurde (vgl. beispielsweise die zweite Session in 4.3.1.1), ist es nicht unwahrscheinlich, dass Stosch der Autor des Votums war. 364 Dazu müsse erstens geprüft werden, ob die Lehre in der Heiligen Schrift enthalten sei oder unstrittig aus ihr folge. Zweitens müsse die Lehre so wichtig sein, „daß ohne dieselbe niemand [. . .] die ewige Seeligkeit erlangen könne“ (SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 474/1, f. 3v).
4.5 Exkurs: Die Voten über die Verteidigungsschrift der Rintelner
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Der Autor wiederholte noch einmal seine Position, dass zuerst die Lehre de orali manducatione behandelt werden müsse, weil deswegen die Streitigkeiten nach Luthers Tod begonnen hätten. Zudem erläuterten die Reformierten die Lehre de praedestinatione dergestalt, wie sie die Reformierten nie gelehrt hätten. Abschließend betonte er, „daß mir solche Tolerantia wie hier beschrieben nicht allein Christlich, und practicable sei, sondern auch das beste Mittel darzu, ordentlich angestellt und recht distinguirte Colloquia sein werden, damitt die in der Zechsucht gleichsam eröffnen Theologi aufgewecket, und der sachen beßer als leider bißher geschehen ist, nachzudencken Und nach zu forschen, Veranlaßet würden“.
Auch dieser Geistliche äußerte sich differenziert zu der Rintelnschen Schrift. Auf der einen Seite lobte er die irenische Grundeinstellung, auf der anderen Seite kritisierte er mit klaren Worten die lutherischen Lehren. Im zweiten Teil des Votums nahm er die Forderung auf, welche die Reformierten und das Präsidium bereits öfters während des Kolloquiums erhoben hatten. Theologische Lehren sollten auf ihre Fundamentalität geprüft werden; falls Einigkeit festgestellt werden sollte, müsste über Differenzen in weniger wichtigen Lehren hinweggesehen und ein Kirchenfriede geschlossen werden. Weitere Voten zu den kurfürstlichen Fragen sind nicht bekannt. Es ist anzunehmen, dass irenischen Vorschlägen kritisch gegenüber stehende lutherische Ministerien gar keine Antwort verfasst haben. Möglicherweise hatte der Kurfürst die Lage falsch eingeschätzt, als er erwartete, von allen Ministerien Antworten auf die gestellten Fragen und somit neue Möglichkeiten zur Befriedung der konfessionellen Auseinandersetzungen zu bekommen. Es ist nicht überraschend, dass die erhaltenen Voten sich positiv zu den Toleranzbemühungen äußerten, denn schließlich stammen sie von einem Reformierten, dem lutherischen Ireniker Fromm sowie dem Bernauer Propst Matthias Bugäus (1620–1680), der bereits öfters als Verteidiger der kurfürstlichen Religionspolitik aufgetreten war.365 Aus den Voten wird jedoch auch deutlich, dass das Rintelnsche Schreiben theologisch ungeeignet war, als Beispiel für irenische Bemühungen zu stehen. Dies wurde schon allein durch die polemischen Abschnitte gegenüber den Wittenberger Theologen verhindert. Die Aussichten auf zustimmende Antworten seitens der breiten Mehrheit der brandenburgischen lutherischen Ministerien waren somit von vornherein gering. Die Berliner Lutheraner hatten bereits während der 9. Session des Kolloquiums unmissverständlich erklärt, dass sie den Vorschlag, auf die Art und Weise des Kollouiums zu Kassel zu verfahren, ablehnten, da „die herrn Marpurger so gar klar dem worte Gottes wiedersprochen, das es auch ihren Religionsgenoßen selbst billig mißfellig ist“. Der nun durch die Berliner her Vgl. zu Matthias Bugäus 5.1.
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vorgebrachte Einwand, dass sie nicht auf die kurfürstlichen Fragen antworten könnten, solange sie die Epicrisis nicht besitzen würden, wirkt daher wie eine schwache Entschuldigung und war möglicherweise eher ein Vorwand, in ihrer Antwort nicht sämtliche irenischen Vorschläge ablehnen zu müssen. Mit dieser Taktik sollten die Berliner und andere Ministerien Erfolg haben, denn weder seitens des Kurfürsten, des Geheimen Rates oder des Konsistoriums sind aus den folgenden Monaten Ermahnungen an die Ministerien bekannt, endlich Voten zu den kurfürstlichen Fragen einzusenden. Wahrscheinlich hatte der Kurfürst durch die weitere Entwicklung des Kirchenstreits kein ernsthaftes Interesse mehr daran, seinen früheren Votenforderungen Nachdruck zu verleihen, da ihm bewusst geworden war, dass das Kasselsche Kolloquium keinen Lösungsweg für die konfessionelle Situation in Brandenburg darstellen konnte.
4.6 Zwischenresümee Das Kolloquium hatte nicht das vom Kurfürsten gewünschte Ziel erreicht. Nach den siebzehn Sessionen war das Verhältnis der Konfessionen untereinander angespannter denn je zuvor; statt einer mutua tolerantia herrschte vielmehr eine ‚mutua intolerantia‘. Unabhängig von den inhaltlichen Differenzen zwischen den Kollokutoren erschwerten einige weitere Faktoren den erfolgreichen Ausgang des Kolloquiums. Die verschiedenen kurfürstlichen Erlasse der ersten Phase des Berliner Kirchenstreits, besonders aber die neuen Konsistorial- und Ordinationsordnungen, das Verbot, an der Universität Wittenberg zu studieren sowie das so genannte erste Toleranzedikt bedeuteten den Versuch, die Brandenburger Geistlichen von der lutherisch-orthodoxen Lehre abzukapseln. All diese Maßnahmen empfanden die Lutheraner als empfindlichen und nicht hinnehmbaren Eingriff in ihren lutherischen Glauben. Da der Kurfürst eine Verständigung auf der Grundlage des Edikts gesucht hatte, war dies wesentlich mitverantwortlich für das Scheitern der Verhandlungen. Des Weiteren wurde das Kolloquium weder von den Geistlichen selbst oder aus theologischem Drang heraus veranstaltet, sondern obrigkeitlich aus innenpolitischer Notwendigkeit angeordnet. Dieser Zwang bot einen weiteren Grund für ein bewusstes Scheiternlassen des Kolloquiums. Schließlich dürfte für die lutherischen Kollokutoren kein Vorteil zu erwarten gewesen sein; im Gegenteil hätte aus lutherischer Sicht eine Einigung mit den Reformierten den Nachteil der Bekenntnisuntreue gehabt. Wie in 4.1 dargestellt wurde, waren auch die Eingangsfragen unpassend gestellt. Darüber hinaus hat die Verbindung theologischer Fragen mit Fried-
4.6 Zwischenresümee
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rich Wilhelms Forderung, seine Autorität anzuerkennen, einen starken obrigkeitsgesteuerten Druck auf die Teilnehmer ausgeübt. Des Weiteren war die Zusammenstellung der Kollokutoren und des Präsidiums unglücklich: Die Verwicklung zwischen den reformierten Kollokutoren und dem kurfürstlichen Hof war so stark, dass sich die Lutheraner dauerhaft angeklagt fühlen mussten und das Kolloquium seinen Schwerpunkt zunehmend in dem Versuch hatte, die Berliner Lutheraner zu überzeugen, einer mutua tolerantia zuzustimmen. Der Kurfürst hätte wohl besser neben Fromm und statt der Berliner Geistlichen irenische Lutheraner zu den Sessionen eingeladen, denn die Berliner verharrten zu stark auf ihrem lutherischen Absolutheitsanspruch. Des Weiteren war die zahlenmäßige Ungleichheit der konfessionellen Teilnehmer für die Kommunikation nicht gerade förderlich. Zudem besaßen die Stände kein Mitspracherecht. Eine Unterrichtung dieser und der Geistlichkeit in Brandenburg und somit ein Verzicht auf das Geheimhaltungsgebot wäre aber sinnvoll gewesen, um zum einen Vertrauen in die kurfürstlichen Maßnahmen zu säen und zum anderen nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass der Kurfürst etwas zu verheimlichen habe. Die Uneinigkeit über den Modus der Auseinandersetzungen verlängerte die einzelnen Sessionen ungebührlich und lenkte immer wieder von den theologischen Gesprächsthemen ab. Zwar kritisierten die reformierten Kollokutoren an einigen Stellen die ausführliche logische Argumentationsstruktur der Lutheraner, handelten jedoch einerseits genauso wie diese und forderten andererseits die Berliner immer wieder auf, mit terminologischer Genauigkeit den formalen Erweis der Richtigkeit ihrer Argumente zu erbringen. Zudem scheint die teilweise mangelnde Einigkeit unter den Lutheranern der Doppelstadt ein Grund für das Scheitern des Kolloquiums gewesen zu sein, wobei doch gerade ein gemeinsames Auftreten die lutherische Position hätte deutlich stärken können. So positionierten sich die Berliner Lutheraner nicht nur gegen die kurfürstliche Religionspolitik und die Reformierten, sondern auch gegen die Cöllner Lutheraner. Auch innerhalb des Cöllner Ministeriums herrschte Uneinigkeit, was dazu führte, dass sich Nicolai in seiner Meinung den Berliner Lutheranern anschloss und Fromm sich vom Kolloquium fernhielt, bis über die von ihm gewünschten Themen gesprochen würde. Dieses Fernbleiben schwächte zum einen die irenischen Möglichkeiten des Kolloquiums und brachte zumindest in der hierarchischen Struktur ein weiteres Ungleichgewicht mit sich; immerhin nahm nun auf lutherischer Seite kein Konsistorialrat mehr an den Sessionen teil. Schließlich war ein weiterer Grund für das Scheitern die schwache Leitung des Kolloquiums. Das Präsidium handelte entgegen seinen Ankündigungen oft inkonsequent, machte keine klaren Vorgaben und bezog inhaltlich zu stark Stellung; von Schwerin war als Moderator zu wenig moderat. Oftmals machten sich beim Präsidium Anzeichen
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einer Ratlosigkeit bemerkbar, wie das kurfürstliche Ziel zu erreichen sei. Zudem wurde der Kurfürst, dessen Anwesenheit möglicherweise das Kolloquium beeinflusst hätte, zu wenig über den Verlauf und die Zwischenergebnisse unterrichtet. Von Beginn an herrschte eine gespannte Gesprächssituation, schon bei einfachen Gesprächsformalitäten kam es zu Streitereien. Besonders zwischen Stosch und Reinhardt, aber auch zwischen Reinhardt und von Schwerin und zwischen Stosch und Fromm kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen. Die konfessionellen Parteien gingen oftmals nicht aufeinander ein, sondern beschuldigten sich gegenseitig und verloren dabei die kurfürstliche Zielvorstellung einer mutua tolerantia aus den Augen. Die konträren Positionen standen im Grunde genommen bereits nach wenigen Sessionen fest. Die Berliner bejahten die beiden Eingangsfragen; sie waren der Überzeugung, dass in den reformierten Bekenntnissen und im Edikt von 1662 tatsächlich etwas gelehrt werde, was ein Hinderungsgrund zur Erlangung der Seligkeit sei bzw. die Verdammung durch Gott zur Folge habe. Das aber konnten die Reformierten nicht hinnehmen, empfanden sie doch durch die lutherischen Abwertungen die reformierte Lehre als beleidigt und nicht ernst genommen. Die Reformierten wiederum provozierten die Lutheraner, indem sie das Präsidium offensiv auf ihre Seite zogen und zudem abschätzig über Luther sprachen. Die Reformierten kritisierten an den Berlinern, dass diese ihre Lehren aus menschlicher Vernunft, nicht jedoch aus der Bibel ableiteten und dass daher für die lutherischen Verdammungsurteile keine hinreichenden Gründe vorhanden sein. Im Laufe der Sessionen ging es hauptsächlich darum, wie die Ablehnung der gegnerischen Positionen am besten begründet werden konnte. In den aus heutiger Sicht langatmigen und ermüdenden, damals für den Erweis wissenschaftlicher Gelehrsamkeit aber als notwendig erachteten Diskussionen über die formale Richtigkeit von Argumenten zeigte keine der beiden Parteien Kompromissbereitschaft. Die Kollokutoren zeigten sich unterschiedlich offen für eine mutua tolerantia. Die Berliner Lutheraner hatten im Gegensatz zu den Reformierten kein Interesse an einer Verständigung und sahen das Kolloquium als Provokation an, bei dem durch Konfrontation die eigene Stellung behauptet und gesichert werden musste. Die Berliner versprachen mehrfach, alles Notwendige für eine Toleranz tun zu wollen, jedoch müsse diese vor Gott verantwortbar und in der Wahrheit gegründet sein. Dies könnte sie jedoch nur sein, wenn die Reformierten von ihren irrigen Lehren abließen und sich dem lutherisch-orthodoxen Verständnis anschließen würden. Da jedoch auch die Reformierten ihr theologisches Verständnis nicht aufgeben wollten, war den Kollokutoren eine Einigung nicht möglich. Die Cöllner Lutheraner zeigten
4.6 Zwischenresümee
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sich grundsätzlich bereit zu einer Einigung; sie knüpften diese jedoch an die Bedingung, dass sich die Reformierten von bestimmten Lehren distanzieren müssten, was allerdings nicht geschah. Die Berliner Lutheraner waren unter den gegebenen Umständen zu einer Einigung nicht bereit und betonten fortwährend, diese Position nicht zu verändern und bis zum Ende ihres Lebens in der lutherischen Religion verharren zu wollen. Die Reformierten hingegen waren kompromissbereiter. Sie wollten eine Konsensformel unterschreiben, die lediglich die Frage behandelte, wie wichtig bestimmte Teilaspekte der Abendmahlslehre seien. Die Lutheraner wollten diese Formel jedoch nur dann unterzeichnen, falls in allen fundamentalen zur Erlangung der Seligkeit notwendigen Lehren sämtliche inhaltliche Aspekte geklärt wären und darin zwischen den Konfessionen Einigkeit bestünde. Eine vollständige Übereinstimmung in der Lehre erwies sich jedoch als unrealistisch. Allein schon bei der Diskussion über die Gewichtung einzelner Glaubensartikel konnten sich die Kollokutoren nicht einigen. Dass das Kolloquium ergebnislos zu Ende ging, lag neben der unterschiedlichen Bereitschaft der Kollokutoren zur Einigung an deren theologischen Grundhaltungen. Zunächst sind die Zielsetzungen der Berliner Lutheraner bemerkenswert. Ihnen kam es zum einen darauf an, ihren unabänderlichen Bekenntnisstand zu betonen. Zum anderen verstanden sowohl sie als auch die Cöllner Lutheraner als göttlichen Zweck des Kolloquiums, die Reformierten zu Lutheranern zu bekehren und somit zur wahren Lehre zu führen. Während des gesamten Kolloquiums wurden die zu behandelnden Lehrpunkte wenig tiefgreifend abgehandelt und allein schon deshalb keine neuen theologischen Perspektiven eröffnet. Die Geistlichen und der Kurfürst samt seinem Hofe bedienten sich der damals bedeutenden theologischen Konzeptionen der jeweiligen Konfessionen. Für beide Konfessionen bestand ein Problem darin, dass die Geistlichen nicht wie etwa Universitätsprofessoren qua Amt zur theologischen Kontroverse verpflichtet, darin dogmatisch ausreichend geschult und geübt waren. Bei der Auseinandersetzung um die Abendmahlslehre ließen die Reformierten verlauten, dass die Lehre von der manducatio oralis ihrem Verständnis nach nicht notwendig zur Seligkeit sei. Die Lutheraner hingegen betonten, dass die Lehre von solcher Wichtigkeit sei, dass ohne deren ernsthafte Behauptung Gott keinen Reformierten selig sprechen wolle. Die Berliner verstanden ihre theologischen Einsichten als göttliche Wahrheit bzw. haben sie mit ihr gleichgesetzt. Eine Toleranz mit den Reformierten sei nicht möglich, da diese in den Hauptstücken des Glaubens Gottes Wort widersprächen. Die reformierten Irrlehren lägen offen zu Tage. Die Berliner waren der Meinung, aus der Bibel belegen zu können, dass die reformierten Lehren „in judicio Divino verdammet seyen“.
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§ 4 Das Kolloquium zu Berlin/Cölln 1662–1663
Die verhärteten Positionen ließen sich auch durch verschiedene Maßnahmen des Präsidiums nicht erweichen. So scheiterte zum einen der Vorschlag, künftig nach dem Vorbild des Kasseler Religionsgesprächs zu verfahren, zum anderen der Versuch, eine mutua tolerantia über den Weg eines von allen Seiten anerkannten Rezesses zu erreichen. Die Berliner betonten fortwährend, dass sie sich „nimmer mehr vor Gott und unserm gewißen verantwortlich befinden“ könnten, eine kompromissbereite Theologie zu vertreten. Wie während des gesamten Kirchenstreits, so betonte Gerhardt auch während des Kolloquiums, dass sein Gewissen das entscheidende Kriterium seines Handelns darstellte. In den Sessionen blieb Gerhardt jedoch laut den Protokollen im Hintergrund und äußerte sich nur selten. Bei der Auswertung der Voten der Berliner Lutheraner hat sich jedoch gezeigt, dass Gerhardt der entscheidende lutherische Schriftführer hinter den Kulissen des Kolloquiums war; er brachte die lutherischen Positionen zu bestimmten strittigen Sachverhalten besonders trefflich auf den Punkt und bereitete somit die wesentlichen Inhalte der eingereichten lutherischen Schriften vor. Gerhardt schärfte damit seinen Pfarrkollegen immer wieder jene kompromisslose Haltung ein, die von lutherischer Seite aus der entscheidende Grund für das Scheitern des Kolloquiums war. Insgesamt also ließen sich die verschiedenen Wünsche und Vorstellungen der Protagonisten des Berliner Kirchenstreits nicht vereinbaren. Der staatspolitische Wunsch des Kurfürsten nach innerem Frieden, die Ambition, seinen reformierten Glauben nicht nur hof-, sondern auch landesfähig zu machen, der Wunsch, seine Souveränität in Kirchenangelegenheiten zu manifestieren, die Forderung an seine Untertanen, sich seiner Autorität zu unter- werfen, standen dem Bestreben der Lutheraner diametral entgegen, weder in ihrem Glauben und Bekenntnis beeinflusst zu werden noch an kirchlichem Einfluss zu verlieren. Der Abbruch des Kolloquiums war somit eine unausweichliche Folge aller genannten Faktoren.
§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits Der Kurfürst hatte durch das Kolloquium eine Annäherung der Lutheraner und Reformierten und somit eine ‚mutua tolerantia‘ nicht erreicht. Deshalb änderte er seine Vorgehensweise und setzte neue Mittel zur Durchsetzung seiner kirchenpolitischen Ziele ein. Die folgenden Jahre sollten das Verhältnis des Kurfürsten zu den Pfarrern einerseits und zum Adel, zur Ritterschaft und den Ständen andererseits entscheidend verändern. Die Geistlichkeit der Doppelstadt wurde vollständig ausgetauscht. Der Kurfürst duldete nahezu keine Einmischung mehr in die Kirchenpolitik und begann, seine Maßnahmen absolutistisch durchzusetzen. Dies hatte den energischen Protest der lutherischen Geistlichkeit zur Folge. Die dritte und letzte Phase des Berliner Kirchenstreits gliedert sich in verschiedene Abschnitte, die in drei Unterkapiteln in dieser Arbeit untersucht werden: In 5.1 geht es um die Folgen des Kolloquiums für die beteiligten Pfarrer und Hofangestellten und um die Neuausrichtung kurfürstlicher Religionspolitik. Zunächst erließ der Kurfürst als unmittelbare Reaktion auf das größtenteils ergebnislose Kolloquium das so genannte ‚zweite Toleranzedikt‘, welches die Basis für seine weiteren kirchenpolitischen Maßnahmen bilden sollte. Später kamen Reverse dazu, durch die sich die Pfarrer auf die Edikte von 1614, 1662 und 1664 verpflichten sollten. Schwerpunkt dieses Kapitels ist die Reaktion der betroffenen Pfarrer, der durch diese angeschriebenen Fakultäten, Magistrate, einzelnen Theologen sowie der Stände, des Adels und der Ritterschaft. In 5.2 werden dann die Auseinandersetzungen um Gerhardts Verbleib im Berliner Pfarramt thematisiert, bevor in 5.3 zusammenfassend die neue geistliche Landschaft in der Doppelstadt porträtiert wird. Alle drei Abschnitte werden durch den Rückgriff auf zum Teil bisher unbekannte Quellen dargestellt, die bisherige Forschungsliteratur wird kritisch aufgenommen und teilweise korrigiert. 5.4 fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen.
5.1 Die Folgen des Kolloquiums Das Kolloquium hatte für fast alle Teilnehmer einschneidende Folgen. In diesem Paragrafen wird unter Bezugnahme auf der Forschung bisher unbe-
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kannter Quellen der Ausgang des Berliner Kirchenstreits aus der Sicht sowohl der Pfarrer als auch des Präsidiums geschildert. Die Teilnehmenden bewerteten den Abbruch des Kolloquiums aus ihrer jeweiligen Sichtweise unterschiedlich. Unzweifelhaft trat zu Tage, dass die religionspolitische Maßnahme des Kurfürsten, den Kirchenstreit durch ein Kolloquium zwischen den streitenden Konfessionen zu beenden, gescheitert war. Die Lutheraner versagten dem Landesherrn in diesem Punkte den Gehorsam. Seine Souveränität und Autorität wurde zwar in politischen, nicht aber in kirchlich-theologischen Fragen anerkannt. Als Ergebnis blieb eine politische Toleranz, das heißt ein Nebeneinander von Reformierten und Lutheranern, nicht aber eine kirchlich-theologische Toleranz. Insgesamt hatten sich die konfessionelle Situation in der Doppelstadt und die Beziehung zwischen den Konfessionen verschlechtert. Die theologischen Gegensätze in Lehre und Praxis traten während des Kolloquiums offen zutage und verschärften sich.
5.1.1 Von Schwerins Bericht und die erste Reaktion Friedrich Wilhelms Unmittelbar im Anschluss an das Kolloquium übermittelte von Schwerin dem Kurfürsten einen auf den 18./28. Juni 1663 datierten umfassenden Bericht über das Kolloquium. Diesem muss besondere Bedeutung beigemessen werden, da er für den Kurfürsten fast die einzige Informationsquelle über die Vorgänge in der Doppelstadt darstellte und somit ausschlaggebend für seine im Folgenden angeordneten Maßnahmen war. Zu Beginn des Berichts entschuldigte sich von Schwerin, dass er Friedrich Wilhelm bisher „keine Unterthänigste relation abgestattet“ hatte. Dies habe daran gelegen, „daß Wir mit dem Berlinischen Ministerio so gar nicht überein kommen können; Und weil Uns gleichwohl Von einen und anderen Politicis Die bisherigen Darstellungen der folgenden Zeit basieren, auch wenn dies nicht ausdrücklich angegeben wird, ohne Ausnahme auf dem Aktenkonvolut in GStA PK Rep. 47 Tit. 19 „Lutherische Prediger-Schmähungen (1660–1670)“, f. 1r–58r, beziehungsweise auf die Darstellungen bei Schulz: Gerhardt, XLII–LXXV und Langbecker: Gerhardt, 91–205, welche ebenfalls dieses Konvolut als Vorlage benutzten. Vgl. beispielsweise Roth: Gerhardt, 13–35; Wangemann: Johan Sigismundt, 174–187 (hier eine Reihe sachlicher Fehler); Orlich: Geschichte des Preußischen Staates II, 469–473; Petrich: Gerhardt, 144–161; Lackner: Kirchenpolitik, 132–145; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 250–267; Bunners: Gerhardt, 69–86. Hering: Neue Beiträge II, 182–274 und Landwehr: Kirchenpolitik, 213–230 nutzen darüber hinaus den ihnen bekannten Nachlaß Oelrichs fast nicht. Die Aktenkonvolute GKl Archiv XII/90/1 und GKl Archiv XII/90/2 werden in dieser Arbeit zur Darstellung der Ereignisse nach dem Kolloquium erstmalig ausgewertet. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 16 (alle folgenden Zitate entstammen dem unfolierten Original); erstmalig abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 357–360.
5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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immerfort Hofnung gemacht, Sie würden sich beßern, So habe Ich die Relation, bis etwas beständiges referiret werden könte, differiret [= verschoben]“. Schuld an der Ergebnislosigkeit des Kolloquiums seien allein die Berliner Pfarrer, da sie eine Einigung abgelehnt hätten: „Ich [= von Schwerin] verspüre nun gnugsam, daß es vielmehr ie länger ie ärger werde, und daß mit dem Berlinischen Ministerio wohl nimmer etwas gutes ausgerichtet, sondern vielmehr durch daßelbe die Gemüter hin und wieder noch hefftiger verbittert und verwirret werden dürfften“. Aus dem Bericht wird deutlich, wie wenig der Kurfürst vom Kolloquium unterrichtet gewesen sein muss. Dies zeigt, dass von Schwerin das Vertrauen und die Vollmacht des Kurfürsten besaß, das Kolloquium zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Im folgenden Hauptteil des Schreibens wurde Elias Sigismund Reinhardt hart beschuldigt. Dieser habe den reformierten Kollokutor Vechner „sehr schimpflich angefahren, ihm silentium imponiret [=auferlegt], und gesaget, er wäre nur ein bloßer Auditor“. Als der Rat vorgeschlagen habe, für den nach Holstein reisenden Vorstius den Lehrer des Joachimsthalschen Gymnasiums, Adam Gierck, nachzunominieren, sei Reinhardt „mit großer frecheit und ungestüm in die rede gefallen, und Zu Unser aller Verwunderung ganz imperiose [= gebietend] begehret, man solte auch einen Praeceptorum aus ihren Classibus zum Collocutore setzen“. Obwohl dies abgewiesen worden sei, „so hatt er doch nicht aufhören wollen, und dieses postulatum ganz ungestüm getrieben, biß Wir alle aufgestanden“. Reinhardt habe öfters „mit solchen unbescheidenen, trotzigen, verdrießlichen und höchst empfindlichen Worten geantwortet“, sei „bei seinem Trotz verblieben, und von seiner Erudition [= Gelehrsamkeit], vornehmen qualitäten, großem Unterschied zwischen Ihm und dem gedachten Collega immerhin gar verdrißlich declamiret“. Des Weiteren habe Reinhardt „seine Collegen induciret [= angeführt], daß Sie alles über sich nehmen, als wan er nichts geredet, dan was Sie Ihm anbefohlen“. Obwohl von Schwerin zwischen persönlicher Sympathie und dem Verhalten der Lutheraner differenzierte, fiel sein Gesamturteil über Reinhardt zutiefst ablehnend aus: „Ich [. . .] muß Ihm vielmehr das Zeügnüs geben, daß Er mich und die Meinigen allemahl hoch geehret, und sonderbare freundschafft zu Uns gesuchet: Wann Ich aber dieses werck, so E. Churfürstl. Durchl. Uns anbefohlen, betrachte, so kann Ich, der Wahrheit zum Zeügnüs, anders nicht sagen, dan daß er solches nach allen seinen Kräfften und Vermögen zu hindern suchet, wie er dan dergleichen bittere Sachen offters hervorbringet, die Ich nicht leichtlich bey einigen Lutheraner gelesen oder gehöret; dannenhero dan wohl gar keine Hofnung zu machen, daß, so lange er bei diesem Werk ist, eintziger guter effect erfolgen solle“.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Da Reinhardt innerhalb der Berliner Pfarrerschaft einen großen Einfluss habe, befürchtete von Schwerin, „daß seine andere Collegen nunmehro so sehr von Ihm eingenommen und verbittert worden, daß auch mit Ihnen schwerlich etwas gutes in der sache auszurichten seyn werde“. Daher schlug der Oberpräsident vor, „Ew. Churfürstl. Durchl. möchten jemanden alhiero vollkommene Vollmacht gnädigst auftragen, sowohl von Reformirter als Lutherischer seiten solche Theologos und Collocutores zu erwählen, als Ew. Churfürstl. Durchl. der sachen zuträglich zu seyn erachten würden, Und daß man auch sonst im übrigen also verfahren solte, damit Ew. Churfürstl. Durchl. intendirter Zwegk, nemlich eine Vereinigung salvis utriusque partis controversiis, zu stifften, erhalten werden möchte“. Dies sei möglich, da „unterschiedlich Inspectores in diesem Lande seind, welche mit des Berlinischen Ministerii procedur gar nicht zufrieden seind“. Abschließend fragte von Schwerin den Kurfürsten, wie sich die Geheimräte zukünftig im Kolloquium und im speziellen gegenüber Reinhardt verhalten sollten. Friedrich Wilhelm müsse befehlen, dass die Berliner Pfarrer „aller anzüglichkeit auf den Cantzeln gegen die Reformirte gäntzlich sich enthalten“ sollten. Zudem solle der Kurfürst entscheiden, ob die Räte mit der Fortführung des Kolloquiums bis zu einer kurfürstlichen Verordnung oder bis zur Wiederkehr des Kurfürsten aus Preußen warten sollten und „mit wem diese Conferentien zu reassumiren [= wiederaufnehmen]“ sei. Das Schreiben von Schwerins bot keine Zusammenfassung des Kolloquiums, sondern war eine weitläufige Anklageschrift gegen Elias Sigismund Reinhardt. Inhaltliche Berichte über die einzelnen Sessionen sowie theologischen Streitthemen und -positionen wurden bewusst ausgelassen. Es ist gut möglich, dass von Schwerin mit der stattdessen erfolgten Behandlung der Personalie Reinhardt auch von seiner letztlich erfolglosen Leitung ablenken wollte. Schließlich hätte der Kurfürst die Schuld für den bisherigen Misserfolg des Kolloquiums auch in von Schwerins präsidialer Leitung suchen und zumindest zum Teil finden können. Diese Gefahr bestand insofern, als von Schwerin zum einen trotz anscheinend anderer Absprachen kaum Berichte über das Kolloquium an den Kurfürsten gesendet hatte. Zum anderen gab von Schwerin zu, dass in Abwesenheit des Kurfürsten „schwerlich etwas gutes verichtet werden könne“ – eine deutliche Parallele zur erfolglosen Verhandlung des Oberpräsidenten bei den preußischen Ständen 1662! Die Schwäche des Berichts zeigt sich zudem in zwei weiteren Punkten: Zum einen muss von Schwerin terminologische Ungenauigkeit unterstellt werden, wenn er den Zweck des Kolloquiums mit einer „Vereinigung“ beschreibt. Es ist davon auszugehen, dass dies der Kurfürst nicht intendiert hat, ansonsten müsste dieser Begriff auch in weiteren kurfürstlichen Schriften enthalten sein, was jedoch nicht der Fall ist. Vielmehr wird aus den kurfürst-
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lichen Reskripten ersichtlich, dass Friedrich Wilhelm eine gegenseitige Toleranz anstrebte. Zum Zweiten muss der Wahrheitsgehalt der Behauptung, dass es „unterschiedlich Inspectores in diesem Lande [gebe . . .], welche mit des Berlinischen Ministerii procedur gar nicht zufrieden seind“, differenziert betrachtet werden. Aus den Quellen ergibt sich nämlich das Bild, dass die strenge Berliner Haltung bei den Brandenburger Lutheranern weit mehr Unterstützung und Zustimmung fand als Ablehnung. Friedrich Wilhelm sandte am 30. Juli 1663 von Königsberg aus eine Antwort , in der er sich enttäuscht über die Ergebnislosigkeit der Verhandlungen zeigte. Er habe gehofft, dass durch das Kolloquium „zum wenigsten an seiten der Berlinischen eine Theologische Modestie [= Mäßigung] und inclination [= Wendung] zum Friede und Verträglichkeit zu verspüren gewesen“. Mit Befremden müsse er jedoch der „Berlinischen untheologisches Comportement und deß Berlinischen Predigerß Reinhards übermütiges tolltrotziges Beginnen, und daß Er dabei auch Unsers Churfürstl. Respectß vergeßen“ vernehmen. Da er verstanden habe, „daß die gantze Zeit ohne nutzen und bloß und allein mit anzüglichkeit, trotz und ambitieusen declamiren [= selbstsüchtiges reden] zugebracht, und dabei wenig oder gar nichtß vorgangen, welcheß zu Gottesfurcht oder einiger erbauung dienen könnte, und daß an allem solchem gottlosen Handeln der vorgedachte Reinhard der Urheber und Ursache sey, zugleich auch seine Collegen verführe und verwirre, in der Hauptsache aber stumm sey, und so gestalten sachen nach dergleichen Subjecta zu friede, ruhe, verträglichkeit oder einigem andern Theologischen guten ganz untüchtig“,
befahl er, Reinhardt künftig von den Sessionen auszuschließen. Zudem solle der Rat „mit den übrigen Berlinischen predigern dieselbe nicht weiter [. . .] continuiren“ und ihnen „sammt und sonders alles Ernstes [. . .] untersagen, daß Sie sich aller anzüglichkeit wider die Reformirten sowohl auf den Cantzeln als sonst bei der Vermeidung Unserer Ihnen nicht gefälligen verordnung gäntzlich enthalten sollen“. Damit aber „daß Werk nicht stecken bleibe und daß gute durch daß böse verhindert werde“, befahl der Kurfürst, „sowohl reformirte alß andere tüchtige und friedfertige Theologische Subjecta von denen lutherischen Predigern im Land zu beruffen und mit denenselbigen die Conferentz Unserer gnädigsten intention gemäß continuiren zu lassen“. Die Nominierung von Pfarrern, welche die irenische Intention Friedrich Wilhelms teilten, wäre jedoch keineswegs repräsentativ gewesen für die unter den Brandenburger Lutheranern Vgl. dazu unter anderem die Dokumente in GKl Archiv XII/90/1, f. 147r–190v und GKl Archiv XII/90/2, f. 69r-136v.195r–198v, deren Auswertung in diesem Paragraphen erfolgt. Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 16 (unfol.); erstmalig abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 360 f.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
vorherrschende ablehnende Haltung gegenüber der kurfürstlichen Toleranzpolitik. Somit wäre dieser Versuch einer Neuauflage gleichbedeutend gewesen mit den Verhältnissen beim Kasseler Kolloquium 1661. Warum das Kolloquium trotz der kurfürstlichen Anweisung nicht fortgeführt wurde, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wahrscheinlich kamen verschiedene Faktoren zusammen. Das eine war die Verhandlungsmüdigkeit des Präsidiums und der reformierten Kollokutoren. Weitere Sessionen mit neu berufenen lutherischen Kollokutoren hätten bedeutet, sich erneut über Formalien und Eingangsfragen auseinandersetzen zu müssen. Wahrscheinlich wäre es für das Präsidium auch gar nicht einfach gewesen, geeignete lutherische Pfarrer außerhalb der Doppelstadt zu finden, die irenisch gesinnt und zudem bereit waren, sich auf das Kolloquium einzulassen. Möglicherweise waren die Räte vom bisherigen Kolloquiumsverlauf entmutigt und standen der Aussicht, durch die Fortführung zum Ziel einer mutua tolerantia zu kommen, höchst skeptisch gegenüber. Des Weiteren bekamen andere innenpolitische Aufgaben Priorität. Solang sich Friedrich Wilhelm nicht in Brandenburg aufhielt, fehlte der entscheidende Motor zur Wiederaufnahme des Kolloquiums. Als Erster bekam Reinhardt die Konsequenzen des Kolloquiums zu spüren. Die Protestation , durch die sich seine Berliner Pfarrkollegen bereits am 6. Juni schriftlich bei von Schwerin für Reinhardt eingesetzt hatten, konnte die Situation nicht entschärfen. Beeinflusst durch den Bericht von Schwerins entschied sich der Kurfürst, den Berliner Archidiakon zu bestrafen. Am 27. Juli wurde Reinhardt durch den Geheimen Staatssekretär Gottfried Sturm angedeutet, dass er beim Kurfürsten in Ungnade gefallen sei. In einem kurfürstlichen Schreiben vom 30. Juli 1663 wurde Reinhardt offiziell aufgrund seines „übermäßigen Trotz[es] und [seiner] Bitterkeit“ die Erziehung des Kurprinzen entzogen und der Aufenthalt am kurfürstlichen Hof verboten. Als neuer Erzieher sollte Lilius fungieren. Dies zeigt, dass der Kurfürst und von Schwerin nicht alle Berliner Pfarrer pauschal beschuldigten, sondern in Reinhardt den maßgeblichen Schuldigen für die Ergebnislosigkeit des Kolloquiums sahen. Mit diesem Brief war die Bestrafung Reinhardts für die Berliner Pfarrer jedoch keineswegs abgeschlossen. Am 13. August 1663 schrieben sie einen Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/3, f. 356v–358r [M3]. Wie aaO., f. 557v– 560v belegt, hatten sich die Berliner Pfarrer in Voten über den genauen Wortlaut der Protestation verständigt. Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit: 16 (unfol.); abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 361.
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Brief an von Schwerin, um sich erneut für Reinhardt einzusetzen. Sie waren überzeugt, „daß bemeldeter unser lieber Collega hier nicht um seinet-, sondern um unsertwillen leiden müsse“. Schließlich habe Reinhardt „alles dasjenige, was er in währender Conferenz geredet und gehandelt, nicht vor sich allein, sondern vor uns allen mit einander, in unser aller Nahmen, mit unser aller Consens, Genehmhaltung und Belieben, auch auf unser Ansinnen und Vollmacht“ geredet. Des Weiteren könnten sie sich Reinhardts „ungebührlichen Rede und Handlung gar nicht entsinnen“. Abschließend baten die Berliner um Abschriften des Berichts von Schwerins über das Kolloquium und der Antwort des Kurfürsten darauf, damit sie erfahren könnten, „wie und welcher Gestalt unser obbesagter Collega, und wir also sammt ihm, beschuldiget werden, und auf was vor einen Grund unsere Bekläger sich setzen“. Der Oberpräsident zeigte in seinem Antwortschreiben vom selben Tag kein Verständnis für diese Bitten. Reinhardt habe sich in „ganz unbesonnener und höchst strafbarer Weise gegen Sr. Churfürstl. Durchl. höchst gebührenden respect bei denen Conferentien verübet“. Von Schwerin hielt es daher für eine „praecipitanz [= Übereilung]“, dass die Geistlichen Reinhardts „grobe Verbrechen vertheidigen, besondern auch derselben sich teilhaftig machen wollen“. Der Oberpräsident wunderte sich, dass die Berliner, „denen ich sonst alles Gute gönne, sich hierunter so sehr verlauffen, und nicht allein dasjenige über sich nehmen, daran Sie per rerum naturam nicht schuldig sein können, weil unmöglich ist, daß Sie ihm Vollmacht darüber gegeben haben, was Ihnen selbst unbekannt gewesen“. Indem sie sich mit Reinhardt solidarisierten, würden die Pfarrer „wider Verordnungen, die in Sr. Churfürstl. Durchl. hohen Namen geschehen [. . . reden,] mit ganz unziemlicher und einem Prediger zumal übel anstehenden Heftigkeit“ handeln und schließlich „genugsam bezeugen, daß Sie Sr. Churfürstl. Durchl. Gnade und Ungnade gar geringschätzig halten“. Von Schwerin kündigte mit emotionaler Wortwahl an, dem Kurfürsten von der Haltung der Berliner Bericht zu erstatten. Der Bitte um Abschriften vom Bericht über das Kolloquium und der kurfürstlichen Antwort erteilte er eine klare Absage. Auf Grund dieses Schreibens lässt sich vermuten, dass der Oberpräsident im Lauf des Kolloquiums zusätzlich zur Kritik am Verhalten auch eine persönliche Animosität gegenüber Reinhardt entwickelt hatte. Von Schwerin glaubte nicht, dass Reinhardt wirklich im Namen aller Berliner Pfarrer diskutiert hatte und seine Äußerungen nichts anderes als die vorher im Konsens aller Geistlichen beschlossenen Entscheidungen beinhalteten. Die erhaltenen Vgl. den Entwurf in GKl Archiv XII/90/3, f. 358v–359r [O3]; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 362 f. Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/3, f. 359r–360r [P3]; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 363 f.
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Responsa und Briefe bezeugen jedoch, dass dies tatsächlich der Fall war. Abgesehen von den Worten Reinhardts, die er ohne seine Kollegen allein vor dem Rat geäußert hatte und auf die von Schwerin in seinem Brief anspielte („was Ihnen selbst unbekannt gewesen“), waren Reinhardts Äußerungen ganz im Sinne des gesamten Berliner Ministeriums. Es muss stark bezweifelt werden, dass von Schwerin dies nicht bereits während des Kolloquiums und unter anderem der Lektüre der eingereichten Schreiben bemerkt hatte. So liegt die Vermutung nahe, dass sich von Schwerin ganz bewusst einen einzelnen Schuldigen für die Ergebnislosigkeit des Kolloquiums heraussuchte – und in Reinhardt als hauptsächlichem Sprecher der Berliner, zu welchem möglicherweise persönliche Animositäten bestanden, auch fand. Ein erneuter Brief des Oberpräsidenten an den Kurfürsten wegen der Solidarisierung der Berliner mit Reinhardt oder eine weitere kurfürstliche Reaktion ist nicht bekannt. Über die folgenden Monate des Jahres 1663 ist eine quellengestützte Aussage nicht möglich. Wahrscheinlich hat sich die Situation zwischen den Reformierten und Lutheranern zwar nicht verbessert, aber doch zunächst für kurze Zeit etwas beruhigt.10 Die Pfarrer versahen wie gewohnt ihren Dienst und tauschten auch weiterhin Antworten über die kurfürstliche Frage nach der Rinteler Schrift aus. Der Kurfürst war mit verschiedenen innen- und außenpolitischen Aufgaben, wie der Befriedung der Situation in Preußen, beschäftigt. Es ist davon auszugehen, dass sich der Konflikt zwischen den Konfessionen bald wieder verschärfte und die Protagonisten des Kirchenstreits verstärkt öffentlich gegeneinander polemisierten. Mitte des Jahres 1664, Friedrich Wilhelm und seine Räte hatten die Situation in Preußen durch die Spezialassekuration vom 9. Juli und den am 18. Oktober 1663 vollzogenen Huldigungseid der preußischen Stände vorerst beruhigen können,11 griff der Kurfürst von Neuem in den Kirchenstreit ein. In den bedeutendsten Darstellungen wird die Folgezeit größtenteils kommentarlos übergangen, vgl. Hering: Beiträge II, 182 f.; Schulz: Gerhardt, XLIII; Langbecker: Gerhardt, 91; Lackner: Kirchenpolitik, 132; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 250. 10 In der Forschung herrscht darüber jedoch Uneinigkeit. Ohne jeweils Belege nennen zu können, behaupten beispielsweise Hering: Neue Beiträge II, 183, und F. Brandes: Geschichte der kirchlichen Politik des Hauses Brandenburg, 1. Teil, Gotha 1872, 252, dass besonders die Berliner Pfarrer unmittelbar im Anschluss an das Kolloquium mit großem Eifer gegen die Reformierten polemisiert hätten. Bei der unbegründeten Übernahme dieser Position (vgl. beispielsweise Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 250.275) ist jedoch zu bedenken, dass zumindest Brandes’ (in der Bewertung auch Herings) Darstellung insgesamt tendenziös proreformiert geprägt ist. ME. ist zumindest bis Mitte 1664 der Aussage von Lackner: Kirchenpolitik, 131, zuzustimmen: „von großen konfessionellen Auseinandersetzungen im Anschluß an das Berliner Religionsgespräch hört man in der Mark Brandenburg nichts“. 11 Zu den Verhandlungen Friedrich Wilhelms mit den preußischen Ständen und dem
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Es war wiederum Reinhardt, der Anlass zum Ärger bot. Er hatte Mitte des Jahres den Cöllner Pfarrer Johann Buntebart wegen seiner freundschaftlichen Kontakte zum reformierten Lehrer Johann Vorstius einen Synkretisten genannt.12 Dies wiederum empfand der Kurfürst als eine Störung des Kirchenfriedens und forderte in einem Reskript vom 1. August 1664 die Räte auf, „Bedenken einzuschicken, welchergestalt Reinhardt zu bestrafen sei“. Schardius wollte Reinhardt zunächst vorladen und ihn dann mit einem Revers auf das Edikt von 1662 verpflichten. Stosch bezeichnete Reinhardt als einen „Turbatorem pacis [= Verwirrer des Friedens/Unruhestifter], welcher nicht allein andere Evangelische Christen übel richtet, sondern auch seine eigenen Glaubensgenoßen [. . .] haßet, Verunglimpfet, Syncretisten und Verräther pfilt“. Um weiterem „übel Vorzukommen, [sei es] das beste mittel, solchen Mann zu dimittieren [= entlassen]“. Auch der Lutheraner Fromm, der in seinem Votum seine „privat-feindschafft“ gegenüber Reinhardt nicht verbarg, urteilte ähnlich streng wie Stosch und riet zur „Ankundigung der Remotion“. Lediglich der lutherische Kammergerichtsrat Seidel urteilte milder. Da andere politische Ereignisse Priorität besaßen, wurde die Anklage gegen Reinhardt zunächst nicht weiter verfolgt. Sie blieb jedoch im Bewusstsein der Räte, wie Anfang 1665, als sich Reinhardt erneut gegen kurfürstliche Vorgaben wandte, deutlich wurde. Abgesehen von dieser Personalie wollte Friedrich Wilhelm das Verhältnis zwischen den Konfessionen endlich grundsätzlich regeln. Da das Kolloquium keinen Erfolg gebracht hatte, setzte er in seiner Kirchenpolitik verstärkt auf obrigkeitlich erlassene Verordnungen.
5.1.2 Das so genannte ‚zweite Toleranzedikt‘ von 1664 Am 16. September 1664 erließ Friedrich Wilhelm ein Edikt, welches seine neue kirchenpolitische Ausrichtung darlegen sollte und in der Forschung unter dem Namen ‚zweites Toleranzedikt‘ bekannt wurde.13 Obwohl sich inAdel vgl. Rachel: Der Große Kurfürst und die ostpreußischen Stände; Lackner: Kirchenpolitik, 164–170. 12 In GStA PK Rep. 47 Tit. 19 befindet sich ein dünnes Aktenbündel zu dieser Auseinandersetzung mit dem Schreiben des Kurfürsten (f. 3r–3v) sowie den Voten der Räte Stosch (4r–4v), Fromm (5r–5v), Schardius (6r–6v) und Seidel (7r–8v). Alle Zitate dieses Abschnittes folgen diesem Aktenbündel. 13 Drucke des Edikts befinden sich unter anderem in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 Fol: 59, f. 2r–3r und 7r–8r; GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 16; GKl Archiv XII/90/1, f. 136r–137r und 138r; GKl Archiv XII/90/2, f. 65r–66r; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 330r–331r; abgedruckt wurde es beispielsweise bei Hering: Historische Nachricht, Anhang 80–85; Mylius: Corpus I/1, 381–386 [XXXI]; Schulz: Gerhardt, 367–369; Gericke: Glaubenszeugnisse, 172–175; H.-J. Beeskow: Paul Ger-
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haltlich gegenüber dem so genannten ‚ersten Toleranzedikt‘ von 1662 und der Confessio Sigismundi von 1614 nur wenige Neuerungen finden, ist es in seiner Bedeutung und seinen Auswirkungen auf die brandenburgische Kirchengeschichte mit jenen nicht zu vergleichen. Das Edikt richtete sich an alle lutherischen und reformierten Pfarrer, Prediger und Schulbedienstete sowie kurfürstlichen Beamten und den Adel Kur- und Mark Brandenburgs und berief sich dezidiert auf das so genannte erste Toleranzedikt. Der Kurfürst erhoffte, dass dadurch „unter unsern in etlichen puncten dissentirenden/ Evangelischen Unterthanen/ dennoch ein Christlicher Kirchen-Friede gestifftet/ und die Bruederliche Liebe und Eintracht/ oder zum wenigsten eine mutua tolerantia und Verträglichkeit gepflanzet“. Dazu müsse „das bisherige unchristliche/ richten/ verlästern/ verketzern und verdammen aber allerseits auffgehoben/ und gänzlich eingestellet werden“. Die Ursache „unselige[r] Trennungen und Bitterkeiten“ sei zum einen die gegenseitige Titulierung mit lästernden und pauschalisierenden „Zunamen“, zum anderen die „aus des andern hypothesibus durch Logicalische consequentien“ erfolgte Unterstellung „einige[r] ungereimte[r] und gottlose[r] Dinge“, die schließlich „auch offentlich auff den Cantzeln für der Gemeinde [. . .] angedichtet werden“. Daher befahl der Kurfürst, um „einen guten Anfang zum Evangelischen Kirchenfriede, und Christliche Vertraeglichkeit in diesen Unsern Landen [. . .] zu machen, das beste Mittel seyn werde, wann diese obenbesagte beyde scandala und Steine des Anstosses von beyden Theilen gaentzlich aufgehoben, und ihnen verboten wuerden“14. Aus der folgenden Auflistung falscher Vorwürfe gegen die reformierte Theologie wird deutlich, dass Friedrich Wilhelm wohl kaum selbst das Edikt verfasst hat. Die genaue Kenntnis der theologischen Diskussion und die nacheinander folgende Behandlung der Prädestinationslehre, der Hamartiologie, der Christologie, der Sakramenten- und der Abendmahlslehre legt die Wahrscheinlichkeit nahe, dass auch dieses Edikt wiederum von Stosch als oberstem Hoftheologen verfasst wurde.15 Inhaltlich grenzte sich der Kurfürst gegen das hardt 1607–1676. Eine Text-Bild-Biographie, Lübben 2006, 69 f., bietet ein Faksimile des Edikts. 14 Zitiert nach GKl Archiv XII/90/1, f. 136r. 15 Landwehr: Bartholomäus Stosch, 116, und Ders.: Kirchenpolitik, 215, berichtet, dass sich Stosch später zur Verfasserschaft bekannt und von Schwerin Stoschs Vorlage mit Zusätzen versehen habe (wahrscheinlich stützt sich Landwehr dabei auf A. Fromm: Nöthige Erklehrung / Und abgedrungene Verantwortung / Wider die bißher in der Marck/ und andern Orten mit Fleis herumbgesprengete Beschuldigungen / welche wider ihn zu treiben sich ohne einige Ursache M. Gesenius [. . .] unterstanden, Wittenberg 1667, 13. Auch Georg Lincker, der Gesandte der Landgräfin Hedwig-Sophie von Hessen-Kassel [1623–1683; sie war eine Schwester Friedrich Wilhelms] am Cöllner Hof erwähnte in seinem Bericht an die Gräfin vom 21. November / 1. Dezember 1666, dass von
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decretum absolutum in der Prädestinationslehre, die radikale Trennung der beiden Naturen in der Christologie und einen zu starken Symbolismus in der Sakramentenlehre ab. Das Edikt schrieb vor, dass die Reformierten künftig nicht als „Calvinisten, Zwinglianer, Majestaet-Feinde, Sacramentirer, Sacramentschänder, Manicheer, und dergleichen“ bezeichnet werden sollten. Ebenso durfte über sie nicht mehr verbreitet werden, „daß man in Religions- und Glaubens-Sachen die Sinnen und die Vernunfft zur Regul und Richtschnur des Glaubens setzen, und was damit nicht reime, verleugnen solle: Daß Gott den grössesten Theil der Menschen, ohn alles Ansehen der Sünde, der Unbußfertigkeit und des Unglaubens zur ewigen Höllenpein, etliche aus blossem Wolgefallen, ohne Ansehung Christi und des Glaubens, erwehlet habe; Und daß die Auserwehlten mögen leben, wie sie wollen, so können sie dennoch nicht verloren werden, Daß Gott eine Ursache der Sünde sey: Daß keine wirkliche Gemeinschafft der beyden Naturen und Eigenschafft in Christo sey, oder, daß nur ein blosser Mensch für uns gestorben, oder daß Christus im Himmel, als in einem Gefangniß, eingeschlossen, oder, daß nicht der gantze Christus bey uns sey, oder, daß Christus keines weges für alle Menschen gestorben sey: Daß Gott nicht alle, die durch das Evangelium beruffen werden, ernstlich und treulich, sondern nur zum Schein beruffe, damit ihr Verdamniß desto größer werde: Daß die heiligen Sacramenta nur blosse Zeichen, Fürbilder und Bedeutungen, und daß die Tauffe nicht notwendig sey: Daß die Worte Christi: Das ist mein Leib, etc. nicht für wahrhafftig zu halten, und daß im heiligen Abendmahl schlecht Brodt und Wein, und also leere Hülsen ohne Kern seyn: Daß die Reformirte ein anders im Hertzen glauben, ein anders im Munde führen“.
Im Gegenzug sollten die Lutheraner nicht mehr „Ubiquitisten, Flacianer, Marcioniten, Pelagianer, Eutichianer und dergleichen“ genannt werden. Inhaltlich grenzte sich der Kurfürst gegen extreme Auslegungen wie den Monophysitismus in der Christologie und radikale Positionen in der Sakramentensowie Ubiquitätslehre ab. Über die Lutheraner durfte nicht mehr verbreitet werden, „daß sie glauben, als ob man im heiligen Abendmahl den Leib Christi auf Capernaitische natürliche Weise esse: Daß die zwo Naturen in Christo vermenget, oder die menschliche in die Götliche verwandelt, daß der Leib Christi über die gantze Welt ausgedehnet oder außgespannet sey, daß Christus also für alle gestorben, daß auch denen Unbußfertigen die Vergebung der Sünden und das ewige Leben appliciret werde: Daß des Menschen thun und lassen, der Göttlichen Erwehlung Ursach sey“.
Zwar verbot das Edikt damit auch reformierte Lästerungen und falsche Auslegungen der lutherischen Theologie; dass jedoch eine gleichwertige BehandSchwerin und Stosch die Verfasser des Edikts gewesen seien, vgl. W. Ribbeck: Aus Berichten des hessischen Sekretärs Lincker vom Berliner Hofe während der Jahre 1666– 1689, FBPG 12 [1899] [141–158], 143). Beide Annahmen lassen sich jedoch nicht belegen.
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lung lutherischer Theologie durch das Edikt nicht beabsichtigt worden war, zeigt sich schon darin, dass der Abschnitt über die Lutheraner wesentlich kürzer als derjenige über die Reformierten gestaltet wurde. Wer gegen eines dieser Verbote öffentlich und sogar auf der Kanzel verstoße, dem drohe die Amtsentlassung oder andere „animadversionem [= Tadel] und Bestraffung“. Es habe bereits mehrere Reformierte und Lutheraner gegeben, die „erwiesen [hätten], daß der Evangelischen dissensus an sich selbst nicht fundamentalis sey, und eine tolerantia Ecclesiastica gar wol gestifftet werden könne“. Wer diese Friedensbemühungen nicht unterstütze, habe noch keine „Erkenntniß und friedliches Gemüthe“. Schließlich nahm das Edikt den bereits Jahrzehnte währenden Streit um die Taufpraxis auf, indem es den Passus aus dem Edikt von 1614 größtenteils übernahm: Alle Pfarrer seien verpflichtet, auch diejenigen Kinder zu taufen, deren Eltern den Exorzismus vor der Taufe ablehnten. Deutlich ist in diesem Abschnitt die Spitze gegen die Brandenburger Lutheraner: So sei der Exorzismus „nur noch in ettlichen wenigen Lutherischen Kirchen üblich“. Zwar wurde er während des 17. Jahrhunderts tatsächlich in mehreren deutschen lutherischen Territorien abgeschafft oder zumindest in ein Gebet umgewandelt, in Brandenburg war er jedoch noch in den meisten Gemeinden in der ursprünglichen Form üblich. Die Brandenburger Lutheraner waren daher sensibilisiert für dieses Thema. Auch Gerhardts Großvater mütterlicherseits, der Eilenburger Superintendent Caspar Starcke (Tod 1595), wurde 1591 des Amtes enthoben, da er am Exorzismus bei der Taufe festgehalten hatte. Gerhardt selber hat den Exorzismus vor der Taufe nicht nur ausgeführt, sondern auch dessen Notwendigkeit fortwährend verteidigt. Insofern bedeutete die Einmischung des Kurfürsten in die brandenburgische Exorzismushandhabung einen Affront gegen die lutherische Theologie und einen Eingriff in die pfarramtliche Praxis. Abschließend befahl der Kurfürst, sich an das Edikt und die darin enthaltenen Verbote „steif, vest, und unverbrüchlich zu halten“, und alle Fälle, in denen es Pfarrer wagten, gegen die Verordnungen zu verstoßen, umgehend dem Konsistorium mitzuteilen. Theologisch stellte das Edikt keine sonderlich bemerkenswerte Äußerung Friedrich Wilhelms dar. Der Kurfürst präsentierte damit eine gemäßigte theologische Linie, in der er sich von extremen Positionen distanzierte und nur sehr grob den Rahmen vorgab, in dem eine Annäherung der Konfessionen stattfinden könnte. Somit hatte das Edikt auf theologischer Ebene keinen Beitrag zur Befriedigung der angespannten Situation zwischen den Konfessionen geleistet. Dies war jedoch auch nicht das Ziel Friedrich Wilhelms, sondern vielmehr die Disziplinierung aller Pfarrer zum Gehorsam gegenüber dem Kurfürsten und die Schaffung von Voraussetzungen für eine ‚mutua toleran-
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tia‘ zwischen den Konfessionen. Neu an diesem Edikt war die Tatsache, dass es nicht mehr nur wie die Edikte von 1614 und 1662 einseitig Verbote an die Lutheraner aussprach, sondern sich explizit auch an Reformierte richtete. Erstmals wurde beiden Konfessionen die gegenseitige Verketzerung untersagt. Das neue Edikt stellte wiederum eine Verschärfung der Religionspolitik des Kurfürsten dar. Gerhardts Befürchtungen, die er ein Jahr zuvor bei der Frage, ob die Lutheraner in das Kolloquium einwilligen sollten, geäußert hatte, hatten sich somit in vollem Maße bestätigt. Die meisten der Brandenburger Lutheraner lasen das Edikt mit Empörung. Sie waren der Meinung, dass die Benennung reformierter Irrlehren ein Recht sei, auf das die Kirchenhoheit des Landesherrn keinen Einfluss nehmen dürfe. Auch die direkte Einflussnahme des Kurfürsten in pfarramtliche Aufgaben wollten die Lutheraner nicht hinnehmen. Die Berliner Pfarrer waren besorgt über den Inhalt des Edikts und fragten wie schon während des gesamten Kirchenstreits zunächst die Geistlichen in Frankfurt/Oder um Rat. In einem Brief an die dortigen Prediger und Superintendenten vom 6. Oktober 166416 äußerten die Berliner ihre Bedenken und informierten die Frankfurter von ihrem Vorhaben, das Edikt „wegen Unterschiedlicher Unseren gewißen entgegen stehenden Ursachen nicht abzukündigen“. Die Abkündigung stände „in vielen Stücken unsern Conscientibus [= Gewissen] entgegen“. Von den Frankfurtern wollten sie wissen, „ob wir von den Stände einige solicitation [= Beunruhigung] deßhalb abgehen ließen“. Zudem kündigten sie an, weitere Pfarrer und Universitäten um Rat zu fragen und dann den Kurfürsten zu bitten, das Edikt zurückzunehmen. Die Frankfurter antworteten mit einem ausführlichen Schreiben vom 13. Oktober.17 Auch sie waren der Meinung, dass es den Pfarrern nicht zugemutet werden könne, „daß Edict von den Canzeln zu promulgiren [= öffentlich bekannt zu geben]“. Die Berliner sollten nicht „gantz stille schweigen“, sondern dem Kurfürsten in einer Schrift erklären, warum sie das Edikt nicht verkünden würden. Damit „eine neue unruhe verhütet“ werde, sollten sie nichts „ohne consens der ganzen Kirchen“ vornehmen. Die Frankfurter warnten des Weiteren davor, „Mit den Stenden zu communiciren [. . .] Denn wißen wir nicht, was wir an ihnen haben“, mit anderen Pfarrern „et collegiis Academicis extra nostrum territorium zu communiciren“, hielten sie hingegen für ratsam. Abschließend rieten sie dazu, bei der Taufe den Exorzismus in ein Gebet zu wandeln, „welches in alle wege leidlicher zu thun, alß wen unß sollte aufgedrungen werden den selben gar außzu laßen“. Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 145r–146r. Vgl. aaO., f. 147r–150v.
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Die Berliner Pfarrer nahmen den ersten Vorschlag auf und entschlossen sich, Friedrich Wilhelm in einem Supplikat ihre Weigerung, einige der kurfürstlichen Verbote und Gebote zu befolgen, als Gewissensentscheidung darzulegen und ihn zu bitten, auf Bestrafungen zu verzichten. Als Entwürfe für das Supplikat verfassten die Pfarrer ausführliche Voten18 . Gerhardts Votum19 war der Forschung bisher unbekannt. Gerhardt betont zunächst, „das ich bey Verlesung deßelben [= des Edikts] nicht wenig erschrecke“. Er wehrt sich ausführlich gegen die Beschuldigung, „alls sey es lautter störrigkeit Bosheit“, wenn die Lutheraner die Reformierten theologisch angreifen würden. Da die Berliner Pfarrer nichts als den Frieden wünschten, bittet er den Kurfürsten „umb Gottes Barmherzigkeit U des thewren Verdinstes Jesu Christi Willen, E. Churfl Durchl. woll mich dieser Zugestanden haben Churfl. Gnade theilhafftig machen, des ich Erstlich Untter des Hechstgerechtesten Nahmens nicht möge getrieben werden, Dasjenige Zu thun, was wieder Mein gewißen ist, oder dargegen Zu Unterlaßen was doch mein Prediger Ampt, U[nd] die auff Meine seele mir gebunden Selensorge Von mir fordern U haben will“.
Falls Gerhardt jedoch auf Grund „Meines gewißens, Meines Gottes Unnd Meiner Zuhörer hohe U[nd] seligkeit halben andres thun“ und somit gegen die kurfürstlichen Verordnungen verstoßen müsse, wolle er, „das mirr solches nicht alls ein Ungehorsam mechte Zugerechnet, oder deßhalb einigen Zorn U[nd] Ungnade mir aufgebunden werden“. Im schließlich am 28. Oktober verfassten Supplikat20 der Berliner Pfarrer an den Kurfürsten wurden Gerhardts Anmerkungen zwar berücksichtigt, insgesamt lässt sich jedoch nicht wie in den meisten der bisherigen Berliner Schriften zum Kirchenstreit eine Dominanz der Gedanken aus Gerhardts Votum erkennen. Die Berliner Pfarrer schrieben, dass sie wegen des Edikts „nicht wenig bestürtzt“ seien. Darin befänden sich „eine ziemliche Anzahl sehr hoher und wichtiger Puncten [. . .], die wir voller gefährlichen und uns an die Seele gehenden difficultäten finden, und durch welche wir [. . .] uns von der gesamten Lutherischen Kirchen (an der wir dennoch und allen Dero Symbolischen Glaubens Büchern durch die Gnade Gottes bis anher hangen und bis an da Ende Unsers Lebens zu verbleiben gedencken) trennen und absondern müßen“.
Es sei falsch, die Berliner „allerley unanstendigen Ungehorsams zu beschuldigen“. Da das Edikt samt seinen Verboten und Befehlen nicht nur die Gewissen 18 Vgl. die jeweiligen Autographen aaO., f. 155r–156v (Lilius), f. 157r–158r (Reinhardt), f. 159r–160v (Lubath), f. 163–164v (Lorentz) und f. 165r–166v (Helwig). 19 Vgl. die Abschrift aaO., f. 161r–162v. 20 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 167r–168v; GKl Archiv XII/90/2, f. 67r–68r; erstmalig abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 370 f.; Langbecker: Gerhardt, 97 f.
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der Pfarrer, sondern auch die pastorale Praxis einschränken würden, baten sie den Kurfürsten, „dieselben wollen gnädigst geruhen, Uns in dieser wichtigen Sache, nach wie vor bey unverrückter Unser Kirchen und Gewißens Freyheit, unter Ew. Churfl. Durchl. gnädigster protection und Schutz zu erhalten, und Uns bey unserm Lutherschen Gottesdienste gleiche Ruhe gönnen“. Nur in dieser Freiheit könnten die Pfarrer „desto mehr Zeit unsers Lebens mit getreuer Fürbitte und würdigem Rühm für Gott und seiner Gemeinde“ aufbringen. Der Kurfürst antwortete mit einem Brief vom 2. November.21 Darin ging er auf das Schreiben der Berliner kaum direkt ein. Er versicherte stattdessen, dass er nicht beabsichtigt habe, „weder durch dieses Edict, noch sonsten, denen Supplicanten [= demütige Beter] ihre Gewißens Freyheit zu benehmen, noch ihnen bey ihren Lutherschen Gottesdienste die Ruhe zu mißgönnen“. Er könne die Freiheit jedoch nicht gestatten, wenn sie „in verlästern, verketzern und verdammen der Reformirten bestünde“. Da es viele Lutheraner gebe, die „solches Edict als sehr billig, gut und heilsam befinden“, hätten die Berliner durch ihr Schreiben klar gemacht, „wie wenig Zuneigung sie zu dem Kirchen Frieden haben“. Verärgert über ihre Haltung sendete der Kurfürst ihnen das Schreiben zurück und befahl, „mit dergleichen falschen Auflagen Sr. Churfl. Durchl. ferner nicht zu beschweren, sondern sich deren künftig zu enthalten“. Zudem hätten sich die Berliner künftig gehorsam an die Bestimmungen des Edikts zu halten.
5.1.3 Die Responsa der Fakultäten und Ministerien22 Die Berliner waren durch die Antwort des Kurfürsten stark verunsichert worden und wussten nicht, wie sie sich künftig dem Edikt gegenüber zu verhalten hatten. Daher bedienten sie sich des in der Frühen Neuzeit üblichen 21 Das Original muss als verschollen gelten, merkwürdigerweise findet sich auch in GKl Archiv XII/90/1 keine Abschrift, vgl. jedoch die erstmaligen Abdrucke bei Schulz: Gerhardt, 371 f.; Langbecker: Gerhardt, 99 f. Das Supplicatum der Berliner und die Antwort des Kurfürsten darauf wurden in der Sitzung des Geheimen Rates vom 4. November 1664 verlesen und besprochen, vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 222. 22 Erstmalig und bisher am ausführlichsten hat sich Hering: Neue Beiträge II, 182– 204, mit den unterschiedlichen Responsa beschäftigt. Die ihm nachfolgenden Darstellungen haben mit hoher Wahrscheinlichkeit dieses Werk, und nicht die Quellen, als Vorlage benutzt. Nach der Durchsicht der dieser Arbeit zugrunde liegenden Originalquellen konnten neue Responsa erschlossen, zusätzliche Erkenntnisse gewonnen, Fehlurteile der Forschungsliteratur korrigiert und erstmalig eine Chronologie der Responsa der Fakultäten und Ministerien erstellt werden, so dass eine erneute ausführliche Darstellung dieses Zeitabschnitt notwendig wurde. Da im Laufe der Vorarbeiten für die vorliegende Studie die verschiedenen Voten allein in fünf unterschiedlichen Archiven aufgefunden
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und auch bereits vor dem Kolloquium gehandhabten Verfahrens der gutachterlichen Konsultation verschiedener universitärer oder kirchenleitender Instanzen. Diese sandten dann Responsa oder Voten, aus denen zum einen ihre Meinung und zum zweiten klare Anweisungen für das Verhalten der Fragenden ersichtlich wurden. 23 Antworten auf Gewissensskrupel oder Anweisungen, wie die Fragenden sich in bestimmten Fällen zu verhalten haben, bildeten den größten Anteil unter den Responsa. Die Pfarrer der St. Marien-Kirche, Lubath und Helwig, sandten lateinisch abgefasste Briefe an Fakultäten und Ministerien und fragten sie im Namen des gesamten Berliner Ministeriums um Rat. Die Anzahl der Anfragen sowie deren geographische Verteilung im gesamten deutschen Reich und im Königreich Polen belegen, wie wichtig es den Berlinern war, ihr zukünftiges Verhalten gegenüber dem Edikt durch das gesamte deutsche Luthertum unterstützt zu wissen. Zunächst wandten sich die Berliner am 26. Oktober an die Fakultäten Jena 24 und Wittenberg25 , an die Fakultäten Leipzig26 und Helmstedt sowie die Ministerien in Hamburg und Nürnberg27 am 2. November.28 Die Berliner wollten von den Fakultäten und Ministerien wissen, ob sie erstens ohne Bedenken und Verletzung des Gewissens das Edikt unterschreiben und sich somit an dessen Bedingungen, wie beispielsweise die Auslassung des Elenchus und des Exorzismus, halten könnten, ob sie zweitens das Edikt stillschweigend annehmen oder dagegen demütig klagen sollten, wurden, ist davon auszugehen, dass sie in der Mark Brandenburg weit verbreitet und als wichtig angesehen wurden. 23 Vgl. allgemein zu Responsa und Voten Geffcken: Über die theologischen Responsa, 249–280; Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg, 79 (dort weitere Literaturhinweise). 24 Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 105r–105v. 25 Vgl. die Abschrift aaO., f. 77v–78v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 372 f. 26 Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 169r–170r; GKl Archiv XII/90/2, f. 77r–77v. Diese Anfrage wurde wortgleich auch an die Fakultät Helmstedt und das Ministerium in Hamburg gesendet. 27 Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 106r–106v. 28 Nach welchen Kriterien die Auswahl der Orte stattgefunden hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. So ist beispielsweise verwunderlich, dass eine Anfrage an die nach wie vor als synkretistisch empfundene Fakultät Helmstedt, nicht aber an die Fakultät Königsberg geschickt wurde. Bisher hatte kein Forschungsbeitrag alle bisher bekannten Anfragen benannt. Hering: Neue Beiträge II, 187, berichtet, dass Lubath und Helwig Anfragen nach Helmstedt, Jena, Wittenberg, Hamburg und Nürnberg sowie die Pfarrer der St. Nicolai-Kirche nach Leipzig gesendet haben, was Schulz: Gerhardt, XLIV, übernimmt. Langbecker: Gerhardt, 101 f. kennt die Anfrage nach Leipzig nicht. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 254, kennt nicht die Anfragen nach Hamburg und Nürnberg. Keiner der Forscher erwähnt den Briefwechsel der Berliner mit den Frankfurtern (s. u.), aus dem weitere geplante Anfragen nach Tübingen, Stettin und Danzig hervorgehen.
