Die Religion und die Rollen: Eine psychologische Untersuchung der Frömmigkeit 9783110843842, 9783110063127


266 112 15MB

German Pages 459 [460] Year 1966

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
1. Kapitel. WIE IST DIE RELIGIÖSE ERLEBNISWELT PSYCHOLOGISCH BETRACHTET ORGANISIERT
2. Kapitel. ROLLE UND LEHRE KONTUREN ZU EINEM WICHTIGEN PROBLEM
3. Kapitel. ÜBER DEN BEITRAG DER PSYCHOANALYSE ZUR RELIGIONSPSYCHOLOGIE
4. Kapitel. C. G. JUNGS BEITRAG ZUR RELIGIONSPSYCHOLOGIE
5. Kapitel. PERSÖNLICHKEIT UND SEELE
NACHWORT
REGISTER
Recommend Papers

Die Religion und die Rollen: Eine psychologische Untersuchung der Frömmigkeit
 9783110843842, 9783110063127

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

HJALMARSUNDfiN DIE R E L I G I O N U N D DIE ROLLEN

HJALMAR SUNDfiN

DIE RELIGION UND DIE ROLLEN Eine psychologische Untersuchung der Frömmigkeit

A L F R E D T Ö P E L M A N N / B E R L I N 30 1966

Vom Verfasser autorisierte Übersetzung der schwedischen Originalausgabe „Religionen och rollerna", inzwischen erschienen in 4. Auflage im Diakonistyrelsens Bokförlag, Stockholm.

© 1959 by H j a l m a r Sundin Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nidit gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanisdiem Wege (Phoiokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Archiv-Nr. 37 85 66 1 Satz und Druck: Thormann Sc Goetsdi, Berlin 44

VORWORT In diesem Buche habe ich versucht, bisher unbeachtete Bedingungen der religiösen Erfahrung aufzuzeigen. Ausgehend von der modernen Wahrnehmungspsychologie bringe ich deren Ergebnisse in Beziehung zu gewissen Gedankengängen der Sozialpsychologie. Vor allem arbeite ich mit dem sozialpsychologisdien Begriff „Rolle". Nach der Rollentheorie können Rollen nicht nur Spielmuster sein. Wird eine Rolle Spielmuster, so wird in demselben Augenblick eine andere Rolle ein Referenzrahmen, der dem Subjekt gewisse Wahrnehmungen ermöglicht. D a ζ. B. die Bibel ein Geschehen oder Ereignis niemals um seiner selbst willen berichtet, sondern die Dinge darin stets unter dem Gesichtspunkt des Handelns Gottes mit den Menschen betrachtet, tritt uns in der biblisdien Tradition die Rolle „Gott" entgegen. Die plötzliche Identifikation mit einer menschlidien Person in irgendeiner biblisdien Erzählung ist eine Rollenübernahme. Hier übernimmt der erlebende Mensch die Rolle; aber in demselben Augenblick, wo das geschieht, nimmt er die Rolle „Gott" auf. Die Situation ist dual, und das bedeutet, daß das ganze Erlebnisfeld des erlebenden Menschen so gestaltet wird, daß er sich dem anderen gegenüber versetzt findet. Jede Wahrnehmung kommt durch einen zentralen Bearbeitungsvorgang im Gehirn zustande. In diesem Vorgang erfolgt erstens eine Interpretation: die Impulse werden in ein Muster oder Schema aufgenommen, dann folgt eine Projektion, die das auf uns Einwirkende ergänzt und gestaltet. Ist das aktuelle Muster oder Schema, in das die Sinnenimpulse aufgenommen werden, eine Rolle, so wird der Erlebnisinhalt als Person oder als das Handeln einer Person gestaltet. Für die wahrnehmungsmäßige Seite des religiösen Erlebens hatte die ältere Religionspsychologie oft nur Begriffe wie Illusion und Halluzination übrig. Ich glaube, daß erst der Begriff Rolle eine psychologische Erklärung

VI

Vorwort

zuläßt, die den Anspruch des Gläubigen, mit einem lebendigen Gott zusammenzuleben, nicht auf etwas nur Gefühlsmäßiges reduziert, sondern den vollen erfahrungsmäßigen Charakter des religiösen Erlebens klarlegt. Von dieser Theorie ausgehend diskutiere ich die Beiträge S. Freuds und C. G. Jungs zur Religionspsychologie sowie andere moderne Beiträge zur psychologischen Untersuchung der Frömmigkeit. In den schwedischen Auflagen findet man ein einleitendes Kapitel, das über die bisherige Arbeit der Religionspsychologie berichtet, und ein Kapitel, in dem die Frage nach der Aneignung oder Verwerfung religiöser Traditionen behandelt wird. Aus praktischen Gründen konnten sie in der deutschen Auflage nicht mit aufgenommen werden. Eine erste Übersetzung ins Deutsche ist von Dr. Herman Müller besorgt worden. Frau Dr. Suzanne ö h m a n hatte die Liebenswürdigkeit, diese erste Version in mancher Hinsicht zu verbessern. Das N a menregister verdanke ich Herrn Bibliothekar Erik Eriksson. Den hier Genannten ebenso wie dem Verlag gebührt mein besonderer Dank für alle ihre Bemühungen. Hjalmar Sund0n

INHALTSVERZEICHNIS Seite

VORWORT

V 1. K a p i t e l

WIE IST DIE RELIGIÖSE ERLEBNISWELT PSYCHOLOGISCH BETRACHTET ORGANISIERT Einleitende Bemerkungen Wie ein Erlebnis zustande kommt Die Begriffe „Rolle" und „Rollenaneignung" Der Rollenbegriff in religionspsydiologischem Zusammenhang Rollenaufnahme im Traum Halluzinationen Einige Kriegserlebnisse Visionen bei alten Leuten Die Auditionen und Visionen der Heiligen Theresa sowie einige verwandte Erscheinungen Ramakrishna Paramahamsa Die Religionspsydiologie und „das Wirkliche" Normale katholische Frömmigkeit und die Marienoffenbarungen in unserer Zeit Die spontane Rollenannahme und die offizielle Religion „Volkshysterie" und Säkularisierung Gebet, Meditation, Kontemplation Abschließende Bemerkungen

1 1 3 7 10 32 34 50 55 57 77 85 111 129 134 158 190

2. K a p i t e l ROLLE U N D L E H R E — K O N T U R E N ZU EINEM W I C H T I G E N PROBLEM 196 3. K a p i t e l ÜBER D E N B E I T R A G DER P S Y C H O A N A L Y S E ZUR R E L I G I O N S PSYCHOLOGIE Freud und die Religion Verdrängung Die psychoanalytischen Standardgedanken über Religion Freuds Lehre vom Schuldgefühl — Deren Anwendung auf Luther . . Freuds Theorie über den Vatermord und Lars Levi Lcestadius Vater-Religion, Mutter-Religion, Selbst-Religion

236 236 242 247 251 262 277

VIII

Inhaltsverzeichnis Seite

4. K a p i t e l C. G. J U N G S BEITRAG ZUR RELIGIONSPSYCHOLOGIE Swedenborg Grundtvig Uber Projektion, Ritus und Dogma Jungs Beiträge zur Psychologie der Visionen Passio Perpetuae Schlußbemerkungen

295 299 306 316 323 326 330

5. K a p i t e l P E R S Ö N L I C H K E I T U N D SEELE Zur Frage einer religionspsychologischen Typologie Etwas über die Vereinbarkeit von „Glauben" und „Wissen" Uber die Auserwählung Das religiöse Sentiment Ein unreifes religiöses Sentiment Ein reifes religiöses Sentiment Die Bekehrung Die Psychologie der Höllenvorstellungen Uber die Jenseitsvorstellungen überhaupt Persönlichkeit und Seele

336 336 351 363 369 371 375 383 396 404 418

NACHWORT

435

REGISTER

438

1. Kapitel WIE IST DIE RELIGIÖSE ERLEBNISWELT PSYCHOLOGISCH BETRACHTET ORGANISIERT

Einleitende Bemerkungen Viele Menschen glauben, daß die Auslegung des Erlebbaren durch den Physiker die eigentliche Welt bedeute. Dem müßte man entgegenhalten, daß wir keine elektromagnetischen Wellen erleben, wenn wir Form oder Farbe sehen. Ebensowenig erleben wir die Molekülbewegungen, von denen die Physiker sprechen, wenn unsere Sinne Wärme, Kälte, Härte, Glätte oder Rauheit registrieren. Wir erleben nicht das, was nach Aussage der Physiker wirklich existiert, aber was wir erleben, erleben wir als wirklich und als unabhängig von uns existierend. 1 Um die Inhalte, von denen die Physiker sprechen, erleben zu können, muß man nicht unbeträchtliches theoretisches Wissen besitzen, sowie ein Laboratorium mit einer oft komplizierten Apparatur. Um religiöse Erlebnisse zu haben, muß ein Mensch sich eine religiöse Tradition angeeignet haben und oft auch eine rituelle Apparatur. Im ersteren Fall scheint man es natürlich zu finden, daß die Erlebnisse an gewisse Bedingungen gebunden sind, im letzteren hingegen betrachtet man die Bedingungen als etwas, das für den Wirklichkeitsdiarakter der Erlebnisse sozusagen ein Minus bedeutet. 2 Dies dürfte mit einer Anschauung zusammenhängen, die von vielen Menschen ohne nähere Überlegung geteilt wird: dem naiven Realismus. Der naive Realismus meint, daß der Mensch im Verhältnis zu 1

1

1

Vgl. E. Tranekjaer Rasmussen, Om erkendelsen som psykologisk fasnomen og om psykologien som erkendelse. Nordisk psykologi 5, 1953, S. 153 ff. und Helge Lundholm, The psychology of belief, Durham 1936 S. 42 f. Vgl. Werner Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik (Rowohlts Deutsche Enzyklopädie 8), Hamburg 1955, besonders was aus Principien der Mechanik von Heinridi Hertz und Matiere et lumifcre von Louis de Broglie zitiert wird. Vgl. W. James, The varieties of religious experience. Sunden, Religion und Rollen

2

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

dem „Äußeren" ein registrierendes Instrument sei, eine Art Photoapparat, der die Umwelt nur so aufnimmt, wie sie wirklich ist. Verhält es sich so? Die Resultate der Zeugenpsychologie haben uns etwas anderes gelehrt. Die Wahrnehmung mit Hilfe des Gesichtssinnes ζ. B. ist nicht ein photographisches Registrieren gegebener Gegenstände und Situationen; was man eine direkte Beobachtung zu nennen pflegt, kann das Produkt einer im höchsten Grade subjektiven Auslegung und Ergänzung sein. Es gab eine Zeit, da man annahm, daß jedem sog. Sinnesdatum ganz eindeutig auch eine bestimmte äußere Reizquelle entspreche und umgekehrt. Komplexe Erscheinungen entständen, meinte man, durch eine A r t Summierung von Sinnesdaten. Was aber bei einem Erlebnis aus einem Sinnesdatum entsteht und wie eine Reizquelle darin erscheint, hängt, wie wir sehen werden, ganz von der Einstellung oder Bereitschaft des erlebenden Menschen ab. Ein Beispiel möge dies deutlich machen. Der Kriminalpolizei in einer Küstenstadt Nordschwedens wird aus Finnland gemeldet, zwei gefährliche Verbrecher hätten ihren Weg über den Bosnischen Meerbusen genommen und operierten nun wahrscheinlich an der schwedischen Küste. Eine Fahndungsgruppe rückt aus. Man entdeckt, daß in ein Sommerhäuschen eingebrochen worden ist, und daß die Diebe dort ein paar Gewehre und Munition gestohlen haben. Ein Ruderboot in der Nähe ist ebenfalls verschwunden; dieses wird jedoch auf einer Insel gefunden. Wahrscheinlich sind also die Diebe auf der Insel. Die Fahndungsgruppe geht an Land und untersucht das Gelände. Der Befehlshaber schreitet das eine Ufer ab. Plötzlidi wirft er sich zu Boden und sucht hinter einem Stein Schutz. Er hat einen Mann gesehen, der ein Gewehr au} ihn geruhtet hat. Er wartet auf das Pfeifen der Kugeln, aber nichts geschieht. Da blickt er vorsichtig auf, ohne aber jemanden sehen zu können. Schließlich erhebt er sich und untersucht das Gelände genau. Außer Felsen und Steinen findet er nur eine Bierflasche, die mit der Öffnung auf ihn gerichtet daliegt. Vermutlich hat das Auge die runde Form der Öffnung registriert, und diese Form entsprach einem Bereitschaftsmoment das der Befehlshaber im Verlauf der Fahndung aufgebaut hatte: der Mündung des Gewehrs, auf das seine Erwartung sich konzentriert hatte. Zwischen einer Bierflasche und einem Mann mit Gewehr existiert offensichtlich nicht die Übereinstimmung von Erlebnis und Außenwelt, wie sie der naive Realismus voraussetzt. Das photographische Auge ist, um mit Herman F. Brandt zu sprechen, ein „Mythos". 8 Dieser Mythos hat seinen Grund in der falsdien Annahme, daß das 5

H. F. Brandt, Seendets psykologi, Stockholm 1951, S. 49.

Wie ein Erlebnis zustande kommt

3

Auge, wenn es sich um Bilder oder Gegenstände handelt, die ganze Oberfläche auf einmal erfassen oder sehen könne. Es tritt aber nur ein sehr kleiner Flächenausschnitt bei jeder Blickfixierung deutlich hervor, wobei sich die Dauer einer Fixierung auf 0,05 Sek. beschränken kann. Die Wirkung, die im Augenblick der Fixierung von der Netzhaut ausgeht, bringt einen Nervenprozeß in Gang, der direkt zum Gehirn führt. Was dort geschieht, hat den Charakter einer Deutung und Ergänzung, und das Resultat ist die fertige Wahrnehmung. Wir können uns zum Teil vorstellen, was bei einer Wahrnehmung im Gehirn geschieht. J. Z. Young hat versucht, dafür einige vorläufige Anhaltspunkte zu geben.4 Er berichtet u. a. über interessante Beobachtungen an Personen, die blind geboren wurden, aber durch Operationen ihr Sehvermögen erhielten. Diese Beobachtungen zeigen, meint er, „daß wir von anderen sehen lernen müssen". Er fährt fort: „Das visuelle Empfangssystem im Gehirn hat in seinem ungeübten Zustand eine sehr begrenzte Leistungsfähigkeit. Wir werden vielleicht von der Tatsache irregeführt, daß das Auge eine Art Kamera ist. Aber entgegen aller Vermutung registrieren Gehirn und Augen nicht auf einfache photographische Weise die Bilder, die an uns vorüberziehen. Das Gehirn ist keineswegs ein einfaches Registrierungsinstrument, wie ein Film. Die Erkenntnis dieser unserer Relativität gehört zum Revolutionierendsten in der Geschichte des modernen Denkens. Nur langsam fangen wir an, die Bedeutung dieser Erkenntnis zu fassen . . . Vieles in unserem Leben gründet sich auf die Annahme, daß unsere Sinnesorgane, unabhängig von uns, die Außenwelt exakt registrieren. Was wir jetzt einzusehen beginnen, ist, daß dies großenteils ein Illusion ist und daß wir lernen müssen, so die Welt zu sehen, wie wir es tun." 6

W i e ein Erlebnis zustande k o m m t Das Zustandekommen eines Erlebnisses setzt voraus, daß einer oder mehrere unserer Sinne gereizt werden und daß die dadurch hervorgerufenen Nervenprozesse in einer Weise gedeutet und ergänzt werden, die durch die ganze Reizsituation bedingt ist. Dazu gehört auch 4

J. Z. Young, Doubt and certainty in science, Sdiwed. Übersetz. Vad händer i hjärnan? Stockholm 1953. Vgl. audi Hubert Rohracher, Die Arbeitsweise des Gehirns und die psychischen Vorgänge, München 1953. « Young a.a.O. S. 90 f. 1»

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

4

die Bereitschaft des durch den Reiz beeinflußten Organismus, und diese ist es, die im Wesentlichen entscheidet, was im Bewußtsein des erlebenden Subjekts aus der Reizbeeinflussung entsteht. Um diesen Sachverhalt zu beschreiben, bedient man sich einer wechselnden Terminologie. Manchmal spricht man von der Einstellung" des Organismus anstatt von der „Bereitschaft", und zuweilen sagt man, die Einstellung gestalte ein Motivmuster, das eine Zeit lang alles einschließt und formt, was der, der die Einstellung hat, wahrnimmt, tut, fühlt und denkt. 7 Man kann auch von einem Referenzrahmen sprechen, a frame of reference.8 Um auf unser Beispiel zurückzukommen, so kann man sagen, daß der Polizeiwachtmeister während der Fahndung einen Referenzrahmen aufbaut, der sich allmählich ändert. Schließlich ist sein Organismus so eingestellt, daß alles, was mit der Vorstellung „bewaffneter Mann" in Verbindung gebracht werden kann, also ζ. B. die Flaschenöffnung, im Stande ist, diese Vorstellung in eine vollständige Wahrnehmung zu verwandeln, wobei das Blickfeld um den Fixierungspunkt, die Mündung, in Übereinstimmung mit den Erwartungen des Wahrnehmenden ergänzt wird. Zuerst wird das Fixierte gedeutet, dann ergänzt. 9 Jeder Korrekturleser weiß, welche unangenehmen Streiche diese Arbeitsweise des Wahrnehmungsapparates ihm spielen kann. Mit einem, bestimmten Referenzsystem in uns,10 fixieren wir ein * Vgl. Norman L. Munn, Psychology. The fundamentals of human adjustment, Cambridge, Mass. 1946, Kap.: Attending und Perceiving, S. 316, 332, 2. ed., Boston 1951, S. 385 und S. 400; auch Robert R. Blake und Glenn V. Ramsey, Perception. An approach to personality, N e w York 1951. 7 Theodore M. Newcomb, Social psychology, London 1952, S. 96—106. 8 Newcomb a.a.O. S. 94. • V g l . Ε. R. Jaensch, Eidetic imagery, London 1930, S. 129: „Detailed experimental investigations have shown us that all eidetic elements are easily fitted into the external world and, from the point of view of the observer, become a part of it, if they find 'points of contact' in the above mentioned sense, a frame they can fill or a sketch they can complete." Er verweist seinen Leser auf Η. Bambergers Studie Über den Aufbau des Bewußtseins, Leipzig 1930. Zeitschrift für Psychologie. Erg. Bd 16. Sehr kritisch gegen Jaensch M. Krudewig, Die Lehren von der visuellen Wahrnehmung und Vorstellung bei Erich Rudolf Jaensch und seinen Schülern, Meisenheim/Glan 1953. 10

Vgl. Pierre Debongnie, Essai critique sur l'histoire des stigmatisations au moyen age, Etudes Carn^litaines 21, 2, 1936, S. 36 f. Ciaire de Montefalco hatte alle Szenen des Passionsdramas innerlich erlebt. Als nach

Wie ein Erlebnis zustande kommt

5

paar Buchstaben in einem Wort, deuten sie und ergänzen sie so schnell, daß wir das Wort korrekt geschrieben sehen, auch wenn mehrere Buchstaben falsch sind. Nehmen wir an, der Polizist hätte, anstatt nach einem bewaffneten Verbrecher zu fahnden, nach einem geeigneten Gegenstand für seine Schießübungen gesucht. Dann wäre das Motivmuster ganz anders gewesen, die Öffnung der Flasche hätte keine so große Rolle gespielt, der Blick wäre weiter gegangen, und er hätte die Flasche mit ganz anderen Augen betrachtet als in dem hier berichteten Falle. Der Zweck, das Motivmuster, die Bereitschaft, die Einstellung, das aktuelle Referenzsystem bezw. der Referenzrahmen sind also von entscheidender Bedeutung für den Inhalt einer Wahrnehmung. Wahrnehmung bedeutet aber auch Beginn von Aktivität. 11 Wenn wir sagen, der Polizeiwachtmeister habe sich einen bewaffneten Gegner vorgestellt, liegt der Gedanke nahe, er habe sich ein „Bild" von diesem gemacht, das nur sein inneres Auge schauen konnte. Es ist aber wohl eher so, daß er vielleicht die Muskeln, Sehnen usw. des eigenen Organismus so einstellt, als wäre er „der Andere", worauf er sie zu einer entsprechenden Antwort auf die Bewegungen „des Anderen" umstellte. Er hat die Rolle „des Anderen" aufgenommen, hat sie zur Probe gegen sich selbst gespielt und sie beantwortet, während er durch das Gelände schritt, bis dann das Registrieren der runden Form plötzlich die Projizierung „des Anderen" nach außen veranlaßt. Dieser hört dann auf, eine Vorstellung zu sein, er wird der Inhalt einer Wahrnehmung, „der Mann mit dem Gewehr", und gegen diesen spielt nun der Polizeiwachtmeister seine Rolle, d. h. er nimmt Deckung."

11

12

ihrem Tode 1308 eine Nonne das Herz der Ciaire de Montefalco öffnete, entdeckte sie ein Kruzifix aus Geweben und Nerven geformt, eine Geißel, den Pfeiler, die Lanze, das Rohr, das den Schwamm mit Essigwein enthielt, die Dornenkrone, kurz alles was in der Passionsgeschichte vorkommt aus Nerven und Geweben geformt. Moderne Wahrnehmungsexperimente bekräftigen, daß die Nonne wirklich erlebt haben dürfte, was sie erzählt. Vgl. M. D. Vernon, Visual perception, Cambridge 1937, Kap.: Steps in the perceptual process S. 10: „The meaning when fully unterstood includes a knowledge of how to deal with this particular perceptual situation". „The perceptual process when complete includes some form of response tendency." „Perception — is a form of behavior in which objects are ,sized up' in preparation for ohter forms of behavior." Newcomb a.a.O. S. 94. Vgl. Raoul Mourgue, Neurobiologie de l'hallucination. Essai sur une vari£t£ particuli^re de d£sint£gration de la fonction, Bruxelles 1932, S. 112:

6

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Wie unser Beispiel zeigt, ist Wahrnehmung kein passives Registrieren. Sie ist Aktivität, Deutung und Feststellung eines Sinnes, der auch das Wissen umfaßt, wie man mit dem Erlebten fertig werden soll. Die vollständige Wahrnehmung birgt eine Reaktionstendenz in sich. Ein Wahrnehmungsinhalt muß, um als wirklich angesehen zu werden, von anderen Wahrnehmungsinhalten, zu deren Erwartung jener berechtigt, bestätigt werden. Bleibt die Bestätigung aus, wird unser Mißtrauen geweckt, und wir werden das Erlebnis als eine Illusion abtun. Das ist der Fall sowohl bei profanen wie audi bei religiösen Erlebnissen, worauf wir im folgenden näher eingehen werden. Wir stellen also fest, daß die Funktionsweise des Wahrnehmungsapparates eine gewisse Freiheit in der Ausgestaltung der Erlebnisinhalte erlaubt, eine Freiheit, mit der die meisten Menschen nicht rechnen. Die einfache, eindeutige Welt ist eine Fiktion, es gibt viele Erlebnismöglichkeiten. Wie das Erlebbare erlebt wird, das hängt von der Einstellung des Menschen, von den Referenzrahmen (oder Referenzsystemen) ab, deren er sich gelegentlich oder konstant bedient. „Was in unser Bewußtsein tritt, ist immer Erlebnis und Deutung zugleich."1® Wir haben im vorigen Abschnitt versucht, einige Ergebnisse von Untersuchungen über das Wesen der Wahrnehmung zusammenzustellen, die man kennen muß, will man verstehen, wie religiöse Erlebnisse, psychologisch gesehen, zustande kommen. Ein anderes Gebiet, mit dem man sich vertraut machen muß, um religiöse Erlebnisse psychologisch verstehen zu können, sind die Untersuchungen der Sozialpsychologie über „Rollen" und „Rollenaufnahme". 14 Dazu zunächst ein Beispiel. Ein Kind spielt Kaufladen mit sich selbst. Das eine Mal ist es Ver-

ls

14

„L'ext£riorit£ de la perception ne peut se comprendre sans l'hypothfese d'une proprioceptivite tantöt musculaire, tantot purement nerveuse ä un certain niveau. On peut dire que sans le muscle, non seulement nous n'aurions aucun moyen d'agir sur le monde extdrieur, ce qui est Evident, mais encore nous n'aurions aucune connaissance, aussi bien th^orique que pratique de ce dernier." — Dasselbe gilt von Halluzinationen: „ . . . c'est la motriciti qui est le substratum de l'objectivit£ des images hallucinatoires" (ibid.). Harald Höffding, Oplevelse og Tydning. Religionsfilosofiske Studier, Kebenhavn 1918, S. 9 und Villiam Gronbask, Det religiöse i Alderdommen. En empirisk religionspsykologisk Studie, Kobenhavn 1954, S. 109. Vgl. Kimball Young, Handbook of social psychology, London 1946, Kap. 7: The rise of the self. Anne-Marie Rocheblare-Spenle, La notion de R61e en Psychologie Sociale, Paris 1962.

Die Begriffe „Rolle" und „Rollenaneignung"

7

käufer, im nächsten Augenblick ist es Kunde und kann dann wieder Verkäufer sein. Weil das Kind sich selbst spredien hört, kann es auf seine eigenen Worte reagieren. Die Reaktion kann darin bestehen, daß es noch mehr Worte spridit, auf die es dann wiederum reagiert. Hierzu kommen Gesten mancher Art.15 Wie aus dem Beispiel hervorgeht, kann ein Kind also eine Rolle gegen sich selbst spielen, es kann teils es selbst sein, teils ein anderer, dessen Rolle es aus der Umgebung übernommen hat, wo es das Verhalten des Betreffenden beobachten konnte. Als Polizist kann ein Kind sogar sich selbst verhaften, als Reisender übergibt es seine Fahrkarte sich selbst als dem Schaffner usw. Das Verhalten des Kindes im Spiel und besonders sein Einfühlungsvermögen ist beim Studium von bestimmten Formen der Besessenheit beachtet worden; dagegen hat man die Begriffe „Rolle" und „Rollenaneignung" in religionspsychologischem Zusammenhang bisher nicht verwendet. Wir nehmen sie hier auf, da sie von großer Bedeutung für das Verständnis und die Beschreibung religiöser Erlebnisse überhaupt sein dürften.1*

Die Begriffe „Rolle" und „Rollenaneignung" In der Sozialpsychologie wird der Fachausdruck „Rolle" gebraudit, um „die Totalsumme der Kulturmuster zu bezeichnen, die mit einem bestimmten Status verbunden sind". Eine Rolle, heißt es in Ralph Lintons Untersuchung Persönlichkeit und Kultur, umfaßt die Haltungen, Werte und Verhaltensweisen, welche die Gesellschaft allen Personen zulegt, die einen gewissen Status besitzen. „Dem Individuum werden auf Grund von Alter und Geschlecht, Geburt oder Heirat verschiedene Statustypen innerhalb einer bestimmten Familieneinheit usw. zuerteilt. Seine Rollen lernt der Mensch auf Grundlage der Statustypen, die er besitzt oder von denen man erwartet, daß er sie erhalten wird. Insofern die Rolle ein Verhalten nach außen repräsentiert, zeigt sie die dynamische Seite eines Status: sie repräsentiert, was das Individuum zu tun hat, um den Besitz eines bestimmten Status sicherzustellen. Viele Individuen können gleichzeitig ein und denselben Status in einem sozialen System haben, sie können die dazu 15 16

Newcomb a.a.O. S. 307. Ich verweise auf den Prologue in Simone Weils La connaissance surnaturelle, Paris 1950. Hier betrachtet sich Simone Weil momentan sozusagen mit Christi Augen und spielt die Christusrolle gegen sidi selbst.

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

8

gehörende Rolle und spielen sie. Dies ist tatsächlich das Normale. So umfaßt jede Gesellschaft normalerweise eine Menge von Personen, die den Status des erwachsenen Mannes haben und die Rolle des erwachsenen Mannes spielen. Ebenfalls gibt es dort eine Anzahl von Personen, die in den Familienorganisationen, denen sie angehören, den Status des Vaters bekleiden. Und umgekehrt hat dieselbe Person gleichzeitig eine Reihe von verschiedenen Status, von denen jeder einzelne von einem der Organisationssysteme herrührt, an denen sie teilhat. Man besitzt nicht nur diese verschiedenen Statustypen, sondern man kann auch die dazu gehörenden Rollen. Aber man kann niemals alle diese Rollen gleichzeitig spielen. Solche Rollen stellen ein konstantes Element unserer Teilnahme an der inneren Kultur der Gesellschaft dar, haben aber eine entgegengesetzte Funktion bei der Teilnahme an der äußeren Kultur. Das Individuum bekleidet also stets mehrere Status und kann deren Rollen, kann aber immer nur von je einem Status her seine Rolle spielen. Der Status, von dem aus ein Individuum auftritt, ist sein aktiver Status zu dem betreffenden Zeitpunkt. Seine übrigen Status sind dann latente Status. Die Rollen, die zu solchen latenten Statustypen gehören, können dann vorübergehend danieder liegen, sind aber doch integrierende Teile der kulturellen Ausrüstung des Individuums." 17 Eine wichtige Voraussetzung für das Zusammenleben mit anderen Mensdien liegt darin, daß wir uns schon als Kinder im Spiel die Rollen aneignen, auf die wir in unserer Umgebung stoßen, und sie dann mit uns selber spielen. Dadurch wird es uns später im Leben möglich, vorwegzunehmen, wie andere, ζ. B. Fachleute verschiedener Art, sich uns gegenüber benehmen werden, wodurch unsere Anpassung erleichtert wird. Das, was ich mein Ich nenne, besteht zu einem nicht geringen Teil aus solchen Rollen.18 Die Voraussetzung für die Rollenaneignung überhaupt scheint eine frühzeitig eintretende Identifikation zwischen Kind und Mutter zu sein; die Aneignung der Mutterrolle durch das Kind ist die Voraussetzung für die Aneignung aller anderen Rollen. Wenn ein Kind lernt, die Sprache zu beherrschen, kommt ein neues Moment hinzu. 17

m 18

Vgl. Ralph Linton, The study of man, New York 1936, S. 113 ff. und Theodore R. Sarbin, Role theory in Handbook of social psychology. Ed. by Gardner Lindzey. 1. Cambridge, Mass. 1954. R. Linton, Personlighet odi kultur, Stockholm 1951, S. 77 f. Kimball Young a.a.O. Kap. 7: The rise of the self.

Die Begriffe „Rolle" und „Rollenaneignung"

9

H. J . Mead hat die Tatsache hervorgehoben, daß die Sprache im Unterschied zu anderen Gesten von dem Sprechenden ungefähr auf dieselbe Weise erlebt wird wie von dem Angesprochenen. „A person who is speaking to another is also, so to speak, informing himself as to what the other is hearing. Thus he is able, in Mead's memorable phrase to ,take the role of other' — i. e. to put himself sufficiently in the other's place to anticipate how the other will respond."1* Wer die Rolle „des Anderen" aufnimmt, erlebt sich selbst offenbar als Objekt und sein eigenes Verhalten wie wenn er ein anderer wäre. Die Aneignung der Sprache hat eine Dualitätssituation zur Folge. Die Sprachfunktion ermöglicht es dem Kinde, antizipierend auf seine eigenen Worte zu antworten, d. h. in die Rolle eines anderen überzugehen. Damit wäre die wichtigste Voraussetzung gegeben, das Verhalten anderer vorwegzunehmen. Mit dem oben Gesagten ist der Begriff Rollenaneignung vorläufig bestimmt: „take the role of the other" bedeutet also „to put oneself sufficiently in the other's place to anticipate how the other will respond."20 Man kann die Rollenaneignung auch so definieren: sie ist in ihrer allgemeinsten Form ein Prozeß, in dessen Verlauf man das Verhalten eines anderen betrachtet und vorwegnimmt, und zwar im Kontext einer Rolle, die diesem anderen zuerkannt wird. Es handelt sich hierbei also immer um mehr als um eine bloße Reaktion auf das Verhalten eines anderen.21 Im folgenden werden wir uns nicht immer mit dem Terminus „Rollenaneignung" begnügen können; wenn nötig, werden wir zwei Arten von Rollenaneignung unterscheiden: „Rollenübernahme", d. h. die Aneignung der jeweiligen Rolle, die der „Status" einem Menschen auferlegt, und „Rollenaufnahme", d. h. die Rollenaneignung, die wir eben beschrieben haben, die einem Menschen ermöglicht, das Verhalten des anderen zu antizipieren. Wie aus dem Obigen hervorgeht, muß man zwischen Sinnesreizen und den bewußten Erlebnisinhalten mit gewissen Referenzrahmen rechnen, von denen vielleicht einige angeboren sind, die meisten aber erworben. Unter den erworbenen Referenzrahmen sind indessen die Rollen mit die allerwichtigsten. 10 20

21

Newcomb a.a.O. S. 307. Ralph H . Turner, Role-taking, role standpoint and reference-group behavior. American Journal of Sociology 61, 1956, S. 316 if. Newcomb a.a.O. S. 330.

10

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Man kann eine Rolle ohne weiteres einen Referenzrahmen nennen, weil eine Rolle sich auf ein erwartetes Verhalten oder „appropriate behavior" bezieht. Man unterscheidet zwischen der Rolle und der Art und Weise, wie die Rolle in einer bestimmten Situation wirklich gespielt oder ausgeführt wird, was man „Rollenverhalten" oder „roleperformance" nennt. Die Rollen sind also nicht bloß „Spielmuster", sondern können auch gleichzeitig Refer enzrahmen für Wahrnehmungen sein. „Both one's self and other people are necessarily perceived within the frame of reference provided by the rolesystem of one's society. " M

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang Die kulturelle Ausrüstung eines Menschen besteht zum großen Teil aus Rollen, die er von seiner Umgebung übernommen hat." Dazu gehört auch seine Beteiligung an der religiösen Tradition der Gesellschaft, und diese ihrerseits dürfte im wesentlichen aus Rollen im psychologischen Sinn bestehen. Die Tradition handelt ja von Menschen und Göttern und wie sie mit einander verkehren. Zu sagen, daß sie aus Rollen besteht, ist also nur die technische Formulierung einer wohlbekannten Sache. Es ist aber keine unwichtige Formulierung. Bedenkt man nämlich, wieviel in unserer psychischen Aktivität Rollenspiel und Rollenaufnahme sein dürfte, 84 und daß die vorher skizzierte Eigenart des Wahrnehmungsprozesses eine Modifizierung irgendwelcher peripheren Nervenprozesse gestattet, so daß sie sich sinnvoll einem Motivmuster einfügen, dann muß das Erlebnis eines Gottes oder eines Geistes rein funktionell gesehen mindestens ebenso natürlich sein wie das Erlebnis von „Dingen", vorausgesetzt, daß Götter und Geister psychologisch gesehen wirklich Rollen sind und daß diese 22

28 24

Theodore M. Newcomb, Role behaviors in the study of individual personality and of groups in The study of personality. A book of readings, New York 1954, S. 331—345, zitiert nach S. 335. Vgl. Walter Coutu, Role-playing vs. role-taking. American Sociological Review 16, April 1951, S. 180—187. Vgl. Newcomb, Social psychology. Role behavior and the self S. 298—334. Walter Coutu a.a.O. Coutu unterscheidet zwischen „the imaginative construction of the other's role (role-taking)", „the overt enactment of what one conceives to be one's own appropriate role in a given situation (roleplaying)" und „the overt enactment of a role as a form of pretence ('playing at' a role)". Vgl. Turner, a.a.O. S. 317.