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ob es drittens mit dem lutherischen Glauben vereinbar sei, bei der Taufe den Exorzismus in ein Gebet zu verwandeln oder ihn gar ganz wegzulassen, und ob es viertens mit dem lutherischen Glauben vereinbar sei, auf die Widerlegung reformierter Irrtümer zu verzichten. Da „der Calvinianismus und Syncretismus in Die Marck Brandenburg mit gewalt ein breche[n]“29 würde, sei es zu befürchten, dass die Forderungen hinsichtlich des Elenchus und des Exorzismus den Anfang einer vollständigen Calvinisierung des Landes darstellen könnten. Diese Fragen bildeten – in den einzelnen Briefen sprachlich variierend – 30 den Kern der Berliner Bittgesuche. Einen Sonderfall stellt der Brief aller Berliner Pfarrer an das Frankfurter Ministerium vom 31. Oktober31 dar. Gerhardt und seine Kollegen bedankten sich zunächst bei den Frankfurtern ausführlich für deren letzte Antwort vom 13. Oktober. Dann kündigten die Berliner an, dass sie Voten von den Universitäten und Ministerien in Leipzig, Tübingen, Stettin und Danzig anfordern würden, wie dies bereits von Helmstedt, Hamburg, Nürnberg und Wittenberg geschehen sei. Da sich Antworten aus Tübingen, Stettin und Danzig weder in den akribisch genau angelegten Akten Lubaths noch an irgendeiner anderen Stelle nachweisen lassen, ist davon auszugehen, dass die Berliner entweder doch keine Anfragen an diese Städte gesandt oder keine Antworten bekommen haben. Ebenso ist der Forschung unbekannt, dass die Berliner auch mit dem Magistrat in Straßburg in Verbindung getreten sein müssen. Zwar ist dessen Antwort nicht mehr erhalten, doch geht ihre Existenz zum einen aus dem Inhaltsverzeichnis des zweiten Nachlass-Bandes Lubaths32 , zum anderen aus einer späteren Bemerkung von Schwerins gegenüber den Ständen 33 zweifelsfrei hervor. Die Berliner fuhren in ihrem Schreiben an die Frankfurter fort, dass das Spandauer Ministerium ebenfalls eine Anfrage an die Pfarrer der Stadt Brandenburg gestellt habe. Nun erbaten die Berliner auch ein Votum der Frank GKl Archiv XII/90/2, f. 113r (aus dem Responsum der Leipziger Fakultät). Vgl. beispielsweise die Passage aus dem Brief Lubaths und Helwigs an die Fakultät Jena: „1) Subscriptione se ad istud alligare? vel 2) Silentio haltem exhibitionem ejus sibi factum excipere? imo 3) ita illi morem genere, ut in nominalis Capitiby, q falso sibi imputari Reformati querioptur, si non neget Reformatores his Erroriby favere, saltem Elencho corum et syncretistarum abstineat, et Exorcismum ad plucitum petentium etiam Reformatorum omittat? Hic ubi vero salva conscientia hac fieri non posse judicatis, 4) Ora ratione censcatis malo abviandum et Ecclesia pariter ac conscientia in periculum conjecta consulendum?“ (GKl Archiv XII/90/2, f. 105v). 31 Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/1, f. 151r–152r. Sie wird erstmalig in der Forschung untersucht. 32 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 2r. 33 Vgl. 5.1.8 dieser Arbeit. 29
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furter. Diese aufwendige gutachterliche Konsultation diene dazu, durch die „Einigkeit im Geist“ im Einklang mit anderen Lutheranern angemessen auf die kurfürstliche Religionspolitik zu reagieren. Die Berliner hofften, dass ihnen trotz der Beibehaltung des Exorzismus keine Nachteile durch den Kurfürsten entstehen würden. Schließlich könne auch das Edikt den Exorzismus nicht „als eine Teuffels Lammende zauberische abgöthische grewel und cremen auswürff“ ansehen. Wie auch dieser Brief belegt, tauschten sich die Berliner mit den Frankfurtern hauptsächlich über die Exorzismusfrage aus. Die Frage nach der im Edikt geforderten Aussetzung der antireformierten Polemik wurde hingegen schwerpunktmäßig im Briefwechsel mit außerbrandenburgischen Fakultäten und Ministerien thematisiert. Zunächst antworteten die Frankfurter Pfarrer mit einem Brief34 vom 16. November. Darin berichteten sie, dass sie auch andere Fakultäten „von solchen Mitteln, Einigkeit zu stiften“, informiert hätten und deren Reaktionen ebenfalls an die Berliner weiter senden würden. Die Frankfurter wollten am Exorzismus festhalten, jedoch ohne „dz niemanden irgend ein Anstoß gesezet werde“. Es komme darauf an, dass die Pfarrer „als Leüte, die warheit und frieden lieben U. handhaben“ angesehen werden. Daher plädierten sie dafür, „ohn Churfl. geheiß, Den Exorcismum in ein gebet [zu] Verwandeln“. Der wiederholte Vorschlag der Frankfurter, den die Berliner bisher kategorisch ausgeschlossen hatten, zeigte, dass sich die Frankfurter Geistlichen allmählich den kurfürstlichen Maßnahmen gegenüber offener verhielten. Abschließend wiederholten sie ihre Meinung, „dz eß fur unser bedrengten Kirchen ertreglicher were, wenn Die Stände sich mit dem Ministerio zusamen gethan“. Dieser Aufforderung sollten die Berliner jedoch erst später – und somit möglicherweise zu spät – nachkommen. Nach und nach gingen die Antworten der einzelnen Fakultäten und Ministerien auf die Berliner Anfragen ein.35 Es ist nicht verwunderlich, dass die kursächsischen, theologisch eng mit den Berlinern verbundenen Fakultäten in Leipzig und Wittenberg zuerst reagierten. Die Leipziger Theologen antworteten auf Deutsch am 17. November 166436 , dass es bedenklich sei, zum Edikt Vgl. das Original in GKl Archiv XII/90/1, f. 153r–154r. Es wird ebenfalls erstmalig in der Forschung untersucht. 35 Auch hier zeigt sich, dass die unterschiedlichen Darstellungen der Forschungsliteratur nur jeweils einen Teil der Responsa kennen, keine Darstellung aber alle bisher bekannten benennt. Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 1, 252–256, nennt beispielsweise die Responsa aus Hamburg und Nürnberg nicht und ordnet ein Votum falsch zu (s. u.). Bis auf Hering: Neue Beiträge II, 199, kennt oder erwähnt kein Forscher die Anfragen der Frankfurter Geistlichen sowie ihren Briefwechsel mit den Berlinern. 36 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 113r–115v; SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 476, f. 6v–9v; BLHA Rep. 16E Kleine Erwerbungen Nr. 1008, f. 213r–222v; FB Gotha Chart. A 282, f. 27r–31r. 34
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zu schweigen, da dies bedeuten würde, sich demselben zu unterwerfen. Daher sollten die Berliner die Intention des Kurfürsten rühmen, aber zugleich betonen, „daß ihnen das officium ipsum elenchticum [= freiwillige Verpflichtung zum Elenchus] nicht könnte gehindert werden“, denn schließlich müssten sie beweisen, dass der Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten fundamental und somit eine gegenseitige Toleranz unmöglich sei. Die Leipziger hielten es für dringend notwendig, sich beim Kurfürsten zu beschweren und „demutigst [zu] remonstriren [= aufzeigen], wie ungutlich ihnen von denen so genanten Reformirten dogmatisten mit ver mengung recht maßiger Consequentien [. . .] geschehe“ und was für falsche Lehren sie besonders hinsichtlich der Prädestinationslehre und der Lehre von der manducatio oralis vertreten würden.37 Der Exorzismus sei zwar eine theologisch nicht unbedingt notwendige Zeremonie, jedoch um der vielen „schwachen Gewißen“ in der Gemeinde unbedingt beizubehalten. Schließlich ermutigten die Leipziger die Berliner, das „Leiden“ zu ertragen und auch weiterhin „nach fleißigen gebeth zu Gott ihr ampt mit lehren, widerlegen, Vermahnen, warnen, trösten treuligst [zu] verrichten“. Auch die Wittenberger Fakultät legte in ihrem zwanzig Seiten langen und größtenteils weitläufigen Antwortschreiben vom 19. November 166438 den Berlinern nahe, das Edikt weder zu unterschreiben noch stillschweigend hinzunehmen. Ansonsten würden dessen Inhalt und damit die reformierten Irrlehren gebilligt werden. Da diese den Grund des Glaubens verfälschen würden, könne es keine „tolerantiam ecclesiasticam“ mit den Reformierten geben. Solange die reformierten Irrlehren bestünden, könne man als Lutheraner Auffällig ist, dass im Leipziger Responsum der Nachweis der falschen Lehren mit dem Hinweis auf die verschiedenen Stellen in den wichtigsten Bekenntnissen der Reformierten den größten Raum einnimmt. 38 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 79r–88v; SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 476, f. 10r–17v; BLHA Rep. 16E Kleine Erwerbungen Nr. 1008, f. 223r–233r; FB Gotha Chart. A 282, f. 32r–40v. Das Wittenberger Responusm verbreitete sich schnell in der gesamten Mark (einer der wenigen Drucke der deutschen Übersetzung befindet sich in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 369r–372r) und rief mehrere, teils anonyme Gegenschriften hervor, von denen als einzige erhalten geblieben ist: „Probier-Stein: Anitzo auß den Lateinischen ins Deutsche versetzet [. . .] Da Nach der Regul des Wortes Gottes Das Urtheil Der Theologischen Facultät zu Wittenberg / Wegen der von Sn: Churfl. Durchl. zu Brandenburg denen Märckischen Geistlichen vorgelegten Reverses Unterschreibung / Vernünftiglich untersuchet und geprüfet wird / Durch einen Pastorem und Inspectorem in der Alten Marck / F. G. M., Berlin und Cölln 1666“. Sowohl Hering: Neue Beiträge II, 189, als auch Schulz: Gerhardt, XLV, gehen davon aus, dass Calov das Wittenberger Schreiben aufgesetzt hat. Dies ist zwar wahrscheinlich, aus den erhaltenen Quellen heraus jedoch nicht belegbar. In BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 372v–378r befindet sich ein Druck einer Erläuterung Calovs zum Wittenberger Gutachten. 37
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nicht auf deren Verdammung verzichten. Da die Lutheraner im Gegenzug keine Irrtümer lehrten, seien die im Edikt formulierten Lästerverbote gegen die Lutheraner rechtens. Daher müssten die Reformierten die Lutheraner ohne Verdammungen dulden, was jedoch wechselseitig nicht verlangt werden könne. Von einer Unterschrift unter das Edikt sei abzuraten, da die Berliner damit zum Ersten fälschlicherweise zugestehen würden, dass sie die Reformierten bisher zu Unrecht beleidigt hätten, zum Zweiten sich fatalerweise verpflichten würden, den Reformierten keine Beinamen oder Irrlehren zuzuschreiben, zum Dritten das ungerechtfertigte Lob, das Synkretisten wie Pareus, Bergius, Crocius und Calixt erhalten haben, bestätigen, und zum Vierten schließlich die Auslassung des Exorzismus gut heißen würden. Statt das Edikt zu unterschreiben, müsse gegen Reformierte, Synkretisten und Calixtiner „mit aller Schärfe“ vorgegangen werden, da diese durch ihre Lehren eine Gefahr für die Gläubigen in der Mark Brandenburg darstellen würden. Schließlich sei von der Umwandlung des Exorzismus in eine Ermahnung oder ein Gebet abzuraten, da dies der reformierte Landesherr als Auftakt für eine Reformation aller Gebräuche verstehen könne. Die Wittenberger äußerten sich kompromisslos und erteilten jeglichen Zugeständnissen oder gar Duldungen kurfürstlicher Maßnahmen, welche die Reformierten mit den Lutheranern gleichstellen sollten, eine klare Absage. Diese Position dürfte für die Berliner nicht überraschend gewesen sein. Die Theologen der Fakultät Helmstedt antworteten in ihrem Schreiben vom selben Tag39, dass sie den Berlinern leider keine Ratschläge geben dürften, weil ihnen ihr Landesherr40 verboten habe, sich in jegliche Kontroverse einzumischen, die den Frieden und die Toleranz zwischen den Reformierten und Lutherischen beträfe. 41 Trotzdem äußerten sich die Helmstedter im Folgenden in knappen Worten zu den Ausgangsfragen. Irenisch orientiert, verteidigten sie das Edikt und meinten, dass sich die Berliner mit gutem Gewissen daran halten könnten. Dies beinhalte die Vermeidung lästernder Beinamen für die Reformierten ebenso wie den Exorzismus bei der Taufe, denn
Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 108r–109r; SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 476, f. 2r–2v; BLHA Rep. 16E Kleine Erwerbungen Nr. 1008, f. 211r–212r; FB Gotha Chart. A 282, f. 40r–41r. 40 Dies war zu jener Zeit Fürst August II. zu Braunschweig-Wolfenbüttel (1579/1635– 1666). 41 Vgl. die Passage aus dem Helmstedter Responsum: „Eterim Serenissimi Principes ac Duces Brunsvicenses et Lunaburgenses, Domini nostri Dementissimi severo interdicto tutum caverunt, ne iis controversiis, qua hodie de pace vel tolerantia inter Lutheranos et Reformatos in eunda discepantur“ (GKl Archiv XII/90/2, f. 108r–108v). 39
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schließlich sei dieser eine nicht von Gott, sondern von den Menschen eingesetzte Zeremonie. Die Fakultät zu Jena reagierte am 1. Dezember42 und riet den Berlinern, das Edikt nicht anzunehmen. Stattdessen sollten sie den Kurfürsten bitten, dass er ihnen ihre Freiheit in Zeremonien und Lehre und eine gewisse Zeit zum Überlegen und Entscheiden zugestehe. Die kurfürstlichen Forderungen könnten nicht erfüllt werden, es sei denn, diese wären mit anderen lutherischen Kirchen abgesprochen. Die Jenenser Theologen rieten den Berlinern, auch an die Landstände zu appellieren, da diese durch ihre landesherrlichen Privilegien ebenfalls sowohl an religiösen Vorgaben als auch Reaktionen auf selbige beteiligt werden müssten. Bevor dies nicht geschehen sei, könnten die Berliner nicht angemessen auf das Edikt reagieren. Hinsichtlich der Exorzismusfrage waren die Jenenser zwiegespalten. Zwar gehöre der Exorzismus nicht per se zur Taufe, und es sei theologisch unbedenklich, ihn wegzulassen, doch könne ein großes Ärgernis entstehen, wenn er im Lande nicht mehr praktiziert würde. Das Geistliche Ministerium zu Nürnberg zeigte sich in seiner Antwort vom 10. Dezember43 irenisch und deutlich mehr bereit, auf die Bestimmungen Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 109r–110r; SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 476, f. 3r–3v; BLHA Rep. 16E Kleine Erwerbungen Nr. 1008, f. 212v–213v; FB Gotha Chart. A 282, f. 51r–51v. 43 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 107r–108r; SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 476, f. 4r–4v; BLHA Rep. 16E Kleine Erwerbungen Nr. 1008, f. 214r–215r. Wie aus dem Protokoll der Sitzung des Geheimen Rates vom 25. April hervorgeht, wurde das Nürnberger Schreiben auch am Hof verlesen und diskutiert, vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 264. Hering: Neue Beiträge II, 194, geht davon aus, dass Johann Fabricius (1618–1676; vgl. Zedler 9 [1735], 44 f.), Pfarrer an der St. Marien-Kirche, das Nürnberger Schreiben aufgesetzt hat. Dies ist zwar wahrscheinlich, aus dem Text heraus jedoch nicht belegbar. Das Gutachten der Nürnberger Theologen ist kurze Zeit später ohne deren Autorisierung in deutscher Übersetzung erschienen: Antwortschreiben Eines WohlEhrwürdigen Ministerij in der Freyen Reichsstadt Nürnberg/an Ein auch WohlEhrwürdiges Ministerium in Berlin/Betreffend die gebührende bescheidenheit der Lutherischen Prediger auff der Cantzel in der Marck Brandenburg gegen die Reformirten/wie auch den gebrauch des Exorcismi bey der Tauffe/und Sr. Churfl. Durchl. hierüber ergangenen befehl/Auß dem Lateinischen ins Teutsche gebracht/und denen Friedliebenden zur Nachricht gedruckt [o.O.; o.J.] (GStA PK I. HA Rep. 13 Nr. 19 c Fasz. 14 [unfol.]; SächsHStA 10024 Geheimer Rat [Geheimes Archiv] Loc. 7226/4). Es waren besonders die dem Responsum folgenden und demselben in etwa inhaltsgleichen 18 Aphorismen, die heftige Reaktionen bei einigen Lutheranern hervorriefen. Die Fakultät Wittenberg hat als Reaktion an den Rat und das Ministerium zu Nürnberg geschrieben und ihnen schwere Vorwürfe gemacht. Die Nürnberger wiederum sahen sich zu ihrer Verteidigung dazu veranlasst, 1666 ihr Votum lateinisch und deutsch mit einer Declaration unter dem Titel „Plurimum Reverendorum Ecclesiae Norimbergensis Pastorum Responsio Ad Literas Venerandi Ministerii Berolinensis. Das ist: Antwort-Schreiben Eines Wohl-Ehrwürdigen Ministe42
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
des Edikts einzugehen, als alle vorhergehenden Responsa. Es war der Meinung, dass die Berliner das Edikt aus Ehrerbietung gegen den Kurfürsten und „aus Liebe zum Frieden“ ohne Verletzung ihrer Gewissen beachten und unterschreiben könnten. Auf der Kanzel sollten sie ausschließlich den Predigttext ohne jegliche Bitterkeit behandeln, nicht jedoch Streitfragen in den Text hineinbringen oder den Reformierten Lehren andichten, die sie gar nicht vertreten würden. Die Berliner könnten auf Kanzelpolemik verzichten, da diese auch den Reformierten im Edikt verboten worden sei. Schließlich seien nicht die Pfarrer, sondern die akademischen Lehrer dazu da, Irrlehren zu benennen und zu widerlegen. Die Nürnberger Prediger wendeten seit Jahren einen moderaten Elenchus an, der von allen Zuhörern, ob Reformierten oder Lutheranern, ob Gebildeten oder Ungebildeten, gern gehört werde. Der Brandenburgische Kurfürst wolle den Exorzismus nicht ganz abschaffen, sondern lediglich in bestimmten Situationen. Die Berliner könnten ruhigen Gewissens die kurfürstliche Anweisung befolgen, da der Exorzismus gleichgültig, nicht innerhalb der gesamten lutherischen Kirche gebräuchlich sei und ihn die CA nicht vorschreibe. Es sei daher das Beste für die Kirche und die Berliner selbst, wenn sie dem Kurfürsten nicht weiterhin den Gehorsam verweigerten, sondern das Edikt beachten würden. Das Geistliche Ministerium zu Hamburg reagierte am 14. Dezember44 und riet den Berlinern, das Edikt nicht zu unterschreiben. Auch ein Schweigen als Reaktion sei falsch, da dies dem Bekenntnis des Glaubens widersprechen würde. Zwar könne man sich der Titulationen ‚Majestätsfeinde‘ und ‚Sakramentschänder‘ enthalten, nicht jedoch derjenigen, die im Edikt erwähnt seien, denn schließlich würden sich diese in den Schriften der Reformierten selber finden. Eine Tolerierung der Reformierten sei ohne Kränkung des eigenen rii in der Freyen Reichs-Stadt Nürnberg / an Ein auch Wohl-Ehrwürdiges Ministerium in Berlin: Betreffend die gebührende Bescheidenheit der Lutherischen Prediger auff der Cantzel / in der Marck Brandenburg/ gegen die Reformirten / wie auch den Gebrauch deß Exorcismi bey der H. Tauffe / und Sr. Churfl. Durchl. hierüber ergangenen Befehl; Sambt beygefügter mehrern Declaration und nothwendiger Erläuterung“ drucken zu lassen. In der Folgezeit kam es zu einer brieflichen Auseinandersetzung zwischen der theologischen Fakultät Wittenberg und den Theologen und Stadtverordneten Nürnbergs, vgl. unter anderem GKl Archiv XII/90/1, f. 237r–238v (Nürnberger an Wittenberger vom 26. Januar 1666) und f. 239r–239v (Nürnberger an Wittenberger vom 30. Juni 1667). Das Nürnberger Schreiben hat noch weitere Reaktionen ausgelöst, deren Behandlung jedoch vom Thema dieses Abschnitts zu weit wegführen würde, vgl. dazu: Hering: Neue Beiträge II, 195–198. 44 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 103r–104v; SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 476, f. 5r–6r; BLHA Rep. 16E Kleine Erwerbungen Nr. 1008, f. 215–217v. Das Responsum ist unter dem Titel „Des Hamburgischen Ministerii Responsum an M. Mart. Lubath und Lic. Jac. Helwig / wegen des elenchi Anti-Calviani“ abgedruckt worden in UnNachr 1718, 620–626.
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Gewissens nicht möglich. Ebenso dürften die Berliner nicht aufhören, Irrlehren zu benennen und zu bestrafen. Jedoch sollten diese Kontroversen auf der Kanzel nur mit Vernunft und gemäßigtem Eifer unter Rücksicht sowohl auf den Text als auch die Zuhörer geschehen. Auch die Hamburger zeigten sich verunsichert hinsichtlich der Frage des Exorzismus. Dieser sei ein Adiaphoron, über das irgendwann einmal eine Synode entscheiden solle. Da dies noch nicht geschehen sei, sollten sich die Berliner die verordnete Aussetzung gefallen lassen und stattdessen ihre Bemühungen eher auf die Erhaltung der gesamten Kirche ausrichten. Auch die Hamburger kamen zu dem Schluss, dass die Berliner ihre Bitten zusammen mit den Voten der Stände und des Adels vor den Kurfürsten bringen sollten. Über diese offiziell durch die Berliner angeforderten Responsa wurden noch einige andere Voten gedruckt, die sich entweder wie die Helmstedter oder Nürnberger irenisch für eine Unterschreibung des Edikts einsetzten oder selbige ablehnten.45 Wie die Pfarrer aus Frankfurt im oben erwähnten Brief an die Berliner angekündigt hatten, sandten auch sie Ende November Anfragen und das Edikt von 1664 an diverse Fakultäten46 und Ministerien und erhielten Antworten aus Rostock, Greifswald, Stralsund und Stargard.47 So wandten sich beispielsweise die Pfarrer aus Stendal Ostern 1665 an das Geistliche Ministerium in Hamburg (Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 [unfol.]; abgedruckt unter dem Titel „Des seel. C. Sriveri Schreiben von dem in der Marck Brandenburg verbotenen Elencho“ in UnNachr 1717, 732–735), welches wiederum zwei Wochen später antwortete (abgedruckt unter dem Titel „Des Ministerii zu Hamburg Responsum an das Ministerium zu Stendal, wegen des Elenchi Anti-Calviani“ in UnNachr 1718, 228–231). Später wandte sich der Stendaler Propst Christian Scriver an Johann Bötticher, Pfarrer an der Kirche Ulrich und Levin in Magdeburg (vgl. dazu und zu Christian Scriver H. Müller: Seelsorge und Tröstung – Christian Scriver [1629–1693]. Erbauungsschriftsteller und Seelsorger, Waltrop 2005, 39 f. [zum Gutachten leider nur sehr kurz; Müller kennt zudem die Anfrage an Hamburg nicht.]). Vgl. zum Responsum Böttichers vom 22. Mai 1665 (gedruckt unter dem Titel „Consilium D. Johann. Bötticheri, Magdeb. De Subscriptione Edictorum Electoral. ad Ministerium Stendal, [o.O.] 1666 [GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, {unfol.}; GKl Archiv XII/90/2, f. 220r–225v.227r–229v später abgedruckt unter dem Titel „D. Johann Bötchers Consilium an M. Matthaeum Bugaeum und die anderen Prediger zu Stendal“ in FSATS 1736, 158–182), in welchem er sich für die Unterschrift unter das Edikt aussprach und gegen das Hamburger Votum polemisierte, und den anschließenden Schriftenstreit darüber mit der Wittenberger Fakultät SBB-PK Dk 1303; Hering: Neue Beiträge II, 199–204; Schulz: Gerhardt, XLVI–XLVIII; Landwehr: Kirchenpolitik, 217. 46 Vgl. die Anfrage an die Fakultät Greifswald in GKl Archiv XII/90/1, f. 177r–178r. In der Inhaltsangabe von späterer Hand auf GKl Archiv XII/90/1, f. 4r steht fälschlicherweise, es wäre die Anfrage des „Ministerii Berolinensis“ gewesen, direkt über der Abschrift der Anfrage steht es jedoch richtig (jedoch auch von sekundärer Hand): „Ita Francofurtena Ministerium ad sua Collegia [. . .]“! 47 Der ausführliche Brief der Frankfurter Pfarrer hatte im ersten Teil dieselben Fragen wie das Schreiben der Berliner zum Inhalt, kritisierte jedoch deutlicher das Vorge45
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Die Antworten nahmen größtenteils die Bedenken der Frankfurter auf, lehnten die Unterschreibung oder Duldung des Edikts klar ab und sahen in den kurfürstlichen Maßnahmen eine Gefährdung des lutherischen Glaubens. So ließen sich beispielsweise die Rostocker Theologen zu radikalen Aussagen hinreißen: „Denn warhafftig sucht der teufel, der ein Lügner ist, und ein Vater der selben durch solches Syncretistisches beginnen nichts anders, alß das er der lügen den mantel der warheit ümbhenge, die blöden gewißen in weiten glaubenß zweifel setze, und den [. . .] atheismo einen breiten weg bähne“48 . Da die einzelnen Antworten jedoch nicht mehr durch die Berliner beachtet wurden oder teilweise wesentlich später erschienen, seien sie hier nicht näher thematisiert. Die Responsa der Fakultäten und Ministerien waren höchst unterschiedlich ausgefallen. Eine einheitliche, für das gesamte deutsche Luthertum repräsentative Reaktion auf die kurfürstlichen Edikte gab es somit nicht. Zwar wurde den Berliner Pfarrern in den meisten Responsa geraten, das Edikt nicht zu unterschreiben und auf Konfrontation gegen die kurfürstliche Politik zu gehen, jedoch gab es in den einzelnen Responsa große Unterschiede hinsichtlich der Fragen des Exorzismus und der Einbeziehung der Stände. Somit dürften die Berliner zwar in ihrer kritischen Grundhaltung gegenüber den religionspolitischen Maßnahmen des Kurfürsten bestärkt, in den einzelnen Fragen jedoch eher verunsichert worden sein. Beim Thema des Exorzismus zeigten sich alle angeschriebenen Institutionen offener und kompromissbereiter als die Berliner, die dessen Streichung oder Umwandlung bisher kategorisch ausgeschlossen hatten. Die unterschiedlichen Responsa und folgenden Auseinan-
hen des Kurfürsten und „das wenig von den Landständen und politicis sich daran kehren, und das Ministerium allein laßen“ (GKl Archiv XII/90/2, f. 119r.). Im zweiten Teil des Schreibens bezogen die Frankfurter deutlich Stellung zu den Fragen und beeinflussten somit bereits die Adressaten. Die Frankfurter sandten am 7. November an alle vier Orte die gleiche Anfrage, vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 119r–120r. Da diese Anfrage auf Deutsch geschrieben worden war, antworteten auch alle Absender auf Deutsch, was für die damalige Zeit und den gelehrten Anspruch ungewöhnlich war. Die Fakultät Rostock antwortete am 6. Dezember (vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 120v–121v), ebenso die Fakultät Greifswald (vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 171r–175r; GKl Archiv XII/90/2, f. 122r–124r; FB Gotha Chart A. 282, f. 52r–55r). Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 255, behauptet, das Greifswalder Responsum sei an die Berliner gesendet worden, was jedoch sowohl dem Inhalt auch als der Adressatennennung am Ende des Briefes nach ein Fehlurteil ist. Das Ministerium Stralsund antwortete am 22. Dezember (vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 179r–182v; GKl Archiv XII/90/2, f. 124v–126v; FB Gotha Chart A 282, f. 58r–62v), das Ministerium Stargard einen Tag später (vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 183r–190v; GKl Archiv XII/90/2, f. 127r–131r; FB Gotha Chart. A 282, f. 62r–69r). 48 GKl Archiv XII/90/2, f. 120v.
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dersetzungen darüber belegen, dass der Berliner Kirchenstreit in weiten Teilen des Reiches aufmerksam verfolgt und diskutiert wurde. Die Verunsicherung der Berliner Pfarrer zeigte sich darin, dass sie unmittelbar im Anschluss an den Empfang der Responsa keine nachweisbaren Konsequenzen zogen. Wahrscheinlich war es schwierig, eine angemessene Reaktion zu zeigen, ohne die persönliche Lebenssituation zu verschlechtern. Schließlich lag den Pfarrern nicht nur die Bewahrung des Konfessionsstandes, sondern auch die ihres gesellschaftlichen Einflusses und ihrer Privilegien am Herzen. Zudem waren die Responsa derart uneinheitlich ausgefallen, dass eine für das gesamte Luthertum repräsentative Reaktion nicht möglich war. Es ist auffällig, dass die Berliner nicht wie im bisherigen Verlauf des Kirchenstreits der theologisch streng orthodoxen Linie der Wittenberger Theologen folgten. Zunächst warteten sie ab und verhielten sich dem Edikt gegenüber gehorsam, ohne es zu unterschreiben. Wie aus einem der Forschung bisher unbekannten Briefwechsel49 hervorgeht, hatte Andreas Fromm dem Berliner Propst Lilius Mitte Februar 1665 vorgeschlagen, dass sich die beiden Ministerien zu gemeinsamen Beratungen über das Edikt treffen sollten. Die Berliner reagierten jedoch distanziert und zeigten sich erst offen für Gespräche, nachdem Fromm zugesichert hatte, dass er „dollerdings gemeinet [sei], nebenst Ihnen bey unsern Libris Symbolicis, besonders Formula Concordia in allem noch wie Vor mit Gottes Hülffe, zu Verharren, und alß nichts, was dem wercke zu träglich und zu erbauung und erhaltung der rechten Lutherischen Kirchen in diesem Lande gerrichtet, an mir ermangeln laßen“50 . Letztendlich kam es jedoch nicht zu den von Fromm gewünschten Gesprächen.
5.1.4 Gerhardts Votum zum zweiten Toleranzedikt Als Reaktion auf das sogenannte zweite Toleranzedikt erarbeiteten die Berliner Lutheraner schriftlich eine eigene Grundlage für zukünftige Reaktionen auf kurfürstliche Forderungen. Zu diesem Zweck schrieb Paul Gerhardt ein der Forschung bisher unbekanntes Votum. Es ist insofern für den Berliner Kirchenstreit von besonderer Bedeutung, als Gerhardt in ihm an einigen Stellen grundsätzliche theologische Überlegungen anstellt, die sein Verständnis des Edikts erhellen. 49 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 191r–194v. Fromms Brief an die Berliner vom 26. April (GKl Archiv XII/90/1, f. 197r–197v) zeigt, dass die Beziehung zwischen den Lutheranern in der Doppelstadt angespannt blieb (Fromm warf den Berlinern vor, in einem Supplicat an den Kurfürsten falsch zitiert worden zu sein). 50 GKl Archiv XII/90/1, f. 193.
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In seinem Votum51 mit dem Titel „De subscriptione mandate electoralis“ äußert sich Gerhardt ausführlich dazu, was er antworten würde, falls er zur Unterschreibung des Edikts angehalten werden sollte. Seine Wortwahl lässt vermuten, dass dies bisher noch nicht geschah, er es aber jederzeit erwartet. Gerhardt betont, dass er statt einer Unterschrift eher sein „Leib und Leben selbst dahin geben [würde], denn es were wieder mein Gewißen U[nd] Würde nimermehr einigen Friede und Ruhe haben können in meinem Hertzen“. Die Unterschrift unter das Edikt hätte nämlich zur Folge, „I. Daß Ich mit den Reformirten dieser Lande einen Christlichen Kirchen Friede machen, Brüderliche Liebe und Eintracht mit Ihnen halten, oder zum Wenigsten eine mutuam Tolerantiam U. Verträglichkeit unter Unß seyn laßen solle: U. daß ich auch Jenigen Theologen, Sie seyn gleich Lutherisch oder Reformirt, die Friedenß Schriften geschrieben, U. erwiesen, daß der Evangelischen dissensus an sich selbst nicht fundamentalis sey, mit nichten Verkleinern, für Heüchler, Calixtiner Und Syncretisten halten solle. II. Daß Ich Mich deß Un Christlichen Richtenß, Ver Lästernß, Verkätzerenß Und Verdammenß enthalten solle. III. Daß wenn es von mir begehret würde, ein Kind ohn Exorcismo Zu tauffen, es sey gleich Lutherisch oder Reformiret, Ich die Tauffe alßo verichten solt. Undt darauf wolt Ich Mich getrost erklären und sprechen: Zu dienste keinen[?] 52 kan Ich Mich mit guten Gewißen Verstehen“.
In den drei Teilen des Votums erläutert Gerhardt ausführlich, warum er die drei Punkte nicht erfüllen könnte. Im ersten Teil differenziert er zwischen einer weltlichen und einer theologischen mutua tolerantia. Diese sei möglich, jene jedoch nicht, da sich die Reformierten als „Blasphemi in veritatem doctrina coelestis“ verhalten würden. Sie seien irrende Syncretisten, die er nicht „für meine Kirchen Glieder, Glaubenß Brüder, und Confessions Verwandten halten“ könne. Im Folgenden kommentiert Gerhardt einzelne Aussagen des Edikts. Zwar versichert er, dem Kurfürsten jederzeit gehorchen zu wollen. Dies gelte jedoch nicht, wenn dessen Anordnungen gegen Gott oder die Gewissen sprächen; dies sei aber beim geforderten Kirchenfrieden der Fall. Schuld an der Trennung unter den Evangelischen und somit an den Ärgernissen seien die Reformierten, „in dem die selbigen Sich Von Unß abgerißen, Und eine sonderliche Confession Kirche, U. Gottes dienst thum auff gerichtet haben“. Die Lutheraner hingegen hätten sich zu einem „Christschuldige[n] gebührliche[n] Religionß eiffer für die himmlische warheit, [und] wieder einreißende schädliche Irrthümer“ verpflichtet. 51 Vgl. die Abschrift in FB Gotha Chart. A 282, f. 75r–86r und den Abdruck im Anhang. 52 Wahrscheinlich liegt hier eine Wortverdrehung vor, so dass es im Original lauten müsste: „Zu keinen dienste kan Ich Mich mit guten Gewißen Verstehen“.
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Gerhardt bezweifelt dann den Wahrheitsgehalt einiger Aussagen des Edikts. Er könne sich nicht vorstellen, dass tatsächlich Prediger existierten, welche die Verordnung begrüßt und sich danach gerichtet hätten. Gäbe es tatsächlich solche Synkretisten, dürften sich die Lutheraner kein Beispiel an ihnen nehmen. Auch sei die Behauptung, dass die Stände ihr Missfallen über die harte Polemik vieler Geistlicher geäußert und deswegen den Kurfürsten um ein Edikt ersucht hätten, nicht zutreffend. Wenn darum tatsächlich einige wenige Verordnete gebeten hätten, „so haben sie wohl sehr unChristlich gethan, und deß Ampt treüe Patrioten wohl schlecht in acht genommen“. Die im Edikt genannten Friedensschriften seien schließlich nicht „Irenica Vel Christiana“, sondern „Irenica Syncretistica“ und somit zu verwerfen. Gerhardt betont, dass eine „Tolerantia Ecclesiastica“ nicht gestiftet werden könne, da der Dissens zwischen den Konfessionen fundamental sei. Wer dies verneine, gehöre zu den Synkretisten. Diese seien die „rechte ware Uhrsach deß Schismatis“, da sie „eine neüe [konfessionelle] Seite machen“ und sich in den fundamentalen Lehrpunkten irrten. Sich selbst und seine Pfarrkollegen bezeichnet Gerhardt als „treüe, beständige und aufrichtige unverfälschte Theologi Lehrer und Prediger, [. . . denen] an Erkäntnüß Und rechtmäßiger Friedfertigkeit gar nicht“ fehle. Gerhardt betont im zweiten Teil seines Votums, dass er nicht mit gutem Gewissen aufhören könne, die Reformierten zu kritisieren, „denn da soll ich I. die Reformirten nit Haereticos oder Kätzer nennen, oder davor halten. II. Soll Ich ihre Lehrer U. Lehren auß Gottes Wort nicht richten und unrecht urtheilen. III. Soll ich mit meinem Lutherischen Glaubensbekäntnüß nicht sprechen: Damnamus Damnamus hoc et illud Dogma erroneum. IV. Soll ich die Reformirten in meinen Libris Symbolicis nicht mit den Zu nahmen der Calvinisten, Zwinglianer, Majestätfeinde, Sacramentirrer, Sacramentschänder, Manicheer nennen. V. Soll Ich auß der Reformirten Hypothesib. durch Logicalische Consequentien ipsis Invisis et relutantib. nicht ungereimbte kralose[?] dinge folgern. vid. Telo. 9. et 10. VI. Soll Ich Ihnen 16. unterschiedliche Lehrpuncte, welche hernachmalß sollen Nahmhaft gemachet werden, nicht beymeßen. VII. Soll Ich durch Unterlaßung der Unterscheids Nahmen, U. nicht Zumaßung der 16. puncten, so Ihnen durch Logicalische Consequentien beygemessen werden. Nachmahlß den Evangelischen Kirchenfried, und Christliche Verträglichkeit in diesen Landen machen helffen. IIX. Soll ich alle diejenigen, so die Reformirten Calvinisten, Zwinglianer, Sacramentirer nennen für Injurianten, Calumnianten halten, die da Unterschiedlicher Weise richten, Verlästern etc. IX. Soll Ich durch Logicalische Consequnetien auß Ihren Hypothesibus non inoxia et absurda folgern, oder Ich soll mich aller streitigen Logicalischen Consequentien enthalten.
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X. Soll Ich den Reformirten solche Greüel, die per Logicalem Consequentiam gefolgert werden, nicht Zu schreiben, noch offentlich auf der Cantzel für der Gemeine andichten, alß ob Sie so glaubten U. Lehreten“.
Diese Haltung begründet Gerhardt in sieben Punkten. Erstens sei es rechtens und zur „Rettung Göttlichen Ehr, zurück treibung falscher, Verführischer und ärgerlicher Lehre, und Zu erhaltung der reinen Evangelischen Seeligmachenden Religion“ notwendig, die Reformierten als „Sacramentirer und Sacramentenschänder“ oder mit anderen Beinamen zu bezeichnen. Schließlich würden die Reformierten mit ihrer Lehre tatsächlich die Sakramente schänden und „errores fundamentales“ verbreiten. Diese Verurteilung sei kein privates Urteil, sondern geschehe „in der furcht Gottes, auß Getrieb des H. Geistes, Zu erfaltung U. Fortpflanzung der Himmlischen und ewigen Warheit“. Zum Zweiten wehrt sich Gerhardt dagegen, dass die Lutheraner keine Schlüsse aus der reformierten Lehre ziehen und diese dann nicht verwerfen dürften. Die „Consequentia“ seien eine „der für nehmbsten Stück der Logica, eine herrliche und schöne Gabe Gottes“ und zudem „ein sehr fügliches U. wohlbewertes Mittel, den Gegentheil Zum erkäntniß seiner irrigen hypotheses zu bringen“. Zum Dritten sei es falsch, dass „die Reformirten der meisten greülich Lehren nicht schuldig“ seien, sondern „Ihnen Von den Lutheranern Zur ungebühr aufgeladen“ würden. Zudem verhielten sich die Reformierten nicht aufrichtig, indem sie die Lutheraner beim Kurfürsten „fälschlich, bößlich, U. Zu aller ungebühr beschuldigen, machen Injurien, da doch keine seyn, und straffbar, waß doch [n]o[n] straffe Verdiente hat“. Konkret seien es sechzehn Punkte, über welche die Reformierten sich zu Unrecht beklagten.53 53 Diese sechzehn Punkte weist Gerhardt im Folgenden einzeln kurz zurück. Sie werden an dieser Stelle lediglich zusammenfassend dargestellt. Teils verneint Gerhardt, dass die Lutheraner den Reformierten tatsächlich die genannten Vorwürfe gemacht hätten, teils bestätigt und bekräftigt er sie, ohne sie jedoch im Einzelnen theologisch zu begründen. Erstens sei es wahr, dass die Reformierten „in religions U. Glaubenß Sachen, die Sinnen U. Vernunft Zu Regul U. Richtschnur deß Glaubens setzen“. Dann geht Gerhardt ausführlicher auf die Prädestinationslehre ein: Es sei zweitens und drittens keine Beleidigung, zu behaupten, „daß die Reformirten lehren: Daß Gott den grösten theil d Menschen in Ihren Elende mit seiner Liebe, Gnade U. Barmherzigkeit übergangen habe, U. daß die Ursach solcher Ubergehung sey die Sünde, Unglaube U. Unbußfertigkeit der Gefallenen Menschen“ und dass Gott „etliche auß bloßen wohlgefallen, ohne Zusehung deß Glaubenß, U. Christi erwehlet“ habe. Viertens sei es wahr, dass die Reformierten lehren, dass die Auserwählten so leben und somit sündigen könnten, wie sie wollen, ohne verloren zu gehen. Ebenso sei fünftens der Vorwurf wahr, dass die Reformierten „lehren solten: Gott sey eine Uhrsach der Sünde“. Bereits Zwingli, Calvi, Beza und an-
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Viertens sei von den Reformierten zu erwarten, dass sie „den Lutheranern [n]o[n] beschwerlich seyn, mit anzüglichen Zu Nahmen, U[nd] andichtung Ungereimbter Lehrpuncten“. So dürften sie nicht behaupten, „alß ob man dere reformierte Theologen hätten gelehrt, dass Gott nichts zur Abwendung des Sündenfalls übernommen habe. Als nächstes thematisiert Gerhardt christologische Aussagen. Es sei sechstens der Vorwurf richtig, dass die Reformierten glauben, dass „keine wirkliche gemein schrifft bey den Naturen U. Eigendtschafften in Christo seyn“. Die Reformierten verneinten zum einen, dass die Naturen „eine Gemeinschafft unter Sich selbst einer mit der andern Hette“, zum anderen, dass es eine „Communicationem Idiomatum realem“ gebe. Siebtens verneinten die Reformierten tatsächlich, dass Christus nicht nur nach seiner Menschheit, sondern auch nach seiner Gottheit für die Menschen gestorben sei. Somit negierten sie die soteriologische Notwendigkeit, dass „Gott Blut habe, U. daß wir durch solches Blut Gottes erlöst seyn“. Achtens und neuntens behaupteten die Reformierten tatsächlich, dass weder die Menschheit noch die Gottheit Christo derzeit auf der Erde, sondern lediglich im Himmel sei. Daher lehrten sie, dass Christus „im Himmel, alß in einem Gefängnüß eingeschloßen“ und „nicht der gantze Christus bey Unß“ sei. Zum zehnten lehrten die Reformierten tatsächlich, „Christus sey keines weges für alle gestorben“, da sie behaupten, „Christus sey nicht für die Verdamten U. Verworffenen, sondern allein für die Außerwehlten gestorben“. Elftens sei auch der Vorwurf richtig, dass die Reformierten lehren, „Gott beruffe nicht alle, die durch daß Evangelium beruffen werden, ernstlich und treülich; sondern nur zum Schein, damit Ihr Verdamnüß desto größer werde“. Die reformierten Bekenntnisse belegten, dass die „die absoluto reprobos [. . .] Von Ewigkeit her von der Seeligkeit U. Von den Mitteln derselben Verstoßen“ seien. Zum zwölften sei auch die Beschuldigung an die Reformierten nicht falsch, dass „Sie lehren solten: Die H. Sacramenta seyn nur bloße Zeichen, fürbilder und Bedeütungen“, da die Reformierten die Meinung verträten würden, dass in den Sakramenten weder die Substanz noch das Wesen, sondern lediglich äußere Zeichen gegenwärtig seien. Dreizehntens sei der Vorwurf gerechtfertigt, dass die Reformierten lehren, dass die Taufe nicht notwendig sei. Zwar würden sie zugestehen, dass sie „nötig sei ra[ti]o[n]e mandati, oder wegen deß Befehls, also ein Verordnetes Sacramentliches Mittel Zur Seeligkeit, So halten Sie es doch [n]o[n] nötig ra[ti]o[n]e medii, sondern leügnen gewißlich, daß die Tauffe ein nothwendig Mittel sey, dadurch Gott kräfftiglich den Glauben in Unß Wircke [. . .] U. unß also Seelig mache“. Zum vierzehnten wiederholt Gerhardt, dass die Reformierten „Die Wort Christi: Das ist mein Leib [. . .] [n]o[n] für wahrhafftig“ halten und die leibhaftige Präsenz Christi in Brot und Wein verneinen. Sie wollten sich nicht dem lutherischen Verständnis anschließen, welches an Hand der Bibel eindeutig zu belegen sei. Zum fünfzehnten sei auch die Anschuldigung nicht falsch, „Daß Sie lehren solten. Im Abendmahl sey allein schlecht Brot U. Wein, U. also leere Hülsen ohne Kern“. Dies folge daraus, dass die Reformierten die lutherische Auffassung bestreiten, nach der beim Abendmahl Leib und Blut Christi ihrer Substanz und ihrem Wesen nach „samt den Brot U. Wein mit dem Munde des Leibeß O. empfangen U. genoßen“ werden und stattdessen in Verkehrung der Worte Christi lehren, dass die Elemente lediglich „dz himmlische Blut bezeichnen, bestättigen, Versiegeln, U. bekräfftigen“. Schließlich verteidigt Gerhardt zum sechzehnten mit sieben Beispielen den Vorwurf, dass die Reformierten Behauptungen aufgestellen, von denen sie eigentlich wüssten, dass sie gar nicht wahr seien.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
(1.) Im Abendmahl den Leib Christi auf capernaitische Natürliche weiße eße (2.) Daß die Zwei Naturen in Christo Vermenget, od die Menschliche in die Göttliche Verwandelt sey. (3.) Der Leib Christi über die gantze Welt ausgedehnet od ausgespannet sey. (4.) daß Christus also für alle gestorben sey, daß auch den Unbußfertigen die Vergebung der Sünden, U[nd] daß ewige Leben appliciret werde. (5.) Daß des Menschen thun und laßen d Göttlichen erwehlung Ursache sey“.
Allerdings könne umgekehrt von den Lutheranern nicht verlangt werden, auf Beinamen für die Reformierten oder auf theologische Konsequenzen aus der reformierten Lehre und somit auf ihre Ablehnung zu verzichten. Fünftens seien zwar der Friede und die Verträglichkeit zwischen den Konfessionen „den worten nach eine gute Sache“, dahinter stehe jedoch als wahre Intention der Reformierten der „Rintelische Syncretistische frieden, Einigkeit U. Verträglichkeit“. Auch mit dem Weg zum Frieden, der in der Unterlassung von Beinamen und Konsequenzen aus der reformierten Lehre bestehe, könnten sich die Lutheraner nicht einverstanden erklären. Sechstens weist Gerhardt die Vorstellung zurück, dass die Gemeinde keine Verwerfungen der reformierten Lehre vernehmen wolle. Zum einen gehe es nicht darum, „waß die Gemeine gerne, oder ungerne höre. Sond[er]n waß Ihr am nützlichsten U. Zuträglichsten sey“, zum anderen fragte Gerhardt, „Waß denn nötigers sey den Leüten fürzustellen, alß die greüel falscher Lehre?“. Zum Siebten wehrt sich Gerhardt gegen die angedrohte Konsequenz, dass diejenigen Pfarrer, welche die Reformierten mit Beinamen versehen oder gegen sie auf der Kanzel lästerten, aus ihrem Amt entlassen und bestraft werden sollten. Wer ohne böse Vorsätze dasjenige tue, „waß seyn Ambt U. Gewißen mit sich bringt“, dürfe nicht bestraft, sondern höchstens belehrt werden. Wenn jemand nicht anders handeln könne, werde er „umb Gerechtigkeit willen [. . .] im Himmel wohl belohnet werden“. Wenn Gerhardt jedoch „ümb Vermeidung der Zeitlichn straffe willen mein Gewißen beschweren U. an Gott, sein Wort U. Gemeine Untreu werden solte, würde Ich dafür ewiglich des Himmelreichs entsetzet“. Im abschließenden Teil des Votums nimmt Gerhardt zur Diskussion um den Exorzismus Stellung. Gerhardt betont, dass auch dieser Teil des Edikts „wieder Gott U. daß Gewißen“ sei. Gerhardt sei es auf Grund seines Gewissens nicht möglich, ein Kind ohne den Exorzismus zu taufen. Wer den Exorzismus ablehne oder ihn „für einen teüffelß ban, für eine Abergläubische Antichristische Gotteslästerliche Ceremoni hielte“, sei entweder „ein offentlicher Calvinist, oder ein Lutherischer Heüchler“. Der Exorzismus werde in ganz Brandenburg praktiziert. Auch in ausländischen Kirchen, in denen der Exorzismus nicht gebräuchlich sei, werde er nicht für unrecht, sondern für angemessen gehalten.
5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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Inhaltlich stellt das Edikt einen der wenigen Texte dar, zu denen Gerhardt die theologischen Lehren der reformierten Brandenburger konkret kommentiert. Er zeigt dabei kein Verständnis für die einzelnen reformierten Lehrspezifika und gab diese größtenteils unzulässig verkürzt, aus dem Zusammenhang gerissen und somit stark verfälscht wieder. Dies ist jedoch nicht überraschend. Auf dem Hintergrund seiner theologischen Prägung ist Gerhardt davon überzeugt, dass die lutherisch-orthodoxe Lehre die einzig wahre Heilserkenntnis beinhalte und somit eine eingehende Auseinandersetzung mit anderen Lehren im Grunde nicht notwendig sei. Bereits die Benennung einiger fundamentaler reformierter Lehrfehler genügt ihm daher zum Erweis der Notwendigkeit, die Reformierten weiterhin anzugreifen und die lutherische Lehre vor deren Einflüssen zu schützen. Insgesamt ist das Votum ein Zeugnis sowohl eines tiefen Misstrauens gegenüber dem Kurfürsten als auch einer deutlichen Kritik an den kirchenpolitischen Vorstellungen des Hofes. Primär kommt es Gerhardt auf den Erweis an, dass fast alle Aussagen des Edikts die als falsch und gefährlich erkannte reformierte Lehre förderten. Zudem verbiete das Edikt den Lutheranern die dringend notwendige Abgrenzung von Reformierten und Synkretisten und schaffe den Exorzismus ab. Das Ziel des Votums ist es nicht, die lutherischen Skrupel gegenüber dem kurfürstlichen Hof oder den Reformierten zu erläutern, sondern die eigenen Anhänger auf eine die Forderungen des Edikts durchweg ablehnende Haltung einzuschwören. Dies will Gerhardt erreichen mit dem Verweis darauf, dass eine eventuell geforderte Unterschrift unter das Edikt nicht mit dem Gewissen vereinbar sei. So könne auch den kurfürstlichen Befehlen nur dann Folge geleistet werden, wenn keine Gewissensgründe dagegen sprächen. Eine politische Toleranz beispielsweise sei durchaus mit dem Gewissen vereinbar. Das Edikt fordere jedoch eine mutua tolerantia, die Gerhardt mit einem Synkretismus identifiziert. Dieser sei aus Furcht vor Gottes Zorn und der Sorge um das eigene Gewissen unbedingt zu verhindern. Bemerkenswerterweise erwähnt Gerhardt an keiner Stelle direkt, dass das Edikt nicht unterschrieben werden könne, sondern listet stattdessen die Folgen einer Unterschrift auf. Daraus wiederum sollten die Leser offenbar selbst im Sinne eines aristotelischen Schlusses zur Erkenntnis gelangen, dass die Unterschrift unter das Edikt für einen orthodoxen Lutheraner nicht möglich sei.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
5.1.5 Exkurs: Der Briefwechsel zwischen Paul Gerhardt und Johannes Heinzelmann Paul Gerhardt und Johannes Heinzelmann pflegten auch über ihre gemeinsamen Zeiten in Wittenberg und Berlin hinaus ein freundschaftliches Verhältnis. Gerhardt war erster Pate von Heinzelmanns Sohn Beatus Friedrich am 19. Mai 1658. Seit ihrer gemeinsamen Studienzeit bei dem Wittenberger Professor für Poetik und Rhetorik August Buchner (1591–1661) verband die beiden Pfarrer ein gemeinsames Interesse für die Dichtkunst. Gerhardt tröstete Heinzelmann mit einem Gedicht anlässlich des Todes seiner Tochter Elisabeth 1659.54 Gerhardt steuerte zudem einen Beitrag zu einem Gedichtband von Heinzelmann bei.55 Gerhardt informierte Heinzelmann auch über den Fortgang des Berliner Kirchenstreits. Aus ihrem Briefwechsel56 sind Abschriften von drei lateinischen Briefen aus den Jahren 1664 / 1665 erhalten. Auf Grund einzelner Anmerkungen ist davon auszugehen, dass dem ersten noch erhaltenen Brief weitere Briefe vorausgingen. Der Briefwechsel gibt sowohl Aufschluss über Gerhardts Sichtweise auf das Kolloquium und dessen Vorgeschichte als auch über Reaktionen nicht näher zu bestimmender lutherischer Pfarrer. Der erste Brief ist von Heinzelmann an Gerhardt adressiert und auf Ende des Jahres 1664 datiert.57 Er ist ein Zeugnis der hohen gegenseitigen Wertschätzung zwischen beiden Pfarrern. Heinzelmann bezeichnet Gerhardts Vgl. den Abdruck des siebenstrophigen Gedichts „Leid ist mirs in meinem Hertzen“ in CS, 350 f. 55 Als Magdalena Sybilla von Brandenburg-Kulmbach/Bayreuth (1612–1687), die zweite Ehefrau des sächsischen Kurfürsten Johann Georg II., auf einer Reise durch Salzwedel zog, überreichte ihr der mittlerweile dort als Superintendent tätige Heinzelmann eine dichterische Übertragung der 150 Psalmen ins Opitzsche Versmaß. Die „Psalmen Davids In reime und Melodeyen gesetzet Mit so viel möglich behaltenen worten Herrn Lutherj nach allen Versiculen“ hatte Heinzelmann, wie er in seinem Vorwort bemerkt, für seine Gemeinde angefertigt. Nach mehreren lobenden Rückmeldungen von Gemeindegliedern und von Gerhardt hatte Heinzelmann sich entschieden, die Umdichtungen abschriftlich der Kurfürstin zu überreichen. Dem damaligen Propst der Berliner St. Petri-Kirche, Gustav Kawerau, kommt das Verdienst zu, den Gedichtband 1911 aufgefunden zu haben, vgl. Kawerau: Der Berliner Kirchenliederdichter Johann Heinzelmann, 1–13. 56 Die Existenz der Briefe wurde in der bisherigen Forschung nur selten erwähnt (Schulz: Gerhardt, XLIII; Bunners: Gerhardt, 90; Noack: Art. Gerhardt, 152). Umso erstaunlicher ist, dass sich noch kein Forschungsbeitrag eingehend mit diesen Briefen beschäftigt hat. Dies liegt möglicherweise in der fehlerbehafteten Überlieferung (es sind keine Originale mehr vorhanden) sowie der damit zusammenhängenden schwierigen Übersetzungsarbeit begründet. 57 Vgl. die Abschriften des Briefes in GKl Archiv XII/90/3, f. 563r–564r; SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3, f. 771v–774r; SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 1000–1004. 54
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Angelegenheiten als seine eigenen. Ihm gehe es zu Herzen, dass Boten „lapidem non unum loquentes nuncij vera modo modo fallacia de vobis agentia [. . .] effundunt [= von mehreren als einer verdrießlichen Neuigkeiten berichten, bald wahre, bald falsche Informationen {. . .} ausschütten]“. Im Folgenden hält Heinzelmann in bildhafter Sprache ein Plädoyer dafür, sich nicht öffentlich gegen Anfechtungen zu wehren, sondern diese still zu erleiden. Heinzelmann ist der Meinung: „Orando res nunc est et fortiter cunctando, cum Jesu exaudiente ni restituenda, ne tamen pessum eat penity, continenda in pristino statu, & confirmanda spe ac silentio [= Die Sache muss jetzt durch Beten und energisches an sich Halten zusammen mit Jesus, der uns erhört, wenn nicht völlig wieder hergestellt, so doch in ihrem vorherigen Zustand gehalten und durch Hoffnung und Stillschweigen gestärkt werden, damit sie nicht völlig zu Grunde geht]“.
Wer hingegen seine Meinung kundtun wolle, „audiat meritissimo suo deniq & damno, quod non vult [= dürfte wohl zu seinem völlig verdienten eigenen Schaden hören, was er nicht will]“. Daher kommt Heinzelmann zu dem Schluss, dass „Sileamy itaqs & cautiy mercemur [= wir schweigen und vorsichtiger handeln wollen]“, auch wenn dadurch viel Anstoß und Ärgernis zu erleiden sei. Schweigen sei jedoch unter anderem geboten, wenn von der gesamten Kirche Rechenschaft gefordert werde, wenn schlecht gebildete Leute oder Hofangehörige sich nicht über die wahren Abläufe erkundigten und somit „ludos faciunt religiosos [= religiöse Spielchen veranstalteten]“. Dann sei auf die CA zu verweisen, „qua tacentiby nobis pro Ecclesia loquitur [= die da, wo wir schweigen, für die Kirche spricht]“. Schließlich sei es auch Zeit zu schweigen gegenüber den theologischen Feinden. Diese würden falsche Lehren vor allem über die Idiomenkommunikation, die Omnipräsenz Christi und die Rechtfertigung verbreiten. Es gebe lediglich fünf Situationen, in denen nicht zu schweigen sei: Die Lutheraner müssten reden, wenn es erstens der Magistrat befehle, den Gegnern zu antworten, wenn es zweitens die orthodoxen Kirchenlehrer forderten, wenn drittens die Gemeinde nach dem Glauben frage, wenn viertens ein gelehrter Gegner eine Diskussion öffentlich mache und darin eine Antwort provoziere oder persönliche Angriffe verbreite und wenn schließlich fünftens ein eigentlich privates Bekennen als Sache der Kirche dargestellt werde. Abschließend betont Heinzelmann, dass „omnis Occasio docendi aucupanda [= auf jede Gelegenheit, zu lehren, zu lauern {und sie dann zu erfassen} sei]“. Wenn es ihm erlaubt sei, würde er die Notwendigkeit des Exorzismus damit verteidigen, „daß die Heilige Tauffe den Gnadenbundt Gottes Versiegele“ und betonten, dass alle „Seelig Verstorbenen ins Gnadenreich Versetzt
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
werden“. Heinzelmann ist abschließend der Meinung, dass diejenigen, welche die Notwendigkeit des Exorzismus leugneten, aufpassen müssten, „ne amittant ipsum doctrina salvifica de Baptismi efficaria, irrecuparabile depositum [= dass sie nicht die unveränderliche Grundlage selbst, nämlich die Heilslehre über die Wirksamkeit der Taufe, fahren lassen]“. Heinzelmanns Brief ist ohne Vorwissen schwer verständlich. Aufschluss über die Urheber und die Inhalte der Vorwürfe, die Gerhardt und seinen Pfarrkollegen gemacht wurden, gibt zum Teil der erhaltene Brief Gerhardts. Anfang Februar 166558 schrieb Gerhardt einen Brief nach Salzwedel.59 Er sei bestürzt darüber, dass es Menschen gebe, „qui ministerium nostrum animo tuo invisum reddere conarentur ac talia omnino de nobis disseminarent, quorum [. . .] merito omnium hominum odium incurremus [= die versuchen, unser Ministerium Deinem Herzen verhasst zu machen und überhaupt derartige Dinge über uns verbreiten, für die wir {. . .} zurecht den Hass aller Menschen auf uns ziehen würden]“.
Aus der nun folgenden Auflistung einer Auswahl von Vorwürfen, die Gerhardt anscheinend zuvor durch Heinzelmann selbst überliefert wurden, lässt sich keine eindeutige Urheberschaft der Vorwürfe ableiten. Anscheinend wurde den Berliner Pfarrern vorgeworfen, dass sie ohne großen Eifer Unterredungen geführt hätten, „ubi silendi tempora fuerint [= wo es Zeit für Schweigen sei]“. Sie hätten über eine Angelegenheit verhandelt, welche die gesamte Kirche betreffe, ohne selbige um Rat gefragt zu haben. 60 Zudem hätten sie sich nicht ausdrücklich von denjenigen distanziert, welche sich öffentlich dazu bereit erklärt hätten, ohne Einwilligung der gesamten Kirche mit denjenigen zu disputieren, „qui solent offendere [= die gewöhnlich Anstoß erregen]“. Auf Grund dieser Äußerungen und den bisherigen Ergebnissen der vorliegenden Studie können die Kritiker Gerhardts, die er selber als „Cavillatores lapides loquentes posses [= Spötter, die verdrießliche Dinge reden]“ bezeichnet und denen er vorwirft, die ohnehin schon gefährdete lutherische Kirche 58 Der Brief ist lediglich auf „d. M. [= Mensis] Februar“ datiert, eine genaue Tagesangabe fehlt. Auf Grund des Inhalts des auf diesen Brief folgenden Briefes ist davon auszugehen, dass der hier zu behandelnde Brief vor der Geburt von Gerhardts fünftem Kind, das heißt vor dem 5. Februar, geschrieben wurde. 59 Vgl. die Abschriften des Briefes in GKl Archiv XII/90/3, f. 565r–566v; SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3, f. 774v–776v; SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 1005–1008; nach letzterer Quelle abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 364–366. 60 Vgl. den Vorwurf „Nos quod totius Ecclesiae est, Ecclesia posthabita ac inconsulta [. . .] agere [= Wir handeln über etwas, was Sache der ganzen Kirche sei, wobei die Kirche hintangesetzt worden und nicht um Rat gefragt worden sei]“.
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neuer Gefahren auszusetzen61, zumindest eingegrenzt werden. Es müssen Lutheraner gewesen sein, welche ihre Kritik anonym und mündlich vorgetragen haben, denn ansonsten hätten sich Gerhardt und Heinzelmann auf eine Druckschrift berufen müssen. Da die Kritiker weder die kurfürstlichen Vorgaben und den Verlauf des Kolloquiums noch die Protokolle und Briefe der Berliner kannten, können sie nicht aus dem Umfeld der Fakultäten und Ministerien stammen, mit denen die Berliner Pfarrer brieflich in Kontakt standen. Die sonstigen Andeutungen lassen sich problemlos identifizieren. Mit der Unterredung ist das Kolloquium gemeint, die Anstoßerregenden sind die Reformierten, die sich zur Verhandlung öffentlich bereit Erklärenden bezeichnen lutherische Ireniker wie beispielsweise Andreas Fromm. Diese Bezeichnungen lassen als Autoren der Vorwürfe ebenfalls orthodoxe Lutheraner vermuten, die zwar im Grunde genommen mit der ablehnenden Haltung der Berliner Lutheraner einverstanden waren, aber deren Alleingang kritisierten. Dadurch hätten die Berliner die Kirche so hintangesetzt, „quasi non alibi haberet Spiritum Dei [= als ob sie den Geist Gottes nicht anderswo hätte]“. Die Kritiker betonten, dass die Berliner nur einen Teil der Gesamtkirche darstellen, der zudem „mancum ac mutilum [= völlig verstümmelt und versehrt]“ sei. Im folgenden Teil des Briefes wird die enge Freundschaft zwischen Gerhardt und Heinzelmann deutlich. 62 Gerhardt bedankt sich für die Verteidigung seiner Unschuld. Er betont, dass sämtliche Vorwürfe falsch seien und dass „Censores istos partim ignorantia eorum, quae hic loci gesta sunt, Prtim diabolica laborare invidia [= diese Kritiker teils aus Unkenntnis über die Angelegenheiten, die sich hier ereignet haben, teils aus teuflischer Missgunst zu Werke gehen]“. Im Folgenden erläutert Gerhardt die Vorgeschichte des Kolloquiums und rechtfertigt damit das Vorgehen der Berliner. Sie hätten als „Denominati [. . .] et citati summo Magistratus mandato [= im höchsten Auftrag des Magistrats Ernannte und Berufene]“ mit den „absentibus et tacentibus reliquis harum terrarum ministeriis [= abwesenden und schweigenden Ministerien dieser Länder]“ Kontakt aufgenommen. Die Berliner Pfarrer hätten von Anfang an „causam hanc non nostram, sed universae Ecclesiae Marchicae [= nicht unsere Vgl. die metaphorische Ausdrucksweise des Vorwurfs: „Nos rimosam jamque tum fatiscentum naviculam onerare incautis et perforare [= Ich würde ein leckes und schon bald auseinanderbrechendes Bötchen ziemlich unvorsichtig beladen und durchlöchern]“. 62 Vgl. beispielsweise die Formulierung: „Ex animo vero laetatus sum, dum amorem tuum in nos adhuc integrum esse intellexi [= Ich habe mich aber von Herzen gefreut, als ich erkannt habe, dass Deine Liebe gegen mich bis jetzt noch unversehrt ist]“. 61
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eigenen Angelegenheiten, sondern die der gesamten märkischen Kirche]“ behandelt. Sie hätten beim Hof darauf gedrängt, andere Pfarrer zum Kolloquium hinzuziehen zu dürfen, doch dies habe der Kurfürst mit dem Verweis abgelehnt, dass zum einen die Pfarrer selber keine Regeln vorschreiben dürften, sondern den obrigkeitlichen Befehlen gehorchen müssten und dass zum anderen erst dann auswärtige Pfarrer hinzugezogen werden sollten, wenn die Angelegenheit mit den Berlinern erfolgreich verhandelt worden wäre. Da die Berliner damit nicht einverstanden gewesen seien, hätten sie unter Drohungen und Beleidigungen durch die Reformierten63 leiden müssen. Anschließend berichtet Gerhardt über das Kolloquium. Dessen Thema sei nicht irgendein bestimmter Glaubensartikel gewesen, „sed sola cum Calvinianis ineunda fraternitas [= sondern allein die einzugehende Verbrüderung mit den Calvinisten]“. Dies sollte zunächst durch das Disputieren über die Gewichtung einzelner Lehrpunkte, in denen die Reformierten mit den Lutheranern nicht übereinstimmten, erreicht werden. Als dieser Weg nicht zum Erfolg führte, „dircete et aperte, id quod res erat, rogati sumus [= wurden wir direkt und offen danach gefragt, wie es sich wirklich verhielt]“. Daraufhin hätten die Berliner ihre Ansichten so dargelegt, dass die Reformierten keine Gelegenheit mehr zum Angriff gehabt und stattdessen „atrocis ciminis insimularent [= wüste Verbrechen andichteten]“ und schließlich die lutherischen Auffassungen „cum magno impetu tandem a se repellerent [= mit großer Gemütswallung von sich wiesen]“. Gott jedoch „conatus infernialis tentatoris irritos fecit [= vereitelte die Bemühungen des Versuchers aus der Hölle]“. Gerhardt vermutet, dass es in den Augen der Anklagenden zudem falsch von den Berliner Pfarrern gewesen sei, wie sie auf das zweite Toleranzedikt reagiert hatten. In diesem Vorwurf zeige sich der „schweinische Neid“64 der Ankläger. Diese seien Menschen, die konfessionellen Streitigkeiten aus Angst auswichen und sich dann aber beschwerten, dass sie nicht zur Beratung hinzugezogen wurden. Diese „fidelibus Dei servis arrogantiae notam inurunt, ipsi superbia et fastu spiritus ad ventris usque rupturam tumescentes [= prägen den treuen Dienern Gottes das Zeichen der Anmaßung auf, während doch ihre Gemüter vor Hochmut und Stolz anschwellen bis in ihre Mägen platzen]“. Gerhardt fordert Heinzelmann dazu auf, solche Kritiker wegzuschicken oder ihnen Schweigen aufzuerlegen, „ad nos ipsos compellandos et audiendos [= damit wir persönlich bedrängt und gehört werden]“. 63 Zudem hatten sie auch Angriffe von denjenigen zu erleiden, „qui a nostris stant partibus et potestatem in nos habent, impotunitate [= die auf der Seite meiner Partei stehen und Macht über mich haben]“. 64 Vgl. das Original: „spurco, qui pectora eorum habet, livore [= der schweinische Neid, der deren Herzen besitzt]“.
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Sämtliche orthodox lehrende Hochschulen und Ministerien bekennten übereinstimmend, dass „nobis jam non esse silendi tempus [= für uns schon nicht mehr die Zeit zu schweigen ist]“ und die Berliner in ihrer Haltung bestärken. Diese Urteile seien höher zu achten als diejenigen der Kritiker. All dies würden die Berliner berichten, damit „praecipuos fontes tam perversarum de nobis opinium monstrarem, et clypeos, quibus amicus Amicos protegere in posterum [. . .] posses, subministrarem [= wir dir die besonderen Quellen der so verdrehten Meinungen über uns zeigen können und Dir die Schilde, mit denen Du als Freund die Freunde für die Zukunft schützen kannst, {. . .} zur Unterstützung reichen]“. Heinzelmann wiederum antwortete Mitte Februar. 65 Sein Schreiben ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil dankt er dem dreieinigen Gott für die Geburt von Gerhardts jüngstem Sohn Andreas 66 und wünscht67 seiner Familie in gebetsartigen Formulierungen ein glückliches Leben. 68 Bei dieser Gelegenheit läßt Heinzelmann verlauten, dass er ein strikter Verfechter der Beibehaltung des Exorzismus sei: Andreas solle ein Christ bleiben, wie er es durch die Taufe mit dem Exorzismus wurde. Zu den Ausführungen Gerhardts über das Kolloquium äußert sich Heinzelmann ausführlich. Zunächst verurteilt er die Kritiker: Es sei besser, „injurias ferre hinc inde quam inferre [= Ungerechtigkeiten von hier und von da zu
Auch diese Datumsangabe ist wieder unvollständig, von sekundärer Hand und somit schwer zuzuordnen. Aus dem Inhalt dieser Schrift und aus der Terminierung von Gerhardts vorhergegangenem Brief wird jedoch deutlich, dass die Schrift nach dem fünften Februar geschrieben worden sein muss. Vgl. die Abschriften des Briefes in GKl Archiv XII/90/3, f. 569v–570r; SBB-PK Ms. Boruss. fol. 3, f. 776v–778v; SBB-PK Ms. Boruss. fol. 807, Bl. 1009–1011; nach letzterer Abschrift abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 364–366. 66 Gemeint ist Gerhardts fünftes Kind (nur eines der vorigen war am Leben geblieben): Andreas Christian, geboren am 5. Februar 1665, getauft am Tag darauf durch Elias Sigismund Reinhardt. 67 Dabei bediente sich Heinzelmann liturgischer Ausdrucksweise: „Et hac quidem occasione Genitori Genitoque aterno cum primis gratia, Daus et jubilatio, Procedenti item ab utroque compar Collaudatio in hecatombis fidei offerenda [= Und bei dieser Gelegenheit muss dem Schöpfer und dem ewigen Geschaffenen besonders Dank, Lob und Jubel und ebenso dem aus beiden hervorgehenden {Heiligen Geist} gleicher Lobpreis in den Hundertopfern des Glaubens dargebracht werden“ (Der Satz zitiert Thomas von Aquin bzw. das auf ihn zurückgehende Kirchenlied „Tantum ergo“.). 68 Vgl. das Original: „Vitas puerilis autor felicissimos decernat ac determinet parvulo dies: ut Andream prae se ferat Domini tandem bellum militando strenuissime [= Der Schöpfer möge das Leben der Kinder zu den allerglücklichsten erklären und dem kleinen Söhnchen die Tage festsetzen: damit er Andreas vor sich hertrage, auf das er endlich auf tüchtigste Weise den Kriegsdienst im Kampf des Herrn leiste]“. 65
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ertragen, als hervorzubringen]“, wie es die Berliner getan hätten. Für ihr Engagement sollten sie nicht beschimpft, sondern gelobt werden. Heinzelmann berichtet von seiner Erfahrung, dass es keine übereinstimmende oder dominierende Meinung über das Kolloquium gebe. Daher wolle er diese Kontroversen auch nicht wiedergeben. Umso entschiedener verteidigt er jedoch das Vorgehen der Berliner und kritisiert ausführlich diejenigen, welche die Berliner angegriffen hatten. Diese wüssten nicht, was wirklich beim Kolloquium geschehen sei, sie würden „mit teuflische[r] Missgunst“ kritisieren und diejenigen, welche sich für den Exorzismus einsetzen, als Sünder bezeichnen. 69 Heinzelmann wünscht, den Kritikern die Briefe des Berliner Ministeriums entgegenhalten zu können, in denen die Pfarrer betonten, dass das Kolloquium keine Angelegenheit allein der Berliner sei, sondern die gesamte märkische Kirche betreffe, und dass andere Pfarrer hinzugezogen werden müssten. Zudem will Heinzelmann den Kritikern die Ermahnung der kurfürstlichen Kommissare, das heißt die Antwort des Hofes auf die Forderungen der Berliner zusenden. Daraus würde deutlich, dass der Kurfürst „Berlinenses folos velle, et quam primum cum ijs res peracta, tum reliquos accersitum iri [= allein die Berliner wolle und dass, sobald die Angelegenheiten mit diesen verhandelt wurden, dann die übrigen hinzukommen würden]“. Wenn zudem die Kritiker erfahren könnten, wie die Berliner verhandelt hätten, so würden letztere nicht mehr kritisiert werden. Den Kritikern würde dann deutlich werden, wie sich die Berliner beim Kolloquium gegen die Vorstellungen gewehrt hatten, „in quibus, adversarijs, dicitur esse consensum et annon subsint alia, postulatum! [= in denen gesagt wurde, dass man eine Übereinstimmung mit den Gegnern habe und gefordert wurde, ob nicht auch andere Dinge damit verbunden sind!]“. Abschließend stellt Heinzelmann jedoch resignierend fest: „Sed inter hac, intime, tacendi quam loquendi ut fatebuntur, vel cordati maxime Theologi, oportuniora tempora, optandum quam Sperandum potius erit [= Aber in diesen Zeiten, verehrtester Freund, die, wie sogar die verständigsten Theologen zugeben, günstiger für das Schweigen sind als für das Reden, muss man wohl eher beten als hoffen]“. Den Schluss des Briefes bilden persönliche Mitteilungen, die wiederholt zeigen, wie gut und persönlich das Verhältnis zwischen beiden Pfarrern war. 69 Die im Brief folgenden Titulierungen der Angreifer übernimmt Heinzelmann größtenteils aus Gerhardts Brief. Heinzelmann beschreibt sie unter anderem auf folgende Weise: Sie seien „diabolica invidia laborantibus, convitiis illam rem profundentibus, pro qua Gratias agere Deo debebant, et similibus illis, qui pro Exorcismo stantes, peccatores nuncupant, hostibus praterea indigne ferentibus“.
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Aus dem Nachlass Lubaths wird deutlich, dass Gerhardt und seine Berliner Pfarrkollegen versuchten, den Berliner Kirchenstreit akribisch zu dokumentieren und die einzelnen Schriften, Protokolle und Briefe aufzubewahren. Wie aus verschiedenen Bemerkungen in den Voten hervorgeht, wollten sich die Geistlichen damit gegen mögliche Vorwürfe nicht direkt am Kirchenstreit beteiligter Lutheraner verteidigen können, dass sie für die Einführung eines Synkretismus in Brandenburg verantwortlich seien. Zudem sollte der Vorwurf abgewehrt werden können, dass die Berliner über Angelegenheiten der gesamten märkischen Kirchen verhandelt hätten, ohne auswärtige Pfarrer hinzuzuziehen. Der Briefwechsel zwischen Gerhardt und Heinzelmann ist auch deswegen von Interesse, weil er als einziges Dokument aufzeigt, dass den Berlinern dieser Vorwurf tatsächlich gemacht wurde. Die genaue Dokumentation des Kolloquiums seitens der Berliner Lutheraner ist somit nicht nur mit einem exakten theologischen und geschichtlichen Ordnungsbestreben zu begründen, sondern auch als Schutz vor tatsächlichen Vorwürfen. Bedeutend ist zudem, dass die lutherischen Angreifer keineswegs unzufrieden waren mit der Haltung der Berliner Lutheraner, die durch den Kurfürsten geforderte mutua tolerantia abzulehnen. Ihnen kam es in ihrer Kritik darauf an, ihr Missfallen über den vermeintlichen Alleingang der Berliner auszudrücken. Die Kritiker hatten insofern recht, als die Berliner Lutheraner nicht gesamtkirchlich autorisiert waren. Sie hatten nur von der Tatsache erfahren, dass ein Kolloquium abgehalten wurde, jedoch nicht von den genauen Inhalten. Durch das kurfürstliche Geheimhaltungsgebot konnte für Unbeteiligte der Eindruck entstehen, dass etwas Geheimes verhandelt werde, was später für die gesamte Kirche gelten solle. Dass diese Vorwürfe jedoch keinesfalls der Wahrheit entsprachen, wird in den Quellen und den bisherigen Ergebnissen der vorliegenden Studie deutlich. Eine Legitimation des Vorgehens der Berliner Lutheraner von Seiten der gesamten märkischen Kirche war auf Grund der damals fehlenden Strukturen kaum möglich. Gerhardt störte mE. mit Recht vor allem die Tatsache, dass sich die Kritiker vor ihren öffentlichen Äußerungen nicht bei den Berlinern über den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse informiert hatten. Das kurfürstliche Geheimhaltungsgebot hatte nicht den erwünschten Erfolg gebracht, sondern unter anderem dazu geführt, dass es zu weiterem innerlutherischen Misstrauen kam. Dies war zwar nicht ganz auszuschließen, doch der Briefwechsel macht insofern exemplarisch deutlich, dass es für eine breite Akzeptanz unbedingt notwendig ist, dass Religionsgespräche öffentlich geführt werden. Gerhardt präsentierte sich in seinem Brief ähnlich wie in seinen Voten als klar strukturiert denkender und schreibender Theologe. Er benutzte wie Heinzelmann teilweise eine poetische Ausdrucksweise. Aufschlussreich ist
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
zum einen seine Bewertung der einzelnen Protagonisten des Kirchenstreits. Sowohl über die irenisch orientierten Lutheraner wie auch über den kurfürstlichen Hof urteilte Gerhardt milde. Dem entgegen steht jedoch die Kritik an den Reformierten; Gerhardt charakterisierte deren vermeintliche Versuche, den Lutheranern Verbrechen anzudichten, als Bemühungen des Teufels. Insgesamt bietet der Briefwechsel auch deswegen einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Berliner Kirchenstreits, da er Gerhardts persönlichen Blick auf entscheidende Ereignisse darlegt und zeigt, inwieweit die Geschehnisse auch durch auswärtige Geistliche verfolgt wurden.
5.1.6 Die Reverse, das „Diarium Berolinense“ und die Amtsenthebungen Da sich viele Geistliche nicht an die Bestimmungen des Edikts hielten oder sie auf der Kanzel nicht abkündigten, ließ der Kurfürst ergänzend Reverse aufsetzen,70 welche die Geistlichen zu unterschreiben hatten. Darin sollten sie sich verpflichten, dem Inhalt der Toleranzedikte gemäß gehorsam zu handeln und zu leben. Neben den später zu thematisierenden Varianten für die Staatsbediensteten und Lehrer erschienen in immer wieder neuen Formulierungen71 70 Im Gegensatz zu der in manchen Darstellungen zu lesenden Behauptung (vgl. unter anderem Langbecker: Gerhardt, 100 f.; Landwehr: Kirchenpolitik, 216; Lackner: Kirchenpolitik, 132) wurde die Unterschrift der Pfarrer nicht unter das Edikt, sondern erst später und unter den Revers angeordnet! In vielen Darstellungen werden zudem ‚Revers‘ und ‚Edikt‘ synonym verwendet, was oftmals zu Verwirrungen führt. Leider ist das kurfürstliche Schreiben, in dem die Reverse angekündigt wurden, nicht mehr erhalten. 71 Aus den Quellen ist ersichtlich, dass die Geheimräte unter Stoschs Federführung ausgiebig vor der Veröffentlichung der Reverse über deren genauen Wortlaut beraten haben, vgl. beispielsweise die Entwürfe in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 f. 55r–56r. (hier sind die handschriftlichen Verbesserungen Stoschs zu erkennen) 57r.58r–59r sowie das Protokoll über die Sitzung des Geheimen Rates vom 11. April 1665: „S Ch D. sagen: weil sich einige opponiren, das Edict zu unterschreiben, ob sie nicht schuldig, sich gemäß zu halten oder aus dem Lande zu gehen? Herr Graf [Dohna] [Vgl. zum reformierten Wirklichen Geheimrat in Kriegssachen und Statthalter zu Halberstadt Christian Albrecht Burggraf und Graf zu Dohna {1621–1677} T. Saring: Art. Dohna, Christian, Albrecht von, NDB 4 {1659}, 47; Saring: Mitglieder, 47; Bahl: Hof, 463 f.]. Edictis müsse gehorsamst nachgelebet werden, sonst seien [sie] nichts nütze. Herr Oberpräsident. Er wüßte nichts anders, alß denen edictis fleißig nachgelebet werde. Freiherr von Löben saget, daß er die Ministeros oft erinnert, sich moderat zu erzeigen; aber er sehe keine Hoffnung. Herr von Canstein hält davor, daß es recht, wer sich dem edicto nicht gemäß bezeigen wolle. Herr Köppen. Finde nichts im edicto, so wider der Lutherischen Prediger Gewissen gehe. Weil nun SCHD. als episcopus loci Fug und Macht haben, solche Verordnungen zu machen, also könnten SCHD. wohl einen terminum setzen, da sie sollten unterschreiben und sich dem edicto gemäß verhalten. S Ch D. vermeinen, dem
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zwei Grundtypen von Reversen, einer für die Inspektoren und einer für die anderen Pfarrer. Letztere hatten unter anderem Folgendes zu unterschreiben: „waß Sr. Churfl. Durchl. Unsers gnädsten Churfürsten undt Landes Herren beywohnende undt in den Churfl. Edicten de Anno 1614, 1662 undt 1664 enthaltene Christ-löbliche Intention, wegen des Evangelischen Kirchen-Friedens, und Christlicher Verträglichkeit betrift, erklehren [. . .] wir unß solches unterthänigsten gehorsambs [. . .] und den Edictis von 1614, 1662 undt 1664 unß überall gemehs verhalten“72 .
Allen denjenigen, die sich weigerten zu unterschreiben, wurde die „remotio ab officio“ angedroht. Dies führte bei vielen lutherischen Geistlichen zu schweren Gewissenskonflikten, wenn sie, wie Gerhardt, die im Revers geforderte Toleranz und Beachtung der Edikte von 1614, 1662 und 1664 als mit ihrem Ordinationsgelübde und ihrem lutherischen Glauben nicht vereinbar Consistorio zu befehlen, selbe vorzufordern. – Fiat tale rescriptum“ (zitiert nach Meinardus: Protokolle VII/1, 261). 72 Zitiert nach GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 5a 1. Es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wie der erste Revers lautete. Einige Forscher (unter anderem Wangemann: Johan Sigismundt, 178; Petrich: Gerhardt, 145 f.; Niemann: Gerhardt, 277 f.) sind der unbegründeten Meinung, dass der folgende Revers der ursprüngliche sei: „Sr. Churf. Durchl. in Edictis de anno 1614. 62. 64 enthaltene christliche Intention wegen der Kirchen-Toleranz betreffend, erkläre ich mich gegen Sr. churf. Durchl. unterthänigsten Gehorsams, und daß ich jederzeit Gott mit herzlichem Gebeth um Beförderung solcher Kirchen-Toleranz anrufen, auch nicht unterlassen will, alle Mittel, so zur Kirchen-Toleranz vorgeschlagen werden, anzunehmen. Will auch in Tractirung der Controversien mich der besten Moderation gebrauchen, den Elenchum nebst der Form. Conc emittiren [= fallen lassen], den Exorcismum mitigiren [= abmildern] und ändern, und den obbemeldeten Edictis in allen Clauseln gehorsamlich nachleben. So wahr mir Gott helfen soll durch Christum“ (zitiert nach dem zeitlich falsch zugeordneten Abdruck in FSATS 1728, 161). Dass dies der erste Revers war, ist jedoch unwahrscheinlich, da die Berliner ansonsten in ihren unmittelbaren Reaktionen auf die Reversforderung auch auf den Exorzismus eingegangen wären. Tatsächlich wird er jedoch zunächst lediglich nebenbei erwähnt und erst später, als sich die Landstände in die Diskussion einschalteten, ausführlich thematisiert (s. u.). Es ist daher davon auszugehen, dass dieser Revers erst später durch den kurfürstlichen Hof in die Diskussion eingebracht wurde, was durch die Reihenfolge der Reversentwürfe in GKl Archiv XII/90/2, f. 183v–200r bestätigt wird. Auch die Reverse, die der Kurfürst am 1./11. April 1666 drucken ließ (vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 145r– 146r; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 328r–329v; GStA PK I. HA Rep. 13 Nr. 19 c Fasz. 14 [unfol.]; SächsHStA 10024 Geheimer Rat [Geheimes Archiv] Loc. 7226/4; vgl. auch den Abdruck bei Mylius: Corpus I/1, 391–394), bieten höchstwahrscheinlich nicht die ursprüngliche Form des Reverses. Der im Haupttext dieser Arbeit zitierte Revers folgt dem mE. ältesten noch erhaltenen Manuskript kurfürstlich-höfischer Provenienz. Weitere Reverse befinden sich in GStA PK I. HA Rep. 13 Nr. 19c Fasz. 14 (unfol.); BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 537r– 545r; zeitlich einige Male falsch zugeordnet bei Hering: Neue Beiträge II, 205–208; Schulz: Gerhardt, 383 f.; Langbecker: Gerhardt, 101 f.