Der Rollenbegriff in religionspsydiologischem Zusammenhang

11

für die Gruppe, in welcher ein Mensch lebt, aktuell sind. Alles, was Linton über die sozialen Rollen gesagt hat, ließe sidi dann auch auf die religiösen Rollen anwenden. Wir müssen nun untersuchen, in welchem Umfang der Inhalt von religiösen Traditionen aus Rollen besteht und inwieweit das religiöse Leben eine Rollenaufnahme bedeutet. Am klarsten sehen wir das vielleicht in jenen menschlichen Gemeinwesen, wo die religiösen Traditionen nicht schriftlich fixiert vorliegen, wo uns die Rollen greifbar in den Gebräuchen der Geheimbünde begegnen: in den Initiationsriten und Maskentänzen. Die Tanzmaske ist ja eine Art von fixierter Rolle, aber sie ist, um mit Eugen Hildebrand zu sprechen, auch zugleich der Geist: „Die Maske, sei es eine Körper- oder Kopfmaske, ist der Geist."25 Dämonen, Geister und Götter sind nicht bloß in Holz, Stein oder anderem Stoff materialisiert worden, sondern vielleicht vor allem in Tanz und Drama, wo Menschen deren Rollen spielen.24 Man kann geradezu sagen, daß die älteste Religion eine getanzte Religion gewesen ist.27 In diesem Zusammenhang muß beachtet werden, was Ruth Benedict über die Pueblo-Indianer berichtet hat. Wir beschränken uns hier auf ein Zitat: „Die tanzenden Götter sind frohe und kameradschaftliche übernatürliche Wesen, die auf dem Grund eines Sees weit weg in einer unbewohnten Wüste südlich von Zuni leben. Dort tanzen sie immer. Aber am liebsten kommen sie nach Zuni zurück, um zu tanzen. Die größte Freude, die man ihnen machen kann, ist daher, sie zu personifizieren. Wenn ein Mann sich die Maske des Gottes aufsetzt, wird er vorübergehend in den Ubernatürlichen selbst verwandelt. — Das Pantheon von Zuni kennt mehr als hundert verschiedene maskierte Götter. Jeder dieser Götter hat individuelle Einzelheiten in seiner Tracht, eine individuelle Maske Mythen, die 25 26

27

Die Geheimbünde Westafrikas, Leipzig 1937, S. 163. W. Ο. E. Oesterley, The sacred dance, Cambridge 1923. Loomis Havemeyer, The drama of savage peoples, New Haven 1916. Jean Nogue, Pas et figures dans la danse grecque antique, Bulletin de correspondance helliinique 61, 1937, S. 80. Vgl. Hj. Sunden, La th^orie bergsonienne S. 109 bis 119. Richard Thurnwald, Psychologie des primitiven Mensdien. Handbuch der vergleichenden Psychologie, herausg. von G. Kafka. I Abt. 2., München 1922, S. 214.

12

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

sein Tun und Lassen beschreiben, und Zeremonien, an denen er teilnehmen sollte." M Aber die Rollenübernahme aus der religiösen oder mythischen Tradition geschieht nicht bloß bei Festen. Sie kann audi das Alltagsleben eines Volkes gestalten, sofern es sich um Besdiluß und Handlung handelt. In einer Untersuchung über das Wesen des Mythos gibt Karl Kerinyi gute Beispiele hierfür,2* u . a . folgendes: Sir George Grey, der berühmte Herausgeber von Polynesian mythology and ancient traditional history of the New Zeeland race, London 1855, war von der britischen Regierung als Gouverneur nach Neuseeland geschickt worden. „Ich fand", sagt er von den vielen Häuptlingen, mit denen er in diplomatische Verbindung trat, „daß sie zur Erklärung für ihre Ansichten und Absichten in Wort und Schrift Bruchstücke alter Dichtwerke und Sprichwörter zitierten oder Anspielungen machten, die sich auf ein altes mythologisches System bezogen, und da die wichtigsten Teile ihrer Mitteilungen auf diese Weise ausgedrückt wurden, konnten die Dolmetscher selten oder nie übersetzen, was die Häuptlinge mit ihren Gedichten oder Anspielungen sagen wollten." Der Gouverneur mußte sich deshalb selbst hinsetzen und polynesische Mythologie studieren, um besser zu verstehen, was die Häuptlinge meinten. In dem Leben der Polynesier war der Mythos, um unsere Terminologie anzuwenden, ein Referenzsystem, das die Inhalte der Wahrnehmungen bestimmte und die damit zusammenhängende Aktivität formte. Was die Polynesier aus den Mythen aufnahmen, waren im Wesentlichen Rollen; erst nachdem sie in der Tradition die entsprechende Rolle gefunden hatten, gingen sie an die Aufgabe oder das Problem heran, das die Gegenwart stellte. Die Frage ist, ob sich nicht alle Menschen, deren Leben wesentlich von einer religiösen Tradition bestimmt wird, auf ähnliche Weise verhalten. Mythen und Riten versehen, wie Clyde Kluckhohn sagt, die Individuen mit „einem kulturellen Speicher von Anpassungsreaktionen." 30 28

19

30

Ruth Benedict, Kulturmönster. Livsstilar och sedvänjor, Stockholm 1949, S. 75. Vgl. Karl Kerenyi, Die antike Religion. Ein Entwurf von Grundlinien. Neue verb. Aufl. Düsseldorf & Köln 1952, S. 26 f. Clyde Kluckhohn, Myths and rituals. A general theory. The Harvard Theological Review 35, 1942, S. 45—79.

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang

13

Wenn die religiöse Tradition schriftlich fixiert ist, enthält sie eine Anzahl Erzählungen über Situationen, 31 wo der Mensch im Verhältnis zu dem Gott oder den Göttern einen bestimmten Status besitzt, zu dem eine bestimmte Rolle gehört. Alle, die diese Tradition kennen, können sich mit einem dieser Menschen identifizieren, und die Identifikation hat dann zur Folge, daß sie auch die Rolle des Gottes aufnehmen.82 In sozialpsychologischem Sprachgebrauch bedeutet „Identifikation", daß man Handlungen, Tonfall, Gebärden eines anderen Menschen übernimmt und sie auf längere oder kürzere Zeit zu seinen eigenen macht. Längerer Umgang mit einem anderen Menschen kann zu einer solchen Identifikation führen: Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern, Untergebene mit Vorgesetzten, und als ein besonders erstaunliches Beispiel solcher Identifikation kann die Tatsache genannt werden, daß Menschen in Konzentrationslagern nadi längerer Gefangenschaft sich mit ihren Aufsehern identifizieren und deren Normen und Wertungen übernahmen. Sie versuchten, wie die Aufseher auszusehen, ja sie praktizierten sogar selbst die Foltermethoden der Aufseher an ihren Kameraden.®3 Daß der Kontakt mit einer literarischen Tradition zu ebenso eigentümlichen Identifikationen führen kann, dafür hat uns Maxim Gorki ausgezeichnete Beispiele gegeben in seiner kleinen Schrift Lenine et le paysan russe.34, Gorki stellt fest, daß die Bauern während des Bürgerkrieges zur Zeit der russischen Revolution gefangene Offiziere mit den Methoden folterten, die sie aus den Märtyrer- und Heiligenlegenden der orthodoxen Kirche kannten. Hatten sie sich früher mit den Märtyrern identifiziert, so zeigte es sich jetzt bei der Revolution, daß sie sich offenbar, wenn audi vielleicht unbewußt, ebenso mit deren Henkern identifizierten. Diese letzten Beispiele sind extreme Formen einer durchaus üblichen psychologischen Erscheinung. Schon die Kenntnis einer Erzählung und ihre Wiedergabe bedeuten eine gewisse Identifikation mit den darin vorkommenden Personen,35 31 32 33

34 35

Die Überlieferung kann auch eine Auslegung dieser Elemente enthalten. Vgl. Turner a.a.O. Vgl. B. Bettelheim, Individual and mass behavior in extreme situations. The Journal of Abnormal and Social Psychology 38, 1943, S. 417—452. Paris 1925, S. 130. Anathon Aall, Zur Psychologie der Wiedererzählung. Eine experimentelle Untersuchung. Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische

14

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

und bei den Erzählungen der religiösen Tradition ist es in der Regel ein starkes Bedürfnis nach Geborgenheit oder eine komplizierte Bedarfssituation, die den Menschen zur Identifikation mit einer von den Personen treibt, die bereits die mächtigen Helfer in der Stunde der Not gefunden haben, oder mit dem Schicksalsherren selbst. Sich mit einer Person in der religiösen Tradition zu identifizieren, bedeutet auch, die Rolle des Gottes aufzunehmen; dies aber bedeutet die Möglichkeit, im Anschluß an den Kontext vorwegzunehmen, wie sich der Gott in einer gewissen Situation verhalten wird. Eine Identifikation mit einer menschlichen Person in der religiösen Tradition oder Übernahme deren Rolle bedeutet also erstens eine Handlungsbereitschaft und zweitens eine WahrnehmungsbereitschaftIm allgemeinen hat man in religionspsychologisdiem Zusammenhang nur den ersten Punkt beaditet und hat sich durch Außerachtlassen des zweiten Punktes der Möglichkeit beraubt, religiöse Erfahrung eben als Erfahrung zu verstehen. Dieser Aspekt ist aber, wie wir sehen werden, besonders wichtig. Wir wollen im folgenden einige Beispiele der Rollenaneignung analysieren. Das erste wählen wir aus dem England des i7. Jahrhunderts. „Niemals hat es wohl ein Volk von so eifrigen Bibellesern gegeben wie das englische in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts." Der anschauliche Kommentar, den Emilia Fogelklou zu dem zitierten Satz gibt,87 zeigt uns Menschen, die in ebenso hohem Grade wie die eben erwähnten Polynesier ihr Leben vom Mythos in Wort und Handlung bestimmen lassen, in diesem Fall von dem biblischen. Die vom religionspsychologisdien Gesichtspunkt aus interessanteste Gestalt in England in den unruhigen Jahren zwischen der Hinrichtung Karls I. und der Machtübernahme Karls II. (1649—1660) dürfte wohl James Nayler sein. Im Leben dieses Menschen können wir das Phänomen der Aneignung der Rollen aus der religiösen Tradition mit beinahe paradigmatischer Deutlichkeit studieren. Die Bedürfnisse und die komplizierten Bedarfssituationen, die bei Nayler die Identifikationen herbeiführen, können wir hier nicht aus-

36 37

Sammelforsdiung 7, 1913, S. 135—210, besonders Abschnitt 4. § 4 : Die Aussage und das Gesetz der persönlichen Identifizierung. Vgl. das Beispiel S. 29. Emilia Fogelklou, Kväkaren James Naylor. E n sällsam gestalt i religionens historia, Stockholm 1929, S. 19 ff. Vgl. Em. Linderholm, Pingströrelsen. Dess förutsättningar odi uppkomst, Stockholm 1924, S. 121 f.

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang

15

führlidi beschreiben; Emilia Fogelklous Monographie mag die Darstellung ergänzen. Was uns in diesem Zusammenhang interessiert, sind die „Rollen". Termini wie „das innere Licht" — auf das man schon vor dem Auftreten der Quäker trifft — und „die Immanenz Gottes" versdileiern nur, um was es sich psychologisch gesehen im Leben vieler Independenten und Sektierer dieser Jahre handelt;®8 — der Terminus „Rolle" dagegen gibt unserer Aufmerksamkeit eine andere Richtung. Heimgekehrt aus den Kämpfen der Revolutionsarmee, an denen er aus religiösen Gründen teilgenommen hat, ist Nayler tief enttäuscht über die Ergebnisse des Sieges. Im Jahre 1652 hat er „zur Zeit der Roggensaat" allein unter freiem Himmel ein seltsames Erlebnis: „Idi ging hinter dem Pflug und dachte an Dinge, die Gott angehören. D a vernahm ich plötzlich eine Stimme: ,Gehe von den Deinen und von deines Vaters Haus.' Und eine Verheißung wurde mir dabei zuteil. Eine unsägliche Freude ergriff midi, daß ich Gottes Stimme gehört hatte, ihn, zu dem ich midi seit meiner Kindheit bekannt, den ich aber niemals vernommen hatte." 3 8 Vgl. Henry van Etten, George Fox et les quakers, Bourges 1956. Man kann die Frage stellen, ob das innere Licht auch bei anderen Personen auftrete als bei solchen, die sich viele Jahre dem Studium der Bibel und religiösen Gesprächen gewidmet haben, mit anderen Worten deren Gehirne durch ein spezifisches Üben geprägt worden sind. Von George Fox sagt man, daß er so genau mit den heiligen Schriften vertraut sei, daß er, wären sie verschwunden, sie aus dem Gedächtnis hätte niederschreiben können. Man kann bestimmt nicht die Möglichkeit ausschließen, daß das mensdilidie Gehirn einem Einiluß uns vollständig unbekannter Art ausgesetzt sein kann. Ohne besonderes Üben kann dieser Einfluß jedoch nicht als ein göttlidier identifiziert werden. Das ungeübte Gehirn könnte audi eigene, höchst private Einfälle für göttliche Führung halten. Schon in der ersten Generation der Quäker war Fox genötigt, über Fälle von Selbstbetrug nachzudenken. Obgleich van Etten sidi nicht des Terminus Rolle bedient, zeigt seine Studie, daß „das innere Licht" nur ein Moment einer umfassenderen psychologischen Organisation ist; diese Organisation ist die Rolle „Christi Jünger", wo Christus folglich der Partner des Frommen ist. Als die Quäker die innige Vertrautheit mit der Bibel, die sie ursprünglich besaßen, verloren, trat die Verfallsperiode, „la periode d'assoupissement", ein. Mir ist klar, daß die Frömmigkeit Fox' als die der Rollensituation und des Rollenannehmens beschrieben werden muß. So eine Beschreibung würde jedoch eine ausführliche Polemik fordern. Deshalb habe ich Nayler statt Fox als Beispiel gewählt. Im Falle Naylers ist die Sache eindeutig. Ich möchte auch daran erinnern, daß The Journal of George Fox in einer verbesserten Ausgabe von John L. Nidcalls herausgegeben ist, Cambridge 1952. s» Fogelklou a.a.O. S. 80

88

16

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

„Es war", sagt Emilia Fogelklou, „eine unmittelbare religiöse Inspiration. Und doch waren es biblische Textworte, welche die Stimme erklingen ließ, wenn sie sich auch aus Abrahams Geschichte gelöst hatten und eingegangen waren in das Leben James Naylers." 40 In moderner psychologischer Terminologie können wir dies eine Rollenaufnahme nennen. Es handelt sich hier also um etwas mehr als um eine bloße Reaktion auf das Verhalten eines anderen. 41 Nayler identifiziert sich mit Abraham, aber gleichzeitig nimmt er Gottes Rolle auf und sein Organismus antizipiert sie. Aber als er dann Heim, Frau und Kinder verlassen hat, ist es nicht mehr sein Organismus, der die Rolle des anderen gegen ihn selbst spielt, sie wird gegen ihn gespielt; von den Begebenheiten und Ereignissen; in allem, was geschieht, begegnet er einem handelnden wirksamen „Anderen". Die Identifikationen aber wechseln;42 in dem Augenblick, wo er sein Haus verläßt, kann man annehmen, daß er sich mit einem von den „Zweiundsiebzig" 48 identifiziert, da er ohne Geld und besondere Ausrüstung seines Weges zieht. H a t er Händel mit Vertretern der Obrigkeit und johlenden Volkshaufen, tritt Identifikation mit Propheten und Aposteln ein, aber da die Bibel ihm für jeden Fall Möglichkeiten bietet zu antizipieren, wie Gott handeln wird, und das wirkliche Geschehen dann seinen Antizipationen entspricht,44 ist er vollständig davon überzeugt, daß sein Gegenspieler ein wirklicher „lebender Anderer" ist, der Gott, welcher mit den Menschen der Bibel lebte und tätig war. Dieser Gott ist für Nayler eine erlebte Wirklichkeit. „Kein anderer Weg ist zu gehen als Hand in Hand mit ihm, ihm ohne Angst und Zagen zu folgen und das ganze Werk ihm allein zu überlassen. Wirst du sein Lächeln gewahr, folge ihm mit Beben und Liebe. Runzelt er die Brauen, folge ihm und stürze dich hinunter in 40 41 42

43 44

Fogelklou a.a.O. S.83 Turner a.a.O. S. 321. Vgl. was Linton vom aktiven Status und latenten Status sagt, oben S. 8. Fogelklou a.a.O. S. 82. Fogelklou a.a.O. S. 87, S. 94: „So groß war aber die Macht des Herrn, daß weder er noch einer von den anderen, die mit ihm waren, beschädigt wurden. Das Geschehene war sonderbar und veranlaßte uns zu großer Verwunderung und dazu, den Herrn zu loben, der ewiglich gesegnet sei."

Der Rollenbegriii in religionspsydiologisdiem Zusammenhang

17

seinen Willen, und du wirst sehen, daß er dein ist immerdar, denn er will prüfen das, was sein ist."45 Indem die Mensdienrollen, die er aus der Bibel übernimmt, seine Handlungsmuster werden, wird die Gottesrolle, wie sie in allen Erzählungen der Bibel gezeichnet wird, grundlegend für Naylers Wahrnehmungsbereitschaft. Sie wird der Referenzrahmen, mit dessen Hilfe seine Erlebniswelt bearbeitet wird. So etwa kann der angeführte Text kommentiert werden. Der Mensch als gesellschaftliches Wesen hat, um mit Ralph Linton zu sprechen, eine ganze Reihe von Rollen übernommen, aber in einer bestimmten Situation sind alle außer einer latent. Das gleiche ist auch der Fall bei dem, der sich die Tradition der Bibel angeeignet hat. Unter allen Rollen, welche die Bibel enthält, ist die Christusrolle unstreitig die inhaltsreichste und ergreifendste. Als Nayler 1653 vor Geridit gestellt wurde, lautet die Anklage, er habe gesagt, daß Christus in ihm sei und daß es nur ein einziges Wort Gottes gebe.4' Auf die Frage: Ist Christus in dir? antwortetere er: „Ich bezeuge, daß er in mir ist. Und wenn ich ihn vor den Menschen verleugnete, würde er mich vor seinem Vater im Himmel verleugnen." 47 Er soll weiter geäußert haben: „Wenn ich Christus nicht aus größerer Nähe vernehmen kann als aus Jerusalem, dann ist er mir keine Hilfe. Ich erkenne keinen andern Christus an als den, der vor Pontius Pilatus ein gutes Zeugnis ablegte und den ich als im Geiste leidend jetzt in mir fühle." Dazu sagt Emilia Fogelklou: „Der innere Christus und der historische Jesus sind hier wie die beiden Brennpunkte in einer Ellipse. Die Betonung liegt durchaus auf der Immanenz. Aber ein einseitiger Gesichtspunkt ist es nicht. Hier liegt eine eigentümliche Oszillation vor, auf die näher einzugehen ein eigenes Kapitel erforderte." 48 Die nähere Erklärung finden wir unsererseits gerade in der dualen Rollensituation. Der historische Jesus ist die in der Bibel aufgezeichnete Rolle, der innere Christus ist die Rolle, wie sie in Naylers Persönlichkeiten eingegangen ist. Das Normale ist, daß Nayler diese Rolle gegen sich selbst spielt, daß er mit den Augen der Christusrolle sich selbst als 45 46 47 48

2

Fogelklou Fogelklou Fogelklou Fogelklou

a.a.O. a.a.O. a.a.O. a.a.O.

S. S. S. S.

100. 101. 102. 126.

Sundin, Religion und Rollen

18

Die psydiologisdie Organisation der religiösen Erlebniswelt

Objekt betrachtet." Er beurteilt sich selbst so, wie ein Kind sich selbst mit den Normen und Worten seines Vaters oder seiner Mutter beurteilen kann, nur mit dem Untersdiied, daß die Person, mit der Nayler sich identifiziert, nicht sein Vater oder seine Mutter ist, sondern Christus.50 Welche von den latenten Rollen, über die ein Mensch verfügt, er in einer gegebenen Situation tatsächlich spielen wird, das hängt nicht nur von ihm und seiner Bedarfssituation ab, sondern auch und vielleicht in sehr hohem Grade von dem Status, den die Mitmensdien ihm zuerkennen, oder von ihrem Verhalten ihm gegenüber. Fanatische Anhänger, vor allem Frauen, erkannten Nayler als „rechtmäßigen Repräsentanten für das Neue Reich und Sohn des Höchsten" an.51 Seine Anhänger identifizierten sich mit solchen Rollen aus dem Evangelium (u. a. der des vom Tode auferstandenen Weibes) und spielten sie so, daß für Nayler selbst eigentlich nur Jesu eigene Rolle übrigblieb, die er offenbar wirklich gestaltete, als er an einem Freitag im Oktober 1656 in Bristol einzog; er war damals krank und hatte etwa 15 oder 16 Tage lang gefastet. Bei dem darauf folgenden Gerichtsverfahren fand man es bewiesen, daß Nayler 1. sich Gebärden, Worte, Verehrung und Wundertaten unseres Heilands angeeignet 2. „übertragbare Eigenschaften und Ehrentitel unseres gesegneten Heilands angenommen habe".5* Viele glaubten beoachtet zu haben, daß er (wie sie fanden gekünstelt) den Bildern ähnlich war, die man im allgemeinen vom Heiland sieht." Das Parlament, das die Untersuchung gegen Nayler durchführte, verurteilte ihn als schrecklichen Lästerer, Aufrührer und Volksverführer."54 49

Vgl. Simone Weil, La connaissance surnaturelle. Prologue.

50

Vgl. S. Wermlund, Samvetets uppkomst, Stodcholm 1949. Fogelklou a.a.O. S. 171.

" 52

5

Fogelklou a.a.O. S. 197. Vgl. das von Otto Wein reich zusammengestellte Material. Siehe sein unten in Kap. IV Anm. 29 angeführtes Werk.

» Fogelklou a.a.O. S. 197.

54

Fogelklou a.a.O. S. 209. — Nayler selbst meinte, daß er erkoren sei, ein Zeichen zu bringen. Cromwell seinerseits sah vermutlich in dem Geschehen ein für ihn bestimmtes Zeichen: die Königskrone nicht zu übernehmen. Cromwells Gedanken waren oft bei Nayler; noch einige Wochen vor seinem Tode sandte er seinen Sekretär zu Nayler im Gefängnis. Vgl. über Fox und Cromwell, The Journal of George Fox S. 289.

Der Rollenbegriff in religionspsydiologischem Zusammenhang

19

Die grausame Strafe, die er auszustellen hatte, und hierauf seine Einlieferung ins Gefängnis muß auf viele Zuschauer wie eine Gestaltung des Passionsdramas gewirkt haben. Im Gefängnis eröffnen sich für Nayler neue Möglichkeiten der Identifikation mit Gedanken und Inhalten der Bibel, die nicht mehr so klar und deutlich besondere Rollen sind, denn solche braucht Nayler ja nicht mehr. Er hat nun seine eigenen Erfahrungen von Schutz und Glück, von Prüfung und Q u a l bis zur äußersten Grenze als Rückhalt, und in allem, was geschehen ist, „hat er Gottes H a n d wirksam gesehen". Gott ist für ihn eine unausweichliche Wirklichkeit55 geworden; die Bereitwilligkeit, alle Kränkungen zu verzeihen, und der Friede, der den Entlassenen durchströmt, sind lauter Gaben von Gott: „Die, für welche ich ein Scheusal gewesen bin, blickten mich an. Durch deine Liebe gewann ich die Gunst derer, die mich verworfen hatten. D a verzehrte heiße Freude alle meine Trauer." So kann die Rollenaneignung zu Erfahrungen führen, welche die Persönlichkeit in ihrem Grunde verändern, oder sie das immanente Gesetz ihres Wesens vollenden. Bevor wir den Fall James Nayler abschließen, muß betont werden, daß ein großer Unterschied besteht zwischen einer bewußten imitatio Christi und einer Aufnahme der Christusrolle, die der Betreffende gegen sich selbst spielt. Geschieht letzteres eine längere Zeit hindurch, ist damit zu rechnen, daß sich in der Persönlichkeit eine Disposition ausbildet, die — wahrnehmungspsychologisch gesehen — als Referenzrahmen fungieren kann; die Ereignisse können dann gegen das Subjekt die Rolle spielen, die es aufgenommen hat, der „Andere" wird lebend und wirklich. Die bewußte imitatio Christi hat dagegen eine andere eigentümliche Folge: eine Art von Schattenbildung, d. h. eine unbewußte Anhäufung all der Eigentümlichkeiten und Einstellungen, die im Gegensatz zu dem stehen, um das sich der Mensch bewußt bemüht. Der Schatten kann plötzlich aus dem Unbewußten hervorbrechen und zum Kummer und Entsetzen des Subjekts das

55



Als Kontrast können wir folgendes Beispiel geben. Oscar Wilde, der seit seiner Kindheit der christlichen Tradition fremd gegenüber stand, erlebt während seiner Gefängniszeit eine religiöse Phase von kurzer Dauer. Als er später wieder in eine homosexuelle Verbindung hineingezogen wird, verliert er jede Möglichkeit, die Rollen der biblisdien Tradition anzunehmen, und sein Gottesverhältnis stirbt ab. Die Bedeutung der Bedarfssituation f ü r die Rollenannahme zeigt sich am deutlichsten an extremen Fällen. Vgl. G . Siegmund a.a.O. S. 54 f.

20

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Verhalten bestimmen. Dieses trifft im anderen Falle nicht ein, da der Mensch hier er selbst bleibt wie er mit allen seinen Fehlern und Schwächen ist, während Christus der bleibt, der er in seiner Vollkommenheit ist, d. h. wie die Rolle im Bibeltext bestimmt ist. Christus ist hier Ratgeber und Führer, bei dem die Müden und Verängstigten Ruhe finden. Es scheint, als ob die Frommen zu verschiedenen Zeiten diesen Sachverhalt durchschaut haben: von Paulus — das Gute, das ich will, tue ich nicht; aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich — bis zu Luther (der der imitatio mißtraute) und dem Quäker James Nayler. Ein gewisses psychologisches Verständnis für nichtwünschenswerte Nebenwirkungen des imitatio-Verlaufes gibt uns die Nancy-Schule mit ihrem Gesetz über umgekehrte Bemühungen. Aber erst mit C. G. Jung haben wir ein Verständnis für beide Erscheinungen bekommen. Jung stellt folgende Annahme auf: „Es ist psychologisch durchaus möglich, daß das Unbewußte, bzw. ein Archetypus einen Menschen völlig in Besitz nimmt und sein Schicksal bis ins kleinste determiniert. Dabei können objektive, d. h, nichtpsychische Parallelerscheinungen auftreten, welche ebenfalls den Archetypus darstellen. Es scheint dann nicht nur, sondern ist so, daß der Archetypus sich nicht nur psychisch im Individuum, sondern auch außerhalb desselben objektiv erfüllt." 5 7 Wenn man Fogelklous Darstellung des Lebens von James Nayler liest, glaubt man, ein Beispiel gefunden zu haben, das die Möglichkeit einer solchen Annahme erklären kann. Es scheint uns jedoch, als enthielte der Begriff „Rollenaneignung" bzw. „Rollenübernahme" eine einfachere Hypothese und sei darum vorzuziehen, und als stellte der zweite Teil von Jungs Annahme eine Verdunklung der Tatsache dar, daß die durch die Rollenaufnahme ermöglichte Antizipation tatsächlich durch das wirkliche Geschehen bestätigt werden kann. Der Ardietypbegriff, wie Jung ihn hier gebraucht, enthält in sich offenbar eine Art von maskiertem Vorsehungsglauben. Wir haben allen Anlaß, gerade dies zu beachten, da die religiöse Erfahrung von ihren einfachsten bis zu den kompliziertesten Strukturen ein Moment von Validation voraussetzt, ohne das sie undenkbar ist. Die Antizipationen müssen bestätigt werden, die Rollen oder Referenzrahmen, die das Erlebte 48

Vgl. Thouless, Religionspsykologi S. 193. " Vgl. C. G. Jung, Antwort auf Hiob S. 77.

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang

21

bestimmen, müssen irgendeine Entsprechung im Erlebbaren haben.58 Wir wollen nun ein weiteres instruktives Beispiel anführen. Der deutsche Diditer Max Dauthendey befand sich beim Kriegsausbruch 1914 auf einer Südseereise. Durdi den Krieg wurde er in den Tropen isoliert und erlag im Jahre 1918 auf Java einem Fieber. Auf dem letzten Blatt in seiner Bibel fand man folgende Aufzeichnung, die natürlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war: „Tosari. (OstJava. Tenggergebirge.) Samstag 30. Juni 1917. (Fünf Monate bin ich nun hier 6000 Fuß hoch ü. d. M.) Heute Morgen, als ich die 50. u. die 60. „Psalmen Davids" gelesen hatte, geschah mir eine Erkenntnis. Ich erkannte, daß es einen persönlichen Gott gibt. Drei Wochen vor meinem fünfzigsten Geburtstag wurde mir diese Offenbarung, an der ich seit meinem 20. Lebensjahr, also 30 Jahre lang, nachgegrübelt und gezweifelt, und ergründet und durchgerungen habe. Welche herrliche Zielsicherheit ist heute in mein Herz, in meinen Geist, in meinen Körper eingezogen. — Gott lebt u. ist so persönlich, wie Alles durch Ihn lebt. — " 5 ' Es ist offensichtlich ein langer und verwickelter Prozeß, der mit diesem Erlebnis «inen Abschluß gefunden hat. Dauthendey hatte einmal in seiner Jugend den Glauben an einen persönlichen Gott, ein älterer Freund aber hatte ihn zu seinem anderen Glauben bekehrt, der am einfachsten aus folgendem Zitat hervorgeht: „Wir tragen in uns alle jene götttlichen Eigenschaften, die wir, früher unaufgeklärt, immer nur einem Schöpfer über uns zusprachen." 60 Auf diesem Glauben ruht Dauthendeys ganze literarische Produktion, und es scheint, wenn man von seinen literarischen Werken ausgeht, ausgeschlossen,61 daß er den persönlichen Gott vermißt. In Verbindung mit dem soeben geschilderten Erlebnis vertraut er aber seinem Tagebuch an, er sei dreißig Jahre lang auf dem Rost seiner Zweifel und seines Gottsuchens gemartet worden. „Dreißigjähriger Gotteskrieg Schloß heute Frieden mit meinem Verstand", heißt es im Tagebuch. 58

Vgl. C. G. Jung, Über Synchronizität. Eranos-Jahrbuch 20, 1951, S. 271 bis 284. ®· M. Dauthendey, Gesammelte Werke 2. Letzte Reise. Aus Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen, München 1925, S. 526. 80 M. Dauthendey, Gesammelte Werke 1. Autobiographisches. Der Geist meines Vaters. Gedankengut aus meinen Wanderjahren, München 1925, S. 66. 41 Vgl. Siegmunds Darstellung von Strindberg in Psychologie des Gottesglaubens S. 58 f.

22

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Das Eigentümliche an Dauthendeys Erlebnis scheint zu sein, daß die Erkenntnis von Gott als Person ihm so plötzlich aufgeht. Sie war indessen seit langem vorbereitet. Ein Traum, 62 den er während der Nacht hatte, die dem Tage der Offenbarung vorausging, bestätigt das deutlich. Georg Siegmund, der den Entwicklungsgang Dauthendeys einer eingehenden Analyse unterzogen hat, ist geneigt, einen fortschreitenden Denkprozeß anzunehmen, dessen Teilergebnisse dem Bewußtsein Dauthendeys wahrscheinlich entgangen sind.88 Seine Erörterungen sind in diesem Punkte sehr lehrreich, vielleicht nicht so sehr hinsichtlich dessen, was in der Persönlichkeit Dauthendeys vor sich gegangen ist, als hinsichtlidi des Psychologen Siegmund. Es verhält sich nämlich so, daß nach der Theorie, die die römischkatholische Religionspsychologie sich zu eigen gemacht hat, der Mensch vor allem durch kausales Denken zu Gott gelangt.' 4 Siegmund bemüht sich darum, glaubhaft zu machen, auch im Falle Dauthendeys sei alles so verlaufen. Er hebt dabei die Versuche des deutschen Dichters, sein Erlebnis intellektuell zu rechtfertigen, hervor, charakteristisch ist es jedoch, daß er die Tatsache, daß sich das Erlebnis Dauthendeys einstellte, nachdem dieser zwei der Psalmen Davids gelesen hatte, überhaupt nicht beachtet. Es dürfte indessen angebracht sein, gerade diesen Umstand näher zu studieren und den Inhalt der betreffenden Psalmen zu analysieren. Ehe wir das tun, wollen wir erst der Bedarfssituation, wie sie sich im Tagebuch Dauthendeys wiederspiegelt, einige Aufmerksamkeit widmen: „Habe ich deshalb soviel auf Java allein sein, nachdenken, nachempfinden, Gott anrufen, Gott suchen, Gott fühlen und endlich Gott als eine Person erkennen können, und mußte ich drei einsame Jahre ohne Frauenliebe aushalten, um Gottes Liebe und Gottes Ich zu finden, dann will ich nie mehr über die drei Jahre Einsamkeit, Gefangenschaft und Abgeschnittensein von Annie und von der Heimat 82 83 84

Vgl. M. Dauthendey, Letzte Reise S. 523 und Siegmund a.a.O. S. 146 f. Siegmund a.a.O. S. 148. Wie diese Theorie wirkt, kann man an der Kritik katholischer Religionspsychologen an den Thesen Charlotte Bühlers über die N o t der Pubertätskrise als wichtigste Triebkraft für den Ansdiluß an die religiöse Tradition ablesen. Vgl. Μ. B. Winzen, Die religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. Beiträge zur pädagogischen Psychologie. Herausg. von Wilh. Hansen, Münster i/W 1933 (besonders S. 203), und W. Keilbach, a.a.O. S. 94.