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empfanden. Der Verzicht auf die FC und die Änderung des Exorzismus waren zudem Forderungen, die viele Pfarrer als Eingriff in ihren persönlichen Glauben ansahen. Es lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, wie viele Geistliche irenisch motiviert oder aus Angst vor Verlust ihres Pfarramtes unterschrieben und wie viele sich geweigert haben.73 Es ist jedoch davon ausgehen, dass zunächst viele Pfarrer unterschrieben haben, denn der Verlust der Pfarrstelle wäre einem sozialen Abstieg gleich gekommen, der die materielle Existenz der Pfarrfamilien massiv bedroht hätte. Brandenburg hatte sich seit dem 30jährigen Krieg in vielen Teilen nicht nur wirtschaftlich lediglich schleppend erholt. Eine neue Pfarrstelle hätten Pfarrer nur in anderen, lutherisch geprägten Territorien bekommen können, was jedoch in der Regel nur für bedeutende Pfarrer möglich war. Die Auseinandersetzung um die Reverse erfasste das ganze Land. Innerhalb Brandenburgs sandten sich Pfarrer und Ministerien gegenseitig Briefe und Voten zu und fragten, wie sie sich gegenüber den Reversen verhalten könnten und sollten. 74 Ebenso meldeten sich Theologen aus anderen Territorien zu Wort, um ihre Zustimmung oder Ablehnung gegenüber den religionspolitischen Maßnahmen des Kurfürsten zum Ausdruck zu bringen.75 Auch die Berliner Pfarrer hatten sich geweigert, das Edikt und die Reverse zu unterschreiben, und standen im brieflichen Kontakt mit anderen Pfarrern.
Auch die Forschungsliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts kann weder Zahlen noch Quellen dazu nennen, erweckt aber den Eindruck, den auch Schulz: Gerhardt, XLIV, teilt: „Viele Hunderte derselben [= der Geistlichen] unterschrieben die ihnen vorgelegten Reverse, und Mancher, der sich ein Gewissen daraus machte, wurde durch die Rücksicht auf Weib und Kinder dazu gedrungen“. Gauhe: Historie, 1077, und Hering: Neue Beiträge II, 209, wissen von 200 Pfarrern, die unterschrieben hätten, stützen sich jedoch wahrscheinlich auf die spätere kurfürstliche Declaration vom 4. Mai 1665, die als Quelle durchaus kritisch zu sehen ist (s. u.). 74 Vgl. beispielsweise die gedruckte Schrift „Explication wegen des Religions-Vergleichs zwischen den Reformirten und Lutherischen“, [o.O.] 1665, die der Propst und Inspektor zu Bernau und Verteidiger der kurfürstlichen Politik, Matthias Bugäus (1620– 1680), am 20. Februar 1665 geschrieben hatte. Vgl. auch Hering: Neue Beiträge II, 210–217 zum anschließenden Schriftenstreit. Vgl. auch die Briefe vom Inspektor der Neustadt Brandenburg, Valentin Fromme (1601–1679), in GKl Archiv XII/90/2, f. 298r–298v, vom Inspektor in Wittstock, Daniel Simonius (?–1671), vom 25. November 1665 in GKl Archiv XII/90/2, f. 299r sowie die Reversvorschläge durch den Inspektor zu Fürstenwalde, Christoph Daniel Blume, aaO., f. 347v und durch Johannes Colberg, aaO., 352r (beide Vorschläge wurden nicht angenommen). 75 Vgl. beispielsweise die Briefe und Voten in GKl Archiv XII/90/2, f. 292r–293v (von Calov), f. 294r–295v (vom Wittenberger Theologieprofessor Johannes Meisner [1615– 1681]) und f. 296r–297r (vom Rostocker Theologieprofessor August Varenius [1620– 1684]). 73
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Friedrich Wilhelm wollte der öffentlichen Auseinandersetzung um das Edikt und die Reverse ein Ende machen und lud deshalb die Berliner Pfarrer mit einem Schreiben vom 25. April 166576 vor das Geistliche Konsistorium. Der Kurfürst war befremdet darüber, dass die Berliner „Von Vielen auswertigen orten Censuras und judicia einzuholen“ begonnen hätten. Am 28. April sollten sie um 8 Uhr morgens alle eingeholten Gutachten überreichen und „deswegen gebürende Rede und Antwort [. . .] geben“. Ebenfalls am 25. April sandte der Kurfürst Anweisungen77 an das Konsistorium, dass es die Berliner zunächst für ihr bisheriges Verhalten rügen, dann die Gutachten in Empfang nehmen und anschließend alle Pfarrer auffordern solle, den Revers zu unterschreiben. Sollten sie sich weigern, sei ihnen anzuzeigen, dass der Kurfürst sie „in Unserm Lande nicht dulden wollen, und sie daher ihre gelegenheit anderWerts suchen mögen“. Am 27. April sandte von Schwerin im Namen des Kurfürsten einen Brief78 an die Räte, in dem er befahl, bei erneuter Unterschriftsverweigerung der Pfarrer zunächst nur Lilius und Reinhardt zu entlassen, den übrigen Pfarrern hingegen Bedenkzeit einzuräumen. Dass die Berliner bisher nicht unterschrieben hätten, liege hauptsächlich an Lilius und Reinhardt, „indem die andern auf ihn, den Probst ra[ti]o[n]e offici ihre Reflexion nähmen, und ehe nicht unterschreiben dürften, biß er ihnen mit seinem Exempel vorgegangen, und Er, Licentiat Reinhard, sich embsig bemühete, die andern sub falso praetextu Consulatio [= unter dem falschen Vorwand der Beratung] hiervon abzuhalten, und also sie beide hierzu vor andern anlas gäben“. Wie der Forschung bisher unbekannt war, hatte sich Gerhardt bereits am 26. April im ‚Berliner Landschaftshaus‘, dem Versammlungsort der kurmärkischen Stände, mit dem Berliner Bürgermeister Michael Zarlang (1603– 1673) 79 zu einer privaten Unterredung getroffen. In einem Brief80 vom selben 76 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 17r–18v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 373 f.; Langbecker: Gerhardt, 104. 77 Vgl. den Abdruck bei Langbecker: Gerhardt, 104 f. 78 Vgl. GStA PK Rep. 47 Tit 19, f. 9r–10v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 375 f.; Langbecker: Gerhardt, 105–107; Meinardus: Protokolle VII/1, 265 f. Schulz: Gerhardt, LII, irrt, wenn er meint, der Kurfürst hätte die letzten beiden Briefe an von Schwerin gerichtet und somit seine Auffassung im Brief vom 27. April „in einigen wesentlichen Punkten zu ändern“ beabsichtigt. 79 Der Lutheraner Michael Zarlang(k) war von 1649 bis 1657 stellvertretender, dann bis zu seinem Tod 1673 erster Bürgermeister von Berlin. Vgl. P. von Gebhardt: Das älteste Berliner Bürgerbuch 1453–1700 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin I, Quellen und Forschungen zur Geschichte Berlins Bd. 1), Berlin 1927, 7; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin I, 245.291; II, 406.410. Gerhardt war wahrscheinlich mit Zarlang gut befreundet. (Möglicherweise hatte Gerhardt ihn bereits 1647 im Hause der Helwigs kennengelernt, vgl. Niemann: Ger-
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Datum teilte Gerhardt seinen Amtskollegen mit, wie Zarlang und der Magistrat auf die angekündigte Vorladung der Pfarrer reagiert hatten. Zunächst versicherte Zarlang den Predigern die Solidarität des gesamten Rates. Ihm sei der „Zu stand, darinn wir abermahls geraten Von Hertzen leid“. Allerdings wisse er nicht, „wie sie [= die Stadtverordneten], wen sie nicht Zu größern Unfehl Uhrsach geben wollten, sich solches wercks anitzo nicht annehmen könten“. In Kürze würde jedoch eine Zusammenkunft der Stände stattfinden, bei der dieses Thema behandelt werden solle. Der Bürgermeister unterstützte die Idee, einen Advokaten81 als Sprecher der Pfarrer zu den Verhandlungen mitzunehmen, und riet ihnen zu Advokat Müller82 . Vor der Verhandlung wollte der Bürgermeister noch persönlich mit dem Advokat sprechen, um ihn zu „aller bescheidenheit U[nd] Vorsichtigkeit“ zu ermahnen. Schließlich kündigte er an, dass „Er Unnd seine H. Collegen hier mehr mit guthem rathe alls [. . .] würckliche Hülfe würden leisten können“. Der Bericht Gerhardts zeigt, dass die Pfarrer den Berliner Magistrat fortwährend über die Entwicklungen im Kirchenstreit informierten und dass sich die Geistlichen der Unterstützung der Stadtverordneten gewiss sein konnten. Die Äußerungen Zarlangs machten jedoch deutlich, dass die Magistratsmitglieder kaum eine Möglichkeit sahen, gegen die kirchenpolitischen Maßnahmen des Kurfürsten vorzugehen. Die in Aussicht gestellte Unterredung mit den Ständen ließ die Berliner Pfarrer jedoch auf eine breite Unterstützung ihrer bisherigen Haltung hoffen. Über die vom Kurfürsten angeordneten Verhandlungen am 28. April mussten die bisherigen Forschungsbeiträge schweigen. In allen Darstellungen wird zeitlich als nächstes vom Brief der Berliner an den Magistrat einen Tag später83 80
hardt, 67.) Zarlangs Frau gehörte am 22. Mai 1656 (kurz nachdem Gerhardt als Propst in Mittenwalde angefangen hatte) zu den Patinnen für Gerhardts Tochter Maria Elisabeth. Gerhardt hielt die Begräbnisrede für einen der Söhne von Zarlang (Leich-Sermon / Dem in der Zucht und Vermahnung zum HErren wohl auffgezogenen und nunmehr Seeligen Knaben / Friederich Ludowig Zarlangen / Hernn Michael Zarlangens / Wohlverdienten BürgerMeisters . . . Sohne / Als derselbe [. . .] aus dieser bösen Welt in das bessere Leben abgeschieden [. . .] von Paulo Gerhardten / Predigern zu S.Nicolai hierselbsten, Wittenberg 1660) und steuerte beim Leichenpredigtdruck für Zarlangs Tochter einen Beitrag bei (Epicedien, Gedichte, Klagelieder auf den Tod der Catharinen Elisabeth Zarlangen, Berlin 1660 [sowohl die Leichenpredigt als auch die Epicedia befinden sich in SBB-PK Ee 1550]). 80 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 195r–195v. 81 Die Berliner hatten zur Vertretung ihrer Anliegen einen Advokaten (Anwalt) beim Konsistorium beantragt, wie es auch bei Gerichtsverhandlungen üblich war. 82 Es lässt sich nicht mehr nachvollziehen, welcher Müller gemeint war. Wahrscheinlich handelte es sich um den Kammergerichtsadvokaten und späteren Berliner Bürgermeister Friedrich Müller (1615–1677), vgl. zu diesem Saring: Kammergericht, 224 f. 83 Vgl. GStA PK Rep. 47 Tit 19, f. 11r–12r (s. u.).
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berichtet und dadurch auf die Verhandlungen zurückgeschlossen. Durch einen neuen Quellenfund ist es nun möglich, nicht nur die Verhandlungen an sich, sondern auch die Beratungen und die Motivation der Berliner vor den Verhandlungen darzustellen. 84 Wie die erhaltenen Manuskripte belegen, hatten sich die Berliner Pfarrer akribisch auf die Vorladung vorbereitet. Lorentz hatte ein Protokoll über die Beratungen der Berliner Pfarrer zwei Tage vor den Verhandlungen geführt: 85 Die Berliner ärgerten sich, dass der Kurfürst den Termin auf Freitagvormittag gelegt hatte, obwohl er genau wisse, dass freitags immer zwei Gottesdienste stattfinden würden. Zudem hätten die Pfarrer sehr viel zu tun, da die „Betwoche“, in der „täglich Sacra zu administrieren [= verwalten], auch zu praemeditiren [= vorbereiten]“ sei, ebenso vor der Tür stehe wie der Buß- und Bettag. Reinhardt gab zudem zu bedenken, dass die angeforderten Responsa der Fakultäten „keine judicia sondern Consilia & Informationes“ gewesen seien. Gerhardt schätzte die Situation richtig ein. Der Kurfürst würde die Berliner „als aufwiegler hallten, weil wir Consilia [. . .] eingeholet. Bei den Verhandlungen würden die Räte „alsbald das Edictum zu subscribiren vorlegen“. Am 27. April gab Lorentz seinen Berliner Amtskollegen „mein (MS. Lorentzen) wiewol unvorgreifl[ichen] Rath“. Darin bekräftigte er, dass die Berliner bei den Verhandlungen dem Advokaten die Gründe für ihr Verhalten darlegen „und Unsere Noth selbst fürbringen sollten“. So sei deutlich zu machen, dass die Berliner nicht „Churfl. Durchl. Edicta, dero Hoheit Zu einigem Nachtheil hette judiciren [. . .] laßen: Sondern wir hetten [. . .] zur Verwahrung Unser Conscientz einige heilsame Consilia und Informationes begehret, damit wir der Sachen weder Zu Viel noch zu wenig tuhn möchten“. Dies sei nötig gewesen, „Weil man von vielen einiger Eigensinnigkeit beschuldiget worden, sampt tähte man der sache zu viel oder zu wenig, hetten wir diesem anzuhaltten, rathsamb erfunden, solches mit andern in Rath zu stellen“. Die Berliner wollten gerne Kopien, wenn es sein müsse auch die Originale der Responsa heraus geben, damit jedermann erkennen könne, dass „darinnen nichts, wieder Churfl. Durchl. Hoheit oder Geheime R[äte] enthalten, Sondern einig und allein, das zu Heilsame Information unsere gewißen enthalten“. Sollten die Berliner schließlich aufgefordert werden, die Edikte zu unterschreiben, sollten sie dies „mit freüdigem Hertzen“ abschlagen und später Diese Quelle befindet sich in der Forschungsbibliothek Gotha in einem Sammelband, der Dokumente von und über Samuel Lorentz enthält (FB Gotha Chart. A 281). Lorentz wurde nach seiner Entlassung in Berlin (vgl. 3.2.1.1 und 5.3.3.7) Pfarrer in Forst, was zu jener Zeit Teil des lutherischen Herzogtums Sachsen-Gotha-Weimar war. Das hier zu beachtende Konvolut, welches den Titel „Diarium Berolinense“ trägt, ist durch Lorentz selbst abgefasst worden. 85 Vgl. FB Gotha Chart. A 282, f. 4r–4v. 84
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schriftlich begründen. Abschließend sollten die Pfarrer darum bitten, „So etwas ferner in dieser sache müste gehandelt werden, [. . .] daß man unß anstand laße, bis nach Pfingsten, weil ein ieder künftige Woche, und gegen das fest volle arbeit ohne das hette“. Um die Beratungen abzuschließen, verfassten die Berliner am 27. April „in Conventu Ministery privato“ eine Schrift „Pro Informatione Advocati“86 . Wie sich später heraus stellen sollte, wurde ihnen die Bitte um einen Advokaten nicht gewährt. Die Schrift ist trotzdem von Bedeutung, da sie die Basis für das Verhalten und die Antworten der Berliner während der Verhandlung bildete. Des Weiteren verfassten die Berliner eine Schrift87, um ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Edikt theologisch begründen zu können. Darin benannten sie drei Punkte, „die unser[en] Gewissen beschwerlich fallen“. Zum ersten verneinten sie, dass eine mutua tolerantia gestiftet werden könne, da es zwischen Lutheranern und Reformierten keinen Konsens in den fundamentalen Glaubenslehren gebe. Stattdessen würde „ein recht großer Dissensus Fundamentalis sich finde[n], im Articulo de Universali Gratia Dei & merito Christi, ingleichen de Sacramentis, andrer itzo kürtze halbe zu geschweigen“. Zum zweiten müssten die Lutheraner auch weiterhin Schlussfolgerungen aus den reformierten Aussagen ziehen. Nur dann sei ersichtlich, „daß bey Vielen puncten noch die größte ambiguität obhanden, nur ein Exe[m]pl[um] anzu fangen daß die Taufe nicht nothwenidg sey, und im Abendmahl nicht schlecht brod und wein sey“. Zum dritten könnten die Lutheraner bei der Taufe nicht auf den Exorzismus verzichten, da dies „wieder unsere Christliche Freyheit läufft, und [. . . die Kinder] ohne den Exorcismo, nicht recht geteufft werden“. Auch über die Verhandlungen vor dem Konsistorium am 28. April fertigte Lorentz ein Protokoll an. 88 Gerhardt und seine Pfarrkollegen mussten zunächst nach ihrem Erscheinen im Konsistorium um 8 Uhr morgens zwei Stunden warten, bis die Verhandlungen begannen. 89 In dieser Zeit, in der in den Berliner Kirchen Gottesdienste stattfanden, welche die Pfarrer normalerweise hätten halten müssen, durften sie das Konsistorium nicht verlassen.90 FB Gotha Chart. A 281, f. 5r. Da die Berliner in ihren Antworten diese Schrift zum Teil sogar wörtlich aufnahmen (s. u.), wird sie hier nicht eigens wiedergegeben. 87 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 139r–139v. 88 Die folgenden Zitate der Verhandlung stammen aus FB Gotha Chart. A 281, f. 5v. Dieses Protokoll wird erstmalig in der Forschung ausgewertet und bildet die Grundlage für die folgende Darstellung der Ereignisse. 89 Die Verhandlungen, die der Geheime Rat in dieser Zeit geführt hat, sind protokolliert bei Meinardus: Protokolle VII/1, 266. 90 Dies scheint die Pfarrer besonders geärgert zu haben. Im Protokoll wird deutlich, dass Lorentz und Lubath gefragt hatten, ob sie in der Wartezeit die Gottesdienste abhalten dürften, was ihnen jedoch abgeschlagen wurde. Daher kam es dazu, so Lorentz, dass 86
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Um zehn Uhr erschienen dann neun Räte, von denen sieben schon am Kolloquium 1662/63 teilgenommen hatten: Die Reformierten von Schwerin, von Rhaden, Stosch und Schardius und die Lutheraner Reinhard, Seidel und Fromm. Dazu kamen der lutherische Oberkriegskommissar und Geheime Rat Claus Ernst von Platen (1612–1669) 91 und der lutherische Oberhofmarschall, Hofkammerpräsident und Geheime Rat Raban Freiherr von und zu Canstein (1617–1680) 92 . Von Schwerin leitete die Sitzung und warf den Berliner Pfarrern vor, dass „das Ministerium zu Berlin, wieder Verordnung sich unterfangen 1) das Churfl. Edict, de dato den 16. Septemb. 1665 [scil!] auf Unterschiedene Art Zur Censur Zuschiken, und solches wieder Unser Gebühr, von frembden judiciren und syndiciren lassen, welches alles Sie in högsten Ungnaden empfinden“93. Daher habe der Kurfürst befohlen, dass „daß Ministerium sofort solcher judiciorum Originalia Ihnen [zu] extradieren hetten“. Des Weiteren verlange er von allen Predigern die Unterschrift, die bereits viele Brandenburger Pfarrer geleistet hätten. Da sich die Verweigerer in ihrer Entschuldigung auf die Berliner bezogen hätten, „So were Churfl. Durchl. ernsterer befehl, das Minister. Berlin. Von Stund an, demselben unterschreiben solten“. Von Schwerin drohte, dass „Churfl. Durchl. keinen einigen prediger im Lande leiden, der nicht subscribiren wollte“. Daher sollten die Berliner Pfarrer an diesem Tage „beyden puncten sofort ein genügen tuhn, 1) die Originalia Judiciorum extradieren. 2) dem Edict unterschreiben“. Für die Berliner antwortete Propst Lilius, indem er fast wörtlich die von allen Pfarrern vorbereitete Schrift „Pro Informatione Advocati“ aufnahm: Die Berliner hätten den kurfürstlichen Befehl erhalten und verlesen. Trotz vieler derzeitiger Pfarramtsverpflichtungen seien sie vollzählig erschienen. Sie wollten das kurfürstliche Edikt nicht „Syndicieren und Censuriren lassen“, sondern hätten Responsa eingeholt „a) ad informandam & confirmandam Conscientiam. b) Zur entschuldigung beschuldigter Eigensinnigkeit. c) Zur versicherung das der wichtigen Kirchen-Sache weder Zu Viel, noch zu wenig geschehe. d) dergleichen ohne dem beyden Kirchen, ja auch der Reformirten selbst, bräuchlich, sich auf der Consistorium Exterorum Zu gebrauchen“. Des Weiteren bat Lilius darum, lediglich Kopien der Responsa abgeben zu müssen. „in ieder Kirche 4 gesänge gesungen, da aber kein prediger kommen können, und den armen leuten mit trähnen aus der Kirche gegangen“. 91 Vgl. zu ihm Zedler 28 (1741); Bahl: Hof, 554 f. 92 Vgl. zu ihm Zedler 5 (1733), 306; B. Erdmannsdörffer: Canstein, Raban Freiherr von, ADB 3 (1876), 765; K. Aland / H. Saring: Art. Canstein, Freiherren v., ursprünglich westfäl. Adelsgeschlecht, NDB 3 (1957), 126 f.; Bahl: Hof, 449 f. 93 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus FB Gotha Chart. A 281, f. 6r.
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Im Folgenden stellte er klar, dass die Berliner Pfarrer das Edikt nicht unterschreiben würden. Sie seien „in Gottes Nahmen bereit, alles über sich ergehen zu lassen, nach dem willen Gotteß, ehe daß geringste wieder sein beßeres wissen und gewissen auf sich zu nehmen“94. Jedoch hofften sie, „unter der Gnädigsten Churfl. Durchl. Obrigkeit ein stilleß und geruhiges leben, bey seinem Glauben, und gutem gewissen zu führen, in aller Gottseligkeit und Erbarkeit“. Abschließend fragte Lilius, ob die Berliner nach Pfingsten ihre Gründe schriftlich darlegen dürften. Der Kurfürst möge „ümb Gottes Barmhertzigkeit willen unser mit der Subscription [. . .] verschonen, zumahl wir bisher nichts wieder das Edict nach dem Gewissen gehandelt“. Der Propst war der Meinung, dass der Kurfürst dies und die angekündigte Protestation den Berlinern gewähren könne, zumal sie auch keinen von ihnen gewünschten Advokaten bekommen hätten. Die Geheimen Räte waren anscheinend von dieser Antwort überrascht und ordneten eine Verhandlungspause ohne die Berliner an, um in Ruhe über die Antwort beraten zu können. Nachdem die Pfarrer wieder in den Raum gekommen waren, verkündete von Schwerin, dass auf jeden Fall gemäß dem kurfürstlichen Befehl die Originale der Responsen abgegeben werden müssten. Auch die Unterschrift unter das Edikt könne nicht länger aufgeschoben werden. Wenn die Berliner wirklich aus Gewissengründen nicht unterschreiben könnten, so „solten Sie sofort Ihre rationes einbringen. [. . .] Sie musten sich sofort resolvieren“. Aus dem Protokoll wird ersichtlich, wie stark sich von Schwerin über die Haltung der Berliner Pfarrer ärgerte: „Hier ward der FrH Von Schwerin sehr hitzig, und fing an zu impotunieren [= schroff reden], das Unser Ministerium allein dem Edict wolte wiedersprechen, da sich doch kein eintziger im Landes deßen unterstanden hette“. Raban von Canstein erläuterte sachlich, dass durch das Edikt nicht der lutherische Glaube eingeschränkt werden sollte, sondern der Kurfürst lediglich intendierte, „das unchristliche Lästern, Verdammen etc. auf zuheben“95 . Da von Canstein selber Lutheraner sei, müsse er „frey bekennen, das Er als Unsre Religion beygetahn nichts befinden in dem Edicto, was unser conscientz zu nahe were“. Daraufhin zogen sich die Berliner zu einer kurzen Beratung zurück, nach der Lilius dem Protonotar Schardius die Originale der von den Berlinern eingeholten Responsa übergab.96 Anschließend verlas Helwig eine Erklärung zur Erläuterung ihrer Gewissensgründe, die im Wesentlichen die durch Lubath Dieses und die folgenden Zitate stammen aus FB Gotha Chart. A 281, f. 6v. Dieses und die folgenden Zitate stammen aus FB Gotha Chart. A 281, f. 7r. 96 Lorentz bemerkte im Protokoll, dass die Berliner Pfarrer auch die von den Frankfurtern eingeholten Responsa übergeben wollten, was der Rat jedoch ablehnte. Die Berliner haben die Originale nicht zurückbekommen. 94 95
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am 28. April abgefasste theologische Begründung der Ablehnung des Edikts war und die die bekannten Positionen aus dem Kolloquium wiederholte. Die Berliner könnten das Edikt nicht unterschreiben, da darin eine Toleranz gefordert sei. Diese sei jedoch nicht mit ihrem Gewissen vereinbar, da zwischen den Lehren der Lutheraner und der Reformierten „ein recht großer Dissensy Fundamentalis sich finde“, der vor allem die Lehren „de Universali gra[ti]a, & Merito Christi. Imgleichen de Sacramentis“ sowie daraus folgende Konsequenzen betreffe. Viele falsche Lehren würden von den Reformierten „publicis Confessioniby geführet“97, bei den sich wiederum unter den Reformierten viel „ambiguität“ [= Zweideutigkeit/Verwirrung] finden würde. Schließlich würden auch die Ausführungen zum Exorzismus verhindern, dass die Berliner das Edikt unterschreiben könnten. Nach Rückfrage durch von Schwerin erläuterte Helwig, dass der Exorzismus zwar ein Adiaphoron sei, doch „Canon Ecclesia est: In statu Confessionis Adiaphora sunt necessaria“98 . Stosch entgegnete, dass von einem „Status Confessionis“ nur gesprochen werden könne, wenn man es mit „Adversariis [= Widersachern/Feinden] Zutuhn hette: Ob der Churfürst unser Adversary sey?“ Diese Frage verneinte Reinhardt, betonte aber, dass die Reformierten, „der Herr, (ad Stoschum) und seines gleichen, die wieder uns lehren, seind Dieses und die folgenden Zitate stammen aus FB Gotha Chart. A 281, f. 7v. Hiermit spielte Helwig auf eine Grundsatzentscheidung der lutherischen Lehrbildung an, die in der FC fixiert wurde: Kaiser Karl V. zwang den Protestanten nach ihrer Niederlage im Schmalkaldischen Krieg 1548 das Augsburger Interim auf, das wichtige rekatholisierende Maßnahmen enthielt. Darin wurde unter anderem bestimmt, liturgische und kirchenrechtliche Gestaltungselemente wieder einzuführen, die im Zuge der Reformation weggefallen waren. Viele protestantische Fürsten hatten sich daraufhin zu Zugeständnissen hinsichtlich des äußeren Ritus bereit erklärt. Melanchthon warb dafür, sich um des inneren Friedens willen dem Interim zu unterwerfen, da die geforderten Auflagen Adiaphora und somit nicht heilsnotwendig für den Glauben seien. In den folgenden drei Jahrzehnten kam es zum so genannten ersten ‚Adiaphoristischen Streit‘, als eine Gruppe von Gnesiolutheranern um Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) und Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) Melanchthon mit der Auffassung „Nihil est adiaphoron in casu confessionis et scandali [= Es gibt keine Adiaphora im Bekenntnis- und Konfliktfall]“ (BSLK, 1057 Anm. 2) widersprachen. Sie argumentierten, dass der wahre Glaube ohne jede Kompromisse und somit inklusive der Adiaphora bekannt werden müsse, wenn seine Existenz bedroht werde. Letztendlich bestätigte FC X weitestgehend den theologischen Grundsatz der Gnesiolutheraner: Adiaphora seien weder heilsnotwendig noch Bedingung von Kirchengemeinschaft. Die Affirmativa der Epitome schränkt ein: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß zur Zeit der Verfolgung, wann ein runde Bekenntnus des Glaubens von uns erfordert, in solchen Mitteldingen den Feinden nicht zu weichen [. . .] Dann in solchem Fall ist es nicht mehr umb Mittelding, sondern umb die Wahrheit des Evangelii [. . .] zu thun“ (BSLK 815, 6–25; vgl. dazu auch die Ausführungen der FC SD in BSLK, 1053–1059). Vgl. zum Adiaphoristischen Streit J. Mehlhausen: Der Streit um die Adiaphora, in: Brecht / Schwarz: Bekenntnis und Einheit, 105–129. 97
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
unsre adversarij“. Dies veranlasste von Schwerin zu einer Reaktion voller Zorn, die zum einen zeigt, wie angespannt die Situation war, und zum anderen deutlich macht, dass von Schwerin keineswegs der immer diplomatische und besonnene Staatsmann war, als der er in der Forschung in der Regel beschrieben wird. Von Schwerin sprach zu Reinhardt: „Ihr dürftet dem Churf. Vor sei Angesicht nicht kommen, und wolt hier das große Maul haben, Ihr wiegelt alle eure Collegen auf, Ich sage, haltet das Maul biß Ihr werdet gefraget werden! Wir wollen Von keinem adversarys wissen, sondern Freunde solt Ihr sein!“ Nachdem die Räte eine Verhandlungspause anberaumt hatten, wurden nur Lilius und Reinhardt in den Verhandlungsraum gefordert.99 Von Schwerin machte seine Drohungen wahr und enthob beide im kurfürstlichen Namen ihres Amtes. Zum Abschluss der Vorladung wurde, so vermerkte es Paul Gerhardt, der das Protokoll zu Ende geführt hatte, den Berliner Pfarrern angedeutet, „wir solten in zwischen den gottesdienst bestellen. So wir aber in gewisser Zeit noch nicht würden bedenken, und subscribieren, würde uns dergleichen wiederfahren“. Die Verhandlungen waren für die Berliner Pfarrer mit einer Katastrophe zu Ende gegangen, die jedoch nicht überraschend kam. Wie in den Vorverhandlungen ersichtlich wurde, hatten sich die Berliner Pfarrer ganz bewusst zu diesem Schritt entschieden. Trotz allen Ärgers dürfte dem Kurfürsten und besonders von Schwerin die Entlassung Reinhardts nicht ungelegen gewesen sein. Durch dessen Weigerung hatte sich die Möglichkeit ergeben, denjenigen Pfarrer zu entlassen, der als hauptsächlicher Querulant gegen die kurfürstliche Religionspolitik angesehen wurde. Die Pfarrer wehrten sich umgehend gegen die Maßnahmen der Räte. Noch am selben Tag schrieben die vier nicht entlassenen Prediger Gerhardt, Lorentz, Lubath und Helwig einen Brief an den Berliner Magistrat.100 Darin beteuerten sie, dass sie „mit gutem Gewißen nicht unterschreiben können“ und baten die Stadtverordneten eindringlich, „sie wollen sich hierinn unser aller als Patronen annehmen, und bey Sr. Churfl. Durchl. intercedendo demüthiglich einkommen, damit diese unsere Herren Collegen mögen ohne subscription restituiret werden“. Aus Lorentz Aufzeichnungen gehen weiterhin Begebenheiten der folgenden zwei Tage hervor. Nachdem die Amtsenthebung des Propstes in der Stadt be99 Diese Information und die folgenden Zitate stammen aus FB Gotha Chart. A 281, f. 8r. 100 Dieser Brief war der Forschung bereits bekannt, vgl. die Abschriften in GStA PK Rep. 47 Tit. 19, f. 13r–15v; GKl Archiv XII/90/1, f. 219r–219v; GKl Archiv XII/90/2, f. 153v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 375 f.; Langbecker: Gerhardt, 107 f.
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kannt geworden war, schrieb Conrad Tiburtius Rango (1639–1700) 101 einen Brief an Lilius, in dem er ihm „de Corona Martyrii“ gratulierte und anfragte, ob er noch am 30. April vor Lilius predigen dürfte, obwohl dieser nun „removiret [sei], und nun keine macht hette Vocationem Charitativum zu geben“. Lilius antwortete Rango, dass er die Predigt wie geplant halten solle, denn schließlich bestehe hinsichtlich seiner Amtsenthebung „noch spes restitutionis [= Hoffnung auf Wiedereinstellung]“. Woher Lilius diese Hoffnung auf eine Wiedereinsetzung in sein Amt nahm, ist nicht bekannt. Möglicherweise hatten ihm bereits die Räte bei der Remotion angedeutet, dass er durch einen eigenen Revers wieder eingestellt werden könnte. Am 29. April wurden die Berliner Pfarrer um sechs Uhr morgens in das Haus von Cansteins gebeten, in dem sie auf die weiteren lutherischen Räte von Platen, Reinhard, Seidel und Fromm trafen.102 Zunächst ergriff von Platen das Wort und sprach im Namen aller Räte zu den Berlinern. Sie sollten „doch die wolfahrt unser Kirche betrachten, und sehen, ob wir dieselbe verlassen könten“. In ihrer Situation gebe es nur zwei Möglichkeiten: „Es müste entweder Churfl. Hoheit und Autoritat fallen, oder wir müsten unterschreiben“. Da die kurfürstliche Autorität unmöglich fallen könne, hätten die Berliner keine andere Wahl als zu unterschreiben. Die lutherischen Räte hatten das Dilemma deutlich ausgesprochen, dass sich für die Berliner Pfarrer Obrigkeitsgehorsam und die Ausübung ihres Amtes ohne Belastung des Gewissens nicht mehr zusammen bringen ließen. Die Geistlichen mussten bei ihrer Entscheidung bedenken, dass sie nur dann ihre Pfarrstelle behalten und im Land bleiben dürften, wenn sie gehorsam gegenüber dem Kurfürst wären und die Reverse unterschreiben würden. Reinhardt erläuterte im Namen der Berliner Pfarrer, dass bei der Unterschreibung des Edikts verschiedene Gefahren bestünden. Zum einen würde 101 Rango, am 9. August 1639 in Kolberg/Pommern geboren, besuchte Schulen in Belgrad und Halle. Nach seinem Studium in Jena, Gießen und Wittenberg (zunächst Medizin, später Theologie) und kurzen Aufenthalten in Frankfurt/Oder und Magdeburg wurde er 1663 Rektor des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin. 1668 erhielt er die Berufung zum Philosophieprofessor an das ‚Karolinum‘ zu Stettin, von wo er jedoch später wegen eines Streites mit seinem Vorgesetzten über Synkretismusvorwürfe entlassen wurde. 1680 wurde er zunächst Diakon an der Stettiner Jakobikirche, dann an der Nikolaikirche. 1689 erhielt er eine Theologieprofessur in Greifswald und wurde Präsident des Konsistoriums und General-Superintendent von Pommern und Rügen. Bis zu seinem Tod 1701 nahm er an diversen theologischen Auseinandersetzungen teil und verfasste zahlreiche Streitschriften. Vgl. Zedler 30 (1741), 806–809; Diterich: Schul-Historie, 189–192; Heidemann: Geschichte, 163–166; T. Pyl: Art. Rango, Konrad Tirbutius R., ADB 27 (1888), 230–232; L. Noack: Art. Rango, Cunradus (Conrad) Tiburtius, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Berlin-Cölln 1640–1688, 317–333. 102 Diese Information und die folgenden Zitate stammen aus FB Gotha Chart. A 281, f. 8v.
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durch die Tolerierung reformierter Lehren das Gewissen belastet, zum zweiten das Seelenheil der Gemeindeglieder gefährdet werden und zum dritten wäre der gute Ruf der Berliner bei auswärtigen Theologen und Gemeinden in Gefahr. Daraufhin schlug von Platen vor, dass die Pfarrer „mit einem Untertähnigstem Supplicato einkommen [sollten], und [. . .] so viel möglich, Zu Untertahnigste, gehorsam erbieten“. Des Weiteren sollten sie „einen Revers aufsetzen und in demselben die Formulam Concordia (von welcher M. S. Lorentz zureden angefangen, das durch das Edict Sie Ihnen genommen würde) ausdrücklich benennen“. Die Räte sicherten ihre Unterstützung zu und hofften, dass die Berliner bereit seien, sich „wieder auszusöhnen“. Zum Abschluss des zweistündigen Treffens sagten die Berliner zu, alles zu tun, „was immer vor Gott und Unserm Gewißen müglich were“. Ob die lutherischen Räte aus Eigeninitiative oder auf Befehl des Geheimen Rates oder des Kurfürsten handelten, lässt sich nicht nachvollziehen. Dass sie jedoch bei den Berliner Pfarrern eher die Chance hatten, etwas zu erreichen, als der gesamte Rat, lag auf der Hand und zeigte sich auch an dem im Vergleich zum Kolloquium verhältnismäßig entspannten Ton der Unterredung. Am selben Tag wurden die Berliner Magistratsmitglieder vor den Geheimen Rat gefordert, wo Friedrich Wilhelm persönlich seine bisherigen Entscheidungen erläuterte. Um 11 Uhr wurden die Berliner Pfarrer auf das Rathaus bestellt, wo ihnen Bürgermeister Zarlang berichtete, das dem Magistrat alles Vorgefallene vorgetragen und ihm aufgetragen wurde, für die Entlassenen neue Pfarrer anzustellen. Die Geistlichen erläuterten ihr Verhalten und kündigten weitere Schriften an den Kurfürsten an.103 Alle Berliner Pfarrer erarbeiteten kurze Zeit später in der Sakristei der St. Nicolai-Kirche ein Supplicatum104 , welches sie am selben Tag an den Kurfürsten absendeten. Darin versprachen sie, sich künftig an die Bestimmungen des Edikts zu halten. Sie könnten die Reverse jedoch nicht unterschreiben, da sie „noch unterschiedene Dubia und Gewissenskrupel dabei befänden, welche sie punktweise berühren und ehist unterthänigst einschicken“ würden. Sie baten zudem den Kurfürsten, dass er ihnen „nicht wenigere freyheit ferner in allen unsern Kirchen Actibus und christlichen Ceremonien“ ließe. Die Stadtverordneten gingen auf die Bitte der vier Berliner Pfarrer vom Tag zuvor ein und sandten am 29. April einen Brief105 an den Kurfürsten, in dem sie noch einmal die Position der Berliner Pfarrer dargelegten. Die Geistlichen Vgl. FB Gotha Chart. A 281, f. 9v. Dieses Supplicatum, welches der Forschung bereits bekannt war, befindet sich in GStA PK Rep. 47 Tit 19, f. 11r–12r; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/1, f. 199r–200r, GKl Archiv XII/90/2, f. 152v–153r und FB Gotha Chart. A 281, f. 9r–9v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 376 f.; Langbecker: Gerhardt, 111–113. 105 Vgl. GStA PK Rep. 47 Tit 19, f. 13r–15v; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 103
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hätten nie gegen die Edikte von 1662 und 1664 gehandelt und die Responsa lediglich „Privati [. . .] zu tranquillirung ihrer eigenen Gewissen“ angefordert. Da sie sich allezeit an die Bestimmungen des Edikts gehalten hätten, baten sie, dass der Kurfürst „den Anfang mit der Subscription an Sie [. . .] nicht würden machen laßen“. Auch die Reformierten hätten bis dato die Reverse noch nicht unterschrieben. Der Magistrat war der Meinung, dass die Pfarrer wohlmeinend seien, sich jederzeit dem Edikt gemäß verhalten würden und nur deswegen nicht unterschrieben hätten, um weder ihr Gewissen zu beschweren, noch „sich bey Ihren Zuhörern Und so viel Auswärtigen Kirchen gantz verdächtig [zu] machen“. Daher bat er abschließend, „daß der Gehorsam nicht so wol in subscriptione et litteris, alß in Animo et facto beruhe“. Der Kurfürst antwortete noch am selben Tag,106 dass er in dem Brief der Berliner keinen Obrigkeitsgehorsam erkennen könne. Daher befahl er dem Magistrat, an Stelle der Entlassenen andere Prediger zu berufen. Dieser ließ sich jedoch Zeit, wie eine Erinnerung des Geheimen Rates vom 4. Oktober belegt.107 Am 1. Mai übersandten die Berliner dem Kurfürsten einen Brief108 , dem die bereits angekündigten „Gewißens-Scrupel“109 angehängt waren. Darin zählten sie in vierzehn Punkten ihre „dubiis bey denen [reformierten] Lehrstücken [auf,] wie dieselben eingerichtet werden im jüngsten Edict 1664“. Die Berliner wünschten sich, dass die Reformierten diese „Gewissens-Scrupel“ beantworten würden, damit jedermann erfahren könne, „wie nahe oder ferne Sie [= die Reformierten] [. . .] andern ihren Glaubensgenossen aus diesen Landen Kommen mögen“. Die vierzehn Punkte beinhalteten im Wesentlichen eine Wiederholung der üblichen lutherischen Vorwürfe gegen die Brandenburger Reformierten hinsichtlich der Sakramenten-, Prädestinations-, Sünden- und Tauflehre sowie der Christologie und waren weder geeignet, die lutherischen Gewissensbedenken näher zu erläutern, noch den Kurfürsten von der Unterschriftsforderung abzubringen. Dessen Antwort ist zwar nicht er153v–154v und GKl Archiv XII/90/1, f. 201r–202v und FB Gotha Chart. A 281, f. 12r– 12v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 377 f.; Langbecker: Gerhardt, 108–110. 106 Vgl. GStA PK Rep. 47 Tit 19, f. 16r; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 154v– 155r und FB Gotha Chart. A 281, f. 12v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 378 f.; Langbecker: Gerhardt, 113. 107 Vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 297 f. 108 Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 203r und GKl Archiv XII/90/2, f. 152r; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 114. 109 Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 147r–150v und FB Gotha Chart. A 281, f. 10r–11v; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 114–120. Die sich in GKl Archiv XII/90/2, f. 213r–259v befindenden Voten zu den Berliner „Gewißens-Scrupel[n]“ zeigen, wie genau in der Brandenburger Geistlichkeit der Berliner Kirchenstreit verfolgt wurde. Vgl. dazu 5.3.2.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
halten, muss jedoch kurz und ablehnend gewesen sein, wie aus den folgenden Briefen der Berliner an den Kurfürsten deutlich wird.110 Enttäuscht über die Reaktion Friedrich Wilhelms beteuerten die Berliner in ihrem Brief111, dass sie weder den Reformierten die lutherische Lehre aufdrängen noch dem Kurfürsten „einiges Ziel oder Maaß vorschreiben“ wollten. Stattdessen versicherten sie, dass sie sich künftig in Wort und Tat an die Bestimmungen des Edikts halten und „nichts unterlaßen werden, was zu einer Gott Wohlgefälligen, und auf dem Grunde der Wahrheit erbaueten tolerantz ersprießlich seyn wird“. Die Wortwahl des Briefes zeichnete sich zwar durch Demut und Ergebenheit aus, brachte inhaltlich aber keine neuen Akzente. Bemerkenswert ist, dass die Berliner das Wort „Toleranz“ zur Beschreibung eines möglichen Verhältnisses zwischen den Konfessionen gebrauchten. Alles deutet darauf hin, dass dies keine bewusste Wortwahl war, sondern als Synonym für ‚mutua tolerantia‘ oder ‚Tolerierung‘ gebraucht worden war. Desgleichen schrieben die Berliner Pfarrer am 13. Mai einen Brief112 an Friedrich Wilhelms Ehefrau, Luise Henriette von Oranien, und baten – in Sprache und Ausdruck milder als in allen vorherigen Berliner Schriften – sie, „durch Ihr Wohlangenehmes und höchst zuverläßiges Churfürstl. Wort, Sr. Churfl. Durchl. [. . .] uns als Dienern Gottes und dero getreüen Vorbittern in Gnaden wieder zu gethan zu machen“. Die Berliner waren sich der Ernsthaftigkeit ihrer Situation bewusst und wollten jede Möglichkeit nutzen, die Gnade des Kurfürsten wiederzuerlangen. Zwar antwortete die Kurfürstin nicht schriftlich, doch ist es gut möglich, dass unter anderem ihre Fürsprache dafür sorgte, dass Friedrich Wilhelm wiederholt zur Situation in Brandenburg öffentlich Stellung bezog.
5.1.7 Exkurs: Gerhardts Votum zum Revers Als Beitrag zur Diskussion um die Unterschriftsforderung unter den Revers erarbeitete Gerhardt ein ausführliches Votum113 , welches bemerkenswerte Zuvor hatte sich Lorentz intern beklagt: „Auf die Scrupulos, od 14 Puncta hatt dem Ministerio Berlinensi niemand andworten wollen“ (FB Gotha Chart. A 281, f. 11v). 111 Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 156r–156v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 382; Langbecker: Gerhardt, 120–122; teilweise auch bei Meinardus: Protokolle VII/1, 271 f. 112 Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 156v–157r und FB Gotha Chart. A 281, f. 15r; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 383; Langbecker: Gerhardt, 122 f. 113 Vgl. Gerhardts Autograph in GKl Archiv XII/90/1, f. 139r–144v und die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 160r–164v. Das Votum war der Forschung bisher ebenfalls unbekannt. 110
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Parallelen114 zu seinem Votum über das zweite Toleranzedikt aufweist. Möglicherweise sah sich Gerhardt zur Abfassung eines neuen Votums gedrängt, da der Kurfürst mittlerweile tatsächlich durch die Reverse eine Zusicherung der Geistlichen gefordert hatte, sich an die Bestimmungen des Edikts zu halten. Auch in dem im Folgenden zu behandelnden Votum stellt Gerhardt an einigen Stellen grundsätzliche theologische Überlegungen an, die seine Ablehnung der kirchenpolitischen Maßnahmen begründen. Gerhardt legt in seinem undatierten115 Votum ausführlich die Gründe dar, warum er das zweite Toleranzedikt bzw. den Revers nicht unterschreiben könne. Aus seinen Ausführungen wird deutlich, dass Gerhardt erwartet, dass er bald persönlich zur Unterschrift aufgefordert werden würde. Ähnlich wie im zuvor erwähnten Votum zum Edikt argumentiert Gerhardt nicht für sich oder die Berliner Pfarrer, sondern ganz allgemein für alle Lutheraner. Im ersten Teil entfaltet Gerhardt in sechs Punkten, welche Konsequenzen die Unterschrift unter das Edikt für einen Lutheraner hätte. Im zweiten Teil beurteilt Gerhardt kritisch die theologischen Implikationen des Edikts. Gerhardt ist der Meinung, dass die Lutheraner erstens einen Synkretismus zulassen müssten, wenn sie das Edikt oder den Revers unterschrieben. Dieser sei gleichzusetzen mit der im Edikt geforderten ‚mutua tolerantia; die bedeute nämlich, dass die Lutheraner die Reformierten als Brüder in Christus, als „glaubens und Religions Verwandte, Unnd gliedtmassen einer Kirchen halltten sollen“. Das Edikt verlange somit etwas, was die Berliner während des Kolloquiums erfolgreich abgewehrt hätten. Die Unterschrift unter das Edikt hätte zudem zur Folge, dass die Berliner auch den Kirchenfrieden fördern müssten. Dieser beinhalte jedoch „die Einigkeit der Glaubensbekentnüße, das hin füro nicht mehr zw[ei], sondern nur eine Religion im Land sein soll“. Somit müssten die Lutheraner ihre eigene Konfession zu Gunsten der Reformierten aufgeben. Zweitens dürften die Lutheraner die Reformierten nicht mehr mit Beinamen versehen.116 Da die Reformierten jedoch die FC beschuldigten, müssten die Lutheraner dulden, dass die FC „vor ein schandt-schmach Unnd lesterbuch Unnd all die dapffern leute geistliches und weltliches Standes auch gantze Völker lander Unndt Städte, die sich jemahls zu dieser Formula bekennet, 114 Die Parallelen betreffen hauptsächlich den Inhalt der beiden Voten, nicht jedoch sprachliche Wendungen. 115 Da Gerhardt sowohl die durch die Berliner Lutheraner eingeholten Responsen als auch die Reverse thematisiert, jedoch die Entlassung Reinhardts und Lilius’ noch nicht erwähnt, ist davon auszugehen, dass Gerhardt das Votum vor dem 27. April 1665 verfasst hat. 116 Gemeint sind hiermit unter anderem die Beinamen ‚Calvinisten‘, ‚Zwinglianer‘ und ‚Sacramentirer‘.
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vor injuriantes, calumnianten obtrectantem“ gehalten werden. Gerhardt ist jedoch der Meinung, dass die Beinamen nicht falsch, sondern notwendig seien, und dass die Beschuldigungen der Reformierten gegen die FC nicht zutreffen würden. Eine Unterschrift unter den Revers hätte drittens zur Folge, dass die Unwahrheit der reformierten Lehre künftig nicht mehr aufgezeigt werden dürfe. Damit aber würde ihr der „greuliche[ ] Anblick genommen, Und Ihr dagegen eine liebe angenehme gestallt gemachet werde, Alls wehre nun da alles durch U. durch lautter Lutherisch, Unnd dürfte kein Mensch mehr bedencken tragen solche religion anzunehmen“. Zum vierten würden sich die Lutheraner verpflichten, „das[s] wen[n] wir was böses und gottloses aus den Reformirten Hypothesi folgen sehen, wir ihnen dennoch solches nicht alls eine frucht Ihrer Lehr Zuschreiben wolltten“. Ursache dieser Forderung sei, dass die Reformierten genau wüssten, dass ihnen die Folgen ihrer Hypothesen „zum schlechten Vortheil gereiche“. Die Lutheraner könnten sich jedoch nicht damit einverstanden erklären, ganz auf die Logik, die „eine sonderbare schöne Unnd auß erlesene Gabe Gottes“ sei, zu verzichten. Fünftens müssten die Lutheraner Synkretisten unterstützen und sie der Gemeinde empfehlen. Synkretisten bekennten sich zum Luthertum, würden aber zu Gunsten der Reformierten handeln. Da sie in der Vergangenheit „mehr zerstöret [und] verwüstet“ als Friede gebracht hätten, seien sie daher „der werthen Christenhait nicht wenig schedlich U[nd] gefehrlich“. Sechstens würden die Lutheraner zu denjenigen gehören, die den Exorzismus als eine „Abergleübische, Abgöttische Zauberische Gotteslesterliche Antichristliche Ceremoni hallten“ und ihn folglich abschaffen wollten. Dies sei jedoch eine Sünde und widerspreche der Wahrhait des Evangeliums. Gerhardt kommt zu dem Schluss, dass das Edikt auf keinen Fall unterschrieben werden könne. Sollten die Berliner dies doch tun und sich andere Pfarrer ein Beispiel daran nehmen, würde dies „eine unheylbahre tödtliche Wunde in Unser Gewißen schlagen [, . . .] Wir würden die Zeit unsers Lebens keinen fröhlichen tag U stunde haben können, Gottes Zorn Unnd Ungnade würde und schrecken, so lange ein lebendiger odhem in uns wehre“. Im „Appendix rationum circa Edictis Electorale“, dem zweiten Teil des Votums, argumentiert Gerhardt stärker theologisch und listet fünfzehn Punkte auf, die gegen eine Unterschrift sprächen. Erstens habe bereits Johann Sigismund erkannt: „in Gottes Sachen gellten keine reverse“. Zweitens wäre eine Unterschrift gegen das Ziel der Edikte gerichtet, da diese doch politische Ordnungen seien, die eigentlich keinen Druck auf die Kirche ausüben dürften; genau dies geschehe aber. Drittens könnten die Berliner nur dann zu einer Unterschrift gedrängt werden, wenn das Edikt entweder das Ergebnis eines
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Vertrages oder als Bestrafung zu verstehen sei. Jedoch hätten weder Verhandlungen stattgefunden, noch seien sich die Berliner einer Schuld bewusst. Viertens unterscheidet Gerhardt Formen von Toleranz: Zu einer „Tolerantia [. . .] Politica“ seien die Berliner ebenso bereit wie zu einer „Tolerantia [. . .] Eccl[esi]astica externa alls anhörung Gottlichs worts“. Einer Tolerantia Ecclesiastica ‚interna‘, die einen Konsens in den heilsnotwendigen Glaubenslehren beinhalte und durch die Reformierten und das Edikt gefordert werde, könnten die Lutheraner aus Gewissensgründen jedoch nicht zustimmen. Fünftens sei eine Toleranz nicht möglich, da sich die Lutheraner ihrem Gewissen nach nicht so verhalten könnten, wie es das Edikt vorschreibe. Sechstens würde der durch die Unterschrift unter das Edikt erlangte Synkretismus eine neue Religion hervorrufen, welche durch die Jesuiten verfolgt würde. Dies könnte die Position der Protestanten gegenüber den Katholiken verschlechtern. Siebtens dürften die Lutheraner aus Gewissensgründen nicht verleugnen, dass die Reformierten „Calvini, Zwingli etc. errores haben in Confessioniby“. In den folgenden neun Punkten thematisiert Gerhardt chronologisch diejenigen Lehrinhalte, welche die Lutheraner den Reformierten laut des Edikts nicht mehr vorwerfen dürften. Gerhardt versucht darzulegen, dass die lutherischen Beschuldigungen tatsächlich der Wahrheit entsprechen würden.117 117 Zur leichteren Nachvollziehbarkeit der Gerhardtschen Argumente sei hier nochmal der bezugnehmende Teil aus dem Edikt wiedergegeben: „Dannenhero/und weil die Reformirten es billig für injurien halten/und schmertzlich empfinden/wann man [. . .] ihnen beymessen wil/daß sie lehren/ daß man in Religions- und Glaubens-Sachen die Sinnen und die Vernunfft zur Regul und Richtschnur des Glaubens setzen, und was damit nicht reime, verleugnen solle: Daß Gott den grössesten Theil der Menschen, ohn alles Ansehen der Sünde, der Unbußfertigkeit und des Unglaubens zur ewigen Höllenpein, etliche aus blossem Wolgefallen, ohne Ansehung Christi und des Glaubens, erwehlet habe; Und daß die Auserwehlten mögen leben, wie sie wollen, so können sie dennoch nicht verloren werden, Daß Gott eine Ursache der Sünde sey: Daß keine wirkliche Gemeinschafft der beyden Naturen und Eigenschafft in Christo sey, oder, daß nur ein blosser Mensch für uns gestorben, oder daß Christus im Himmel, als in einem Gefangniß, eingeschlossen, oder, daß nicht der gantze Christus bey uns sey, oder, daß Christus keines weges für alle Menschen gestorben sey: Daß Gott nicht alle, die durch das Evangelium beruffen werden, ernstlich und treulich, sondern nur zum Schein beruffe, damit ihr Verdamniß desto größer werde: Daß die heiligen Sacramenta nur blosse Zeichen, Fürbilder und Bedeutungen, und daß die Tauffe nicht notwendig sey: Daß die Worte Christi: Das ist mein Leib, etc. nicht für wahrhafftig zu halten, und daß im heiligen Abendmahl schlecht Brodt und Wein, und also leere Hülsen ohne Kern seyn: Daß die Reformirte ein anders im Hertzen glauben, ein anders im Munde führen“ (zitiert nach GKl Archiv XII/90/1, f. 136r).
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Beim achten Punkt („de ratione humana“) zeigt Gerhardt an Hand der Ubiquitätslehre auf, dass die Reformierten doch die Vernunft als Grundlage des Glaubens setzten, indem sie behaupten, die menschliche Natur Christi könne nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein. Im neunten Punkt („de praedestinatione“) weist Gerhardt darauf hin, dass gegenüber dem Edikt von 1664 die Confessio Sigismundi jene reformierte Auffassung belege, dass Gott alle diejenigen von Ewigkeit übersehen und zum Höllenfeuer bestimmt habe, die nicht an Christus glauben würden. Beim zehnten Punkt („de omnipraesentia Christi hominis“) bemerkt Gerhardt, dass das Edikt von 1664 wiederum verneine, was die die Confessio Sigismundi bestätige und auch die Reformierten lehrten: „das Christus nach der Natur, nach welcher [er] gen Himmel gefahren, U[nd] Von dannen wieder kömen wird, ohne Vertilgung Ihrer eigenschafft auch in der höchsten glori wesendlich nicht kann überall sein“. Beim elften Punkt („de morte Christi“) hebt Gerhardt das Ergebnis der Dordrechter Synode hervor, „das Christus keines weges fur alle gestorben“ sei. Im zwölften Punkt („de vocatione ommines“) weist er erneut auf einen Widerspruch zwischen dem Edikt von 1664 und der Confessio Sigismundi hin. Dieses verneine, „das Gott nicht alle die durchs Evangelium berufen werden, ernstlich U treulich, sondern nur zum Schein beruffe, Unnd Confessio Anno 14 affirmat, das allen Menschen Unwißend, zu welcher Zeit Gott die Seinen kräfttiglich beruffe“. Nach dieser reformierten Vorstellung werde Gott nicht alle anderen Menschen ernsthaft berufen. Gerhardt betont beim dreizehnten Punkt („de necessitate baptism:“), dass das Edikt das reformierte Verständnis leugne, nach dem die Taufe ein bloßes Zeichen, für die Nichterwählten unnütz und somit nicht heilsnotwendig sei, was die Confessio Sigismundi jedoch bejahe. Vierzehntens („de sacra coena“) verneine das Edikt, dass die Reformierten im Heiligen Abendmahl lediglich das Essen von Brot und Wein lehren würden. Die Confessio Sigismundi bestätige jedoch die reformierte Lehre, „das die Ungläubigen des wahrhafftigen Leibes U bluthe Jesu Christi nicht theilhafftig werden, Also werden sie nur des bloßen brodts U weins theilhafftig“. Auch die Gläubigen hätten keine Teilhabe an Leib und Blut Christi, weil „die Natur Christi, nach welcher Er gen Himmel gefahren, ohne Vertilgung ihrer Eigenschafft in der höchsten glori wesentlich nicht kan uber all sein“. Im fünfzehnten und letzten Punkt („de exorcismo“) weist Gerhardt darauf hin, dass das Edikt den Exorzismus als Adiaphoron auslassen und abschaffen wolle, da es ihn verstehe als eine „Päbstische Aberglaubische Ceremoni, so die Krafft und Wirkung der heyligen Taufe verkleiner[e]“. Wenn diese Vorstellung der Wahrheit entsprechen würde, so hätte Gerhardt „wißentlich Unrecht gethan, mein Ampt nicht redlich geführet, sondern wieder mein gewißen Abergläubische Dinge verrichtet“ und zudem andere lutherische Geistliche
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und die FC beschuldigt. Eine Auslassung der FC wäre somit „contra scientiam et conscientiam“. Inhaltlich finden sich in diesem Votum kaum bedeutende Unterschiede zu demjenigen, welches Gerhardt als Reaktion auf das zweite Toleranzedikt verfasst hatte. Der bedeutendste Unterschied liegt darin, dass Gerhardt in dem an dieser Stelle zu behandelnden Votum selbst als Sprecher auftrat, während er im zuvor erwähnten Votum für alle (Berliner) Lutheraner hypothetisch argumentierte. Zur Beurteilung des hier vorliegenden Votums sind daher auch die Bemerkungen zum ersten Votum hinzuzuziehen. In welcher Beziehung die Voten zueinander stehen, kann nicht hinreichend geklärt werden. Es ist beispielsweise unwahrscheinlich, dass das erste Votum als Vorlage für das zweite Votum fungierte, da die Voten im Aufbau voneinander differieren und in ihrer Argumentationsstruktur unterschiedliche Gewichte setzen. Erstaunlich ist, dass die Voten völlig unabhängig voneinander tradiert wurden, obwohl den Berliner Pfarrern beide Manuskripte bekannt gewesen sein müssen.118 Inhaltlich stellt auch das hier zu behandelnde Votum einen der wenigen Texte dar, in denen Gerhardt die theologischen Lehren der reformierten Brandenburger konkret kommentierte. Auch hier gab er den Inhalt des Edikts und die Lehrverständnisse reformierter Theologen größtenteils unzulässig verkürzt wieder. Ebenso galt Gerhardts primäres Interesse dem Erweis, dass die Aussagen des Edikts allein den Zweck hätten, die reformierte Lehre und einen Synkretismus zu fördern sowie den lutherischen Glauben einzuschränken. Daher sei eine Unterschrift unter einen Revers nicht mit dem Gewissen vereinbar. Aus Gerhardts Sicht war der vom Kurfürsten initiierte Prozess einer mutua tolerantia zwischen Lutheranern und Reformierten somit von vornherein zum Scheitern verurteilt. Für Gerhardt jedenfalls stand fest, dass er sich mit einer diesbezüglich staatlich geregelten Einigung unter keinen Umständen einverstanden erklären würde. Das Votum macht deutlich, inwiefern Gerhardt sein Handeln reflektierte und theoretisch vorbereitete. Es stellt eine grundlegende Erklärung für seine fortdauernde Weigerung dar, sich dem Edikt gemäß zu verhalten. Insofern ist es Ausdruck eines kontinuierlichen Weigerungsprozesses, an dessen Ende die Entlassung aus dem Pfarramt stand. Zunächst jedoch sollten die Berliner Lutheraner versuchen, den Kurfürsten von ihrer Haltung zu überzeugen.
118 Das in 5.1.4 thematisierte Votum befindet sich nur in Lorentz’ Akten in Gotha, das hier zu behandelnde Votum ausschließlich im Berliner Nachlass von Martin Lubath.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
5.1.8 Die Declarationen und Reverse der Berliner Pfarrer119 Unterdessen hatten die Entlassungen ihre beabsichtigte Abschreckungsfunktion nicht verfehlt. Wie der Forschung bisher unbekannt war, entschieden sich die Berliner Pfarrer dazu, die Vorschläge der lutherischen Räte vom 29. April aufzunehmen und dem Kurfürsten in einer Declaration ihre Ablehnung der Edikte noch einmal zu erläutern. Gerhardt wurde von den Pfarrern dazu auserwählt, mit den lutherischen Geheimräten die Entwürfe der Schriften vor der offiziellen Übergabe an den Kurfürsten zu besprechen. Am 2. Mai entwarfen die Pfarrer den ersten Declarationsentwurf.120 Die Berliner bekannten sich darin „zu der wahren Lutherischen Religion undt Lehre, wie solche nach dem wahren Wort Gottes undt denen Vier Haupt Symbolis Nicano, Constantinopolitano, Ephesino, undt Chalcedonensi in unsern Lutherischen Libris Symbolicis nahmentlich in der Ungeänderten Augsburgischen Confession undt Formula concordia in all Ihren stücken und puncten begriffen, bekennet“.
Die Pfarrer erklärten ihren Gehorsam gegenüber dem Kurfürsten und versprachen, dass sie „nichts unterlaßen werden, waß zu einer Christlichen Gott wohl gefälligen undt auf den grunde des worts der wahrheiten erbawten Tolerantz ersprießlich sein wirdt, also auch, [dass sie sich] wie bißher alles Unchristlichen undt ungebührlichen Verdammens afterredens [= verleumden] verlesterns, schmähens undt vorsetzlichen beschimpfens ferner enthalten“.
Des Weiteren versprachen sie, den Reformierten nichts vorzuwerfen, was „in reformirten öffentlichen schrifften und Confessioniby nicht begriffen seyn“. Zudem sollten Erklärungen und Bewertungen von reformierten Lehren gegenüber der lutherischen Gemeinde künftig „mit gebührlicher bescheidenheit“ geschehen. Abschließend baten die Berliner den Kurfürsten, „Unß bey Unsere gebrauchlichen Lutherischen Kirchen Ceremonien [. . .] in derselben völlig erhaltener Ruhe gnedigst zu beschirmen“.
119 Als Quellen für diesen Abschnitt dienen GKl Archiv XII/90/1, f. 205r–217v und GKl Archiv XII/90/2, f. 155r–194r. Sowohl die Inhaltsverzeichnisse der jeweiligen Akten als auch die Titel über den entsprechenden Dokumenten sind von sekundärer Hand und größtenteils ungenau oder unbrauchbar, da der Verfasser zum einen terminologisch nicht zutreffend zwischen der Declaration und den Reversen getrennt und zum anderen nicht bemerkt hat, dass die Manuskripte nicht chronologisch geordnet wurden. Die Verteilung der Quellen auf zwei Bände erschwert zudem die Erfassung. Im Folgenden werden die einzelnen Manuskripte nach ihrer chronologischen Reihenfolge behandelt. 120 Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/1, f. 213r–214r; FB Gotha Chart. A 281, f. 12v–13v.
5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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Wie aus einem Brief Gerhardts an seine Pfarrkollegen vom selben Tag121 deutlich wird, hatte sich Gerhardt mit dem lutherischen Geheimrat von Canstein getroffen. Dieser hatte sich den Berliner Entwurf angesehen und vorgeschlagen, einige Teile darin um des konfessionellen Friedens willen vor der Übergabe an den Kurfürsten zu streichen. Gerhardt ist jedoch der Meinung, „dz man es bleibn lasse[n solle], wie es abgefaßet“. Dies betreffe vor allem die Nennung der FC. Da Gerhardts Kollegen in ihren Voten ähnlich urteilten,122 wurde die Declaration nur an einigen wenigen Stellen überarbeitet.123 Die neue Version124 vom 4. Mai wurde ebenfalls mit den Räten diskutiert. In einem weiteren bisher unbekannten Brief125 , der auf den Sonntag Exaudi [= 7. Mai] datiert ist, berichtete Gerhardt seinen Pfarrkollegen von einem neuerlichen Treffen zwischen ihm und den Geheimen Räten von Löben, von Platen und von Canstein in dessen Arbeitszimmer. Dabei betonten die Räte, dass die Declaration auch in ihrer jetzigen Form nicht angenommen werden würde. Gerhardt schrieb, dass „Formulam Concordiae würd Uns unser Gnedigsten Herr [= von Canstein] gern Vor Uns laßen U gestatten das wir uns an die selbe halten, Aber das sie Ihme [= dem Kurfürsten] in einer solchen schrifft sollten vortragen U gleichsam aufs Neue Uns darzu continuiren laßen, würde nicht geschehen, Sie allesaits die obbesagten Herrn meineten Es wehre gnug Zu Unserer Verwahrung, wenn wir uns auff die Ungeenderte AugsPurgische Confession Unnd alle andern Unsern Libris Symbolicis bei stehen, U hettens Vor eine gnade Zu achten, das wir es statt der Subsciption Zu einer solchen frey willigen Unverfenglichen erklehrung Gestatten würden“.
Die Pfarrer änderten die Declaration jedoch nicht mehr ab und sandten sie am 9. Mai mit der Bemerkung an den Magistrat, dass sie diese auf Grund der „Gewißens-Zweiffel“ und „richtigerer auß einander setzung der Controversien dero Reformirten Herrn Theologis“ nicht anders hätten formulieren können. Die Pfarrer baten zudem, eventuelle Bedenken gegen die Declaration zugesandt zu bekommen und auch weiterhin durch die Stadtverordneten un-
Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 205r; abschriftlich in FB Gotha Chart. A 281, f. 13v. Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 205v. 123 So wurden vor allem einige wenige Ergänzungen hinsichtlich der Versicherung des Berliner Gehorsams aufgenommen, wie zum Beispiel die Formulierung „[. . .] undt also Sr. Churfl. Durchl. gnädigsten Befehl in allen stücken darinnen Gott undt deroselben wir anträuen undt gehorsam erweisen können Gemeß bezeigen“ (GKl Archiv XII/90/1, f. 213v). Des Weiteren wurde die Versicherung, nötige Widerlegungen reformierter Lehren bescheiden zu vollziehen, sprachlich überarbeitet. 124 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 187r–188r; weitere Abschriften befinden sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 215r–216r und f. 217r–218r und FB Gotha Chart. A 281, f. 14r–14v. 125 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 209r–210v; abschriftlich in FB Gotha Chart. A 281, f. 14v. 121
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
terstützt zu werden. Wie aus einem Brief126 der Berliner Pfarrer an den Magistrat vom 16. Mai deutlich wird, hatte von Platen dem Kurfürsten die unveränderte Declaration „vor wenig tagen“ vorgetragen. Derweil war das Edikt samt den Reversen und die damit verbundene Angst vor einer Calvinisierung so stark in der Mark verbreitet, dass sich der Kurfürst genötigt sah, am 4. Mai 1665 eine Declaration127 zu veröffentlichen. Darin betonte er, dass er „über keines Unterthanen Gewissen und Religion jemals einige Gewalt geübet, noch auch, wegen ungleicher Glaubensbekenntniß jemanden angefeindet, sondern allen und jeden gleiche Gnade und Beforderung widerfahren lassen“. Die Edikte seien unter Zuratenahme der Räte und der Stände nicht dazu erlassen worden, „eine Religions-Mengerey einzuführen, viellweniger jemanden wider sein Gewissen etwas zu glauben auffzudringen“ oder um die „Lutherischen Religions-Exercitia zu verhindern oder zu verändern“, sondern um Frieden zwischen den Konfessionen zu stiften, „damit endlich die Göttliche Wahrheit [. . .] überall Platz finde und erkandt werde“. Obwohl das Edikt „von vielen Geistlichen und Weltlichen, in- und ausser Landes gelobet“ und von „mehr, denn von zwey hundert Predigern, eigenhändig unterschriebenen Reversen befestigt worden“ sei, gebe es Menschen, die „entweder aus bösem Argwohn [. . .] oder, umb Ruhm eines sonderbahren Eyfers, bey dem Pöbel und anderen passionirten zu erlangen, oder, aus Anreitzung außwärtiger friedhäßiger Theologen, sich nicht allein selbst trotziglich widersetzen“, sondern auch noch anderen als Exempel dienen. Da die Berliner Pfarrer „allen friedlichen Consiliis entgegen gegangen, andere Friedliebende [. . .] gehasset, [. . .] über die Churfürstl. Edicta, außländischer Theologen censuras eingeholet“, habe sie der Kurfürst vorgeladen um sie zur „Unterschreibung des Reverses, und Bezeugung schuldigen Gehorsams“ anzuhalten. Auf Grund ihrer Weigerung hätte „an Zweyen ein Exempel statuiret werden müssen“. Zur Beruhigung seiner lutherischen Untertanen beteuerte der Kurfürst, dass er nie beabsichtigt habe, eine „neue Reformation“ in Brandenburg einzuführen oder über das Gewissen oder die Religion Macht auszuüben. Abschließend warnte er, dass er alle diejenigen, die nicht den Frieden zwischen den Konfessionen suchen würden, „Gewissens halber solches nicht länger leiden können, besondern verdiente animadversion ergehen lassen müssen“. Die De Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 155r–155v. Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 141r–144r; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 379r–381v; vgl. die Drucke in GStA PK I. HA Rep. 13 Nr. 19 c Fasz. 14 (unfol.) und SächsHStA 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv) Loc. 7226/4; abgedruckt unter anderem bei Mylius: Corpus I/1, 385–390; Hering: Neue Beiträge II, 219–222; Schulz: Gerhardt, 379–381; Langbecker: Gerhardt, 124–129; Meinardus: Protokolle VII/1, 267–270. 126 127
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claration war eine notwendige und längst überfällige Reaktion des Kurfürsten. Zwar zeigte sie die kirchenpolitischen Maßnahmen als einzig und allein dem konfessionellen Frieden im Land dienend auf, jedoch wird sie bei daran zweifelnden Untertanen kaum für Beruhigung der Gewissen gesorgt haben. Dies zeigte sich auch in einem undatierten Brief128 an den Kurfürsten, mit dem der Magistrat und die Bürgerschaft Berlins Mitte des Monats sowohl auf die kurfürstliche Declaration als auch auf die Declaration, die ihnen durch die Berliner Pfarrer am 16. Mai zugesandt wurde, reagierten und sich für Lilius’ und Reinhardts Restitution stark machten. Die Stadtverordneten wiederholten, dass die Berliner das Edikt aus Gewissensgründen nicht unterschrieben hätten und dass man „nichts unbescheidenes oder straffbahres in modo Elenchtico von Ihnen gehöret oder vernommen“ habe. Da die Pfarrer keine Schuld auf sich geladen hätten und Lilius bereits ein sehr alter Mann sei, baten Magistrat und Bürgerschaft den Kurfürsten, „Dieselbe wollen theils mit den vorigen gegebenen Reversen undt Subscriptionen theilß mit der noch einkommenden Erklährung gnädigst zufrieden seyn“ und daher Lilius und Reinhardt verzeihen und sie wieder in ihr Amt einsetzen. Von Schwerin antwortete im Namen des Kurfürsten in einem Brief129 vom 17. Mai, dass man Lilius „noch eine geringe Zeit, sich anders zu bedencken, verstatten [wolle], Was aber Licentiat Reinharten betrifft, weil es klar und am Tage, daß derselbe von anfang seiner Bedienung alhier den Kirchenfrieden gestört, [. . .] Unsere Verordnungen außer augen gesetzet, auch andere zu gleicher nachfolge veranlaßet, und vom guten abgehalten, Als befehlen Wir euch hiermit ernstlich, [. . .] denselben [. . .] seinen Abschied vollkomlich gebet, und darbey andeutet, daß er sich ehestes tages außer dieser Stadt hinweg und aufs land begeben, und [. . .] aller Correspondentien sich enthalten solle“.130
An Reinhardts Stelle solle der Magistrat einen Prediger vorschlagen, den der Kurfürst jedoch erst bestätigen würde, nachdem er sich dessen Gehorsam gegen über den Edikten und dem kurfürstlichen Hof versichert hätte. Diejenigen Prediger, die den Revers noch nicht unterzeichnet hätten, sollten sich zur Unterschrift bereit halten. Der Brief von Schwerins war eindeutig und ließ keinen Zweifel daran, dass Reinhardt durch den Kurfürsten und den Rat vollständig verworfen und nicht mehr im Land geduldet wurde. Dies waren ein deutliches Signal und eine Warnung an alle weiteren Pfarrer, die sich gegen die kurfürstliche Religionspolitik stellen wollten. Somit wurde dieser Brief zu einer programmatischen 128 Vgl. den Abdruck bei Schulz: Gerhardt, 385 f.; Langbecker: Gerhardt, 129–131. Der Brief muss am 16. oder 17. Mai verfasst worden sein. 129 Vgl. den Abdruck bei Müller / Küster: Altes und Neues Berlin I, 333; Schulz: Gerhardt, 386 f.; Langbecker: Gerhardt, 131–133. 130 Vgl. zum weiteren Schicksal Reinhardts 5.3.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Ankündigung für den folgenden Verlauf der Auseinandersetzungen in Brandenburg und im Speziellen für Gerhardts zukünftiges Leben. Die Berliner Pfarrer gaben sich nicht, wie bisher in der Forschung angenommen wurde, mit dem Brief zufrieden, sondern trafen sich erneut am 26. Mai, um noch einmal über den Vorschlag der lutherischen Räte vom 29. April zu beraten.131 Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die Berliner einen eigenen Revers aufsetzen sollten, zu der jeder der Pfarrer ein kurzes Votum anfertigte. Nach Lubath müsse in einem eigenen Revers „Norma pura doctrina in allen der wahren [. . .] Lutherischen Kirchen [. . .] Libris Symbolicis et Scripti Lutheri enthalten“ sein. Gerhardt war gleicher Meinung: „Einen guthen Revers Zu geben, dürften wier uns nicht Weigern“. Den derzeit geforderten Revers könnten sie jedoch nicht unterschreiben, denn der sei „wider Gottes Ehre, wider Gewißen, der Kirch Wohlfahrt, und zum Ärgernüß armer schwach einfaltig Christen gereichet“. Unterschrieben werden könne ein Revers nur dann, wenn er „sich Zu anders nichts Verbindet, als daß Er Gottes im Himmel getrew, bey seiner Confession beständig, und seine untergebene Zuhörer Zu ihrem Heyle und Selig keit beforderlich Zu seyen sich Verbindet“. Dieser Meinung stimmten Lorentz und Helwig mit wenigen Worten zu. Die Berliner Pfarrer entschieden sich dazu, in einigen Tagen einen eigenen Revers aufzusetzen. Als Ergebnis ihrer vorläufigen Beratungen schrieben sie ohne den entlassenen Reinhardt, jedoch mit Lilius, am folgenden Tag einen Brief132 an den Kurfürsten, in dem sie nochmals betonten, dass sie ihm jederzeit gehorsam seien und alles tun wollten, „was zu einer Gott woll-gefälligen und in der wahrheit gegründeten Tolerantz ersprießlich sein mag“. In aller Deutlichkeit bekannten sie sich abschließend zu ihrem Glaubensfundament: „also werden und wollen wir durch Gottes gnade, bey der Lutherischen Religion und Lehre [. . .] unß in allen stücken und Puncten biß ans Ende unsers Lebens beständig verharren, und von der allgemeinen waren lutherischen Kirchen unß durchauß nicht trennen noch absondern“.