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang

23

mich beklagen. Dann, wenn ich auch hier sterben sollte, will ich midi freuen, daß alle meine Qual ein inneres Ziel gehabt hat." 65 Es ist die Sehnsudit nadi seiner Frau — es scheint übrigens, als wäre es das gute Verhältnis zu ihr, das Dauthendeys atheistische Verhaltensweise früher ermöglicht hat — und das Bedürfnis nadi sozialem Kontakt überhaupt,®® die Dauthendey zwingen, zu einem Gott zu beten, der für seine Gedanken und für seine Erlebnisse nicht vorhanden ist; im Zitat spiegelt sich auch eine Sehnsucht nach der Heimat wieder, und dazu kommt wahrscheinlich noch eine Unruhe wegen der Zukunft des eigenen Volkes und Landes, die ja in einen gewaltigen Krieg verwickelt sind. Alle diese Umstände zusammen ermöglichen Dauthendey nun eine entsprechende Identifikation mit den Menschen, die im fünfzigsten und im sechszigsten Psalm reden und lauschen. Der fünfzigste Psalm mit seinen Worten: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen" (V. 15) lädt zur Identifikation mit dem ein, der diesen göttlichen Worten lauscht. Im sechzigsten Psalm findet der von seinem Vaterlande und allen Nachrichten darüber abgeschnittene Patriot Worte, die er ganz zu seinen eigenen machen kann: „Wirst du es nicht tun, Gott, der du uns verstoßest, und ziehst nicht aus, Gott, mit unserem Heer? Schaff uns Beistand in der Not; denn Menschenhilfe ist nichts nütze. Mit Gott wollen wir Taten tun. Er wird unsere Feinde untertreten." (Psalm 60; 12—14) Gab der erstgenannte Psalm sozusagen der bewußten Persönlichkeit Möglichkeiten der Identifikation, so bereitete der letztgenannte dieselben Möglichkeiten für das, von dem wir annehmen können, es seien halbbewußte oder unbewußte Persönlichkeitsinhalte (die Unruhe um das Vaterland). Die Identifikationsmöglidikeiten, die diese zwei Psalmen gewähren, sind der Bedarfssituation Dauthendeys adäquat. Identifiziert er sich mit den menschlichen Stimmen in diesen Psalmen, wird Gott • 5 M. Dauthendey, Letzte Reise S. 528 f. und Siegmund a.a.O. S. 148—149. " Es ist kein Zufall, daß der persönliche Gott sidi so oft dem einsamen Menschen in der Stille der Wüste offenbart hat. Französische und englische Offiziere, die zu unserer Zeit mit Arabern lebten, haben psychologisch sehr bedeutungsvolle Beobachtungen über diese Situation mitgeteilt.

24

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

in beiden Fällen sein Partner. Wenn seine Einfühlung in die menschlichen Rollen eine vollkommene wird, wird auch der sprechende Gott eine erlebte Wirklichkeit. Dieser handelnde, persönliche Gott muß es gewesen sein, der mit seinen Fügungen seit langem Dauthendey auf eine Begegnung mit sich vorbereitet hat. Was geschehen ist, ist also eine Rollenaufnahme im psychologischen Sinn.*7 Was wir hier über die Bedeutung der Psaltertexte für das Gotteserlebnis Dauthendeys beobachten konnten, gibt uns vielleicht die Möglichkeit, auch einen erheblich wichtigeren Fall auf eine neue Weise zu verstehen: des heiligen Augustinus Bekehrung und Gotteserlebnis. Die Fragen des Augustinus: „Welches ist der Ort in mir, wo Du in mich kommst, mein Gott, Du — der Verborgenste und Gegenwärtigste? Wo habe ich Dich gefunden, mein Gott, so daß ich Dich erfahren konnte?" — sind nicht nur rhetorisch.88 Die psychologische Möglichkeit des Gotteserlebnisses war für den Kirchenvater ein Problem. Es kann indessen kaum bezweifelt werden, daß das innige Gottesverhältnis des Augustinus psychologisch gesehen durch eine von der Bibel, und besonders dem Psalter, vermittelte Rollenaufnahme konstituiert wurde, auch wenn sich darin gewisse neuplatonische Reminiszenzen nachweisen lassen. Wir finden nämlich nicht weniger als 300 Zitate aus dem Psalter in seinen Confessiones®9 Beachten wir ζ. B., wie er den vierten Psalm erlebt hat: er identifiziert sich selbst und seine Freunde mit den im Text angesprochenen Menschen, wodurch die göttliche Stimme einen besonders persönlichen Klang erhält.™ Es sind die dualen Rollensituationen, die er in der Bibel findet (und bei den Philosophen vermißt), die ihn zur Begegnung mit dem lebenden Gotte führen. Durch die Bibel dringt das Wort Gottes in seine Persönlichkeit ein, wenn die Umstände ihn in solche Situationen versetzen, die direkt den heiligen Texten entsprechen. Das berühmteste Beispiel ist das „tolle-lege-Erlebnis" mit der vorausgehenden Aufforderung zur Identifikation (was von Pontitianus in den Confessiones VIII, 6 erzählt wird, sowie in der Erzählung des Simplicianus von der Bekehrung des Victorinus in den Confessiones VIII,2). Die Rolle des „Sich-Bekehrenden", wie sie zur damaligen Zeit aktuell war, übernimmt Augustinus von seiner ®7 Vgl. die von Siegmund angeführten Texte a.a.O. S. 149 f. M Confessiones VII, 21. " Georg Misdi, Geschichte der Autobiographie. 1. Das Altertum, Leipzig & Berlin 1907, S. 337, S.431. 70 Confessiones IX, 4 (Cassiacum. Psalm 4).

Der RollenbegrifF in religionspsychologischem Zusammenhang

25

Umwelt. Zu dieser Rolle gehört, wie ζ. B. im Falle des heiligen Antonius, die Entgegennahme des Bibelwortes als Befehl. Einen solchen nimmt auch Augustinus entgegen, als er den Römerbrief liest und sich dabei adäquat mit dem Angeredeten identifiziert. Georg Wunderle hat hervorgehoben, daß der Mensch sich im religiösen A k t die Macht, vor die er sich gestellt weiß, als irgendwie sidi selbst ähnlich denken muß, wenn er auch dafür keine entsprechenden philosophisdien und psychologischen Begriffe finden kann. Diese Beobachtung können wir durch unsere bisher gewonnene Einsicht ergänzen, daß der religiöse Akt wesentlich als eine duale Rollen-Situation zu verstehen ist. 71 Für Dauthendey wird Gott zur erlebten Wirklichkeit, aber es ist die Bibel, die ihm dieses Erlebnis ermöglicht, eine Rollenaneignung, keine Beweisführung. Von dem Erlebnisinhalt „Gott" gelten unbedingt Jaspers Worte: „Es handelt sich um existentielle Wahrheit, die nur im mythischen Denken geistig wirksam wird, ohne Mythik aber außerhalb unseres Horizontes bliebe."™ „Mythisches Denken" ist aber 71

n

Vgl. Wilhelm Thimme, Augustins Selbstbildnis in den Konfessionen. Eine religionspsychologische Studie, Gütersloh 1929. Beiheft zur Zeitschrift für Religionspsychologie 2, besonders S. 44 f., und Georg Wunderle, Der religiöse Akt als seelisches Problem. 2. Aufl., Würzburg 1948. Abhandlungen zur Philosophie und Psychologie der Religion. Neue Folge, Heft 1. Vgl. Jaspers Bestimmung des Mythos, a.a.O. S. 89: „Man fragt, was Mythus sei, was mythisch heiße. Es ist das Sprechen in Bildern. Anschaulichkeiten, Vorstellungen, in Gestalten und Ereignissen, die übersinnliche Bedeutung haben. Dieses Uebersinnlidie aber ist allein in diesen Bildern selber gegenwärtig, nicht so, daß die Bilder interpretiert werden könnten durch Aufzeigung ihrer Bedeutung. Eine Uebersetzung in bloße Gedanken läßt die eigentliche Bedeutung des Mythus verschwinden. Weiter haben die Chiffren der Mythen diese Bedeutungen nicht als beliebige, sondern als solche von existentiellem Gewicht, im Unterschied von empirischen Realitäten, die übereinstimmend für das Bewußtsein überhaupt bestehen. Schließlich gehen uns Mythen an nicht zuerst als Gegenstand historischer Forschung, sondern als gegenwärtige, mir selbst erlaubte und gerechtfertigte und mögliche. Wird dem Mythus die Offenbarung gegenübergestellt, so sehe ich in dieser Unterscheidung nur eine solche innerhalb des Mythischen selber. Audi die Offenbarung spricht in einer Welt von Chiffren einer unerhörten übersinnlichen Wirklichkeit. Für diese Welt gegenwärtig und ewig glaubwürdiger Mythik gilt nicht Ihr Satz: Mythisches Denken sei ebenso objektivierend wie wissenschaftliches, wenn es ζ. B. die Transzendenz Gottes als räumliche Entfernung, die unheimliche Macht des Bösen als Satan fasse. Daher, meinen Sie, sei

26

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

ein allzu unbestimmter Ausdruck; wenn wir ihn durdi „Rollenaneignung aus dem Mythos" ersetzen, erhalten wir eine psychologisch genauere Bezeichnung. Dem schwedischen Leser steht ein außerordentlich reiches Material zur Prüfung dieser These zur Verfügung, nämlich die Lebenserinnerungen von Lewi Pethrus, dem Gründer der schwedischen Pfingstbewegung. In einer Gesellschaft, w o der Mythos sozusagen problematisch geworden ist, kann der einzelne nicht ohne weiteres Rollen aus ihm übernehmen oder aufnehmen; dies fordert eine Entscheidung, die sich von Fall zu Fall aus einer komplizierten Bedarfssituation ergibt. Lewi Pethrus schreibt: „Schon 1899, als ich mich einige Monate nach meiner Bekehrung in Vänersborg befand, war es mir klar geworden, daß, wenn das Christentum das ist, was das Neue Testament sagt, es auch in unserer Zeit solche übersinnlichen Erscheinungen geben muß, wie sie in der ersten christlichen Zeit vorgekommen sind. — Wie könnte die Aussage der Bibel, daß Gott einst Wunder wirkte, wahr sein, wenn heutzutage keine Wunder geschehen könnten? Warum sollten im Christentum übernatürliche Erscheinungen von der Gottesgemeinschaft der Gegenwart ausgeschlossen sein?77 Der Begriff „Rolle" macht es außerdem möglich zu verstehen, wie der religiöse Mensch die Gewißheit haben kann, seinem Gott als Per-

77

die Aufgabe der Entmythologisierung gestellt. Ich antworte: Es ist eine völlig andere Objektivierung als die in der Wissenschaft. Denn es handelt sich nicht um empirisdie Realität im Sinne der Erforschbarkeit in der Welt. Im Mythus handelt es sidi um Wirklichkeit, in deren Vorstellung empirisdie Realität und übersinnliche Wirklichkeit ursprünglich nicht bewußt getrennt werden." Bultmann attackierte den Terminus Chiffre, um sidi wehren zu können. Führt man in diesem Zusammenhang die Begriffe Rolle und Antizipation ein, wird die Unbilligkeit in dem Gedankengang Bultmanns schärfer beleuchtet. Nathan Söderblom fand gleichzeitig eine ganz andere Lösung derselben Probleme. Er gehörte aber der Gruppe der Wissenschaftler an, oder die Wissenschaftler (Universitätsleute) sind seine Referenzgruppe. Die Stellungnahme und Entscheidungen eines Individuums dürften im hohem Maße von seiner Gruppenzugehörigkeit abhängig sein. Lewi Pethrus gehört der Gruppe der Bekehrten an. Söderblom gehört zwar als Mitglied der Kirche an, seine Referenzgruppe bei seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist jedodi die der Wissenschaftler. Man bedenke, daß Dauthendey durch seine Isolierung auf Java von der Gruppe geschieden wurde, innerhalb der es opportun war, eine atheistische Haltung anzunehmen. Vgl. Theodor Newcomb, Social psychology, Kap. 5: Group membership S. 486 ff.

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang

27

son zu begegnen, was wir im Folgenden näher ausführen werden. Schon jetzt kann eine vorläufige Antwort auf die Frage nadi dem Wesen der religiösen Gewißheit gegeben werden. Findet ein Mensch innerhalb der religiösen Oberlieferung die duale Situation, die genau seinem Bedürfnis entspricht, dann kommt ihm die Gewißheit. Er identifiziert sidi mit dem menschlichen Partner und antizipiert die Rolle Gottes: in demselben Augenblick hat er mit dem Anderen als einer lebendigen Wirklichkeit zu tun. Alles, was ihm geschehen ist, erscheint ihm nun als Folge „der Tätigkeit des Anderen" und was er selbst tun soll, wird jetzt aus dem Verhältnis zu dem Anderen heraus bestimmt.78 Ich glaube, daß der Rollenbegriff und die Rollenpsychologie uns, wenn es sich um religiöse Erfahrung handelt, in vielen Fällen — einfachen und komplizierten — von Nutzen sein kann.7* Mit dem Rollenbegriff dürften wir auch dem Wertvollen in den von Girgensohn und Gruehn ausgearbeiteten experimentellen Ergebnissen der Religionspsydiologie gerecht werden. Wenn wir Lily Weiser-Aals Zusammenfassung davon mit dem oben Gesagten vergleichen, bekommen wir beinahe den Eindruck, daß das, was Girgensohn und Gruehn festgestellt haben, sich sehr wohl mit unserer Auffassung über den religiösen Akt als duale Rollensituation, die durch die Rollenaneignung konstituiert ist, vereinen läßt. 74 Religiöse Erlebnisse sind ohne religiöse Referenzsystem, ohne religiöse Tradition, ohne Mythus und Ritus undenkbar. 72

73

74

Vgl. über Nayler oben S. 16, über Jan Fridegard S. 94, über Strindberg S. 106 und über Einar Billing. V i r kalleise, 5. Aufl., Stockholm 1956, besonders S. 9—11, S. 39—42 und S. 49 f. Vgl. audi Vincent de Paul. Siehe Kap. V, S. 378. Eine Rolle kann beim Wahrnehmen das aktuelle Bezugssystem sein. Ein außerordentlich interessantes Beispiel dazu gibt Paul Radin, wenn er H. Junod zitierend, The life of a South African tribe, Neuchatel 1913, S. 359—360 in „Die religiöse Erfahrung der Naturvölker" (Alba: Vigilise. Neue Folge, Heft 11), Zürich 1952, S. 86—87, von der Begegnung des Priesters Nkoleles mit seinem Gott erzählt. Lily Weiser-Aall a.a.O. S. 30—32, „die lebendige innere Beziehung" zwischen dem Ich und dem Gott, wovon die Verfasserin spricht, wird durch die Rollenübernahme und Rollenaufnahme konstituiert. „Nachahmung, Miterleben, das sich zur Identifizierung steigern kann", paßt eher zum Begriff „Rolle" als zum Begriff „Idee", womit die erwähnten Psychologen laborierten. Vgl. Eivind Berggrav, Kropp och själ i karaktärsliv och gudsliv, Kap. 10.

28

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Die Bejahung der „ganzen Bibel" als Referenzsystem eröffnet für Lewi Pethrus die Welt der Wunder, er kann aber nicht in jeder Situation dieses Referenzsystem aktuell halten. Wenn es aktuell sein soll, dann muß ihn die Bedarfssituation zu einer Aufnahme der Rolle Gottes nötigen. Wir wollen das im folgenden erläutern: Als Lewi Pethrus im Zweifel ist, welchen Lebensweg er wählen soll, liest er seine Bibel. „In meinem Inneren kam es wieder zu einem sehr heftigen Kampf, und Tag für Tag ging ich umher mit quälenden Gedanken und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte doch kürzlich in Kristiania feierlich vor Gott gelobt, daß ich irgendeinen beliebigen Beruf wählen, überall hingehen und alles tun wolle für den Herrn Jesus. An diesem Grundsatz wollte ich festhalten, und ich wollte wissen, was der Wille Gottes sei. Es gab jedoch etwas, wovor ich mich fürchtete. Ich wollte in meiner Tätigkeit nicht scheitern. Ich wollte Erfolg haben. Immer wieder kam mir die Stadt Lidköping in den Sinn, doch ich hatte das Gefühl, daß es, wenn ich hinginge, ein reiner Mißerfolg werden würde. Eine innere Stimme mahnte mich, dorthin zu reisen, aber mein Gefühl sagte nein. Eines Abends saß ich zu Hause in Storgardskleven und las die Bibel. Ich las von Elias, dem Gott begegnet war und den er für seinen Dienst ausgerüstet hatte. Er hatte sein Leben in Gottes Hände gelegt. Gott hatte sein Gebet beantwortet, eine glühende Kohle vom Altar hatte seine Lippen berührt, und er war ein Prophet im Dienste des Herrn. 78 Aber da befahl ihm Gott, sich am Bach Kerit niederzulassen. So las ich, daß der Bach nach einiger Zeit austrocknete, daß Elias zu einer armen Witwe in Sarepta gehen mußte und dort in Armut und Not Gottes Wunder erblicken. Nach diesen Erfahrungen war es Elias vergönnt, das Feuer auf sein Opfer fallen zu sehen und für Israel Gott zu offenbaren. Dies erregte mich. Es wurde mir ganz klar, daß, wenn es auch mir widerfahren würde, daß die Tätigkeit, die Gott mir befohlen hatte, austrocknen würde wie der Bach Kerit, und wenn ich in kärglichsten und ärmlichsten Verhältnissen leben müßte, Gott sich auch dort offenbaren 75

78

K. Jaspers u. R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, Mündien 1954, S. 23. Der Leser dürfte bemerkt haben, daß sidi in die Rekapitulation von den Erfahrungen Elias' gewisse Züge der Erzählung von der Berufung Jesajas eingemischt haben. Diese Einzelheit ist sehr wichtig und kann als eine Illustration meiner Gedanken über die Resultate des intensiven Bibelstudiums des heiligen Juan de laCruz angeführt werden. Vgl. unten S. 175.