Ein dieses Schreiben durchweg ablehnender Brief133 Stoschs an seinen Schwager, den Geheimen Ratssekretär Gottfried Sturm, zeigt, dass die Schriften der Berliner engagiert am kurfürstlichen Hof diskutiert wurden. Stosch war der Meinung, dass dieses ein „inversus reversus [~ ~ ein zum Schlechten umgestalteter Revers]“ sei. Die Lutheraner würden sich bei ihrer Religionsausübung nicht an Gottes Wort, sondern „auff die symbola und Latein Schrifften“ be Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 183r–183v; FB Gotha Chart. A 281, f. 16v–17r. Vgl. die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 184r–184v und FB Gotha Chart. A 281, f. 17r; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 387; Langbecker: Gerhardt, 133 f. 133 Vgl. die Abschrift bei Meinardus: Protokolle VII/1, 287; zum Teil auch bei Schulz: Gerhardt, 422. 131
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5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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rufen. Dies habe zur Folge, „das sie nicht allein alle elogmata, sondern auch alle anathemata et convitia, so in Lutheri und Lutherischen Schr. enthalten sein, zur regul und richtschnur ihres lehramts brauchen wollen“. Nach diesen Schriften und der FC „sein Lehrampt anstellen [zu] wollen, ist eine contradictio und pur lautere unmüglich[keit]“. Insgesamt sei diese Berliner Schrift „eine illusio; und wann dieses sol ungahnet bleiben, so weiß ich nicht, was ich dencken sol“. Die Berliner haben in der Folgezeit nicht mehr versucht, Partei für die Entlassenen zu ergreifen. Ihr Anliegen nach dem Schlussstrich des Kurfürsten unter das Kapitel Reinhardt war es vielmehr, durch einen eigenen Revers ihre unlösbare Bindung an die lutherischen Bekenntnisse zu untermauern. Die Reversfrage war also nicht für Gerhardt und die weiteren Berliner dadurch erledigt, dass sie sich weigerten, einen kurfürstlichen Revers zu unterschreiben. Sie versuchten im Gegenteil der kurfürstlichen Forderung durch eigene Reversentwürfe gerecht zu werden. Da dies – wie die Akten eindeutig belegen – im Einverständnis aller Berliner Pfarrer geschah, muss die Paul-GerhardtForschung an dieser Stelle korrigiert werden. Zwar befürchtete Gerhardt, dass die Berliner durch die Ausstellung eines Reverses als Schuldige abgestempelt würden, hoffte aber auch, das dadurch „Gottes Ehre Seine Himmlische Wahrheit Und Unserm Gewißen sollten [. . .] noch in salvo“134 verbleiben können. Zunächst übergaben die Berliner einen Revers, der in weiten Teilen mit ihrer Declaration übereinstimmte: „Wie wier Endes benante Zu der waren Lutherischen Religion und Lehre wie solche nach den Heil. Wort Gottes in den 4. Haupt Symb: Nicaeno, Constantinopolitano, Ephesino und Chalcedonensi, der ungeändertten Aug: Conf:, dem Christlichen Concordien Buch, auch in den Schriften Lutheri und seiner getrewen nachfolger begriffen ist, bißhero Unß bekennet haben: Also wiederholen wir nochmahls solch unser Bekentnüs mit Hertzen und Munde, und sind entschloßen, durch die gnade Gottes, dabey in allen Stücken und Puncten, biß an unser Ende fest zu verharren: Auch unsere Zuhörer darin treülich, unsern Ampt und gewißen nach, zu unterweisen, und unß in keinerley weise und wege von der allgemeinen Lutherischen Kirchen zu trennen. Ferner, was Sr. Churfl. Durchl. Unsers Gnädigsten Churfürsten Und Herrn bey wohnende, Und in denen Churfürstl. Edicten, von Ao: 1614. 1662. 1664 enthalten Christlöblichen Intention des Evangelischen Kirchen-Friedens, Und Christlicher Verträglichkeit betrifft: erklären gegen dieselbe, Unser Churf. Gnädigsten Herrschaft, wier uns solches unterthänigsten gehorsambs, das wir iederzeit mit hertzlichem Gebeth Gott umb beforderung, des waren Kirchen Friedens anruffen, auch nichts unterlaßen wollen, was Zu einer Christlichen Gott wohl gefälligen, und in der warheit gegründeten Tolerantz ersprißlich sein wird: Wier wollen auch, wie wir bißher gethan, alles in der That und in der warheit sich also befindenden Unchristlichen und ungebührlichen Verdammens, afterredens, verlästerns, schmähens, und vorsetzlichen beschimpffens (maßen solches alles den eigentlichen verstand unßerer obbenannten Confessions-Büchern GKl Archiv XII/90/2, f. 193r.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
selbst Zu wieder läufft) unß noch ferner enthalten. waß blose Consectaria, so in der Reformirten offentlichen Schriften und Confessionibus nicht enthalten sind, als Von ihnen gefürte Und zugestandene dogmata, ihnen nicht Zu schreiben; Auch so fern, und so lange einige, unter ihnen etwas als einen Greüel, laut des Edicts, vom 16. Sep: Ao: 1664 deutlich, ohn ambiguität, verwerffen, solches ihnen nicht auffdringen. In nötiger wiederlegung aber der wiedrigen und insonderheit mit unserem Glaubens-Grunde streitenden Meinungen wollen wier nebst der warheit, auch aller gebührlichen bescheidenheit nach Zulaßung unßers gewißens, unß gebrauchen, und Zu forderst gegen Gott, dan auch gegen Sr. Churfl. Durchl. uns aller treüe, und unterthänigen gehorsahms und also alles rechtschaffenen wesens befleisigen, in Christo Jesu: Vertrösten uns aber hierbey von höchstgedachter Sr. Churfl. Durchl. allergnädigsten beschützung Unser Lutherischen Kirchen, und allen deren darin üblichen Ceremonien, wie wir dan auch darümb in tieffester demuth Unndt unterterthänigkeit bitten“135 .
Da dieser Revers nicht angenommen wurde, sandten die Berliner Pfarrer in den folgenden Tagen immer wieder neue Varianten an den Hof, die sich nur marginal voneinander unterschieden, in den entscheidenden strittigen Punkte jedoch gleichlauteten. Erst nachdem die Berliner einen durch von Schwerin zurückgesendeten und eigenhändig korrigierten Revers136 als Grundlage für eine neue Version benutzten, zeigten sich die Geheimräte gesprächsbereit. Der neueste Berliner Revers lautete: „Wie wier Endeß bemelte bißhero Unß Zu der Evangelischen Protestantischen Religion und Lehre, wie solche in der Unverenderten Augßburgischen Confeßion und Formula Concordia begriffen, bekennet, Also wiederholen Wier nochmalß solche Unser Bekendtnüß und verhoffen durch die Gnade Gottes dabey biß an Unser Ende zuverharren, Auch unsere Zuhörer darin zu unterweisen, undt nach Unserm Ampte zu lehren, Alß Wier Unß aber dabey Unser Unterthänigsten Gebühr gegen S. Churfl. Durchl. Unsers Gnädigsten Churfürsten Undt Herrn erinnern, undt deren bescheidenen Edicten, so S. Churf. Durchl. sonderlich in annis 614. 62. undt 64 pubbliciren laßen, So wollen wier auch denenselben unß dahin unterthänigst gehorsam erweisen, daß wir in Unseren Predigten Zwar obige Lehre undt erkandte Wahrheit Bekennen undt Unseren Zuhörern Vortragen wollen, Gleichwohl aber solcher Bescheidenheit Unß darunter gebrauchen, daß denen Reformirten Wier nicht imputiren undt beylegen wollen, waß Sie in Ihren öffentlichen Confessioniby Schriften undt declarationibus nicht annehmen, sondern vielmehr Verwerffen“137.
Von Canstein sandte daraufhin den Berlinern einen neuen Reversentwurf zu, der eng an den kurfürstlichen Revers angelehnt war.138 Er unterschied sich signifikant vom Berliner Entwurf dadurch, dass die Worte „Schriften undt 135 AaO., f. 191r–191v. Weitere durch den Hof nicht angenommene Reverse mit nur marginalen Änderungen befinden sich aaO., f. 192r–192v und aaO., 187r–192v. 136 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 189r–190v. 137 GKl Archiv XII/90/1, f. 206r–206v; eine Abschrift befindet sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 207r–207v. 138 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 185r.
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declarationibus“ gestrichen und die Erwähnung der FC durch die Worte „andere Libris Symbolicis“ ersetzt wurde. Die Berliner waren jedoch nicht zur Änderung ihres Reverses bereit. Die Pfarrer waren auch mit ihren unveränderten Reversen in weiten Teilen den Anforderungen des Kurfürsten entgegengekommen. Mit ihrer Unterschrift hatten sie das bestätigt, was Friedrich Wilhelm von ihnen verlangt hatte. Dieser war jedoch nicht bereit, die Ergänzungen der Berliner zum Revers zu akzeptieren, die diese zur Voraussetzung ihrer Unterschrift machten. Dem Kurfürst war gerade jene Gründung in den lutherischen Bekenntnisschriften ein Dorn im Auge, welche die Berliner wiederum als Grundlage ihres Glaubens ansahen. Dabei ging es im Übrigen nicht nur, wie es in der Regel in der Forschungsliteratur dargestellt wird, allein um die FC, sondern auch um die CA invariata, die „Schriften Lutheri und seiner getrewen nachfolger“, um die Differenzierung zwischen ‚wahrer Lutherischer Religion‘ bzw. ‚allgemeiner lutherischer Kirche‘ und ‚Reformierter Konfession‘, und um die Ankündigung, aus Gewissensgründen ein Leben lang an dieser Auffassung festzuhalten. Anstatt über die strittigen Passagen zu verhandeln, lehnte der Kurfürst die lutherischen Reverse als ganze ab. Nur noch einmal wurde durch den kurfürstlichen Hof versucht, die Berliner zur Unterschrift unter einen Revers zu bewegen: Der Wirkliche Geheime Rat Friedrich von Jena sandte Propst Lilius einen Revers139 zu, indem alle oben erwähnten strittigen Punkte ausgelassen waren. Doch die Lutheraner blieben stur und unterschrieben nicht. Bei aller unbeweglichen Bindung der Lutheraner an ihre Grundsätze ist jedoch auch kritisch zu fragen, ob der Kurfürst den zuletzt eingereichten Reversvorschlag nicht hätte annehmen kön Dieser lautete: „Nach dem der Durchlauchtigste Churfürst und Herr, Herr Friedrich Wilhelm, Margraff Zu Brandenburg, Unsers Gn. Churfürst und Herr dero Christlöbliche Intention wegen des Evangelischen Kirchen Friedens und Christlicher Verträglichkeit in dero Churfl. Edicten pubbliciret, u. in dem Lande gnädigst begehret worden, den selben Zu Subscribiren, Alß erklähren gegen Sr. Chfl. Dhl. Unsern gn. Herrn wir unß unterthänigstes gehorsambs dz wir Jeder zeit mit hertzlichen Gebeth Gott umb beforderung des waren Kirchen-Friedens anruffen, auch nichts unterlaßen wollen, wz auf beider seiten Zu einer Cristlichen, Gottwolgefälligen tolerantz ersprießlich sein wird: wir wollen auch denen Reformirten dieses orts, oder sonst anders wo, keine frembde und Von Ihnen ungestandene Dogmata und consequentis auf bürden, und daneben in nöthiger tractirung derer controversien und des Elenchi unß Christlicher moderation et bescheidenheit (wie die selbe auch denen Reformirten ein gebunden ist) gebrauchen, und sonsten gegen Sr. Chfl. Dhl. unß aller treu und unterthänigsten gehorsampst, sambt allen rechtschaffenen wesen in Christo Jesu befleißigen; und versprechen solchen nach, hier mit und mit dieser unser Subscription dem Churfl. Edict unß in allen, nach anweißung höchst gedachter Ihn Chfl. Dhl. deß wegen in offenen Druck vorhanden gnädigsten Declaration gemäß zu bezäugen, und dawider keines weges zu handeln“ (GKl Archiv XII/90/2, f. 194r). 139
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
nen. Doch zu diesem Zeitpunkt ging es schon nicht mehr ausschließlich um den Inhalt des Reverses an sich; die Reversfrage war zu einer Machtfrage geworden, in der Friedrich Wilhelm auf keinen Fall nachgeben wollte.
5.1.9 Die Reaktion der Stände Friedrich Wilhelm hatte Vertreter der kur- und neumärkischen Stände, des Adels und der Ritterschaft auf Antrag der Magistrate zu Spandau, Berlin und Cölln zum 1. Juni 1665 nach Berlin bestellt,140 um über die Befestigungsarbeiten der drei Städte und deren Finanzierung zu beraten. Die Stände, mittlerweile gut über die kirchenpolitischen Maßnahmen Friedrich Wilhelms informiert, wollten entgegen der kurfürstlichen Planung zusätzlich über das Edikt von 1664 und die Reversforderung sprechen. Nach tagelangen ständeinternen Vorverhandlungen141 überreichte eine Delegation dem Geheimrat von Schwerin am 10. Juni ihr einen Tag zuvor fertiggestelltes Supplikat und erläuterten mündlich ihre Bedenken gegen die brandenburgische Religionspolitik. Das Edikt von 1664 und die Reversforderung würden wider das kurfürstliche Versprechen von 1653 laufen, in welchem Friedrich Wilhelm den Ständen zugesichert hatte, dass alle Lutheraner ungestört bei ihrem Glauben verharren dürften. Die Forderung einer religiösen Toleranz sei falsch, da sie zum Synkretismus führe. Von Schwerin reagierte verärgert und berichtete den Ständen in einem bemerkenswerten Rückblick auf das Kolloquium 1662/63, „daß die Berlinischen Pfarrer sich dergestallt heftig vergriffen, daß, wenn Sr. K. D. alles, was im Colloquio zu Dero Verkleinerung von ihnen ausgestoßen, wäre vorgebracht worden, Dieselbe zu weit anderen Mitteln würde gegriffen haben“. Statt sich der vom Kurfürsten angestrebten Toleranz gegenüber offen zu zeigen, hätten 140 Die Verhandlungen der Stände und die Vorladung der Berliner Pfarrer wurden in der Forschungsliteratur kaum beachtet (die Vorladung wird beispielsweise nicht von Hering, Schulz, Langbecker, Lackner und Beeskow thematisiert). Ausführlich berichtet hat davon erstmalig P. Schwartz: Die Verhandlungen der Stände 1665 und 1668 über die Religionsedikte, JBrKG 30 (1935), 88–114, doch leider ist sein Aufsatz fast unbeachtet geblieben. Die Informationen vom Landtag stammen aus einem Bericht vom 3. August 1665 von den zwei Deputierten der Ritterschaft, Hans Heinrich von Benckendorff, Neumärkischem Landesdirektor und Direktor des Kreises Soldin, und Hans Christoph von Strauß, Direktor des Kreises Königsberg, die damit die in Küstrin versammelten Neumärkischen Stände informieren wollten, vgl. Schwartz: Verhandlungen, 89. Da sich diese Quelle auch nach intensiver Recherche leider nicht mehr auffinden ließ, folgen diejenigen Zitate, zu denen keine Parallelüberlieferungen vorhanden sind, Schwartz. 141 Vgl. allgemein zur Zusammensetzung der Verhandlungsteilnehmer und zum Ablauf der Verhandlungen Clausnitzer: Die märkischen Stände, 7–12.
5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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die Berliner die Reformierten angegriffen und beschuldigt. Da das Kolloquium ergebnislos gewesen sei, habe der Kurfürst, weil „die Geistlichen sich des Schmähens bei demselben nicht enthalten wollen, auch dessen sich nachmals weidlich auf den Kanzeln gebraucht, insonderheit der Herr Licentiat Reinhardt hierin allen vorangegangen, ein Edikt publizieren lassen“. Der Veröffentlichung dieses Edikts hätten alle lutherischen Konsistoriumsmitglieder zugestimmt. Die Berliner Pfarrer wollten das Edikt jedoch von Anfang an nicht beachten und seien „im Schmähen und Verketzern fortgefahren und hätten überdem von Straßburg, Nürnberg, Leipzig, Wittenberg, Hamburg Consilia und Urteil einholen lassen: ob Sr. K. D. zukäme, dergleichen Edikte auszugeben“. Um den „Geistlichen Übermut“ zu beenden, seien den Berlinern Reverse vorgelegt worden, „welchen Herr Reinhardt, damit er aus Ehrgeiz der Welt zeigen könnte, wie er der Mann wäre, der vor dem Riß stände, zu unterschreiben sich verweigert, auch den frommen Lilium auf seine Seite gezogen“. Diese Haltung könne der Kurfürst nicht verstehen, da doch den Pfarrern „zugesagt worden [sei], es solle ihnen dadurch die Widerlegung anderer Lehren nicht gehemmt, sondern nur eine Verträglichkeit gestiftet werden“. Dass Friedrich Wilhelm grundsätzlich „der lutherischen Religion so gar nicht abgeneigt“ sei, zeige sein Einsatz für Lutheraner in Holland und den westfälischen Provinzen. Da sich die Pfarrer derart ablehnend verhalten hätten, fragte von Schwerin, „ob S. K. D. durch der Stände Supplikat nicht zum Eifer möchten gereizt werden“142 ? Von Schwerin begegnete der kritischen Anfrage der Stände mit taktischem Geschick. Seinen Rückblick auf das Kolloquium und die folgenden Reaktionen der Protagonisten gestaltete er bewusst so verkürzend, übertreibend und für das Ansehen der Berliner Geistlichen verfälschend, dass die Stände auf Grund seines Berichts keine andere Möglichkeit hatten, als die am Schluss gestellte rhetorische Frage mit Ja zu beantworten. Doch von Schwerin beließ es nicht nur bei der harschen Kritik an den Berlinern, sondern griff auch die Stände für ihre Einwände stark an. Trotz dieser Reaktion konnten sie von Schwerin überzeugen, ihr eingereichtes Supplikat dem Kurfürsten vorzutragen. Zwar begannen die Stände ihre ausführliche Bittschrift143 mit den zeitüblichen Ehrerweisungen an den Kurfürsten und lobten dessen politische Ziele, kritisierten jedoch hauptsächlich deren Umsetzung. So meinten sie, dass „es nicht undiensahm möchte ge Schwartz: Verhandlungen, 92 f. Vgl. das Exemplar der Stände mit allen Originalunterschriften in BLHA Pr.Br. Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 389r–397v; vgl. die Abschriften in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 383r–388v.398r; GKl Archiv XII/90/2, f. 202r–204v; abgedruckt in FSATS 1728, 162–165 (gekürzt!); Langbecker: Gerhardt, 135–141; Meinardus: Protokolle VII/1, 276–280. 142 143
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
wesen sein, undt Ew. Churfl. Durchl. gnädigste Intention umb so vielmehr hette können secundiret [. . .] wan gemelte Edicta [. . .] ante publicationem den Ständen gnädigst weren communiciret, undt Ihr unterthänigstes gutachten Dabey requiriret worden“. Da sich sowohl alle geistlichen als auch weltlichen Untertanen mit wenigen Ausnahmen an das Edikt gehalten hätten, stimmten die Stände den Berlinern zu, dass die Reverse unnötig und zudem „so hart [seien . . .], daß Sie ohne verletzung Ihrer Gewißen so simpliciter et pure nicht können bewilliget werden“. Die Reverse würden die Gläubigen des Kurfürstentums und anderer Länder verunsichern und die Gefahr in sich bergen, dass sich „darüber gleichsam ein Schisma in diesen Unsern Lutherischen Kirchen einschleichen könte“, wenn sie von einigen unterschrieben würden, von anderen jedoch nicht. Dies könnten die Katholiken ausnutzen, um die Evangelischen anzugreifen und zu behaupten, dass „über die Drey Religionen so dem Frieden Schluß nach, nunmehr im Reich sollen geduldet werden, sich eine 4te ahrt und species Zwischen [. . . den] Religionsverwandten hervorthun wolte“. Schließlich merkten die Stände kritisch an, „daß durch dergleichen Reversus den Ständen Ihre Jura patronatus wobey dennoch Ew. Churfl. Durchl. Sie zu schützen allemahl gnädigst versprochen, in etwaß geschwächet werden würden, wan die Vocati in verweigerung der unterschreibungen alßbaldt solten abgewiesen, beurlaubt und verworffen werden“. Daher baten die Stände den Kurfürsten, künftig auf die Reverse zu verzichten und die entlassenen Pfarrer wieder in ihr Amt einzusetzen. Das Supplikat hatte die Bedenken der Stände deutlich zur Sprache gebracht und sparte nicht mit Kritik an der kurfürstlichen Religionspolitik. Dabei wurde deutlich, dass für die Stände nicht so sehr der Inhalt des Edikts und der Reverse oder den Pfarrern angedrohte Strafen problematisch waren, sondern vielmehr die Tatsache, dass der Kurfürst ohne Rücksprache mit den Ständen folgenschwere kirchenpolitische Entscheidungen getroffen und durchgesetzt hatte. Darin sahen die Stände zum einen ihr ius patronatus, zum anderen ihr Mitbestimmungsrecht in geistlichen Angelegenheiten beschnitten. Die Anfechtung ihres lutherischen Glaubens und das persönliche Schicksal der einzelnen Pfarrer waren ihnen zwar ebenfalls wichtig, rückten jedoch in den Hintergrund. Die Reaktionen der Stände waren in erster Linie machtpolitisch motiviert. Der Kurfürst antwortete mit einem Brief144 vom 13. Juni. Darin stellte er klar, dass „denen Ständen nicht alles und iedes, was in diese sache, Und wegen der Revers vorgegangen, bekannt seyn müste. Dahero den denselben bey er144 Vgl. BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 399r–400v; vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 205r–206r; abgedruckt in FSATS 1728, 165–167 (gekürzt!); Langbecker: Gerhardt, 141–145; Meinardus: Protokolle VII/1, 282–284.
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gender occasion darvon ein mehrer Bericht geschehen kann“. Eigentlich hätte der Kurfürst gar nicht vorgehabt, einen Revers von den Berlinern zu fordern, „wan nicht besagtes Ministerium groß Ursach darzu gegeben, indem es nicht allein viele ander Prediger von schuldigster parition des Edicti abgemahnet, sondern auch wieder Se. Churfl. Durchl. ihnen gethanes ernstes Verbot an allen Orten des Römisch. Reich sich belehren laßen, Ob Sie auch Sr. Churfl. Durchl. Edicto zu pariren schuldig seyen“. Da die Berliner ihre Haltung nicht ändern wollten, habe der Kurfürst den einen wegen seines großen „Trotz“, den „andern zum Exempel, seines Dienstes erlaßen, denen übrigen aber noch biß gegenwärtige stunde sich beßer zu bedencke[n] frist vergönnet“. Der Kurfürst könne die Bedenken der Stände nicht verstehen, da weder ihr ius patronatus beschnitten, noch andere Einwände zutreffen würden. Abschließend kritisierte er die Pfarrer für die Berufung auf ihr Gewissen und warnte, dass sie, falls sie aus Gewissensgründen den Revers nicht unterschreiben wollten, sich ein anderes Land suchen müssten, in welchem sie ihre Gewissensfreiheit ausleben könnten. Friedrich Wilhelm reagierte auf die Kritik der Stände keineswegs einlenkend, sondern erläuterte deutlich sein Verständnis von Zuständigkeit und Macht in Kirchenfragen. Den Ständen wurde jegliches Mitspracherecht in der Kirchenpolitik verwehrt. Aus dem Schreiben wird zudem deutlich, dass das kurfürstliche Verständnis von den durch die Berliner eingeholten Responsa von der ursprünglichen und in den Anfragen ersichtlichen Motivation der Berliner stark abwich. Schließlich stellte der Kurfürst klar, dass er bei Pfarrern, welche der Unterschriftsforderung nicht nachkommen wollten, die Berufung aufs Gewissen nicht mehr gelten lassen konnte. Die Vertreter der Ritterschaft und der Stände berieten ausführlich über die Antwort. Sie hielten diese für unzureichend und wollten erneut an den Kurfürsten schreiben. Sie beschlossen, zuvor die Berliner Pfarrer vorzuladen, jedoch nicht nur um ihre Sicht der Dinge zu hören, sondern um ihnen zur Unterschrift unter die Reverse zu raten. Die Vertreter wollten den Berlinern zureden, dass die Reverse lediglich der ‚mutua tolerantia‘ dienten und die Lutheraner keine Einschränkung ihres Glaubens befürchten müssten. Am 14. Juni erschienen Lilius, Lubath, Gerhardt, Lorentz und Helwig145 im Berliner Landschaftshaus, wo die Vertreter der Stände, der Ritterschaft und Lubath, Gerhardt, Lorentz und Helwig hatten ein Schreiben (vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 301r–302r) vorbereitet, welches sie den Ständen ursprünglich überreichen wollten, es jedoch auf Grund des Verlaufes des Treffens verwarfen. Darin betonten sie, „dz wir keinen revers [. . .] unterschreiben können, darin nicht Formula Concordia außdrücklich gesetzet sey“. Die bisherigen Reverse würden „wieder conscie[nti]am und religionem gefuhret werde[n] [. . .] sintemal fast nichts im Edict übrig bleibt, dz o [= das nicht] contra conscie[nti]am religionem et Elenchu laufe“. Daher wollten die Pfarrer die 145
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des Adels tagten. Zunächst wurden die Geistlichen für die vorschnelle Annahme der Kolloquiumseinladung kritisiert: „Ehe die Geistlichen sich in dasselbe eingelassen, hätten sie sich mit den Ständen in Verbindung setzen sollen. Diese würden ihnen abgeraten haben, weil die Früchte solcher Gespräche sich in Frankreich und anderswo zur Genüge erwiesen“146 . Dann versuchten die Ständevertreter die Pfarrer zu überreden, die Reverse zu unterschreiben: „Allein weil S. K. D. bis dato nichts mehr als die Unterschreibung der Reverse gesucht hätten und man Derselben trauen müsse: so ersuchten wir, die Stände, sie zum Höchsten, sie wollten in sich gehen, ob’s nicht besser, mit unverletztem Gewissen den Revers zu unterschreiben, als das klägliche Emigrate! zu ergreifen, wodurch die Hunde von den Schafen genommen und diese den Wölfen zum Raube gelassen würden“147.
Die in ihrer Bildsprache drastische Ausdrucksweise der Stände machte deutlich, wie Lutheraner in weiten Teilen über das Verhältnis der Konfessionen untereinander dachten. Obwohl sich die Stände der schwierigen Situation der Pfarrer bewusst waren, rieten sie ihnen trotzdem, die Reverse zu unterschreiben, da dies gegenüber einer glaubensbedingten Emigration das geringere Übel sei. Die Berliner Pfarrer nutzen das Treffen, um nicht nur auf die Fragen und Anmerkungen der Stände zu antworten, sondern um ihnen zunächst die Entstehung und die Ursachen der Auseinandersetzungen und der gegenwärtigen Situation zu erläutern. Lilius und Lubath stellten ihre Sicht des Kolloquiums und der anschließenden Anfechtungen dar. Der Propst betonte, emotional deutlich betroffen, dass es die Berliner Pfarrer „schmerzte [. . .], daß sie beschuldigt würden, als sollten sie nicht willig sein, eine mutuam tolerantiam einzugehen, und daß sie durch die vorgewesene Konferentz zu einer bösen Folge Anlaß gegeben hätten“. Weiter heißt es im Protokoll: „Allein weil die unterlaufenen Thränen ihm die Rede gehemmt hat Herr Lubath dieselbe fortgesetzt. Es wäre die Toleranz zwiefach: eine innerliche und eine äußerliche. Zu dieser – als zum Begräbnis, Kindtaufen gehen u. dergl. – wollten sie sich gerne bequemen; zu der innerlichen aber nimmermehr, weil sie nicht anders als ein rechter Syncretismus und dem Calvinismo gar noch verwandt wäre“.
Dass die Berliner unfreiwillig das Kolloquium eingegangen seien, belege die von ihnen eingegebene Protestation, in der sie forderten, dass auch die Landstände und die Inspektoren der Mark Brandenburg eingeladen werden müssVertreter der Stände bitten, dass sie „bey S. Chf. Dhl. unterthänigst anhalten, daß die Gewißens-Zwingende Edict gäntzlich aufgehoben werden“. Vgl. eine Abschrift des Entwurfes in FB Gotha Chart. A 281. f. 18v. 146 Zitiert nach, Schwartz: Verhandlungen, 95. Vgl. zur Anspielung „Frankreich und anderswo“ 2.3.1. 147 Zitiert nach Schwartz: Verhandlungen, 95.
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ten. Dies sei jedoch abgelehnt und stattdessen bekannt gegeben worden, „S. K. D. hätten iure episcopali Macht, einen jeden Pfarrer seiner Lehre halben vorzufordern, und dabei gedräuet, wo sie die Reformierten nicht verdammlicher Irrtümer überweisen könnten, sie hinfür ihre Lehre nicht widerlegen sollen“. Lubath betonte, dass die Pfarrer aus Gewissensgründen die Reverse nicht unterschreiben könnten, „weil das Edikt de a. 1614 dem a. 1664 entgegen wäre, und sollten gleichwohl beide unterschrieben werden. So würde auch in den Edicten die Unterschrift der Reverse nicht erfordert“. Da die Berliner stark verunsichert waren, „hätten sie sich, um ihr Gewissen zu befreien, belehren lassen, nicht ob Sr. K. D. zustände, dergleichen Edikte herauszugeben, sondern ob sie die vorgelegten Reverse unterschreiben könnten“148 . Sie hätten dies gern an Hand der Gutachten bewiesen, doch seien ihnen die Originale durch den Kurfürsten abgenommen worden. Die Berliner Pfarrer taten das in ihrer Situation einzig Richtige, indem sie die Stände durch die Schilderung ihrer Sicht der Dinge auf ihre Seite zu ziehen versuchten. Diese Taktik sollte zum Teil Erfolg haben. Nach einer Beratungspause verkündeten die Stände, dass die Pfarrer ohne Beeinträchtigung ihrer Gewissen Reverse unterschreiben könnten, jedoch müssten diese so gestaltet sein, dass das Bekenntnis zur CA und Apologie enthalten seien, und sich die Pfarrer „alles Schmähens enthalten und den Edikten von 1614, 1662 und 1664 – jedoch salva conscientia, salvo elencho, salva doctrina – nachleben wollen, aber mit der bedingung, daß auch die Gegener sich dazu verpflichten“. Schließlich wurde den Berlinern frei gestellt, einen eigenen Reversentwurf einzubringen. Nach der Vorladung der Pfarrer berieten die Stände über einen Reversentwurf und das neue Supplikat an den Kurfürsten. Dabei wurde deutlich, dass der Exorzismus auch unter den Ständen nicht unumstritten war und lange diskutiert wurde.149 Die Vertreter entschlossen sich, im Schreiben die Forderung aufzunehmen, dass der Kurfürst den Revers entweder streichen oder dessen Gestaltung den Ständen überlassen sollte. Es war der Forschung bisher unbekannt, dass Gerhardt im Namen aller Berliner Pfarrer in den folgenden Tagen einen undatierten Brief150 an die Stände sandte. In ihm reagierte er auf die Aufforderung der Vertreter, einen eigenen Reversentwurf zu gestalten. Gerhardt bedankt sich ausführlich bei den Ständen für deren Engagement und macht deutlich, dass die Berliner keine eigenen Entwürfe mehr anfertigen wollen. Diese Zitiert nach ebd. Die Vertreter der altmärkischen Stände beispielsweise wollten den Exorzismus komplett streichen, konnten sich jedoch gegen die anderen Deputierten nicht durchsetzen. Vgl. Schwartz: Verhandlungen, 96. 150 Vgl. BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 421r–421v. 148 149
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„müsten eingerichten seyn entweder nach Unserm Gewißen, oder Wieder Unser Gewißen, das Letzte wollen Unser Gnedige Hochgeehrte Herrn selbst von uns nicht begehren, Das Erste aber wie Wiers aus dem, was bißher Vorgangen, Zum gnüge erfahren haben, Ist nicht Zu erfullen, auch nicht Zu hoffen, in dem das jenige, womit wir Unser Gewißen gedencken Zu Salviren, nicht will angenommen werden“.
Der Weigerung, einen eigenen Entwurf einzubringen, lagen vor allem die ablehnenden Reaktionen von Schwerins auf frühere Entwürfe der Berliner im Mai selben Jahres zu Grunde. Daher dürfte Gerhardt auch skeptisch gegenüber den Erfolgsaussichten der Bemühungen der Stände gewesen sein. Am 17. Juni sandten die Deputierten der Stände einen neuen Reversentwurf und das Tags zuvor verfasste Supplikat151 an den Kurfürsten. Zwar seien sie mit den meisten Bestimmungen der erlassenen Edikte einverstanden, „Waß aber die in dem Edicto de anno 1664 enthaltene, undt daselbst nahmhafft gemachten consequentis betrifft, welche ein theil dem andern, auß einiger Lehrer Schriftten und hypothesibus heraußziehen, undt zulegen sollen So seindt die Stände nicht gemeinet darinnen litem [= Rechtsstreit] suam Zu machen“. Ein gemäßigter Elenchus dürfe weder den Reformierten noch den Lutheranern verwehrt werden. Des Weiteren lehnten die Stände die Reversforderung mit dem Hinweis auf das bereits aus ihrer Sicht ausreichende Edikt von 1662 ab. Sollte der Kurfürst jedoch auf der Reversunterschrift bestehen, schlugen sie vor, dass von ihnen „zu dem Auffsatz des Reverses etwan noch einige unvorgreifliche erinnerungen [. . .] beygebracht [. . .] werden mögen, auf daß umb so viel mehr undt beßer den Geistlichen die dubia undt scrupuli [. . .] könte auß dem wege gerauhmet werden“. Dann baten sie den Kurfürsten wiederholt um die Begnadigung von Lilius und Reinhardt. Schließlich kamen sie dem kurfürstlichen Wunsch eines möglichen Wegfalls des Exorzismus entgegen, erbaten aber, dass zuvor die einzelnen Gemeinden über die Wichtigkeit desselben durch ihre Pfarrer aufgeklärt würden. Auf diese und weitere Eingaben der Stände vom 23. Juni152 und 7. Juli antwortete von Schwerin brieflich153 am 20./30. Juli, dass der Kurfürst auf einen
Vgl. GStA PK Rep. 47 Tit. 19, f. 18r–23v und den Entwurf der Stände mit allen Originalunterschriften in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 403r–410v; vgl. die Abschriften in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 16 und GKl Archiv XII/90/2, f. 206v–208v; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 145–150. Auch im Geheimen Rat wurde das Gesuch der Stände verlesen, vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 526. 152 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 16 und den Entwurf der Stände mit allen Originalunterschriften in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 422r– 426v; Abschriften befinden sich in GKl Archiv XII/90/1, f. 220r–221v und GKl Archiv XII/90/2, 209r–210r. 153 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 13r–14r. 151
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Revers grundsätzlich nicht verzichten könne und der Entwurf154 der Stände abgelehnt sei. Sie dürften jedoch gemeinsam mit den Geheimen Räten über ein neu zu entwerfendes Formular beraten, welches von den Lutheranern ohne Beschwerung der Gewissen unterschrieben werden könnte. Dies befolgten die Stände und entwarfen ein neues Dokument, in dem sich die Unterzeichner ausdrücklich zum „Christlichen Concordienbuch“ bekennen sollten.155 Dieser Entwurf der Stände befindet sich in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562 f. 402r und lautet: „Daß wir Ende benante Prediger bey der Lutherischen Kirchen Zu Berlin in Unserm Lehr Ambte, bey den Glaubens- und Lebens Lehren, und nahmentlich auch in denen Zwischen Uns und den Reformirten schwebenden strittigen puncten, bey Dr. Lutheri Meinung und erklärung, wie selbige in Augustana Confessione, und deren Apologia enthalten, Und demnach auch in gemeinschafft der Algemeinen Lutherischen Kirchen beständig Zubleiben gemeinet sein, Jedoch aber bey tractierung der gedachten Controversien Uns Zugleich unverbrüchlich halten wollen, wie in den Churfürstl. Brandenb. Edictis de Anno 1614.1662. und 1664 Uns anbefohlen ist, Solches thun Wie mit diesem eigenhändig unterschriebenen Revers angeloben, Urkunden und bekennen“. 155 Vgl. den gesamten Revers: „Wie wir Endes benanten Zu der wahren Evangelischen Lutherischen Religion und Lehre nach den Heiligen Worte Gottes in den 4. Haupt Symbolis Nicano, Constantinopolitano, Ephesino und Chalcesinensi der Augspürgischen Confession de Ao 1530 den 25 junij dem Kayser Carolo V. übergeben und angenommen, derer apologia und Christlichen Concordienbuch Unß bekennet haben, also wieder holen wir nochmahls solch unser bekendtniß mit Hertzen und Munde und sind entschloßen durch die Gnade Gottes dabey in allen Stücken und Puncten biß an unser ende fest zu verharren, auch unsere Zuhörer darin treulich unserm Ampte Und gewißen nach zu unterwaisen, und unß in keinerley weise und wege Von den allgemeinen Lutherischen Kirchen zu trennen. Ferner was Sr. Churfl. Durchl. Unsers Gn. Chf Und Herren bey wohnende Und in den Churfürstl. Edicten von Ao. 1614. 1662. 1664. enthalten Christlöblichen intention wegen des Evangelischen Kirchen Friedes Und Christlicher Verträglichkeit betrifft, erklären gegen dieselbe Unser Churf Gnädigster Herrschaft, wirr Unß solches unterthänigsten gehorsambs, das wir jederzeit mit hertzlichem gebeth Gott ümb beforderung des waren Kirchen Friedens anruffen, auch nichts unterlaßen wollen, was Zu einer Christlichen Gott wolgefälligen Und in der warheit gegründeten Toleranz ersprießlich seyn wirdt. Wir wollen auch alles dasjenige, was in S. Chfl. Dhl. Edicto de Ao. 1664 pro Consectarijs et consequentiis angeführet, auch erwehnet worden, den Reformatis dieses Churfürstenthüms, weil Sie solche dogmata nicht lehren, noch erkennen, auch nicht annehmen wollen, nicht auffdringen, in Versicherter Hoffnung das von Ihrer seiten dem tenor des Edicti gemehs auch wir und unserer Religion zu gethane deßen unbeschüldiget mögen gelaßen werden, was nach anleitung des Edicti der Lutherischen gleichfals Von einigen reformirten wolle auff gebürdet werden alß davon wir unß in unserm glaubens und religions bekentniß gnugsam entfreyet wißen. | In nötiger wiederlegung aber der wiedrigen und in sonders mit unsern glaubens grunde streitenden meinung, wo bey wir unß das wol gelaßenen Elenchi billig gebrauchen müßen wollen wir nebst der warheit, unß der sanfftmuth befehligen, u. alle gebührliche bescheidenheit Und moderation gebrauchen Und gegen Sr. Chfl. Dhl. unß aller treu, und unterthänigsten gehorsambs, Und also aller rechtschaffenen warheit in Christo Jesu befleißigen, wie Wir unß gegen Gott, und 154
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Kurz darauf trafen sich Vertreter der Stände zur Beratung mit den Geheimen Räten von Schwerin, von Löben, von Platen156 , Köppen157, von Rhaden und Reinhard, um über den durch die Stände neu gestalteten Revers zu beraten.158 Von Schwerin gab den Ständen den Entwurf zurück, in dem er die Erwähnung des Konkordienbuches gestrichen und einige andere, eher unbedeutende Änderungen vorgenommen hatte.159 Auch die weiteren Räte lehnten eine Erwähnung der FC und des Konkordienbuches ab und schlugen vor, stattdessen „und andern bei der lutherischen Kirche angenommen Libris symbolicis“ zu schreiben. Da die Stände verunsichert waren, sandten sie einen neuen Revers160 und die Frage, ob sie „salva Fidei confessione & conscientia [. . .] die ausdrückliche Benennung der Form. Conc. unterlassen können?“ zusammen mit der Bitte um ein Gutachten an die Brandenburgischen Pröpste und Superintendenten. Durch neue Quellenfunde ist es möglich, die Antwort der Berliner Pfarrer darzustellen. Sie bestand zu einem großen Teil aus einem ausführlichen Responsum, das der Wittenberger Theologieprofessor Abraham Calov bereits am 13. Mai 1665 an Paul Gerhardt gesandt hatte.161 Zu diesem Votum schrieben die Geistlichen der St. Nicolai- und der St. Marien-Kirche kurze Voten, Sr. Churfl. Dhl. unß getrauen zu verantworten“ (GKl Archiv XII/90/2, f. 197r–197v). Weitere Abschriften befinden sich in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 413r–414v. Höchstwahrscheinlich hatten die Berliner den Ständen ihre nicht angenommenen Reversentwürfe zukommen lassen, denn dieser Revers der Stände weist in vielen Abschnitten wörtliche Übereinstimmungen mit jenen (vgl. den Reversentwurf der Lutheraner in 5.1.7) auf. In den Akten Lubaths ist ebenfalls ein kurzer, aber dem Kurfürsten wohl kaum genehmer Reversentwurf ohne Datum enthalten, den der Rat der Stadt Berlin den Landständen zugesandt hatte, vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 195r. 156 Der Lutheraner Claus Nicolaus Ernst von Platen (1612–1669) hatte neben anderen Ämtern seit 1645 das General-Kriegs-Kommissariat inne und wurde 1651 Wirklicher Geheimer Rat. Vgl. zu ihm Zedler 28 (1741), 687; Bahl: Hof, 554. 157 Der Reformierte Johann Köppen (1612?-1682) war seit 1664 Wirklicher Geheimer Rat und Geheimer Etats-Justitienrat. Vgl. zu ihm: Bahl: Hof, 521 f. Vgl. zu den weiteren hier genannten Räten 4.1. 158 Langbecker: Gerhardt, 151, irrt, wenn er behauptet, dass es gar nicht mehr zu Verhandlungen gekommen sei, da die Stände und der Kurfürst schon frühzeitig aus Berlin abreisen mussten. 159 Vgl. die Abschrift des zurückgesandten Reverses von Schwerins in GKl Archiv XII/90/2, f. 197v–198r; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 411r– 412r und f. 415r–415v. 160 Der Revers, der in FSATS 1728, 161 f. fälschlicherweise in Zusammenhang mit den Verhandlungen der Stände abgedruckt wurde, stammt bereits aus dem Jahr 1664 und spielte daher 1665 keine Rolle mehr! 161 Vgl. zum gesamten Brief Calovs an Gerhardt 5.2.4. Das Original muss als verschollen gelten, vgl. jedoch die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 95r–99v und FB Gotha Chart. A 282, f. 94r–97v. Die späte Wiederaufnahme von Calovs Votum ergibt sich zum einen aus inhaltlicher Kohärenz, zum anderen aus der Chronologie der Akten
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die allesamt zustimmend ausfielen.162 Auffällig ist, dass die Pfarrer nicht, wie bisher gehandhabt, das eingeholte Votum als Grundlage für ein eigenes Schreiben benutzten. Die offizielle Antwort163 , welche die Berliner an die Kurmärkischen Stände sandten, bestand – wahrscheinlich ohne dass die Stände dies je erfahren haben – mit wenigen, unbedeutenden Ausnahmen wörtlich aus den ersten zwei Abschnitten von Calovs Votum. Dies war möglich, da die Fragen Gerhardts an Calov ganz ähnlich lauteten wie nun die Frage der Stände an die Pfarrer. Die Berliner schlossen sich also voll und ganz der Meinung Calovs an, dass die Erwähnung der FC im Revers unbedingt notwendig sei: „Wehre allein Von dem Christlichen Concordien buche und nicht Von der Lehre desselben die Frage, so könte desselben außdrückliche Benennung wohl unterlaßen werden: Weil es aber eigendlich nicht Zu thun umb das Formale, und dieses buch, oder die Formul an ihr selbsten, sondern ümb das Ma[teri]ale, und die Lehre so darinn enthalten, daß nicht nach derselben Vorschrifft das ampt hinführo soll geführet werden was sonderlich die Antithesin Reformatorum betrifft als kan[n] solches Von uns mit gutem Gewißen, u[nd] Salva Confessione fidei nicht geschehen“.
Im Folgenden begründeten dies die Pfarrer mit den Worten Calovs in sieben Punkten. Erstens stelle ein Revers ohne die Nennung der FC für die Lutheraner keinen freien „Actus Confessionis“ dar. Zweitens sei es unmöglich, dass ein neuer Revers als „Norma U[nd] Regula Officii“ an die Stelle der Vokationsverpflichtungen trete, in denen die FC enthalten war. Drittens würden durch die Unterschrift der Berliner „auch andre Prediger in der Marck dazu Verbunden“, sich nach den neuen Bestimmungen zu richten. Viertens drücke eine Unterschrift unter den Revers aus, sich auch mit dem Edikt von 1664 einverstanden zu erklären, „dazu wier unß mit gutem Gewißen nicht verstehen können“. Fünftens würde die Unterschrift unter einen Revers bedeuten, die FC zu verleugnen. Sechstens hätte die Auslassung nicht nur theoretische, sondern auch praktische Folgen, „denn darumb soll Form. Concord. nicht benennt werden, daß nach derselben das ampt nicht geführet würde“. Schließlich sei siebtens die durch die Stände an statt der Nennung der FC vorgeschlagene Formulierung „omnes nostros Libros Symbolicos“ weder „sufficient noch auffrichtig“, da „diese phrasis bey denen Reformierten cum exceptione Form. Concordia Verstanden werde“. Durch ihre Unterschrift müssten die Berliner ihre früheren Vokationsverpflichtungen verlassen, da der neue Revers eine durch den Landesherrn autorisierte „Sanctio u. Formula [würde . . .] daß Wier uns darnach in unserm ampte achten sollen“. Dies jedoch wäre „eine BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562 und GKl Archiv XII/90/2, vgl. insbesondere GKl Archiv XII/90/2, f. 214r–215r (hier jedoch lediglich „ein Extract“). 162 Vgl. BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 534r–535r. 163 Vgl. aaO., f. 533r–533v.536r.537r.
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unträgliche Last [, die . . .] mit keiner menschlichen Zunge außzusprechen ist“. Auch in diesem Gutachten wurde deutlich, dass sich das Verständnis der Berliner von demjenigen des Kurfürsten hinsichtlich der Funktion der Reverse fundamental unterschied. Dieser beabsichtigte vor allem ein Ende der gegenseitigen Verketzerungen, an eine Normierung des Reverses als Bekenntnisdokument, so wie es die Pfarrer befürchteten, hat er laut den erhaltenen Quellen jedoch nie gedacht. Um ihre Interessen zu wahren, den lutherischen Glauben uneingeschränkt und ohne aus ihrer Sicht ‚synkretistischen Kompromisse‘ weiter leben zu können, sahen die Berliner Pfarrer keine andere Möglichkeit als die, an ihren Glaubensfundamenten und somit an der FC, festzuhalten. Die meisten Brandenburger Pröpste waren gleicher Meinung. Sie antworteten den Ständen in einem Memorial164 , dass die Nennung der FC unmöglich ausbleiben könne, und beriefen sich im Wesentlichen auf das Schreiben der Berliner. Die Stände nahmen die Bedenken der Brandenburgischen Pröpste und Superintendenten nur zum Teil auf und einigten sich statt auf einer direkten Erwähnung der FC auf die Formulierung „alles und iedes Was der Evangelischen Lutherischen Kirchen recipirten Symbolicis libris Wie im Landtags recessu de Ao. 1653 disponirt ist“, womit zwar auf der einen Seite allen Zeitgenossen klar gewesen ist, dass die FC gemeint war, auf der anderen Seite Gerhardt und die meisten lutherischen Pfarrer sicherlich nicht einverstanden gewesen wären. Die Stände beauftragten schließlich von der Gröben, dem Geheimen Rat und Friedrich Wilhelm den neuen Revers165 vorzustellen. Die abschließende Verhandlung des Geheimen Rates war vom Ärger des anwesenden Kurfürsten geprägt. Er ließ den Revers zum Teil neu formulieren und trug eigenhändig die Kompromissformel „und andern in der lutherischen Kirche rezeptierten Libris symbolicis“ und weitere von den Räten vorgeschlagene Änderungen in den Revers ein. Zum Abschluss der Verhandlung rief er dem Vertreter der Stände verärgert zu: „Grüßet die Deputierten und saget ihnen meinetwegen Dank, daß sie sich gleichwohl meiner wider die Prediger insoweit angenommen. Der Revers ist nunmehr so eingerichtet, daß ihn die Prediger unterschreiben sollen, oder ich will sie jagen, daß ihnen die Schuhe abfallen, und erweisen, daß Ich Herr des Landes sei“166 . Der Ärger des Kur Vgl. den Abdruck in FSATS 1728, 159–161. Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 199r–200r. 166 Zitiert nach Schwartz: Verhandlungen, 99. Dieses Zitat wird häufig in Forschungsbeiträgen gebraucht, um Friedrich Wilhelms kirchenpolitische Maßnahmen pauschal zu verurteilen. Dies geschieht in der Regel ohne Quellenangabe und Beachtung des Kontextes. Repräsentativ für die kurfürstliche Religionspolitik insgesamt ist dieses Zitat mE. jedoch keinesfalls. 164 165
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fürsten über die wiederholte Einmischung der Stände war nicht erst durch diesen Ausruf offensichtlich geworden. Überzeugt davon, dass die Pfarrer nun keine theologischen oder Gewissensgründe mehr gegen eine Reversunterschrift vorlegen könnten, drohte er dem Vertreter der Stände stellvertretend für alle Geistlichen Brandenburgs, dass alle Unterschriftsverweigerer verfolgt werden sollten. Eine erneute Weigerung würde nichts mehr mit einem beschwerten Gewissen zu tun haben, sondern käme einer Bestreitung der kurfürstlichen Autorität gleich, die zu bestrafen sei. Wie ein kurfürstliches Reskript167 vom 3./13. April 1666 belegt, pochte Friedrich Wilhelm in den folgenden Monaten immer wieder auf der Unterschreibung des neuen Reverses. Dieser wurde nicht nur die Basis künftiger Unterschriftsforderung. Er sollte auch ein Kompromissdokument darstellen, welches den Ständen genehm sei und alle Pfarrer ohne Gewissensbedenken unterschreiben konnten. Doch die Untertanen waren keineswegs zufrieden. Auch Gerhardt äußerte sich in einem kürzlich aufgefundenen Votum168 kritisch.169 Obwohl er die Bemühungen der Stände lobte, sei es aus drei zuvor erläuterten Gründen „mir meines theils Unmöglich meinen Nahmen Untter solchen revers [. . .] zu setzen“. Zum ersten sei die „Form. Concordiae außgelaßen“, was im Gegensatz zum Landtagsrezess von 1653 stehe und zeige, dass sie „die Hohe Landes Obrigkeit durch aus nicht hören leiden oder dulden will“. Zum zweiten können die Lutheraner nicht unterschreiben, „das wier die in dem Edicto de A[nn]o 1664 Specificirte consequentias den Reformirten nicht aufbürden wollen“, da sich die Reformierten auch nicht daran halten würden. Zum dritten verlange der Kurfürst, dass sich die Lutheraner nicht gemäß Vgl. den Abdruck in Mylius: Corpus I/1, 389–391. Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 218r–218v. Das Votum ist transkribiert und faksimiliert bei H.-J. Beeskow: „Weil . . . Form.(ula) Concordiae außgelaßen . . .“ – Ein undatierter und unbekannter Brief von Paul Gerhardt, in: B. Schmidt (Hg.): Ein unbeugsamer Protestant. Der Groß Glienicker Paul-Gerhardt-Tag 2007 (Thurneysser-Reihe Aus Berlin-Brandenburgs Geschichte 9), Berlin / Basel 2008, 14–19. Beeskow konnte den Brief nur sehr vage einordnen. Auch die inhaltliche Betrachtung ist nicht in allen Punkten zutreffend. So ging es Gerhardt eben nicht um den kurfürstlichen Revers, sondern um den Revers „der H Landstände“. 169 Von den anderen Berliner Pfarrern sind nur kurze Notizen erhalten. Lubath erwähnt, dass er die negative Antwort der Pfarrer auch dem Berliner Bürgermeister Johann Tieffenbach (vgl. zu ihm 3.2) zugesandt habe, der wiederum darum bat, auch die Meinungen der anderen Berliner Pfarrer zugesendet zu bekommen. Helwig, Lorentz und Lilius lehnten einen Revers ohne die Nennung der FC entschieden ab, vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 218v–219r. Da Gerhardt krank war und „nach H[errn] D[octor] Weisens [vgl. zu Weise 5.3] radspruch in aller stille ohne ettwas mehreren reden Unnd gesprächen hallten soll, meines Hustens darbey zu schonen (GKl Archiv XII/90/2, f. 218r)“ blieb er der Beratung fern und sandte das erwähnte schriftliche Votum. 167
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
christlicher Moderation, „sondern determinente zu der Moderation Unterschiedenheit welche in den Churfl edictis erfordert wirdt“ verhalten sollten. Dies sei nicht möglich, da in den Edikten der laut der FC notwendige Elenchus verurteilt werde, und daher jeder Unterschreibende künftig auf ihn verzichten müsse. Gerhardt hatte den neuen Revers ebenso wie seine Pfarrkollegen in ihren Voten klar abgelehnt. Die Berliner Pfarrer weigerten sich fortwährend, ihn zu unterschreiben, und wiederholten ihre ablehnenden Posi- tionen immer wieder.170 Desgleichen beschlossen auch die Stände, den neuen Revers nicht anzunehmen. Wie aus einem weiteren, der Forschung ebenfalls bisher unbekannten und undatierten Brief Gerhardts171 deutlich wird, hatten die Stände noch einmal die Berliner Pfarrer um die Abfassung eines eigenen Reversentwurfes ohne die Nennung der FC gebeten. Doch wiederum entschuldigte sich Gerhardt, dass es ihnen „bey itzigen Zuständen allerdings Und über die maßen bedencklich falle, Unsers Christliches Concordien Buch außgelaßen“ zu finden. Es sei ein „hochbetrübter Zustand“, dass sie bei Ausstellung eines Reverses mit der Nennung der FC „die Ungnade Unsers sonst Gnedigsten hochwertesten lieben Churfürstens Und landes vatter“, ohne Nennung aber den „Zorn des Allerhöchsten Gottes“ fürchten müssten. Daher wollten sie auch diesmal keinen Revers entwerfen. Die Stände äußerten abschließend ihr Missfallen über den neuen Revers in einem Memorial. Enttäuscht stellten sie dem Kurfürsten frei, „ob Sie nach ihrer Macht und Hoheit in dieser Sache verfahren wollten, welches sie dem höchsten Gott anheimstellen müßten“172 . Da viele Deputierte der Stände und des Adels wegen der bevorstehenden Ernten in ihren Ländereien nicht länger in Berlin bleiben konnten, lösten sie die Verhandlung auf und fanden sich vorübergehend mit den religionspolitischen Maßnahmen des Kurfürsten ab. Dieser reiste kurze Zeit später in die Residenz nach Kleve. Die Vertreter von Ständen, Adel und Ritterschaft hatten sich, wenn auch zunächst nur temporär, in den Kirchenstreit eingemischt und dabei mutig mit klaren Worten den Kurfürsten und dessen Religionspolitik kritisiert. Dabei Friedrich Wilhelm ließ dem Magistrat am 9. Oktober das Reskript vom 3./13. April noch einmal verlesen, forderte ihn auf, die Pfarrer zur Unterschrift anzuhalten, und beklagte sich über deren Lästerungen gegenüber Reformierten. Bei einer Vorladung vor den Magistrat lehnten Lubath, Lorentz, Helwig und Gigas (vgl. zu ihm 5.3.3) die Unterschrift ab und bestritten, dass sie gegen Reformierte gelästert hätten. Lorentz betonte: „was das Verketzern und Verdammen der reformirte[n] betrifft, kan er nicht anders als secundum Bilia et libros Symbolicos, in formula Concordiae richten, ist sonst gegen El[ectoren] unterthenigst gehorßam“ (zitiert nach Menne-Haritz / Niemann: lutherische Opposition, 77). 171 Vgl. BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 531r–532v. 172 Zitiert nach Schwartz: Verhandlungen, 99. 170
5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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hatten sie jedoch nicht vorbehaltlos die Pfarrer in ihren Forderungen unterstützt, sondern versucht, Ursachen und Verlauf des Konflikts zu verstehen und ihn durch eigene Lösungsansätze zu einem Ende zu führen. Primär motiviert war ihre Aktivität jedoch nicht wie bei den Pfarrern aus Sorge um das eigene Gewissen und um die lutherische Konfession in Brandenburg, sondern aus Empörung über die Beschneidung der den Ständen zugesprochenen Mitspracherechte. Dies äußerte sich vor allem in der Forderung, den Landtagsrezess von 1653 und mit ihm die Zugeständnisse Friedrich Wilhelms an die Stände sowie die kurfürstliche Zusicherung, dass alle Untertanen ungestört bei ihrer Konfession verharren dürften, in die Reverse aufzunehmen. Erst im Juni 1666 im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Gerhardts Verbleib im Berliner Pfarramt sowie im April 1668 im Zusammenhang mit der Abschaffung der Reverse in der Neumark sollten sich die Stände noch einmal deutlich in den Kirchenstreit einmischen. Der Kurfürst war über das Engagement der Stände keineswegs erfreut. Wie schon zu Beginn des Kirchenstreits und während des Kolloquiums wurde aus einer theologischen Gewissensfrage eine machtpolitische Frage, denn Friedrich Wilhelm sah in der Unterschriftsverweigerung der Geistlichen und in deren Unterstützung durch die Stände, die Ritterschaft und den Adel eine Bestreitung seiner landesherrlichen Autorität und einen Angriff auf seine Macht.
5.1.10 Die Reverse der reformierten Pfarrer und kurfürstlichen Beamten Bedeutende Reaktionen reformierter Theologen auf das Edikt von 1664 oder die Reverse sind nicht bekannt. Grundsätzlich galt, dass auch die Reformierten die gleichen Reverse zu unterzeichnen hatten wie die Lutheraner. Dies war für die meisten Reformierten im Gegensatz zu den Lutheranern möglich, ohne in Konflikt mit ihrem Gewissen oder ihren theologischen Ansichten zu kommen, da das Geistliche Konsistorium den Revers entworfen hatte. Darin wiederum spielte der reformierte Hofprediger Stosch eine entscheidende Rolle. Er war möglicherweise sogar der Verfasser des ersten Predigerreverses. Zudem wurden die Reformierten durch den Revers mit den Lutheranern gleichgestellt. Da die lutherischen Geistlichen und Ständevertreter immer wieder schriftlich forderten, dass auch die Reformierten die Reverse unterschreiben müssten, ist davon auszugehen, dass weder der Hof noch das Geistliche Konsistorium die Reformierten derart zur Unterschrift drängten, wie dies bei den Lutheranern der Fall war.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Das Geistliche Konsistorium war darauf bedacht, dass auch die Reformierten keinen Anlass mehr zu konfessionellen Auseinandersetzungen geben sollten. In der am 16. September 1664 zeitgleich mit dem zweiten Toleranzedikt erlassenen und durch die Prediger zu unterschreibenden neuen Verordnung für die Domkirche173 wurde vorgeschrieben, dass die Reformierten „in erinnerung des befehls Christi, darnach mit höchstem Fleiß streben, das guter beständiger Friede und einigkeit unter Ihnen sey, und wann ia ein irriger Streit über verhoffen auß menschlicher Schwachheit unter ihnen vorfallen solte, so sollen sie denselben durchaus nicht unter die Gemeinde kommen laßen, vielweniger denselben entweder bringen; sondern es sollen die andern Collegen so an solcher Streit nicht interessiret, sich bemühen, den Mißverstand unter Ihnen gäntzlich zuheben“174.
Auch in den folgenden Jahren erschienen immer wieder kurfürstliche Ermahnungen, dass sich die Reformierten an diese Ordnung halten sollten.175 Für die Prediger war die Unterschreibung dieser Formel, die jedoch nur für die Cöllner Domkirche galt, problemlos. Ebenso verhielt es sich mit den Reversen infolge des Edikts von 1664, denn schließlich konnte der Revers in den Augen der Reformierten als weitere Etappe auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Nebeneinander mit den Lutheranern gelten. Ein Protest gegen den ebenfalls von den Reformierten praktizierten Elenchus hätte die Unterstützung der Reformierten durch den Kurfürsten gefährdet und war daher kaum zu erwarten. Am 29. April 1665 unterzeichneten die reformierten Hofprediger Stosch, Kunsch und Georg Conrad Bergius176 einen selbst entworfenen Revers177 : „Daß Mir Endesbenannter Diener am Worte Gottes bey der Reformirtten Kirchen nicht allein schüldig, sondern auch gantz willig sind, in unserem Lehrampt, und nahmentlich, was die Zwischen denen Evangelischen schwebenden Controversien belanget, uns also Zu Verhalten, wie in den Churfüurstlichen Edictis de Ao 1614. 1662. und 1664. so wohl den Reformirtten als den Lutherischen anbefohlen ist; Auch ferner all unser gebeth, arbeit, Thun und laßen dahin Zu richten, damit zwischen denen Dissentirenden Evangelischen, in denen noch übrigen streitigkeiten, wo nicht eine Volle Einigkeit, doch eine mutua tolerantia Ecclesiastica gestiftet und gehalten werde; Solches thun Wir nochmahls Vgl. GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 11, f. 132r–136v. AaO., f. 133r–133v. 175 Vgl. beispielsweise aaO., f. 159r–160r. 176 Vgl. zu Bergius 5.3.3. 177 Dieser Revers befindet sich abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 186r (hier wurde die Übereinstimmung des Originals mit der Abschrift durch den Geheim-Sekretär Gottfried Sturm attestiert), GKl Archiv XII/90/1, f. 198r und FB Gotha Chart. A 281, f. 18r. Bis auf Hering: Neue Beiträge II, 219, und Ders: Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Reformirten Kirche in den Preußisch-Brandenburgischen Laendern. Zweeter Theil. Breslau 1785, 113, wird zudem in keinem Forschungsbeitrag erwähnt, dass die Reformierten auch tatsächlich einen Revers unterschrieben haben. 173 174
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mit diesen eigenhändig unterschriebenen Revers Solennissime urkunden und bekennen“.
Obwohl dezidierte Aussagen über das künftige Vorgehen beim Elenchus ausgespart wurden, nahm der Kurfürst den Revers an. Somit wurde – wenn auch erst nach einer gewissen Zeit – die Forderung des Kurfürsten und der lutherischen Stände erfüllt.178 Auch für die Geheimen Räte hatten die religionspolitischen Maßnahmen des Kurfürsten wichtige Folgen. Erst knapp drei Jahre später, am 7. Mai 1668, forderte Friedrich Wilhelm von allen Räten und Hofangestellten die Unterschrift unter einen eigens dafür gestalteten Revers.179 Darin sollten sich die Unterzeichner unter anderem verpflichten, „daß wir niemals verstatten wollen, daß ein einziger Geistlicher oder Weltlicher wider obberührte Edicte [Gemeint sie die Edikte von 1662 und 1664, nicht jedoch von 1614!] handele“. Würde jemand gegen die Edikte handeln, sollten die Unterzeichner „solches sofort an Sr. churf. Durchl. in Unterthänigkeit bringen [. . .]; vielweniger wollen wir selbst diese Edicte übel auslegen, sondern vielmehr einen jeden Sr. churf. Durchl. hiebey führende löbliche Intention bedeuten“. Die meisten Räte und Hofangestellten unterschrieben umgehend, und diejenigen, die es noch nicht getan hatten, wurden mehrfach daran erinnert. Erstaunlicherweise fanden sich auch unter den Lutheranern, die den Berliner Geistlichen fortwährend zugeredet hatten, den Revers zu unterschreiben, einige, welche die Unterschrift hinauszögerten oder gar verweigerten. Raban von Canstein beispielsweise reichte bei seiner Unterschrift eine schriftliche Erklärung ein, in der er vier Punkte zu bedenken gab, die unter anderem dahin zielten, dass er nicht „Anderer und sonderlich seiner Glaubensgenossen Ankläger und Denunciant“ sein könne.180 Den drei Kammergerichtsräten Johann Georg Reinhard, Gabriel Luther181 und Martin Friedrich Seidel wurde der Revers am 8. Mai 1668 durch von Rhaden zur Unterschrift vorgelegt.182 178 Auf Grund fehlender Quellen lässt sich zur Reaktion anderer reformierter Theologen oder zur Unterschrift weiterer reformierter Geistlicher leider nichts sagen. 179 Er befindet sich in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 110 und ist unter anderem durch von Schwerin, Canstein, von Rhaden, Somnitz, von Jena, Köppen und Stosch unterschrieben worden; vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 404r–404v; vgl. die Abdrucke in FSATS 1750, 499 f.; Hering: Neue Beiträge II, 260 f. 180 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 405r–406r; abgedruckt in FSATS 1750, 500–504; paraphrasiert bei Hering: Neue Beiträge II, 262 f. 181 Der Lutheraner Gabriel Luther (1612–1672; wahrscheinlich war sein Urgroßvater ein Vetter des Reformators Martin Luther) war seit 1653 Hof- und Kammergerichtsrat; mehr zu ihm bei Bahl: Hof, 533. 182 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 402r–402v („Relation, was bey publicirung des Recesses den 8 Maij 1668 im Cammergericht vorgelauffen“). Bereits zuvor hatte von Rhaden strenge Anweisungen durch den Kurfürsten erhalten, vgl. aaO., f. 403r–403v.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Die Räte erbaten sich Bedenkzeit183 und verweigerten am 6. Juni ihre Unterschriften aus Gewissengründen.184 Daraufhin wurden alle drei ebenso wie von Canstein ihrer Ämter enthoben.185 Dies stellte ein Exempel und eine Warnung für alle anderen Räte und Hofbedienstete dar, die noch nicht unterschrieben hatten. Sie wurden am 27. Juli dazu vor den Geheimen Rat gefordert und unterschrieben allesamt.186 Für den Kurfürsten war die Reversfrage nun nicht mehr nur eine kirchenpolitische Angelegenheit, sondern zu einer alle seine Machtbereiche umfassenden Maßnahme geworden. Es reichte ihm nicht mehr, dass die Pfarrer durch ihre Unterschrift ihren Willen zum konfessionellen Frieden und zum Gehorsam gegenüber dem Kurfürsten offen bekennen sollten. Nun sollte zudem das gesamte Umfeld des Kurfürsten durch Reverse verpflichtet werden, die religionspolitischen Ziele des Kurfürsten ohne Hinterfragung zu unterstützen. Der Revers wurde zu einem Instrument der allgemeinen Gehorsamsbekundung und Disziplinierung. Zur Durchsetzung dieser Ziele schreckte Friedrich Wilhelm auch vor unangenehmen Personalentscheidungen in seinem Umfeld nicht zurück und entließ langjährige verdiente Räte.
5.1.11 Exkurs: Der Briefwechsel zwischen den Berliner Lutheranern und Abraham Calov Während des gesamten Kirchenstreits besaß die theologische Fakultät der Universität Wittenberg bei den lutherischen Geistlichen ein hohes Ansehen Vgl. den Brief der drei Räte an Friedrich Wilhelm mit der Bitte um Bedenkzeit, einen Brief mit ihren Bedenken an von Schwerin und dessen Antwort in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 406v–408r.422r– 422v.422v–423v; abgedruckt in FSATS 1750, 504–507.507–510.510–514. 184 Vgl. den Brief der drei Räte an Friedrich Wilhelm in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 117; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 424v–426r; abgedruckt in FSATS 1750, 514–519. Küster: Altes und Neues Berlin II (1752), 489, und Bolte: Seidel, 12, geben an, dass Seidel durch Helwig zu diesem Schritt überredet worden sei, was zwar gut möglich ist, aber nicht belegt werden kann. Es ist ebenso möglich, dass Reinhard durch seinen Beichtvater Nicolai bestärkt wurde, den Beamtenrevers nicht zu unterschreiben. 185 Vgl. Hering: Neue Beiträge II, 263–266. Seidel ging nach seinem endgültigen Ausscheiden aus dem brandenburgischen Dienst 1671 an den schwedischen Hof. 1679 kehrte er zurück und wurde wieder Hof- und Kammergerichtsrat, wollte jedoch nicht wieder ins Konsistorium. Mehr zu ihm bei Bolte: Seidel; Bahl: Hof, 588–590. 186 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 415r–416r. Auch Buntebart scheint zunächst die Unterschrift verweigert zu haben. Er unterschrieb erst einen „reversus, quem concepit Somnitz Senior“, vgl. aaO., f. 418v–419v. 183
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und wurde mehrfach um Rat gefragt.187 Neben den in den verschiedenen Paragraphen bereits behandelten Voten und Responsen traten die Pfarrer auch einzeln mit dem wichtigsten und bekanntesten Theologen Wittenbergs in Kontakt: Abraham Calov.188 Er galt zu seiner Zeit als der bedeutendste Bewahrer der lutherischen Lehre in Brandenburg, Kursachsen und Preußen. Calov, der neben der Bekämpfung der Antitrinitarier und Sozinianer seine theologische Aufgabe darin sah, die Ausbreitung des reformierten Glaubens zu verhindern und Toleranz- bzw. Unions-Pläne, insonderheit den Calixtinismus, zu verwerfen und anzugreifen, wurde durch seine Gelehrtheit und seine direkte Wortwahl zum bedeutendsten außerbrandenburgischen Kritiker der Religionspolitik Friedrich Wilhelms. Seit seiner Berufung an die Universität Wittenberg 1650 entwickelte sich Calov auch für die Berliner und Cöllner Lutheraner zu einem der wichtigsten Unterstützer im Kampf gegen Reformierte und den lutherischen Glauben bedrohende kirchenpolitische Maßnahmen. Calov und sein Wittenberger Professorenkollege Johannes Hülsemann erhielten während ihrer gesamten Amtszeit Anfragen aus ganz Brandenburg189 zu theologischen und kirchenpoltischen Auseinandersetzungen, Fragen der Lehre und pfarramtlichen Praxis sowie persönlichen Angelegenheiten und festigten durch die Responsen ihre Lehrautorität. Neben den Briefen, welche die Berliner Pfarrer gemeinsam sandten, gab es auch einige private Kontakte zu Calov. Von den Protagonisten des Berliner Kirchenstreits standen unter
Vgl. zur Bedeutung und den Einfluss universitärer/professoraler Gutachten 2.2.3.3, 3.4.1 und 5.1.3. 188 Vgl. J. Wallmann: Abraham Calov – theologischer Widerpart der Religionspolitik des großen Kurfürsten, in: Oehmig: 700 Jahre Wittenberg, 303–311, bes. 306: „Denn will man Abraham Calov verstehen, so muß man ihn als Gegenspieler des Großen Kurfürsten ansehen“. Calov kämpfte um nichts weniger als „den Bestand der lutherischen Kirche in Brandenburg-Preußen“ (310). Vgl. auch Bideau: Gerhardt, 53: „Abraham Calov; celui-ci, avec plus de virulence et sans doute également plus de hargne que son concitoyen Leonhard Hutter [. . .] défend la doctrine luthérienne la plus stricte – voir la plus étroite“. Die Pfarrer traten jedoch nicht während des Kolloquiums in Kontakt mit Calov, sondern lediglich davor und danach. Insofern überschätzt mE. Wallmann: Calov, 310, die Rolle Calovs, indem er meint: „Man wird es nicht zuletzt dem Einfluß Calovs zuzuschreiben haben, daß das Berliner Religionsgespräch [. . .] ohne Ergebnis endete“. 189 Die Analyse der Briefe der Brandenburger Pfarrer an die Wittenberger Theologen ist eine eigene wissenschaftliche Untersuchung wert, die jedoch an dieser Stelle zu weit vom Berliner Kirchenstreit weg führen würde. Erstmalig hat sich Wotschke: Brandenburgische Briefe, 48–80, damit beschäftigt, indem er sechzehn Briefe veröffentlichte, sie aber nicht analysiert oder zutreffend kirchengeschichtlich eingeordnet hat. 187
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
anderem Pomarius190 , Fromme191, Spengler192 , Heinzelmann193 , Reinhardt194 und Helwig195 in Briefkontakt mit dem Wittenberger Professor. Auch Paul Gerhardt scheint mit Calov eng verbunden gewesen zu sein. Anlässlich des Todes seiner zweiten Tochter, Regina Leyser, geb. Calov (1643– 1664) 196 , am 7. Januar 1664 schrieb Gerhardt ein zehnstrophiges Gedicht mit dem Titel „Fröhliche Ergebung zu einem seligen Abschiede aus dieser mühseligen Welt“.197 In seinen theologischen Urteilen hat sich Gerhardt von Calov beeinflussen lassen.198 Wie Gerhardts Voten und § 4 gezeigt haben, hatte Gerhardt Calovs wichtigste Werke gelesen und kannte dessen Argumentation – was für einen lutherischen Pfarrer Brandenburgs üblich war. Entscheidend für das Verhältnis Gerhardts zu Calov ist der Briefwechsel, den die beiden in den Jahren des Kirchenstreits geführt haben. Im Folgenden werden zwei Briefe Calovs an Gerhardt erstmalig in der Forschung näher betrachtet.199 Darüber hinaus muss es Briefe Gerhardts an Calov aus seinen beiden letzten Berliner Amtsjahren gegeben haben, die jedoch seit dem 18./19. Jahrhundert als verschollen gelten. 200 Vgl. die Briefe vom 23. August 1653 (aaO., 62 f.), 7. Januar 1657 (aaO., 66–70), 21. Januar 1657 (aaO., 70–72), 20. Juli 1658 (aaO., 74–79), 17. September 1660 (Wotschke: Zum synkretistischen Streit in Stendal, ZVKGS 15 [1919], 47; dort auch mehrere Briefe von Jakob Schilling an Calov). 191 Vgl. den Brief vom 23. Januar 1663 (Wotschke: Brandenburgische Briefe, 79 f.). 192 Vgl. den Brief vom 3. Februar 1657 (aaO., 72–74). 193 Vgl. den Brief vom 17. März 1658 (aaO., 74). 194 Vgl. den Brief vom 27. August 1656 (aaO., 65 f.). 195 Vgl. den Brief an Calov in GKl Archiv XII/90/1, f. 571r–573v; die Briefe Calovs an Helwig in GKl Archiv XII/90/2, f. 89r–90v und 91r–94v (jeweils Abschriften); den Briefwechsel mit der gesamten Fakultät betreffs der Auseinandersetzungen über den Propst Müller in GKL Archiv XII/90/1, f. 358r–376v. Auch Martin Lubath wandte sich 1669 an die Fakultät Wittenberg, vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 430r–435v. In SBB-PK Nachlaß Oelrichs Nr. 472 f. 16r wird als Anhang ein Schreiben Calovs an Lubath und Helwig vom 19. Oktober 1664 angekündigt, „welcher gantz grundsätzlich die frage erläutert: Wie weit man denen Calvinisten circa Adiaphora in Statu Confessionis weichen solle“. Der Anhang ist jedoch nicht mehr vorhanden. 196 Regina Leysers Ehemann war der Wittenberger Jurist Wilhelm Leyser (1628– 1689), bei dessen Vater mit gleichem Namen (1627–1646 Theologieprofessor in Wittenberg) Gerhardt studiert hatte. 197 Das Gedicht ist unter dem Titel „Nun sei getrost und unbetrübt“ abgedruckt bei CS, 354–356. Erstmalig gedruckt wurde es im Anhang der Leichenpredigt (SBB-PK Ee 700–1971; komplett digitalisiert unter: VD17 39:103303M). 1673 nahm es Calov in den zweiten Teil des von ihm mitherausgegebenen Wittenbergischen Gesangbuchs auf. 198 Vgl. Petrich: Gerhardt, 134. 199 Ein weiterer der Forschung bisher unbekannter Brief Calovs an Gerhardt vom 7. November 1667 wird in 5.3.3.5 im Zusammenhang der Vorladung Lubaths vor den Geheimen Rat thematisiert. 200 Vgl. die Erwähnung der Briefe bei Wimmer: Gerhards [. . .] Herzfreudiges Danck190
5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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Der erste beachtenswerte Brief aus der Feder Calovs an Gerhardt ist auf den 13. Mai 1665 datiert. 201 Es ist davon ausgehen, dass Gerhardts vorhergegangener Brief noch vor der kurfürstlichen Declaration vom 4. Mai an Calov abgesendet wurde. In 5.1.9 wurde bereits deutlich, dass die Berliner Pfarrer die ersten zwei Abschnitte von Calovs Schreiben als Vorlage für ihre eigene Antwort auf die Frage der Stände nach der möglichen Annahme eines neuen Reverses ohne die Nennung der FC benutzten. Wie aus Calovs Briefanfang zu erkennen, hatte Gerhardt Calov die Situation in Berlin geschildert und angedeutet, dass der Kurfürst keinen Pfarrer mehr im Lande leiden wolle, der das Edikt von 1664 nicht unterschrieben hätte. Nachdem zwei Pfarrer entlassen worden seien, hätten die Berliner den Vorschlag bekommen, dass ihnen die Subscription erlassen werden könne, wenn sie mit einer „unterthänigsten Devotion“ einkommen würden. Die daraufhin durch die Berliner überreichte Declaration habe der Kurfürst jedoch unter dem Vorwand, dass sie zu weitläufig sei und sich die FC darin finde, abgelehnt. Calov äußert zunächst sein Bedauern, dass „die himlische Göttliche warheit, wie sie nach dem wercke Gottes u[nd] der ungeEnderten Augspürgischen Confession in dem Christlichen Concordien-Buch erkläret, u[nd] vertreten wird, [. . .] darzu auch durch formulen der Obligation derer ordimandorum u. Confirnation des Chfl. Consistorij die Lehrer u. Prädiger verbunden worden sind, solche ein Verenderung Vorgenommen wird, daß nicht aus der Christl. Concordien gedacht, ja die selbige auch gar abgethan, u. wieder der selben heilsame Verfaßung des Lehr-Ampt hinführo sol geführet werden“202 .
Calov schlägt vor „dieße Sache, weil sie hochwichtig were an ein gantzes Collegium“ oder „mehren Gottes gelehrten“ zu schicken und Voten anzufordern. Er kritisiert, dass die Berliner nach der Absetzung der beiden Pfarrer wie gefordert umgehend eine Declaration geschickt hatten, anstatt zunächst ihm „daß wegen ihr Gewißen unterthänigst [. . . zu] eröffnen“. Im Folgenden stellt Calov seine Meinung zu fünf Fragestellungen dar. Auf die erste Frage, „Ob sie Salva confessione et conscientia in solcher Von Ihnen begehrten Declaration die Außdrückliche benennung der so Verfaßten und in streitgezogenen Form. Concord. unter laßen können“ antwortet Calov, 203 dass die Nennung des Konkordienbuches in der Berliner Declaration unmögLied, 8; Ders.: Ausführliche Lieder-Erklaerung [. . .] Zweyter Theil, Altenburg 1749, 650; vgl. auch Petrich: Gerhardt, 158.331; Bunners: Gerhardt, 91. 201 Das Original muss als verschollen gelten, vgl. jedoch die Abschriften in GKl Archiv XII/90/2, f. 95r–99v und FB Gotha Chart. A 282, f. 94r–97v. 202 GKl Archiv XII/90/2, f. 95v. 203 Die Antwort auf diese und die folgende Frage werden an dieser Stelle nur kurz zusammengefasst, vgl. ausführlich 5.1.9.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
lich ausgelaßen werden könne, da sie ein „actus confessionis“ sei, der „frey, auf richtig völlig und ohne wandel sein“ müsse. Auf die zweite Frage, ob auch Calov der Meinung sei, dass die Reformierten die Formulierung „nostri libri Symbolici“ verstehen würden „cum exceptione F. C.“, antwortet er, dass die Berliner Declaration nicht aufrichtig und rechtmäßig wäre, wenn sie zum einen durch die Reformierten als ein Dokument ohne Nennung der FC aufgefasst werden könne und zum anderen als Ersatz für die bisherigen Reverse als „eine Sanctio u. formula“ gehandhabt werden solle. Calov beantwortet auch die dritte Frage, „Und da ihnen noch endlich F. C. möchte [als] Zusatz [. . .] Vergönnet werden: ob sie demnach den Vorbedachten Edicten Zu pariren, [. . .] manifesta contradictione Verbinden können“ verneinend: „was die Formulam Concordia statuiret wird in den Edictis geleugnet, Zum Exempel, Dogmata Reformatorum esse fidei vera, et saluti exitiosa“. Die FC befehle jedoch, „daß man Reform. errores in antithes. treiben soll, nicht nur alß schlechte Ihrtum, sondern alß Haereses, daß man sie condemniren soll, wie andere Haereses condemniret werden, und censura Ecclesiastica notiren, das man der Kirchen Gottes die hohe gefahr, die auf den selbigen den Seelen Zu stehet, Vorhalten soll, daß alles aber wird in denen Edictis verboten. Sie verdammet die Seyncretisterey, zur selbigen also sind die erwehnten Edicta angesehen“.
Daher sei es sinnlos und ärgerlich, wenn die Berliner den Revers unterschrieben. Schließlich würden sie angehalten werden, „nicht nach der Formul, sondern nach den Editcis ihr Ampt zu führen“. Auch die vierte Frage, „Nach dem auch oft erwehnete Form. Concordia bey fast 30 Jahren hero in den reversen der berlinischen Pröbste Sie des Anno 53. her in öffendlichen landes recessen, und nun auch über 10 Jahr hero in den Meisten vocationiby ministrorum Ecclesia außgelaßen worden: Ob denn solches mit ein ander sie der gleichen Zu thun bewegen u. für der gesambten waren Lutherischen Kirchen gnugsam entschuldigen können?“,
beantwortet Calov negativ. Die bisherige Praxis sei „theils facti, non juris, theils nicht in terminis contradictoriis erhalten, wie sie itzo will erhalten werden, theilß auch nicht in der Meinung“. Die Auslassung sei „nicht sensu exclusivo, u. cassatorio, sondern sensu inclusivo [geschehen]; Sie hatt auch nicht eines solchen respect gehabt, alß itzo, da sie soll an statt der Subscription der Edictorum angenommen werden [. . .], welche doch wieder ihr Christliches Theologisches gewißen lautet“204. Zudem würden sich die Situationen unterscheiden, denn „dazu mahl hatt man nicht so auff einen Syncretismum gedrungen, alß itzo nach dem unseligen Caßelschen Colloquio, dazu mahl würde Consequenter nichts contra Confessionem begangen, Es würde das liberum religionis exercitium in thesi und Antithesi GKl Archiv XII/90/2, f. 98r–98v.
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5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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Juxta Formul. Concord. nicht so gehemmet, ob schon Formul. Concord. in den vocationiby u. reversen nicht erwehnet worden“.
Wenn die Pfarrer jedoch bereits vor 30 Jahren auf die Nennung der FC gedrungen hätten, „so wehre es so weit nicht kommen [. . .], das manche die Reformirte Religion nicht eben so Verdamlich helt, man ihr itzo gar mit Calixtinis und Rintelensiby [. . .] principiis fasciniret ist“205 . Auf die fünfte Frage, wie die Berliner Pfarrer „mit einiger Declaration ihrer Armen, in äußerster gefahr stehenden Kirchen helffen könten, [und] wie u[nd] welcher gestalt doch die selbe müste gestellet, u. ein gerichtet werden?“, antwortet Calov, 206 dass es nicht lohnen würde, sich „darüber den Kopff Zu [zer]brechen, wenn es bey den Edictis bleibet, u. die selben absolata decreta sein“. Im jetzigen Zustand der lutherischen Kirche, in der den Pfarrern „ihr Ampt in effectu genommen, ihr exercitium religionis gehemmet, ihr Theologisches Christliches gewißen gekräncket, u. ein unVeranWortliches Weßen, Wieder ihr gewißen Zu gezogen“207, könne keine Declaration, sondern allein Gott helfen. Calov lehnt die Abfassung einer Declaration entschieden ab, denn „Wir sollen Menschen sein, u[nd] nicht Gott, das ist die Summa, es wird doch nicht anders, oder ist ewige unruhe u. hertzleid unser lohn“208 . Wie während des gesamten Kirchenstreits hatte sich Calov in den Responsen als unnachgiebiger Vertreter lutherisch-orthodoxer Lehre präsentiert, der nicht nur die Auslassung der Nennung der FC, sondern die Declaratio an sich ablehnte. Solange der Kurfürst auf den Gehorsam gegenüber den Bestimmungen des Edikts bestehe, seien alle Declarationen oder Reverse unnütz. Obwohl die Berliner Pfarrer weite Teile des Schreibens Calovs benutzten, hielten sie sich längerfristig nicht an dessen Empfehlungen, wie die eigenen Reversentwürfe Ende Mai 1665 zeigten. Von den als verschollen geltenden Briefen Gerhardts an Calov aus den Jahren 1667/68 kann in dieser Arbeit zumindest eine Antwort Calovs209 vom 26. Oktober 1668 thematisiert werden. Bemerkenswert ist darin zum einen die Tatsache, dass sich Gerhardt weiter mit der Situation seiner Amtsgenossen aus AaO., f. 98v. Auch an dieser Stelle zeigt sich Calovs Bildung, indem er zunächst auf die Frage mit „Hic labor, hoc opus est“ [= dieses ist ein schweres Stück Arbeit] antwortet. Mit den Worten beschreibt bei Vergil die Prophetin dem Helden Aeneas die Mühen des Aufstiegs von der Unterwelt (Vergil: Aeneis 6. 129). Diese Redewendung, die in der Frühen Neuzeit gebräuchlich war, beschreibt die Schwierigkeit, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Des Weiteren führte Calov verschiedene Zitate aus Briefen Luthers an Georg Spalatin an. 207 GKl Archiv XII/90/2, f. 99r. 208 AaO., f. 99v. Hier zitiert Calov einen bekannten Satz aus Luthers Brief an Spalatin vom 30. Juni 1530, vgl. WA.B 5, 415,45 f. 209 AaO., f. 420r–421v. 205
206
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
einandersetzte, obwohl er mit seiner eigenen Berliner Pfarrstelle bereits abgeschlossen hatte.210 Zu jener Zeit hatten die Berliner Pfarrer eine Anfrage an verschiedene Theologen gesandt, ob sie diejenigen Geistlichen, welche die kurfürstlichen Edikte unterschrieben hätten, „pro Frat[res] in Christo Jesu annehme und zum Abendmahl laßen“ könnten. Dies zeigt, dass sich Gerhardt nicht nur mit theoretischen Lehrfragen, sondern ebenso mit Fragen pfarramtlicher Praxis an Calov wandte. Calov antwortet, dass Lutheraner, welche die Edikte unterschrieben hätten, „für rechte Lutherische Lehrer [n]o[n] können gehalten noch als Brüder in Christo aufgenommen und Zum H. Abendmahl admittiret werden“. Wenn diese auf dem Abendmahl bestehen würden, sollten sie „entweder Zu den andern Kirchen in der Stadt, oder Zu Predigern auf das Lande sich“ halten, damit den Berlinern nicht „größere Noth und gefehr deren recht Gläubigen lehrern und Kirchen selbst Zugezogen würde, Zu dem schon den Marianischen Predigern Verbothen, die PfarrKinder Von St. Nicolai nicht anZunehmen“211. Allerdings könne der Kurfürst auch an anderen Orten Reskripte erlassen, dass die Pfarrer zum Abendmahl gelassen werden müssten, wodurch „dz Betrübniß größer, und die Gewißen [. . .] bekümmert werden müsten“. Schuld an dieser Situation seien die Reformierten: „der Spiritus Calvinianus ist listig, hitzig und turbatem“! Zwar laufe es „wider dz gewißen“, wenn das Abendmahl von „lehrern, die nicht aufrichtig die lehren [vertreten] oder ärgerlich im leben sind“, verwaltet würde, doch könnte man es von ihnen ruhig annehmen: „Weil diese Syncretisten eine Substantiam Sacramentorrum nicht irren, als können Sie dz Sacarment nach den dictis August. Conf. Wohl dispensiren“. Das Abendmahl würde nicht in ihrem Namen, sondern „die Sacrtamenta nomine Ecclesia dispendiret werden, als Güther, die der Kirche anvertrauet sind“212 . Schließlich könne der „unglaube“ den „Gottesglaube[n]“ nicht aufheben. Calov rät den Berlinern dazu, bei ihrer Standhaftigkeit und bisherigen Meinung zu bleiben: „Wenn aber nicht größer Gefahr und leid zu besorgen, so könte es ohne Zweiffel Zu ihrem Besten gereichen, Wan sie sich Von den Heuchlern und Syncretisten ab, und Zu den beständigen Lehrern machten“. Er schlägt zudem „Zur Prüfung derer die rechtschaffen sind, Zu Verhütung der gefährlichen Mengerey, Zu erhaltung der reinen Lutheranismi“ vor, dass Am 14. Oktober hatte er bereits seine Probepredigt in Lübben gehalten und wurde am 29. Oktober offiziell als Archidiakon berufen. 211 Anscheinend war den Pfarrern der St. Marien-Kirche, Lubath und Helwig, durch das Konsistorium befohlen worden, auch diejenigen zum Abendmahl und zur Beichte zuzulassen, welche die Edikte unterschrieben hatten. Ein Beleg dafür ist jedoch nicht auffindbar. 212 GKl Archiv XII/90/2, f. 420v. 210
5.1 Die Folgen des Kolloquiums
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die „Lutheraner zu den recht Lutheranern, und Syncretisten Zu den Syncretisten sich hielten, gleich Wie die Reformiertten sich zu den Reformiertten hallten“. Durch diese Maßnahme würden „Viellen die Augen aufgethan“, dass durch die Edikte „nicht Einigkeit, sondern ein [. . .] Schisma drauß entstehe“213. Jedoch sei zu befürchten, dass „die Wenige aufrichtige unsrigen gäntzlich exterminiret werden möchten, [. . .], dz sie Autores Schismatis weren, wie woll nicht Sie, sondern die [. . .] Syncretisten deßen Warhaftige Ursache sind“. Wieder einmal präsentierte sich Calov als ein unnachgiebiger Theologe, der dazu riet, Pfarrern, die das Edikt unterschrieben hätten, Beichte und Abendmahl zu verweigern. Diese Meinung entsprach auch der Einstellung der Berliner Pfarrer. Anders als diese hatte Calov jedoch verschiedene Aspekte des Problems differenziert betrachtet und seine Auffassung dazu auf der Basis der Bekenntnisschriften und des Gewissens begründet. Gerhardt und die Berliner Pfarrer fragten neben ihren Amtskollegen aus Frankfurt/Oder214 vornehmlich Calov und die Wittenberger Fakultät um Rat und hielten sich größtenteils an deren Ratschläge. Der Kontakt zwischen den Berliner Pfarrern und Calov beruhte auf Gegenseitigkeit. Calov unterstützte die Berliner fortwährend, da er zum einen die Situation in Brandenburg gut einzuschätzen und zum anderen in ihnen Gleichgesinnte im Kampf für die reine lutherische Lehre zu erkennen glaubte. Neben den Consilia nahm er beispielsweise Fromm nach dessen Flucht aus Berlin bei sich auf (vgl. 5.3.3.4) AaO., f. 421r. Neben Calov standen die Berliner Pfarrer mit Amtsbrüdern und Professoren, denen sie auf ihrem Lebensweg begegnet sind, in brieflichem Kontakt. Eine Aufzählung und Untersuchung aller Kontakte der Berliner würde zu weit führen. Beispiele für Berichte über das Kolloquium, die zwar in der Forschung bisher größtenteils unbeachtet blieben, aber auch keine neuen Erkenntnisse vorbringen würden, sind die im Vergleich zu den Briefen Gerhardts recht nüchterne Briefwechsel zwischen Jacob Helwig und dem Helmstedter Theologieprofessor Gerhard Titius (1620–1681) und zwischen Helwig und Caspar Mauritius (1615–1675), seit 1662 Pfarrer an der Hamburger St. Jacobi-Kirche. Auch zwischen Lubath und dem Wittenberger Theologieprofessor Johann Andreas Quenstädt (1617–1688) fand zwischen 1677 und 1683 ein ausführlicher Briefwechsel statt, vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 488r–549r. Vgl. zu Titius Zedler 44 (1745), 458–460; P. Tschackert: Art. Titius, Gerhard, ADB 38 (1894), 378 f. Vgl. den Bericht Helwigs an Titius vom 13. Dezember 1664 in FSATS 1720, 535–543 und Titius’ Antworten in GKl Archiv XII/90/2, f. 101r–101v und 101v–102v. Titius hatte anscheinend die Vorkommnisse in Berlin aufmerksam verfolgt. So lieferte er sich unter anderem mit Johann Vorstius einen literarischen Streit über Marcus Freunds (1602–1662; Pfarrer in Oberstetten und einer der wichtigsten Kalenderverfasser des 17. Jahrhunderts) Predigt und in Druck gegebene lateinische Epistel, vgl. Meinardus: Protokolle VI, 710. Vgl. zu Mauritius Zedler 19 (1739), 2218; K. E. H. Krause: Art. Mauritius, Caspar, ADB 20 (1884), 710. Vgl. den Bericht Helwigs an Mauritius vom 16. November 1664 in UnNachr 1718, 616–619. 213 214
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
und steuerte er unter anderem ein Epicedium zum Leichenpredigtdruck nach dem Tod Reinhardts bei. Die gutachterlichen Konsultationen der Brandenburger Lutheraner mit der Universität Wittenberg trugen entscheidend zur Meinungsbildung der Berliner Pfarrer bei und bestärkten sie in ihrem jeweiligen Verhalten. Der Einfluss der Wittenberger und besonders Calovs auf die Haltung der Berliner Pfarrer während des Kirchenstreits war somit evident.
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt Die Quellenlage zu den Auseinandersetzungen um Gerhardts Verbleib im Pfarramt ist gut.215 Die Ereignisse sind ausführlich durch Roth, Schulz, Langbecker und Wangemann dargestellt worden.216 Allen diesen Darstellungen haften jedoch – teils in der Chronologie, teils in der zu einseitig wertenden Darstellung – Mängel an, die ein objektives Nachvollziehen schwierig machen. Da über die bereits bekannten Quellen hinaus einige wenige Materialen neu erschlossen werden konnten, sei der weitere Gang der Geschichte an dieser Stelle rekonstruiert.
5.2.1 Die Verweigerung der Unterschrift unter den Revers und das Eintreten von Bürgerschaft, Gewerken und Magistrat Im einem Brief vom 31. Januar/10. Februar 1666217 erinnerte von Schwerin im Auftrag Friedrich Wilhelms den Magistrat daran, „daß noch mehr vorhanden, so den Revers nicht von sich gegeben, von denen insonderheit der Pfarrer zu St. Nicolai Paul Gerhardt die andern nicht wenig von unterschreibung des Reverses dehortiret [= abgeraten]“. Daher befahl der Kurfürst den Stadtverordneten, Gerhardt „zu ausstellung des Reverses, daß er unsern Edicten gehorsamst nachkommen wolle, anzuhalten, und, da er solches zu thun sich 215 Über die Auseinandersetzungen existiert ein Aktenkonvolut, welches unter dem Titel „Acta des Königl. Geheimen Staats-Archivs betreffend Suspension und Remotion des Diaconus Paul Gerhardt zu Berlin (Fol: 59.)“ viele wichtige Schriften größtenteils im Original bewahrt hat. Es befindet sich in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19. 216 Vgl. Roth: Gerhardt, 16–35; Langbecker: Gerhardt, 155–205; Schulz: Gerhardt, LXVII–LXXIV; Wangemann: Johan Sigismundt und Paulus Gerhardt, 189–220. Darüber hinaus gibt es viele Darstellungen, darunter auch Hering: Neue Beiträge II, 231–233; Beeskow: Kirchenpolitik, Bd. 2, 262–263, die auf Grund mangelnder Quellenbeachtung und -einbindung oder ihrer Kürze nicht als eigene Forschungsleistung gelten können und daher ferner nicht beachtet werden. 217 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 24r–24v; ein Auszug dieses Schreibens mit den Passagen, die nur Gerhardt betreffen, befindet sich zudem in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 26r.
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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verweigert, ihn gleichfalls mit der Remotion zu bedreuen“. Ob Gerhardt tatsächlich versucht hatte, seine Kollegen zu überzeugen, den Revers nicht zu unterschreiben, ist nicht auszuschließen, lässt sich jedoch an Hand der Quellen nicht hinreichend nachweisen. Ob zudem ein solches Abraten in der Öffentlichkeit geschah, ist auf Grund Gerhardts zurückhaltender öffentlicher Meinungsäußerung während des gesamten Kirchenstreits zu bezweifeln. Der Grund, dass Gerhardts Unterschrift nun gefordert wurde, lag wahrscheinlich in der Tatsache begründet, dass er nach den bereits geforderten Lilius und Reinhardt der nächstranghöchste Pfarrer an der Berliner St. Nicolai-Kirche war218 , der den Revers noch nicht unterschrieben hatte. Wie aus einem Bericht von Schwerins an Friedrich Wilhelm vom 13. Februar 1666219 deutlich wird, wurden Lilius und Gerhardt am 6. Februar vor das Konsistorium zitiert. Dabei verkündeten die Räte gemäß dem kurfürstlichen Schreiben Lilius die Wiedereinsetzung in sein Amt und forderten Gerhardt auf, den Revers zu unterschreiben. Als er sich weigerte, boten ihm die Räte weitere Bedenkzeit an, drohten bei einer wiederholten Ablehnung jedoch mit der „remotio ab officio“ [= Amtsenthebung]. Nach kurzer Überlegung antwortete Gerhardt: „Er hette sich schon lengst bedacht, und würde sich woll nicht endern“. Daraufhin wurde ihm „die remotion in Ew. Churfl. Durchl. Nahmen angesagt“220 . Mit knappen Worten wurde Gerhardt die in beruflicher Hinsicht schicksalhafteste Entscheidung seines Lebens verkündet. Sie kam jedoch keineswegs überraschend. Die wiederholte Ablehnung der Unterschrift war keine übereilte Reaktion, sondern das Ergebnis einer ausführlichen Überlegung unter bewusster Inkaufnahme der harten beruflichen und sozialen Konsequenzen. Diese Reaktion wird nur dann nachvollziehbar, wenn zum einen Gerhardts Verständnis von den Aufgaben und den Grundlagen des Pfarrberufes, zum anderen die Bedeutung, welche er seiner Gewissensentscheidung beimaß, beachtet wird. Zu den wesentlichen und wesensbegründenden Aufgaben des lutherischen Pfarramtes gehörte für Gerhardt die Unterrichtung der Gemeindeglieder in der als wahr erachteten lutherisch-orthodoxen Lehre. Das Wissen um die wahre Lehre wiederum war notwendig für die Erlangung der Seligkeit, die im 17. Jahrhundert als nahezu einziger Zielgedanke der Religion galt.221 Die Unterrichtung musste in Abgrenzung von aus der Sicht der Lutheraner falsch 218 Vgl. zu den unterschiedlichen Angaben bezüglich Gerhardts Stellung nach den Remotionen 5.3.3. 219 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 f. 27r–27v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 389 f.; Langbecker: Gerhardt, 156. 220 GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 27v. 221 Vgl. dazu Holl: Die Bedeutung der großen Kriege, 319.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
erkannten Lehren geschehen. Eine solche Abgrenzung geschah stets durch konfessionelle Polemik. Die konfessionelle Polemik 222 wurde als einzig mögliche und durch die Bekenntnisschriften gebotene Möglichkeit angesehen, sich gegenüber theologisch Andersdenkenden zu äußern. Da in den Augen Gerhardts zwischen den Lutheranern und den Reformierten in Brandenburg ein ‚Dissensus fundamentalis‘ bestand, war es die theologische Pflicht eines jeden lutherischen Pfarrers, die Irrlehren der Reformierten durch öffentliche Polemik, wie dies beispielsweise beim Elenchus geschah, darzulegen. Wurde jedoch diese polemische Abgrenzung untersagt bzw. durch den Kurfürsten gefordert, den Pfarrberuf ohne konfessionelle Polemik auszuführen, war dieser für einen lutherischen Pfarrer wie Gerhardt streng genommen nicht mehr möglich. Zu den Fundamenten des Pfarrberufes gehörte neben der Bibel die theologische Gründung in den lutherischen Bekenntnisschriften. Gerhardt hatte sich in seinem Ordinationsgelübde an die Bibel und die Bekenntnisschriften gebunden und hat sich lebenslang eindrucksvoll daran gehalten. Die in der Konkordienformel begründete konfessionelle Polemik stand für Gerhardt auf einer ähnlich hohen Stufe wie biblische Anweisungen. Er sah sich demnach zur Ausführung des Pfarramtes unter Ausklammerung eines Teils seiner Grundlagen, nämlich des Gebots der konfessionellen Polemik in der FC, nicht im Stande. Er konnte mit seinem Gewissen nur dann in Einklang leben, wenn er sein Glaubensfundament nicht aufgeben musste. Konsequenz der Unterschrift unter den Revers wäre gewesen, dass sich Gerhardt dem Edikt gegenüber gehorsam hätte verhalten müssen. Die Ausführung des Pfarramtes und der Gehorsam gegenüber dem Edikt standen für ihn jedoch diametral gegeneinander und waren für ihn unvereinbar. Daher hatte er sich um seines Gewissens und seines bekenntnisgebundenen theologischen Verständnisses willen entschieden, den Revers nicht zu unterschreiben und des Amtes enthoben zu werden. Auf Grund dieses Verständnisses kämpfte Gerhardt in den kommenden Monaten nicht selbst für sein Amt. 223 Dies taten andere: Zunächst intervenierten „die Bürgerschaft und die Gewerke zu Berlin“ gegen die Entlassung in einem emotionalen Brief an den Magistrat von Berlin.224 Ihnen sei „ein neuer Vgl. zur Kontroverstheologie 2.2.2.1. Trotz der Entlassung führte er jedoch noch eine Trauung durch (vgl. ELAB 33/66 Trau-Register. Der Erste Haubttheil der Kirchen Bücher. Berlin. St. Nicolai 1650–1683, 106) und schrieb weiterhin interne Voten für seine Amtsbrüder (vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 231r–231v und 5.3). 224 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 30r–31v; teilweise abgedruckt bei Roth: Gerhardt, 17 f.; vollständig bei Schulz: Gerhardt, 390 f.; Langbecker: Gerhardt, 157– 159. Der undatierte Brief muss dem Inhalt nach Anfang Februar 1666 entstanden sein. 222 223
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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Schmerz darin zugestoßen, daß Wir erfahren müssen, daß Herr Paul Gerhardt, unser geliebter Prediger und Seelsorger, Unß auch will entzogen, undt Er wegen versagter unterschreibung des Chrufürstl. Edicts, seines Ambtes erlaßen werden“. Dies konnten sie nicht verstehen, da es doch „mehr als Bekandt [sei], daß dieser Mann nimmermehr wieder Sr. Churfl. Durchl. Glauben, oder dero Genoßen geredet, geschweige geschmehet hette, sondern Er hat alle undt iede zum wahren Christenthumb, durch Lehre undt Leben bis dato geführet, undt keine Seele mit worten oder wercken angegriffen“. Wie sehr Gerhardt in seiner Gemeinde beliebt gewesen sein muss, zeigt sich in der Schilderung seiner Frömmigkeit. Die Bürger fragten: „Was wirdt dann auß Unß, oder unserer Stadt entlich werden, wann wir die frommen nicht behalten, und, so mit ihrem Gebeth bishero noch vor dem Zorn Gottes gestanden, nicht mehr bey Uns haben solten? [. . .] wie viele unerträglicher wird eß Unß dann ergehen, wann wir [. . .] fromme und Gotseelige Männer von Uns stoßen“? Die Bürger baten den Magistrat, „sich doch unser, unserer Kirchen, undt deren Predigern getreulich annehmen, [. . .] vor gedachten Hrn. Gerharten treufleißig sollicitiren [= flehen/drängen], undt es bey Sr. Churfl. Durchl. unterthänigst dahin vermitteln helffen, daß dieser fromme- erliche- und in vielen Landen berümbte Man Unß möge gelaßen, undt Ihn wegen sein darüber gemachtes Gewißen, die subscription gnädigst erlaßen werden“.
Die große Zahl der nicht nur lutherischen, sondern auch reformierten Unterzeichner des Briefes (unter anderem die Zünfte der „tuchmacher und Gewandt schneider, Schumacher, Becker, Schlechter, Kürsner, Schneyder, zingießer, Fleischer, Huf- und Waffenschmide“) war ein eindrucksvolles Zeichen für Gerhardts Beliebtheit. Der Magistrat folgte der Bitte der Bürgerschaft und sandte am 13. Februar zum einen das Schreiben Letzterer und zum anderen einen eigenen Brief225 an den Kurfürsten, in dem sich die Stadtverordneten für die Wiedereinsetzung Gerhardts stark machten. Im Wesentlichen wiederholte der Magistrat mit der Betonung der Frömmigkeit und konfessionellen Friedfertigkeit Gerhardts die Argumente der Bürger. Neu war jedoch die Betonung, dass „beyder Religionen Zugethane, ihm woll das Zeügnüß geben können, daß Er bißhero einen untadelhafften Wandell [. . .] geführet“. Des Weiteren lobte der Magistrat ausdrücklich Gerhardts „Geistliche Gesänge oder Lieder“. Wenn sich Gerhardt aus Gewissensgründen weigere, den Revers zu unterschreiben, so solle dies nicht als Ungehorsam aufgefasst werden, „weil doch einem ieden Menschen sein Gewißen frey stehet, und auch niemand darin [. . .] zu kräncken were“. Daher bat auch der Magistrat den Kurfürsten, dass er Gerhardt „die subscrip Vgl. GStA PK Rep. 47 Tit. 19, f. 28r–29v; teilweise abgedruckt bei Roth: Gerhardt, 18; vollständig bei Schulz: Gerhardt, 391 f.; Langbecker: Gerhardt, 159–162. 225
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
tion erlaßen, und ihn damit verschonen“ solle. Die Bitte auf Wiedereinsetzung wurde hingegen nicht nochmal eigens erwähnt. Die Stadtverordneten hatten volles Verständnis für die Verweigerung der Unterschrift aus Gewissensgründen. Auch sie verstanden das Gewissen als eine Instanz, die höher als der Gehorsam gegenüber dem Landesherrn einzustufen sei. In dem Protest der Bürger und des Magistrats spielte nicht nur die Beliebtheit Gerhardts als Pfarrer eine Rolle. Der Fall Gerhardt wurde für die größtenteils lutherischen Bürger ein Exempel im Kampf des alteingesessenen Luthertums gegen den obrigkeitlich begünstigten reformierten Glauben. Aus Angst vor einer Stärkung der Reformierten auf Kosten des lutherischen Glaubens stand der Protest gegen Gerhardts Amtsentsetzung exemplarisch für den Kampf gegen den reformierten Glauben. Zudem spielte für die Bürger und den Magistrat der Widerstand gegen den Machtanspruch des beginnenden Absolutismus eine wichtige Rolle. 226 Von Schwerin zeigte sich in seiner Antwort im Namen Friedrich Wilhelms am 28. Februar/10. März wenig nachsichtig und übte Druck auf den Magistrat aus.227 Der Oberpräsident betonte, dass Gerhardt entlassen worden sei, da er Reinhardt und den anderen Pfarrern fortwährend zugeredet habe, den Revers nicht zu unterschreiben: 228 „als dem Lizenziaten Reinhardt die Schuld dieser Widersetzlichkeit beigemessen worden, er, Paul Gerhardt, ohne einige darzugegebene Veranlaßung und zu bezeugung seines hitzigen gemütes, aufgestanden und gesagt, daß [. . .] er vielmehr Reinharten zugeredet, wenn der hätte weichen wollen. [. . .] Sondern auch, daß dieser Gerhard [. . .] die anderen Prediger zu sich beruffen, und sie ernstlich vermahnet, den revers nicht zu unterschreiben“.
Wenn die Magistratsmitglieder Gerhardt wieder in seinem Amt sehen wollten, müssten sie ihn „ermahnen, daß er sein gewißen nicht beschweren, und zu weiterer Verwirrung [. . .] nicht anlas geben solle“. Von Schwerin drohte, 226 Dieser vor allem durch die marxistische Geschichtsforschung betonte Aspekt behält trotz gelegentlicher Überzeichnungen seine Richtigkeit. Vgl. De Boor: Theologie, 38 f.; Beintker: Bekenntniswechsel, 51. 227 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 32r–33v; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 304r–305r; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 393 f.; Langbecker: Gerhardt, 162–164. 228 Auch Schulz: Gerhardt, LXVIII, behauptet, Gerhardt habe Lilius und Reinhardt fortwährend zugeredet, den Revers nicht zu unterschreiben. Dafür lassen sich jedoch keine direkten Belege finden. ME. könnte es sich hierbei um eine durch von Schwerin erfundene Begebenheit handeln, durch die er später versucht hat, die Remotion Gerhardts zu rechtfertigen. Von Schwerin benutzte seinen Brief und Äußerungen des Kurfürsten als Basis für den Bericht in der Sitzung des Geheimen Rates vom 8. März 1666 (vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 414 f.), in der er Gerhardt beschuldigte, dass er die Berliner Pfarrer „zu sich gerufen und sie ernstlich vermahnet, den Revers nicht zu unterschreiben: solches bezeuget gar nicht, daß er ein solcher frommer Mann wäre“.
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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dass der Kurfürst „weder ihn [= Gerhardt] noch andere prediger in Unsern Landen dulden werden, so solchen billigmäßigen Revers nicht unterschreiben wollen“. Sollte Gerhardt den Revers nicht unterschreiben, so müsste der Magistrat einen anderen Pfarrer anstellen, der bereit wäre, den Revers zu unterschreiben. Unzufrieden mit der Reaktion von Schwerins, sandten die „Bürgerschaft und Gewerke“ wiederum einen Brief229 an den Berliner Magistrat, in dem sie sich mit dem Verhalten Gerhardts solidarisierten. Darin zeigten sie sich „bestürzet, undt erschrocken“, dass nicht nur Gerhardt nicht wieder in sein Amt restituiert würde, sondern auch dass künftig nur noch Pfarrer, die den Revers unterschrieben hätten, eine Pfarrstelle bekleiden dürften. Die Reaktion der lutherischen Pfarrer auf den Revers könne nicht als „Beschimpffung, sondern nur zu erforschung der Wahrheit, undt beruhigung des Gewißens, dahin Christus uns alle weiset, angesehen“ werden. Die Unterschrift jedoch „hat Ihnen unsere Lutherische Religion, undt ihr gewißen, sambt der Beruff zu ihrem Ampt, bis dato nicht nachgeben können“. Falls sie oder andere zukünftige Pfarrstelleninhaber den Revers unterschreiben würden, „so könnte und würde die Gemeine Sie vor rechte Lutherische Prediger, oder daß Sie unserer Religion sincere zugethan wehren, nicht halten“. Da der Kurfürst sogar „catholicen, Juden, Wiedertäuffer, undt Weigelianer in ihren Landen ohne einige subscription dulden undt leiden“, sei es unverständlich, dass „Wir Lutheraner, undt unsere Prediger“ nicht geduldet werden sollten. Daher baten die Bürger den Magistrat, sich erneut für Gerhardt einzusetzen. Den Kurfürsten ersuchten sie, „Hrn. Gerharten [zu] restituiren, undt unsern izigen Predigern, sambt- und sonders die subscription, oder ausstellung eines Reverses, gnädigst zu erlaßen“. Daraufhin verfasste der Magistrat erneut ein Schreiben 230 , das er zusammen mit dem Brief der Bürger am 13. März an den Kurfürsten sandte. Der Magistrat unterstützte das Ansinnen der Bürger und unterstellte, dass erst durch die Unterschriftsforderung „lauter irrungen entstehen, Niemand den andern trauen, und unsere Leüthe davor halten, als wann ihnen gar das freye Exercitium Religionis entzogen werden würde“. Um der Bürgerschaft und des Magistrats willen baten sie Friedrich Wilhelm erneut, auf eine Unterschriftsforderung zu verzichten. Der Magistrat und die Bürgerschaft hatten deutlichere Worte als in den ersten beiden Briefe gefunden. Sie solidarisierten sich nicht nur mit dem Verhalten Gerhardts, sondern machten dem Kurfürsten klar, 229 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 36r–38v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 394 f.; Langbecker: Gerhardt, 164–168. Der undatierte Brief muss dem Inhalt nach Ende März entstanden sein. 230 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 34r–35v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 396 f. Langbecker: Gerhardt, 168–170.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
dass sie keinen anderen Pfarrer dulden würden, der von sich aus den Revers unterschreiben wolle. Dieses widerständige Verhalten stellte einen offenen Affront gegen die kurfürstliche Religionspolitik dar! Friedrich Wilhelm ließ von Schwerin mit einem langen Brief vom 3./13. April antworten.231 Darin griff er die Bürger und Gewerke an und meinte, „daß diese verordnete nicht von sich selbst, sondern blos aus antrieb einiger Unruhiger und Kirchenfriedhäßiger Leute diese schrifft abfaßen und bei euch eingeben laßen“. Desgleichen kritisierte von Schwerin den Magistrat, dass er die „unziembliche[n] und unfundirte[n] Dinge“ der Bürgerschaft aufgenommen „und also deren [. . .] mit theilhaftig“ gemacht habe. „Eigentlich“, so von Schwerin an die Stadtverordneten, „seid ihr so einfältig nicht, daß ihr solches glauben, und es nicht vielmehr vor eine greuliche und [. . .] erdachte exaggeration [= Aufwiegelung] und Unwahrheit halten müßtet“. Der Oberpräsident stellte klar, dass der Kurfürst die Prediger nicht entlassen wolle, wenn sie sich „Unsern Edictis gemäß des Calumniirens, Lästerns, Verketzerns und Verdammens der Reformirten und deren Religion enthalten“. Es sei bekannt, dass die Berliner Prediger dieses getan und somit „selbst Ursach gegeben [haben], daß Wir den Revers von ihnen fordern müßen“. Anstatt die Bürgerschaft zu Recht zu weisen und die Pfarrer zur Unterschrift zu überreden, hätte der Magistrat das Anliegen der Bürgerschaft unterstützt. Von Schwerin verneinte, dass durch den Revers „lauter irrungen entstünden“ oder den Menschen „gar das freye Exercitium entzogen werde“. Die Pfarrer besäßen nach wie vor die Freiheit, ihre „Lehre offentlich zu treiben, besonders auch die dissentirende zu wiederlegen“, nicht jedoch die Freiheit zum „Verketzern und Verdammen“. Daher schloss von Schwerin: „Wir verbleiben aber bey Unserer vorigen Resolution und können Paul Gerharden ohne ausstellung des reverses nicht restituiren“. Wer sich wie Gerhardt nicht an die kurfürstlichen Vorgaben halte, „der mag in solche Länder ziehen, da ihm solches verstattet wird“. Diese schroffe Aussage machte deutlich, dass sich Friedrich Wilhelm eine friedliche Einigung mit den lutherischen Pfarrern kaum mehr vorstellen konnte. Ihm kam es darauf an, seine kirchenpolitischen Maßnahmen vollständig durchzusetzen. Deshalb war er auch dazu bereit, personelle Konsequenzen zu ziehen und nichtkooperierende Pfarrer notfalls außer Landes zu weisen oder ziehen zu lassen. Abschließend drohte von Schwerin mit harten Worten dem Verfasser der Briefe Strafen an und ermahnte den Magistrat, künftig keine derartigen Briefe an den Kurfürsten zu senden, sondern stattdessen die Pfarrer zur Unterschrift zu überreden. 231 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 39r–42r; abgedruckt bei Mylius: Corpus I/1, 389–391; Schulz: Gerhardt, 397–399 (mit einigen Fehlern); Langbecker: Gerhardt, 170–175.
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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Der Antwortbrief von Schwerins auf das letzte Schreiben der Bürger und des Magistrats war unmissverständlich und kompromisslos: Friedrich Wilhelm ließ sich durch die Drohungen nicht beeindrucken, sondern stellte klar heraus, dass er als einziger das Recht habe, über die Kirchenpolitik zu bestimmen. Den Magistrat griff er massiv an, bescheinigte ihm politische Kurzsichtigkeit und Unüberlegtheit und zeigte ihm die Grenze seiner Macht auf. Die eindeutigen Worte von Schwerins verfehlten ihre Wirkung nicht, denn tatsächlich schrieben weder die Bürgerschaft noch der Magistrat weitere Briefe an den Kurfürsten. Zwar sandte die Bürgerschaft als Reaktion auf die kurfürstliche Antwort vom 3./13. April noch einen Brief232 an den Magistrat, in dem sie eindringlich ihre Bitte wiederholte, dass der Magistrat den Kurfürsten um Begnadigung bitten solle, doch der Magistrat äußerte sich nicht mehr. Mit Johann Georg Ebeling (1637–1676), dem Kantor der St. Nicolai-Kirche, stellte sich eine weitere wichtige Person der geistigen Landschaft Berlins auf Gerhardts Seite. Als Komponist, Herausgeber und Verleger der 1666/67 (und somit inmitten der Auseinandersetzungen um Gerhardts Verbleib im Pfarramt) erschienenen „Geistlichen Andachten“, der ersten Gesamtausgabe Gerhardtscher Dichtungen, unterstützte Ebeling Gerhardts Vorgehen im Kirchenstreit und trat für ihn ein. 233 Letztlich blieben jedoch die Interventionen des Magistrats, einzelner Personen, der Bürgerschaft und der Zünfte folgenlos.
5.2.2 Die Briefe der Stände, die Wiedereinsetzung und der Amtsverzicht Der Widerstand gegen die Absetzung Gerhardts war noch nicht endgültig gebrochen. Am 17. Juni sandten die Stände und der Adel von Kleve aus einen langen Brief234 an Friedrich Wilhelm, in dem sie sich über die kurfürstliche Missachtung einiger Religionsgravamina beschwerten. Zudem setzten sie sich ausführlich für Gerhardt ein und kritisierten den Revers. Da dieser auf Grund der Edikte nicht nötig sei, baten sie den Kurfürsten, „daß die EvangelischLutherische Theologi und Prediger von außstellung des begehrten Reverses frey seyn“. Zumindest aber hätten die Stände „bey dem auffsatz des Reversus Vgl. den Abdruck bei Langbecker: Gerhardt, 803–807. Dies hat Liebig: Johann Georg Ebeling und Paul Gerhardt, 317–325, gut herausgearbeitet. 234 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 43r–47v; abschriftlich in BLHA Pr.Br. Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 462r–467r; teilweise abgedruckt bei Roth: Gerhardt, 19; vollständig bei Schulz: Gerhardt, 400–404; Langbecker: Gerhardt, 175–184. 232 233
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mit Ihren unvorgreifflichen erinnerungen gehöret“ werden müssen, wenn der Kurfürst gewollt hätte, dass die Pfarrer jenen Revers auch unterschreiben könnten. So sei es bedenklich, dass im Revers für die Inspektoren „der Augspurgischen confession und des Catechismi Lutheri mit keinem Worte erwehnet, und hingegen den Inspectoribus zugemuthet wirdt, das nicht alleine zu dehnen Edictis 1614, 1662, 1664 in allem, was Lehre und Leben betrifft, sondern auch zu stifftung guter Vertrauligkeit unter dehnen dissentirenden Evangelischen Sie sich (welches Beydes jedoch so pure et simpliciter nicht geschehen kann) verbinden“.
Für einen Pfarrer solle es möglich sein, dass er „durch die subscription nicht sein gewißen graviren [. . .] machen soll und will“. Die Stände zeigten sich besorgt darüber, dass ein gottesfürchtiger und untadeliger Pfarrer wie Gerhardt, der nie gegen die Edikte verstoßen habe, durch die Reversunterschriftsforderung in ein anderes Land ziehen würde und dann Brandenburg „an dergleichen erbaulichen Predigern endlich großen mangel leiden werde[]“. Die Stände baten daher den Kurfürsten, bei Pfarrern, denen keine Verletzung der Edikte wie beispielsweise die Kanzellästerung nachzuweisen sei, von der Amtsenthebung abzusehen oder zusammen mit den Ständen einen neuen Revers auszuarbeiten, den dann alle Pfarrer unterschreiben könnten. Bis dahin sollten Gerhardt und andere unschuldige Pfarrer wieder in ihre Ämter eingesetzt werden. Im zweiten Teil des Schreibens beschwerten sich die Stände darüber, dass Friedrich Wilhelm entgegen den Bestimmungen des Landtagsrezesses von 1653 die Vokationen [= Ordinationsvorschriften] in Cölln so verändert hatte, dass die Pfarrer die lutherischen Bekenntnisschriften nicht mehr nennen durften. Dies war den Ständen aus zwei Gründen ein Dorn im Auge: Zum einen waren sie mehrheitlich lutherisch geprägt, zum anderen ging es um die nach wie vor ungeklärte Frage des Kirchenrechts. Die Stände sahen zum wiederholten Male ihr Mitbestimmungsrecht in Kirchenfragen verletzt, das ihnen der Kurfürst jedoch nur begrenzt zugestand. Sie verlangten, dass zumindest Luthers Katechismen nicht nur bei der Vokation, sondern auch in den Reversen genannt werden müssten, und baten den Kurfürsten, „bey gemelten Landt Recessu und deßen wörtlichem Einhalt gnädigst schützen und dawieder nicht anfehten laßen, sondern Dehro Consistorio anbefehlen, das dasselbe sich solcher neüerung hinführo enthalten möge“. Des Weiteren beschwerten sie sich darüber, dass Friedrich Wilhelm entgegen seinen 1664 gemachten Zugeständnissen eine neue Kirchenordnung ohne Absprache der Stände erlassen wollte, und baten ihn, dies zu verschieben. Es war ihnen ein wichtiges Anliegen, dass der Kurfürst sie „in diesen, die wollfahrt der Kirchen concernirenden Puncten mit gnädigster resolution“ bedachte und über Änderungen informierte.
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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Nach der Bürgerschaft und dem Magistrat hatten sich auch die Stände, der Adel und die Ritterschaft entschieden für Gerhardt eingesetzt. Dies konnte dem Kurfürsten gerade nach den Auseinandersetzungen in Folge des Landtages 1665 nicht gleichgültig sein, denn schließlich bedeutete jegliche Verbindung zwischen der lutherischen Geistlichkeit und den Ständen einen Rückschlag für den absolutistischen Machtanspruch des Kurfürsten. Von Schwerin antwortete im Namen des Kurfürsten brieflich am 20./30. Juli 1666.235 Darin ging er auf die Bitte der Wiedereinsetzung Gerhardts überhaupt nicht ein. Immerhin befahl er, dass die Reverse modifiziert werden sollten und die bisherigen Reverse bis zur Rückkehr des Kurfürsten aus Kleve „suspendiert bleiben möchten“. Lediglich bei den Fragen der Confirmatio vor dem Cöllner Konsistorium und der neuen Konsistorialordnung sprach der Kurfürst den Ständen ein zeitlich und inhaltlich begrenztes Mitspracherecht zu. Die Antwort von Schwerins war von vorsichtiger, zurückhaltender Sprache geprägt, inhaltlich ließ sie jedoch keinen Zweifel an der politischen Linie des Kurfürsten erkennen. Die Kritik und die Bitten der Stände wurden ernst genommen, denn schließlich konnte von Schwerin den Ständen nicht derart entschieden entgegen treten wie der Bürgerschaft. Einen Tag später sandte der Kurfürst ein Schreiben 236 an das Geistliche Konsistorium in Cölln, in dem er den Räten mitteilte, dass „die Deputirten [. . .] mit einem unterthänigsten Memorial bey Uns eingekommen, darinnen sie entweder umb eine modification der Priester Reverse, oder Zum wenigsten ümb Suspension derselben fernerer ausstellung bis Zu Unserer wiederkunft, gehorsambst gebethen“. Daher befahl er, „diese sache wohl und reichlich zu überlegen, auch ob und wie weit ohne verletzung unserer Conscientz und Hoheit diesem Petito deferiret werden könne“, und erbat von den Räten „ausführliches Guttachten und unvorgreifflich bedencken mit dem sonderlichsten einzu schicken“. In einem weiteren Schreiben 237 an das Konsistorium vom selben Tag befahl der Kurfürst, dass den Ständen eine Abschrift des Entwurfs der neuen Konsistorialordnung zugesandt werden solle, wozu diese sich binnen drei Monaten äußern sollten. Unterdessen verhielt sich Gerhardt ruhig. Besonders anschaulich werden seine Gemütsverfassung und seine Gewissenskonflikte in einem Brief238 , den 235 Vgl. BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 468r–469r; abschriftlich in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, (unfol., nach f. 443r); vgl. den Abdruck bei Schulz: Gerhardt, 404–405; Langbecker: Gerhardt, 184– 185. 236 Vgl. BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 470r. 237 Vgl. aaO., f. 471r. 238 Auf Grund von Andeutungen innerhalb des Briefes ist davon auszugehen, dass es mehrere Briefe zwischen der Gräfin und Gerhardt gegeben hat (im Archiv des Hauses
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er am 25. Juli 1666 an die Gräfin Maria Magdalene zu Lippe (1606–1671) sandte. Darin betont er zunächst, dass er mit seiner Remotion kein großes Aufsehen erregen, sondern sein „Leiden gern in der Stille unnd vor mier allein tragen“ wolle. Dann fasst er die Situation in Brandenburg zusammen und erläutert anschließend, dass er bereit sei, „aller christlichen Obrigkeit unnd insonderheit diesem meinem gnedigsten Churfürsten und Herrn, alls meinem ordentlichen Schutzherrn und grösten Wohlthäter in dieser Wellt zugehorchen“. Nun habe er aber „Dinge in den hoch gedachten Edicten gefunden, die gerade wieder mein Gewissen, wieder mein hohes heyliges Ampt und wieder mein christliches lutherisches Bekenndtnüß lauffen“. Zwischen den beiden Möglichkeiten, „dass ich entweder unterschreiben oder meines Dienstes müßig gehen sollte, habe ich lieber das letzte als das erste erwählen wollen“. Gerhardt ist der Meinung, dass die Schreiben der Bürgerschaft und der Gemeinde „auch inskünfftige wohl schwehrlich ettwas erhalltten werden“. In vollstem Vertrauen auf Gottes Vorherbestimmung239 begründet Gerhardt sein Verhalten biblisch in Anlehnung an Mt 16,26: „Ich meines Theils lasse den lieben Gott hieruntter wallten unnd bin mit seiner allerheyligsten Regierung wohlzufrieden, nachdem er mier nur das einige wiederfahren lassen, das ich mein armes Gewissen nicht krenken unnd betrüben dürffen. Denn was würde miers doch helffen, wenn ich gleich ein Königreich, ja die gantze Welt gewinnen konnte und sollte Schaden an meiner Seele leiden“.
Wie der Brief belegt, war trotz des Eintretens der Bürgerschaft und des Adels Gerhardts Entscheidung zur Hinnahme seiner Amtsenthebung bereits gefallen: Er selbst würde sich nicht mehr um eine Wiedereinsetzung bemühen, sondern ruhig abwarten. 240 Gerhardt hatte sich nicht seinem Schicksal, sondern Gottes Vorherbestimmung ergeben. Lippe-Biesterfeld sind jedoch keine weiteren Briefe mehr erhalten) und sich diese bereits mehrfach nach Gerhardts Wohlbefinden erkundigt hatte. Möglicherweise hatte sie ihm auch das Angebot gemacht, nach Lippe zu kommen und sich unter ihren Schutz zu stellen. Da die Grafschaft Lippe reformiert war und es keine lutherischen Pfarrstellen gab, hätte Gerhardt ‚lediglich‘ als Dichter bei der Gräfin arbeiten können. G. Rödding hat sich unlängst um ein Faksimile und eine genaue Transkription des Briefes verdient gemacht, vgl. auch zu weiteren Hintergrundinformationen G. Rödding: Paul Gerhardt und die Gräfin Maria Magdalena zu Lippe, JWKG 105 (2009), 73–84. 239 Der lutherisch-orthodoxe Locus de providentia Dei spielte in Gerhardts Leben und Dichtung eine besondere Rolle, vgl. dazu Axmacher: Johann Arndt und Paul Gerhardt, 103–142; Grosse: Gott und das Leid, 28–170. 240 Ob Gerhardt darüber hinaus die Hoffnung hegte, „wieder restituiret zu werden, wie aus seinen eigenhändigen Briefen erhellet, welche er damals an den Hochberühmten Theologum, Herrn D. Calovium geschrieben“ (Wimmer: Paul Gerhards [. . .] Herzfreudiges Danck-Lied, 8), kann nicht hinreichend nachgewiesen werden, da die Briefe nicht mehr erhalten sind.
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Von dieser Entscheidung haben zunächst weder diejenigen, die sich weiterhin für Gerhardt einsetzten noch der kurfürstliche Hof etwas erfahren. Nachdem Friedrich Wilhelm Ende 1666 aus der Klever Residenz nach Berlin zurückgekehrt war, nahm er sich der Auseinandersetzung um Gerhardts Remotion erneut an. Warum der Kurfürst nun seine Meinung änderte, lässt sich nicht mit Sicherheit nachvollziehen. Möglicherweise war es die Vielzahl derer, die sich für Gerhardt einsetzten – also die Stände, der Adel, die Ritterschaft, die Bürgerschaft, die Gewerke, der Magistrat und möglicherweise auch die Kurfürstin –, welche Friedrich Wilhelm seine Entscheidung rückgängig machen ließen. Möglicherweise hatte der Kurfürst auch erst jetzt erfahren, dass sich Gerhardt im Berliner Kirchenstreit tatsächlich zurückgehalten hatte und nur selten öffentliche Polemik äußerte. Zudem hatte der Berliner Magistrat dem Kurfürsten in einem Brief241 vom 26. November die durch zu wenige Geistliche entstandene Unterversorgung lutherischer Gemeinden in der Doppelstadt deutlich gemacht: Der Kurfürst müsse nun handeln, „zumal an hiesigen beiden Kirchen nur 4 Prediger wirklich sein, und werden die meisten Predigten nach Absterben des Herrn Probsts und Suspendirung Herrn Gerhards von frömbden oder Dorfpredigern verrichtet“. Friedrich Wilhelm ließ auch deswegen Gerhardts Remotion rückgängig machen. Am Nachmittag des 9. Januar 1667 verkündete von Schwerin in kurfürstlichem Namen dem Magistrat, dass Gerhardt unter Verzicht auf die Unterschriftsleistung wieder in sein Pfarramt eingesetzt werde.242 Noch am selben Vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 572. Vgl. den Abdruck der Eintragungen im Protokollbuch des Rates bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 78 f. [Nr. 23, 24]. Bereits kurz nach Gerhardts Wiedereinsetzung brachte die Berliner Zeitung „Sonntagische Mercur“, die eine Beilage der „Ordinari- und Postzeitungen“ war, in ihrer dritten Ausgabe des Jahres 1667 eine Meldung, die auf den 12./22. Januar 1667 datiert war: „Und wie Sr. Churfl. Durchl. des bishero ab officio suspendirten Predigers Paulus Gerhardt Unschuld und Moderation gerühmet worden, haben Sie allsofort anbefohlen, denselben wieder in sein Amt einzusetzen“. Eine Überprüfung des Originals, das meines Wissens heutzutage nur noch in Breslau/ Polen einzusehen ist, war nicht möglich; vgl. die erstmaligen (jedoch in unbedeutenden Einzelheiten voneinander differierenden) Abdrucke bei Hering: Neue Beiträge II, 232 Anm. a); Langbecker: Gerhardt, 186; Landwehr: Kirchenpolitik, 225–226; Petrich: Gerhardt, 156. Die Zitierung folgt Letzterem, der behauptet, ein Original der Zeitung eingesehen zu haben. Wie sensibilisiert die Unterstützer Gerhardts in Bezug auf die kurfürstlichen Maßnahmen waren, belegt ein Druck, der sich gegen die erwähnte Notiz im Sonntagischen Mercur richtet und in der bisherigen Forschungsliteratur nicht erwähnt wurde: „Recepisse, Wegen der erhaltenen freundlichen Erinnerung an den Avisenschreiber des Sonntagischen Mercurii zur 3.ten Woche 1667“ (o.O., o.J.; unter anderem in SBB-PK DK 1303; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 546r). Darin wird unter anderem bemängelt, dass es zwar den Anschein habe, dass „allhier/Gottlob/niemand ist/der weder über die hohe Obrigkeit/noch dero hochrühmliche Judicia zu klagen Ur241
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Tag wurde Gerhardt durch den Geheimen Ratssekretär Gottfried Sturm die Wiedereinsetzungsnachricht überbracht243 , einen Tag später durch den Magistrat. Zunächst nahm Gerhardt sein Amt wieder auf. Doch bald entschied er sich anders: Da er die Fortführung seines Pfarramtes nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, ließ er es wenig später ruhen. Zu viele Gründe sprachen dafür, nicht mehr unter den durch den Kurfürsten gestellten Bedingungen und Vorstellungen zu arbeiten. Schuld daran war unter anderem die Formulierung der Wiedereinsetzungsnachricht: „Daß weil er von Paul Gerhardt’s Person keine Klage, außer der vernommen daß er den Edicten zu subscribiren sich entzogen, Seine Churfl. Durchlaucht aber davor halten müssten, dass er die Meinung der Edicten nicht recht begriffen hätte: so wollten Sie ihn hiermit plene restituirt und ihm sein Predigtamt nach wie vor zu treiben, verstattet haben“244.
Gerhardt hatte die Absicht der Edikte, eine mutua tolerantia zwischen den Konfessionen zu erlangen, sehr wohl begriffen. Er sah sich jedoch auf Grund seines theologischen Verständnisses nicht in der Lage, durch seine Unterschrift die Mittel zur Durchsetzung dieses Ziels für gut zu heißen und sich danach zu richten. Die Formulierung der Nachricht hat in Gerhardts Ohren wahrscheinlich arrogant und überheblich gönnerhaft geklungen, wodurch er sich zusätzlich provoziert fühlen musste. Auch der Schluss der Wiedereinsetzungsnachricht, „S. Churfl. Durchl. lebten der gnädigsten Zuversicht, er würde sich dennoch allemal dero Edictis gemäß zu bezeigen wissen“, war für Gerhardt inakzeptabel. Er hatte gehofft, dass der Kurfürst seine stringente Politik ändern, seine Position verstehen und ihm sowohl die Unterschrift unter den Revers als auch die vollständige Befolgung der Edikte erlassen würde. Stattdessen wurde Gerhardt nun deutlich gemacht, dass er die Reverse zwar nicht unterschreiben müsse, sich aber dennoch an die Edikte zu halten habe. Für Gerhardt war der Gehorsam gegenüber den Edikten und Reversen jedoch eine unzumutbare Bedingung, selbst wenn er diesen Gehorsam nicht mit seiner Unterschrift quittieren musste. Der Gehorsam stand aus seiner Sicht seinem Glauben, seinem Bekenntnis, sache hat“, in Wahrheit aber „viel ehrliche und fromme Theologi/auch wol andere vornehme Leute/offters ohne einige Verletzung ihrer Ehren/ab Officio suspendieret worden“. 243 Vgl. zu Gottfried Sturm Bahl: Hof, 602 f. Die Angabe von Petrich: Gerhardt, 156, Vehr habe die Nachricht überbracht, ist durch Gerhardts spätere Briefe und die Tatsache, dass Vehr zu dieser Zeit bereits Kammersekretär war, widerlegt. 244 Dies ist der vermeintliche Wortlaut, den von Schwerin im Namen des Kurfürsten dem Magistrat am 9. Januar 1667 um 3 Uhr nachmittags angesagt hatte, vgl. die teilweisen Abdrucke bei Roth: Gerhardt, 19–20, und Langbecker: Gerhardt, 186 (die Zitierung folgt Letzterem); vgl. auch Gerhardts folgenden Brief.
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seiner Amtsauffassung und seinem Gewissen entgegen. Dies versuchte Gerhardt sowohl dem Kurfürsten als auch dem Magistrat und seiner Gemeinde zu verdeutlichen, die über Gerhardts Entscheidung nicht nur überrascht, sondern auch bestürzt gewesen sein müssen. Am 19. Januar sandte Gerhardt zunächst einen Brief an den Magistrat zu Berlin, 245 in welchem er betonte, dass die Ankündigung der Restitution in seine Pfarrstelle „sehr hart auf meinem Gewissen“ gelegen habe. Die Ankündigung des Geheimen Staatssekretärs, „Se. Churfl. Durchl. lebten der gnedigsten Zuversicht, Ich [= Gerhardt] würde mich dennoch allemahl Dero Edictis gemeß zubezeigen wissen“ habe Gerhardt „nicht ein geringes nachdenken gemacht [. . .] So kann ich mich doch nicht allerdings in dieser Sache zurechte finden“. Er könne die ihm in den Unterstützerschreiben zugeschrieben „Unschuld und Moderation“ nur so verstehen, „alls das ich bei allen meinen Lutherischen Glaubens Bekentnüssen, Unnd nahmentlich bei der Form. Concordiae gelaßen werde, Unnd keines unter solchen bekenntnüssen als ein Schand- und Lesterbuch dürffte hallten und von Andern halltten laßen“. Zwar hatte der Kurfürst als Bedingung für die Wiedereinsetzung nicht den Verzicht auf die Berufung auf die lutherischen Bekenntnisse gemacht, doch für Gerhardt stand die Erfüllung der Reverse im direkten Widerspruch zu seinem Bekenntnis. Den Geistlichen wurde in der FC aufgetragen, die falsche Lehre der Reformierten offen darzulegen und zu verurteilen. Dies sah Gerhardt in der durch die FC legitimierten und somit vermeintlich von Gott gewollten Polemik gegen die Reformierten gewährleistet. Wenn diese Polemik nun verboten sein und sich Gerhardt danach richten sollte, hätte er in seinen Augen gegen sein Bekenntnis gehandelt. Die Weiterführung seiner Pfarrstelle wäre für Gerhardt gleichbedeutend mit der Verleugnung seines Bekenntnisses gewesen. Daher bat Gerhardt den Magistrat, „Dieselben wollten mier in diesen Meinen schwehren dubiis großgünstig zu Hülffe kommen, Unnd [. . .] sich unbeschwehrt erkundigen, [. . .] wie u. welcher gestallt ich hinwiederumb in mein Ampt eintreten solle“. Gerhardt wollte seinen Pfarrdienst nur dann weiterführen, „Wenn es nur ohn alle Krenkung meines Hertzens Unnd Verletzung des Gewißens geschehen kan“. Bis zur Antwort des Magistrats wollte Gerhardt auf das Halten von Gottesdiensten verzichten. Wie die Kirchenbücher belegen, hat Gerhardt in dieser Zeit jedoch keineswegs sein Amt vollständig niedergelegt. Möglicherweise hat er lediglich auf reine Predigtgottesdienste verzichtet, denn unter anderem hat er am 17., 20., 24., 25. und 27. Januar 1667 245 Vgl. LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 11r–12v; vgl. die Abdrücke bei Roth: Gerhardt, 21–24; Schulz: Gerhardt, 405–406 (Vorlage für die Zitation); Langbecker: Gerhardt, 187–191.
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Kinder getauft.246 Ob Gerhardt dies tat, um seine Kollegen zu entlasten, weil er sich seiner Gemeinde gegenüber verpflichtet fühlte, oder weil sein Entschluss, den pfarramtlichen Dienst auszusetzen, nicht endgültig gefallen war, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. In jedem Fall trug Gerhardt nicht die vollen Konsequenzen seines Entschlusses und handelte somit inkonsequent. Der Umstand, dass Gerhardt nach der Wiedereinsetzungsnachricht zunächst sein Pfarramt wieder angetreten hatte und erst dann feststellte, dass sein Gewissen ihm eine weitere Amtsausübung nicht erlaubte, lässt sich nur schwer erklären. Möglicherweise hat Gerhardt nach der für ihn unerwarteten Amtsrestitution sein Amt übereilt wiederangetreten. Möglich ist jedoch auch, dass er motiviert durch den personellen Notstand in der Gemeinde von vornherein ausschließlich nur einige wenige pastorale Amtshandlungen bis zur endgültigen Klärung seiner Situation übernehmen wollte. Drei Tage später berieten sich die Mitglieder des Magistrats über Gerhardts Brief und sandten ihm ein „Attestatum“247, das eine offizielle Erlaubnis des Magistrats war, die Pfarrstelle wieder voll auszuführen. Da Gerhardt dieses Attestatum zu Recht lediglich als Wiederholung der Wiedereinstellungsnachricht ansah und es ihm als Antwort nicht ausreichte, sandte er am 26. Januar erneut einen Brief an den Magistrat. 248 Es sei nicht richtig, dass er sich „den Churfl. Edicten oder den Reversen zu unterschreiben [. . .] entzogen, weil ich die Edicte oder derer Meinung nicht begriffen hätte“. Gerhardt betonte, dass er sie sehr wohl richtig verstanden habe, es jedoch nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, sie zu befolgen. Könnte er dies doch, „so würde Ich ja die Reverse zu unterschreiben mich nicht endtziehen, denn waß Ich mit gutem gewissen woll thun kann, daß kan Ich auch leicht zusagen und versprechen, daß Ichs thun wolle“. Zur Ausübung seines Pfarramtes brauche Gerhardt jedoch ein reines Gewissen, denn schließlich „kann Ich ja auch mich mit nicht geringerem gewissen in mein Ambt setzen lassen, alß ich deßen bin endtsetzet wordem, Ich kan mir bey wieder antrettung meines beruffes nicht selbst die wunde schlagen, welche zu vermeiden Ich die remotio ab officio in der Krafft des Heil. Geistes über mich genommen“. Daher möge der Magistrat den Kurfürsten bitten, ihn von neuem in sein Amt zu bestellen, nun jedoch mit der Bedingung, „daß Ich negst gnädigster erlassung des gehorsambß der Edicten [. . .] bey allen lutherischen bekandtnüssen, nahmentlich der Formul. Concordiae unverruckt verbleiben möge“. Sollte Fried246 Vgl. ELAB 33/8, „Tauff-Register. Der andere Haubt Theil der Kirchen Bücher. Berlin St. Nicolai 1659–1671“, f. 747 f. 247 Vgl. LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 13r–14r; vgl. die Abdrücke bei Roth: Gerhardt, 26 f.; Schulz: Gerhardt, 406 f.; Langbecker: Gerhardt, 191 f. 248 Vgl. LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 15r–16v; vgl. die Abdrücke bei Roth: Gerhardt, 28–31; Schulz: Gerhardt, 407 f.; Langbecker: Gerhardt, 192–194.
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rich Wilhelm ihm diese Bitte nicht gewähren, so würde er sein Pfarramt „nicht ferner verrichten können, denn mein Gewissen will mir darüber voller Unruhe und schrecken werden“. Spätestens mit diesem Schreiben zeigte sich, dass Gerhardt und der Kurfürst ein grundsätzlich verschiedenes Verständnis nicht nur der Edikte und Reverse, sondern auch des Aktes der Amtsenthebung besaßen. Aus der Sicht Friedrich Wilhelms wurde Gerhardt durch den Kurfürsten aus seinem Amt entlassen, da er sich weigerte, den Revers zu unterschreiben. Gerhardt verstand die Ereignisse jedoch so, dass die Handlungshoheit bei ihm lag: Er hatte – anders als beispielsweise Lilius – bewusst die „remotio ab officio“ auf sich genommen, weil er die Befolgung des Ediktes nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Insofern unterschieden sich Gerhardt und der Kurfürst zum einen in der Frage, wer von beiden aktiv die Remotion beschlossen hatte und zum anderen darin, ob die Befolgung oder die Unterschrift unter den Revers das entscheidende Kriterium für die Remotion war. Als obrigkeitsgehorsamer Pfarrer stand es für Gerhardt außer Frage, sich den Anforderungen des Landesherrn zu beugen, solange er dies theologisch und mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Hätte er den Revers unterschrieben, wäre der Kurfürst zufrieden gewesen, und Gerhardt hätte möglicherweise bis zu seinem Lebensende Pfarrer an der Berliner St. Nicolai-Kirche bleiben können. Laut dem Schreiben der Bürger und des Magistrats hatte sich Gerhardt tatsächlich mit öffentlicher Polemik zurückgehalten. Möglicherweise wäre sein Verhalten kaum mehr aufgefallen. Es gab einige Pfarrer, die einen Revers unterschrieben hatten, später wegen dessen Nichtbefolgung in Konflikt mit dem Geistlichen Konsistorium kamen und letztendlich trotzdem nicht ihres Amtes enthoben wurden.249 Dies konnte Gerhardt natürlich noch nicht ahnen. Es ist davon auszugehen, dass Gerhardt auf diese Weise nicht gehandelt hätte, denn gerade hinsichtlich der Reversfrage handelte er tatsächlich höchst gewissenhaft: Nach reichlicher Überlegung war er zu der Überzeugung gelangt, dass eine einmal geleistete Unterschrift bedeutet hätte, sich unabänderlich lebenslang an die Bestimmungen des Unterschriebenen halten zu müssen. Da er dies jedoch mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte, schloss er sowohl ein künftiges Unterschreiben der Reverse als auch ein Einhalten von deren Inhalten ohne Unterschrift aus. Der Magistrat nahm sich der Bitte Gerhardts an, leitete den Brief an den Kurfürsten weiter und schrieb seinerseits einen kurzen Brief. 250 Darin be Vgl. dazu 5.3. Vgl. LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 17r–v; eine Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 348r; Abdrücke bei Roth: Gerhardt, 32 f.; Schulz: Gerhardt, 409; Langbecker: Gerhardt, 197 f. 249
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dankte er sich für die Wiedereinsetzung Gerhardts und brachte dessen Anliegen vor. Die Stadtverordneten baten, „Ew. Churfl. Durchl. wollen gnädigst geruhen, gedachten, Herrn Gerhardt mit einer gnädigsten erklehrung auß seinen gedancken zu helffen“. Sie gaben zu bedenken, dass Gerhardt sein Pfarramt ohne diese kurfürstliche Erklärung nicht antreten wolle, und in diesem Fall der dann letzte verbliebene Pfarrer an St. Nicolai, Samuel Lorentz, nicht alle pastorale Aufgaben alleine erledigen könnte. Damit bewegten sie sich auf einem schmalen Grat: Auf der einen Seite wollten sie Gerhardt als Pfarrer nicht verlieren, auf der anderen Seite Friedrich Wilhelm nicht verärgern. Es war ihnen sicherlich bewusst, wie anmaßend die Bitte Gerhardts an den Kurfürsten war. Zur Wahrung seiner kirchenpolitischen Machtautorität konnte dieser nämlich nicht auf die Bitte eingehen. Daher gaben die Magistratsmitglieder die Bitte Gerhardts weiter, enthielten sich dabei aber fast jeglicher Wertung. Dass sie jedoch die Bitte weitergaben und auch einige Zeilen dazu schrieben, ist bereits als ein Akt der Solidarisierung mit dem entlassenen Pfarrer zu verstehen. Einer der wichtigsten Zeugnisse für Gerhardts Gemütsverfassung, Amtsauffassung und theologisches Verständnis ist sein Brief251, den der Magistrat zusammen mit dem eben erwähnten Anschreiben direkt an den Kurfürsten sandte. Darin bedankt sich Gerhardt zunächst für die Wiedereinsetzung in sein Amt ohne die vorherige Unterschrift unter den Revers. Er sei jedoch „in großen Kummer Unnd Betrübniß meiner Seelen gerathe[n]“, weil der Kurfürst erwarte, dass er sich den „Edictis gemeß bezeigen, Unnd absonderlich der in den bißherigen Religions-Handlungen gnugsamen bekandt gewordenen moderation Unnd Bescheidenheit befleißigen solle“. Dies könne Gerhardt jedoch nicht leisten, „Denn eben darumb [. . .] habe ich biß anhero mit Untterschreibung der besagten reverse an mich halltten müßen, weil ich [. . .] Hochgedachten Churfl. Edicten ohne Verletzung meines armen Gewißens nicht gnüge thun kan“. Wenn sich Gerhardt gehorsam gegenüber den Edikten zeigen solle, müsse er sein „Lutherisches Glaubens Bekenntniß Formulam Concordiae verlassen und von mier legen“. Da er dies jedoch nie tun würde, hat Gerhardt „endlich gar die remotionem ab officio gehorsambst auff mich genommen, Unnd durch die Kraft Gottes fast ein gantzes Jahr in aller müglichen stille Unnd gedulltt getragen“. Sollte Gerhardt also sein Pfarramt unter Beachtung der Edikte ausüben, „würde ich mier selbst höchstschädlich sein, Unnd eben die Wunde, die ich vorhero mit so großer Hertzensangst von mier
251 Das Original befindet sich in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 49r–50v; teilweise abgedruckt bei Roth: Gerhardt, 25 f.; vollständig bei Schulz: Gerhardt, 410 f.; Langbecker: Gerhardt, 195–197.
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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abzuwenden gesuchet, mier [. . .] mit eigenen Henden in meine Seele schlagen“. Gerhardt will aus Angst vor Gottes Zorn seine Stelle nicht wieder antreten, solange der Kurfürst auf den Gehorsam gegenüber den Edikten bestehe: „Ich fürchte mich für Gott, in dessen Anschauen ich hier auf Erden wandele, Unnd für welches gerichte ich auch dermahleins erscheinen muss, Unnd kann nach dem, wie mein Gewissen von jugend auf gestanden U. noch itzo stehet, nicht anders befinden, alls das ich, wo ich auf die Vorher berührte art Unnd weise wieder in mein Ampt treten sollte, seinen Zorn und schwehre Straffe auf mich laden werde, Solches großes Unaußsprechliches Unheil zu vermeiden, werden S. Churfl. mier gnedigst gestatten, das ich mich das bisher in ettwas wieder verrichteten Kirchen Dienstes enthallte“.
Dies will Gerhardt so lange tun, bis er „nach Gottes willen Unnd mit Ew. Churfl. Durchl. gendigstem Zulassen mit beßrem gewißen alls itzo geschehen kan, solches Hohe Heylige und Göttliche Ampt“ wieder antreten kann. Mit anderen Worten: Nur wenn der Kurfürst ihm auch den Gehorsam gegenüber den Edikten erlassen würde, könne Gerhardt wieder sein Amt ausführen. Gerhardt begründet die Unmöglichkeit, sich den Edikten gemäß zu verhalten damit, dass darin keine Rede von der FC und anderen lutherischen Bekenntnisschriften sei. Wenn er sich nun gehorsam gegenüber den Edikten verhalten solle, müsse er seine Bekenntnisse verneinen und verleugnen. Gerhardt übersah in seiner Argumentation, dass die Reverse nicht als ein Bekenntnisdokument gedacht waren, das zukünftig die alleinige Basis für den Glauben und die Amtsführung lutherischer Pfarrer, ja noch nicht einmal ein Dokument partieller theologischer Übereinstimmung mit reformierten Theologen sein sollte, sondern lediglich eine Selbstverpflichtung als Beitrag zur Befriedung der konfessionell angespannten Lage in Brandenburg. Doch zum einen konnte Gerhardt diese Differenzierung nicht derart klar treffen, wie dies aus der heutigen Sicht möglich ist, zum anderen wollte er mit der Berufung auf sein Gewissen die Voraussetzungen für diese Selbstverpflichtung nicht erfüllen. Der Kurfürst sandte am 4. Februar eine kurze Antwort 252 zurück, die weder für Gerhardt noch den Magistrat überraschend ausgefallen sein dürfte: „Wan der Prediger, Paul Gerhard, das ihm Von Seiner Churfürstlichen Durchlauchtigkeit gnädigst wieder erlaubte Amt nicht wieder betreten will, welches er dan vor dem höchsten Gott Zu Verantworten haben wird; So wird der Magistrat in Berlin ehestes einige andere friedliebende geschickte leute Zu anlegung dero probepredigt einladen,
252 Von Schwerins eigenhändige Vorlage befindet sich in GStA PK Rep. 47 Tit. 19, f. 48r; vgl. das Original in LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 18r; eine Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 348r–348v; Abdrücke bei Roth: Gerhardt, 34 f.; Schulz: Gerhardt, 409; Langbecker: Gerhardt, 199.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
aber selbe nicht eher vociren, biß Sie Zu forderst Seiner Chrufürstlichen Durchlauchtigkeit Von dero qualitäten Unterthänigsten Bericht abgestattet haben“.
Friedrich Wilhelm hatte damit unmissverständlich reagiert. Auf die Einwände und Bitten Gerhardts gar nicht eingehend, erklärte er, dass es an ihm allein liege, ob er das vom Kurfürsten in dieser Art wieder angebotene Amt annehme oder endgültig entlassen sein würde. Der Kurfürst wollte Gerhardt nicht weiter entgegenkommen, da dies eine Einschränkung seiner Souveränität und Infragestellung seiner Kirchenpolitik bedeutet hätte. Am 8. Februar wurde Gerhardt vor den Rat gefordert und der Brief des Kurfürsten vorgelesen. Wie aus dem Ratsprotokoll ersichtlich ist, lehnte Gerhardt die Restitution endgültig ab: „er wollte gerne bleiben an der Kirche, wan es geschehen [könne] mit gutten gewißen, den es ist per alium ihm limitate restitution angedeutet worden, und gesagt worden ab Electore, er sich der moderation gebrauchgen solle. Und weile der El[ectore] ihm sein gewißen frey läßet in diesem Rescribt, so bedangket er sich davor, und wil daher ein frey gewißen behalten extra suum officium. Senatus mögte nur einen andern vociren, wozu er glügk wünschen wolte der Kirchgen und dem rahtt“253.
Der Rat versuchte noch einmal in seiner Sitzung am 21. Februar, Gerhardt zur Wiederaufnahme seines Predigtamtes zu bewegen. Doch Gerhardt blieb bei seiner Entscheidung: „er folge entweder den Rahtt, oder folge nicht. Thutt er jenes, so handelt er contra conscientiam, und wirt er uhm seele und sehlikeit kommen, geschiehet dieses, so bleibet er vom raht nicht unangeplaget, bis er entlich sterben mögte“254.