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang

29

können würde. Ich wußte: dies war der Weg zu tieferen religiösen Erfahrungen und der Weg, um f ü r andere zu reicherem Segen zu werden."7® Lewi Pethrus identifiziert sich offenbar mit Elias, und aus der Identifizierung geht eine Rollenaufnahme hervor, die deutlich die Bedeutung der Antizipation zeigt. Der Mythos ermöglicht, wie wir an diesem Beispiel sehen, eine spezifische Art des Erlebens und des H a n delns, aber er ermöglicht auch ein Antizipieren und damit eine Widerlegung oder Bestätigung, also Erfahrung im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Der Mythos macht also Erfahrung im weitesten Verstände möglich. Seine Bedeutung geht somit weit über den beruhigenden Charakter hinaus, den man ihm manchmal zuschreibt. Wir müssen uns darüber klar werden, daß Gott als Erlebnisinhalt des Menschen mit Hilfe von solchen Referenzrahmen aufgebaut wird, die eine zentrale Bearbeitung dessen gestatten, was periphere Nervenprozesse dem Gehirn zuführen. Psychologisch gesehen muß der Gott der Bibel als eine Rolle bestimmt werden, die der Mensdi durch Identifizierung mit irgendeiner Gestalt der biblisdien Tradition antizipierend aufnimmt. Identifiziert sich ein Mensch mit einer menschlichen Gestalt der biblischen Tradition, sagen wir, daß er deren Rolle übernimmt; aber in demselben Augenblicke nimmt er die Rolle Gottes auf, das heißt, er kann kraft der biblischen Erzählung Gottes Handeln antizipieren und kann alles kommende Geschehen in seinem eigenen Leben als das Handeln Gottes wahrnehmen. Künftiges Geschehen kann sodann die Antizipationen des frommen Menschen bestätigen und die Rolle sozusagen ausführen; gerade dafür legen die Lebenserinnerungen von Lewi Pethrus ein glänzendes Zeugnis ab. Durch Antizipation und Bestätigung wird Gott zu der Wirklichkeit, von der der Verfasser von Gottes Versprechungen stehen fest mit der Selbstverständlichkeit des Erlebten spricht. Es handelt sich hier nicht um die Hingabe an eine Idee, sondern um ein Zusammenleben mit einem „Anderen", der wirklich ist.80 Um zu Lewi Pethrus' Verhalten gegenüber der Elias-Tradition zurückzukehren, so scheint dieses ganz und gar dem, was Jaspers über den Frommen schreibt, zu entsprechen: „Er nimmt die mythische Welt 79

80

Lewi Pethrus a.a.O. S. 98 f. und Den anständiga sanningen, Stockholm 1953, S. 15 f. Vgl. audi Jaspers a.a.O. S. 91. Vgl. Lily Weiser-Aall a.a.O. S. 29.

30

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

auf, läßt sie gegenwärtig werden, nicht durch Theorien der Philosophen und Theologen, sondern durch die Ursprünglichkeit der Aneignung aus der Betroffenheit im eigenen Glauben." 81 Soweit ich sehen kann, läßt sich der letzte Teil des Zitates audi durch das, was wir hier Rollenübernahme und Rollenaufnahme genannt haben, wiedergeben. Sind wir uns aber darüber klar geworden, dann müssen wir Jaspers recht geben, wenn er von der Aneignung des biblischen Glaubens schreibt: „Die Aneignung des biblischen Glaubens wird nicht durch Forsdiung vollzogen, sondern durch Glaubenspraxis. Die Glaubenssprache wird nicht angeeignet durch Übersetzung aus dem Mythologischen in ein vermeintlich Unmythologisches, sondern durch unwillkürliche Verwandlung in gegenwärtig bezwingendem Sinn innerhalb des Mythischen selber. "8* Von Lewi Pethrus gilt dies ohne Vorbehalt. Auch das letzte Glied der komplizierten Periode aus Jaspers' angeführter Schrift kann am einfachsten mit „durch Rollenaneignung" (Rollenübernahme und Rollenaufnahme) wiedergegeben werden; und, soweit ich sehe, erleichtern diese Termini das Verständnis. Wenn Jaspers von der Sprache des Mythos sagt, daß sie wahr sei „im Dabeisein", dagegen „unglaubwürdig als bloß gedacht oder gar als bloß gesagt",83 so gilt dies in hohem Grad gerade von den Erzählungen über Elias. Für denjenigen, der sich wie Lewi Pethrus mit Elias identifiziert und dessen Rolle übernimmt, sind die Möglichkeiten der eigenen Zukunft im Identifikationsaugenblick das Wichtigere. Der Charakter der Eliaserzählungen als etwas bloß Gedachtes oder Dargestelltes tritt dabei zurück.94 Auch für Lewi Pethrus kann der Mythos den Charakter von etwas Unglaublichem, von etwas bloß Gedachtem oder Gesagtem annehmen. Dies ist der Fall, wenn er als Schüler einer Predigersdiule in Stockholm das Buch Die Lehre der Bibel von Christus von Viktor Rydberg liest und wesentlich in den Rollen eines Schülers und guten Kamera81 82 83 84

Jaspers a.a.O. S. 35—36. Jaspers a.a.O. S. 34. Jaspers a.a.O. S. 35. Ein moderner, freisinniger Christ wie der in Schweden bekannte Pastor der französischen reformierten Kirche in Stockholm Ad. Mohn konnte sich mit Bileam identifizieren, als er zu Beginn des Krieges eine Predigt vorbereitete und 1914 den Konflikt erlebte, in einer Person Franzosenfreund und Christ zu sein.

Der Rollenbegriff in religionspsychologischem Zusammenhang

31

den aufgeht.8® E r findet jedoch in der Rolle „des sich bekehrenden Sünders" seinen Heiland Jesus als eine persönliche, lebende Realität wieder.8® Audi eine Prüfung von mehr philosophisch gehaltenen Betrachtungen über die innere Anteilnahme des Menschen an der Welt des Glaubens — wie ζ. B. bei Kierkegaard 8 7 — dürfte zeigen, daß RollenüberK 8e

87

Lewi Pethrus a.a.O. S. 61—62. Lewi Pethrus a.a.O. S. 68—70, S. 60 f.: „Auf dem Boden liegend goß ich meine Seele vor Gott aus. Als idi vor Gott kam, sah ich klar, daß nichts als ein Leben in Gemeinschaft mit ihm midi befriedigen könnte. — Da geschah mir etwas Merkwürdiges. Ich hatte eine persönliche Begegnung mit Jesus. Ich sah ihn nicht mit meinen körperlichen Augen, aber als dieser Augenblick vorüber war, wußte idi, daß ich ihm begegnet war. Das Lidit des Glaubens strahlte in meine Seele hinein, und meine Zweifel schwanden. Während der letzten Jahre hatten diese nur zugenommen, aber von diesem Augenblick an waren sie fort. Dies war mir das Wunder über alle Wunder. Ich, der ich für keinen Preis in der Welt hatte glauben können, konnte jetzt in keiner Weise mehr zweifeln. Die Zweifel schwanden still, leise, unwiderruflich. Es war wie ein Sonnenaufgang. Der Sonnenaufgang ist ein Werk Gottes und niemand kann ihn verhindern; man kann sich nur dem Sonnenlicht entziehen. Bald war mir klar, daß idi eben dies versucht hatte. Idi war in die Erdhöhlen der menschlichen Spekulation geflüchtet. Dies war die Ursache meiner Finsternis. Als ich zum Wort Gottes zurückkehrte, zu den Verheißungen, zum Unterricht der Bibel, zum Gebet, kehrte ich zu dem Sonnenlicht und dem Leben zurück, das die ganze Zeit da gewesen war, audi während idi mich in der Finsternis meiner Erdhöhle befand." Man beachte die duale Rollensituation: der Sünder auf dem Boden vor seinem Gott niedergefallen begegnet Jesus. Man kann sagen, daß Kierkegaard von der Intensität der Bedürfnisse, die den Menschen zur Religion treiben, fasziniert war. Er übertrieb die Bedeutung der Subjektivität, was damit zusammenhängt, daß er keine bestimmte Rolle aus der Tradition übernahm und den psychologischen Rollenbegriff nicht kannte. „Der Sprung des Glaubens" ist für den rollenübernehmenden Menschen nie ein Sprung in das völlig Ungewisse. Kehren wir zu unserem Beispiel vom Kinde, das mit sich selbst Kaufmannsladen spielt, zurück, können wir sagen, daß seine Identifikation mit dem Verkäufer zugleich das Antizipieren des Benehmens des Käufers bedeutet, und daß es dessen Repliken mit den Ohren des Verkäufers lauscht. In demselben Sinne bedeutet das Übernehmen einer spezifischen Rolle der biblisdien Tradition ein Antizipieren des Handeln Gottes (das Aufnehmen der Rolle Gott), und diese Antizipation kann entweder bekräftigt oder dementiert werden, von dem was tatsächlich geschieht. Die Meinung Kierkegaards, daß für den, der im Glauben existiert, die höchste Wahrheit die objektive Ungewißheit sei, ist völlig falsch. Kierkegaard selbst wollte keine besondere Rolle aus der biblischen Tradition übernehmen. Sein

32

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

nähme u n d Rollenaufnahme für religiöse Erfahrung konstitutiv sind. Dies zeigt sich besonders in den Träumen religiöser Menschen.

R o l l e n a u f n a h m e i m Traum 8 8 D i e Indianer Nordamerikas haben, mit Ausnahme der Pueblos, w i e R u t h Benedict sagt, keine gleichartige Kultur, doch k o m m t bei all den verschiedenen Stämmen der Brauch vor, in Träumen und Visionen mit übernatürlichen Wesen Verbindung z u suchen. 89 B. Malinowski hat festgestellt, daß unter den Trobriandern teils freie Träume, teils soldie, die „vorgeschrieben" sind, vorkommen, und so verhält es sich auch unter den Zulus, w i e Bengt Sundkler berichtet." 0 D i e Träume, die diese erwarten, sind teils Berufungsträume, teils Bekehrungsträume. 9 1 D i e erstgenannten haben ihr deutliches

88

89 90 91

eigenes Leben mündet darin, daß er sich in die Rolle „des Opfers der Verlogenheit der Gesellschaft" kleidet; die Frage, ob er sich mit Christus oder mit Sokrates oder mit beiden identifiziert, muß offen bleiben. Gunnar Brandell hat mich auf diese Eigentümlichkeit aufmerksam gemacht. Vgl. Karl Löwith, Von Hegel bis Nietzsche, Zürich 1941. II. Kap. V, 8: Kierkegaards paradoxer Glaubensbegriff und sein Angriff auf die bestehende Christenheit S. 488—501 und Jean Wahl, Etudes Kierkegaardiennes, Paris 1938, S. 440 ff., Besonders f ü r Kierkegaards Spekulation über die Gleichzeitigkeit dürften der Rollenbegriff und die sozialpsychologischen Untersuchungen über Rollenannahme die richtige Erläuterung geben. Vgl. auch Per Lönning, Samtidighedens situation. En Studie i Sören Kierkegaards kristendomsforstäelse, Oslo 1954. Über den Traum als psychologisches Problem siehe Gottlob Schmid, Die seelische Innenwelt im Spiegel des Traumlebens, Leipzig 1937. Allseitiger ist jedoch R. Bossard, Psychologie des Traumbewußtseins, Zürich 1951. Dieser f u ß t auf den Forschungen des Nobelpreisträgers W. R. Hess. Was die Traumdeutung betrifft, schließt er sich C. G. Jung an. Vgl. auch H . G. Mc Curdy, A brief introduction to the history of dream theory. Psychological Review 53, 1946, S. 225 ff. und Werner Kemper, Der Traum und seine Be-Deutung, Hamburg 1955 ( = Rowohlts Deutsche Enzyklopädie 4.), eine Arbeit, die eine gute Bibliographie enthält. Ruth Benedict a.a.O. S. 86. B. Sundkler, Bantu prophets in South Africa, London 1948, S. 266. Typisch f ü r die mangelnde Kenntnis dessen, daß der Anschluß an eine religiöse Tradition durch Identifikation mit einer in der Tradition oder Institution überlieferten Rolle geschieht, ist Alliers Beobachtung, die Sundkler wiedergibt: „Missionaries are almost shocked that such an important spiritual revolution as conversion would seem to be due in many cases to some dream rather than the conscious decision of the will."

Rollenaufnahme im Traum

33

Gegenstück bei den Indianern. Psychologisch gesehen handelt es sich hier um eine Rollenaufnahme im Traum, wo die Rolle „des Anderen" in Form von Bildern oder von Zwiesprache gestaltet wird.' 4 Was die Zulus betrifft, so erstreben sie eine handgreiflichere Begegnung mit „dem Anderen" als es die Gottesdienste der missionierenden Kirchen ihnen vermitteln können. „The one great thing waited for and expected in the dreamer is the revelation of Jehova, or the Angel or Jesus, always appearing in shining white robes."*8 Man kann sagen, daß die Beobachtungen Sundkiers in einer besonders deutlichen Weise zeigen, daß auch das Traumleben durch das Rollensystem geprägt ist, das die Gruppe sich zu eigen gemacht hat, und daß die religiöse Tradition wesentlich aus Rollen besteht. Das Ganze ist eine interessante Illustration der von D. Victoroff verfochtenen These, daß das Unbewußte nicht nur Komplexe, sondern auch, von den Spielen der Kindheit an, eine große Anzahl sozialer*4 und — wir können hinzufügen — auch religiöser Rollen enthält. Unter den Zulus kann die Rollenaneignung, wenn es sich um die Rolle „Jesus" handelt, die Form der Identifikation annehmen, wie es bei James Nayler der Fall war. Ja, Isaiah Shembe, der von seinen Anhängern als Gottes Sohn aufgefaßt wurde und der sich selbst mehr oder weniger mit Christus identifizierte, wurde auch als „von den Toten auferstanden" betrachtet. Als Sundkler den Sohn Shembes fragte, was das Nazarethische Hymnenbuch mit der Angabe, drei Hymnen seien von Shembe nach „seiner Auferstehung von den Toten" verfaßt, meine, erhielt er die Antwort, daß sie einigen Frauen in Visionen und Auditionen geoffenbart worden sind. Sundkler nennt diese Frauen „Frauenmedien" und berichtet, daß sie ihre Kirche mit (a.a.O. S. 267). Über die Rolle des „Willens" in dergleichen Zusammenhängen, vgl. Lily Weiser- Aall a.a.O. S. 30 f. 92 Vgl. die Beispiele S. 126. »» Sundkler a.a.O. S. 272. *4 D. Victoroff, Le concept de „role" et la notion d'inconscient. Psydii 60, 1951, S. 630—639. Vgl. Sundkler a.a.O. S. 273: „Dreaming in accordance with pattern becomes in the Zionist Church a group-integrating force of surprising strength. The stereotyped dream is also the true and prophetic dream in the Zionist Church. To dream rightly reveals a right attitude to the Churdi, it is a declaration of loyalty to the group. In the name of the 'freedom of the Holy Spirit' the sect thus exercises a totalitarian control over the individual, which does not even shun the hidden depths of the person's subconsicious mind. The individual is malleable and the sect is moulding him into a standard type." 3