Gerhardt wollte unter den gegebenen Umständen seine Pfarrstelle nicht mehr aufnehmen. Für die damaligen Zeitgenossen war diese Entscheidung sicherlich überraschend, für die Kenner von Gerhardts Briefen, besonders aber seiner Argumentation im Brief an die Gräfin Maria Magdalena zu Lippe, dürfte seine Reaktion nicht unerwartet gewesen sein. In den kommenden Monaten sah Gerhardt keine Veranlassung mehr, einen Brief an den Kurfürsten oder den Magistrat zu schreiben. Weitere Briefe Gerhardts aus seiner Berliner Zeit sind nicht erhalten.255 Es ist davon auszugehen, dass noch einmal von vielen Zitiert nach Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 81 [Nr. 30]. Zitiert nach aaO., 81 f. [Nr. 32]. 255 Wangemann: Johan Sigismundt und Paulus Gerhardt, 206–218, hatte eine Abschrift des „Privat Discursus Eines Vornehmen mit Einem seines Dienst Erlaßenen Prediger“ gefunden, dessen schon damals nicht auffindbares Original er Gerhardt zuordnete. Diese Schrift wurde in der Forschung (bis auf einem unkommentierten Abdruck in: Paul Gerhardt. Dichtungen und Schriften, herausgegeben und textkritisch durchgesehen von E. v. Cranach-Sichart, München 1957, 480) zu Recht nicht weiter rezipiert und wird auch in dieser Arbeit nicht weiter beachtet, da sie mE. Gerhardt nicht zugeschrieben werden kann. Der einzige Grund für die Annahme der Gerhardtschen Verfas253
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5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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Seiten versucht wurde, Gerhardt zu überzeugen, im Amt zu bleiben, doch er blieb bei seiner Haltung. serschaft, dass der Inhalt der Schrift zur Situation Gerhardts gut passt, ist mE. nicht ausreichend. Zwar spricht der Text in der ersten Person Singular davon, dass ein Pfarrer am 9. Januar 1667 entlassen wurde, und kennt sich auch ansonsten gut in der damals aktuellen Situation in der Mark Brandenburg aus, doch gilt diese Beobachtung nur für den ersten von drei Teilen. Da die genaue Beweisführung gegen Gerhardts’ Verfasserschaft den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde, seien die Argumente im Folgenden lediglich kurz angedeutet: Zum ersten ist die Schrift nicht durch Gerhardt unterschrieben worden, bei allen anderen derzeit bekannten Quellen ist dies jedoch der Fall. Zum zweiten ist schon beim erstmaligen Lesen auffällig, dass Gerhardt in seinen Schriften einen anderen Stil benutzt. Zum dritten trägt die Schrift einen eindeutigen Verteidigungscharakter, eine Position, die Gerhardts sonstiger Reaktion auf die Remotion entgegensteht. Besonders aus seinem Brief an die Gräfin Maria Magdalena zu Lippe (s. o.) wird deutlich, dass Gerhardt sein „Leiden gern in der Stelle unnd vor mier allein tragen“ wollte. Eine derartig angelegte Schrift würde dem diametral entgegen stehen und passt nicht zu Gerhardts sonstigem Umgang mit seiner Remotion. Zum vierten fehlt die ansonsten für Gerhardts Texte typische ausführliche Ehrerweisung gegenüber dem Kurfürsten. Fünftes fehlt die für Gerhardts Situation typische Ergebenheit in Gottes Vorsehung für sein Leben. Der Gerhardt dieser Schrift ist jedoch ein anderer: Er hat noch nicht mit seinem Amt abgeschlossen und äußert deutliche Kritik. Sechstens ist diese Schrift größtenteils eine Verteidigungsschrift für die FC, in der zudem immer wieder die Reformierten angegriffen werden. Gerade diese Angriffe kommen jedoch im Zusammenhang mit Gerhardts Remotion gar nicht vor. Zwar erwähnt Gerhardt auch die FC, in der Regel schreibt er jedoch davon, dass er sein gesamtes Glaubensbekenntnis von sich legen müsste. Aus dem Argumentationsgang und der Länge der einzelnen Teile hat es den Eindruck, dass die Schrift keine Verteidigung Gerhardts, sondern der FC darstellt! Schließlich finden sich darin Terminologien und Differenzierungen (wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen „guten gewißen“ und „Bösen gewißen“, der häufige Einschub „sag ich“), die für Gerhardts Stil untypisch sind. Zweifelsfrei besitzt der Autor der Schrift Kenntnis über die Auseinandersetzungen und theologisches Sachverständnis. Doch die Kenntnisse sind abgesehen vom obigen Datum auch nicht durchgängig und so exakt, dass Gerhardt der Verfasser gewesen sein muss. Informationen kann der Autor ebenso gut durch eine briefliche Nachrichten erfahren haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit haben sich die Auseinandersetzungen um Gerhardts Remotion auch so stark herumgesprochen, dass sie allgemein bekannt waren. Es ist daher anzunehmen, dass einer der Kollegen Gerhardts in Berlin oder einer derjenigen, die über den Konflikt einigermaßen informiert waren (wie beispielsweise Heinzelmann, Calov oder die Frankfurter Pfarrer), das Schreiben abgefasst und auf Grund des gehobenen Stils zum Druck beabsichtigt hatte. Auch Langbecker bot bereits Teile aus diesem Manuskript und ordnete sie Gerhardt zu: Auf Seite 200 zitierte er ein Fragment eines vermeintlichen Briefes von Gerhardt an seine Gemeinde, der jedoch nichts anderes ist als ein Ausschnitt aus dem oben erwähnten Manuskript (vgl. bei Wangemann die Seiten 212 f.). Im Anhang bietet Langbecker dann auf den Seiten 808–816 den ersten Teil des Manuskripts (vgl. bei Wangemann die Seiten 206–212), ohne zu erkennen, dass der von ihm auf den Seiten 200 f. gebotene vermeintliche Brief Gerhardts dessen Fortsetzung darstellt. Den zweiten Teil des Manuskripts (vgl. bei Wangemann die Seiten 213–218) kennt Langbecker nicht. Da Langbecker angibt, dass er das Manuskript im Provinzial-Archiv in Magdeburg eingesehen
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Wie beliebt Gerhardt auch trotz seiner Entscheidung gegen die Wiederaufnahme der Pfarrstelle blieb, zeigt sich darin, dass er auch weiterhin finanziell durch die Gemeinde und die Stadtverordneten getragen wurde und in der Diakonatswohnung in der Stralauer Straße 38 wohnen bleiben durfte. 256 Der Berliner Magistrat ließ sich viel Zeit mit der Wiederbesetzung von Gerhardts Stelle. In einem Brief vom 31. August 1667257 ermahnte von Schwerin im Namen des Kurfürsten den Magistrat, die Stelle endlich wieder neu zu besetzen. Den Ratsherren sei „bewust, aus was Ursach d[er] prediger in der Nicolas Kirche, Paul Gerhard, vor anderthalb jahre ab officio removiret worden; Euch ist auch bekant, dz wir demselben d[en] 9. Januar dieses Jahres andeut laßen, dz, in guther Hoffnung und zu Gewicht, dz er hinfüro, Unsern Edictis gemäß, allen Verketzens U. Verdammens der Reformirten sich enthalten würde, er in sein amt restituiret seyn [. . .] Er dennoch mit einem Supplictae ein-
habe, könnte theoretisch Heinzelmann der anonyme Verfasser der Schrift sein, der als Pfarrer in Stendal zur Entstehungszeit des Schreibens bereits in der Altmark tätig war. Er war zudem durch den Briefwechsel mit Gerhardt (vgl. 5.1.5) gut über die Verhältnisse in Berlin informiert. Letzteres gilt auch für Samuel Lorentz, der in seinen Voten immer stark auf die Nennung der FC gedrungen hatte. Letztlich bleiben jedoch auch dies nur Vermutungen. Wichtig ist hingegen die Erkenntnis, dass Gerhardt als Autor des Manuskripts nicht in Frage kommt. 256 Möglicherweise hat ihn auch der lutherische Herzog von Sachsen-Merseburg und Markgraf der Niederlausitz Christian I. (1615–1691) finanziert und ihm sogar eine Pfarrstelle in seinem im Vergleich zu Brandenburg kleinen und unbedeutenden Territorium angeboten. Belege für diese Vermutung, die zuerst Wimmer: Gerhards [. . .] Herzfreudiges Danck-Lied, 8; Hering: Neue Beiträge II, 233; Henke: Allgemeine Geschichte, 281, Roth: Gerhardt, 35, und Langbecker: Gerhardt, 205, aufgestellt haben, ohne Quellen zu nennen, gibt es nicht. Bereits Schulz: Gerhardt, LXXIV, hat ein entscheidendes Argument gegen diese These genannt: In den 1668 begonnenen Verhandlungen zwischen Gerhardt und dem Magistrat der Stadt Lübben, die zum Herrschaftsbereich des Herzogs gehörte, findet sich nirgends eine Anmerkung darüber, dass Gerhardt bereits zuvor ein Angebot bekommen habe. Auch die Vermutung, dass die Gräfin Maria Magdalena zu Lippe Gerhardt finanziell unterstützt habe, kann nicht belegt werden. Wäre dies der Fall gewesen, hätten sich im Brief Gerhardts an die Gräfin Andeutungen dazu finden müssen. Aus dem Verhandlungsprotokoll des Lübbener Magistrats vom 15. September 1668, in dem beschlossen wurde, Gerhardt um eine Probepredigt zu bitten (vgl. den erstmaligen Abdruck bei Roth: Gerhardt, 36 f.), geht hervor, dass er „von der Gemeinde“ und „von vornehmen Leuten unterhalten“ wurde. Möglicherweise hatte Gerhardt auf Grund seiner Bekanntheit und Beliebtheit einige finanzstarke Unterstützer in der Stadt. Auch die These, dass er aus dem väterlichem Erbe und vom Geld der Familie seiner Frau, die aus der Berliner Oberschicht stammte, gut leben konnte (so zuletzt durch Rödding: Gerhardt und die Gräfin, 77, vertreten), ist trotz ihres hohen möglichen Wahrheitsgehaltes nicht belegbar. Letztendlich kann die Frage der Finanzierung nicht hinreichend geklärt werden. 257 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, f. 92r–92v; abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 411 f.; Langbecker: Gerhardt, 201 f.
5.2 Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt
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kommen, darinnen er meldet, dz er Unsern Edictis, ohne Verletzung seines gewißens, nicht gnüge thun könnte“.
Von Schwerin erinnerte den Magistrat, dass er deshalb „des 4. Febr. darauf decertiret [= auf eine Entscheidung dringen], und euch befohlen [. . .] einige andere friedliebende geschickte Leute zu ablegung einer probepredigt ein[zu]laden“. Tatsächlich seien bereits „7 monat verfloßen, daß ihr weder solchen Unserem befehl schuldigste parition geleistet, noch auch euer jus vocandi beobachtet, sondern daßelbe negligiret habet“. Daher habe der Kurfürst befohlen, dass Conrad-Jacobus Adami die Pfarrstelle einnehmen solle. Der Magistrat verweigerte jedoch diese Besetzung.258 Er wollte zunächst noch unter anderem mit Hilfe des neuen Propstes Andreas Müller259 versuchen, Gerhardt zu überreden, seine Amtsgeschäfte wieder aufzunehmen. Die Stadtverordneten schrieben an den Kurfürsten, 260 dass sie Adami kaum kennen würden und sie sich im Übrigen auch nur ungern in das ihnen zustehende ius patronatus hineinreden ließen. Friedrich Wilhelm solle „nicht ungnädig erscheinen, sondern [. . .] entschuldiget halten, undt Uns wieder unsern willen keinen zum Diacono vorstellen, sondern erst 3 oder 4 wochen vergönnen laßen, daß wann ia Hr. Gerhardt per Praepositum nicht zu bewegen, Wir nunmehr der Gemeine einen praesentiren“. Die Bemühungen des Magistrates, Gerhardt doch noch umstimmen zu können, waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Propst Müller hatte kein Interesse daran, Gerhardt zu überreden, 261 denn schließlich war Müller nicht nur ein Verteidiger der kurfürstlichen Religionspolitik, sondern er vermied auch sämtliche Streitigkeiten. Entscheidend ist letztendlich, dass es niemandem mehr gelang, Gerhardt umzustimmen. Dies wäre auch nicht im Sinne des Kurfürsten gewesen, der kein Interesse daran hatte, sich weiterhin mit Gerhardt als Störenfried kurfürstlicher Kirchenpolitik auseinanderzusetzen. Die Neubesetzung von Gerhardts Stelle stellte sich als schwierig heraus. Letztendlich nahm Johann Ernst Schrader262 für Gerhardt die zweite Diakonatsstelle ein. Nachdem Schrader am Sonntag, dem 15. August 1668, eingeführt worden war, war Gerhardt endgültig abgesetzt und bezog keine Zah Vgl. zur Auseinandersetzung um Adami das Aktenbündel GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, f. 89r–108v; vgl. auch die Eintragungen im Protokollbuch des Rates der Stadt Berlin bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 83 [Nr. 36, 37]. 259 Vgl. zu Müller 5.3.3.6. 260 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, f. 97r–99v; vollständig abgedruckt bei Schulz: Gerhardt, 412–413; ausschnittsweise bei Langbecker: Gerhardt, 202–204. 261 Dies wird unter anderem im Protokoll der Sitzung des Rates vom 3. September 1667 deutlich: „Darauf antwortet er [Müller], er habe mit H[errn] Gigas geredet, der will den Edictis sich nicht gemeß bezeigen, daher auch Bedengken getragen, mit H[errn] Gerhardten zu reden“ (zitiert nach: Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 82). 262 Vgl. zu Schrader und der Pfarrstellenbesetzung nach Gerhardt 5.3.3. 258
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
lungen mehr. Bis zu seinem Umzug in das zu Sachsen-Merseburg gehörende Lübben Ende Mai 1669 und seiner dortigen Einführung als Archidiakon am 6. Juni 1669 blieb er zwar amtlos, aber finanziell gesichert in Berlin. Gerhardt nahm ruhig von seinem Amt und der Stadt Abschied: Weder lautes Klagen noch Polemik gegen den Fürsten oder die Reformierten waren zu vernehmen.
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits, die weiteren Lebenswege der beteiligten Pfarrer und die neue geistliche Landschaft in Berlin/Cölln Dieser Teil behandelt bündig den Ausgang des Kirchenstreits und seine Protagonisten. Durch die Einarbeitung neuer Quellen und Erkenntnisse werden die Ergebnisse der Forschungsliteratur ergänzt und an einigen Stellen korrigiert. Der erste Teil fasst die wichtigsten kirchenpolitischen Maßnahmen des ausklingenden Kirchenstreits zusammen, bevor im zweiten Teil beginnend mit einem kurzen Blick auf Gerhardts folgenden Lebensweg die weiteren Schicksale der am Kirchenstreit Beteiligten untersucht, im dritten Teil die neuen Pfarrstelleninhaber der Doppelstadt bis zum Ende des Kirchenstreits portraitiert und im vierten Teil die Ergebnisse resümiert werden.
5.3.1 Zusammenfassung weiterer kirchenpolitischer Maßnahmen Dem Kurfürsten war es gelungen, den härtesten Widerstand zu brechen und seine Kirchenpolitik mit Machtmitteln durchzusetzen. Daran hatten auch die Interventionen der lutherischen Untertanen, Magistrate und Stände nichts ändern können. Obwohl in der Declaration vom 4. Mai 1665 die Remotionen von Lilius und Reinhardt als Statuierung von Exempeln bezeichnet wurden, verloren in der Folgezeit weitere Prediger ihre Ämter.263 Die staatliche Überwachung des kirchlichen Dienstes nahm weiter zu. Die lutherische Kirche in
Auch nach 1665 kam es vereinzelt zu Amtsenthebungen, nachdem sich lutherische Pfarrer geweigert hatten, Gehorsam gegenüber der kurfürstlichen Religionspolitik zu zeigen. Neben den im Folgenden geschilderten Pfarrern wurde beispielsweise 1675 Johannes Colberg (vgl. 3.4.2 und FB Gotha Chart. A 281, f. 222r–231r) und 1684 der damalige Inspektor zu Züllichau (heute Sulechów/Polen), Adam Sellius, entlassen, da er im Streit mit dem Kalziger Pfarrer Polius über den Exorzismus gegen das Zensurreskript verstoßen hatte, vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19; A. Splittgerber: Geschichte der Stadt und des Kreises Züllichau, Züllichau 1927, 28. Vgl. weitere Beispiele in GKl Archiv XII/90/2, f. 437r–438v. 263
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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der Mark Brandenburg geriet zunehmend unter strenge staatliche Kontrolle.264 Neben der causa Gerhardtiana gab es im Frühjahr 1667 noch einige weitere Auseinandersetzungen zwischen lutherischen Geistlichen und dem kurfürstlichen Hof um die Unterschrift unter den Revers. 265 Am 6. Juni 1667 fand jedoch auf Druck der Stände, des Adels und der Bürger ein bedeutender Umbruch in der Religionspolitik statt: 266 Friedrich Wilhelm verzichtete in einem Reskript 267 auf die Reversforderung in der Kurmark. Er befahl dem Geistlichen Konsistorium, „daß hinführo von denen Predigern / so schon im Ministerio seynd und etwa an einen andern Ort vociret oder trasferiret werden / Ihr keinen Revers zu begehren habet“. Dies gelte jedoch nicht für die „Studiosos oder Candidatos Ministerij“. Neben dem politischen Druck war möglicherweise ein weiterer Grund für den plötzlichen Verzicht auf die Reverse die 264 Ein Beispiel für die Indoktrinierung von Pfarramtsanwärtern mit den religionspolitischen Vorstellungen des Kurfürsten ist der seltene Druck „Information-Schrifft Pro Candidatis Ministerii, im Churfürstenthum Brandenburg/über nachgesetzte Frage: I. Ob/in der ChurBrandenburg/die Prediger auff den Catechismum Lutheri zuberuffen verbothen sey/und der Catechismus in den Vocationibus, ohne Verletzung des Gewissens ausgelassen weerden könne? II. Wie viel und was für Principia Theologica die Lutherischen Lehrer haben? III. Ob sich ein Lutherischer Prediger auff die Churfürstliche Edicta, mit gutem Gewissen/könne confirmiren lassen?, o.O., 1667“. 265 Vgl. dazu unter anderem GKl Archiv XII/90/2, f. 347v–349v und die „Acta Evotidianae Anni MDCLXVII“, tagebuchartige Aufzeichnungen Lorentz’ aus der Zeit vom 1. Januar bis 23. Juni 1667 in FB Gotha Chart. A 281, f. 75r–79r. 266 Die Stände hatten den Kurfürsten immer wieder dazu gedrängt, auf ihre Forderungen einzugehen, vgl. die Briefe an den Kurfürsten vom 7. Februar 1667 in GKl Archiv XII/90/2, f. 353r–353v; BLHA Pr.Br.Rep. 23 A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 416r– 418r; aaO., f. 419r–420r; sowie aaO., unfol. (vor fol. 444r); vom 11. April 1667 in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 104 sowie vom 17. April 1664 in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 51r–52v; BLHA Pr.Br.Rep. 23 A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 430r–433r; aaO., f. 434r–437v (letzterer adressiert an von Schwerin). Bereits wenige Tage zuvor hatte der Oberpräsident schriftlich angedeutet, dass der Kurfürst künftig auf die Unterschrift unter den Revers verzichten könne, vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 103r. 113r. Im Schreiben an die Stände vom 13. April 1667 zeigte sich der Kurfürst zwar hinsichtlich der künftigen Exorzismuspraxis, nicht aber hinsichtlich der Reverse kompromissbereit. Er kritisierte, dass die Stände „die Schärffe, worzu Sie durch Verschiedene Bezeugungen veranlaßet worden, nicht gebrauchet“ hätten und betonte noch einmal, dass „Sie [= der Kurfürst] nicht gemeinet, durch dieses Mittel die Gewißen Zu beschweren, vielweniger den Lutherischen in ihrem Glaubens Bekäntnüß und übung ihrer Religion einige hinderniß thun Zu Laßen“. Vgl. das Original in BLHA Pr.Br.Rep. 23 A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 428r–429r; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 354r–355r. 267 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 53r–54r; vgl. unter anderem die Drucke in GStA PK I. HA Rep. 13 Nr. 19 c Fasz. 14 (unfol.); SBB-PK 28 an: Dk 1303; abgedruckt bei Mylius: Corpus I/1, 393–396; Schulz: Gerhardt, 414.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
aufkommende Kritik von einigen hohen Hofbeamten an der Vorgehensweise Stoschs, der die bisherige Reverspraxis engagiert verteidigt hatte.268 Die Änderung in der Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms hatte sich schon durch die Wiedereinsetzung Gerhardts mit dem Verzicht auf dessen Unterschrift unter einen Revers angekündigt. Es ist gut möglich, dass die Auseinandersetzungen um Gerhardts Remotion ganz anderes verlaufen wären, wenn der Kurfürst dieses Reskript früher erlassen hätte. Hinsichtlich Gerhardts Situation änderte diese Entscheidung jedoch nichts mehr. Die Stände bedankten sich ausführlich für die Zugeständnisse des Kurfürsten 269 und pochten auch in den folgenden Monaten auf ihre Rechte. In Briefen vom 25. Juni 270 und 7. Dezember 1667271 beschwerten sie sich darüber, dass einige Konsistorialräte planten, bei künftigen Vokationen die Berufung auf die Libris Symbolicis zu streichen. Dieses Vorhaben beschneide jedoch das ius patronatus der Stände, die Vokationen müssten gemäß dem Landtagsrezess von 1653 lauten. 272 Der Kurfürst kam den Ständen in ihren Forderungen in einigen Punkten entgegen, setzte jedoch auch zeitgleich umstrittene religionspolitische Entscheidungen durch und förderte die reformierte Konfession. Seit Oktober 1665 war Lucius von Rhaden, der auch dem Präsidium des Kolloquiums angehört hatte, neuer Präsident des Geistlichen Konsistoriums. Dies wiederum hatte zu massiven Protesten der lutherischen Geistlichkeit geführt, da von Rhaden als reformierter Jurist weder Theologe noch Lutheraner war. Des Weiteren entschied Friedrich Wilhelm, dass der Oberpräsident die So soll der zweite Hofprediger Kunsch von Breitenwalde laut einem Bericht Linckers vom 30. Januar/9. Februar 1667 gesagt haben, dass sich Stosch mit dem Edikt blamiert habe. In einem weiteren Bericht vom 13./23. Februar 1667 erwähnt Lincker, dass auch der Wirkliche Geheimrat und enger Vertrauter des Kurfürsten, Friedrich von Jena (1620–1682), kritisierte, „man hätte materialia und doctrinalia aus dem Edikt fortlassen sollen, und äußerte die Hoffnung, daß man niemals solchen soloecismum [= bedeutenden Fehler] in politicis begehen werde, als bereits in ecclesiasticis geschehen“ (zitiert nach Ribbeck: Aus Berichten, 143). 269 Vgl. den Brief vom 15. Juni in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 106.112; abschriftlich in BLHA Pr.Br.Rep. 23 A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 444r–447r. 270 Vgl. BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 448r–450v. 271 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 397r–397v; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 451r–452r. 272 Vgl. aaO., f. 451r: „Eß wollen die Herren Consistorial-Prasident Undt Räthe in der Kirchen patronorum außgestelten vocationiby, die Libros Symbolicos difficultiren. Weil aber die Libri Symbolici, alß publice Tessera, den Unterscheidt der Religionen halten, Undt derer Menegrey, woran Ew. Churfl. Dhl. selbst, ein Mißfallen tragen, verhüten müßen, Deßhalb auch im Landttages-Recess de Anno 1653. Heilsamblich Sanciret ist, daß deß Lutheri Lehre, sambt der ungeenderten AugsPurgisch Confession Undt allen ihren Libris Symbolicis ungetrennet verbleiben solle, welche Sanctio publica Von denen Herrn Consistorialiby billigk zu respiciren ist“. Des Weiteren baten die Stände, auch die Pfarramtskandidaten von der Reversunterschrift zu verschonen. 268
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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Oberaufsicht über Kirchenangelegenheiten und somit den Vortrag darüber im Geheimratskollegium sowie vor dem Kurfürsten bekam. Dies bedeutete, dass auch die Leitung der Inspektorate und die Visitationen der mehrheitlich lutherischen Gemeinden Brandenburgs in den Händen eines Reformierten lagen. Durch diesen konnten und wollten sich die lutherischen Geistlichen nicht hinreichend repräsentiert wissen. Im Frühjahr 1668 meldeten sich noch einmal die Stände im abklingenden Kirchenstreit zu Wort. Vom 31. März bis 17. April trafen sich die kur- und neumärkischen Stände in Berlin, um auf einem Landtag273 über die „Priestersachen“ und die in der Neumark immer noch gültige Reverspflicht zu beraten. Die Stände einigten sich auf drei Forderungen, die dem Kurfürsten vorgetragen wurden: die Wahrung der ständischen Patronatsrechte bei der Pfarrstellenbesetzung, die Abschaffung des neumärkischen Reverses sowie die Veröffentlichung einer Declaration als Erklärung zu den Edikten. Am 6. April widersprach der Kurfürst bei einem Treffen den Forderungen, erklärte sich jedoch nach neuerlichen Gesprächen zu einer gemäßigten Declaration bereit. Der Kurfürst sandte den Ständen am 10. April seinen Entwurf zu, mit dem diese jedoch keineswegs zufrieden waren. Trotz in den meisten Punkten stark unterschiedlicher Auffassungen gestand von Schwerin auf Befehl des Kurfürsten den Ständen während einer mündlichen Verhandlung am 14. April die Abschaffung des neumärkischen Reverses sowie künftig die genaue Beachtung der Landtagsrezesse zu. Im Gegenzug erklärten sich die Deputierten bereit, bei den Pfarrern auf die Einhaltung des Lästerverbots zu dringen. Am 16. April wurden nacheinander sowohl die Berliner als auch die Cöllner Pfarrer vor die Stände gefordert, um ihnen die Bedenken zum kurfürstlichen Declarationsentwurf mitzuteilen. Unter Protest und mit der Anmerkung, dass ein Elenchus ohne den Gebrauch des Wortes „damnare“ nicht möglich sei, stimmten alle Pfarrer den Bedenken zu, welche die Stände daraufhin einen Tag später an den Kurfürsten sandten.274 Wie sich in der schließlich am 6. Mai 1668275 veröffentlichten Declaration zeigen sollte, hatte Friedrich Wilhelm die Bedenken der Stände größtenteils berücksichtigt und kam den Lutheranern hinsichtlich des Kanzellästerver273 Der Bericht über den Landtag stammt von dem Deputierten Kittelius und wurde erstmalig bei Schwartz: Verhandlungen, 101–112, thematisiert. 274 Vgl. den Brief der Stände an den Kurfürsten vom 17. April 1668, abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 400r–401r; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 453r–456r. 275 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19; GKl Archiv XII/90/2, f. 398r–399r (bis 399v mit vielen handschriftlichen Notizen durch Lubath); abschriftlich in BLHA Pr.Br. Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 459r-461r; abgedruckt bei Mylius: Corpus I/1, 395–398; Hering: Historische Nachricht, Anhang 85–87; Schulz: Gerhardt, 415 f.
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bots entgegen.276 Zunächst wiederholte er, dass er nie vorgehabt habe, „die Lutherische Religion, und deren freyen Gebrauch [zu] hindern“ oder „Gewissen zu beschweren“. Dann erläuterte er, dass er nicht den Elenchus an sich verbieten wolle, dass dieser jedoch ausschließlich „ohne Bitterkeit, Verketzerung, Verdammung und Anathematisieren, mit Sanftmut und einem gottesfürchtigen Theologo anständiger christlicher Bescheidenheit“ geschehen dürfe. Dabei sollten die Lutheraner nur diejenigen reformierten Lehren thematisieren, die sich in den drei märkischen Konfessionen befänden, die Refor- mierten wiederum nur die Lehren, die in den lutherischen „öffentlichen confessionibus enthalten“ seien. Kein Geistlicher solle künftig gezwungen werden, an einen „Consensus Fundamentalis“ zu glauben. Alle, die sich gemäß den Edikten und dieser Declaration verhalten würden, ständen unter kurfürstlichem Schutz. Mit dem Edikt vom 6. Mai 1668 und den Entlassungen wichtiger Opponenten gegen die kurfürstliche Religionspolitik hatte Friedrich Wilhelm seine Macht befestigt und seine Vorstellungen einer mutua tolerantia deutlich gemacht. Um den Kirchenfrieden dauerhaft zu sichern und künftigen Widerstand gegen seine Kirchenpolitik zu unterbinden, förderte der Kurfürst weiterhin die reformierte Konfession und machte seinen Einfluss auf die Neubesetzungen der lutherischen Pfarrstellen geltend. Dies sollte ihm in den meisten Fällen erfolgreich gelingen. Da der Berliner Magistrat sein Vokationsrecht durch jeden Vorschlag des Kurfürsten eingeschränkt sah, letztendlich aber nicht nur wegen der Besoldung von ihm abhängig war, bedeutete jede Personalie einen weiteren Konfliktpunkt. Am 15. Juli 1668 erließ der Kurfürst ein Reskript277, in dem den Brandenburger Magistraten befohlen wurde, die Beachtung der Edikte durch alle Geistliche ihres Ortes zu überwachen. Sämtliche Verstöße seien dem Geheimen Rat anzuzeigen. In der Konsistorialratssitzung vom 27. Juli 1668 erläuterte der Kurfürst, dass er durch seine Maßnahmen keine „Religionsmengerei“ einführen wolle. Er wisse jedoch, „daß, so lange die Kontroversien währeten, diese Einigkeit nicht zu hoffen sei, sondern er verstände durch solche Einigkeit anders nichts als nur civilem concordiam in conversatione politica; einem jedwedem aber bleibe seine Religion und libertas frei“278 . Die kommenden Jahre seien an dieser Stelle lediglich ausschnittsweise angedeutet, da der Berliner Kirchenstreit mit dem Jahr 1669 und den letzten 276 Vgl. den Bericht Linckers vom 25. Dezember 1667/4. Januar 1668 nach Ribbeck: Aus Berichten, 146. 277 Vgl. Hering: Neue Beiträge II, 268 f. 278 Zitiert nach Landwehr: Kirchenpolitik, 229.
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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bedeutenden Entlassungen lutherischer Pfarrer279 zwar seinen Höhepunkt längst überschritten, aber keineswegs beendet war. Der lutherische Widerstand gegen die kurfürstliche Religionspolitik und im Speziellen gegen die Edikte reichte bis weit in die 1670er Jahre hinein. 280 Friedrich Wilhelm nahm zunehmend Abstand von allgemeinen bedeutenden Erlassen, 281 änderte jedoch nicht seine kirchenpolitischen Grundsätze. Auch weiterhin drängte er auf die Befolgung der Edikte. Um großes Aufsehen und die Einmischung der Stände zu vermeiden, entschieden der Kurfürst und das Geistliche Konsistorium von Fall zu Fall über Disziplinarmaßnahmen. Auch in der Personalpolitik ging Friedrich Wilhelm neue Wege. 1669 wurde die langjährig bestimmende Persönlichkeit in der Kirchenpolitik, der Oberpräsident von Schwerin, aus gesundheitlichen Gründen von den geistlichen Angelegenheiten entbunden. Auch Stoschs Einfluss am kurfürstlichen Hof ging in den 1670er Jahren deutlich zurück. Erst in den 1680er Jahren gewann mit dem Geheimen Staatsrat und Konsistorialpräsidenten Paul von Fuchs (1640–1704) 282 wieder eine einzelne Person entscheidenden kirchenpolitischen Einfluss. Zu diesem Zeitpunkt war der Kirchenstreit jedoch bereits beendet. Die Förderung der reformierten Konfession ging unterdessen durch Privilegierungen Reformierter bei Stellenbesetzungen in Kirche und am Hof, obrigkeitsunterstützter Gründungen reformierter Gemeinden sowie den Bau reformierter Kirchen weiter voran. Höhepunkt dieser Entwicklung war das ‚Edikt von Potsdam‘ vom 29. Oktober 1685. 283
Vgl. zu den Ereignissen des Jahres 1669 die tagebuchartigen Aufzeichnungen Lorentz’ in FB Gotha Chart. A 281, f. 121r–134v. 280 Auch weiterhin spielten die Universitäten eine wichtige Unterstützerrolle für die lutherische Geistlichkeit. Vgl. beispielsweise die Schreiben der theologischen Fakultäten zu Leipzig vom 2. Januar 1672 in GKl Archiv XII/90/1, f. 305r–306v, Rostock vom 25. Januar 1672 in aaO., f. 307r–308v und Frankfurt/Oder vom 5. März 1672 in aaO., f. 328r. 281 Vgl. einleitend zur weiteren Entwicklung in der kurfürstlichen Kirchenpolitik Landwehr: Kirchenpolitik, 230–236; Lackner: Kirchenpolitik, 140–145. Dass Friedrich Wilhelms neue Ehefrau, seit 1668 die Lutheranerin Dorothea Sophie von SchleswigHolstein-Sonderburg-Glücksburg (1636–1689), mildernd auf den Kurfürsten eingewirkt hat, ist eine wahrscheinliche, letztlich aber nicht belegbare These (sie konvertierte später zum reformierten Glauben). 282 Vgl. zu Fuchs Bahl: Hof, 481–483. 283 Vgl. dazu als ersten Überblick Landwehr: Kirchenpolitik, 289–316; Lackner: Kirchenpolitik, 300–304; H.-J. Beeskow: Zur Vorgeschichte des Edikts von Potsdam 1685. Bemerkungen zur Kirchenpolitik des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, JBLG 35 (1984), 53–62. 279
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5.3.2 Die weiteren Lebenswege der reformierten Pfarrer und die neuen Hofprediger Friedrich Wilhelm hatte keinen Grund, gegen die am Kirchenstreit beteiligten reformierten Geistlichen disziplinarisch vorzugehen.284 Dies galt erst recht für jene unauffällig gebliebenen Reformierten, die das Ihrige zur Förderung des reformierten Glaubens und zum Aufbau des reformierten Gemeindewesens beitrugen. Ohne großen Einfluss auf das geistliche Leben der Residenzstadt blieb beispielsweise weiterhin der zweite Domprediger Johann Christian Sagittarius. Auch in der letzten Phase des Berliner Kirchenstreits sind keine bedeutenden Äußerungen von ihm erhalten. Er starb nach langer Krankheit am 6. Mai 1674.285 Für den am 8. Juli 1664 gestorbenen ersten Domprediger Wolfgang Crellius, der in der Residenzstadt ebenfalls keinen großen Einfluss besessen hatte, berief der Kurfürst Georg Conrad Bergius (1623–1691) 286 . Dieser übernahm zudem einen Lehrauftrag am Joachimsthalschen Gymnasium und wurde bald zum Hofprediger vociert. Gemeinsam mit Stosch und Kunsch wirkten somit erstmals drei Hofprediger parallel. Da er wegen seiner Gelehrsamkeit vom Kurfürsten hoch geschätzt war, wurde Bergius Erzieher der Kurprinzen Karl 284 Auf die am Kolloquium 1662/63 beteiligten Lehrer des Joachimtshalschen Gymnasiums Johann Vorstius, Gersom Vechner und Adam Gierck wird an dieser Stelle nicht eigens eingegangen, da sie im weiteren Verlauf des Kirchenstreits keine Rolle mehr spielten. Vgl. zu ihren weiteren Lebenswegen 3.2.2.3. 285 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 43 (unfol.). 286 Georg Conrad Bergius, am 21. Dezember 1623 in Cölln geboren, war ein Sohn des ehemaligen Hofpredigers Johann Bergius (Vgl. zu ihm 3.1, 3.2.1 und 3.3.2.), der bis zu seinem Tod 1659 die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms maßgeblich geprägt hatte. Georg Conrad besuchte von 1638 bis 1641 das Gymnasium illustre in Bremen, studierte anschließend in Königsberg, Frankfurt und Leiden und unternahm 1648 eine Bildungsreise nach Paris. 1650 wurde er an der Universität Frankfurt/Oder Magister philosophiae moralis, ein Jahr später wurde er zum Doktor der Theologie promoviert, und wurde Extraordinarius, 1653 schließlich ordentlicher Professor der Theologie. Zeitgleich war er Prediger der reformierten Gemeinde in Frankfurt. 1664 erfolgte der Ruf nach Berlin. Dort bekam Bergius viel Einfluss, konnte aber nie die Bedeutung seines Vaters erlangen. Auch Bergius achtete darauf, dass neuberufene Pfarrer ihre Zusicherung gaben, sich an die kurfürstlichen Edikte zu halten (über das wohl prominenteste Beispiel, ein Kolloquium mit Spener am 21. Juni 1691, existiert ein von Bergius selbst verfasster Bericht an den preußischen Oberpräsidenten Eberhard von Danckelmann [1643–1722], der abgedruckt ist in K. Aland: Spener-Studien. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus I [AKG 28], Berlin 1943, 119–122.). Vgl. zu Georg Conrad Bergius GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 45b; GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 11, f. 151.162–167; Zedler 3 (1733), 1269 f.; Jöcher I (1750), 989; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin I (1737), 171–173; Thadden: Hofprediger 185 f.; J. Splett: Art. Bergius (Berg), Georg Conrad, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien 1997, 10–13; Bahl: Hof, 428 f.
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Emil und Friedrich, nach Stoschs Tod 1686 Konsistorialrat und somit eine wichtige Persönlichkeit in der kurfürstlichen Religionspolitik. Zudem oblag Bergius die Kirchenaufsicht über die französisch-reformierte Gemeinde. In späteren Jahren war er entscheidend an den brandenburgischen Unionsverhandlungen beteiligt. Bergius, ein überzeugter Vertreter der kurfürstlichen Religionspolitik, galt in theologischen Fragen als gemäßigt und kompromissbereit. Er agierte im abklingenden Kirchenstreit eher zurückhaltend und meldete sich nur selten bedeutend zu Wort. Bergius hatte seine Ämter bis zu seinem Tod am 7. September 1691 inne. 1666 berief der Kurfürst mit Heinrich Schmettau (1629–1704) 287 sogar einen vierten reformierten Hofprediger, der nach dem Tod Georg Conrad Bergius’ 1691 zudem Konsistorialrat wurde. Schmettau, der längst nicht so offensiv gegenüber Lutheraner polemisierte wie noch Stosch, 288 vertrat eine Theologie ohne radikale Positionen und befasste sich literarisch mit der Möglichkeit einer innerprotestantischen Union. Kurz vor seinem Tod am 1. November ließ er sich von allen seinen Ämtern emeritieren. Dass der reformierte Glaube weiterhin Zulauf in der Doppelstadt fand, zeigte sich darin, dass der Kurfürst 1670 mit Benjamin Ursin (1646–1720) 289 einen weiteren Pfarrer an die Dom Schmettau, am 29. November 1628 in Brieg geboren, studierte nach dem Schulbesuch in Görlitz ab 1648 in Leipzig, Frankfurt/Oder, ab 1651 in Groningen, Utrecht, Leiden, Heidelberg, Straßburg und Basel Theologie. Nach einer ausgedehnten Reise über Genf, Charenton bei Paris, Oxford, Cambridge, Flandern und Brabant wurde er 1654 erster Hofprediger beim Herzog Ludwig IV. zu Liegnitz (Legnica), Brieg und Goldberg (1616–1663), 1658 Konsistorialrat und 1663 Administrator der Superintendentur. Als Schmettau unter Ludwigs Nachfolger, Herzog Christian (1618–1672), zum Superintendenten ernannt wurde, beschwerten sich die katholischen Stände und erwirkten die Entlassung Schmettaus. Er wandte sich daraufhin an Friedrich Wilhelm, der ihm eine Stelle als Prediger und außerordentlicher Professor in Frankfurt/Oder auftrug, ihn dann aber doch am 1. Dezember 1666 zum Domprediger nach Cölln berief. Schmettau, der „seiner Zeit als der gelehrteste der Berliner Hofprediger“ (Thadden: Hofprediger, 186) galt, wurde später Konsistorialrat und verfasste verschiedene Texte zur Frage der innerprotestantischen Union und zum Atheismus. Vgl. zu Heinrich Schmettau GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 25, f. 9; Zedler 35 (1743), 347; Jöcher IV (1751), 285; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin, 169–171; Meinardus: Protokolle VII/1, 568 f. 578 f. 588; Fischer: Pfarrerbuch II/2, 757; Thadden: Hofprediger 186–188; M. Graf v. Schmettow: Schmettau und Schmettow. Geschichte eines Geschlechts aus Schlesien, Büderich bei Düsseldorf 1961; J. Splett: Art. Schmettau, Heinrich (v.), in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien 1997, 396–403; Bahl: Hof, 573 f. 288 Vgl. Themel: Mitglieder, 75. 289 Benjamin Ursin wurde am 12. Februar 1646 in Polnisch Lissa geboren. Dort besuchte er die Schule, seine Studienorte sind unbekannt. 1667 wurde er als Prediger nach Köln, 1670 als Hofprediger nach Cölln berufen. Der Ernennung zum „Ersten Königl. Oberhofprediger, Konsistorial- und Kirchenrat mit dem Prädikat Wohlwürden“ (Thadden: Hofprediger, 189) 1700 folgte 1702 die Verleihung des reformierten Bischofstitels und 1705 die Adelung mit dem Titel „von Bär“. Bei der Königskrönung Friedrich III. 287
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
kirche berief, der zugleich der fünfte Hofprediger wurde. Auch Ursin, später mit dem Zusatz „von Bär“ geadelt, tat sich in späteren Unionsverhandlungen hervor. Er starb am 23. Dezember 1720. Der zur Zeit des Kirchenstreits zweite Hofprediger, Johann Kunsch von Breitenwalde, hat in der Schlussphase des Streites keine bedeutenden Spuren mehr hinterlassen. Im Anschluss an das Kolloquium 1664 wurde er bis 1667 als Hofprediger an die Erbprinzessin und spätere Königin von Dänemark und Norwegen, Charlotte Amalie von Hessen-Kassel (1650–1714; eine Nichte Friedrich Wilhelms), ausgeliehen. 1668 nahm er erfolglos an Unionsverhandlungen teil. 1673 war er als Aushilfsprediger in der Gemeinde zu Danzig tätig. Er starb am 9. November 1681 in Berlin. Sein Nachfolger wurde 1683 Anton Brunsenius290 (1641–1693), der sich mehrfach mit der Unionsproblematik auseinandersetzte. Bartholomäus Stosch blieb bis zu seinem Tod erster Hofprediger. 1666 sah er sich dazu veranlasst, als Reaktion auf den in Folge des Edikts 1664 erhobenen Vorwurf der Lutheraner, die märkischen Reformierten würden in einigen Punkten anderes lehren und glauben als die übrigen Reformierten im Reich, anonym eine Schrift291 zu verfassen, in der er die Einigkeit der märkischen mit anderen Reformierten in den theologischen Hauptlinien betonte und die drei Bekenntnisse verteidigte. In den kommenden Monaten wurden daraufhin viele Gegenschriften gedruckt. 292 fungierte er als Consecrator. Vgl. zu Benjamin Ursin GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 46A; Zedler 51 (1747), 566; Jöcher IV (1751), 1751; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin, 173–174; P. Tschackert: Art. Ursinus: Benjamin U. (von Bär), ADB 39 (1895), 365 f.; Fischer: Pfarrerbuch II/2, 912; Thadden: Hofprediger, 188–191 [dort Korrektur der falschen biographischen Angaben bei Küster, Hering und Tschackert!]; J. Splett: Art. Ursinus von Bär, Benjamin, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien 2000, 483–492; Bahl: Hof, 573 f.605 f. 290 Vgl. zu Brunsenius GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 46a; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin, 174–177; Hering: Beiträge, 102–104; Fischer: Pfarrerbuch II/1, 100; Thadden: Hofprediger, 191 f.; J. Splett: Art. Brunsenius (Brunsen), Anton, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien 1997, 84–88; Bahl: Hof, 441. 291 Stosch: Summarischer Bericht von der Maerkischen Reformirten Kirchen Eintraechtigkeit [. . .], Cölln an der Spree 1666. 292 Vgl. die beiden wichtigsten Schriften: [Anonymus:] Kurtze Anmerckungen / auff den / newlich zu Cölln an der Spree gedruckten / Summarischen Bericht B. S. Von der Märckischen Reformirten Kirchen Einträchtigkeit / mit andern / in und ausser DeutschLand / Reformirten Gemeinen, Dantzig, 1666; Außführlicher Gegen-Bericht / einem Summarischen Bericht / B. S. Von der Märckischen Reformirten Kirchen Einträchtigkeit mit andern in und ausser Deutschland Reformirten Gemeinen / Zu diesem mal in dem einigen Articul von dem Leiden und Sterben unsers Herrn Jesu Christi entgegen gesetzt / von P. S. [= der Leipziger Theologieprofessor Johann Adam Schertzer (1628–1683)], Leipzig, 1666. Vgl. ausführlicher zu Stoschs Schrift und den Gegenschriften (vgl. unter anderem GStA PK I. HA Rep. 13 Nr. 19 c Fasz. 14; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische
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Obwohl er nach wie vor als wichtigster reformierter Theologe galt und die theologische Zensur inne hatte, schwand sein Einfluss am kurfürstlichen Hof in den 1670er Jahren deutlich. Dies hatte verschiedene Gründe: Zum einen starb 1667 seine Gönnerin, die Kurfürstin Luise Henriette (die neue Ehefrau Friedrich Wilhelms, die Lutheranerin Dorothea von Holstein, dürfte sich reservierter gegenüber Stosch verhalten haben). Zum anderen wird auch die offizielle Enthebung des Oberpräsidenten Otto von Schwerin von den geistlichen Angelegenheiten 1669 und die damit verbundene allmähliche Neuausrichtung der kurfürstlichen Religionspolitik Stoschs Stellung geschwächt haben. Schließlich geriet er durch die bereits geschilderte Kritik einiger hoher Hofbeamter, aber auch zunehmend von Seiten der Stände an seinem Verhalten während der letzten Phase des Kirchenstreits zunehmend in die Defensive. Stosch vertrat auch weiterhin eine harte Linie gegenüber Lutheranern. Irenische Bemühungen unterstützte er nur dort, wo er den reformierten Einfluss nicht bedroht sah. Spätere Unionsverhandlungen ließ er abbrechen. 1667 und 1672 erregte er besonderen Anstoß bei Geistlichen und den Landständen, da er in den Kolloquien, bei denen die neu berufenen Pfarrer zum Gehorsam gegenüber den Edikten ermahnt wurden, ziemlich hart verfuhr.293 Auch infolge des Verhörs und der Auseinandersetzung mit Friedrich Gesenius, dem Inspektor von Gardelegen, die zwischen 1675 und 1678 stattfand, musste Stosch viel Kritik einstecken.294 1677 beschwerten sich zudem die Stände beim Kurfürsten, dass Stosch und weitere Konsistoriumsmitglieder ohne Angabe von Gründen vermeintlich friedfertige lutherische Pfarrer verhören würden.295 1684 demissionierte er aus gesundheitlichen Gründen als Konsistorialrat und starb am 5. März 1686.
Stände Nr. B 562, f. 365r–368v; SBB-PK 11, 12, 14, 15, 30 in: Dk 1303): Hering: Neue Beiträge II, 329–334; Schulz: Gerhardt, XLVIII f.; Landwehr: Stosch, 118–121. 293 Vgl. zu den Vorwürfen gegen Stosch und den Fragen, die er 1667 lutherischen Pfarramtskandidaten vorlegen ließ, GKl Archiv XII/90/1, f. 247r–247v; GKl Archiv XII/90/2, f. 394r. Vgl. ausführlicher zum schwindenden Einfluss des Hofpredigers Landwehr: Stosch, 127–130 (dort auch Abdruck eines Protokolls über eine Konferenz mit einem neu berufenen Pfarrer). 294 Vgl. SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 478. 295 Vgl. den Brief der Stände vom 16. Oktober 1677 in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 439r–443r.
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Nicht als dessen Nachfolger296 , jedoch unmittelbar nach Stoschs Tod wurde Christian Cochius297 (1632–1690) zum Dom- und Hofprediger berufen. Da er am kurfürstlichen Hof auf Grund seines theologischen Verstandes hochgeachtet wurde, durfte er beim Tod Friedrich Wilhelms 1688 die Leichenpredigt halten. Insgesamt ist im Vergleich zu den Lutheranern bei den reformierten Geistlichen eine ausgesprochene Konstanz zu beobachten. Die reformierten Pfarrer waren meistens wesentlich länger auf ihren beruflichen Positionen als die Lutheraner. Dies liegt natürlich zum einen an den Entlassungen lutherischer Prediger auf Grund der kurfürstlichen Religionspolitik. Zum anderen war für einen reformierten Pfarrer eine Hofpredigerstelle das höchst mögliche Amt, in dem die Stelleninhaber in der Regel bis zu ihrem Tod blieben. Kurfürst Friedrich Wilhelm standen zur Zeit des Berliner Kirchenstreits bedeutende Hofprediger zur Seite. Deren Nachfolger zeigten sich irenischer gesinnt und kompromissbereiter, als dies bei Stosch der Fall war. Da sie ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung kirchenpolitischer Ziele und bedeutsam für die Ausbreitung des reformierten Glaubens in Brandenburg waren, vergrößerte Friedrich Wilhelm nach und nach die Zahl der gleichzeitig amtierenden Hofprediger.298 Somit blieb die Institution der Hofprediger auch über den Berliner Kirchenstreit und die Herrschaftszeit Friedrich Wilhelms hinaus von hoher Bedeutung.
5.3.3 Das Schicksal der lutherischen Pfarrer Neben Gerhardt und Reinhardt bekamen auch die weiteren Berliner Pfarrer Konsequenzen aus ihrer bisherigen Haltung während des Kirchenstreits zu spüren. Besonders der Lebenslauf des Cöllner Propstes Fromm ist bemerkenswert, da er ein breites publizistisches Echo hervorrief. Die anderen Cöll296 Es lässt sich nur in wenigen Fällen die genaue Rangfolge der brandenburgischen Hofprediger im 17. Jahrhundert an Hand von Quellen belegen. Bekannt ist lediglich, dass Johann Bergius und Bartholomäus Stosch den Titel „erster Hofprediger“ führten, Benjamin Ursin Oberhofprediger und Kunsch von Breitenwalde zweiter Hofprediger war. Ansonsten lassen sich lediglich Vermutungen aufstellen: So wird Cochius bei seiner Anstellung 1687 nicht sofort erster Hofprediger geworden sein, wahrscheinlich rückte eher Bergius oder Schmettau in diese Position auf. 297 Vgl. zu Christian Cochius GStA PK I. HA Rep. 2 Nr. 46c; Hering: Beiträge, 102–104; Fischer: Pfarrerbuch II/1, 126; Thadden: Hofprediger, 192 f.; Bahl: Hof, 455. 298 Bahl: Hof, 72, ist an dieser Stelle zu verbessern, da nicht alle Domprediger (wie beispielsweise Crell oder Sagittarius; vgl. auch Thadden: Hofprediger, 235 f.) zugleich Hofprediger waren.
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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ner Pfarrer hingegen konnten ihre Stellen ohne neuerliche Konflikte behalten. 5.3.3.1 Gerhardts weiterer Lebensweg Auch nach seiner endgültigen Absetzung blieb Gerhardt zunächst in Berlin. Am 5. März 1668 starb seine Ehefrau Anna Maria, geborene Barthold (1622– 1668). Dass sie in ihren letzten Tagen von den angesehenen Ärzten Michael Sennert (1615–1691) 299 und Martin Weise (1605–1693) 300 behandelt wurde, zeugt davon, dass Gerhardt trotz seiner Amtsenthebung weiterhin gute Beziehungen zum Hof pflegte. Auch der Kontakt zu seinen ehemaligen Pfarrkollegen hielt an. Lorentz, der Schwager und Beichtvater seiner verstorbenen Frau, hielt die Leichenpredigt, aus der neben der Huldigung der Toten auch die hohe gegenseitige Wertschätzung zwischen Lorentz und Gerhardt deutlich wird.301 Mit dem Tod seiner Frau allerdings brach Gerhardts dichterische Schaffenskraft ein. Mit dem Tod seiner Frau war für Gerhardt auch die Bindung an Berlin beendet, die ihn möglicherweise schon früher daran gehindert hatte, das Kurfürstentum zu verlassen. Es ist zudem gut möglich, dass Gerhardt auch aus finanziellen Gründen wieder als Pfarrer arbeiten wollte und musste. Entgegen früheren Darstellungen geht die Forschung mittlerweile davon aus, dass sich Gerhardt selbst aktiv um eine neue Stelle bemüht hat.302 299 Sennert hatte zu diesem Zeitpunkt die zweite Medizin-Professur an der Universität Wittenberg inne, vgl. Zedler 37 (1743), 52. 300 Weise war Leibarzt nicht nur Friedrich Wilhelms, sondern auch seines Vorgängers im Kurfürstenamt (Georg Wilhelm) und Nachfolgers (Friedrich III.). Vgl. zu Weise J. Splett: Art. Weise, Martin, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien, Berlin – Cölln 1640–1688, 477–481. 301 Vgl. SBB-PK 18 in Ee 651. Die Parteinahme Lorentz’ und die Anspielung auf den Kirchenstreit werden schon im Titel der gedruckten Leichenpredigt deutlich: [Leichenpredigt für] „Frau Anna Maria Bertholdin Des Wol-Ehrwürdigen/Groß-Achtbahren/ und Hochgelahrten Herrn Pauli Gerhardi Fürnehmen Geistreichen und wohlverdienten/doch (leider!) enturlaubten Predigers in Berlin zu St. Nicolai itzo aber werthgehaltenen Archidiaconi in Lübben/Hertz-Geliebte Ehe-Genossin [. . .] Durch M. Samuel Lorentz/von Guben/damals Prediger zu S. Nicol. in Berlin/dieser Zeit aber Past. und Superintend. der Herrschaften Forst und Pförten, Guben 1668“. Die lange Leichenpredigt zeichnet sich durch eine hohe Anzahl zitierter Bibelstellen und Sätzen zeitgenössischer Theologen und antiker Autoren aus. Typisch für die Zeit ist die Predigt auf den Erweis der Gelehrsamkeit ausgelegt. Der im Druck angefügte Lebenslauf enthält mE. eine der ergreifendsten Sterbensschilderungen der Frühen Neuzeit. Die Predigt bedarf, wie im Übrigen die wenigen von Gerhardt erhaltenen Predigten auch, dringend einer Analyse, die jedoch in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. 302 Vgl. Bunners: Gerhardt, 96.
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Im Sommer 1668 verstarb Conrad Cnisius (1593–1668) 303 , der Archidiakon der deutschen Gemeinde304 in Lübben, das zum Herzogtum Sachsen-Merseburg gehörte. Bereits kurze Zeit später sandte der Berliner Rittmeister Christian Engel einen Brief an den Lübbener Bürgermeister Kaspar Leupoldt und an den Stadtrichter Petrus Nicolai, um sich für Gerhardt als neue Pfarrstellenbesetzung stark zu machen. Ebenso erhielt Nicolai einen Empfehlungsbrief durch den brandenburgischen Kammergerichtsadvokaten Ambrosius Konrad Sturm.305 In seinen Sitzungen vom 15. und 19. September beschloss der Lübbener Magistrat, neben dem Sohn des verstorbenen Pfarrers Cnisius, der seinerseits in Schönborn und Lindena tätig war, und Thomas Schindler aus Finsterwalde auch Gerhardt zu einer Probepredigt einzuladen.306 Am 14. Oktober hielt Gerhardt den Gottesdienst und wurde am 29. Oktober offiziell auf das Archidiakonat berufen. Am 6. Juni 1669 legte er vor dem Lübbener Konsistorium den säschsischen Bekenntniseid ab und wurde am 16. Juni offiziell eingeführt. Seine Eintragungen ins Lübbener Kirchenbuch begannen am 30. Juni. Die zähen Verhandlungen über die Lübbener Diakonatswohnung und die familiären Hintergründe, welche Ursache für die lange Verzögerung bis zu Gerhardts endgültigem Umzug nach Lübben waren, zeichnen ebenso wie die gut dokumentierten Auseinandersetzungen hinsichtlich seiner Amtsführung ein Bild davon, dass Gerhardt in Lübben keinen Konflikt scheute. Die Berufung Gerhardts nach Lübben und seine dortige Amtszeit wurden ausführlich durch Roth 307, Schulz308 , Langbecker309, Petrich 310 und Daenicke311 behandelt. Sie sind insofern hier nicht von Interesse, als es aus dieser Zeit tatsächlich weder Quellen noch Andeutungen gibt, dass sich Gerhardt noch einmal zum Berliner Kirchenstreit geäußert hätte. Mit Ausnahme eines Gedichtes anlässlich des Todes Samuel Sturms gibt es auch keine überlieferten Dichtungen mehr aus dieser Zeit. Möglicherweise haben sowohl der Ausgang des Kirchenstreits als auch der Tod seiner Frau dazu geführt, dass Gerhardt nicht mehr gedichtet hat. Auch in der einzigen aus der Lübbener Zeit erhaltenen
Vgl. zu Cnisius Fischer: Pfarrerbuch II/1, 127. Lübben besaß zudem eine wendische Gemeinde, die ihr Domizil in der Dreifaltigkeitskirche hatte und durch den zweiten Diakon der deutschen Gemeinde, Gottlieb Rudelius (1650–1692), versorgt wurde, vgl. Fischer: Pfarrerbuch II/2, 720. 305 Vgl. den Abdruck bei Langbecker: Gerhardt, 208. 306 Vgl. Langbecker: Gerhardt, 206–207; Daenicke: Berufung, 246 f. 307 Vgl. Roth: Gerhardt, 36–76. 308 Vgl. Schulz: Gerhardt, LXXV–LXXVI. 416–420 309 Vgl. Langbecker: Gerhardt, 206–226. 310 Vgl. Petrich: Gerhardt, 174–184. 311 Vgl. Daenicke: Berufung, 244–271. 303
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Predigt 312 sind keine Hinweise auf den Kirchenstreit festzustellen. Es ist möglich, dass sich Gerhardt aus Überdruss von den Berliner Ereignissen distanzieren und sich ganz auf seine neue Aufgabe konzentrieren wollte und sich deswegen nicht mehr zum Kirchenstreit geäußert hat. Gerhardts theologisches Verständnis hatte sich jedoch keinesfalls verändert; dies geht aus seinem Testament313 hervor, das er kurz vor seinem Tod für seinen einzigen noch lebenden Sohn, Paul Friedrich, verfasst hat. Darin dankte Paul Gerhardt Gott „für alle seine Güte und Treue, die er mir von meiner Mutter Leibe an bis auf jetzige Stunde an Leib und Seele und an allem, was er mir gegeben, erwiesen hat“. Der Dank für Gottes Vorsehung und die Bescheidenheit angesichts des eigenen Lebens sind wesentliche Momente des gesamten Testaments. Gerhardt verstand sich selbst als einen konsequenten Menschen, der seine Auffassungen auch nicht durch den Kirchenstreit geändert oder sich in irgendeiner Form schuldig gemacht hätte gegenüber Gott, seinem Gewissen oder der Obrigkeit. Gerhardt hinterlasse seinem Sohn „einen ehrlichen Namen, dessen er sich sonderlich nicht wird zu schämen haben“. Dass Gerhardt bis zum Lebensende irenische Bemühungen ablehnte, zeigte sich in der Warnung vorm Synkretismus. Vor diesem könne sich Paul Friedrich nur schützen, wenn er der lutherischen-orthodoxen Lehre folge. Gerhardt beschwor seinen Sohn: „Die heilige Theologiam studiere in reinen Schulen und auf unverfälschten Universitäten und hüte dich ja vor Synkretisten, denn sie suchen das Zeitliche und sind weder Gott noch Menschen treu. In deinem gemeinen Leben folge nicht böser Gesellschaft, sondern dem Willen und Befehl deines Gottes“. Das beharrliche Festhalten am lutherischen Bekenntnis, das Paul Gerhardt während des Kirchenstreits ausgezeichnet hatte, wollte er auch seinem Sohn vermitteln: „Summa, bete fleißig, studiere was Ehrliches, lebe friedlich, diene redlich und bleibe in deinem Glauben und Bekenntnis beständig, so wirst du einmal auch sterben und von dieser Welt scheiden willig, fröhlich und seliglich“. Dieser Schluss lässt vermuten, dass Gerhardt sein Leben ohne innere Widersprüche empfand. Im gesamten Testament fehlen Hinweise auf persönliche Enttäuschungen oder Verletzungen. Auch im Nachhinein hatte Gerhardt kein Bedürfnis, den Berliner Kirchenstreit zu thematisieren. Im tiefsten Gottesvertrauen scheint Gerhardt mit seinem Leben zufrieden gewesen zu sein.
312 Vg. die „Lectiones in Natality Christi“ abgedruckt in H. Priebe: Eine bisher unbekannte Handschrift von Paul Gerhardt, JBrKG 25 (1930), 145–155. 313 Leider sind weder ein Autograph noch eine Abschrift des Testaments nachweisbar. Der erste Zeuge ist Feustking: Pauli Gerhardi Geistreiche Hauß- und Kirchen-Lieder, Vorwort, der das Testament nach eigenen Angaben bei Gerhardts Sohn Paul Friedrich eingesehen hat. Im Folgenden ist es zitiert nach Cranach-Sichart: Gerhardt, 492 f.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Er starb am 27. Mai 1676314 und wurde wahrscheinlich hinter der Kanzel der Lübbener Kirche beigesetzt. 5.3.3.2 Lilius’ Revers und Wiedereinsetzung Da das weitere Schicksal von Propst Georg Lilius der Forschung bereits bekannt ist 315 und nur wenige bisher unbekannte Quellen erschlossen werden konnten, sei sein weiterer Lebensweg nur kurz angedeutet. Der Kurfürst hatte in seiner Resolution 316 an den Magistrat vom 17. Mai 1665 „dem Lilius, von dem er muthmaße, daß er sich bloß von Einem und dem Andern abschrecken ließe, noch eine geringe Zeit, sich anders zu bedenken, verstatten“ lassen. Lilius ältester Sohn Caspar Lilius (1632–1687), Generalsuperintendent und Hofprediger in Bayreuth, schrieb seinem Vater einen Brief317, in dem er ihn ermutigte, den Revers zu unterschreiben. Der Kurfürst würde nichts „Unbilliges“ verlangen und den Exorzismus nicht vollständig verbieten, sondern lediglich das Schmähen auf den Kanzeln untersagen. Daher solle sich Georg nicht als Märtyrer ansehen und ins Exil gehen, sondern dem Kurfürsten Gehorsam erweisen. Die erhaltenen Manuskripte belegen eindrucksvoll, wie sehr der Berliner Propst mit sich, seinen Pfarrkollegen und den Reversen haderte.318 Letztendlich ging er entgegen den Bedenken seiner Pfarrkollegen auf den Rat seines Sohnes ein, dankte dem Kurfürsten in einem Brief für die Bedenk Im Begräbnisregister des Kirchenbuches heißt es: „Den 7. Juniy Herr Paul Gerhardt Siebenjähriger treufleißiger und wohlverdienter Archi Diaconus dieser Kirchen im 70 sten Jahre seines Alters“ (Zitiert nach Daenicke: Gerhardts Berufung, 265.). 315 Vgl. unter anderem die Darstellungen bei Hering: Neue Beiträge II, 225–231; Schulz: Gerhardt, LIX–LXI; Langbecker: Gerhardt 151–157. 316 Vgl. Schulz: Gerhardt, 386–387; Langbecker: Gerhardt, 131–133. 317 Vgl. Teile des Briefes in Jöcher / Adelung 3 (1810), 1823 f.; Hering: Neue Beiträge II, 225–227 (paraphrasiert!); Langbecker: Gerhardt, 151–153. Der Brief wurde unter dem Titel „Filiale consilium ad Sanctissimum parentem G. Lilien“ 1665 in Bayreuth gedruckt, ein Exemplar war jedoch nicht auffindbar. 318 Vgl. dazu im einzelnen GKl Archiv XII/90/2, f. 269r–271v („M. Lilien Endliches privat-Bedencken, in Electoralis Edicti ardua causa“ vom 18. Mai 1665, das er an Lubath gesendet hatte, der es wiederum mit vielen Randkommentaren versah), aaO., f. 273r– 274v (Lubaths Brief an Lilius vom 23. Mai), aaO., f. 275r–291r (Briefwechsel zwischen Lilius, seinen Berliner Pfarrkollegen und Johann Christoph Ludecus von Oktober/November 1665 über die durch Lilius aufgestellten Sätze „De limitate Subscriptione“). Auch Theologieprofessoren meldeten sich zu Wort. In GKl Archiv XII/90/2, f. 292r– 293v.294r–295r.296r–297r legen Calov, Meisner und Varenius (Der Brief von Varenius an Helwig befindet sich ebenfalls in FB Gotha Chart. A 282, f. 70r–71v) ihre „Judicii de limitate Subscriptione“ dar. Darüber hinaus zeigen die Briefe von Valentin Fromme (aaO., f. 298r–298v) und Daniel Simonius (aaO., f. 299r), dass sich die Nachricht über Lilius’ Angelegenheit unter den Lutheranern Brandenburgs weit verbreitet hatte. 314
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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zeit, versicherte ihn seines Gehorsams und begehrte die Wiedereinsetzung in sein Amt. Auf Grund seines hohen Alters bat er jedoch, den Revers nicht unterschreiben zu müssen, sondern seine mündliche Zusage gelten zu lassen. Möglicherweise war Lilius bewusst, dass er bald sterben würde, und er wollte deswegen nicht kurz vor seinem Tod seinen Glauben und sein Gewissen durch einen ungewollten Revers belasten. Der Kurfürst war mit Lilius’ Bittgesuch nicht einverstanden. „Er sehe keinen Grund“, so Friedrich Wilhelm in einem Brief319 vom 28. November / 8. Dezember an die Geheimen Räte, „warum er [= Lilius] dasjenige, was er mündlich zu versprechen sich erbietet, nicht auch schriftlich von sich geben wolle“. Immerhin kam der Kurfürst Lilius entgegen und gestattete ihm, einen eigenen Revers zu entwerfen. Dies tat Lilius und unterschrieb seinen selbst formulierten Revers am 3. Januar320 . Da der Kurfürst diesen Revers trotz der unerwünschten Betonung, „bey erkandter und bekandter rein-lutherischer Lehr und Glauben mit Gottes gnädiger Hülfe beständig bis an mein seliges 319 Vgl. die Abschrift in GKl Archiv XII/90/2, f. 303r; vgl. auch die Verfügung im Protokoll des Geheimen Rates vom 8. Dezember bei Meinardus: Protokolle, VII/1, 337. 320 Vgl. den Wortlaut des Revers: „Nachdem der Durchlauchtigste Churfürst und Herr, Herr Friederich Wilhelm Marggraf zu Brandenburgk [etc.] Unser gnädigster Herr: Dero Christlöblichen Intention, Wegen des Evangelischen Kirch-Friedens Und Christlicher Verträglichkeit, gnädigst desiderirt Und an Dero Lande ernstlich begehrt: Als erkläre, gegen Se. Churfl. Durchl. Meinem gnädigsten Herrn, Zu dero Unterthänigst-schuldigsten gehorsambs Ehre, ich mich, nochmals, wie vormals, Unterthänigstes gehorsambs, daß ich jeder Zeitt mitt hertzlichen gebeth Gott um beforderung des Wahren Kirch-Friedens anruffen: auch nichts unterlaßen will, Was auf beiden seitten Zu einer Christlichen Gott-wohlgefälligen tollerantz ersprießlich sein würdt: auch denen Reformirten Dieses orttes keine frembde, Und Von Ihnen Ungestandene Dogmata Und Conseqventias aufbürden, Und daneben, in nöttiger tractirung derer Controversien, Und des elenchi (wie bißher, also fürder) auch Christlicher Moteration, Und aller bescheideneitt (maßen dieselbe auch denen Reformirten eingebunden ist) gebrauchen, Und sonst gegen Se. Churfl. Durchl. Mich aller Treu, Und wie gedacht, Untterthänigsten gehorsambs, samt allen rechtschaffenen Wesen in Christo Jesu, befleißigen. Und verspreche solchemnach mit meiner eingenhändigen Schrift und Unter-Schrift, den churf. Edicten, nach Anweisung höchst gedachter Ihrer churf. Durchl. deswegen in offenen truck vorhandenen Declaration, Dero gnädigsten Intention, und gethaner Versicherung: in simplici verborum sensu gehorsamst nachzuleben, sonder einige andere Präjudiz oder Nachtheil und genommenes ärgernüß, auch darwieder vorsätzlich mit nichten zu handeln. Werde doch nach, wie vor, bey erkandter und bekandter rein-lutherischer Lehr und Glauben mit Gottes gnädiger Hülfe beständig bis an mein seliges End Verbleiben. Sign. Berlin, den 3. Jenner 1666. M. Georg Lilius, Sen. m. m.“ (zitiert nach GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 25r). Vgl. auch Schulz: Gerhardt, 388; Langbecker: Gerhardt, 153–154.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
End“ zu verbleiben, akzeptierte, informierte von Schwerin Lilius am 6. Februar 1665, dass er sein Pfarramt wieder aufnehmen dürfe. Mit einem Brief vom 31. Januar / 10. Februar 1666321 wurde die Wiedereinsetzung auch offiziell bekundet. In diesem Schreiben wurde jedoch deutlich, dass die Rehabilitation nur eine Ausnahme war. Die Forderung der Unterschriftsleistung unter den Revers blieb für alle anderen lutherischen Pfarrer bestehen. Lilius’ Verhalten löste bei vielen Gemeindegliedern und Pfarrern Unverständnis und Missgunst aus322 und führte zu mehreren, teils unter dem Namen des Lilius pseudepigraphisch herausgegebenen Schriften, die sein Verhalten tadelten.323 Auch Gerhardt und einige andere der Berliner Pfarrkollegen haben Lilius’ Reversunterschrift deutlich verurteilt 324 und überlegt, ihm die Absolution im Beichtstuhl zu versagen. Lilius trat sein Amt wenige Tage später verbittert über seine Kollegen wieder an, verstarb jedoch bereits wenige Monate später am 27. Juli desselben Jahres.325 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, f. 24r–24v; abgedruckt bei Langbecker: Gerhardt, 154–155. 322 Dies wird auch aus einem Bericht Linckers vom 13./23. März 1667 deutlich, vgl. Ribbeck: Aus Berichten, 142. 323 Es gab jedoch auch Schriften, die sich für Lilius einsetzten. Die wichtigsten Drucke dieses Schriftenstreits waren: „M. Georg. Lilii, [. . .] An- und Umbfrage / An etlich der Herren Inspectoren und Prediger aufn Lande / Mit Bitt und Anwartung ihrer zurückkomenden Aussage. Sampt dererselben gebetenen und erwarteten zurückkommenden Aussage / Ob man den Revers mit guten Gewissen schreiben und unterschreiben könne? Anno 1666“ (u. a. in FB Gotha Th. A. 791; SBB-PK 1, 3 in: Ag 522; Vgl. zur Diskussion um die Autorenschaft dieser Schrift: Hering: Neue Beiträge II, 229–231; Schulz: Gerhardt, LX–LXI; Landwehr: Kirchenpolitik, 224–225.); [Anonym:] E. U. R. H. Christliche Ehren-Rettung Des alten und umb die Kirche Christi wolverdienten Mannes/ Herrn George Lilien/ Der Lutherischen Kirchen zu Berlin Probsts und der benachbarten Inspectoris, Wider Die Boßhaffte Verleumbdungen der erlogenen Umbfrage und Verleumbderischen Aussage“ o.O., 1666. 324 Dies wird aus verschiedenen Voten deutlich, welche die Berliner Pfarrer als Reaktion auf einen Briefentwurf an die Fakultät Wittenberg verfassten, in dem wiederum die Reversunterschrift des Gigas (s. u.) verurteilt wurde. Neben Gigas, so Lubath, solle auch Lilius genannt werden, „die weil sie sich nicht geschämet solches zu thun“. Gerhardt stimmt dieser Verurteilung in seinem Votum unter anderem mit den Worten zu: „Das haltte ich auch“; vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 231r. 325 Gelegentlich wurde behauptet, Lilius wäre „als Folge der vielen Kränkungen, die er wegen seiner Nachgiebigkeit erlitten“ (Langbecker: Gerhardt, 155), gestorben. Dies lässt sich zwar nicht beweisen, ist auf Grund seines Alters und der hohen Emotionalität, mit der Lilius besonders nach dem Kolloquium agierte (vgl. beispielsweise seine Rede vor den Deputierten der Stände), jedoch nicht auszuschließen. Selbst in den Aufzeichnungen der Berliner Pfarrer findet sich diese These nicht, meistens wird sachlich von Lilius’ Tod berichtet, vgl. beispielsweise GKl Archiv XII/90/2, f. 139r: „NB: H. M. Lilius hat gantz und gar wenig predigten gethan, e[t] ward post restitutionem bald unpäßlich, kranck, und starb den 27. Jul. circa 20“. 321
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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5.3.3.3 Reinhardts Karriere in Leipzig Nachdem Elias Sigismund Reinhardt während der Vorladung der Berliner vor den Geheimen Rat am 28. April 1665 seines Amtes enthoben und die Entlassung mit einem Brief vom 17. Mai offiziell besiegelt worden war, blieb er nur noch wenige Tage in Berlin. Am 27. Mai zog er ins kursächsische Leipzig und wurde am 14. August desselben Jahres Pfarrer an der St. Nicolai-Kirche. Reinhardt stieg schnell in der Leipziger geistlichen Hierarchie auf. 1666 wurde er zum Doktor der Theologie promoviert, 1667 wurde er Rektor der Universität, wenige Tage später als Nachfolger von Samuel Lange (1618–1667) Superintendent,326 außerdem Inspektor der Schulen in Stadt und Kreis Leipzig. Zuletzt erfolgte die Berufung auf die dritte Theologie-Professur an der Universität. Reinhardt stand auf dem Höhepunkt seiner theologischen Laufbahn in Leipzig, bei der ihm sein streng lutherischer Ruf von großem Vorteil war. Der Kontakt zu seinen ehemaligen Berliner Kollegen riss nicht ab. Auch von Leipzig aus meldete sich Reinhardt im allmählich abklingenden Kirchenstreit zu Wort. 1666 veröffentlichte er zum Jahrestag seines „Ausgangs aus Berlin“ einen „Valet-Gruß“327, in dem er zwar ausführlich seine Entlassung und die damit zusammenhängenden Vorwürfe thematisierte, das Kolloquium jedoch nur nebenbei erwähnte: „Ich sprach, da es zu Religions-Gesprächen kam/derer Ausgang mir schon vor Ihrem Anfang ominös und leicht vermuthlich war/schon Anno 62. nicht anders von meinem Glauben/als ich hernach auch Anno 65. sprach“. Reinhardt betonte, dass es wichtiger sei, sich nach seinem Glauben zu richten, statt an seiner Pfarrstelle zu hängen: „Was sind das doch vor verblendungen des Sathans daß wir uns umb Eine Pfarr-Stelle zu tode graemen wollen/die doch ohne dem nicht unser eigen ist/und endlich doch/wanns lange gewaehret hat/einem frembden zufaellt nach unserm tode“. Reinhardt hatte genau das niedergeschrieben, was auch Gerhardt dachte und mit seiner Entlassung konsequent gelebt hatte. Beiden ist ebenfalls gemein, 326 Vgl. die Druckschrift mit dem Titel „Himmlische Härtung der rechten Reinharten [. . .] bei Christlicher Investitur und Einweisung Des [. . .] Herrn Eliae Siegmund Reinharts [. . .] am 20. Tag Meyens A. 1668 [. . .] von Churfl. Durchl. zu Sachsen damaligen Ober-Hoff-Prediger Martino Geiern/D., Leipzig 1668“ (unter anderem in SBBPK Dp 5225). 327 „Elias Sigismund Reinharts/ Der Heiligen Schrifft Doctors/ Bloß und Allein Aus Lauter Solcher Heiligen Göttlichen Schrifft ümb der Einfältigen willen genommenet Valet-Gruß An Seine Hinterlassenen Herzliebsten Freude und Zuhörer In Berlin, Leipzig 1666“ (unter anderem in FB Gotha D IV 12, XXX). Hering: Neue Beiträge II, 224, deutet eine weitere, jedoch unbekannte Schrift Reinhardts mit dem Titel „Bericht vom Zustande der evangelisch lutherischen Kirche in der Mark Brandenburg“ (ähnlich auch Zedler 31 [1742], 287) an, die jedoch nicht auffindbar war.