Sundin, Religion und Rollen

34

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Erzählungen über himmlische Gesichte erbauen und im Traume himmlische Gefilde besuchen, wo sie den auferstandenen Propheten begegnen. ,s Idi will audi an das interessante Traum-Material im Frömmigkeitsleben des Islam und im Urchristentum erinnern. 9 * Halluzinationen 9 7 Offenbarungen im Traume dürften eine ziemlich häufige Erscheinung sein. Weit auffallender wirkt die Offenbarung in Form von Halluzinationen. Diese Erscheinungen sind indessen verwandt; gewisse Fakten sprechen dafür, daß viele Halluzinationen durch Störungen der Schlaffunktion oder des Apparates, der den Wechsel zwischen Schlafen und Wachen regelt, entstehen.*8 Halluzinationen sind Wahrnehmungen, für die man nicht mit Gewißheit irgendeine außerhalb des erlebenden Organismus vorhandene Reizquelle feststellen kann, welche die Sinne hätte beeinflussen können. Illusionen hingegen nennt man solche Wahrnehmungen, wo ein oder mehrere Sinne von außen gereizt werden, wo aber, weil ein bestimmter Referenzrahmen einen ungewöhnlich hohen Grad der Bereitschaft hatte, die zum Gehirn laufenden Impulse in ein falsches Muster eingefädelt worden sind.** »5 Sundkler a.a.O. S. 284 f. Tor Andrae, Die Person Muhammeds in Lehre und Glauben seiner Gemeinde, Stockholm 1917, S. 377 ff. und Hirsch Loeb Gordon, The Maggid of Caro. The mystic life of the eminent codifier Joseph Caro as revealed in his secret diary, New York 1949, S. 154—162. *7 Uber die Literatur bis 1932, siehe Raoul Mourgue, Neurobiologie de l'hallucination. Vgl. audi Pierre Quercy, Etudes sur l'hallucination, Paris 1930, und Les hallucinations, Paris 1936. Spätere Forschungen sind, obwohl die Quellenanweisungen unvollständig sind, bei Jean Lhermitte, Les hallucinations, verzeichnet. Vgl. audi Jean Paulus, Le probl£me de l'hallucination, Paris 1941. , e Lhermitte a.a.O. S. 42 f. Hess' Resultate bei elektrischen Reizungen gewisser Zonen im Mittelhirn einer Katze scheint dies zu beweisen: manchmal schläft die Katze ein, manchmal wird sie aber wütend. Die Wutanfälle dürften eventuell auf Halluzination beruhen. Oscar Wyss schreibt: „L'excitation artificielle au niveau du dienciphale peut provoquer dans le comportement de l'animal certaines modifications qui laissent conclure έ l'existence d'hallucinations visuelles", nach Lhermitte a.a.O. S. 43—44. 9 9 Vgl. audi Lhermitte a.a.O. S. 107: „ . . . Si nous sommes encore bien iloignis de la solution complete du probläme des hallucinations, nous tenons dans les desordres de la fonction hypnique et dans la disorganisation de l'appareil rigulateur qui assure le fonctionnement regulier de

,s

Halluzinationen

35

Es dürfte nicht möglich sein, sichere Grenzlinien zwischen wirklichen Wahrnehmungen, Illusionen und Halluzinationen zu ziehen. 100 Einige Halluzinationen (sowohl im Bereich des Gesichtssinnes als in dem des Geruchssinnes) beruhen auf Gehirnverletzungen. 101 Die Verletzung in einer bestimmten Zone dürfte jedoch Rückwirkungen auf die gesamte Gehirnaktivität haben, weshalb eine lokalisierende Verletzung allein eine Halluzination selten ganz erklärt. Halluzinationen können bei völlig gesunden Menschen vorkommen, oft im Zustand von starker Ermüdung, im Zustand zwischen Schlaf und Wachsein, und audi im Zustand starker Erwartung. Ist Erwartung mit im Spiele, ist es wahrscheinlich unmöglich, Illusionen von Halluzinationen zu unterscheiden. Man muß stets die totale Situation des erlebenden Subjektes beachten, wenn man die Entstehung der Halluzinationen erklären will. 102 Einer meiner Schüler 10 ' hat folgendes Erlebnis mitgeteilt, das in vieler Hinsicht lehrreich ist: Ende der dreißiger Jahre patrouillierte ich einmal als Polizist in X-stadt. Wer mit diesem Sektor der polizeilichen Arbeit bekannt ist, weiß, wie „tödlich" ein Patrouillendienst in einer bitterkalten Nacht im Januar sein kann — die Lebensgeister wollen in der Trostlosigkeit fast erlöschen. Dies führe ich nur an als kleine Entschuldigung für mein Benehmen in der folgenden wahren Geschichte. Ich patrouillierte in dem Bezirk, in dem die Polizeiwache liegt. Es war ein sogenannter „guter Bezirk", weil man sidi ohne Gefahr, entdeckt zu werden, von hinten in die Kellerlokale der Polizeiwache hineinsdileichen konnte, um sich ein wenig zu wärmen. Begreiflicherweise mußte man auf die Inspektionen der Vorgesetzten und besonders die des Polizeioffiziers aditgeben. Er billigte keinen Ausflug Uber die Grenzen des Bezirks hinaus. Das Patrouillieren mußte sogar in gewisser Ordnung — von Osten nach Westen — vor sich gehen, wollte man mit dem Polizeioffizier auf guten Fuße stehen. Außerdem war er wacher als irgendein wadier Hilfsschutzmann, seine Inspektionen folgten Schlag auf Schlag, besonders in der Nacht. Gegen zwei

100

101

l0i 108



la veille et du sommeil, un fil conducteur qui, n'en doutons pas, permettra d'obtenir le mot de l'inigme aux diercheurs de demain." Vgl. Jean Paulus a.a.O. S. 27. Mar£chal Etudes sur la Psychologie des mystiques. Paris 1938. I S. 79—80. Vgl. Andrae Mystikens psykologi S. 226. Lhermitte a.a.O. S. 10 und S. 59 f. Vgl. Maurice Pradines, Traiti de Psychologie g£n£rale. 2. id. I, Paris 1946, S. 589 f. Die phantastischen und bizarren Erlebnisse, die bei Gehirnschäden häufig festgestellt worden sind, zeigen aber oft frappierende Parallelen zu den Erscheinungen, die man unter die Rubriken Sdiamanismus und Mystik zu stellen pflegt. Lhermitte a.a.O. S. 19 ff. Schriftliche Mitteilung eines Eleven der „Statens polisskola" (staatlichen Polizeischule) Klasse ÖK, Frühling 1953.

36

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Uhr fand ich indessen die Zeit reif für einen kleinen Besudi im Keller. Ich weiß nicht wie, jedenfalls schlummerte ich ein Weilchen in der schönen Wärme ein und sah, als ich erwachte, zu meinem Schrecken, daß es drei Uhr geworden war. Die Ablösung sollte im Bezirk genau um drei Uhr stattfinden. Ach und Weh! — nun galt es schnell und ungesehen herauszukommen. Das sdilimmste Hindernis war, über den Hinterhof der Polizeiwache zu gelangen — es war eigentlich das einzige — denn dann war idi ja draußen im Bezirk. Die Gedanken drängten sich in meinem Kopf — was sollte idi nur im Falle einer Entdeckung für eine Ausrede finden? Der Vorrat annehmbarer Entschuldigungen in ähnlidien Situationen war sdion gründlich ausgenutzt. Auf der Netzhaut sah ich schon den Alten an der Ablösungstelle stehen und midi erwarten. Die Not ist jedoch die Mutter der Erfindungen. Mein Plan war klar, ich nahm den hinteren Kragenknopf weg, er sollte mich retten im Falle d a ß . . . Er war bei dem vielen Patrouillieren abgesprungen und war dann unter Hemd und Unterhosen in die Schuhe hinabgewandert, weshalb ich gezwungen war, „nach hinten zu gehen", um ihn zu entfernen. Gerade wie ich auf den Hinterhof hinauskam, kam mir der Alte entgegen. Er war auf seinem Rad, er radelte außerdem falsch, d. h. rechts von einem Verkehrszeidien — so etwas darf auch ein Polizeibeamter nicht tun. Ich stand stramm und versuchte so unbefangen wie möglich auszusehen, salutierte und meldete: „Alles in Ordnung im dritten Bezirk". Keine Antwort seinerseits — nicht einmal „Guten Morgen", er fuhr vielmehr an mir vorüber mit düsterer Miene, als ob er einen dunklen Vorhang vor das Gesicht gezogen hätte. Ich notierte die Zeit — 3 Uhr — seiner Inspektion im Patrouillenregister und ging zur Ablösung hinaus. Mein Kamerad war schon da, und meine erste Frage war: „Was hat der Alte gesagt?" — „Idi habe den Alten nidit gesehen", lautete die Antwort. Hier hat sich der Erlebende offenbar außerordentlich lebhaft in die Rolle „des Anderen" hineingelebt. Aber aus seinem Bericht geht nichts hervor, das uns eine Andeutung darüber geben könnte, weldier Prozeß die Wahrnehmung ausgelöst hatte, das heißt, wie das bloß Vorgestellte oder Gespielte zu einem im Räume lokalisierten „Anderen", gegen den der Mann nun sich selbst in seiner Rolle als untergeordneter Schutzmann spielt, umgewandelt worden war. Hier ist zu beachten, daß der Erlebende sich in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein befindet, weshalb sein Erlebnis mit den sogenannten hypnagogen Halluzinationen verwandt sein dürfte. Zwei von den Elementen, mit denen Lhermitte in seiner psycho-physiologischen Erklärung gewisser Halluzinationen rechnet, scheinen wir in diesem Fall wiederzufinden. „Une perturbation de P£tat vigil, c'est-ä-dire de la vigilance de la conscience d'une part, et la liberation ou l'ext^riorisation de certaines images, et singuli£rement des images visuelles dont la parente, nous

Halluzinationen

37

nous gardons de dire Pidentiti, avec celles du reve, ne peut pas ne pas frapper Pesprit."104 Was ich in diesem Fall am bemerkenswertesten finde, ist, daß der Polizist jahrelang überzeugt war, daß ihm sein Vorgesetzter begegnet war und daß dieser log, als er bestritt, in jener Nacht eine Inspektion vorgenommen zu haben. Erst später, als er einige Vorlesungen über Zeugenpsychologie gehört hatte, die einerseits den vollständigen Mangel an Übereinstimmung zwischen dem Erlebnis eines glaubwürdigen Zeugen und dem faktischen Inhalt dieses Erlebnisses, den man mit exakten Methoden rekonstruieren konnte, aufzeigten, und in denen andererseits auch zahlreiche Fälle von Illusionen analysiert worden waren, begann der Mann zu ahnen, daß er das Opfer einer Illusion oder einer Halluzination geworden war; was ihn veranlaßte, eine schriftliche Darstellung seines Erlebnisses zu geben. In demselben Maße wie psychologische und physiologische Referenzrahmen für uns zugänglich geworden sind, ist eine Tendenz zu spüren, religiöse Erlebnisse, die als greifbare Beweise der Wirklichkeit der übernatürlichen Welt erscheinen könnten, zu Halluzinationen zu reduzieren. Denn gibt es eine Geisterwelt — wie sie sich auch offenbare, Als wirklich sich beweisen — kann sie nicht. Erscheint Gott selbst im Himmel mit dem Thron der Macht, Wird der Gedanke sagen: Halluzinationen. 10 * Innerhalb einer Kultur, wo viele und tonangebende Persönlichkeiten eine solche Einstellung haben, kann man kaum erwarten, daß der Inhalt der religiösen Erlebnisse die Form von Halluzinationen annimmt, was dagegen ζ. B. in der Bantu-Kultur der Fall ist, deren religiöse Erlebniswelt Sundkler geschildert hat.10* Wenn die Halluzinationen religiösen Inhalts im europäisch-protestantischen Milieu ziemlich selten sein dürften, so scheint es dagegen, als ob Halluzinationen mit profanem Inhalt bei sogenannten „normalen Menschen" in größerem Ausmaß vorkommen, als man erwarten könnte. Das Gesagte mag durch zwei in England durchgeführte Untersuchungen erläutert werden. 1M

Lhermitte a.a.O. S. 18. los v i k t o r Rydberg, Grubblaren. 106 Vgl. oben Anm. 90

38

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Im Jahre 1890 nahm The Society for Psychical Research eine Untersuchung mit Hilfe von Befragungen vor, um die Häufigkeit von Halluzinationen bei „Durchschnittsmenschen" (ordinary people in a normal state of health) zu ermitteln. Es zeigte sidi, daß Halluzinationen häufiger waren als man im Allgemeinen annahm. 1947 veranstaltete die Gesellschaft eine neue Untersuchung mit Hilfe der Organisation „Massobservation", die auf Untersuchungen mittelst der „Umfrage-Methode" spezialisiert ist. Das ausgegebene Formular ist im kritischen Apparat abgedruckt.1®8 Die schriftliche Befragung hatte aber in diesem Fall große Nachteile. Obwohl das Formular direkt zur Einsendung auch negativer Antworten aufforderte, versuchten diejenigen, die selbst keine derartigen Erlebnisse gehabt hatten, statt dessen über Erlebnisse anderer zu berichten. Daß die Society for Psychical Research erwähnt wurde, hatte eine sehr starke suggestive Wirkung: Viele der Befragten glaubten, es müsse in der Antwort etwas Übernatürliches vorkommen. Einige faßten die Fragen nach Halluzinationen als Beleidigung auf. Aber was sollte nun als Halluzination angesehen werden? In vielen Antworten handelte es sich eher um Träume und Illusionen als um Halluzinationen, aber alle derartigen zweifelhaften Fälle wurden unbeachtet gelassen, ebenso die Halluzinationen, von denen man vermuten konnte, daß sie mit verschiedenen Arten von Drogen, Delirium oder Koma zu tun hatten. Die Erlebnisse von der „Gegenwärtigkeit" und d^ji-vu - Erlebnisse wurden nicht mitgezählt. Bei Beachtung dieser Vorsichtsmaßregeln stellte man fest, daß von 1519 Personen, die geantwortet hatten, 217 eine oder mehrere Halluzinationen erlebt hatten. Die Untersuchung von 1890 umfaßte 17.000 Personen, von welchen 1684 Halluzinationen gehabt hatten. Im Jahre 1890 waren es also 9 , 9 % der Befragten, 1947-48 14,3%. Die im letzteren Falle höhere Prozentzahl kann auf Suggestion durch das Formular und einer weniger kritischen Prüfung der Antworten als im Jahre 1890 beruhen. Die meisten Halluzinationen waren Halluzinationen in Form von lebenden Menschen, also vom selben Typ wie im obigen Beispiel; Halluzinationen religiöser Natur, Visionen waren ziemlich selten, wie aus folgender Tabelle hervorgeht: 107

D. J. West in Journal of the Society for Psychical Research 34, 1948, S. 187 ff.

Halluzinationen

39

Tabelle I 1948 Realistische

Von lebenden Menschen

menschliche Offenbarung

Von toten Menschen Unbekannte

1890

130 (40,5%) 29 ο . ( 9,0%) tC κ 88 . (27,5%)

615 (32,0%) "Ϊ. ON Ν.

257 (14,3%) 639 (33,2%)

Unvollständige Erscheinungen

13 ( 4,0%)

158 ( 8,2%)

Visionen

7 ( 2,2%)

31 ( 1,6%)

Engel und religiöse Offenbarungen

7 ( 2,2%)

22 ( 1,2%)

Groteske, schreckliche und monströse Erscheinungen

14 ( 4,4%)

39 ( 2,0%)

Andere Arten

33 (10,2%)

143 ( 7,5%)

Totale Anzahl der für die Klassifizierung genügend beschriebenen Erfahrungen

321 (100%)

1922 (100%)

Aus diesen beiden Untersuchungen ging hervor, daß der Inhalt der Halluzinationen sehr oft war „a realistic human presence or phantasm. Of these, the majority were ,seen' as human figures, although there were a good man that were only .heard' as voices. Contrary to what one might expect from the popular belief that phantasms are spirits of the dead, the majority were of living people. Non-human phantoms, religious fantasies and visions depicting complete scenes were all quite rare". Halluzinationen mit religiösem Inhalt waren also ziemlich selten, eine Tatsache, auf die wir das größte Gewicht legen müssen. Aus einer anderen Tabelle wird ersichtlich, in welchen Sinnesbezirken die Halluzinationen auftraten.

40

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt Tabelle II Visuelle verbunden Auditive mit (Stimmen) und/oder Berührung

Anzahl Fälle Auditive mit für die Klassifimit zierung Behinrührung reichender Beschreibung

Zeit der Befragung

Visuelle

1948

154 (48,0%)

27 (8.4%)

102 (31,7%)

33 (10,3%)

5 (1,6%)

321 (100%)

1890

1053 (54,8%)

222 (11,6%)

493 (25,6%)

137 (7,1%)

17 (0,9%)

1922 (100%)

Berührung

Mehr als die Hälfte waren also visuelle, während die auditiven weniger als ein Drittel ausmachten. In nur 10% der Fälle war mehr als ein Sinn beeinflußt. Es war also selten, daß man auf einmal sowohl sah als audi hörte. Ein deutlicher Unterschied in der Häufigkeit der Halluzinationen bestand zwischen den Geschlechtern, was aus folgender Tabelle hervorgeht. Tabelle III — 1948 Männer

Frauen

Nicht spezifizierte

Summe

Anzahl der Personen die angeblich Halluzinationen hatten

72 (112,92)

138 (97,08)

7

217

Anzahl der Personen die angeblich keine Halluzinationen hatten

655 (614,08)

487 (527,92)

160

1302

727

625

167

1519

Summe

Von den Personen, die behaupteten, keine Halluzinationen gehabt zu haben, war die Mehrzahl Männer. Unter denen, die Halluzinationen hatten, war die Zahl der Frauen fast doppelt so groß als die der Männer. Statistisch ist der Unterschied zweifellos signifikativ.

41

Halluzinationen

Ein ähnliches Resultat ergab die Untersuchung vom Jahre 1890, was folgende Tabelle zeigt: Tabelle IV — Untersuchung von 1890 Männer

Frauen

Positive Antworten

655

1029

Negative Antworten

7717

7599

Diese Geschlechtskorrelation wurde später bei einer Analyse derjenigen Personen, die geantwortet hatten, sie hätten mehr als eine Halluzination gehabt, bestätigt. Tabelle V Männer

Frauen

Nicht spezifizierte

Summe

Anzahl der Personen mit mehr als einer Halluzination

49

78

6

133

Anzahl der Personen mit nur einer Halluzination

23

60

1

84

Schließlich wollen wir noch feststellen, daß die Untersuchung die Auffassung von Ma^chal völlig bestätigte. Unter den Halluzinationen gab es alle Übergänge zwischen „mentalen Eindrücken" und Erlebnisinhalten, die so lebendig waren, daß der Erlebende, wie der Polizist in unserem Fall, überzeugt sein mußte, einer wirklichen Person begegnet zu sein. Eine Zwischenstellung nehmen die zur Hälfte exteriorisierenden sdiattenähnlichen Visionen ein. Das für uns wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung ist, daß Halluzinationen auf profanem Gebiet ziemlidi allgemein sind, auf religiösem aber ziemlich selten. Eine Erklärung für diese Tatsache haben wir schon angeführt. In den europäisch-protestantischen Kulturen erwartet man nicht, daß religiöse Erlebnisse die Form von Halluzinationen haben. Aber es kommt noch ein wichtiger Umstand hinzu. Offenbar schenkt der Kontakt mit lebenden Menschen dem Organismus spezielle Referenzrahmen und besonderes Erinnerungsmaterial. Beide können manchmal mit erstaunlicher Schärfe reproduziert wer-

42

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

den, wie die klinische Erfahrung zeigt. 108 Auf dieselbe automatische Weise werden menschliche Organismen dagegen nicht mit religiösem 108

Directive for October/November, 1947. Special job. 1. Have you ever, when believing yourself to be completely awake, had a vivid impression of seeing or being touched by a living being or inanimate object, or of hearing a voice; which impression, so far as you could discover, was not due to any external physical cause? If you had any hallucination, would you please answer the following questions an then describe the experience in your own way as fully as possible. (a) Did the hallucination take the form of: i. Something seen ii. Something heard iii. Something touching you iv. Some other kind of experience. (b) If something was seen, was it a human figure? If so, was it some one your recognized? (c) If something was heard, was it a human voice? If so, did you recognize the voice? (d) If the hallucination took the form of the appearance or voice of some one known to you, did anything happen to this person about the time of your experience? (e) When did the experience occur? How many months or years ago? (f) Have you had more than one hallucination? If so, how many? If you have had more than one, please answer the questions separately for each case. If you have had more than three, please describe only the last three that you can remember. Fifty years ago a census of hallucinations was carried out by the Society of psychical Research asking the questions above to a sample that was apparently very similar to that of our present panel. We are now working with them in an attempt to bring this up to date. The survey is of particular interest to us as the first comparative question that we have been able to ask covering such a long period. The question is not dissimilar to one that we asked about a year ago. If, in answering that, some of you described any personal experiences, please repeat them in as much detail as possible. We are sorry about this repetition but feel strongly that it is necessary. Please answer this question on a separate piece of paper from the remainder of the Directive answer. It is most important that if you have never had anything in the nature of an hallucination, you should still put your name or index number on a sheet of paper an write simply „No". The negative results of this survey are as important as the positive ones. The results of this survey will be summarized by the Society for Psychical Research and everybode who replies — even in the negative — will receive a copy of this summary.

Halluzinationen

43

Stoff versorgt, mit Ausnahme vielleicht v o n Mitgliedern weniger zivilisierter Gesellschaften. D i e A r m u t an H a l l u z i n a t i o n e n religiösen Inhalts k a n n deshalb auch seinen G r u n d in ungenügender Aneignung religiöser T r a d i t i o n e n haben, also ganz einfach auf M a t e r i a l m a n g e l beruhen. 1 0 " Und

ein näheres Studium

der Psychologie der religiösen

Visionen

scheint zu zeigen, d a ß solche Erlebnisse eine beträchtliche Vorbereitung, spezielle Ü b u n g u n d eine durch ein starkes Bedürfnis begründete A n eignung der T r a d i t i o n verlangen. D i e Bedeutung der Vorbereitung m a g durch ein Beispiel näher beleuchtet werden, bei dem der in der H a l l u z i n a t i o n aktualisierte Inhalt wesentlich durch Aneignung eines spiritistisdien Referenzsystems k o n stituiert ist. 1 1 0 Eine Dame von 50 Jahren wird zwecks ärztlicher Behandlung von ihrem Mann zu Jean Lhermitte geführt. Diese Dame, „honnete bourgeoise", nicht ohne künstlerische Interessen, war bisher stets harmonisch gewesen und hatte nie irgendwelche neuropathische Belastung gezeigt. Sie hatte einen Sohn verloren, der 1916 bei Verdun gefallen war, hatte jedoch den Verlust wie eine gute Christin getragen. Ungefähr 12 Jahre später lernte sie eine Dame kennen, die ebenfalls ihren Sohn im ersten Weltkrieg verloren hatte. Als die beiden Damen einander ihr Leid klagten, hört Lhermittes Patientin — Madame X — zu ihrem Erstaunen folgendes: „Ich aber, Madame, habe den Trost, meinen Sohn zu sehen, ich kann ihn anreden, midi mit ihm unterhalten." Madame X traut ihren Ohren nicht, aber die Dame, die sie kennengelernt hatte, nimmt sie zu zahlreichen spiritistischen Sitzungen mit, und neue Freunde geben ihr geeignete Büdier. Zwei Jahre lang, erklärt Madame X , war sie ungläubig geblieben, trotz ihres Wunsches, den Glauben der Spiritisten anzunehmen und ihren Sohn wiederzusehen. Aber eines Tages, nachdem sie einen nicht näher angegebenen Text gelesen hatte, wurde ihr plötzlich klar, daß ihr Sohn sich offenbaren würde. Das tat er dann auch; er erschien oben im Himmel in derselben stahlblauen Uniform, die er trug, als er bei Verdun fiel. Sie freute sich über das Bild, das kam und verschwand. Eines 2. Will you please ask three of your friends at random this question and get them to write down their replies, putting at the top o f the sheet simply their sex, approximate age, and their occupation? Once again it is most important that negative replies shuold be sent in in exactly the same way as positive ones. 108

Lhermitte a.a.O. S. 51.

® Wenn Menschen, wie Dean Inge betont, „sich während des Tages fünfzehn bis sechzehn Stunden mit anderen Dingen und vielleicht fünf Minuten mit Religion beschäftigen", kann man nicht erwarten, daß die Entwicklung des religiösen Lebens besonders reich werde.

,0

itc

Siehe auch Alexandra David-Neel, Bland mystiker och magiker i Tibet, Stockholm 1933, S. 250 ff.

44

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

Nadimittags jedoch, ohne daß sie einen besonderen Umstand zur Erklärung angeben konnte, kam das Bild ganz in ihrer Nähe auf die Erde, und darauf verließ es sie nidit mehr, weder tags nodi nachts.111 Dieser sehr merkwürdige Umstand beeinflußte das Benehmen von Madame X gegenüber ihrer Umgebung nicht, aber die Dinge entwickelten sich dahin, daß der Sohn alle seine Kameraden, die bei Verdun gefallen waren, mitbrachte. Sie fand sich von einer Menge ihr unbekannter Soldaten umgeben, die ständig in Bewegung waren und sangen oder für sie unbegreifliche Worte murmelten. Eines Nachmittags, als sie eine lebhafte Straßenkreuzung passieren mußte, wollte sie den Verkehr für ihr geheimnisvolles Gefolge stoppen, die Polizei mußte einschreiten, und Lhermitte fand seine Patientin auf der Polizeiwadie wieder. Hier handelt es sich um „un automatisme lentement et patiemment elabor^". 112

Wahrscheinlich müssen wir bei Halluzinationen religiösen Inhalts mit solchen Automatismen rechnen; eine als Vorstellung geübte Rollenaufnahme bereitet das Halluzinationserlebnis vor. Anderseits hat man zuweilen den Eindruck, daß wichtige Teile einer religiösen Tradition durch Halluzinationserlebnisse, die infolge einer Störung der Gehirnfunktionen sich spontan eingestellt haben, entstanden sind. In der archaischen indo-iranischen Tradition, die die religionsgesdiichtlidie Forschung von den Upanishaden über den Zoroastrismus zum Manichäismus und zur syrisch-christlichen Mystik verfolgen kann, findet man zweifellos ein Material, das auf Gegenwärtigkeitserlebnisse, Erlebnisse von Doppelgängern, Begleitern, Helfern zurückgeht, die bald (das eine Mal) als das „höhere Ich" des Menschen, bald (das andere Mal) als Manifestation der höchsten Gottheit aufgefaßt werden, die aber immer als Helfer und Besdiützer von Aposteln und gewöhnlichen Seelen in allen Gefahren aufzutreten scheinen."3 Wahrscheinlich sind dies alles Halluzinationserlebnisse. Wie Geo Widengren gezeigt hat, gibt es in diesem Zusammenhang einen Terminus technicus: „das Zwillings-Ich". Es ist verlockend, diesen frappierenden Terminus mit einer speziellen Art von Halluzinationen zusammenzustellen, die man hallucinations speculaires nannte und heute hallcuniations heautoscopiques zu nennen pflegt, und die besagen, daß das erlebende Subjekt bisweilen sich selber sieht oder sich selber antrifft als einen vollkom111

Vgl. im Folgenden David-Neel, a.a.O. S. 252 f. Lhermitte a.a.O. S. 222 f. na Vgl. G e o Widengren, The great Vohu Manah and the Apostle of God. Studies in Iranian and Manichaean religion. Uppsala Universitets Arsskrift 1945, 3. 112

Halluzinationen

45

men plastischen und anschaulichen „Anderen". Die Heautoskopie wird als „halluziniertes Körperschema" angesehen.114 Seit langem hat man gewußt, daß verschiedene weniger zivilisierte Völker sich gewisser Pflanzendrogen bedienen, um sich lebhafte Träume oder Halluzinationen zu verschaffen. Leuba brachte den Genuß von Peyote und Meskalin bei gewissen Indianerstämmen mit dem im Rigweda über das Somagetränk Gesagte in Zusammenhang und wies nach, daß der Hanf als Rohmaterial für gewisse Drogen verwendet wurde, die die Yogis im Indien der neunziger Jahre gebrauchten und weiter, daß er in der Vorstellungswelt der Shiva-Verehrer mit dem Gott Shiva verbunden wurde.115 Den Genuß von Drogen stellt Leuba mit einer Gruppe von anderen Gebräuchen zusammen, wie Fasten, Geißelung, Tanz bis zur Ermattung, usw., die alle den Zweck haben, ekstatische Zustände hervorzurufen. Hier ist es wohl am richtigsten, den Ekstasebegriff zu vermeiden, 11 ' und statt dessen zu sagen, daß alle diese Mittel darauf hinwirken, die Referenzsysteme des Alltags außer Funktion zu setzen und dafür die religiösen zu aktualisieren. Der Genuß von Meskalin hat wie kein anderes der genannten Mittel zur Folge, daß die Inhalte der religiösen Tradition für den Frommen visuell anschauliche Formen annehmen. Meskalin ist eine Droge, die man aus einer in Mexikos Hochland vorkommenden Kaktusart gewinnt.117 Sie wurde zum ersten Mal chemisch und toxikologisch von Ludwig Lewin im Jahre 1888 unter114

115 lla

117

Vgl. die sogenannten heautoskopischen Erscheinungen überhaupt. Mythen und Folklore sind hödist vertraut mit dergleichen Erlebnissen, die auch verschiedene Verfasser behandelt haben, ζ. B. Goethe, Hoffmann, Chamisso. Jean-Paul Richter, Musset, G. de Maupassant, Shelley, Poe, D'Annunzio, Steinbeck. Besonderes Interesse verdient wegen seiner Beobachtungsschärfe Dostojewskis Erzählung Der Doppelgänger; es dürfte sich hier um etwas von D. selbst Erlebtes handeln, und es liegt nahe, diese Vermutung mit der Tatsache, daß der Verfasser an Epilepsie litt, zusammenzustellen. Vgl. H. Hecaen u. J . de Ajuriaguerra, Miconnaissance et hallucinations corporelies. Integration et disintegration de la somatognosie, Paris 1952, S. 310—338 mit der wertvollen Bibliographie. Vgl. auch E. Menninger-Lerchenthal, Das Truggebilde der eigenen Gestalt (Heautoskopie, Doppelgänger), Berlin 1935, in Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, Psychologie und ihren Grenzgebieten. Heft 74. The psychology of religious mysticism, Kap. 2. Thomas Adielis definiert Ekstase als „Steigerung unseres normalen Bewußtseins". Siehe Die Ekstase in ihrer kulturellen Bedeutung, Berlin 1902 S. V. Ruth Benedict a.a.O. S. 90.

46

Die psychologische Organisation der religiösen Erlebniswelt

sucht.118 Der obere Teil dieser Kaktusart, „die Kaktusknospe", wird von den Mexikanern „Peyote" und von den Geschäftsleuten, die ihn im getrockneten Zustand verkaufen (Meskalin-Bohne), „Mescal oder Museal" genannt. Der Handel damit erstreckt sich damit bis zur Grenze Kanadas. Wie wir in Sundkiers Arbeit gesehen haben, erstrebten die Zulus größere Anschaulichkeit im Erlebnis des „Anderen" (Gott, Erlöser oder Engel), als es ihnen die Kirchen der Weißen mit ihrer dogmatisierenden und moralisierenden Verkündigung geben konnten. Sundkler gibt zu, daß ihn das Bedürfnis der Zulus nach einem konkreteren Gotteserlebnis tief ergriffen habe, und bedauert, daß die Missionskirchen den Zulus allzu einseitige Formen des Christentums vermittelt haben. 11 ' Er weist audi nach, daß manche merkwürdige Mischformen aus Christentum und Zügen vorchristlicher Traditionen in den Eingeborenenkirdien entstanden sind. Sundkler hat die Arbeit F. C. Bartletts,120 die darüber berichtet, wie der Peyotekult bei den Winnebagoindianern eingeführt wurde, nicht beachtet. Dieser Bericht, der sich auf Paul Radins Primärforschungen stützt, 121 zeigt innerhalb einer ganz anderen Kultur eine sehr interessante Parallelität zu den von Sundkler beobachteten Phänomenen. 10 Bartletts Erläuterungen zu Radins Forschungsergebnissen können als ein wichtiger Beitrag zur Psychologie des Religionswechsels bezeichnet werden.123 Das, was uns hier interessiert, ist indessen nur das Streben nach Anschaulichkeit. Nachdme ein gewisser John Rave den Peyote-Genuß bei den Winnebagoindianern eingeführt hatte, wurde er mit der Zeit der Prophet einer kleineren Gruppe, der gegenüber die übrigen Mitglieder des Stammes eine feindliche Haltung einnahmen. Dieser Gruppe schloß sich der Konvertit Albert Hensley zu einem Zeitpunkt an, als Rave stark 118

Ludwig Lewin in Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 24, 1888. 119 Sundkler a.a.O. S. 296. 120 Psychology and primitive culture. Cambridge 1923, Kap. VI; Psychological factors in the transmission of culture by borrowing S. 160 ff. 121 Paul Radin, A sketch of the Peyote cult of the Winnebago. Journal of Religious Psychology 7, 1914—1915, S. 1—22. 122 Es handelt sich hier um anthropologische Erscheinungen, wo sehr starke Motivkräfte wirken. Siehe A. L. Kroeber in Anthropology, N e w Ed., N e w York 1948, § 180: Nativism, revivals and Messiahs. m Helge Ljungberg, Den nordiska religionen od» kristendomen. Studier över det nordiska religionsskiftet under vikingatiden, Stockholm 1938.

Halluzinationen

47

feindlich gegen die Vertreter alter Traditionen gestimmt war. Hensley verband den Peyote-Genuß mit der Lektüre der Bibel, und wir werden nun Zeuge, wie die Bibel in Verbindung mit dem Peyote-Genuß eine Konkretisierung schenkt, der gegenüber die alten Rituale verblassen. Zu dem von Radin und Bartlett behandelten Fall kann noch hinzugefügt werden, was J. S. Slotkin über den Peyote-Genuß bei den Indianern im Missouri-Distrikt beobachtet hat. Dort gibt es eine von Indianern gebildete Gemeinde, eine amerikanische Kirche der Eingeborenen,184 die ein Liebesmahl wie die ersten Christen kennen, nur mit dem Unterschied, daß Brot und Wein durdi Peyote ersetzt sind, was im Vergleich zu dem, was durch die Verbindung von Peyote und Christentum Hensley geglückt war, zweifellos noch ein Stück weiter geht. Die von Slotkin beobachteten Indianer betrachten diesen Kaktus als eine spezielle Gabe Gottes an sie und stellen dessen Wirkungen den Wirkungen des Heiligen Geistes gleidi. Peyote ermöglicht ihnen Christusvisionen und Erlebnisse von Gottes Gegenwärtigkeit von unmittelbarer und überwältigender Art. Solche Erlebnisinhalte würden sich indessen sicherlich nicht einstellen, wenn die Betreffenden nicht sehr mit ihrer Bibel vertraut wären, wenn sie sich nicht schon in nüchternem Zustand mit Personen der biblischen Erzählungen identifiziert hätten und durch Rollenübernahme und Rollenaufnahme Gott oder Christus Partner für sie geworden wären. Die Wirkungen des Giftes dürften vor allem darin bestehen, daß sie einen Inhibitionsmechanismus aufbauen, der im normalen Zustand die Exteriorisierung vorgestellter Inhalte verhindert. Andere Wirkungen des Meskalins, die man sicher festgestellt hat, sind einerseits die Abgeneigtheit „to be intellectually active", andererseits daß die Erlebnisse während des Meskalinrausches an eidetische Phänomene erinnern.125 Frühere Experimente mit Meskalin werden durch die Erfahrungen, ii4 y g i .