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dass sie auch noch nach ihrer Entlassung ehrenvoll vom Brandenburger Kurfürsten sprachen. Über seinen „Valet-Gruß“ hinaus stand Reinhardt in Briefkontakt mit Samuel Lorentz.328 Zudem ist ein Briefwechsel mit dem Professor der Rechte in Frankfurt/Oder und Geheimen Rat Johann Brunnemann (1608–1672) belegt: 329 Als sich der Superintendent und Oberpfarrer an der St. Marien-Kirche Frankfurt/Oder, Martin Heinsius330 , Anfang des Jahres 1665 weigerte, den Revers zu unterschreiben, sandten ihm die Berliner Pfarrer ihre „GewißensScrupel“331 zu. Dies kritisierte Brunnemann scharf,332 worauf der Archidiakon in Frankfurt/Oder, Johann Christoph Ludecus (1604–1683),333 und Reinhardt 334 Anfang Oktober 1665 sowohl das Vorgehen der Berliner Geistlichen als auch Heinsius engagiert verteidigten. Reinhardt starb am 10. September 1669 mit 45 Jahren an den Folgen einer Blutvergiftung.335 Die bei seiner Beerdigung gehaltene Leichenpredigt spielte 328 Vgl. beispielsweise den Brief Reinhardts vom 16. September 1668, in dem weitere vorangegangene Briefe angedeutet werden, in GKl Archiv XII/90/1, fol 222r. 329 Die sich in GKl Archiv XII/90/2, f. 231r–234v.235r-242v.242v–248r befindenden Voten zu den Berliner „Gewißens-Scrupel“ zeigen, wie genau der Berliner Kirchenstreit durch die Brandenburger Lutheraner verfolgt wurde. 330 Martin Heinsius wurde 1610 in Spandau geboren. Zunächst besuchte er dort die Stadtschule, dann in Berlin das Gymnasium zum Grauen Kloster. In Wittenberg studierte er ab 1630 Theologie, erlangte 1633 die Magisterwürde und wurde 1638 Adjunkt der philosophischen Fakultät. 1641 ging er an die Universität Frankfurt/Oder, wo er ebenfalls in die philosophische Fakultät eintrat und 1642 als deren Dekan fungierte. 1643 wurde er Stiftspfarrer und Inspektor am Dom zu Brandenburg. 1644 wählte ihn der Rat der Stadt Frankfurt/Oder zum Inspektor und Oberpfarrer der St. Marien-Kirche. Dort geriet er mehrfach in Konflikt mit der reformierten Gemeinde und den reformierten Professoren Elias Grebnitz und Johann Christoph Beckmann (an diesem Konflikt nahmen auch die Berliner Pfarrer Anteil, vgl. den Brief von Heinsius und Ludecus an die Berliner in GKl Archiv XII/90/1, f. 17r und deren Antwortbrief in aaO., f. 18v–22v). Bedeutend wurde seine Arbeit als Chronist der Stadt. Er starb am 9. Mai 1667 und wurde am 16. Mai in der Oberkirche beigesetzt. Vgl. zu Heinsius Zedler 12 (1735), 1197; R. Schwarze: Martin Heins, ADB 11 (1880), 649 f.; C. W. Spieker: Geschichte der Marien- und Oberkirche in Frankfurt an der Oder, Frankfurt a. d. Oder 1835, 281–316; J. H. Gebauer: Martin Heinsius, ein märkischer Kirchenlieddichter, JBrKG 6 (1908), 93– 103; J. Splett: Art. Heinsius, Martin, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Mark Brandenburg 1640–1713, 241–258. 331 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 147r–150v und 5.1.4. 332 Vgl. die einzelnen Briefe in GKl Archiv XII/90/2, f. 231r–234v.242v–248r.250r– 251r.253r–259r; FB Gotha Chart. A 282, f. 72r–73v.73v–74v. 333 Vgl. den Brief in GKl Archiv XII/90/2, f. 235r–242v. Vgl. zum Archidiakon der Oberkirche in Frankfurt/Oder, Johann Christoph Ludecus, L. Noack: Art. Ludecus, Johann Christoph, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien, Mark Brandenburg 1640– 1713, 295–311. 334 Vgl. die einzelnen Briefe in GKl Archiv XII/90/2, f. 249r–249v und 252r–252v. 335 Vgl. den Brief des Leipziger Geistlichen Konsistoriums an Herzog Moritz von
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wiederholt auf seine Verdienste in den Auseinandersetzungen mit den Reformierten in Brandenburg an. Auffällig, letztlich aber nicht erklärbar ist, warum bei den der gedruckten Leichenpredigt 336 angehängten Epicedien viele hochrangige lutherische Theologen (unter anderem Abraham Calov, Tobias Wagner, Johannes Meisner, Johannes Deutschmann, Samuel Benedict Carpzov) und die noch lebenden ehemaligen Kollegen Reinhardts in Berlin, Lubath, Lorentz und Helwig, vertreten waren, Gerhardt jedoch nicht. 5.3.3.4 Andreas Fromms Konversion und die weitere personelle Entwicklung an der Cöllner St. Petri-Kirche Der Cöllner Propst Andreas Fromm nahm sein Schicksal selbst in die Hand. Sein späterer Lebensweg,337 der einen großen zeitgenössischen und posthumen (nicht nur theologisch-) publizistischen Nachklang fand, ist der Forschung bekannt und wird daher hier lediglich zusammenfassend dargestellt. Immer wieder kam es vor, dass sich lutherische Pfarrer aus Gewissensgründen weigerten, den Revers zu unterschreiben. Am 3. April 1666 wurde Johann Müller338 , Pfarrer in Ribbeck, vor das Konsistorium geladen, da er durch den Küster seiner Gemeinde beschuldigt worden war, gegen Reformierte gelästert zu haben. Fromm setzte sich bei der Vorladung für Müller ein und geriet darüber in eine Auseinandersetzung mit Stosch.339 Fromm argumentierte, dass Sachsen-Zeitz (1619–1681) vom 11. September 1669 mit dem Inhalt, dass Reinhardt tags zuvor gestorben sei und am 16. September beerdigt werden solle, in SächsHStA 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv) Loc. 7178/25, f. 2r–2v. 336 Mayer: Der Himmels-verlangende Elias [. . .], Leipzig 1670. 337 Die äußeren Daten von Fromms Lebensweg werden rekonstruiert nach Fromms eigener Darstellung in A. Fromm: Böse Post Wider deß Doctor Reinharts zu Leipzig Antwort auf der Post An Herrn P. Matthiam Tannerum [. . .], Prag 1669. Vgl. zum gesamten Konflikt um Fromm GKl Archiv XII/90/2, f. 317r–341r; FB Gotha Chart. A 120, f. 211r–248v (besonders diese beiden Quellensammlungen bieten einzigartige Dokumente zur Auseinandersetzung, welche das Desiderat einer neuen ausführlichen Darstellung aufzeigen; darüber hinaus befinden sich wichtige Bemerkungen in Lorentz’ tagebuchartigen Aufzeichnungen für das Jahr 1666 in FB Gotha Chart. A 281, f. 56r–73v) sowie die bedeutende Darstellung bei Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 535–554; vgl. des weiteren UnNachr 1711, 429 f.; UnNachr 1713, 383–390; Hering: Neue Beiträge II, 274–308; Schulz: Gerhardt, LXII–LXVII; R. Rudloff: Andreas Fromms Übertritt zur Katholischen Kirche, JBrKG 25 (1930), 181–192 (stark abkürzend und einseitig wertend). Auch Fontane beschreibt in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (I. Die Grafschaft Ruppin, Am Ruppiner See, Neu-Reuppin, 4. Andreas Fromm) das Leben Fromms und benutzt als Quelle hauptsächlich Schulz. 338 Vgl. zu Müller Fischer: Pfarrerbuch II/2, 570. 339 Der Verlauf der Sitzung wurde im Protokoll des Geheimen Rates vom 23. April (3. Mai) 1666 niedergeschrieben. Vgl. die Transkription bei Meinardus: Protokolle VII/1,
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kein Revers gefordert werden könne, wenn dies die Gewissen beschwere. Warum Fromm seine Unterstützung kurfürstlicher Politik aufgab und nun mit dem Gewissen der Pfarrer argumentierte, einer Haltung, gegen die er sich früher explizit gewandt hatte, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.340 Fromm ereiferte sich während der Verhandlung: „Er könte nicht länger still schweigen, er müßte seine Meinung offenbaren, Vim patitur Ecclesia Lutherana ad institutam Reformatorum in Marchia! Lutherische leiden Hostilitäten von den Reformirten!“341 Die anderen anwesenden Räte empfanden dies als eine Beleidigung des Kurfürsten 342 und erstatteten ihm Bericht. Friedrich Wilhelm wollte dem Konflikt zunächst aus dem Weg gehen und trug dann den Räten in einem Brief vom 23. April 343 auf, Fromm vorzuladen, damit er seine Worte so im Konsistorium erläutern könne, dass niemand mehr Anstoß daran nehmen müsse. Die Vorwürfe seien nicht ernst gemeint, Fromm habe „aus einer Übereilung geredet“344. Unterdessen hatte Fromm Kontakt mit Helwig und Lorentz aufgenommen. Gemeinsam entwarfen sie eine schriftliche Erklärung, in der Fromm sein Verhalten verteidigte und sich – längst nicht mehr so irenisch gesinnt wie noch während des Kolloquiums – unmissverständlich zu seinem lutherischen Glaubensfundament bekannte.345 Am 7. Mai erreichte Fromm beim Geheimen Rat, dass die Erklärung346 eingereicht werden durfte. Die Räte sandten sie zusammen mit einer Gegendarstellung Stoschs am 23. Mai an den Kurfürsten.347 Fromm wollte seine Vorwürfe nicht zurücknehmen. Er habe, so der Propst in einer Erklärung vom 8. Mai, 467. Vgl. auch den Bericht samt Briefen in FB Gotha Chart. A 281, f. 57r–73r und eine Zusammenfassung der Auseinandersetzung in GKl Archiv XII/90/2, f. 317r–317v. 340 Ein Grund könnte gewesen sein, dass das Vertrauen in den kurfürstlichen Hof allmählich belastet wurde. Fromm hatte 1664 zwei Klageschriften an den Kurfürsten gesendet, dass noch viel von seiner Besoldung ausstehe, der streitsüchtige Lutheraner Reinhardt hingegen habe sein Geld immer pünktlich erhalten! Vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 7–9. Auch beim Cöllner Magistrat besaß Fromm keinen uneingeschränkten Rückhalt mehr, wie die Kritik an einer Predigt aus dem Jahre 1665 zeigt, vgl. die Publikenprotokolle des Cöllner Magistrats zwischen dem 30. Mai und 31. Juli 1665 in LAB A Rep. 500 Nr. 8 , f. 529–538. 341 Zitiert nach aaO., 467. 342 Vgl. den Brief Buntebarts an Fromm vom 9. April in GKl Archiv XII/90/2, f. 317v–318v und den Brief Stoschs an Schardius (undatiert) in GKl Archiv XII/90/2, f. 318v–319r. 343 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 322r–322v. Im Geheimen Rat wurde der Brief am 28. April verlesen, vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 461. 344 Ebd. 345 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 319r–321v. 346 Vgl. aaO., f. 323r–330r; abgedruckt in Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 537–543; zusammengefasst bei Hering: Neue Beiträge II, 285–289. 347 Vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 492 f.
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„anfangs, da er noch tolerantiam zwischen beiden Partheien gehofft, das Unheil, das nun herauskomme, Schismata, Aergerniß, Gewissensnoth, Verjagung, nicht vor Augen gesehen. [. . .] Nun sei er [. . .] in seinem Gewissen gäntzlich überzeugt, daß die begehrten Reverse, so auf die drei Edicte zielten, von rechten Lutherischen (denn mit Schismaticis und Ausgestoßenen im Lande könne Sr. Durchlaucht doch nicht gedient sein) nicht mit gutem Gewissen könnten ausgestellt werden“.
Daher bat Fromm den Kurfürsten, die Unterschriftspflicht aufzuheben. Zunächst reagierte Friedrich Wilhelm gelassen. Er wolle an Fromm kein Entlassungsexempel statuieren, da er hoffe, dass „seine jetzige Veränderung nur aus einer menschlichen Schwachheit herrühre“. Wenn Fromm seinen Fehler erkennen würde, könne ihm verziehen werden. Fromm betonte jedoch in seiner Antwort, „daß er aus Antrieb des Gewissens gethan, was er gesaget, er müßte darbey nochmals verbleiben“348 . Auch zwei Tage Bedenkzeit, in denen Fromm noch einmal ähnliche Worte an die Räte adressiert hatte, änderten nichts an seiner Meinung.349 Der Kurfürst war – zusätzlich angestachelt durch ein hart urteilendes Votum Stoschs’350 , der einen privaten Konflikt mit Fromm austrug – erbost über dessen Haltung und befahl dem Geheimen Rat, Fromms „Vermessenheit und wunderliches procedere dergestalt zu bestrafen, daß andere ein Exempel daran nehmen und nicht mehr Ursach ergreifen mögen, mit dem Deckmantel des Gewissens allerhand schädliche passiones zu bemänteln“351. Daraufhin entließ Friedrich Wilhelm Fromm am 6./16. Juli aus seinen Ämtern als Cöllner Propst und Konsistorialrat 352 und befahl sechs Tage
348 Zitiert nach aaO., 505 f. Vgl. den Brief des Kurfürsten an den Geheimen Rat vom 11. (22.) Juni 1666 in GKl Archiv XII/90/2, f. 330v–331r. 349 Vgl. Fromms Antwortbrief vom 20. Juli 1666 aaO., f. 331r–333r. Hering: Neue Beiträge II, 297, meint, Fromm habe zudem „seit jener Zeit sich als einen unruhigen Kopf auf der Kanzel, und sogar als ein Verfolger anderer friedfertiger Geistlichen [. . .] sehen lassen“. Dies ist jedoch nicht belegbar. ME. hat Hering diese Information aus dem Vorwort von „Etliche Brieffe/ L. Andreae Fromii, Gewesenen Inspectoris zu Cölln an der Spree [et]c. [. . .] Welche Er innerhalb zehen und mehr Jahren an die Churfürstl. Brandenb. Hoffprediger eigenhändig geschrieben [. . .] Nunmehr auff Sr. Churfürstl. Durchl. gnädigste Verordnung abcopiret und von deyen Notariis Publicis [. . .] in Druck gegeben, Cölln an der Spree 1667“, das jedoch nicht von Fromm selber stammt, sondern ihm im Gegenteil bewusst schaden wollte (Aus Ärger über Fromm veröffentlichte Stosch alle Privatbriefe, die er von ihm bekommen hatte und versuchte Fromm damit zu denunzieren)! 350 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 334r–339v. 351 Vgl. die kurfürstliche Resolution vom 12. (22.) Juni bei Meinardus: Protokolle VII/1, 499 f. und FB Gotha Chart. A 281, f. 71r–72r. 352 Vgl. den Brief des Kurfürsten an das Berliner Konsistorium vom 6./16. Juli in BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 472r–473v; eine Abschrift befindet sich in GKl Archiv XII/90/2, f. 340r–341r; abgedruckt bei Meinardus: Protokolle VII/1, 512–514.
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
später, wahrscheinlich massiv beeinflusst durch Stosch, dass der Jurist Matthias Krazen gegen Fromm „zu procediren habe“.353 Doch dazu kam es nicht. Am 20. Juli floh Fromm samt seiner Familie aus der Doppelstadt und ging nach Wittenberg, wo ihn Abraham Calov für kurze Zeit aufnahm. Von hier aus beschwerte sich Fromm beim Kurfürsten über seine Behandlung.354 Durch das Wittenberger Konsistorium wurden Fromm am 15. August 1666 fünfzehn Fragen zu den lutherischen Bekenntnissen vorgelegt, die dieser zur Zufriedenheit der Räte beantworten konnte.355 Am 21. Mai 1667 wurde Fromm durch das Geistliche Konsistorium zu Altenburg die Superintendentur in Eisenberg angetragen.356 Trotz eines „Attestatum“ der Rechtgläubigkeit durch das Wittenberger Konsistorium 357 und entgegen seiner vorigen Ankündigung358 wollte Fromm den kursächsischen Religionseid auf die FC Mitte November am Dresdner Hof letztendlich doch nicht unterschreiben. Fromm verließ, eine Reise nach Regensburg vortäuschend, Wittenberg heimlich und ging nach Prag, wo er mit seiner Familie am 7. April 1668 ankam. Anfang des Jahres 1669 konvertierte er zum Katholizismus, trat in den Jesuitenorden ein, erhielt die katholische Priesterweihe und stieg schnell in der Hierarchie auf.359 Bereits ein Jahr später war er Dechant zu Kamnitz in Nordböhmen, wurde 1671 Domherr zu Leitmeritz und schließlich 1681 bis zu seinem Tod am 16. Oktober 1683 Priester am Prämonstratenserstift Strahoveˇ /Strahov bei Prag. Fromms Konversion forderte viele publizistisch tätige streng orthodoxe Lutheraner ebenso heraus wie katholische Theologen, welche die Konversion Vgl. dazu auch die Sitzung des Cöllner Magistrats vom 17. Juli 1666 in LAB A Rep. 500 Nr. 8 , f. 585–587: „Daß d Herr Probst. Lic. Fromm seines Pfarr Ambts erlaßen, ist mit den HH Vordneten geredet worden. Von welchen Zu gegen [. . .] Und alß Sie einen Abtritt genommen, Und wieder herein kommen, haben Sie gesagt, Sie wüßten nichts dazu zu sagen, weil es die hohe Obrigkeit so haben wollte. Erinnern nur daß das Regiment Einem so lange möchte aufgetragen werden, sonderlich das Syndicat“ (aaO., 586 f.). 354 Vgl. weite Teile des Textes bei Hering: Neue Beiträge II, 298. Fromm sandte zudem am 30. September 1666 einen Brief an seine Kollegen nach Cölln, um sein Vorgehen zu rechtfertigen und zu entschuldigen, vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 235r–236v. Fromms in Berlin verbliebene Habseligkeiten wurden derweil beschlagnahmt, vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 552. 554. 571. 355 Vgl. FB Gotha, Chart. A 277, f. 269r–273r. 356 Vgl. aaO., f. 273v–274r. 357 Vgl. aaO., f. 274r–274v. 358 Vgl. den Originalbrief Fromms an Herzog Friedrich Wilhelm II. von Sachsen-Altenburg (1603–1669) vom 23. Mai 1667 in FB Gotha Chart. A. 120, f. 214r–215r. 359 Fromm hatte bereits seit 1663 Kontakt zum katholischen Pater Matthäus Zeidler (1626–1697). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Fromm seine Konversion später bereut hat, wie Hering: Neue Beiträge II, 307, und Schulz: Gerhardt, LXVI, behaupten. 353
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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propagandistisch ausnutzten. Neben Fromms früherem Kollegen Reinhardt 360 mokierten sich viele lutherische Theologen über Fromm oder griffen ihn scharf an. Fromms Versuche, seinen Ruf literarisch zu retten,361 haben ihm nichts mehr genützt.362 Die genauen Ursachen für seine Überzeugungs- und Bekenntnisänderung lassen sich nicht mehr nachvollziehen. Man geht jedoch nicht fehl, wenn man ihn als einen zutiefst frommen Mann ansieht, welcher der innerprotestantischen Auseinandersetzungen so müde war, dass er für seinen persönliche Frömmigkeit keinen andern Ausweg sah, als zu konvertieren.363 Von den übrigen Cöllner Lutheranern gibt es kaum Zeugnisse aus der Zeit nach dem Kolloquium. Da sich die Pfarrer der St. Petri-Kirche während der Sessionen insgesamt wesentlich irenischer als die Berliner zeigten und der 360 Besonders Fromms Schrift „Böse Post“ (s. o.) offenbart den tiefen Hass, der zwischen Reinhardt und Fromm zu diesem Zeitpunkt geherrscht haben muss. Reinhardt hatte Fromm viele schwere, persönliche Vorwürfe (Diebstahl, Eheschwindel, Verleugnung der Familie) gemacht, die Fromm umgehend konterte: „Seine [= Reinhardts] politische practiken: hönische und stachelichte/dem Fleisch und zum lachen dienende Predigen viel Jahr lang: hönische und stachelichte Reden beym Colloquio mit den Reformirten: versengliche Briefe [. . .] kizlichter Eifer wieder einige Gevattern bey der Tauffe“ (12 f.). 361 Vgl. „Andreae Frommen des h. Schrift Lic. Nochmahlige Apologia wieder einige Reformirten zu Cöln an der Spree sonderlich Hern Bartholomaeum Stoschium [. . .], Wittenberg 1667“ und „Andrae Frommen Der H. Schrifft Licentiaten/ Der Sr. Churf. Durchl. zu Brandenburg 10. Jahr als Consistorial-Rath gedienet [. . .] Probst zu S. Peter in Cöln an der Sprew [. . .] Wiederkehrung zur Catholischen Kirchen/Davon die Historiam in Druck zu geben/noethig erachtet, Polnische Lisse 1668“ (unter anderem in SBBPK Dh 6821). Vgl. dazu Hering: Neue Beiträge II, 303–306. 362 Der Schriftenstreit über die Konversion wird an dieser Stelle nicht aufgerollt. Vgl. die Hinweise zu den wichtigsten Schriften gegen Fromm bei Schmidt: Der Beitrag der Evangelischen Kirchengeschichte, 76. 363 ME. trifft die pathetische Beurteilung von Schulz: Gerhardt, LXVII größtenteils zu: „es habe nichts, als das Gezänk im Innern der evangelischen Kirche und das Schwanken sowohl in der Lehre als in der Verfassung, ihn aus der Kirche hinausgetrieben. Er ist, nach dem Sprüchwort, vor Arger und Mißmuth katholisch geworden!“ Auf eine ausführliche Wertung der Konversion Fromms und dessen Gründe wird an dieser Stelle verzichtet. Im Laufe der Forschung hat es stark voneinander differierende Urteile gegeben, die oftmals den historischen Gegebenheiten nicht gerecht wurden. Problematischer als diese Urteile sind jedoch die vielen legendarischen Ausschmückungen, die Fromms weiterem Lebensweg angeheftet wurden (vgl. beispielsweise Jöcher II [1750], 781 f.). Eine weitere der polemischen Auseinandersetzungen überdrüssige Persönlichkeit war der lutherische Wirkliche Geheime Rat, Kammerherr und Präsident der Regierung von Hinterpommern Ewald Freiherr von Kleist (1615–1689; vgl. zu ihm Bahl: Hof, 210). Er ließ im Oktober 1662 Frau und Ämter im Stich, verließ heimlich den Hof und konvertierte später in Italien zum Katholizismus, da er laut seinem Rechtfertigungsbrief an den Kurfürsten die „vielfältigen theologischen Streitigkeiten“ satt hatte.
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vom Kurfürsten gewünschten mutua tolerantia gegenüber unter bestimmten Voraussetzungen offen standen, ist davon auszugehen, dass sie keinen sonderlichen Anstoß an der kurfürstlichen Kirchenpolitik nach dem Kolloquium nahmen. Zumindest beteiligten sie sich nicht an Druckschriften oder sandten aller Wahrscheinlichkeit nach keine die Kirchenpolitik kritisch aufnehmenden Briefe an den Kurfürsten, den Rat oder den Magistrat. Der bisherige Archidiakon der Cöllner St. Petri-Kirche, Johann Buntebart, war während des gesamten Kirchenstreits unauffällig geblieben und rückte nach Fromms Entlassung in das Propstamt auf.364 Wenig später wurde er zum Konsistorialrat berufen. Zeichen seines hohen Ansehens waren unter anderem die beiden Vokationen als Generalsuperintendent nach Pommern und Bielefeld365 , die er jedoch ablehnte. Er behielt seine Ämter in Cölln bis zu seinem Tod am 15. Juli 1674. Danach blieb die Propststelle etwa eineinhalb Jahre unbesetzt, ehe sie durch Gottfried Lange (1640–1687) 366 , der zuvor 1673–1676 dritter Diakon an der Berliner St. Nicolai-Kirche gewesen war, wiederbesetzt wurde.367 Lange blieb bis 1685 auf der Cöllner Propststelle. Auch für den bisherigen zweiten Diakon, Christian Nicolai, blieb der Kirchenstreit ohne Konsequenzen. Dies ist insofern verwunderlich, als Nicolai während des Kolloquiums eine ähnlich streng lutherische Meinung wie seine Berliner Kollegen vertrat und sich weniger verständnisvoll für die Reformierten zeigte als seine Cöllner Kollegen. Wahrscheinlich hatte er das Glück, dass der Kurfürst die Reversforderung wieder zurücknahm und seine kirchenpolitischen Maßnahmen mäßigte, bevor Nicolai davon direkt betroffen wurde. Zudem besaß Nicolai höchstwahrscheinlich prominente Fürsprecher am Hof. Zeitlebens war er beispielsweise Beichtvater des Hof- und Kammergerichtsrats Johann Georg Reinhard.368 Als Buntebart zum Propst vociert wurde, rückte Nicolai ins Archidiakonat auf,369 das er bis zu seinem am Tod 1. Februar 1674 innehatte. Nicolais Nach364 Vgl. das Publikenprotokoll der Sitzung des Cöllner Magistrats vom 29. Januar 1667 in LAB A Rep. 500 Nr. 8 , f. 601–603, auf der Buntebart einstimmig als Propst vorgeschlagen wurde: „Er M. Buntebart wirdt auffs Rathhauß erbethen, Undt offeriret ihm Her B[ürgermeister] Werricke im Versambten Rath die Vocation Zum Pfar-Ampte“. Am 4. Februar nahm Buntebart die Vokation auf dem Rathaus an. Wie aus einem Bericht Linckers deutlich wird, stritt Stosch vergeblich dafür, dass der Kurfürst die Cöllner Propststelle neu besetzen durfte, letztendlich setzte sich aber der Magistrat durch, vgl. Ribbeck: Aus Berichten, 145. 365 Vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 183 (Sitzung vom 17. Mai 1664). 366 Vgl. zu Samuel Lange LAB A Rep. 0 04 Nr. 8 (Film Nr. A 3148); Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 574 f.; Fischer: Pfarrerbuch II/1, 478; Bahl: Hof, 527. 367 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 447r. 368 Vgl. Bahl: Hof, 562. 369 Vgl. das Publikenprotokoll über die Sitzung des Magistrats zu Cölln vom 29. Januar 1667, auf der über Fromms Nachfolger entschieden wurde in LAB A Rep. 500 Nr. 8 , f.
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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folger im Amt sowohl des zweiten Diakons als auch des Archidiakons wurde Andreas von Pawlowsky (1631–1691) 370 , der bis zu seinem Tod am 25. November 1691 an St. Petri blieb. In seiner Amtszeit predigte der streitbare Theologe immer wieder gegen Sozinianer und Photinianer, die bedingt durch die kurfürstliche Toleranzpolitik vermehrt in das Land kamen. Zweiter Diakon wurde 1674 auf Vorschlag Friedrich Wilhelms der bisherige Hauptprediger in Herford, Johann Christoph Holzhausen (1640–1695) 371. Er ist insofern von Interesse, als er nach langer Zeit der erste Pfarrer in der Residenzstadt war, der sich gegen die kurfürstliche Politik wandte. Er polemisierte in Predigten gegen Reformierte und weigerte sich, für die kriegerischen Auseinandersetzungen des Kurfürsten zu beten. Holzhausen wurde 1675 vor das Konsistorium zitiert, erhielt jedoch nach Intervention einiger hochrangiger Persönlichkeiten eine Schonfrist, in der er sich durch einen Revers rechtfertigen konnte. Da er wenig später erneut gegen kurfürstliche Auflagen verstieß, wurde er am 3. November entlassen und musste das Land innerhalb von drei Tagen verlassen.372 Abgesehen von Holzhausen blieb es bei den Cöllner Lutheranern ruhig. Wie schon über weite Strecken während des Kirchenstreits herrschte unter den Pfarrern eine gemäßigte lutherische Orthodoxie, die sich durch Gehorsam gegenüber kirchenpolitischen Maßnahmen des Kurfürsten auszeichnete.
601–603: Zunächst wurde Buntebart dazu einstimmig bestimmt, „Nachgehandt ist auch Er Christianus Nicolai Zu Rathhauße erbethen, Undt ihm Vom Herrn B. Werricken im nahme des Raths die Succession Zum Archidiaconat angetragen, welche er mit Danck acceptiret“. 370 Andreas von Pawlowsky konvertierte in jungen Jahren vom Katholizismus zum Luthertum. Von 1665 an war er Inspektor zu Soldin/Neumark, ehe er an St. Nicolai berufen wurde. Vgl. zu Andreas von Pawlowsky LAB A Rep. 500 Nr. 8 (Publikenprotokoll über die Sitzung des Magistrats zu Cölln vom 17. April 1667: die Wahl fiel nur knapp zugunsten von Pawlowsky und gegen „den Pfarrer zu Wolterstorff“ aus); Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 566–568; L. Noack: Art. von Pawlowsky, Andreas, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien, Berlin-Cölln 1640–1688, 297–301. 371 Vgl. zu Holzhausen SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 477; Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 568–574; Hering: Neue Beiträge II, 269–272. 372 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 447r. Holzhausen ging über Wittenberg und Lemgo nach Hildesheim, wo er Prediger an der St. Georgen-Kirche wurde. Auch dort kam es zum Streit mit dem Landesherrn, der mit Holzhausens Entlassung 1681 endete. Nachdem er verschiedene Stellen in Hamburg und Ippenburg inne gehabt hatte, führte ihn Philipp Jacob Spener 1682 als Prediger in Frankfurt am Main ein. Holzhausen hatte dies Amt bis zu seinem Tod am 5. Juli 1695 inne.
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5.3.3.5 Die Konflikte um Lubaths und Helwigs Predigten und die neuen Pfarrer an der St. Marien-Kirche An der Berliner St. Marien-Kirche wechselten die Stelleninhaber zunächst nicht.373 Martin Lubath war seit dem Tod von Propst Lilius Senior des Berliner Ministeriums und hatte bis zu seinem eigenen Tod 1690 das Archidiakonat inne. Auch Jakob Helwig konnte über den Kirchenstreit hinaus seine Diakonatsstelle behalten. Es ist erstaunlich, dass Lubath und Helwig ohne berufliche Einschränkungen den Kirchenstreit überstanden hatten. Immerhin waren sie es, welche die Anfragen an die Fakultäten und Magistrate gesendet hatten, über die der Kurfürst so verärgert war. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass einer der beiden Pfarrer einen Revers unterschrieben hat. Höchstwahrscheinlich haben sie das Glück gehabt, niemals einen Revers vorgelegt bekommen zu haben, denn auf Grund ihres Verhaltens während des Kolloquiums und danach ist davon auszugehen, dass beide nicht unterschrieben hätten. Auch Lubath wäre später beinahe seines Amtes enthoben worden.374 Da sich in diesem Zusammenhang einige der Forschung bisher unbekannte Wortmeldungen Gerhardts finden, sei diese Episode kurz dargestellt. Lubath hatte am achten Sonntag nach Trinitatis 1667 eine Predigt über die ‚Evangelische Warnung Christi wegen der falschen Propheten‘ (Mat. 7,15–24) 375 gehalten. Daraufhin klagte ihn der Advokat Peter Koch 376 beim Geheimen Rat an,377 da er der Meinung war, dass Lubath in der Predigt „die Reformirtte Religion und deroselben Glaubens Verwante contra Ew. Ch. D. Viellfältige pubblicirte 373 Die wichtigsten Quellen für die weitere Pfarrstellenbesetzung an der Berliner St. Marien-Kirche sind GKl Archiv XII/90/2, f. 450r–451v (Kurze Chronik Lubaths von 1647–1682) sowie LAB A Rep. 0 04 Nr. 560 (Besetzung der Predigerstellen in der Marienkirche Band 1 1672–1783). 374 Die „Acta cum Lubath coram Consistorio“, die Lubath selbst verfasst hat, befinden sich in GKl Archiv XII/90/2, f. 361r–374v, angehängt sind weitere wichtige Dokumente, wie beispielsweise der Original gesiegelte Abscheid des Konsistoriums vom 3. Oktober (aaO., f. 375r–377v), Briefe Lubaths an seine Amtskollegen und den Kurfürsten sowie deren Antworten (aaO., f. 378r–389v). Wichtig sind ebenso die Dokumente in GKl Archiv XII/90/1, f. 240r–244r (s. u.). 375 Diese Bibelstelle eignete sich besonders gut, um in einer Predigt die vermeintlichen Irrlehren der konfessionellen Gegenseite anzuprangern und zu verwerfen. Vgl. beispielsweise zu Stoschs bekannter Predigt darüber aus dem Jahr 1659 3.3.2.1., zu Helwigs Predigt s. u. 376 Peter Koch (?-1680) war in Jura promoviert worden und war seit dem 19. August 1666 dem kurfürstlich brandenburgischen Hofadvokat Matthias Kraatz (?-1669) adjungiert, vgl. Küster: Des Alten und Neuen Berlin Dritte Abtheilung, Berlin 1756, 392.445; Saring: Mitglieder, 104, Bahl: Hof, 521. Er war also noch nicht „Fiscal und Hof Advocat“ (GKl Archiv XII/90/2, f. 362r), wie Lubath in seinem Bericht behauptet. 377 Vgl. die Abschrift des Schreiben Kochs an den Kurfürsten in GKl Archiv XII/90/1, f. 241r–241v.
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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Edicta gar gräwlich anbgegriffen und selbige beschimpffet“378 habe. Der Geheime Rat forderte Lubath auf, das Manuskript zu überreichen, was er jedoch erst nach einer ausdrücklichen Erinnerung durch von Rhaden am 21. August tat.379 Nachdem Lubath in Briefen an den Kurfürsten und das Geistliche Konsistorium 380 mehrfach verlangt hatte, das Manuskript zurückzubekommen, wurde er zum 17. September vor das Konsistorium zitiert.381 Während der Vorladung verlangten die Räte, dass Lubath mit Hilfe des Konzeptes eine Reinschrift entsprechend der gehaltenen Predigt schreiben solle, wozu er sich jedoch nicht in der Lage sah. Die Auseinandersetzung zog sich hin, da zum einen Koch auf seinen Vorwürfe bestand, die Lubath durchgehend zurückwies, und zum anderen Stosch fortwährend versuchte, Lubath Verstöße gegen die kurfürstlichen Edikte nachzuweisen. Am 3. Oktober wurde Lubath ein offiziell gesiegelter und durch Conrad Schardius und von Rhaden verfasster Bescheid382 zugestellt, in dem Lubath befohlen wurde, innerhalb von 14 Tagen die Reinschrift abzuliefern und sich in Zukunft gehorsam gegenüber den kurfürstlichen Edikten und Räten zu zeigen. Lubath war damit jedoch keineswegs zufrieden und fragte zum einen die Theologen der Universität Greifswald383 , zum anderen seine Amtskollegen in einem Brief384 vom 19. Oktober unter anderem um Rat, „Ob ich eine Protestation eingeben soll oder nicht?“385 . Seine Kollegen sandten ihm in einem gemeinsamen Brief386 ihre Einschätzungen zu. Gerhardt warnte in seinem kurzen Votum davor, die Predigt auszuformulieren, denn ansonsten würden die reformierten Räte Stellen auslassen oder umdeuten, so dass „Sie gar leichtlich darauß behaupten können, das es wieder die Churfl Edicta gehandellt“. Verglichen mit seinen Kollegen Lorentz, Hel GKl Archiv XII/90/2, f. 362r (Schreiben Reinhards an den Geheimen Rat). Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 361r. 380 Vgl. GKl Archiv XXI/90/2, f. 363r–365v. 381 Vgl. die Anweisung von Schwerins an die Räte vom 31. August, Lubath vorzuladen, in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, (fol. 9 0), und die durch von Rhaden und Conrad Schardius unterschriebene Vorladung vom 5. September in GKl Archiv XII/90/1, f. 240r–241v; eine Abschrift befindet sich aaO., f. 244r. Bemerkenswert ist, wie oft die Räte Lubath fragten, ob von der Predigt wirklich nur das eine Manuskript existiere, was er abgegeben hatte, oder darüber hinaus noch weitere. Möglicherweise lag diesem Verhalten die Angst zugrunde, dass ein weiteres Manuskript als Vorlage für den Druck dienen könnte, was die Räte unbedingt vermeiden wollten. 382 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 376r–377v. 383 Dies wird aus der langen Antwort aus Greifswald vom 30. Oktober 1667 deutlich, in der die Professoren ähnlich urteilten wie Lubaths Amtskollegen, vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 248r–249v. 384 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 378r–378v. 385 AaO., f. 378r. 386 Vgl. aaO., f. 379r. 378
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wig und Gigas wollte Gerhardt jedoch nicht zur Abfassung einer Protestation raten. Lubath entschied sich trotzdem dafür und sandte sie seinen Pfarrkollegen zur Begutachtung zu.387 Mittlerweile wurde er zum wiederholten Mal vor das Konsistorium geladen. Die Antworten der Pfarrer nahmen daher auch die Frage auf, wie sich Lubath bei der Vorladung verhalten solle. Gerhardt riet Lubath in einem kurzen Brief388 vom 21. Oktober 1667, nicht gegen die Prozessregeln zu verstoßen: Des Weiteren „hallte ich [=Gerhardt] meines Theils darfür, Er thue am sichersten, wenn er dem Rathe solcher Rechts Verichtundgen folget“. Jedoch könne der Prozess nur beendet werden, wenn „entweder Sein gegentheil die sache fallen laße“. Würden sie dies jedoch nicht tun, „so ists alls denn noch Zeit sein Notdurfft zu reden, Unnd dasjenige, so ihm etwa auff gebürden werden will, von sich ab zu wenden“. Lorentz und Helwig hingegen waren in ihren Voten der Meinung, „daß am sichersten sey die sache so lange in suspenso zu laßen biß à parte adversa dieselbe wieder Vorgenommen wird“. Wieder einmal ist Gerhardts Votum das ausführlichste und steht noch vor denjenigen seiner Pfarrkollegen. Um eine weitere Meinung zur Vorladung Lubaths zu hören, nahm Gerhardt Kontakt zu Abraham Calov auf. Wie die Antwort 389 Calovs an Gerhardt vom 7. November 1667 zeigt, hatte Gerhardt Calov fortwährend über die aktuellen Entwicklungen in Berlin unterrichtet. Calov antwortete in einem kurzen Schreiben, dass er die Frage erwogen habe, „und halt nicht allein ich dafür, sondern auch meine Herren Collegen in Facultate, so wohl auch im Consistorio, daß es beßer sey, daß Er die Supplication zurück und allein den Fiscal agiren laßen [. . .] und sonnderlich, damit der Fiscalichs nicht Zum Actore mache, item, daß er sich nur passione und in Terminis defensionis halte“. Über die letzte Vorladung Lubaths schweigen die Quellen. Da er seine Pfarrstelle bis zu seinem Tod am 22. Dezember 1690 behalten durfte, ist anzunehmen, dass er sich mit einer Mäßigung einverstanden erklärte und der Kurfürst auf eine Bestrafung verzichtete. Auch eine weitere Vorladung vor das Konsistorium am 5. März 1672 blieb ohne Konsequenzen. Lubath wurde vorgeworfen, gegen die Edikte gehandelt zu haben, da er sich geweigert hatte, ein Kind des Grafen von Lemar ohne den Exorzismus zu taufen.390 Dies zeigt zum einen, dass der Exorzismus noch immer ein bedeutendes Streitthema war. Zum anderen wird deutlich, dass Friedrich Wilhelm gegenüber einem lutherischen Pfarrer wiederholt mild verfuhr, obwohl eine Bestrafung auf Vgl. das Schreiben Lubaths vom 31. Oktober 1667 in aaO., f. 383r–383v. Vgl. aaO., f. 384r. 389 Vgl. aaO., f. 390r. 390 Vgl. über den Konflikt GKl Archiv XII/90/1, f. 329r–341v. 387
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Grund des offensichtlichen Verstoßes gegen die Edikte legitim gewesen wäre. Wie der Forschung bisher unbekannt war, wurde auch Helwig eine Predigt über denselben Text im Herbst 1669 beinahe zum Verhängnis. In einem von ihm selbst verfassten Aktenstück 391 berichtet Helwig, dass er am achten Sonntag nach Trinitatis eine Predigt über die falschen Propheten gehalten habe, die von einigen Zuhörern als anstößig empfunden worden sei. John Dury (1595– 1680), ein schottischer Unionstheologe,392 beschwerte sich beim Kurfürsten über die lästernden Bemerkungen gegenüber Reformierten und irenischen Bemühungen. Der Geheime Rat befahl daraufhin, dass Helwig das Manuskript der Predigt aushändigen und zu den Vorwürfen und der Tatsache, gegen die kurfürstlichen Edikte verstoßen zu haben, Stellung nehmen solle.393 Am 15. September musste Helwig um 8 Uhr vor dem Geistlichen Konsistorium erscheinen, wo er auf die Räte Stosch, Buntebart, von Rhaden, Schardius 391 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 255r–303v. Neben der Darstellung der Ereignisse aus Helwigs Hand befinden sich hier Abschriften des späteren Briefverkehrs mit dem Geistlichen Konsistorium (Dieser befindet sich zum Teil auch in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, [unfol.]). Die gesamte Darstellung befindet sich abschriftlich auch teilweise in FB Gotha Chart. A 281, f. 173r–210r („Acta Helwigiana in causa Der predigt von falschen propheten. Coram Consistorio Elect. Brandeburgico. cum B. Stoschio. Anno 1669)“. 392 John Dury(e), auch Johann Duraeus genannt, wurde 1596 in Edinburgh geboren. Er studierte Theologie in Leiden und Oxford. Nach verschiedenen Hauslehrertätigkeiten in Frankreich wurde er 1624 presbyterianischer Prediger der englischen Fremdengemeinde in Elbing. In den kommenden Jahren begann Dury sich theoretisch mit innerprotestantischen Einigungsbestrebungen zu beschäftigen. Seitdem wurde sein Leben durch Unionsgedanken und deren praktische Umsetzung bestimmt. Dury konnte einige einflußreiche englische Staatsmänner für seine Ideen begeistern, die ihn wiederum mit bedeutenden Herrscherhäusern, unter anderem dem kurhessischen und schwedischen Hof, bekannt machten. Infolge des Leipziger Religionsgesprächs von 1631 kam Dury als Vorkämpfer einer innerprotestantischen Union immer wieder in deutsche Territorien. Zunächst scheiterten jedoch seine Unionsbemühungen 1638 in Schweden und 1640 in Dänemark sowie in den 1650er Jahren die Versuche, alle Reformierten in der Schweiz, in Frankfurt am Main und der Wetterau, in Anhalt, Bremen, Emden und am Niederrhein sowie in den Niederlanden zu einen. 1661 verließ Dury England für immer und bemühte sich in den deutschen Territorien, zunächst unterstützt vom Landgrafen Wilhelm VI. von Hessen-Kassel, später von dessen Witwe Hedwig Sophie, um die Versöhnung der Lutheraner mit den Reformierten. Der Gegenwind, der ihm besonders von den Fakultäten Straßburg, Jena und Leipzig entgegenwehte, aber auch die Weigerung der jeweils angesprochenen Lutheraner und Reformierten führten letztendlich zum Scheitern aller Unionsversuche. Dury starb am 28. September 1680 in Kassel. Vgl. zu John Dury K. Brauer: Die Unionstätigkeit John Duries unter dem Protektorat Cromwells, Marburg 1907; J. M. Batten: John Dury: Advocate of Christian reunion, Chicago 1944. 393 Vgl. den Bericht Helwig vom 28. August 1669 in GKl Archiv XII/90/1, f. 256r.
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und Esig394 traf. In diesem und den kommenden Verhören am 18. und 30. September395 gelang es dem engagiert auftretenden Stosch nicht, Helwig der Lästereien gegenüber Reformierten und deren Lehren „de Electio et Reprobatio absoluta und Gratiam electionis“ zu überführen. Helwig beharrte darauf, dass er nicht gegen Reformierte an sich gepredigt habe, sondern gegen diejenigen, „welche den öffentlichen Confessioniby beypflichten, und unser lutherisch bekändtniß bestreiten“396 . Er betonte, dass er zwar das Edikt 1662 unterschrieben habe, sich jedoch nicht gemäß dem Edikt von 1664 verhalten könne. Dabei berief er sich auch während der folgenden Vorladungen am 7. und 8. Oktober397 fortwährend auf sein Gewissen. Helwig versuchte in der Folgezeit in diversen Schriften, dem Konsistorium sein Verhalten zu erläutern.398 Nach der letzten Vorladung am 8. November sandte das Konsistorium dem Kurfürsten sämtliche Protokolle zu. Dieser befahl in einem Brief vom 12. November, dass die einzelnen Konsistoriumsmitglieder ihre Empfehlungen für eine Reaktion auf Helwigs Verhalten einreichen sollten. Diese größtenteils nicht mehr erhaltenen Vorschläge sind wahrscheinlich hauptsächlich milde ausgefallen, denn Friedrich Wilhelm ließ brieflich am 27. November verlauten, dass sich Helwig falsch verhalten habe. Da er jedoch ansonsten „modeste“ handeln würde, könne ihm diesmal eine Strafe erlassen werden. Er solle sich jedoch in Zukunft den Edikten gemäß verhalten und sämtliche Lästereien aufgeben. Das Konsistorium erläuterte in seinem abschließenden Bericht vom 30. November, dass Helwig die kurfürstliche Entscheidung verkündet wurde.399 Dieser zeigte sich erleichtert und wollte „Ew. Churfl. Durchl. unterthänigste schuldigste parition [= Befolgung] leisten, bäthe aber, Ihme möchte sein gewißen frey, und die Libri Symbolici gelaßen werden“. Friedrich Wilhelm hatte wieder einmal milde gegenüber einem lutherischen Pfarrer entschieden und Helwig nicht aus seinem Amt entlassen. Da die erhal394 Über den Reformierten Elard Esig (Esich) gibt es nur wenige gesicherte Informationen. Wahrscheinlich in Bremen geboren, wurde er 1668 kurfürstlicher Hof- und Kammergerichtsrat, wenig später Konsistorialrat. 1675 stieg er zum Kommissar und Direktor der Stadt Köpenick auf und wurde 1682 Leiter der kurfürstlichen Wollmanufaktur Berlin. Er starb ebenda am 5. März 1685. Vgl. Küster: Des Alten und Neuen Berlin Dritte Abtheilung, 415 f.; Saring: Mitglieder, 106.221.255; Bahl: Hof, 468. 395 Vgl. die Originalprotokolle in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, (Aktenpäckchen „Helwigius“) f. 14r–17v; abschriftlich in GKl Archiv XII/90/1, f. 256v–268r. 396 GKl Archiv XII/90/1, f. 257v. 397 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, (Aktenpäckchen „Helwigius“) f. 18r–29v; GKl Archiv XII/90/1, f. 275r–281r. Vgl. zum Konflikt auch aaO., f. 282r–302v, wo sich Helwigs Briefwechsel mit dem Konsistorium und Zusätze zu den Protokollen finden. 398 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, (Aktenpäckchen „Helwigius“) f. 30r–40v; GKl Archiv XII/90/1, f. 268v–275r. 399 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19, (Aktenpäckchen „Helwigius“) f. 41r–43v; GKl Archiv XII/90/1, f. 302v–303v.
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tenen Quellen von keinen weiteren Auseinandersetzungen Helwigs berichten, ist davon auszugehen, dass er sich in der folgenden Zeit ruhig verhalten hat. Ihm wird jedoch zum wiederholten Male auch bewusst geworden sein, dass ein Vertreten seiner theologischen Überzeugungen unter dem Großen Kurfürsten nur bedingt möglich war. Daher kam ihm 1673 die Berufung zum Oberpfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in Stockholm und zum Assessor des königlich-schwedischen Konsistoriums wahrscheinlich recht.400 An Helwigs Stelle wurde 1674 der ehemalige Superintendent von Wittstock/ Dosse, Johann Georg Hoffmann (1648–1719) 401, auf die zweite Diakonatsstelle berufen.402 Nach wie vor dominierte in der Mark Brandenburg der Widerstand gegen die kurfürstliche Religionspolitik. Da sich Hoffmann zum Gehorsam gegenüber den Edikten erklärte, verspürte er von Beginn seiner Berliner Zeit an starken Gegenwind. Da der neue Propst Müller die Ordination verweigert hatte, wurde Hoffmann durch den Bernauer Propst Daniel Schöppius (1616–1681) in sein Amt eingeführt. Im selben Gottesdienst weigerte sich Lubath, Hofmann das Abendmahl auszuteilen.403 Die Bürgerschaft votierte öffentlich gegen Hoffmann und versuchte, den Magistrat auf seine Seite zu ziehen. Dieser äußerte ebenso wie Lubath Zweifel an der Eignung Hoffmanns.404 Da Lubath nach vorherigen Ratgesuchen bei den Universitäten Leipzig und Wittenberg sowie weiteren Pfarrern Hoffmann den Zugang zur Beichte versagte, wurde er vor dem Geheimen Rat ergebnislos verhört. 405 Trotz vieler Probleme blieb Hoffmann bis 1685 an der St. Marien-Kirche und wurde anschließend auf kurfürstlichen Befehl bis zu seinem Tod am 6. Oktober 1719 Assesor des Neumärkischen Konsistoriums und Superintendent in Küstrin. Nachfolger Lubaths im Archidiakonat wurde 1690 der bisherige Archidiakon in Landsberg an der Warthe, Daniel Bandeco (1651–1715) 406 , der dieses Amt bis zu seinem Tod am 20. Mai 1715 inne hatte. Von ihm ist kaum etwas
Vgl. zum weiteren Lebensweg Helwigs 3.2.1.2. Vgl. zu Hoffmann Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 489 f.; Fischer: Pfarrerbuch II/1, 344. 402 Vgl. die Magistratsverhandlungen über die Nachfolge Helwigs vom 9. Oktober 1673 in GKl Archiv XII/90/1, f. 380r.384r–38v. 403 Vgl. LAB A Rep. 510 Nr. 1–13, STA Hs 5, f. 54 f. (Wendland). 404 Vgl. zu den Auseinandersetzungen um Hoffmann GKl Archiv XII/90/1, f. 385r– 422v; LAB A Rep. 0 04 Nr. 8. 405 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 423r–477v. 406 Vgl. zu Bandeco Küster: Fortgesetztes Altes und Neues Berlin, 491 f.; L. Noack: Art. Bandeco, Daniel, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien, Berlin-Cölln 1688– 1713, 16–21. 400 401
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überliefert, außer dass er Anhänger der lutherisch-orthodoxen Lehre war. St. Marien blieb vorerst eine „Bastion eines freilich gemäßigten Luthertums“407. 5.3.3.6 Der Konflikt um den neuen Berliner Propst Mit Ausnahme von Lilius, der gestorben war, wurden alle Pfarrer der St. Nicolai-Kirche infolge des Kirchenstreits aus ihren Ämtern endgültig entlassen. Fast durchgängig in der Forschungsliteratur, auch im Brandenburgischen Pfarrerbuch,408 finden sich falsche Angaben über die jeweiligen Amtsnachfolger. Daher seien auch sie im Folgenden genannt. Nachfolger von Lilius als Propst an der St. Nicolai-Kirche wurde am 7. Juli 1667 der bisherige Propst von Bernau, Andreas Müller (1630–1694) 409. Müller, ein bereits zu seiner Zeit überregional berühmter Orientalist und Sinologe, war auch am Cöllner Hof nicht unbekannt. Schon seit seiner Bernauer Zeit hatte er sich intensiv mit den Handschriften der Schlossbibliothek beschäftigt, für die er später zuständig war. 1675 wurde er zum Konsistorialrat er-
AaO., 17. Vgl. die entsprechenden Einträge in Fischer: Pfarrerbuch, Bd. I–II/2, Berlin 1941. 409 Andreas Müller, 1630 in Greifenhagen/Pommern geboren, besuchte zunächst das angesehene Paedagogicum in Schwerin, studierte ab 1649 an der Universität Rostock, später in Wittenberg und disputierte 1653 in Rostock unter Johann Vorstius. Im selben Jahr wurde er Rektor der Schule in Königsberg/Neumark, gab die Stelle jedoch 1654 später wieder auf, erhielt er die Magisterwürde in Rostock und wurde Propst in Treptow an der Tollensee. 1657 immatrikulierte er sich an der Universität Greifswald, unternahm 1658 eine Reise nach Leiden, wurde 1659 in die philosophische Fakultät der Universität Rostock aufgenommen und reiste 1660 nach England. Anfang 1664 schlug ihn Friedrich Wilhelm als neuen Propst von Bernau vor, wenige Wochen später wurde er durch Georg Lilius eingeführt. 1667 wurde Müller dann zum Propst an die Berliner St. Nicolai-Kirche vociert (vgl. den Befehl von Schwerins an den Geheimen Rat, Müller zur Probepredigt einladen, in Meinardus: Protokolle VII/1, 588.). Bereits 1671 bat er erfolglos um Entlassung aus seinem Amt. Ist von Müller als Propst nur wenig bekannt, so sind es vor allem seine wissenschaftlichen Verdienste, die seine Berliner Zeit prägten. Zeichen seines hohen Ansehens als Orientalist war 1682 ein Schreiben Kaiser Leopolds I. (1640–1705). Müller fiel zeitweilig beim Kurfürsten in Ungnade und durfte 1685 nach Schwerin ziehen. Da er seine großen wissenschaftlichen Vorhaben nicht mehr realisieren konnte, verbitterte er zunehmend und verbrannte kurz vor seinem Tode 1694 einen bedeutenden Teil seiner Bibliothek. Vgl. zu Müller: GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. B4 Bd. 9 Geistliche Angelegenheiten von Berlin, 1670–1673, Bl. 26–42; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin, 343–363; Zedler 22 (1739), 194–197; G. v. Bülow: Art. Müller: Andreas M. (Greifenhagius), ADB 22 (1885), 512–514; L. Noack: Art. Andreas Müller, in: Noack / Splett: Bio-Bibliographien. Mark Brandenburg 1640–1688, 272–293; Bahl: Hof, 545 f. Vgl. auch LAB A Rep. 510 Nr. 1–13, STA Hs 5, f. 50 (Wendland) sowie die in den folgenden Anmerkungen genannten Quellen aus GKl und LAB. 407
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nannt.410 Müller galt als überzeugter Vertreter der kurfürstlichen Religionspolitik und hatte sich in seiner Vocatio auf die Einhaltung der drei Edikte von 1614, 1662 und 1664 verpflichtet. Viele Lutheraner sahen in seiner Berufung gegen den Willen des Magistrats411 eine durch Friedrich Wilhelm beabsichtigte Schwächung des lutherischen Einflusses in der Residenzstadt. Da Müller als Propst keinen leichten Stand hatte und oft als Synkretist beschimpft wurde, bat er mehrfach erfolglos um Entlassung aus seinem Amt. Besonders mit Lorentz, Lubath und Helwig geriet Müller auf Grund seiner Haltung gegenüber der kurfürstlichen Politik mehrfach in Konflikt.412 Auch kurfürstliche Ermahnungen konnten die Situation nicht entschärfen. Friedrich Wilhelm wollte die Auseinandersetzung endgültig beenden und verlangte unter anderem von den Ständen während ihres Landtages 1668 eine Antwort, wie die in seinen Augen friedenstörenden Berliner Pfarrer zu bestrafen seien. Am folgenden Tag wurden Müller, Lubath und Helwig vor die Stände geladen, um sich gegen den Vorwurf zu verantworten, sie hätten gegeneinander und gegen die Reformierten gelästert. Lubath betonte, dass er auf der Kanzel nicht die Reformierten an sich, sondern lediglich deren Irrtümer verdammt hätte. Müller erklärte, dass er die FC nicht deswegen nicht unterschrieben habe, weil er sie inhaltlich verwerfe, sondern weil sie in seinem Heimatland Pommern nie eingeführt worden sei. Vor Abschluss der ständischen Beratungen legten die Berliner Pfarrer ihren Streit bei und überreichten eine auf den 10. März datierte Erklärung, in der sie versprachen, gegenseitige Anfeindungen aufzugeben.413 Der Konflikt zwischen den Pfarrern flammte jedoch erneut auf, als Müller zu Beginn des Jahres 1671 die kurfürstliche Religionspolitik und in einer Pre-
Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 447v. Der Magistrat war mit Müllers Gastpredigt und der Tatsache, dass der Kurfürst wiederholt das Vocationsrecht missachtete, unzufrieden und versuchte erfolglos, andere Kandidaten durchzusetzen, wobei unter anderem auch Gerhardt, Lubath und Helwig in Betracht gezogen wurden, vgl. die entsprechenden Einträge ins Protokollbuch des Berliner Magistrats bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 78 f. [Nr. 21, 25, 26], 81 f. [Nr. 29, 31, 33, 34]. Vgl. auch die Berichte Linckers nach Ribbeck: Aus Berichten, 145 f. In GKl Archiv XII/90/2, f. 305v findet sich eine handschriftliche Notiz von Lubath, indem berichtet wird, dass er und Helwig als Propst vorgeschlagen wurden, „und fielen die Majora auff M. Lubathen Zur Pröbstey, weil Ers aber [. . .] nicht annehmen wollte auch nicht konnte propter Edicta“, wurde schließlich Müller Propst. 412 Vgl. dazu das Aktenkonvolut GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7 Fol. 40; LAB A Rep. 0 04 Nr. 8 ; vgl. des Weiteren GKl Archiv XII/90/1, f. 250r–253r; GKl Archiv XII/90/2, f. 394v–396v (Briefwechsel zwischen Müller und seinen Kollegen vom 9./10. April 1668). 413 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 391r–392r; BLHA Pr.Br.Rep. 23A Kurmärkische Stände Nr. B 562, f. 457r–458r; abgedruckt bei Schwartz: Verhandlungen, 108. 410 411
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digt an Okuli 1672 die Regelung bezüglich des Exorzismus verteidigte.414 Auch eine kurfürstliche Vorladung der Geistlichen vor das Geistliche Konsistorium am 18. Dezember 1671 sowie ein privates Kolloquium der Berliner Pfarrer zwischen dem 9. Januar und 15. März 1672 „wegen ihrer privat-Mißfelligkeiten, die aber mit der Verbindung an die Churfrl. Edicta ihre relation haben“, konnte die Situation nicht entspannen.415 Lubath und Helwig korrespondierten mit den Fakultäten Greifswald und Wittenberg416 und erhoben in einem ‚Sendschreiben‘ vom 13. März 1673 schwere Vorwürfe gegen Müller, die dieser jedoch abwies.417 Die Spannungen zwischen den Pfarrern hielten an, bis Müller, der mittlerweile auch am Hof in Folge seiner sinologischen Arbeiten zunehmend in der Kritik stand, schließlich 1685 die Entlassung gewährt wurde.418 Müller verlies Berlin nach einer späteren Notiz Lubaths, „ohne Abschied Von seinen Collegen [und . . .] sagte Zum Cüstern Zu St. Nicol. und Marien: Wer in Berlin Probst seyn will, muß ein Heuchler, oder ein Bättler seyn“419. Er zog nach Schwerin, wo er bis zu seinem Tod am 26. Oktober 1694 blieb. Mit Müller als Propst endete weitgehend die letzte Phase des Kirchenstreits und zugleich für einige Jahre diejenige wichtiger Personen in dem Berliner Propstamt. 5.3.3.7 Die Neubesetzung des Archidiakonats und die Entlassung von Lorentz Es sind im Besonderen die Angaben über die Wiederbesetzung der Archidiakonatsstelle, die in der Forschungsliteratur oft falsch sind.420 Von Schwerin hatte am 5. (15.) August 1665 einen Brief421 an den Berliner Magistrat gesandt, in dem er sich auf einen Befehl vom 17. / 27. Mai bezog: Da dieser dem Befehl zur Neubesetzung der Stelle bisher noch nicht nachgekommen sei, habe er nur noch acht Tage Zeit, eine geeignete Person zu finden. Geschehe dies nicht, so werde das Konsistorium eine neue Person „bei Verlust eures habenden juris patronatus“ ab officio bestellen. Die Neubesetzung stellte sich jedoch als Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 347r–348v. Vgl. dazu GKl Archiv XII/90/1, f. 309r–326v. 416 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 343r–346v (Briefwechsel zwischen Helwig und dem Greifswalder Theologieprofessor Matthäus Tabbert [1625–1675] von Mai 1672) und aaO., f. 371r–376r (Responsum der Wittenberger Theologen an Lubath und Helwig „wegen ihrer Mißhelligkeit mit dem Probst Müller d 1 Febr: 1673“). 417 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 377r–379r. 418 Vgl. den Abdruck der kurfürstlichen Dimissionsurkunde bei Müller / Küster: Altes und Neues Berlin I (1737), 344. 419 GKl Archiv XII/90/2, f. 451r. 420 Vgl. beispielsweise Langbecker: Gerhardt, 204 f. 421 Vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 287. 414
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schwierig heraus. Der Berliner Magistrat hatte im August 1665 zunächst den damaligen Rektor des Gymnasiums zum Grauen Kloster und strengen Lutheraner Conrad Tiburtius Rango (1639–1700) zum Nachfolger Reinhardts auserkoren. Doch Rango lehnte ab, weil er den Revers nicht unterschreiben wollte. Dies ist umso bemerkenswerter, als eine Pfarrstelle zur damaligen Zeit wesentlich höher besoldet wurde als ein Schulposten. Rango ließ eine Schrift unter dem Titel „ob ein Lutherischer, nach dem Repurgatore und Restituore orthodoxae religionis, non tanquam a causa principali, also genannter Theologus, Prediger oder Candidatus ministerii denen dreyen Edictis von 1614. 1662. 1664 mit gutem Gewissen unterschreiben könne?“422 drucken, in der er eindeutig Stellung gegen den Revers bezog. Wie die Protokolle der Sitzungen des Magistrats zeigen, haben mehrere Kandidaten die Vokationen auf die Berliner Pfarrstelle zurückgesendet, da sie nicht bereit waren, den Revers zu unterschreiben.423 So sagten unter anderem Petrus Pape, mittlerweile Pfarrer in Ranfft und Bad Freienwalde,424 der Mittenwalder Diakon Johann Caspar Richter (1633–1689) 425 und der Subrektor des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, Gottfried Weber (1632–1698) 426 , ab. Der Magistrat sandte daraufhin einen Brief427 an den Kurfürsten, in dem er ihm die Probleme bei der Neubesetzung der Stelle Reinhardts erklärte. Es sei schwierig, „einen anderen Prediger auf Licent. Reinhardt vacirende Stelle Zu Vociren, thut doch bald dieser bald Jehner die Vocation anZunehmen sich bedenken, [. . .] Unßer Vocation Uns wieder Zurück geschicket“. Schuld daran sei „die Conditio Subscriptionis [die] Sie alle Zurücke hilte“. Daher bat der Magistrat, „das Sie mit den newen Reverse Subscription Verschonet, und bey der alten Reversen gelassen werden möchten“, was der Kurfürst jedoch ablehnte. Paul Gerhardt schrieb am 17. Januar 1666 im Namen „Des Berlinischen Ministerij beyder Kirchen Zu S. Nicolai U S. Marien noch übrigen Collegen“ 422 Vgl. auch den Abdruck der seltenen Schrift (sie befindet sich unter anderem in FB Gotha Chart. A 282, f. 87r–93r) in FSATS 1729, 366–382. 423 Vgl. die entsprechenden Einträge, abgedruckt bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 74–76 [Nr. 13, 15, 16, 18, 19]; Meinardus: Protokolle VII/1, 297 f. 424 Vgl. LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 9r–v (Brief von Pape an den Magistrat vom 26. Oktober 1665). 425 Vgl. aaO., f. 7r–8v (Brief des Magistrats an Richter vom 16. September 1665). Der Magistrat hatte großes Interesse an Richter, wie die abermaligen, letztendlich aber vergeblichen Berufungen 1668 (aaO., f. 19r–20v) und 1672 belegen (aaO., f. 21r–24r). 426 Vgl. das Protokoll der Sitzung des Berliner Magistrats vom 15. August 1665, abgedruckt bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 74 [Nr. 12]). Vgl. auch FB Gotha Chart. A 280, 48. Wahrscheinlich wollte auch Weber den Revers nicht unterschreiben. Als Rango nach Stettin ging, wurde Weber neuer Rektor. 427 Vgl. LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 10r–10v.
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einen Brief428 nach Wittenberg, in dem er die Theologische Fakultät um ein Votum bat. Er schildert die Situation, „das[s] die bißher entledigte Amtsstell [= das Archidiakonat] in Unser S. Nicolai Kirchen wieder mit einem Neuen Prediger soll ersezen werden, der dann der Uhrallten gewohnheit nach die bißher im dienst gewesenen hinauff rücken“ solle. Allerdings könne „in die stelle eines Unschuldig removirten Prediger /: wie denn unser gewesener Geliebter College H Lic. Reinhart Von Uns Ernstlich darvon erkand wird :/ niemand mit gutten gewißen tretten“. Daher fragten die Pfarrer, ob sie die Annahme der Stelle ablehnen könnten, obwohl sie damit „Unsern gemeinen, welche nicht den Neuen sondern Uns hinauff geseze haben will, Zu wieder leben“? Des Weiteren wollten sie wissen, ob sie einem neuen Stelleninhaber, der sich den Edikten gemäß verpflichten würde, die Beichte verweigern könnten. Die Wittenberger ermutigten die Berliner in einem ausführlichen Votum vom 22. Januar429, „daß Sie bey der bißhero gebräuchlichen Succesion mit gutem Gewißen Verbleiben, und in die Locum He. Licent: Reinharti hin auff rücken können“. Die Universitätstheologen machten deutlich, dass sie das bisherige Verhalten Reinhardts voll und ganz unterstützten und dessen durch Gott veranlasste Berufung nach Leipzig begrüßten. Auf die zweite Frage wollten die Professoren jedoch nicht antworten. Wieder einmal ließen sich die Berliner durch die Wittenberger überzeugen. Nun hätte Gerhardt von der zweiten Diakonatsstelle auch ins Archidiakonat aufrücken können, doch war er bekanntlich am 6. Februar 1666 erstmals seines Amtes enthoben worden. Letztendlich stieg der bisherige dritte Diakon Samuel Lorentz zum Archidiakon auf.430 Lorentz war der letzte der Berliner Pfarrer, der am Kolloquium teilgenommen hatte und noch eine Pfarrstelle an St. Nicolai innehatte. In seiner Funktion als Archidiakon kämpfte er weiterhin gegen die Edikte und die kurfürstliche Toleranzpolitik. So verweigerte er nicht nur dem neuen dritten Diakon, David Gigas, die Absolution und schloss ihn vom Abendmahl aus, sondern Vgl. den Entwurf in GKl Archiv XII/90/1, f. 223r–224v. Gerhardts Autorschaft lässt sich an Hand der Handschrift des Haupttextes erkennen, daneben finden sich Korrektur- und Erweiterungsvorschläge durch Lubath und Lorentz. 429 Vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 225r–229v; Abschriften befinden sich in GKl Archiv XII/90/2, f. 308r–310v; FB Gotha Chart. A 282, f. 104r–106r. 430 Gegen Fischer: Pfarrerbuch II/1, 484, ist festzuhalten, dass Lorentz somit 1666, und nicht 1665, auf die Archidiakonatsstelle wechselte. Dass Lorentz Archidiakon und somit zeitweilig zwischen dem Tod des Lilius und dem Amtsantritt Müllers der ranghöchste Geistliche in Berlin war, ist auch durch die Reihenfolge der Unterschriften unter offiziellen Briefen aus dieser Zeit ersichtlich, in denen Lorentz’ Name als erstes, sogar noch vor Lubath, dem Archidiakon der St. Marien-Kirche, stand. 428
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auch Propst Müller. Dieser zeigte Lorentz daraufhin Anfang 1668 beim Kurfürsten an.431 Friedrich Wilhelm wollte Lorentz jedoch nicht vorschnell verurteilen, sondern ließ durch den Geheimen Rat Gutachten der theologisch als gemäßigt lutherisch geltenden Fakultät Altdorf432 und der Fakultät Helmstedt anfordern. Die Altdorfer Theologen entschuldigten sich, dass sie keine Antwort geben dürften, da ihnen ihr Landesherr die Einmischung in auswärtige theologische Angelegenheiten verboten hätte. Die Helmstedter antworteten, dass Lorentz’ Verhalten zwar unrecht sei, da er sich aber ansonsten gehorsam verhalten habe, solle er nicht bestraft werden. Lorentz wurde am 30. Juni vor dem Konsistorium befragt, ob er Propst Müller als Bruder in Christo anerkennen, ihn zum Abendmahl zulassen und künftige durch den Kurfürst bestätigte Pfarrkollegen als Bruder anerkennen wolle. Lorentz erbat sich Bedenkzeit und antwortete brieflich am 3. Juli. 433 Da die Edikte der lutherischen Religion zuwider seien, könne er niemanden für einen Bruder halten, der sich den Edikten gemäß verhalten wolle. Freundschaft wolle er mit allen Pfarrern oder Pfarramtsbewerbern pflegen, für eine Bruderschaft sei jedoch die Zustimmung zum lutherischen Abendmahlsverständnis notwendig. Der Kurfürst wies daraufhin das Geistliche Konsistorium an, Lorentz erneut vorzuladen und ihm die Gelegenheit zu geben, sein bisheriges Verhalten zu bereuen. Sollte Lorentz dies jedoch nicht wollen, sei er zu entlassen und habe er das Kurfürstentum umgehend zu verlassen. Lorentz widerrief nicht, verließ nach seiner offiziellen Entlassung am 9. Juli434 die Stadt einen Tag später und ging – wie später auch Gerhardt – ins Herzogtum Sachsen-Merseburg, wo er bis zu seinem Tod am 14. November 1675 die Superintendentur in Forst inne hatte.
431 Vgl. zur folgenden Auseinandersetzung GStAPK Rep. 47 Tit 19 (M. A. 142), Aktenkonvolut mit dem Titel „Was . . . mit dem Diacone Magister Lorentzen ist vorgegangen in p[unc]to. religionis. 1668“; FB Gotha Chart. A 281, f. 139r–172v (vgl. ebenso in aaO., f. 117r–120v die tagebuchartigen Aufzeichnungen Lorentz’ für das Jahr 1668); GKl Archiv XII/90/2, f. 408v–414r. Hering: Neue Beiträge II, 254–256, bietet als einziger einen ausführlichen Bericht über den Prozess gegen und den weiteren Lebenslauf des Lorentz. Die Angaben bei Gauhe: Historie, 1084, und Niemann: Gerhardt, 321 f., sind irrefürhend. 432 Die „Altdorfina“ oder „Academia norica“ genannte Hochschule der Freien Reichsstadt Nürnberg wurde 1575 als Akademie eingeweiht und 1622 zur Universität erhoben. Die theologische Fakultät besaß gegen Ende des 17. Jahrhunderts eine überregionale Bedeutung. 1809 wurde die Universität durch den bayerischen König Maximilian I. Joseph (1756/1806–1825) aufgelöst. Vgl. zur Geschichte Altdorfs H. Recknagel: Die Nürnbergische Universität Altdorf und ihre großen Gelehrten, Altdorf 1998. 433 Vgl. den Abdruck in FSATS 1747, 93–102. 434 Vgl. LAB A Rep. 510 Nr. 1–13, STA Hs 5, f. 51 (Wendland).
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Lorentz’ Nachfolger im Amt des dritten Diakons wurde David Gigas (1628[?]-1705). 435 Er unterschrieb den Revers und wurde der Gemeinde durch Lilius am 18. März 1666 vorgestellt.436 Gigas widerrief wenig später seine Reversunterschrift, da ihn Lorentz ihretwegen von der Beichte und vom Abendmahl ausgeschlossen und ihm die Absolution verweigert hatte.437 Für seinen Widerruf wurde Gigas am 11. September 1666 vor das Geistliche Konsistorium geladen, verhört und gerügt.438 Zu Neujahr 1667 hielt er eine Predigt über Gen 8, 15–22, in der er den Kurfürsten und seine Konsistorialräte indirekt angriff.439 Deswegen wurde Gigas am 9. Januar 1667 erneut vor das Konsisto Über Gigas’ Leben ist nicht viel bekannt, eine Leichenpredigt ist nicht erhalten. Er wurde 1628 in Freistadt/Schlesien geboren. Vor seiner Berufung nach Berlin 1666 war er Pfarrer in Rauen. Vgl. zu ihm GKl Archiv XII/90/1, f. 230r–234v; ein Aktenkonvolut in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); Hering: Neue Beiträge II, 253 f.; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin, 343; Langbecker: Gerhardt, 188–189; Fischer: Pfarrerbuch II/1, 249. 436 Vgl. den Berufungsentschluss des Berliner Magistrats vom 4. Januar 1666 bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 76 [Nr. 18]; vgl. auch die Verhandlung im Geheimen Rat vom 11. Februar 1666 in Meinardus: Protokolle, VII/1, 387. 437 Lorentz hatte am 14. Februar einen Brief an die theologische Fakultät Wittenberg (vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 230r–230v) gesandt, in dem er die im Schreiben der Wittenberger vom 22. Januar nicht beantwortete Frage wieder aufnahm und konkret auf Gigas und Müller anwandte. Zu diesem Schreiben gaben alle Pfarrer kurze zustimmende Voten (vgl. GKl Archiv XII/90/1, f. 231r–231v) ab. Auch Gerhardt, der bereits offiziell am 6. Februar entlassen worden war (aber unter anderem noch am 19. Februar eine Trauung in der St. Nicolai-Kirche vollzog, vgl. ELAB 33/66 Trau-Register. Der Erste Haubttheil der Kirchen Bücher. Berlin. St. Nicolai 1650–1683, 106), schrieb noch ein zustimmendes Votum. In ihrer sehr ausführlichen Antwort vom 22. Februar 1666 (vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 311r–316v; FB Gotha Chart. A 282, f. 107r–108v) kamen die Wittenberger zu keinem eindeutigen Schluss, tendierten jedoch dazu, denjenigen Pfarrern, welche die Reverse unterschrieben hatten (also Gigas und Müller), tatsächlich die Absolution im Beichtstuhl zu verweigern. Wie spätere Briefe der Wittenberger Theologen belegen, blieb die Frage umstritten, ob einem ‚Syncretisten‘ Sakramente verweigert werden dürften, vgl. beispielsweise den Brief der Wittenberger vom 10. Juni 1668 in FB Gotha Chart. A 282, f. 121r–122v („in Puncto Admissionis Syncretista ad Coenam“). 438 Das Protokoll über die Verhandlung befindet sich in GStA PK I. HA Rep. 47 Tit. 19 (unfol.); abschriftlich in GKl Archiv XII/90/2, f. 342v–343v; FB Gotha Chart. A 281, f. 94r–134v; teilweise auch abgedruckt in FSATS 1746, 972–976. Vgl. auch den Brief an den Berliner Magistrat vom 2. (22.) Oktober 1666, in dem der Kurfürst sich über Gigas und andere „Lästerer“ beschwerte in GKl Archiv XII/90/2, f. 344r. Der Berliner Magistrat lud daraufhin Lubath, Lorentz, Helwig und Gigas vor, um sie zu den Vorwürfen zu befragen (vgl. das Protokoll in GKl Archiv XII/90/2, f. 344v– 346v). Da sich die Pfarrer keiner Schuld bewusst waren, stritt der Magistrat in seinem Antwortschreiben an den Kurfürsten vom 26. November 1666 (Vgl. Meinardus: Protokolle VII/1, 572) sämtliche Lästervorwürfe gegen lutherische Prediger ab. 439 Lincker vermutet in seinem Bericht vom 25. Juni / 5. Juli 1667, dass Gigas den Kurfürsten angegriffen habe, um sich auch weiterhin bei seinen Glaubensgenossen für die frühere Reversunterschrift zu rehabilitieren, vgl. Ribbeck: Aus Berichten, 143. 435
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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rium geladen und verhört. In Anwesenheit des Berliner Rates wurde Gigas abgesetzt und verhaftet.440 Dies war eine Demonstration kurfürstlicher Macht und eine Demütigung des Rates, der sich für Gigas eingesetzt hatte. Nach 23 Wochen Haft in der Festung Spandau musste Gigas das Land verlassen. Er ging nach Pommern, wo er bis zu seinem Tod am 12. Februar 1705 Pfarrer in Stresow war. Die übermäßig harte Bestrafung Gigas’ stellte eine deutliche Warnung für alle bisherigen Unterschriftsverweigerer dar, die ihren Zweck nicht verfehlen sollte.441 5.3.3.8 Die weiteren neuen Geistlichen Da nach Lorentz’ Entlassung und Gerhardts endgültigem Ausscheiden zwei Stellen unbesetzt waren, machte der Kurfürst dem Magistrat Druck. Wie ein Reskript442 vom 26. Juni / 7. Juli 1667 belegt, wollte Friedrich Wilhelm die Praxis unterbinden, dass nach dem Tode eines Amtsinhabers für einen längeren Zeitraum Studenten predigten und die Sakramente von auswärtigen Pfarrern ausgeteilt wurden. In einem Brief vom 31. August 1667 befahl er, dass Conrad-Jacobus Adami die Pfarrstelle Gerhardts einnehmen solle.443 Dem Magistrat gelang es jedoch nach einer brieflichen Auseinandersetzung mit dem Konsistorium, Adamis endgültige Berufung zu verhindern und dem Kurfürsten die Gründe darzulegen, warum der Magistrat bisher sein ius vocandi nicht in Anspruch genommen hatte.444 Er hatte deutlich machen können, dass es nach wie vor schwierig war, einen Pfarrer zu finden, der sowohl den Interessen der Gemeinde als auch des Hofes gerecht werden konnte.
Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 347r; LAB A Rep. 510 Nr. 1–13, STA Hs 5, f. 50 (Wendland) und die Eintragungen im Protokollbuch des Berliner Magistrats bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 78–80 [Nr. 22, 23, 28]. Vgl. auch den Wortlaut des Artikels in der Zeitung „Sonntägischer Mercurius“, der in derselben Ausgabe, in der bereits von Gerhardt berichtet wurde (vgl. 5.2), erschien, bei Hering: Neue Beiträge II, 253–254; Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 80 f. [Nr. 28] (dort auch eine Anmerkung des Rates vom 22. Januar 1667 zu diesem Artikel). 441 Die harte Bestrafung wurde nicht nur durch die Lutheraner, sondern auch im Ausland heftig kritisiert, so beispielsweise durch den Kopenhagener Hof und die Reformierten in Frankfurt am Main, vgl. Ribbeck: Aus Berichten, 144. Die Verurteilung führte auch dazu, dass Gigas’ kurze Berliner Amtszeit außergewöhnlich gut dokumentiert wurde. 442 Vgl. Mylius Corpus I/1, 393 f. („Rescript, daß statt ordinirter Prediger keine studiosi gebrauchet werden sollen“). 443 Vgl. GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, f. 92r–92v und 5.2.1 444 Vgl. zur Auseinandersetzung um Adami GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, (Fol. 31r–39v) („1668 Die Vertretung des zum Diakon an St. Nikolai berufenen Mag. Wolf durch Conr. Jakob Adami“). 440
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
Der Kurfürst kam auf den Magistrat zu und gestattete ihm am 1. Oktober 1667 für die zwei offenen Stellen erneut Pfarrer einzustellen. Zunächst lud der Magistrat für Gerhardts Stelle den Inspektor zu Lebus, Christian Siegismund Wolf (1632–1699) 445 , zur Probepredigt ein und berief ihn wenige Tage später.446 Dieser zögerte die Annahme der Stelle jedoch hinaus, da zum einen seine Frau kurz vor der Geburt eines Kindes stand und zum zweiten die Wohnungsfrage in Berlin noch ungeklärt war. Mittlerweile hatte der Kurfürst Adami auf Wolfs ehemalige Stelle in Lebus gesetzt. Bis zur Ankunft Wolfs sollte er auf kurfürstlichen Befehl hin in Berlin „die sacra administriren zu helffen“. Dies verbat ihm jedoch der Magistrat und verschloss die Kirche.447 Die Lage zwischen den Stadtverordneten und dem kurfürstlichen Hof blieb weiterhin angespannt. Wolf trat die Stelle erst an, nachdem ihm eine Diakonatswohnung zugesichert wurde. Schließlich wurde er am 9. Februar 1668 eingeführt,448 jedoch nicht auf Gerhardts Stelle, sondern als Nachfolger von Gigas als dritter Diakon. Auch Wolf geriet in konfessionelle Auseinandersetzungen. Gleich nach seinem Amtsantritt wurde er durch seine Pfarrkollegen unter anderem darin beschuldigt, einen Revers unterschrieben, sich theologisch an die Reformierten angelehnt und Toleranzgedanken verteidigt zu haben. In seiner „DefensionsSchrift M. Wolffius, Wegen etlicher Beschüldigungen, Welche Er seinen Collegen Vertraulich exhibiret“449 vom 19. Mai 1668 gab er zwar zu, dass er sich bei Hofe intensiv um die Berliner Diakonatsstelle beworben hatte, verteidigte sich aber ansonsten gegen alle Vorwürfe. Er betonte, „dz ich mich denen Edictis nicht gemeß bezeigen kann absolute und simpliciter, [. . .] auch nimmer einen Consensum fundamentalem gegläubet. [. . .] So bekenne demnach ich 445 Christian Siegismund Wolf, am 12. August 1632 als Sohn seines Vaters Johann, Pfarrer am Berliner Heilig-Geist-Hospital, in Berlin geboren, besuchte das Gymnasium zum Grauen Kloster. Ab 1651 studierte er an der Universität Wittenberg, ab 1653 in Rostock. 1655 wurde er Rektor der Schule in Parchim, 1661 Pfarrer und Inspektor in Lebus. Im Anschluss an seine Berliner Zeit (1667–1672) war er von 1673 bis 1674 Rektor der Domschule in Bremen, von 1674 bis 1676 schwedischer Legationsprediger in Wien und schließlich von 1676 bis zu seinem Tod 1699 Diakon am Hamburger Dom. Seit 1690 war er zudem Wirklicher Konsistorialrat und schwedisch-königlicher Assessor im Herzogtum Bremen und Verden. Vgl. zu Wolf FSATS 1730, 822; Müller / Küster: Altes und Neues Berlin I (1737), 363 f.; Zedler 58 (1748), 679–681; Jöcher IV (1751), 2046; P. Tschackert: Art. Wolf: Christian Sigismund W., ADB 44 (1898), 543–545; Fischer: Pfarrerbuch II/2, 978. 446 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 390r. 447 Dies ist aus den Quellen nicht belegbar, vgl. aber die Schilderung bei Langbecker: Gerhardt, 204 f. 448 Vgl. LAB A Rep. 510 Nr. 1–13, STA Hs 5 (Wendland). 449 Vgl. GKl Archiv XII/90/2, f. 392v–393v.
5.3 Der Ausgang des Berliner Kirchenstreits
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mich mit Mund und Hertzen Zu der unVeränderten F. C., und den Libris Symbolicis, auch dem Christl. Concordien Buch“. Wolf hatte es als Nachfolger Gerhardts schwer. Wahrscheinlich kam er zunächst irenisch orientiert an den Hof und schwenkte dann auf Druck seiner Kollegen auf eine harte lutherische Haltung um. 1672 weigerte er sich, den Exorzismus bei der Taufe auszulassen und wurde ebenfalls seines Amtes enthoben. Er hatte in den kommenden Jahren verschiedene Ämter in Hamburg und Bremen inne und starb als schwedisch-königlicher Konsistorialrat am 2. Mai 1699 in Hamburg. Auf Gerhardts Stelle als zweiter Diakon450 berief der Magistrat den durch die Helmstedter Theologie geprägten Hofprediger in Herzberg, Johann Ernst Schrader (1638–1689) 451, und ließ ihn am 15. August 1668452 einführen. Ab diesem Zeitpunkt war Gerhardt auch offiziell endgültig abgesetzt und bezog kein Gehalt mehr. Nur kurze Zeit später stieg Schrader nach Lorentz’ Entlassung zum Archidiakon auf. An seine Stelle als zweiter Diakon trat der ebenfalls erst kurz zuvor eingesetzte Wolf. Dessen Nachfolger als dritter Diakon wurde am 14. Februar 1669453 der ehemalige Pfarrer von Pfaffendorf, Adam Thilo (1620[?]-1681) 454. Nach Wolfs Entlassung 1672 beerbte Thilo ihn auch In der Forschungsliteratur finden sich unterschiedliche Angaben, welchen Dienstgrad Gerhardt nach der Remotion von Lilius und Reinhardt hatte. Bereits die Überschrift des Aktenbündels GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, f. 89r–108v, zeigt, dass schon zur damaligen Zeit Unklarheit über die offizielle Nachfolge Gerhardts herrschte. Langbecker: Gerhardt 204, meint, dass Gerhardt Archidiakon war. Die Angabe von A. Winter: Stadt und Herrschaft unter den Bedingungen von Reformation und Konfessionalisierung am Beispiel der Residenzstadt Berlin-Cölln, in: Isaiasz / Lotz-Heumann / Mommertz / Pohlig: Stadt und Religion, 98, Gerhardt sei sogar Propst gewesen, ist sicherlich nur einem Versehen geschuldet. Zwar ist ein Pfarrer nach dem Tod oder Weggang eines höhergestellten Kollegen oftmals in dessen Position aufgestiegen, eine feste Regel war dies jedoch nicht (wie auch Gerhardts Amtsantritt in Mittenwalde zeigt, als er, und nicht der bisherige Diakon Christian Alborn [1610–1685], die Propststelle bekam, vgl. Petrich: Gerhardt, 110; Bunners: Gerhardt, 48.). Ein Pfarrer rückte jedoch nicht automatisch in das nächst höhere Amt auf, sondern der Aufstieg musste immer offiziell durch den Magistrat und/oder das Geistliche Konsistorium beschlossen und bestätigt werden. Es ist daher davon auszugehen, dass Gerhardt bis zu seiner endgültigen Entlassung die zweite Diakonatsstelle inne hatte. 451 Vgl. das Protokoll des Magistrats vom 21. Juli 1668, abgedruckt bei Menne-Haritz / Niemann: Gerhardt, 84 [Nr. 39]. 1668 heiratete Schrader Martha Ehrentraut Lilius, eine Tochter des ehemaligen Propstes Georg Lilius. Vgl. zu Schrader GStA PK I. HA Rep. 47 B4 Fasz. 7, (Fol. 46r–64v); GKl Archiv XII/90/1, f. 254r (ein handschriftliches Glaubensbekenntnis von Wolf und Schrader aus dem Jahre 1668, in dem sie sich unter anderem auf die FC berufen); Müller / Küster: Altes und Neues Berlin (1737), 365 f.; Zedler 35 (1743) 1037; Fischer: Pfarrerbuch II/2, 781. 452 Vgl. LAB A Rep. 510 Nr. 1–13, STA Hs 5 (Wendland). 453 Vgl. ebd. 454 Vgl. das Protokoll des Magistrats vom 9. Januar 1668, abgedruckt bei Menne-Ha450
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§ 5 Die letzte Phase des Berliner Kirchenstreits
auf der zweiten Diakonatsstelle, die er bis zu seinem Tod 1681 inne hatte. Schrader wiederum wurde im Anschluss an Müllers Demission 1685 Propst und hatte dieses Amt bis zu seinem Tod am 26. März 1689 inne. Nach Schrader versank das Berliner Propstamt in der Bedeutungslosigkeit. Als Nachfolger agierte für lediglich 21 Wochen der bisherige Superintendent und Inspektor zu Neuruppin Christian Teuber (1638–1690). 455 Nach dessen Tod am 30. Mai 1690 wurde das Propstamt zeitweise lediglich durch verschiedene Dorfpfarrer versehen. Erst 1691 sollte es mit dem Amtsantritt Philipp Jacob Speners (1635–1705) und dessen grundlegend neuen theologischen Denkansätzen wieder neuen Glanz bekommen. Durch ihn und den neuen Archidiakon Caspar Schade (1666–1691) war St. Nicolai in pietistischer Hand, was 1691 zum Ausbruch der Streitigkeiten zwischen den Vertretern der lutherischen Orthodoxie und Vertretern pietistischer Bestrebungen führte.456 Zu diesem Zeitpunkt war der Berliner Kirchenstreit längst beendet. Die lutherische Orthodoxie war nicht mehr die dominante Größe innerhalb des Brandenburger Protestantismus.457
ritz / Niemann: Gerhardt, 83 f. [Nr. 38]. Vgl. zu Thilo GKl Archiv XII/90/2, f. 427r (ein Brief an Propst Müller, in dem ihm aufgetragen wird, die bei der Introduktion von Thilo am 16. November 1668 gebrauchte Nennung der Symbolischen Bücher zukünftig zu unterlassen); Küster / Müller: Altes und Neues Berlin (1737), 364; Fischer: Pfarrerbuch II/2, 889 f. 455 Teuber war von 1660 bis 1664 Subrektor am Cöllnischen Gymnasium. Vgl. zu ihm LAB A Rep. 0 04 Nr. 548, f. 3r–8v; Küster / Müller: Altes und Neues Berlin, 367–369; Jöcher IV (1751), 1073; L. Noack: Art. Teuber, Christian, in: Noack / Splett: BioBibliographien. Mark Brandenburg 1640–1713, 529–534. 456 Hier ist der Pietismus im engeren Sinne gemeint, der mit den durch Spener angestoßenen Reformbewegungen gleichzusetzen ist. 457 Im 18. Jahrhundert galt die lutherische Orthodoxie nur noch als eine konservative theologische Richtung, die neben Pietismus und Aufklärung weiter bestand. Vgl. A. Beutel: Aufklärung in Deutschland (KIG 4 Lfg. O2), Göttingen 2006, 160–164. Ein gutes Beispiel für die Zeit des Übergangs, in der sich verschiedene theologische Richtungen um Dominanz bemühten, ist ein undatiertes Manuskript (da Friedrich I. erwähnt wird, muss es aus der Zeit 1701–1713 stammen) von unbekannter Hand (möglicherweise ein Autor aus Küstrin?) welches den Titel trägt „Abhandlungen über die friedensbrüchige Haltung der Calvinisten nach dem Westfälischen Frieden von 1648“ (SBB-PK Nachlaß Oelrichs, Nr. 472, f. 1r–16r.). Darin beklagt ein lutherisch-orthodoxer Pfarrer, dass seine theologischen Auffassungen allmählich an Gewicht verlören und die evangelische Welt immer mehr von Reformierten, „Syncretisten und Pietisten“ bevölkert werde. Vgl. als Überblick über die brandenburgische Kirchengeschichte gegen Ende des 17. Jahrhunderts T. Klingebiel: Pietismus und Orthodoxie. Die Landeskirche unter den Kurfürsten und Königen Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), in: Heinrich: Tausend Jahre Kirche, 293–324.
5.4 Zwischenresümee
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5.4 Zwischenresümee Die dritte Phase des Berliner Kirchenstreits war gekennzeichnet durch neue Maßnahmen, die Friedrich Wilhelm zur Durchsetzung seiner kirchenpolitischen Ziele ergriff. Das Verhältnis des Kurfürsten zu den lutherischen Pfarrern veränderte sich deutlich, da diese sich im Gegensatz zu den ersten beiden Phasen entschiedener gegen die kirchenpolitischen Maßnahmen wehrten und dem Kurfürst nicht mehr uneingeschränkt gehorchten. Dessen Souveränität und Autorität wurde zwar in politischen, nicht aber in kirchlich-theologi schen Fragen anerkannt. Wie aus dem Bericht von Schwerins über das Kolloquium deutlich wurde, konnte eine Annäherung von Lutheranern und Reformierten und somit eine mutua tolerantia durch theologische Gespräche ohne starken obrigkeitlichen Druck nicht erreicht werden. Der Streit war nun wieder öffentlich und wurde in ganz Brandenburg – durch die Lutheraner größtenteils kritisch – verfolgt. Die erste kurfürstliche Maßnahme, das so genannte ‚zweite Toleranzedikt‘, in dem erstmalig das Verbot von Verketzerung und Lästerung auch an die Reformierten adressiert wurde, änderte kaum etwas an der konfessionell angespannten Situation. Die durch die Berliner Lutheraner um Rat gefragten Fakultäten und Ministerien bezeugten mit ihren Vota und Consilia, dass die Frage, ob sich Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und das Festhalten am Bekenntnis miteinander vereinbaren ließen, ohne mit dem eigenen Gewissen in Konflikt zu kommen, reichsweit kontrovers diskutiert wurde. Gerhardt war in seinen zwei ausführlichen Voten der Meinung, dass eine Unterschrift unter das Edikt oder einen Revers die Einführung eines Synkretismus in Brandenburg gutheißen würde und dass diese daher aus theologischen Gründen sowie aus Rücksicht auf das eigene Gewissen strikt abzulehnen sei. Durch die wenig später obrigkeitlich erlassenen Reverse, mit denen sich die Pfarrer, Lehrer und Hofbeamte auf die Edikte von 1614, 1662 und 1664 verpflichten sollten, wurde der tiefe Graben zwischen dem Kurfürsten, seinen Hoftheologen und Regierungsgremien einerseits und der lutherischen Geistlichkeit, dem Berliner Magistrat und den Ständen andererseits deutlich. Die Reversunterschrift wurde für lutherische Pfarrer zu einer Gewissensfrage, für den Kurfürsten zu einer Gehorsamsfrage. Das Verständnis der Berliner von der Funktion der Reverse unterschied sich fundamental von demjenigen des Kurfürsten. Dieser beabsichtigte vor allem ein Ende der gegenseitigen Verketzerungen, jene fürchteten eine Normierung des Reverses als Bekenntnisdokument. Theologisch störte die Lutheraner nicht nur die Auslassung der FC, wodurch sie ihre Bekenntnisgrundlage bedroht sahen, sondern auch die Abwertung des Exorzismus, den sie in der Auseinandersetzung mit den Reformierten als notwendig erachteten. Die
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Reversfrage war für die Berliner Pfarrer nicht mit der Verweigerung der Unterschrift erledigt. Sie versuchten der kurfürstlichen Forderung durch eigene Reversentwürfe gerecht zu werden. Gerhardt wurde von den Pfarrern dazu auserwählt, mit den lutherischen Geheimräten die Entwürfe der Schriften vor der offiziellen Übergabe an den Kurfürsten zu besprechen. Letztendlich wurden jedoch alle Entwürfe abgelehnt. Wie der Briefwechsel zwischen Gerhardt und Johannes Heinzelmann beziehungsweise zwischen den Berlinern und Abraham Calov belegen, wurden bekannte auswärtige Lutheraner auch weiterhin über den Streit informiert und um Rat gefragt. Der Kurfürst reagierte verärgert auf den Protest der lutherischen Geistlichkeit, nämlich die Weigerung einzelner Pfarrer, den Revers zu unterschreiben, die Einholung von Responsa durch die Berliner Lutheraner sowie die Einmischung der Stände, welche die Pfarrer größtenteils machtpolitisch motiviert in ihren Forderungen unterstützt hatten. Da Friedrich Wilhelm dadurch seine Macht untergraben sah, duldete er fortan nahezu keine außerhöfische Einmischung in die Kirchenpolitik mehr. Zur Durchsetzung seiner kirchenpolitischen Ziele wandte er zunehmend absolutistisch disziplinarische Maßnahmen an. Doch auch die Entlassungen Reinhardts und Lilius’, die sich als Erste geweigert hatten, einen Revers zu unterschreiben, konnten zunächst keine Exempel statuieren und schwächten den Widerstand der Lutheraner nicht. Der Kurfürst pochte weiterhin auf die Unterschrift unter den Revers und schreckte bei Verweigerungen auch vor Entlassungen langjährig verdienter lutherischer Geheimräte nicht zurück. Nachdem sich Gerhardt am 13. April 1666 vor dem Geistlichen Konsistorium geweigert hatte, den Revers zu unterschreiben, wurde er seines Amtes enthoben. Da er die Unterschrift als unvereinbar mit seinem Gewissen und seiner Bekenntnisbindung ansah, kämpfte er nicht um sein Amt und nahm die Remotion an. Auch die verschiedenen Briefe der Bürgerschaft, der Gewerke und des Magistrats konnten den Kurfürsten nicht zur Wiedereinsetzung Gerhardts bewegen. Deren Einsatz für Gerhardt belegt zum einen eindrucksvoll dessen große Beliebtheit, war zum anderen aber auch für die lutherischen Untertanen ein exemplarischer Kampf gegen den obrigkeitlich begünstigten reformierten Glauben und den Machtanspruch des beginnenden Absolutismus. Die Interventionen führten zur Klarstellung durch den Kurfürsten, dass er als einziger das Recht habe, über die Kirchenpolitik zu bestimmen. Auch die Einwände der Stände, die ihren Protest mit diversen Gravamina verbanden, konnten den Kurfürsten zunächst nicht umstimmen. Die genannten lutherischen Untertanen waren nicht bereit, das dem Kurfürsten zustehende ius in sacra in vollem Umfang anzuerkennen. Die unter anderem durch Luther begründete Übertragung der Kirchengewalt auf den Landesherrn war für die Brandenburger Lutheraner insofern ein Problem, als
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Friedrich Wilhelm nicht lutherisch, sondern reformiert war. Seine kirchenpolitischen Maßnahmen verstanden die Lutheraner nicht als legale kirchenregimiale Befugnisse, sondern als einen Eingriff in ihr Gewissen und in die theologische Begründung des geistlichen Leitungsamtes. Die Lutheraner forderten somit indirekt für sich einen Bereich innerkirchlicher Autonomie gegenüber der staatlichen Gewalt und waren nicht zu uneingeschränkter lutherischer Obrigkeitstreue bereit. Indem die Brandenburger Lutheraner einer – einst von Lutheranern formulierten – Rechtspflicht nicht nachkommen wollten, handelten sie rein kirchenrechtlich gesehen unzulässig. Höher als die Erfüllung dieser Rechtspflicht galten ihnen jedoch ihr Gewissen und die in der lutherisch-orthodoxen Lehre erkannte theologische Wahrheit. Insofern stellten die Auseinandersetzungen der Lutheraner mit dem Kurfürsten ein klassisches Beispiel für den Konflikt zwischen Kirchenordnung und Gewissens- bzw. Glaubensfreiheit dar. Die Auseinandersetzung um Gerhardts Verbleib im Pfarramt zog sich über ein Jahr hin. In dieser Zeit änderte sich unbemerkt durch all diejenigen, die sich für Gerhardt einsetzten und forderten, ihm und anderen Pfarrern die Reverspflicht zu erlassen, Gerhardts Einstellung zum Revers und den Edikten. Nachdem Friedrich Wilhelm nach langer Zeit wieder in die Residenzstadt zurückgekehrt war, nahm er sich der Auseinandersetzung von Neuem an. Am 9. Januar 1667 ließ er Gerhardt verkünden, dass er wieder in sein Amt eingesetzt sei. Zwar müsse er den Revers nicht unterschreiben, sich aber trotzdem nach den Bestimmungen der Edikte richten. Gerhardt ließ jedoch wenige Tage später in Briefen an den Kurfürsten und den Magistrat verlauten, dass er sein Amt aus Gewissensgründen nicht wieder antreten wolle. Der Gehorsam gegenüber den Edikten war für Gerhardt auch ohne seine Unterschrift zu einer unzumutbaren Bedingung geworden. Die Briefe Gerhardts und des Magistrats an den Kurfürsten mit der Bitte, ihm auch die Erwartung des Gehorsams gegenüber den Edikten zu erlassen, damit er sein Amt wieder antreten könne, verfehlten ihre Wirkung. Der Kurfürst antwortete, dass der Magistrat einen anderen Prediger statt Gerhardt einstellen solle, falls jener nicht mehr wolle. Bei einer Vorladung vor den Geheimen Rat am 8. Februar 1667 verzichtete Gerhardt aus Gewissensgründen endgültig auf sein Amt. Der Magistrat erlaubte Gerhardt trotzdem, in der Diakonatswohnung wohnen zu bleiben, und ließ sich mit der Wiederbesetzung der Pfarrstelle so lange Zeit, bis er durch den kurfürstlichen Hof massiv dazu gedrängt wurde. Wie die verschiedenen Rücksendungen von Vokationen zeigten, waren wie Gerhardt viele Lutheraner nicht bereit, einen Revers zu unterschreiben und der kurfürstlichen Kirchenpolitik uneingeschränkt zu folgen. Neben Gerhardt waren auch weitere Geistliche von disziplinarischen Maßnahmen und Entlassungen betroffen. Durch verschiedene Erlasse gelang es
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dem Kurfürsten, den härtesten Widerstand der lutherischen Geistlichkeit zu brechen und seine Kirchenpolitik mit Machtmitteln durchzusetzen. Trotz des Verzichtes auf künftige Reverse am 6. Juni 1667 ging der Kurfürst weiterhin hart gegen vermeintlich friedenstörende Pfarrer vor und ließ den kirchlichen Dienst zunehmend überwachen. Dies sollten die Pfarrer der Berliner St. Nicolai-Kirche und Andreas Fromm im besonderen Maße zu spüren bekommen; sie wurden nach und nach allesamt entlassen, da sie sich auf verschiedene Weise gegen kirchenpolitische Maßnahmen des Kurfürsten gewandt hatten. Wie Gerhardt, der Archidiakon im kursächsischen Lübben wurde, verließen fast alle Berliner Pfarrer Brandenburg und fanden neue, größtenteils sogar bessere Anstellungen in lutherischen Territorien. Friedrich Wilhelm ließ auf die frei gewordenen Stellen Pfarrer einsetzen, die sich seiner irenischen Linie verpflichtet fühlten und eine mutua tolerantia unterstützten. Dies führte, wie am Beispiel von Propst Müller deutlich wurde, zu weiteren Protesten durch die lutherisch-orthodox geprägte Geistlichkeit und die Stände. Der Kurfürst erhöhte die Zahl gleichzeitig amtierender Hofprediger und förderte den Ausbau des reformierten Kirchenwesens in Brandenburg. Die dritte Phase des Berliner Kirchenstreits, insbesondere die Auseinandersetzungen um die Verstöße Lubaths und Helwigs gegen die Edikte sowie die Wiedereinsetzungen Gerhardts und Lilius’, hatte jedoch auch gezeigt, dass Friedrich Wilhelm kein den Lutheranern grundsätzlich feindlich gesonnener Herrscher war. Obwohl er seinen politischen Willen auf Grund seiner Machtbefugnisse hätte durchsetzen können, versuchte er seine Kirchenpolitik durch Vermittlung zu erreichen und Entlassungen mit wenigen Ausnahmen nur als letztes Mittel anzuwenden. Mit den personalpolitischen Entscheidungen des Kurfürsten und der Einsetzung von neuen Stelleninhabern war der Kirchenstreit beendet. Die lutherische Orthodoxie verlor gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend ihre dominante Stellung innerhalb des Brandenburger Luthertums. Dies jedoch hat Paul Gerhardt, der in der dritten Phase des Kirchenstreits noch einmal engagiert für den lutherischen Absolutheitsanspruch und gegen eine Tolerierung der Reformierten kämpfte, nicht mehr erlebt.
§ 6 Würdigung 6.1 Beurteilung Der Berliner Kirchenstreit wurde vielfältig polarisierend beurteilt. Dies liegt zum einen an dem deutlichen Missverhältnis zwischen seiner Bewertung und den wissenschaftlich gesicherten Darstellungen. Zum anderen erschwert der heutige Blick auf die innerprotestantischen Gegensätze der damaligen Zeit eine gerechte Bewertung. Das 17. Jahrhundert war noch weit entfernt von einer modernen Weltsicht, von einer Selbstverständlichkeit des religiösen Pluralismus und von der Trennung zwischen Staat und Kirche. Sowohl das Maß der orthodoxen Selbstverteidigung und Polemik als auch die Härte der kurfürstlichen Politik und die Schärfe der Auseinandersetzungen sind nur noch mühsam nachvollziehbar. Aus heutiger Sicht liegt es nahe, im Berliner Kirchenstreit einen Kampf uneinsichtiger lutherisch-orthodox geprägter Theologen gegen eine kurfürstliche Religionspolitik zu sehen, die eine lobenswerte ausgleichende religiöse Toleranz zum Ziel hatte. Die Zeitgenossen hingegen mussten die kurfürstlichen Maßnahmen anders beurteilen. Weder Paul Gerhardt noch die weiteren Lutheraner konnten ahnen, welche Folgen die kurfürstliche Politik haben würde. Sie sahen darin eine Veränderung des bisherigen konfessionellen status quo in Brandenburg, was für sie nichts anderes als eine Bedrohung ihres Glaubens bedeuten musste. Es ging für die Lutheraner um nichts Geringeres als die Frage, ob ihre Kirche als solche und mit ihr die zur Seligkeit und zum Heil notwendig erkannte Lehrauffassung und Lehrtradition fortbestehen könnte oder nicht. Paul Gerhardt war insofern ein typischer Lutheraner seiner Zeit, als er sich gemeinsam mit seinen Pfarrkollegen entschieden gegen die kurfürstlichen Maßnahmen stellte. Erst die ausführliche Beschäftigung mit den Quellen ermöglicht ein hinreichendes Verständnis für die damalige Sicht und somit eine fundierte Bewertung. Darum kann erst im vorliegenden Paragraphen abschließend gefragt werden, wie Gerhardts Engagement zu beurteilen ist. Ergänzend wird anschließend das Verhalten der wichtigsten sonstigen am Kirchenstreit beteiligten Personen beleuchtet.
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§ 6 Würdigung
6.1.1 Die Rolle Paul Gerhardts Ein hinreichendes Verständnis der geschichtlichen Wahrheit wird in erheblichem Maße eingeschränkt, wenn die Bewertung Gerhardts auf die Frage reduziert wird, ob er recht oder unrecht gehandelt habe. Dutzende Forschungsbeiträge, die nicht quellenbasiert entstanden sind, haben gezeigt, wie stark die Darstellung des Kirchenstreits von offenbar bereits zuvor feststehenden Werturteilen über die einzelnen Protagonisten beeinflusst wurde. Die Urteile über Gerhardts Rolle gehen in der Geschichte der Forschung und der populären Darstellungen in zwei extreme Richtungen auseinander: Auf der einen Seite wird Gerhardt als ein vorbildlicher Bekenner des Luthertums charakterisiert oder zum Märtyrer stilisiert, der unter den Maßnahmen des feindlich gesonnenen Kurfürsten zu leiden gehabt habe. Auf der anderen Seite wird er als ein uneinsichtiger Querulant gegenüber frühneuzeitlichen Toleranzgedanken portraitiert und als „starrsinnigste[r] Lutheraner“ kritisiert. ‚Vermittelnde‘ Positionen, die in Gerhardts Verhalten positive wie negative Aspekte erkennen, bilden eher die Ausnahme. Aufgabe der hier vorliegenden Bewertung ist nun nicht die wenig ertragreiche Wiederholung und die Analyse der mannigfachen Bewertungen Gerhardts im Laufe der Jahrhunderte. Ziel dieses Abschnitts ist daher nicht mehr und nicht weniger, als die Rolle und das Verhalten Gerhardts auf der Basis der in dieser Studie gewonnenen Erkenntnisse und neu erschlossenen Quellen kritisch zu beleuchten. Nicht weniger, da dies mE. einem uniert geprägten Forscher in einer weitgehend säkularen Umwelt und auf Grund der neu ausgewerteten Quellen leichter möglich ist als Generationen zuvor. Nicht mehr, da selbstverständlich Objektivität nicht erreichbar ist, kein Einfluss auf die Selektivität der Überlieferung der Quellen genommen werden kann und eine letztgültige Beurteilung auch aus heutiger Distanz immer der Subjektivität des Beurteilenden und seinen zeitbedingten Prägungen unterliegt. Gerhardt verstand nicht nur den Ruf zum Diakon an die Berliner St. NicolaiKirche, sondern auch seine gesamte dortige Zeit, die Amtsenthebung und den An dieser Stelle seien stellvertretend für viele andere Forschungsbeiträge auf die Werke von Wangemann: Johan Sigismundt (bes. 236–250), J. Knipfer: Paul Gerhardt. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 1906 (bes. 30–33), Petrich: Gerhardt, 160 f., Wendland: Siebenhundert Jahre; Dreß: Warum mußte Paul Gerhardt Berlin verlassen? und Niemann: Gerhardt ohne Legende, hingewiesen. So unter anderem Barnikol: Paul Gerhardt, 433. Dazu gehört beispielsweise die Auffassung, Gerhardt sei eine Mischung „von hartköpfiger Orthodoxie und frühbürgerlicher Zivilcourage“ (Fechner: Gerhardt, 190) gewesen.
6.1 Beurteilung
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Ruf nach Lübben als Gottes „sonderbahre schickung Unnd Regierung“. Gottes Plan und Vorsehung wollte sich Gerhardt nicht widersetzen. Er führte sein Amt in der Hoffnung und Zuversicht aus, dass Gott ihm zum Wohle der Kirche beistehen wolle. Gerhardts Amtsverständnis war durch ein tiefes Gottesvertrauen geprägt; theologisch war es bestimmt durch eine zeittypische Lehrauffassung, die sich gegen eine Pluralität in der Auslegung der biblischen Schriften und der auf ihnen fußenden Bekenntnisse wandte und die für sich exklusive Wahrheitserkenntnis beanspruchte. Gerhardt trat in der ersten Phase des Berliner Kirchenstreits nicht selbständig in Erscheinung, sondern agierte stets gemeinsam mit seinen Berliner Pfarrkollegen. Diese kämpften gegen die Reformierten, in deren Lehre sie eine Bedrohung der lutherischen Kirche und des Seelenheils der Gemeinde zu erkennen glaubten. Zwar existieren in diesem Zusammenhang keine direkten Quellen über Gerhardts Verhalten, es gibt jedoch keinen Grund zur Annahme, dass sich Gerhardt anders verhalten habe als seine Berliner Pfarrkollegen. Gerhardt hat sich während seines gesamten Lebens als gehöriger Schüler der strengen lutherisch-orthodoxen Lehre Wittenbergs gezeigt. Diese verstand sich als einzig wahre, reine und von Gott gewollte Lehre; sie verurteilte die reformierte Lehre und postulierte die kontroverstheologische und polemische Abgrenzung von den Reformierten als Notwendigkeit und Pflicht eines jeden Lutheraners. Eine Tolerierung eines anderen Glaubens hätte eine Anerkennung falscher Lehre sowie eine Aufweichung des wahren Glaubens bedeutet und somit einen Synkretismus zur Folge gehabt. Diese Vorstellungen hatte Gerhardt während seines Studiums verinnerlicht, sie wurden zu einem Wesensmerkmal seines theologischen Verständnisses. Die Kontroverstheologie war für Gerhardt kein Selbstzweck, sondern diente der Erhaltung der als einzig wahr erkannten Lehre um der Seligkeit jedes einzelnen Christen willen. Gerhardt war kein öffentlich besonders hart agierender Kontroverstheologe. Er trat nicht aktiv als streitsuchender Pfarrer auf und schrieb vermutlich keine polemischen Schriften. Abgesehen von seinen einzigartigen poetischen Fähigkeiten konnte Gerhardt theologisch kein Herausstellungsmerkmal aufweisen. Seine ministeriumsinternen Schriften beinhalten keine eigenständigen theologischen Denkansätze, sondern stellen größtenteils eine oberflächliche und verkürzte Wiederholung theologischer Lehrsätze der FC oder von Professoren wie Balduin und Hutter dar. Dabei sei keineswegs in Abrede gestellt, dass Gerhardt die Fähigkeit hatte, die vorherrschende Theologie seiner Zeit begabt in Dichtung umzusetzen, sondern lediglich betont, dass Gerhardt LAB A Rep. 0 04 Nr. 551, f. 5r.
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§ 6 Würdigung
als Theologe weder originell noch partikulär argumentierte. Sein theologisches Verständnis wurde wesentlich durch die lutherisch-orthodoxe Lehre Wittenbergs geformt. Gerhardts theologisches Verständnis wiederum war untrennbar verbunden mit der Berufung auf sein Gewissen. Er betonte immer wieder, dass er guten Gewissens nur so handeln könne, wie es sein theologisches Verständnis ihm erlaube. „Gott und unserm Gewissen Genüge thun“ war für Gerhardt die entscheidende Prämisse seines Handelns. Gerhardt war – unabhängig von aller genau an diesem Punkt anknüpfenden und später noch zu thematisierenden Kritik – im wahrsten Wortsinn ein gewissenhafter Mensch. Er ließ sich in seinem Leben durch Gott und sein Gewissen leiten, wobei diese für Gerhardt nicht voneinander trennbar waren; vielmehr bestand sein Gewissen gerade darin, den in der lutherisch-orthodoxen Lehrauffassung wahrhaftig erfassten Willen Gottes zu erfüllen. Dieses theologische Verständnis teilte Gerhardt mit seinen Pfarrkollegen an St. Nicolai, auch wenn bei diesen die Berufung auf das Gewissen nicht so häufig wie bei Gerhardt erfolgte und daher scheinbar keinen derart wichtigen Platz einnahm wie für Gerhardt. Es ist davon auszugehen, dass sich die Pfarrer in ihrem theologischen Verständnis und Verhalten gegenseitig bestärkt haben. Gemeinsam mit seinen Pfarrkollegen griff Gerhardt die Reformierten an, unterstützte Polemik von lutherischen Geistlichen und setzte sich für angegriffene Lutheraner ein. Gerhardt wehrte sich wie seine Amtsbrüder entschieden gegen den Einfluss des reformiert geprägten Herrscherhauses auf das fast durchweg lutherisch geprägte Kirchenwesen Brandenburg. Es ging also nicht um einen Protest von Geistlichen gegen die generelle Einmischung des Staates in Kirchenangelegenheiten. Gerhardt begrüßte im Gegenteil die Einflussnahme des Hofes auf die Kirche, insofern diese den lutherischen Glauben förderte und nicht gegen Gottes Wille oder die Gewissen der Pfarrer gerichtet war. Letzteres sah Gerhardt jedoch in den kurfürstlichen Maßnahmen einer mutua tolerantia und des Aufbaus eines reformierten Kirchenwesens als gegeben an. Abgesehen von der Weigerung, kurfürstliche Anordnungen zu befolgen, die in Gerhardts Augen das Wesen des lutherischen Glaubens bedrohten, war Gerhardt zeitlebens obrigkeitstreu. Auch nach seiner Remotion lobte er den Kurfürsten und verlor auch gegenüber seinen lutherischen Pfarrkollegen niemals ein schlechtes Wort über ihn. Höher als der bedingungslose Obrigkeitsgehorsam galt Gerhardt jedoch sein Gewissen. Dies führte dazu, dass Gerhardt und seine Pfarrkollegen dem Kurfürsten ihren Gehorsam bei denjenigen Erlassen verweigerten, bei denen sie die bisherige lutherische Praxis oder ihr Gewissen bedroht GKl Archiv XII/90/3, f. 484v (aus Gerhardts Votum vor dem Beginn des Kolloquiums).
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sahen. Gerhardt war somit nicht bereit, das Friedrich Wilhelm rechtlich zustehende ius circa sacra und ius in sacra in vollem Umfang anzuerkennen. Im Konflikt zwischen der geltenden Kirchenordnung und der Gewissens- bzw. Glaubensfreiheit räumte Gerhardt Letzterer eine höhere Stellung ein. Er richtete sein Handeln nicht uneingeschränkt nach den Weisungen des kurfürstlichen Hofes aus, sondern befolgte diese nur dann, wenn sie sich mit seinem Gewissen und seiner theologischen Überzeugung vereinbaren ließen. Es gibt keinen Anlass, „die subjektive Wahrhaftigkeit seiner [= Gerhardts] Gewissensentscheidung in Zweifel zu ziehen“ . Die Berufung auf sein Gewissen war für Gerhardt kein Vorwand, die Weisungen des Kurfürsten aus anderen Gründen nicht erfüllen zu müssen. Wie gerade aus den internen, nur für die Berliner Pfarrerschaft verfassten Voten hervorgeht, galten für Gerhardt von Beginn des Kirchenstreits an sein Gewissen, sein lutherisches Glaubensbekenntnis und sein Amtsverständnis als Hauptgründe für die Weigerung, die kritisierten kurfürstlichen Forderungen zu erfüllen. Seine Entlassung durch den Kurfürsten hat dazu geführt, dass Gerhardt in der Forschung bisweilen als Opfer oder Märtyrer stilisiert wurde. Nun beinhaltet zumindest das christlich geprägte Märtyrerverständnis kirchengeschichtlich die Bereitschaft, einer feindlichen Macht gegenüber die Glaubenstreue höher einzustufen als das eigene Leben. Gerhardt war allein schon deshalb kein Märtyrer, weil für ihn in diesem Konflikt nie Gefahr für Leib und Leben bestand. Zudem sind die kirchenpolitischen Maßnahmen des kurfürstlichen Hofes aus heutiger Sicht nicht als feindlich, sondern als moderat zu charakterisieren. Zunächst zog Gerhardt noch nicht endgültige Konsequenzen aus seiner Überzeugung. Zwar verweigerte er gemeinsam mit seinen Pfarrkollegen 1662 die Verlesung des ersten Toleranzedikts, erklärte sich jedoch nach einer Vorladung und Ermahnung durch das Geistliche Konsistorium zur Erfüllung der Forderung bereit. Eine ausführliche Konkretisierung von Gewissensskrupeln, wie Gerhardt sie als Reaktion auf das Edikt 1664 hervorbrachte, lässt sich 1662 noch nicht beobachten, obwohl sich seine damalige Grundhaltung nicht von späteren Äußerungen unterschied. Bereits 1662 musste Gerhardt befürchten, dass die proreformierten Maßnahmen des Kurfürsten und die Forderung einer mutua tolerantia nichts weiter waren als ein Vorwand, das Reformiertentum als alleinige Konfession in Brandenburg einzuführen und den lutherischen Glauben weitgehend einzuschränken. Da religiöse Toleranz zur Zeit des Konfessionellen Zeitalters noch weitgehend unbekannt war, konnte Gerhardt nicht beurteilen – wie es aus A. Beutel: Paul Gerhardt. Konfessionsstreit und Kirchenlied, in: Ders.: Protestantismus in Preußen (67–85), 84.
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heutiger Sicht rückblickend möglich ist –, inwiefern die Maßnahmen des Großen Kurfürsten nicht per se auf eine Schädigung des lutherischen Glaubens zielten, sondern den Beginn einer die gegensätzlichen konfessionellen Grundfesten auflockernden und somit tatsächlich toleranteren Kirchenpolitik darstellten. Das Bild, das Gerhardt hinsichtlich konfessioneller Auseinandersetzungen vor Augen hatte, war vielmehr das eines gegen den Katholizismus einerseits und jetzt gegen das Reformiertentum andererseits um seine Existenz kämpfenden Luthertums. Das Luthertum, in dem Gerhardt aufgewachsen und von dem er theologisch geprägt wurde, war das Ergebnis eines erfolgreichen Kampfes der Lutheraner gegen andere Glaubensauffassungen. Die gerade einmal ein gutes Jahrhundert zurückliegende reformatorische Bewegung hatte Gerhardt und seinen lutherischen Amtsbrüdern gezeigt, dass sich der Kampf für die eigenen Überzeugungen sowohl gegen die Obrigkeit als auch gegen anders Glaubende lohnte. Das Beharren auf der eigenen theologischen Meinung und die Begründung desselben mit dem Gewissen besaß ihre Parallele in Luthers Überzeugung. Gerhardt stand als unerschütterlicher Streiter für seine Glaubensauffassung in der Tradition Luthers. Dieses lutherische Erbe galt es für Gerhardt zu bewahren. Auch er sah sich in einem Konfessionskonflikt, in dem Zugeständnisse an die konfessionelle Gegenseite den eigenen Glauben massiv bedroht hätten. Gerhardt war in diesem Sinne ein vorbildlicher Kämpfer für seinen Glauben, der aus seiner Sicht für eine von außen bedrohte Theologie kämpfen musste. Er handelte somit kirchengeschichtlich nachvollziehbar sowie theologisch konsequent und bekenntniskonform. Fraglich bleibt dabei nur, inwiefern auch die Formen seines Handelns berechtigt waren. Wie aus seinem Votum vor dem Kolloquium deutlich wurde, zweifelte Gerhardt von Beginn des Kirchenstreits an an den irenischen Bemühungen des Kurfürsten und war noch nicht einmal bereit, mit den Reformierten über theologische Fragen zu diskutieren. Als einziger Berliner Theologe war er der Meinung, dass die Einladung zum Kolloquium nicht angenommen werden solle; er wollte somit bewusst einem obrigkeitlichen Befehl nicht nachkommen. Diese Auffassung äußerte Gerhardt jedoch noch nicht öffentlich, sondern nur vor seinen Pfarrkollegen. Dabei vertrat er oftmals eine ähnlich unversöhnliche Haltung gegenüber den Reformierten wie Reinhardt. Im Verlaufe der einzelnen Sessionen trat Gerhardt laut den Protokollen selten in Erscheinung, stimmte jedoch mit den konsensual verabschiedeten Äußerungen der Berliner vollkommen überein. Auch er verstand die Abendmahlslehre und mit ihr die Lehre de manducatio oralis als fundamental zur Seligkeit notwendig. Gerhardt war der Meinung, dass die falschen Lehren der Reformierten „de judicio divino“ verdammt würden und sprach schließlich den am Kolloquium beteiligten Reformierten das Christsein ab. Aus heutiger Sicht ist
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es problematisch, dass die lutherische Lehre durch Gerhardt mit dem Evangelium gleichgesetzt wurde. Seine konfessionelle Intoleranz manifestierte sich dabei darin, dass er als Maßstab die reine lutherische Lehre, nicht aber den Glauben an den durch das Evangelium bezeugten Jesus Christus benannte. Gerhardt war zwar ein entschiedener, aber stiller Verfechter des lutherischen Glaubens. Nur eine einzige Wortmeldung Gerhardts ist im Protokoll festgehalten; in dieser pochte er auf die strenge Einhaltung der Regeln der Logik. Als geistiger Kopf der Lutheraner wirkte Gerhardt hauptsächlich hinter den Kulissen der Sessionen. Er war der entscheidende lutherische Schriftführer. Seine Voten bereiteten die wichtigsten Aussagen der offiziell übergebenen lutherischen Schriften vor. Somit wurde die gesamte Berliner Pfarrerschaft durch Gerhardts Voten in ihrem Festhalten an ihrer kompromisslosen Haltung bestärkt. Gerhardts Vorstellungen waren insofern eine wesentliche Ursache für das Scheitern des Berliner Kolloquiums 1662/63. In der dritten Phase des Kirchenstreits ertrug Gerhardt die unausweichlichen Folgen seiner Überzeugung. Er sah sich aus Gewissensgründen nicht dazu in der Lage, durch eine Unterschrift den Gehorsam gegenüber den Edikten zu bestätigen. Dabei störte ihn vor allem zweierlei: Zum einen war er nicht bereit, einer mutua tolerantia mit den Reformierten zuzustimmen; zum anderen sah er den in den Edikten geforderten Verzicht auf die FC als Bekenntnisgrundlage als unzulässigen Eingriff in seine Glaubensfreiheit an. Die FC galt Gerhardt als verbindliches Glaubensdokument, in dem das göttliche Wort enthalten sei. Gerhardt war in seinem Studium durch die Auslegung der FC geprägt worden und hatte sich darauf ordinieren lassen, um sich ein Leben lang kompromisslos und unerschütterlich danach zu richten. Sollte dieses Glaubensdokument ausgelassen werden, bedeutete dies eine direkte Beeinflussung des Glaubens und daher eine Forderung, die trotz Gerhardts Obrigkeitsgehorsam nicht erbracht werden konnte. Dazu ist gerade hinsichtlich einer bestimmten Tendenz in der Darstellung des Kirchenstreits zweierlei zu bemerken: Zum einen findet sich weder bei Gerhardt noch bei einem seiner Pfarrkollegen eine genauere Darlegung des Verständnisses der FC bzw. des Verhältnisses zwischen der FC und der Bibel. Es gibt somit keinen Beleg dafür, dass Gerhardt beispielsweise die Bekenntnisschriften wichtiger waren als die biblischen Schriften. Zum Zweiten sind Darstellungen, welche als den Kern des Kirchenstreits Gerhardts Kampf für die FC ausmachen, eine unsachgemäße Reduzierung der historischen Tatsachen. Die Berufung auf die FC bzw. die Begründung der Weigerung Gerhardts, kurfürstliche Maßnahmen zu befolgen mit der Auslassung der FC, erfolgten tatsächlich nur in wenigen Momenten des Kirchenstreits. Die Auseinandersetzungen um die kurfürstlich geforderte Auslassung der FC spielte, wie in dieser Studie deutlich wurde, eine wichtige, jedoch keineswegs die entscheidende Rolle. Leider liegen keine Quellen vor, die weiteren Aufschluss über Gerhardts Verständnis des lutherischen Obrigkeitsgehorsams geben können. Eine Begründung von Gerhardts Verhalten mit Hilfe von beispielsweise Apg 5,29 oder CA 16 ist zwar naheliegend.
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Es ist zu kritisieren, dass Gerhardt neben der Berufung auf sein Gewissen andere Gründe angab, das Edikt nicht befolgen zu können. So zählten für ihn zur „Wahrheit des Evangeliums“ der Exorzismus, der Elenchus und die konfessionelle Polemik; diese wurden zwar einem lutherischen-orthodoxen Theologen indoktriniert und waren teilweise durch entsprechende Formulierungen in den Bekenntnisschriften legitimiert, biblisch begründen ließen sie sich jedoch nicht. In seiner Berufung auf das Gewissen handelte Gerhardt stets konsequent. Er blieb dabei, selbst als ihm der Amtsverlust angedroht und schließlich vollzogen wurde. Mittlerweile machte es für Gerhardt keinen Unterschied mehr, ob der Gehorsam der kurfürstlichen Kirchenpolitik gegenüber und somit der Förderung der Reformierten, das Streben nach einer mutua tolerantia und die Auslassung der FC durch einen Revers besiegelt werden musste oder die Pfarrer sich lediglich stillschweigend daran zu halten hatten. Gerhardt machte durch die Berufung auf sein Gewissen deutlich, dass er der kurfürstlichen Religionspolitik nicht gehorsam folgen konnte. Da ihm einstweilen deutlich geworden war, dass der Kurfürst seine Kirchenpolitik nicht mehr ändern würde, gab es für Gerhardt keinen anderen Ausweg, als sein Pfarramt in Brandenburg aufzugeben. Insofern handelte Gerhardt konsequent. Obwohl Gerhardt ein Vertreter einer kämpferischen Theologie war, kämpfte er nicht öffentlich für sein Amt oder gegen Andersglaubende. Gerhardt verstand sich weder als Opfer des Kurfürsten noch als Aufrührer gegen dessen Politik. Er erlebte sein Schicksal in vollem Vertrauen auf Gottes Vorherbestimmung und trug die Konsequenzen seines Verständnisses still und ohne Aufruhr. Es mag auf den ersten Blick erstaunlich erscheinen, dass er nicht öffentlich für seine Auffassung und die Anerkennung seiner Meinung kämpfte. Doch Gerhardt hatte die Situation richtig eingeschätzt. Im Konflikt zwischen Gewissensfreiheit und Kirchenordnung hatte er von Anfang an erkannt, dass die Weigerung, das ius in sacra des Kurfürsten vollständig anzuerkennen und somit einer Rechtspflicht nachzukommen, unausweichliche Tatsächlich aber findet sich in keiner Quelle auch nur ein einziger Hinweis darauf, dass Gerhardt sein Verhalten derart begründet hätte. Auch ist aus Gerhardts Schriften nicht ersichtlich, wie er beispielsweise Röm 13,1 f. verstanden hat. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Authentizität der im Laufe der Gerhardt-Forschung immer wieder zu lesenden angeblichen Behauptung Gerhardts, er sei „willig und bereit, mit meinem Blut die evangelische Wahrheit zu besiegeln und als ein Paulus mit Paulo den Hals dem Schwerte darzubieten“, zutiefst fraglich ist, da sie weder autographisch noch in zeitgenössischer Abschrift belegbar ist. ME. handelt es sich dabei um ein Produkt idealisierender Geschichtsschreibung. Gerhardt selbst hat sich an keiner Stelle in den bekannten Quellen derart charakterisiert. Hingewiesen sei hier auf den Brief Gerhardts an die Gräfin Maria Magdalene zu Lippe (vgl. 5.2.2), in dem Gerhardt sein Verhalten auch biblisch begründet.
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rechtliche Folgen für ihn hatte. Er wusste genau, welche Folgen sein Verhalten haben musste, und wollte sie nicht umgehen. Gerhardt hat die Konsequenzen seines Handelns nie in Zweifel gezogen oder dagegen protestiert – dagegen sprach sein lutherischer Obrigkeitsgehorsam. Bei seiner Weigerung, der Forderung des Kurfürsten nach einer Unterschrift unter einen Revers nachzukommen, konnte oder wollte Gerhardt nicht sehen, dass der Revers kein Bekenntnisdokument war und auch keine zukünftige alleinige Basis für den Glauben und die Amtsführung lutherischer Pfarrer darstellen sollte, sondern lediglich eine Selbstverpflichtung als Beitrag zur Befriedung der konfessionell angespannten Lage in Brandenburg. Es ist insofern kritisch zu hinterfragen, ob Gerhardts Verhalten auf dem Hintergrund seiner Begründung angemessen war. Zu bemängeln ist an seinem Verhalten vor allem, dass er anscheinend auf eine biblische Begründung und Überprüfung der eigenen Positionen verzichtet hat und sich stattdessen mit einem formelhaft wiederholten Festhalten an den Bekenntnisschriften begnügte. Die Unantastbarkeit der norma normata scheint ihm wichtiger gewesen zu sein als die Begründung durch die norma normans. Paul Gerhardt bleibt in seiner konsequenten Haltung, eine theologisch als richtig erkannte Überzeugung zu verteidigen, eine bemerkenswerte, wenn auch nicht in jeder Beziehung vorbildhafte Gestalt der Kirchengeschichte.
6.1.2 Die Widerspiegelung des Kirchenstreits in Gerhardts Dichtung Die Frage, ob sich markante Punkte aus Gerhardts Leben in seiner Dichtung niedergeschlagen haben, ist beinahe so alt wie die Paul-Gerhardt-Forschung selbst. Ihre Beantwortung hat, gerade in frühen Publikationen, zu mancherlei Mythenbildung geführt.10 Dabei lassen sich die meisten Vermutungen allein schon durch das jeweilige Datum der Erstveröffentlichung seiner Dichtungen als unwahr beweisen. Bisher sind 139 deutsche Dichtungen von Paul Gerhardt bekannt.11 82 davon veröffentlichte Johann Crüger 1653 in seinem Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“.12 Sie scheiden daher ebenso für die Frage aus, ob es in Gerhardts So soll Gerhardt nach dem Amtsverlust das Lied „Befiehl du deine Wege“ (Ebeling, 82 f.; CS, 254–256) sowie kurz vor seinem Tod „Warumb solt’ ich mich dann grämen?“ (Ebeling, 42 f.; CS, 251–254) gedichtet haben. Gerhardts letzte Worte sollen die achte Strophe dieses Liedes zitiert haben: „Kann uns doch kein Tod nicht töten“. 11 Vgl. den Abdruck bei CS, 31–380. 12 Crügers erstes Gesangbuch erschien 1640 unter dem Titel „Newes vollkömmliches Gesangbuch, Augspurgischer Confession“. Es wurde ab der zweiten Auflage 1647 unter dem Titel „Praxis Pietatis Melica. Das ist: Übung der Gottseligkeit in Christlichen und Trostreichen Gesängen“ veröffentlicht, wurde zu einem der erfolgreichsten Werke der 10
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Versen Anspielungen auf den Berliner Kirchenstreit gibt, wie die 18 lateinischen Epicedien, Gratulations- und Widmungsgedichte13. Werden von den übrigen Dichtungen alle diejenigen nicht beachtet, welche zum einen nachweislich oder aus textinternen Hinweisen aus der Frühzeit Gerhardts stammen und welche zum anderen Gelegenheitsgedichte waren, so kommen nur noch wenige Dichtungen in Betracht, in denen sich Verweise auf den Kirchenstreit finden könnten. Dieser Befund ist insofern nicht überraschend, als nicht Gerhardts zweiter, sondern sein erster Berliner und sein Mittenwalder Aufenthalt nachweislich die fruchtbarste Zeit für sein dichterisches Schaffen war. Somit ist bereits die weithin rezipierte Meinung widerlegt, dass Gerhardt in der dreizehnten Strophe14 des Liedes „Ist Gott für mich / so trete“ aus dem Jahre 1650/51 mit dem Vers „Kein Zorn der grossen Fürsten“ auf den Kirchenstreit anspiele.15 Ähnlich verhält es sich mit dem Vers „Verlasse sich ja keiner / Auff Fürsten Macht und Gunst“, der zweiten Strophe von „Du meine Seele singe“16 und mit den Liedern „Was trotzest du stolzer Tyrann“17 und „Ich dancke dir mit Freuden“18 . Gesangbuchgeschichte und erreichte bis 1736 45 Auflagen. In der sechsten Auflage (Frankfurt am Main 1656) fanden sich drei neue Lieder Gerhardts, in der zehnten Auflage (Berlin 1661) nochmals vier. 13 Sie sind am besten greifbar in: Paul Gerhardt. Die lateinischen Dichtungen. Herausgegeben und übersetzt von R. Düchting, Heidelberg 2009. 14 „Die Welt die mag zerbrechen / Du stehst mir ewiglich: / Kein brennen/hauen/stechen / Soll trennen mich und dich: / Kein Hunger und kein Dürsten / Kein Armuth/keine Pein / Kein Zorn der grossen Fürsten / Soll mir Hindrung sein:“ (zitiert nach Ebeling, 39; das gesamte Lied befindet ich in Ebeling, 38 f.; CS, 248–251). 15 Vgl. zur Auseinandersetzung darüber O. Schulz: Paul Gerhardt und der große Churfürst. Vorlesung am fünf und zwanzigsten Stiftungsfest der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache vorgetragen und als Ankündigung einer neuen Ausgabe von Paul Gerhardt’s geistlichen Liedern, Berlin 1840; F. A. Pischon: Über die Stelle in Paulus Gerhardts Lied „Ist Gott für mich, so trete u. s. f.“. Kein Zorn des grossen Fürsten. Vorlesung am fuenfundzwanzigsten Stiftungsfeste der deutschen Gesellschaft in Berlin. Eine Antwort auf die Schrift „Paul Gerhardt und der grosse Churfürst“ von O. Schulz, Berlin 1841; Roth: Paul Gerhardt, 41 f.; Knipfer: Paul Gerhardt, 37. 16 „Ihr Menschen lasst euch lehren / Es wird sehr nützlich seyn! / Lasst euch doch nicht bethören / Die Welt mit ihrem Schein: / Verlasse sich ja keiner / Auff Fürsten Macht und Gunst / Weil sie/wie unser einer / Nichts seyn als nur ein Dunst“ (zitiert nach Ebeling, 246; das gesamte Lied befindet ich in Ebeling, 246 f.; CS, 312–314). 17 Vgl. Ebeling, 40 f.; CS, 211–213. Das Lied ist bereits vor 1648 entstanden. Mit dem ‚Tyrann‘ ist nicht der Kurfürst, sondern ‚Satan‘ bzw. das erfahrene Leid im 30jährigen Krieg gemeint. Zudem spricht Gerhardts Obrigkeitsgehorsam gegen eine Übertragung auf den Kurfürsten. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Gerhardt in seinen Dichtungen und somit öffentlich den Kurfürsten kritisiert hätte, wenn er dies noch nicht einmal in den Schriften des Kirchenstreits getan hat. So lassen sich in anderen Liedern Gerhardts Verse finden, in denen der Fürst positiv konnotiert wird. Beispielsweise bittet der Sin-
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Insgesamt ist ein eindeutig negativer Befund zu konstatieren. In keiner der infrage kommenden Dichtungen finden sich Hinweise oder Andeutungen Gerhardts auf den Kirchenstreit. Dabei ist jedoch zweierlei zu bedenken: Zum einen wird in vielen Dichtungen ein angestrebtes Verhalten deutlich, das auch Gerhardt während des Kirchenstreits, im Besonderen nach seiner Remotion, auszeichnete. Dies betrifft vor allem die Aufforderungen zur Demut und zum Vertrauen in Gottes Wirken.19 Zum anderen ist Gerhardt in seiner Dichtung selbstverständlich von der Theologie seiner Zeit abhängig. Schon seit Jahrhunderten betrifft eine in der Forschung strittige Dimension von Gerhardts Wirken die Frage, inwiefern sich seine kontroverstheologisch-polemischen Positionen im Konfessionskonflikt mit der Erbaulichkeit seiner Dichtungen verbinden lassen. Die Ursache dafür, dass bis heute der scheinbare Gegensatz von lutherisch-orthodoxer Theologie und erbaulicher Dichtung als ‚Rätsel‘ bezeichnet wird, liegt in der Annahme eines schroffen Gegensatzes zwischen tiefer Frömmigkeit und lutherisch-orthodoxer Lehre. Dabei haben sowohl die theologische als auch die literaturgeschichtliche Forschung bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts überzeugend aufzeigen können, dass Gerhardt nicht trotz lutherisch-orthodoxer Theologie derart tröstend gedichtet hat, sondern gerade deswegen. Reine Lehre und lebendige Frömmigkeit waren nicht nur bei Gerhardt eng miteinander verbunden. Verschiedene Forscher haben dargelegt, dass Gerhardts Dichtung dezidiert die zeittypische lutherische Theologie enthält und wesentlich von ihr abhängig ist.20 18
gende Gott in der neunten Strophe des Liedes „Zeuch ein zu meinen Thoren“: „Beschirm die Polizeyen / Baw unsrer Fürsten-Thron / Daß Sie und Wir gedeyen: / Schmück, als mit einer Cron / Die Alten mit Verstand: / Mit Frömmigkeit die Jugend / Mit Gottesfurcht und Tugend / Das Volk gantzen Land.“ (zitiert nach Ebeling, 189; das gesamte Lied befindet sich in Ebeling, 188 f.; CS, 211–214). Auch in der achten Strophe des Liedes „Befiehl du deine Wege“ wird der „Herr“ als „weiser Fürst“ (zitiert nach Ebeling, 83) bezeichnet. 18 Dort heißt es unter anderem in der zweiten Strophe „Du hast in harten Zeiten / Mier diese Gnad ertheilt / Daß meiner Feinde streiten / Mein Leben nicht ereylt / Wenn sie an hohen Orten / Mich/der ichs nicht gedacht / Mit bösen falschen Worten / Sehr übel angebracht.“ (zitiert nach Ebeling, 68; das gesamte Lied befindet ich in Ebeling, 268 f.; CS, 329–331). Wie aus den weiteren Strophen deutlich wird, ist Gerhardts Situation im Kirchenstreit nicht mit derjenigen des Lobenden in seiner Dichtung vergleichbar. ME. lassen sich alle Verse des Liedes mit einer Übertragung der Bilder aus der Vorlage Sirach 51 erklären. 19 Vgl. beispielsweise die Dichtungen „Ist Gott für mich / so trete“ (Ebeling, 38 f.; CS, 248–251); „Gedult ist euch von nöthen“ (Ebeling, 84 f.; CS, 270–273); „Wer unterm Schirm des Höchsten sitzt“ (bes. Strophe vier; Ebeling, 240 f.; CS, 268–270); „Gib dich zu frieden / und sey stille“ (bes. Strophe elf; Ebeling, 26 f.; CS, 277–281. 20 Vgl. unter anderem H.-G. Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 2 Konfessionalismus, Tübingen 1987, 279 f.; Axmacher: Gerhardt als lutherischer Theologe, 79; Dies.: Paul Gerhardt und die Tradition, in: Beutel / Böttler: „Unverzagt
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Gerhardts Lieder sind nicht undogmatisch, sondern zeigen eine enge Bindung an die Theologie der Bekenntnisschriften. Damit stellt sich die Frage, inwieweit Gerhardt in seinen Liedern theologisch polemisiert. Direkte Polemik lässt sich an keiner Stelle nachweisen. Darüber hinaus lässt sich schwer trennen, ob ein Lied antireformierte Tendenzen ausdrückt oder, ohne genau diese Intention zu verfolgen, einfach die lutherische bzw. konkordistische Theologie in Reimform enthält. Obwohl geistliche Dichtung in der Regel kein Ort konfessioneller Polemik war, behandelte Gerhardt selbstverständlich zwischen den Konfessionen strittige Lehren. Gerhardts Dichtungen waren nicht kontroverstheologisch oder polemisch ausgerichtet. Er dichtete hauptsächlich für das Volk, die ‚einfachen‘ Gemeindeglieder. Seine Lieder waren für die häusliche Erbauung und Belehrung, nicht aber für die gebildete theologische Auseinandersetzung gedacht. Wichtigstes Anliegen seiner Dichtung war die Förderung individueller Frömmigkeit. Er konzentrierte sich auf Trost im Leid, Erbauung, Ermunterung zum Glaubensmut gegenüber Anfechtungen, Mahnungen und Aufforderungen zur rettenden Buße. Der Angst vor Leid, Tod und Verdammnis stellte er Erlösung und ewiges Leben entgegen. Eigenverantwortliches Handeln war Gerhardt verdächtig. Er betonte die Unfreiheit des menschlichen Willens und forderte, das gesamte Leben getreu in Gottes Hand zu legen. Die tägliche Aufgabe des Christen sei das Lob Gottes von ganzem Herzen. Daher gestaltete Gerhardt seine Lieder bewusst als Bekenntnisakte. Eine Darstellung der lutherischen Abendmahlslehre und der Prädestinationslehre führte jedoch zwangsläufig zu Aussagen, die Reformierte nicht gutheißen konnten. Ist Gerhardt zwar keine direkte Polemik nachweisen, so doch zumindest die Behandlung besonders strittiger theologischer Lehre in Zeiten konfessioneller Auseinandersetzungen.21 Trotzdem wurden Gerhardts Lieder konfessionsübergreifend gesungen und geschätzt. Insofern ergibt sich das paradoxe Ergebnis, dass Gerhardt trotz seiner theologischen Position, Toleranzbemühungen abzulehnen, in seiner poetischen und frömmigkeitlichen Wirkungsgeschichte ein unionstheologischer Dichter geworden ist. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass sich auch in den wenigen erhaltenen Predigten Gerhardts keine Hinweise auf den Berliner Kirchenstreit finden.22 und ohne Grauen“, 95–108, bes. 95.107 f.; J. A. Steiger: „Geh’ aus mein Herz, und such Freud’“. Paul Gerhardts Sommerlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit (Naturkunde, Emblematik, Theologie), Berlin / New York 2007, 118 f. 21 Vgl. dazu die einzelnen aufschlussreichen Studien in Axmacher: Johann Arndt und Paul Gerhardt. 22 Es gibt lediglich vier überlieferte Leichenpredigten Gerhardts, die ausschließlich in SBB-PK Ee 1550 greifbar sind (vgl. dazu E. Axmacher: Die Kunst der Leichenpredigt.
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6.1.3 Das Verhalten der weiteren Geistlichen Der Berliner Propst Georg Lilius trat während des Kirchenstreits nur selten selbständig in Erscheinung. In den Quellen zeigt sich das Bild eines deutlich amtsmüden, doch nach wie vor auf den Fundamenten der lutherischen Lehre stehenden Theologen. Er trug zunächst alle im Konsens des Berliner Ministeriums getroffenen Entscheidungen mit. Während des Kolloquiums agierte er freundlich und zurückhaltend, verteidigte aber konsequent sein lutherisches Lehrverständnis. Oftmals entschuldigte er sich, dass er den Anforderungen des Präsidiums nicht nachkommen könne, da er bereits zu alt sei. Aus diesem Grund gab er später sein Sprecheramt an Reinhardt ab. Lilius hat wahrscheinlich während der letzten Phase des Kirchenstreits stark gelitten: zum einen unter seiner Entlassung infolge der Weigerung, den Revers zu unterschreiben, zum andern unter der Überlegung seiner langjährigen Pfarrkollegen, ihm künftig die Beichte und das Abendmahl zu verweigern. Elias Sigismund Reinhardt stellt eine der bedeutendsten Personen des Berliner Kirchenstreits dar. Bemerkenswert waren der Eifer und die Ernsthaftigkeit, mit der Reinhardt seine theologischen Positionen während des Kolloquiums zu verteidigen suchte. Die von Gerhardt immer wieder betonte Zusicherung, sich ein Leben lang an die lutherische Theologie halten zu wollen, wurde bei Reinhardt mit der Formulierung märtyrerhaft verstärkt, dass er sein Leben für Gottes Wort und die eigenen Überzeugungen zu lassen bereit sei. Reinhardt besaß die Fähigkeit, die vorher im Konsens verabschiedeten Voten der Berliner Lutheraner mündlich gelehrt darzulegen. Dies führte jedoch in der ihm eigenen Ausführlichkeit zu einer teilweise unnötigen Verlängerung der einzelnen Sessionen. Reinhardt argumentierte impulsiv und verteidigte engagiert und hartnäckig seine theologischen Standpunkte. Er vertat provokativ die These, aus der Bibel belegen zu können, dass der reformierte Glaube „in judicio Divino verdammet“ sei. Eine gewisse Arroganz und Überheblichkeit wird ihm nicht absprechen zu sein. Er zog zunehmend den Zorn des Hofes auf sich, der in Reinhardt einen Friedensstörer sah, welcher nur um seiner eigenen Ehre willen argumentiere. Der Konflikt, den Reinhardt mit von Schwerin führte, und seine Weigerung, mit einem hierarchisch niedriger gestellten Geistlichen zu verhandeln, gehörten zu den entscheidenden Gründen für den Abbruch des Kolloquiums. Reinhardt bekam als Nachfolger von Lilius im Sprecheramt die Folgen des erfolglosen Kolloquiums und die neue Linie in der kurfürstlichen ReligionsAnnäherungen an Paul Gerhardt als Prediger, Arbeitsstelle Gottesdienst 20 [2006], H.2 „Mein Sprachgesell“ Paul Gerhardt 1607–2007, 21–29). Darüber hinaus befinden sich die „Lectiones in Natality Christi“ bei Priebe: Handschrift.
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politik als Erster zu spüren, verlor er doch als Exempel für Gegner der kurfürstlichen Toleranzpolitik und ohne jegliche Chance auf eine Erklärung oder Zurücknahme seiner Position seine Pfarrstelle. Wie Gerhardt kämpfte Reinhardt nicht für sein Amt, zeigte er sich auch weiterhin treu ergeben gegenüber dem Kurfürsten und dessen Entscheidungen, sofern sie nicht den lutherischen Bekenntnisstand beeinflussten. Anders als Lilius verließ Reinhardt guten Gewissens Berlin und machte in Leipzig Karriere. Insofern ist seine Entlassung nicht als Bruch in seiner Biographie zu sehen, sondern als die nahezu notwendige Folge seines lutherischen Lehrverständnisses, seines Charakters und seiner hohen Gelehrsamkeit. Im Gegensatz zu den anderen lutherischen Pfarrern meldete sich Reinhardt nach seinem Weggang aus Berlin noch einmal im abklingenden Kirchenstreit zu Wort. Reinhardt erwies sich besonders bei der Auseinandersetzung um Andreas Fromms Konversion als harter lutherischer Polemiker. Samuel Lorentz pochte stärker als alle anderen Berliner Lutheraner auf die Bewahrung der FC. Brisant ist, dass Lorentz vor seiner Berufung nach Berlin Pfarrer in Alt-Landsberg war, einem Landstrich, der dem reformierten Oberpräsidenten von Schwerin gehörte. Lorentz hat für die Lutheraner bei den inoffiziellen Sessionen am 3. und 4. April 1662 das Protokoll geschrieben. In der wiederholt vorgebrachten Bitte um die Überreichung der Epicrisis zeigt sich, wie unselbständig die Berliner in der Abfassung von Antworten waren bzw. wie stark sie sich an andere Institutionen gebunden hatten. Lorentz verstand die Berliner stärker als alle anderen Kollokutoren als Opfer. Er stilisierte in seinen Voten die lutherischen Pfarrer zu Märtyrern und verglich deren Anfechtung mit Christi Leiden. Das Selbstverständnis der Berliner Pfarrer scheint bei ihm grotesk verzerrt und überhöht. Da anscheinend jedoch nicht alle Berliner Pfarrer in dieser extremen Form gedacht haben, wurden Lorentz’ Voten nur selten maßgebend für die Schriften der Berliner. Insgesamt aber ist Lorentz trotz seiner offiziellen Zurückhaltung während des Kolloquiums als mindestens ebenso harter und intransigenter Vertreter der lutherischen Orthodoxie wie Reinhardt anzusehen. Dies brachte er sprachlich noch entschiedener, aber unstrukturierter als Gerhardt zum Ausdruck. Martin Lubath war der wichtigste Chronist des Berliner Kirchenstreits. Ohne die von ihm gesammelten Briefe, Voten, Protokolle und Berichte wäre eine Rekonstruktion der Auseinandersetzungen nicht möglich. Auch Lubath war ein entschiedener Vertreter der lutherisch-orthodoxen Theologie Wittenbergs. Er war sich sicher, dass die Reformierten Schuld an der Trennung von den Lutheranern hätten, da sich diese nicht an die lutherische Lehre und somit an Gottes Wort halten würden. Wie die Auseinandersetzungen um seine Leichenpredigt für Johann Rösner und um die Verkündung des Zensurreskripts zeigten, scheute sich Lubath um seiner theologischen Ansichten willen nicht
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vor Konflikten mit der Obrigkeit. Während des Kolloquiums gehörte er zu den stillen Vertretern, die kaum in Erscheinung traten, hinter den Kulissen schrieb er jedoch die längsten Voten des Berliner Ministeriums. Zwar waren diese in der Regel formal nicht derart klar gegliedert wie Gerhardts Voten; sie waren inhaltlich für die letztendlich offiziell übergebenen Berliner Schriften selten prägend. Lubaths Voten waren jedoch ein Zeugnis für die Konsequenz, mit der die Lutheraner ihre Positionen zu verteidigen suchten. Er sorgte insofern für eine entscheidende Wendung im Berliner Kirchenstreit, als er gemeinsam mit Helwig die Bitte um Voten zu dem zweiten Toleranzedikt an die verschiedenen Minsterien und Fakultäten sandte. Das durch Lubath vermittelte Bild ist auch deswegen so aufschlussreich, da er es verstand, trotz des Festhaltens an konfessioneller Polemik die kurfürstlichen Gremien von seinem Obrigkeitsgehorsam zu überzeugen und er daher im Gegensatz zu allen anderen Berliner Pfarrern seine Pfarrstelle bis zu seinem Tod behalten konnte. Auch Andreas Helwig blieb seiner strengen lutherischen Grundhaltung treu. Er verstand die Reformierten als „adversariis“, bezeichnete die Auseinandersetzungen mit ihnen als „status confessionis“ und begründete damit die Notwendigkeit der polemischen Argumentation und rechtmäßigen Verteidigung des Exorzismus. Während der beiden inoffiziellen Sessionen am 3. und 4. April, an denen neben Helwig nur noch Lorentz von lutherischer Seite teilnahm, hatte sich Helwig vorsichtig kompromissbereit gegenüber den Reformierten gezeigt; dies stellte eine ansonsten für das Kolloquium untypische Haltung dar. Theologisch hatte Helwig jedoch keineswegs seine Meinung geändert, sondern stand nach wie vor fest auf der Basis seines lutherischen Verständnisses. In seinen Voten wiederholte er stets, dass es eines Kolloquiums gar nicht bedurft hätte, wenn die Reformierten und das Präsidium die lutherischen Bekenntnisschriften gelesen hätten, in denen sich bereits alle entscheidenden Antworten auf die zu behandelnden Fragen befinden würden. Helwig verfasste als Reaktion auf das zweite Toleranzedikt gemeinsam mit Lubath die Anfragen an die Fakultäten und Ministerien. Des Weiteren hielt er Martin Friedrich Seidel, dessen Beichtvater er war, zurück, den Beamtenrevers von 1668 zu unterschreiben; dies hatte zur Folge, dass Seidel seines Dienstes enthoben wurde. Helwig setzte sich in der dritten Phase des Kirchenstreits für Pfarrer ein, die durch den Kurfürsten der Störung des Kirchenfriedens beschuldigt wurden, und provozierte durch eine Predigt mit polemischen Inhalten den Hof. Helwigs Ruf eines konsequenten Widerständlers gegen die reformierte Religionspolitik des Kurfürsten führte letztendlich ähnlich wie bei Reinhardt zu einem Karrieresprung. Für die Berliner Lutheraner war eine mutua tolerantia nur dann möglich, wenn es in wichtigen Glaubensfragen keinen Dissens mehr gab. Eine völlige
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Lehrübereinstimmung war und ist jedoch nicht nur utopisch, sondern auch aus heutiger Sicht für eine Tolerierung anders Glaubender gar nicht notwendig. Im 17. Jahrhundert herrschte trotz der Konsolidierungsbemühungen durch die Bekenntniscorpora selbst innerhalb des Luthertums keine Lehrübereinstimmung. Den Berlinern ist daher vorzuwerfen, dass sie die Lehrübereinstimmung zur absoluten Voraussetzung einer mutua tolerantia machten und somit nicht zwischen theologisch möglicher und kirchen- bzw. innenpolitisch notwendiger Toleranz differenzierten. Für die Lutheraner war diese Differenzierung jedoch nicht einfach möglich, vor allem aber gar nicht nötig, denn schließlich waren sie quantitativ derart dominant und der lutherische Glaube so stark im Kurfürstentum verwurzelt, dass sie in der Behauptung ihres Glaubens nicht so dringend auf Kompromisse und Toleranz angewiesen wie die Reformierten. Das Schicksal von Andreas Fromm ist ein Beispiel dafür, dass die lutherische Geistlichkeit des 17. Jahrhunderts nicht als durchweg antiirenisch zu charakterisieren ist. Es gab auch Geistliche, die zwar kontroverstheologisch geschult und sich der konfessionellen Unterschiede bewusst waren, die aber trotzdem versuchten, ohne Polemik miteinander auszukommen, und die sich um eine Annäherung zwischen den Konfessionen bemühten. Fromms Haltung führte zu einem angespannten Verhältnis zu den lutherisch-orthodox geprägten Berliner Lutheranern, was für ihn persönliche Folgen zeitigte. Zunächst irenisch ausgerichtet, stieg er zum Konsistorialrat auf, gestaltete den kirchenpolitischen Kurs des Hofes mit und war überzeugt von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer „Kirchen-Tolerantz mit den Reformirten“. Innerhalb der dritten Phase des Berliner Kirchenstreits bekam Fromm jedoch Zweifel an den irenischen Motiven des Konsistoriums. Er kritisierte, dass sich die Reformierten „nicht offentlich vom Dordrechtischen Synodo und gleichlautenden Confessionibus“ distanziert hätten, und bekam den Eindruck, dass das Streben nach Toleranz auf Kosten der Lutheraner ging. Diese Einstellung führte zum Konflikt und schließlich zum Bruch mit dem kurfürstlichen Hof. Da Fromm sich jedoch auch nicht der strengen lutherischen Lehre Wittenbergs anschließen wollte, sondern sie lediglich als zwischenzeitlichen Schutzort benutzte, konvertierte er aus Gewissensgründen und der innerprotestantischen Auseinandersetzungen überdrüssig zum Katholizismus. Darin war er in aller theologischer und irenischer Inkonsequenz konsequent. Johann Buntebart blieb während des gesamten Berliner Kirchenstreits unauffällig. Wie aus den wenigen Quellen über ihn hervorgeht, vertrat er ähnlich wie Fromm eine grundsätzlich irenische Grundhaltung gegenüber den Reformierten. Da er ein hohes Ansehen hatte und die kurfürstlichen Maßnahmen nie öffentlich kritisierte, stieg er infolge des Kirchenstreits auf und wurde Propst.
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Christian Nicolai trat lediglich während des Kolloquiums in Erscheinung. Bedeutsam war sein Wandel von einem Lutheraner, der ähnlich wie seine Kollegen an der Cöllner St. Petri-Kirche den irenischen Absichten des Kurfürsten und der Zielvorstellung einer mutua tolerantia vorsichtig offen gegenüberstanden, hin zu einem die Bereitschaft zu jeglicher Verständigung mit den Reformierten ablehnenden Theologen, indem er sich den Berliner Lutheranern anschloss. Dies tat er jedoch erst, als der Cöllner Propst den Sessionen fernblieb. Nicolai wehrte sich gegen jegliche Einschränkung des lutherischen Glaubens, verhielt sich aber durchweg obrigkeitstreu und stieg wie Buntebart infolge des Kirchenstreits beruflich auf. In den Schriften der Cöllner wird deutlich, dass sie in vielen Punkten mit den Berliner Lutheranern einig waren. Die oft zu lesende Charakterisierung, die Cöllner Lutheraner seien im Gegensatz zu den Berlinern einverstanden mit einer Tolerierung der Reformierten gewesen, ist falsch. Die Cöllner waren trotz einer grundsätzlichen Offenheit für irenische Bemühungen nur dann zu einer mutua tolerantia bereit, wenn sich die Reformierten in einigen Punkten von ihrer bisherigen Haltung distanziert hätten; doch das lehnten die Reformierten ihrerseits ab. Eine Einigung auf Kosten theologischer Wahrheiten kam für die Cöllner ebenso wenig infrage wie für die Berliner; so waren es hauptsächlich persönliche Differenzen, welche die Beziehung zwischen den beiden Ministerien belasteten. Die reformierten Kollokutoren Kunsch von Breitenwalde, Vechner, Vorstius und Gierck verfolgten die irenischen Grundeinsichten des kurfürstlichen Hofs. Die Geistlichen traten während des Kirchenstreits nie gesondert auf, sondern immer nur gemeinsam mit den anderen reformierten Kollokutoren. Deren Sprecher war Bartholomäus Stosch. Er bestimmte als ranghöchster Theologe am kurfürstlichen Hof den Verlauf des Berliner Kirchenstreits entscheidend mit. Durch seine konfrontativen Äußerungen wurde er schnell zu einer streitbaren Persönlichkeit und zum Antipoden der Lutheraner. Irenische Bemühungen unterstützte Stosch nur dann, wenn er den reformierten Einfluss nicht bedroht sah. Den Anspruch, für die reformierte Konfession Gleichberechtigung im Verhältnis zu den Lutheranern zu erreichen, verband Stosch mit selbstbewusster Amtsautorität. Im Kontakt mit den Lutheranern mangelte es Stosch häufig an Fingerspitzengefühl. Ähnlich wie die Lutheraner war auch er davon überzeugt, dass die Geistlichen der anderen Konfession, also hier die Lutheraner, irrten und zur wahren Lehre bekehrt werden müssten. Stosch hatte von Beginn des Kirchenstreits an immer wieder auf die Durchführung eines Kolloquiums gedrängt. Trotz der Bereitschaft zur Recessierung von konsensual beschlossenen Lehrpunkten zeigten auch Stosch und mit ihm die weiteren Reformierten keine bemerkenswerten irenischen Ansätze. Auch bei den Reformierten fanden sich keine Beschwörungen auf protes-
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tantische Fundamente oder auf die gemeinsame Aufgabe eines ethisch-moralischen Wirkens. Stosch war in seiner konfessionellen Härte nicht minder streng als die Lutheraner. Als maßgeblicher Kompilator der Edikte von 1662 und 1664 war er wesentlich beteiligt an der Verschärfung der kurfürstlichen Toleranzpolitik. Stosch und den weiteren reformierten Theologen ist vorzuwerfen, dass sie ihre theologischen Ansichten während des Kirchenstreits nur selten deutlich machten. Die drei immer wieder zitierten Bekenntnisse waren in ihren theologischen Gehalten zu unterschiedlich, als dass sie eine eindeutige theologische Grundlage hätten bilden können. Auch Stoschs Publikation „Summarischer Bericht“ bot keine klaren theologischen Entscheidungen. Besonders die Anmerkung, die märkische Kirche dulde verschiedene Anschauungen in der Prädestinationslehre, mag bei den Lutheranern den Eindruck der Beliebigkeit erweckt haben. Kritisch anzumerken ist zudem, dass auch von den Reformierten keine irenischen Initiativen ausgingen. In ihrem Wunsch, vollständig anerkannt werden, schlossen sie sich lediglich den kurfürstlichen Maßnahmen an und unterstützten diese anscheinend aus reinem kirchenpolitischen Selbstzweck, nicht aber aus begründet dargelegter theologischer Einsicht.
6.1.4 Das Vorgehen des Kurfürsten und des Präsidiums Nicht minder vielfältig als die Bewertung Gerhardts ist diejenige des kurfürstlichen Verhaltens ausgefallen. Jahrzehntelang dominierte die Ansicht der borussischen Geschichtsschreibung, Friedrich Wilhelms Kirchenpolitik sei gutmütig und weitsichtig gewesen. Die neuere Forschung sieht die Toleranzbemühungen Friedrich Wilhelms kritischer: 23 Eine echte Toleranz habe dem Kurfürsten ferngelegen, seine Bemühungen und Duldung von Andersglaubenden seien nicht aus humanistischen Überzeugungen gewonnen, sondern resultierten aus Eigensinn, politischen Notwendigkeiten und vertraglichen Verpflichtungen. Der reformierte Glaube sei als Kraft in der Religionspolitik, der Verwaltung und der Außenpolitik etabliert worden, nicht jedoch als neue 23 Vgl. beispielsweise Thadden: Die Fortsetzung des >Reformationswerkes